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German Pages [319] Year 2023
Jost Dülffer
FRIEDEN UND MENSCHENRECHTE Studien zur Internationalen Geschichte
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Jost Dülffer
Frieden und Menschenrechte Studien zur Internationalen Geschichte
Herausgegeben von Simone Derix, Ulrich S. Soénius und Guido Thiemeyer
Böhlau Verlag Wien Köln
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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen-Stiftung, Köln.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Pablo Picasso, lithograph of the drawing “Colombe de la Paix”, numbered 114/200 © akg-images © Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2022 Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Korrektorat: Dore Wilken, Freiburg Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978–3–412–52741–9
Inhalt
Vorwort der Herausgeber*innen ............................................................
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Völkerrecht und Internationale Geschichte Recht, Normen und Macht .................................................................... 11 Die Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht und die Friedensregelungen nach den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts ............ 33 Humanitäre Intervention, Menschenrechte und die Legitimation von Gewalt. Der deutsche Weg in den Zweiten Weltkrieg 1937/1939........................................................................... 63 The United Nations and the Origins of the Genocide Convention 1946–1948 ....................................................................... 81 Menschenrechte in den Außenbeziehungen der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989. Ein Aufriss ........................... 97 Völkerrecht im Ost-West-Konflikt 1945–1991. Die Sicht eines Historikers ........................................................................................... 123
Friedensbewegungen und Friedensbedingungen Global Governance und Weltregierung seit dem 19. Jahrhundert. Ein Essay .................................................................... 143 Friedensschlüsse, Friedlosigkeit und Friedensrituale, 1945–1990.......... 155 Friedensbewegungen in der Bundesrepublik Deutschland 1945–2005. Ein knapper Versuch ........................................................ 173 The Democratic Peace Controversy in Retrospect as a “Civilizing Mission”? A Theory Revisited .................................................. 187
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Inhalt
Krieg, Frieden und Umwelt. Staat und soziale Bewegungen in Deutschland seit 1945 ......................................................................... 215
Geschichte und Geschichtsschreibung „Pax Optima Rerum“. Friedenswahrung und Kriegsbereitschaft als Thema der deutschen Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert.................................................................................... 231 German research on the First World War in a centenary perspective........ 251 Politische Geschichtsschreibung der „45er-Generation“. Von der Militärgeschichte des Zweiten Weltkriegs zur kritischen Zeitgeschichte (1950–1970) ................................................. 269 Andreas Hillgruber – Politische Geschichte, deutsche Frage und NS-Verbrechen............................................................................... 287 Schriftenverzeichnis ............................................................................. 307 Verzeichnis der ursprünglichen Druckorte .............................................. 317
Vorwort der Herausgeber*innen
Jost Dülffer zum 24. Februar 2023
Die Beschäftigung der Historiker*innen mit Bedingungen, Ordnungen und Politik für den Frieden ist nicht nur angesichts aktueller internationaler Konflikte notwendig, sondern bleibt grundlegend. Die Geschichtswissenschaften verfügen über das Instrumentarium, um Strukturen und Prozesse in Konflikten herauszuarbeiten. Historiker*innen beenden zwar keine Kriege, aber sie tragen im hohen Maße dazu bei, Erklärungsmuster zu vermitteln, die für die Vermeidung von kriegerischen Auseinandersetzungen Chancen anbieten. Dass diese Chancen nicht immer genutzt werden, zeigte zuletzt der russische Angriff auf die Ukraine vom 24. Februar 2022. Die europäische Friedensordnung wurde mit diesem Krieg in Frage gestellt und die Aggression zudem mit vermeintlich historischen Argumenten gerechtfertigt. Jost Dülffer, der seit vier Jahrzehnten historische Friedensforschung betreibt, hat diese Themen stets im Kontext gesehen und sie in einen größeren Zusammenhang eingeordnet. In diesem Sammelband werden drei wesentliche Komplexe der Forschungen von Dülffer aus der jüngeren Vergangenheit zusammengeführt. Die Bedeutung des internationalen Rechts und des Rechtsempfindens spielte im 20. Jahrhundert eine zunehmend größere Rolle bei der Bewertung von Konflikten und ihren Folgen. Daher nimmt dieser Themenkomplex in den jüngeren Dülfferschen Forschungen eine zentrale Rolle ein – wie auch in diesem Band. Nicht von ungefähr stehen Themen wie Völkerrecht, Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht der Völker im Vordergrund. Internationale Geschichte hat sich diesen Themen in der jüngsten Vergangenheit auf neuen Wegen zugewandt – Dülffer liefert hierzu mit seinen Beiträgen wegweisende Anhaltspunkte und neue Aspekte. Dies gilt auch für den zweiten Bereich. Jost Dülffer interessiert sich nicht nur für die völkerrechtliche Dimension von Konflikten und Frieden, sondern auch für die kulturellen und gesellschaftlichen Kontexte, in denen diese stehen. Hierzu gehören Verfahren und Rituale des Friedensschlusses, die in einer zunehmend medial vernetzten Welt eine neue Rolle erhalten. Seine Forschungen über die Friedensbewegungen verdeutlichen die zivilgesellschaftliche Dimension internationaler Konflikte und Friedensschlüsse. Auch die mit Krieg und Frieden verbundenen Fragen der Ökologie spielen eine Rolle, sie dürften in Zukunft an Bedeutung gewinnen. Im dritten Teil dieses Bandes werden Frieden und Krieg im Licht neuer geschichtswissenschaftlicher Diskussionen eingeordnet. Dülffer beschäftigt sich seit langem mit der Frage, wie Staaten aus militärischen Konflikten wieder herausfinden. Eine vergleichende Friedensschlussforschung sollte politische, völkerrechtliche und
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Vorwort der Herausgeber*innen
mentale Prozesse verbinden. In den weiteren Beiträgen setzt sich Dülffer intensiv mit der jüngsten Forschung insbesondere zum Krieg im 20. Jahrhundert auseinander. Dabei unterzieht er auch die eigene Zunft einer kritischen Beobachtung. Der vorliegende Band ist der dritte in einer Reihe, die die Publikationen von Jost Dülffer in neue Kontexte stellt. Bereits 2003 veröffentlichte der Böhlau Verlag unter dem Titel „Im Zeichen der Gewalt. Frieden und Krieg im 20. Jahrhundert“ 17 Beiträge von Dülffer, die sich mit der Gefährdung des Friedens durch Gewalttätigkeit und Krieg im 19. und 20. Jahrhundert beschäftigten. Der 2008 folgende Band unter dem Titel „Frieden stiften. Deeskalations- und Friedenspolitik im 20. Jahrhundert versammelte ebenfalls 17 Beiträge zur Kriegs- und Krisenbewältigung. Im Vorwort dieses Bandes wird auf die Biographie des bekannten Kölner Historikers eingegangen. Ebenfalls sind darin ein Verzeichnis der betreuten Dissertationen und ein Schriftenverzeichnis zu finden. Letzteres wird in diesem Band ergänzt um die seitdem erschienenen Publikationen. Wie bereits die beiden vorhergehenden Bände, sollen die hier versammelten Beiträge vor allem junge Forscher*innen animieren, sich mit den Fragen der Friedenspolitik und der Internationalen Geschichte intensiv zu beschäftigen. Die Beiträge bieten allesamt vielfältige Anregung, sich weiteren Themen zu widmen. Dies war und ist auch stets ein Anliegen von Jost Dülffer gewesen. Die Herausgeber*innen dieses Bandes sind Professorin Dr. Simone Derix, Lehrstuhlinhaberin für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Dr. Ulrich S. Soénius, Direktor der Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln, und Prof. Dr. Guido Thiemeyer, Lehrstuhlinhaber für Neuere Geschichte an der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. Die Herausgeber*innen danken Emily MacKenzie, Jessica Rook und dem Böhlau Verlag, an erster Stelle Dorothee Wunsch, sowie der Fritz Thyssen Stiftung. Köln, im Januar 2023
Völkerrecht und Internationale Geschichte
Recht, Normen und Macht
I Recht durch Macht oder Macht durch Recht? „La paix par le droit“ hieß die Zeitschrift einer 1887 gegründeten französischen Pazifistengruppierung, die sich bald Association pour la paix par le droit nannte. Sie blieb unter dem Philosophen und Kantkenner Théodore Ruyssen bis zum Zweiten Weltkrieg die stärkste Honoratiorenvereinigung des französischen Pazifismus.1 Aber auch ein Völkerrechtler wie Hans Kelsen trat 1944 programmatisch mit einer Schrift „Peace through Law“ hervor.2 Hinter dem Schlagwort stand die Erwartung einer zunehmend internationale Beziehungen durch Recht friedlicher gestaltenden Politik, ja nach Ablösung von herkömmlichen Machtbeziehungen durch Rechtsakte. Einige Autoren verfolgen diesen Gedanken bis auf Immanuel Kants „Zum ewigen Frieden“ zurück, der die Formulierung selbst nicht kannte. Gerade in der europäischen Völkerrechtslehre wie in der Politikwissenschaft war und bleibt das Postulat eine wichtige Position bis in die Gegenwart. Auf den Punkt gebracht hat das der finnische Völkerrechtler Martti Koskenniemi mit seinem Buchtitel „The Gentle Civilizer of Nations“, aber auch manche Politikwissenschaftler erkennen in dem Axiom eher eine politisch zu fördernde, nicht aber analytisch belegte oder gar automatische Tendenz.3 Auf der Ebene der Staatenpraxis setzten sich die Ratschläge Niccolò Machiavellis für den absoluten Fürsten zwar nie durch; aber noch 1832 argumentierte der Bentham-Schüler und Rechtspositivist John Austin,4 Recht habe zwar gewisse Funktionen, jedoch sei der Souverän nicht daran gebunden; er könne „abrogate the law at pleasure“. Diese Willkür entsprach auch seither dem Herrschaftsstil
1 Michael Clinton, “The New World will create the New Europe”: Paul-Henri d’Estournelles de Constant, the United States, and International Peace, https://quod.lib.umich.edu/cgi/p/pod/dod-idx/new-worldwill-create-the-new-europe-paul-henri.pdf?c=wsfh;idno=0642292.0040.008;format=pdf (2.8.2022); Verdiana Grossi, Le pacifisme européen, 1889–1914. Brüssel 1994; Norman Ingram, The Politics of Dissent. Pacifism in France 1919–1939. Oxford 1991, 4 u. 19–120. 2 Hans Kelsen, Peace through Law. Chapel Hill 1944. 3 Martti Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations: The Rise and Fall of International Law 1870–1969. Cambridge 2002; Patricia Schneider, Kristina Thony, Erwin Müller (Hg.), Frieden durch Recht. Friedenssicherung durch internationale Rechtsprechung und Rechtsdurchsetzung (Frieden durch Recht V). Baden-Baden 2003 (freundlicher Hinweis durch Heike Krieger); vgl. Lothar Brock, Frieden durch Recht. Anmerkungen zum Thema im historischen Kontext, in: Peter Becker, Reiner Braun, Dieter Deiseroth (Hg.), Frieden durch Recht? Berlin 2010, 15–34. 4 John Austin, The Province of Jurisprudence Determined. London 1832.
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Recht, Normen und Macht
von konkreten Personen, zu denen etwa der deutsche Kaiser Wilhelm II.5 oder der US-Präsident George W. Bush gehörten. Es gab zwar zahlreiche gescheiterte Versuche, letzteren wegen Verletzung des Völkerrechts etwa beim Beginn des Irakkrieges anzuklagen, aber auch Bush selbst berief sich in seiner National Security Strategy von 2002 auf das internationale Recht, das nach seiner Deutung durch den internationalen Terrorismus bedroht wurde. Daraus leitete er seinen Anspruch auf Anwendung aller (Gegen)Mittel ab6 und maßte sich die zeitgemäße Fortschreibung angeblich alten Rechts an. Gerade in dieser Hinsicht hatte sich im 20. Jahrhundert viel getan. Vom Kriegsächtungspakt 1928 über den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess 1945/46 bis hin zum Internationalen Strafgerichtshof7 , von den Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 über die Völkerbundsatzung bis zur UN-Charta zieht sich das Bestreben, nicht nur Krieg und Gewalt einzudämmen oder gar zu verbieten, sondern auch und gerade die dafür Verantwortlichen persönlich haftbar zu machen. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte diese Verrechtlichung mit der Bildung des Internationalen Strafgerichtshofes (International Criminal Court, ICC), der 1998 mit dem Römischen Statut vereinbart wurde und 2002 in Kraft trat.8 In der Präambel vereinbarten die Vertragspartner: Mindful that during this century millions of children, women and men have been victims of unimaginable atrocities that deeply shock the conscience of humanity, […] Affirming that the most serious crimes of concern to the international community as a whole must not go unpunished and that their effective prosecution must be ensured by taking measures at the national level and by enhancing international cooperation, Determined to put an end to impunity for the perpetrators of these crimes and thus to contribute to the prevention of such crimes.
In dieser Aufzählung werden besonders Genozid, Verbrechen gegen die Menschheit9 , Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression benannt. Eine Definition von Aggression gibt es seit 2010 in der Ausdifferenzierung des Begriffs in Artikel
5 Reichskanzler Bernhard von Bülow notierte dazu 1907, „dass alle internationalen Verpflichtungen für den Ernstfall eines großen Krieges doch nur bis zu einem gewissen Grad binden, dann heißt es Noth bricht Eisen und ‚salus publica unica lex‘“, zit. bei Jost Dülffer, Regeln gegen den Krieg? Die Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 in der internationalen Politik. Frankfurt u. a. 1981, 303. 6 Siehe https://georgewbush-whitehouse.archives.gov/nsc/nss/2002/ (3.8.2022). 7 Textsammlung International Legal Tools: https://www.legal-tools.org/ (3.8.2022). 8 Webseite des ICC, u.a. mit dem Statut: https://www.icc-cpi.int/sites/default/files/Publications/RomeStatute.pdf (3.8.2022). 9 „humanity“ wird im Deutschen zumeist – problematisch – mit Menschlichkeit wiedergegeben.
I Recht durch Macht oder Macht durch Recht?
8 bis des Statuts des ICC.10 Nimmt man all dies zusammen und berücksichtigt die Kautelen über primär national wirkende Strafverantwortung und weitergeltende andere Verträge, so steckt hinter dem ICC ein Programm der graduellen Neubewertung von Gewalt aller Art in potenziell nach internationalem Recht zu bewertende Delikte. 120 Staaten von 193 Mitgliedern der UNO sind dem Statut des ICC bis 2011 beigetreten [2022: 123]. Aber ratifiziert haben u. a. weder die USA noch Russland. Die Volksrepublik China oder Indien haben nicht einmal unterzeichnet, ebenso fehlt die arabische Welt [2022: 42 haben bislang keinen Kontakt zum ICC]. Natürlich sind die Motive hierfür vielgestaltig. Aber schon als erste Annäherung lässt sich sagen, dass sich recht starke Staaten ebenso wie vergleichsweise schwächere einer strafrechtlichen Verfolgung durch den ICC nicht aussetzen wollen. Es gibt also Interessen, die von anderen Kategorien abhängen als dem Recht. Konkret: es ist die Kategorie Macht, die in den internationalen Beziehungen eine Rolle spielt und die mit dem Völkerrecht in einem gewissen Spannungsverhältnis steht. Macht gilt vielfach als eine antiquierte Kategorie, doch ist sie nach wie vor sinnvoll, da diese Relation der Ungleichheit gerade zur Erklärung von internationalen Beziehungen einiges zu leisten vermag. Nach Max Weber bedeutet Macht, „jede Chance innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“.11 Und man wird hinzufügen: gleichviel wie sehr es sich um militärische oder wirtschaftliche Macht handelt oder um soft power im Sinne eines indirekten oder kulturellen Einflusses.12 Oder aber auch mit der Foucaultschen Gouvernementalität, wonach es bei Regierung „um Machtmechanismen der Fremd- und Selbstführung geht, um Kontrolle und Leitung von Einzelnen wie Kollektiven“.13 Für die internationalen Beziehungen haben sich eine Fülle an Autoren, so vornehmlich die britische Tradition von Edward H. Carr über Hans Morgenthau bis hin zu Hedley Bull und Martin Wight14 , an zentraler Stelle der Kategorie Macht bedient. Wenn man diese Autoren seit langem als Realisten bezeichnet, so wurden
10 [Ergänzungen 2022:] https://www.icc-cpi.int/sites/default/files/Publications/Rome-Statute.pdf; Claus Kreß, Stefan Barriga (Hg.), The Crime of Aggression. A Commentary, 2 Bände, Cambridge 2016; Stefanie Bock, Eckart Conze, Rethinking the Crime of Aggression: International and Interdisciplinary Perspectives, Den Haag 2021. 11 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1984, Kapitel 1, § 16. 12 So etwa seit 1990 von Joseph Nye vorgeschlagen, zuletzt Joseph Nye, Soft Power. The Means to Success in World Politics, New York 2004, 2. Aufl. 2011. 13 Michel Foucault, Analytik der Macht. Frankfurt am Main, 148–174; vgl. etwa Maren Möhring, Die Regierung der Körper. „Gouvernementalität“ und „Techniken des Selbst“, in: Zeithistorische Forschungen, https://zeithistorische-forschungen.de/2-2006/4604. 14 Edward H. Carr, The Twenty Years Crisis 1919–1939. London 1939; Hans Morgenthau, Politics among Nations. The Struggle for Power and Peace, New York, 4. Aufl. 1967; Martin Wight, Systems
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Recht, Normen und Macht
diese Ansätze etwa von Kenneth Waltz zum Neo-Realismus weiterentwickelt15 . Darunter subsumierte man seither eine Sicht auf das internationale System als anarchisches Selbsthilfesystem. „Das Staatensystem ist ein dezentralisiertes Wettbewerbssystem ohne Herrschaftsordnung (also an-archisch)“, formulierte Werner Link 2010.16 Nun sehen auch Realisten oder Neo-Realisten sicherlich eine Verbindung von Macht und Recht. Kaum jemand würde wohl heute noch so hart formulieren wie Georg Schwarzenberger, ein weiterer Pionier des Realismus. In einem ursprünglich 1941 für die alliierte Nachkriegsplanung geschriebenen Buch sah er Völkerrecht im Rahmen von „Recht und Macht“.17 „Das Völkerrecht als reines Recht der Macht dient nicht nur dem Primat der Machtpolitik, sondern sichert zugleich die Monopolstellung souveräner Staaten als Mitglieder der internationalen Aristokratie“ – was auf die Rolle der Großmächte abzielte. Das Völkerrecht „erklärt Macht und brutale Gewalt für rechtmäßig und ermöglicht eine geschickte ideologische Verschleierung der mit jedem System internationaler Machtpolitik notwendigerweise verbundenen Ungerechtigkeiten“. Sicher steckten hinter dem Urteil des Emigranten Schwarzenberger die Erfahrungen der totalitären Kriegführung der Achsenmächte, aber er diskutierte auch weitere Ansätze internationaler „Regulierungen und Regeln“ bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Schon für die Atlantic Charter, erst recht aber für die Vereinten Nationen hatte er nur Skepsis zu bieten: „Die Ideologie der Vereinten Nationen und die Realität der internationalen Machtpolitik“ hieß ein antithetisch formulierter Abschnitt, in dem er vor einigen „gefährlichen Illusionen“ warnte, wozu auch die Kooperationsmöglichkeiten zwischen totalitären und freiheitlichen Staaten gehörte. Gerade die UN bildete für ihn nur eine Institution für „verschleierte Machtpolitik“. Diese ganz aus dem Geist des intensiven Ost-West-Konflikts geborene Diagnose kann heute nicht mehr befriedigen. Wenn man sich aber die Diskussionen der Großen Drei über ihre Rolle und die der künftigen Weltorganisation ansieht, dann findet man zeitgenössisch verwandte Vorstellungen über die Gestaltung des Staatensystems. Bei ihren Gipfeltreffen in Teheran und Jalta 1943/45 herrschte zwischen Churchill, Roosevelt und Stalin Konsens, dass die Einigkeit der Großmächte und
of States, Leicester 1967; Hedley Bull, The Anarchical Society: A Study of Order in World Politics, London 1977. 15 Kenneth N. Waltz, Man, the State and War – A Theoretical Analysis, New York 1959, NA 2002. 16 Werner Link, Macht und Völkerrecht zwischen den beiden Weltkriegen, in: Ulrich Lappenküper/ Reiner Marcowitz (Hg.), Macht und Recht. Völkerrecht in den internationalen Beziehungen. Paderborn 2010, 233–250, hier 235; ders., Der Ost-West-Konflikt. Die Organisation der internationalen Beziehungen im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1980 und öfter. 17 Georg Schwarzenberger, Power Politics. A Study of International Society. 2. Aufl. London 1951 (1941 auf halbem Umfang: mit dem Zusatz „post-war planning“); dt. Ausgabe ders., Machtpolitik, Eine Studie über die internationale Gesellschaft, Tübingen 1955, Zit. 132, 390 f., 394.
I Recht durch Macht oder Macht durch Recht?
besonders die ihrer drei Personen zentral sei und den Frieden auf der Welt für die nächsten 50 Jahre sichern solle – also Machtpolitik im Kern, wie er im einvernehmlich beschlossenen Veto zum Ausdruck kam. Darüber hinaus wollte gerade US-Präsident Roosevelt in den künftigen Vereinten Nationen in einem Leitungsgremium (es wurde dann der Sicherheitsrat) nur einige weitere Staaten im Turnus vertreten wissen, während die Vollversammlung nur konsultative Rechte haben sollte. Da war allerdings der sowjetische Diktator skeptisch, ob die kleineren Staaten sich mit einer so dekorativen Rolle zufriedengeben würden.18 Anders formuliert heißt dies, dass Macht und Recht einander nicht ausschließen, sondern wechselseitig bedingen. Recht bedarf einiger Machtmittel zur Durchsetzung, aber bloße Macht hat in den letzten Jahrhunderten ohne rechtliches Fundament an Bedeutung verloren. Aber welche Funktion beansprucht Recht, im Verhältnis zu Macht zu haben? Was ist Völkerrecht insgesamt? Völkerrechtler pflegen scharfe, aber häufig nicht historisierte Definitionen, die vielfach ihren eigenen Kodifizierungen entsprechen. In Artikel 38 des International Court of Justice in Den Haag heißt es zur Grundlage seiner Arbeit: „1. The Court, whose function is to decide in accordance with international law such disputes as are submitted to it, shall apply: a. international conventions, whether general or particular, establishing rules expressly recognized by the contesting states; b. international custom, as evidence of a general practice accepted as law; c. the general principles of law recognizes by civilized nations; d. subject to the provisions of Article 59, judicial decisions and the teachings of the most highly qualified publicists of the various nations, as subsidiary means for the determination of rules of law. 2. This provision shall not prejudice the power of the Court to decide a case ex aequo et bono, if the parties agree thereto.“19
Darin liegt eine klare Reihenfolge der Wertigkeit von Grundlagen für Völkerrecht, die von einem Kern fester Konventionen über allgemein akzeptiertes Gewohnheitsrecht bis hin zu subsidiären Lehren der höchstqualifizierten Publizisten – gemeint sein können wohl nur Völkerrechtswissenschaftler. Und schließlich kommen noch Gesichtspunkte der Billigkeit hinzu, also ad hoc gefundene Kriterien für einen bestimmten Einzelfall. An der Nennung von „civilized nations“ zeigt sich die 18 Jost Dülffer, Völkerrecht im Ost-West-Konflikt, in: Lappenküper, Marcowitz, 252–269, hier 252–254 (auch in diesem Band). 19 Freundlicher Hinweis von Stephan Hobe: https://www.icj-cij.org/en/statute (3.8.2022). Art. 59 bestimmt, dass Urteile des Gerichtshofs nur die Vertragsparteien binden; sie sind also keine allgemein rechtsschöpferischen Akte.
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Recht, Normen und Macht
Entstehungszeit der Statuten als Anlage zur UN-Charter. Darüber hinaus bleiben sie sehr vage und lassen Raum für so ziemlich alle Vereinbarungen – wenn sie einen völkerrechtlichen Geist atmen. Das kann man mit einer Kugel und darum gelagerten Schalen veranschaulichen, aber in manchem ist dies selbstreferentiell. Hilfreicher ist die das internationale Vertragsrecht zusammenfassende Vienna Convention on the Law of Treaties (VCLT). Hier heißt es in Artikel 53: Treaties conflicting with a peremptory norm of general international law (jus cogens). A treaty is void if, at the time of its conclusion, it conflicts with a peremptory norm of general international law. For the purposes of the present Convention, a peremptory norm of general international law is a norm accepted and recognized by the international community of States as a whole as a norm from which no derogation is permitted and which can be modified only by a subsequent norm of general international law having the same character.20
Auch das ist in manchem selbstreferentiell – Völkerrecht ist, was allgemein als solches anerkannt wird –, aber es lässt Raum für darüber hinaus reichende Abgrenzung von einem soft law, das zwar auf Beschlüsse einzelner internationaler Organisationen zurückgeht, aber nicht allgemein anerkannt ist. Völkerrechtler wie Stephan Hobe stellen die Frage, ob dies wirklich noch als Völkerrecht zu bezeichnen sei.21 Einem Historiker kommt eine solche Anschauung dennoch entgegen, wenn er auch die überwiegende Betonung von Schriftlichkeit nicht unbedingt überzeugend findet. Der Begriff der Norm kann an dieser Stelle weiterhelfen. In der Rechtswissenschaft ist es üblich, dass einzelne Rechtsvorschriften in Normen unterteilt werden, dass Recht insgesamt als eine Vielzahl von (miteinander verbundenen) Einzelnormen gedacht wird. Das haben auch Historiker wie Matthias Schulz mit Gewinn auf das lange 19. Jahrhundert angewandt.22 Hierfür lässt sich an die Arbeiten von Heinrich Popitz anknüpfen,23 der nicht so sehr rechtliche, aber doch soziale Normen
20 https://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/conventions/1_1_1969.pdf (8.8.2022). 21 Stephan Hobe, Einführung in das Völkerrecht, Tübingen u. a., 9. Aufl. 2008, 205–208. 22 Matthias Schulz, Normen und Praxis. Das europäische Konzert der Großmächte als Sicherheitsrat, 1815–1860, München 2009; ders., Did Norms Matter in Nineteenth Century International Relations. Progress and Decline in the “Culture of Peace” before World War I, in: Holger Afflerbach, David Stevenson (Hg.), An Improbable War? The Outbreak of World War I and European Political Culture before 1914. New York u. a. 2007, 43–60. 23 Heinrich Popitz, Soziale Normen. Frankfurt am Main 2006, 61–75, zit. 65 u. 67. Ein weiterer Punkt für Popitz, die Tradierbarkeit, kann hier außer Acht gelassen werden – ich verdanke diesen Hinweis Hillard von Thiessen.
II Ebenen der Normierung seit dem 19. Jahrhundert
allgemein erklärte. Danach begrenzen diese die menschlichen Handlungsmöglichkeiten. Sie müssen immer wieder von neuem gelernt werden, richten sich „an alle Mitglieder eines bestimmten Universums geordneter Beziehungen“. In diesem Zusammenhang lassen sich „Normstrukturen“ unterscheiden, nämlich ein „Gefüge aufeinander bezogener sozialer Rollen“, „die soziale Einheiten (Gruppen, Kollektive) kennzeichnen“. Ihre relative Geltung erkennt man daran, dass Abweichungen durch (oft ganz milde) Sanktionen geahndet werden. Diese Kategorien lassen sich ohne Schwierigkeiten von der individuellen Sicht, die bei Popitz zugrunde liegt, auf die internationale Politik und ein internationales System oder auch mehrere (Sub-)Systeme anwenden. Dieser Ansatz hat zwei Vorteile: Er nimmt nicht nur die Norm als solche in den Blick, sondern auch den Umgang damit, also das normbestimmte soziale Handeln. Und er handelt nicht nur von schriftlich fixierten oder kodifizierten Normen, sondern beachtet auch konstante Handlungsweisen, nämlich die stillschweigend oder implizit erwarteten Handlungsweisen von Akteuren im Rahmen des jeweiligen internationalen Kontextes. Hier setzt auch der Begriff der Regime an, auf den zurückzukommen ist. Von völkerrechtlichen allgemeinen Verträgen über Vertragsverhandlungen, bilaterale Abmachungen, anerkannten Rechtslehren bis hin zu informellen Absprachen, gemeinsamen Denk- und Handlungshorizonten ergibt sich also ein weites Spektrum an rechtlicher und normativer Rahmung von Handlungen auch und gerade in der internationalen Politik, die mit dem Begriff des Völkerrechts kaum alle noch angemessen zusammengehalten werden können. Wenn somit dieses internationale System in (neo-)realistischen Erklärungsansätzen dominant als ein „dezentrales anarchisches Selbsthilfesystem“ charakterisiert wird, dann meint dies im Kern, dass sich Staaten letztlich selbst um ihre Sicherheit bemühen müssten, da es keine darüber hinaus reichende, allgemeine Instanz der Rechtsdurchsetzung gebe. Dagegen setzt die Betonung von Normierungen den Akzent darauf, dass in der internationalen Politik nicht immer alle Möglichkeiten des Handelns gleichermaßen zur Verfügung standen oder wahrgenommen wurden. Ferner wurden Handlungsoptionen nicht nur aus nationalen, kulturell oder interessenpolitisch geprägten Gründen ergriffen, sondern auch wegen etablierter, erwarteter und damit voraussehbarer Verhaltensweisen in einem gemeinsamen internationalen Umfeld. Diese Sicht stellt also realistische Theorieansätze gleichsam vom Kopf auf die Füße, vom autonomen Akteur auf die Umwelt, in der er handelt.
II Ebenen der Normierung seit dem 19. Jahrhundert Am Wandel des internationalen Systems der letzten zwei Jahrhunderte lässt sich verdeutlichen, wie sich der Grad an relativ konsensualer Steuerung durch Normen historisch entwickelte, wie Verrechtlichung, Normierung und verlässliche Koope-
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Recht, Normen und Macht
ration im globalen System oder in regionalen Subsystemen „funktionierten“. Im Wiener System von 1814/15 manifestierte sich eine Fülle an Normen in einem Ensemble von Verträgen, die einen Kontrast zur vorangegangenen napoleonischen Hegemonialzeit bildeten.24 Es bestand zunächst einmal aus mehreren Verträgen wie der Wiener Schlussakte, der Quadrupelallianz der vier Großmächte und der Heiligen Allianz. Auch wenn letztere von (fast) allen damaligen Staaten oder Staatsführungen gezeichnet wurde, bildete sie bestenfalls temporär einen ideologischen Rahmen. Entscheidend waren die konkreten Verpflichtungen der Großmächte, die sich in einer Militärallianz selbst zu dieser herausgehobenen Rolle ermächtigten, aber damit zugleich auch zu gemeinsamen Aktionen verpflichteten. Friedenswahrung war darin der wesentliche normative Anspruch. Durch Periodizität der Treffen institutionalisierten sie zugleich ihre Rollen. Ihren Kern hatten diese Verträge zunächst allein in der Friedenssicherung gegenüber Frankreich, das jedoch ab 1818 das Konzert der Mächte ergänzte und ihm damit zu allgemeiner europäischer Bedeutung verhalf. Eine Ausdehnung auf außereuropäische Gebiete fand nicht statt, nachdem der Versuch dazu in den 1820er Jahren mit Blick auf Lateinamerika keine Chance hatte. Die negativen Seiten sind häufig herausgearbeitet worden: die relative Unterordnung der kleineren, durch formale Souveränität nur unzureichend geschützten Staaten, die ab 1820 zunehmend sozialkonservative bis sozialreaktionäre Aufladung auch gegenüber der Tendenz zu neuen Nationalstaaten und schließlich die politischen und sodann auch militärischen Interventionen in Süd- und Südosteuropa. Zum Kern dieses Konzerts entwickelte sich die Vermeidung eines großen Krieges, eines Krieges der Großmächte untereinander – und in dieser Hinsicht überdauerten diese Normierungen einige Jahrzehnte. „Das Konzert der Großmächte führte eine neue ‚Ebene‘ der diskursiven Regulierung von Konflikten, also des Friedensmanagements, in die Staatengesellschaft ein.“25 Genau dies nennt Matthias Schulz pointiert, aber anachronistisch vordatierend einen „Sicherheitsrat“. Die Institutionalisierung der periodischen Kongresse endete bereits 1823, aber die Wirksamkeit blieb erhalten. Während die deutsche Frage, rechtlich geregelt durch die Deutsche Bundesakte von 1815, die als Teil der Wiener Kongressakte
24 Anselm Doering-Manteuffel, Vom Wiener Kongress zur Pariser Konferenz. England, die deutsche Frage und das Mächtesystem 1815–1856. Göttingen 1991, 10–13; Wolfram Pyta (Hg.), Das europäische Mächtekonzert: Friedens- und Sicherheitspolitik vom Wiener Kongress 1815 bis zum Krimkrieg 1853, Köln 2009; mit eher machtpolitischem Akzent auf die Hegemonialmächte: Paul W. Schroeder, The Transformation of European Politics, 1763–1848, Oxford 1994, 443–480; klassisch zum ganzen Abschnitt: Francis H. Hinsley, Power and the Pursuit of Peace. Theory and Practice in the History of Relations between States, Cambridge 1963. 25 Schulz, Normen, 3.
II Ebenen der Normierung seit dem 19. Jahrhundert
Teil des europäischen Normensystems blieb, vorerst stagnierte, fanden die wichtigsten politischen, auch militärischen Auseinandersetzungen an der europäischen Peripherie statt: Die Frage: Stabilisierung, Abspaltungen oder Teilungen des Osmanischen Reiches – eine Erbschaft schon aus dem 18. Jahrhundert – blieb das zentrale und bis 1856 nicht normativ geregelte Problem. Zu diesem Zeitpunkt wurde das Osmanische Reich zwar ins europäische Konzert aufgenommen, jedoch ohne dadurch seinen Objektcharakter grundsätzlich zu verlieren. Erst der Krimkrieg 1853–1856 stellte den großen Fast-Weltkrieg im Jahrhundert zwischen 1815 und 1914 dar, als das Normensystem, soweit es den allgemeinen Frieden gesichert hatte, zusammenbrach. Dieser große Krieg blieb nicht durch ein gemeinsames Normbewusstsein auf die Halbinsel Krim (und wenige andere Gebiete) begrenzt, sondern eher durch akzidentielle Faktoren.26 Ohne dass die Normen von 1815 formal aufgehoben waren, wurden sie in dieser Zeit obsolet. Der Pariser Frieden von 1856 schuf keine neuen vertraglichen Regelungen. Man begnügte sich mit einzelnen Vereinbarungen über die durch den Krieg aufgeworfenen Fragen, unter denen die Neutralisierung des Schwarzen Meeres als gravierendste machtpolitische Einschränkung Russlands nur 15 Jahre aufrechterhalten wurde. Dass auch im Anschluss keine neue Normenordnung zustande kam, hatte wesentlich mit der preußisch-deutschen Politik zu tun, in der Otto von Bismarck gerade europäisch konzertierte Regelungen etwa des deutschen Einigungsprozesses verhinderte. Kriege fanden nach wie vor statt, jedoch immerhin keine Kriege zwischen mehreren Großmächten. Die zahlreichen Eskalationsprozesse in Richtung auf eine militärische Konfrontation, die dann doch je vermieden wurde, bezogen sich auf Europa, aber für einige Jahrzehnte verstärkt auf außereuropäische Gebiete27 . Diese Vermeidung eines großen Krieges hatte wenig mit Normen zu tun, wohl aber mit gesellschaftlicher Stabilität der Mächte und einer Scheu vor den materiellen wie kulturellen Folgen. Die Probe aufs Exempel lieferte die Vorgeschichte der ersten Haager Friedenskonferenz von 1899,28 als weder die zuvor angestrebte Rüstungsbegrenzung zustande kam noch insgesamt ein neues Regime der geregelten Kooperation für das Staatensystem. Die dann vereinbarten und neu kodifizierten Normen zu Schiedsgerichtsbarkeit und sonstiger Konfliktbeilegung wurden von den Mächten vorab darauf überprüft, dass sie auch ja nicht die machtstaatliche Handlungsfreiheit beeinträchtigten. Grundsätzlich beruhte die Staatenordnung
26 Zu denken ist hier vor allem an das machtegoistische Bestreben Preußens, sich aus einem Krieg herauszuhalten, welcher sein Territorium zum Schlachtfeld machen konnte. 27 Jost Dülffer, Martin Kröger, Rolf-Harald Wippich, Vermiedene Kriege. Deeskalation von Konflikten der Großmächte zwischen Krimkrieg und Erstem Weltkrieg (1856–1914), München 1997. 28 Jost Dülffer, Regeln gegen den Krieg? Die Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 in der internationalen Politik, Frankfurt am Main 1981.
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von 1815 mit abnehmender Kraft auf der Selbstbindung der Großmächte. Sanktionsmöglichkeiten zur Durchsetzung der Wiener Ordnung gab es letztlich durch Erzwingung durch die anderen Mächte und das hieß: Kriegsdrohung oder Krieg. Auf einer zweiten Ebene, die man als Regimestrukturen charakterisieren kann, brachte das Jahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg dennoch und gegenläufig zu dieser allgemeinen Entwicklung eine Vielzahl von Rechts- und Normensetzungen. Zunächst einmal waren dies allgemein gültige vertragliche Regelungen über den Status von Territorien und Staaten. Die Inkorporierung der Akte des Deutschen Bundes in die Wiener Kongressakte von 1815, inklusive möglicher politischer Gestaltungsmerkmale Deutschlands, gehörte dazu. Die Vereinbarung der belgischen Neutralität 1839 bildete ebenso wie die Konventionen über die Schleswig-HolsteinFrage nach 1848 oder die Vereinbarung zur Neutralisierung des Schwarzen Meeres 1856 solche völkerrechtlichen Verpflichtungen. Die Durchsetzungsmöglichkeiten neben der Selbstbindung waren dieselben wie die bereits genannten, aber die Sorge vor Sanktionen bei Übertretung bestimmte doch das Verhalten im Staatensystem. So beanspruchten einzelne Mächte immer einmal wieder in der deutschen Frage ein konzertiertes Mitwirkungsrecht; aber spätestens die Revolution von 1848 zeigte, dass die gesamteuropäischen Machtverhältnisse dies nicht (mehr) zuließen. Die Verletzung der belgischen Neutralität 1914 durch die Reichsleitung in Berlin sicherte sodann für die britische Innenpolitik die Begründung für den Eintritt in den Krieg und auch der deutsche Reichskanzler zeigte sich öffentlich durchaus dieser Rechtsverletzung bewusst. Entschuldigt wurde sie von Theobald von Bethmann Hollweg mit der Notwendigkeit rascher Vorwärtsverteidigung,29 eine Begründung, die auch im internationalen Diskurs als Ausnahme von übernommenen Verpflichtungen üblich war. Dazu kamen bei anderen Gelegenheiten die Klauseln auch in Verträgen, die einen Vorbehalt bei der Bedrohung von vitalen Interessen oder bei Ehrenfragen vorsahen – eine rechtlich verbriefte potenzielle Überschreitung von vereinbarten Normen. Auf einer dritten Ebene stehen Konventionen, welche das Verhalten von Staaten regelten, zumeist als Kriegsvölkerrecht und humanitäres Völkerrecht bezeichnet. Das reichte vom Verbot der Sklaverei als regulative Norm auf dem Wiener Kongress 1815 über die Pariser Seerechtsdeklaration von 1856 bis hin zur umfänglichen Kodifizierung des Kriegsrechts in zwei Etappen auf den Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907. Auf letzterer wurden allein dreizehn einschlägige Verträge mit einer Vielzahl von Einzelregungen geschlossen, von der Nichtanwendung von Gewalt bei
29 „Wir sind jetzt in der Notwehr; und Not kennt ein Gebot. … Meine Herren, das widerspricht den Geboten des Völkerrechts. Das Unrecht – ich spreche offen –, das Unrecht, das wir damit tun, werden wir wieder gutzumachen suchen, sobald unser militärisches Ziel erreicht ist.“ – Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender, NF 30, 1914, München 1917, 384.
II Ebenen der Normierung seit dem 19. Jahrhundert
der Eintreibung von Vertragsschulden bis zum Verbot selbsttägiger unterseeischer Kontaktminen. Auch wenn diese Normen verbindlich vereinbart und zumeist national ratifiziert wurden, so wurden doch gerade – ohne Anerkennung der Relativierung – die Vitalinteressen- und Ehrenklauseln im Vorfeld zum Thema. 1909 wurde in Erweiterung der Haager Regelungen und als Äquivalent zur Haager Landkriegsordnung in London eine Seerechtskonvention vereinbart, die jedoch von einem der wichtigsten Protagonisten, Großbritannien, vor dem Weltkrieg nicht ratifiziert wurde, konnte sie doch die Optionen künftiger britischer Seekriegführung beeinträchtigen.30 Die genannten Beispiele zeigen, wie ernst und wie verbindlich völkerrechtliche Vereinbarungen eingeschätzt wurden: Rechtliche Verpflichtungen enthielten soziale Normen, die mit Bedacht übernommen wurden. Mit dem Übergang von traditionellen Gesellschaften zu komplexeren und stärker technisierten entstand auf einer vierten Ebene aus nationalem, in den internationalen Bereich übergreifender Bedarf, ein set an neuen Normen, an Normierung im Sinne der Zweckmäßigkeit und der internationalen Kommunikation, Produktion und des Warenaustauschs. Sie standen im Schnittpunkt von Recht, Technik und Wirtschaft und unterlagen seither nicht der Dichotomie von Recht und Unrecht, wurden aber dennoch weitgehend als bindend akzeptiert.31 Wer sich nicht an einheitliche Schraubengewinde hält, hat möglicherweise Schwierigkeiten, solche Produkte auf dem Weltmarkt zu verkaufen. Das war die Grundlage der jeweiligen Selbstverpflichtung. Hier griff ein „mehrfach vernetzter Pluralismus: Internationale Staatengemeinschaft, Wissenschaft, Industrie, Parlament und Verwaltung“ bildeten diese technischen Normen in Interaktion aus. Universal wurde dennoch nicht alles: Auch wenn der Urmeter in verschiedenen internationalen Konventionen sogar physisch normiert wurde, hat sich bis in die Gegenwart hinein auf der praktischen Verkehrsebene neben diesen Maßeinheiten auch die der Meilen gehalten. Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhundert wuchs der Trend zur Normierung auf dieser Ebene explosionsartig an. Wenn dies auch von einigen Autoren als Teil einer zunehmenden „Verrechtlichung der internationalen Beziehungen“ angesehen wird, so bedeutete dies aber doch besser im Kern eine technische Zweckmäßigkeit.32 Viele dieser technischen Normierungen hatten ihren Ursprung in Kongressen und Konferenzen, die jetzt nicht mehr als monarchische oder diplomatische Events
30 Alexander Rindfleisch, Zwischen Kriegserwartung und Verrechtlichung. Die internationalen Debatten über das Seekriegsrecht 1904–1914, Norderstedt 2012. 31 Milos Vec, Recht und Normierung in der Industriellen Revolution. Neue Strukturen der Normsetzung in Völkerrecht, staatlicher Gesetzgebung und gesellschaftlicher Selbstnormierung, Frankfurt am Main 2006, 3. 32 Vec, 385, 104 ff.; Martin Geyer, Johannes Paulmann (Hg.), The Mechanics of Internationalism, Oxford 2002.
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zusammenfanden, sondern zivilgesellschaftliche Akteure organisierten. Während die genannten Normierungen zum Teil zivilgesellschaftlich vorstrukturiert waren und erst danach zu intergouvernementalen Abkommen führten (sie wurden vielfach von entsprechenden Organisationen – IGOs – überwacht), setzten etwa seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verstärkt auch transnationale Konferenzen und daraus folgend die Bildung von internationalen Vereinen und Assoziationen für ganz andere gesellschaftliche Bereiche wie Soziales und Kultur ein. Dies bildet eine fünfte Ebene. Man mag hierfür ein annus mirabilis um 1864/65 etwa mit der Internationalen Arbeiterassoziation und der Gründung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz erkennen, kann dies aber auch 1889 ansetzen, als die Sozialistische Internationale (neu) gegründet wurde, sich die Interparlamentarische Union bildete und die Pazifisten auf einem Kongress einen Dachverband institutionalisierten.33 Hier ging es zumeist nicht unmittelbar um Normen, sondern um auf Wert(-ordnung)en beruhende politische Ziele, welche Gesellschaften und/oder internationale Politik auf eine andere Basis stellen sollten. Auch wenn die Abgrenzung von IGOs und diesen Non Governmental Organizations fließend war, beeinflussten diese je unterschiedlich innergesellschaftliche wie internationale soziale Normen. Ansätze zu einem Lobbyismus bis hin zu den normsetzenden Staatenkonferenzen lassen sich feststellen. In Den Haag 1899 und 1907 etwa traf sich in geselliger Verschränkung mit Regierungsvertretern und Journalisten ein breites Spektrum an Pazifisten, internationalen Juristen und Lebensreformern sowie Vertretern einer Vielzahl von partikularen Interessen,34 die nicht primär auf die Völkerrechtskodifikation, sondern eher auf die Umkehr zu einer grundsätzlich anderen Politik abzielten – eine Suche nach neuen Normen also. Die meisten der bislang genannten Ebenen entstanden im europäischen Rahmen, jedoch entwickelte sich auch die Normen- und Rechtsetzung zu einem zunehmend globaleren Projekt. Das galt weniger für die Systemebene, sondern für die weiteren genannten Kategorien, in denen immer mehr (selbständige) Staaten aus der gesamten Welt vertreten waren. Auf der Ersten Haager Konferenz trafen sich neben fast allen europäischen Staaten nur wenige außereuropäische wie USA, China, Siam. In der zweiten Haager Konferenz waren aus 26 Teilnehmerstaaten 46 geworden – es fand der Zusammenschluss des europäisch geprägten mit dem interamerikanischen Rechtssystem statt. Außereuropäische Gebiete und Staaten waren im Ius Publicum
33 Madeleine Herren, Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung, Darmstadt 2009, 18 f. (1864/65); Holger Nehring, Transnationale soziale Bewegungen, in: Jost Dülffer, Wilfried Loth (Hg.), Dimensionen internationaler Geschichte, München 2012, 129–150. 34 Madeleine Herren/Cornelia Knab, Die Zweite Haager Friedenskonferenz und die Liberalisierung des politischen Informationsmarktes, in: Die Friedenswarte 82, Heft 4, 2007, 51–64.
III Kontinuitäten und Wandel im 20. Jahrhundert
Europaeum nie ganz rechtlos gewesen,35 nunmehr wurden aber aus ihnen und ihren Vertretern zunehmend handelnde Subjekte. An dem First Universal Races Congress 1911 in London waren viele Vertreter aus außereuropäischen Gebieten beteiligt, er war mit seinen 2100 Teilnehmern tatsächlich annähernd universal aufgestellt.36 Darüber hinaus waren besonders aus außereuropäischen Staaten neben Regierungen eine Fülle an Völkerrechtlern, anderen Wissenschaftlern, Vertretern unterdrückter Gesellschaften etc. zusammengekommen.
III Kontinuitäten und Wandel im 20. Jahrhundert Durch die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts veränderte sich das Normengefüge nachhaltig. Diese Kriege bedeuteten in unserem Zusammenhang zunächst einmal einen Zusammenbruch der dem internationalen Staatensystem zugrunde liegenden Rechts- und Normensysteme. Beide Kriege hatten globale Implikationen und trugen schon dadurch zur machtpolitischen Dezentralisierung Europas bei. Der Zusammenbruch eines Kerns von internationalem Recht ließ dieses Recht als solches dennoch nicht obsolet werden. Die jeweiligen Kriegsparteien waren über weite Strecken bemüht, ihre Kriegshandlungen auch durch Berufung auf geltendes Völkerrecht zu legitimieren. Einen vollständigen Zusammenbruch des Völkerrechts gab es dennoch nicht. Einige Waffensysteme wurden nicht eingesetzt (Giftgas im Zweiten Weltkrieg), bei der Behandlung von Kriegsgefangenen gab es Gründe der Zweckmäßigkeit, etwa um keine Repressalien der Gegenseite zu provozieren. Staatliche Friedensinitiativen zur Beendigung des Krieges ohne militärische Entscheidung gab es in beiden Weltkriegen und zumal im Ersten enthielten sie jeweils Angebote zur Wiederherstellung von verletztem Recht. Zwischen den Kriegslagern brach die Zusammenarbeit von IGOs und vielen NGOs weitgehend ab, jedoch wurden gerade die technischen, aber auch sozialen Normen weiter beachtet. Gelegentlich bildeten sich auch zivilgesellschaftliche NGOs, die über die Kriegsparteien hinweg eine Basis für die Kriegsbeendigung suchten, wie es etwa die Stockholmer Friedenskonferenz der Sozialistischen Internationale 1917 unternahm. Darüber hinaus entstanden im Ersten Weltkrieg in beiden großen Lagern, im Zweiten Weltkrieg vornehmlich auf Seiten der späteren Siegerkoalition nicht nur innergesellschaftliche, sondern auch transnationale Initiativen, die auf eine andere und neue Weltordnung zielten, die nicht zuletzt durch Völkerrecht bestimmt werden sollte. 35 Jörg Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht. Stuttgart 1984; ders., Krieg und Frieden im Friedensvertrag. Stuttgart 1979; ders., Völkerrecht, in: Dülffer, Loth, 151–168. 36 Gabriele Schirbel, Strukturen des Internationalismus. First International Races Congress. Der Weg zur Gemeinschaft der Völker, London 1911, 2 Bde., Münster 1991.
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Diese Initiativen trugen wesentlich dazu bei, dass die konkreten Friedensregelungen, die von Regierungen getroffen wurden, neue völkerrechtliche Vereinbarungen enthielten. Der „war to end all wars“ (H. G. Wells 1914) sollte nicht nur auf der militärischen Niederwerfung beruhen, sondern jeweils zu einer anders gearteten neuen internationalen Ordnung führen, welche Kriege wie die gerade geführten in Zukunft verhindern sollte. Beide Male wurde diese Ordnung von den Großmächten in Verhandlungen vorstrukturiert und sodann von der weiteren Staatengemeinschaft, zunächst unter Ausschluss der besiegten Kriegsgegner, in Vertragsformen gegossen. Aber weder erreichte der Völkerbund jemals, noch die UNO in den ersten Jahrzehnten eine zentrale Rolle in der Gestaltung des internationalen Systems. Auch angesichts mangelnder Universalität erkannten die Großmächte den Völkerbund nie als zentrale rechtliche Regelungsinstanz an. Gerade in den Hoch-Zeiten seiner Wirkung schlossen vier europäische Großmächte eines der bedeutsamsten Abkommen 1925 in Locarno lieber außerhalb. Das ging grundsätzlich bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges so weiter. Wie dargelegt blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart die Dominanz der Großmächte u. a. durch deren ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat festgeschrieben und damit auch ihre – auch unabhängig davon ausgeübte – Rolle im internationalen System. Darüber hinaus nahmen die regionalen, vielfach Kontinente umfassenden Integrationsverträge zu. Die (west-)europäische Integration bildet hier nur das am tiefsten die herkömmlichen Staatenbeziehungen auf fast allen Ebenen durchdringende und zunehmend dichter werdende Normensystem; in allen anderen Kontinenten und in einer unabsehbaren Fülle von Regionen entwickelten sich gleichfalls spezifische Rechts- und Normensysteme. Wenn gerade im Zuge der europäischen Integration supranationale Züge entstanden, welche das Feld internationaler Beziehungen erweiterten, so nahm auch die Dichte der Regulierungen und Normierungen auf allen anderen der für das 19. Jahrhundert unterschiedenen Ebenen zu. Als Indiz mag gelten, dass man für 1874 32 transnationale Nichtregierungsorganisationen zählte, 1914 aber schon 466. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges handelte es sich bereits um 1083 NGOs, während man um die Jahrtausendwende zwischen 1500 und 2000 zählte. Nach anderen Quellen stieg die Zahl der NGOs sogar zwischen 1972 von 2795 auf 1984 12.686, die der Intergovernmental Organizations im selben Zeitraum von 1530 auf 2795.37 Auch wenn die Zahlen stark abweichen, geht es hier nur um den Trend, dass neue Felder gesellschaftlicher Interaktion auch eine Fülle neuer rechtlicher Verpflichtungen und Normen mit sich brachten. 37 Die ersten Zahlen zit. b. Nehring (Anm. 33) (nach Chatfield), die zweiten nach: Mark Atkinson Lawrence, Containing Globalization: The United States and the Developing World in the 1970s, in: Niall Ferguson u. a. (Hg.), The Shock of the Global. The 1970s in Perspective. Cambridge, Mass. 2010, 205–222, hier 213.
IV Regime und Normen am Beispiel von Menschenrechten
IV Regime und Normen am Beispiel von Menschenrechten Organisationen mit ihrer Verpflichtung auf Normen bilden jedoch nur einen Teil der sehr viel weiter zu fassenden Beziehungsgeflechte ab, für die sich in den letzten dreißig Jahren der Begriff Regime eingebürgert hat. Das sind nach einer klassischen Definition:38 sets of implicit or explicit principles, norms, rules, and decision-making procedures around which actors’ expectations converge in a given area of international relations. Principles are beliefs of fact, causation, and rectitude. Norms are standards of behavior defined in terms of rights and obligations. Rules are specific prescriptions or proscriptions for actions. Decision-making procedures are prevailing practices for making and implementing collective choice.
Prinzipien, Regeln und Entscheidungsprozeduren werden definitorisch von Normen geschieden, können aber in dem verwandten Rahmen der sozialen Praxis normierten Handelns durchaus unter dem Begriff der Norm einbezogen werden. Auch wenn die meisten Regimeansätze von staatlichem Handeln ausgehen39 , finden sich diese „standards of behavior“ auch und gerade in der noch lockeren Form der nicht-institutionalisierten Verhaltensweisen in internationalen Systemen der jüngeren Geschichte wieder. Regime beinhalten dann in einem weiteren Sinne funktionale Herangehensweisen an sektorale Politikbereiche, in denen bestimmte Normen explizit oder implizit gelten. Das kann ein lohnender Ansatz für Internationale Geschichte sein. Am Beispiel von Menschenrechten lässt sich das im Folgenden in Umrissen zeigen. Dass man seit der Antike und auch in anderen Kulturen von Menschenrechten sprach, kann hier nur konstatiert werden. Mit den atlantischen Revolutionen in Nordamerika und in Frankreich und deren entsprechenden Erklärungen der Menschenrechte begann eine neue Phase innerstaatlicher Programmatik in diesen Fragen.40 Schon hier wurde deutlich, dass es sich nicht um einen festen Kanon, sondern um ein je auszuhandelndes programmatisches Set an Normen handelte, die situativ ergänzt, neu betont oder auch reduziert wurden. Das war und blieb seither
38 Stephen D. Krasner, Structural Causes and Regime Consequences. Regimes as Intervening Variables, in: ders. (Hg.), International Regimes, Ithaca 1983, 1–21, hier 2; Volker Rittberger, Andreas Kruck, Anne Romund, Grundzüge der Weltpolitik. Theorie und Empirie des Weltregierens. Wiesbaden 2010, bes. 196–202. 39 Etwa Harald Müller, Die Chance der Kooperation. Regime in den internationalen Beziehungen. Darmstadt 1993, 26 f.; Andreas Hasenclever, Peter Mayer, Volker Rittberger, Theories of International Regimes, 2. Aufl. Cambridge 1997, 1–7. 40 Zum erweiterten Rahmen: Lynn Hunt, Inventing Human Rights. A History, New York 2008.
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auch für alle großen ideologischen Systeme charakteristisch. Diese Menschenrechtserklärungen, seit dem 19. Jahrhundert auch Grundrechte genannt, fungierten als innergesellschaftliche Integrationsmechanismen, hatten also keine Bedeutung in der internationalen Politik. Wenn einmal menschenrechtliche Regelungen international vereinbart wurden – wie etwa die Abschaffung der Sklaverei auf dem Wiener Kongress –, dann war damit kein Rechtsanspruch für Dritte gemeint, sondern ein gemeinsamer Appell an jede einzelne Macht, die europäische Zivilisierungsmission aus einer Position grundlegender Ungleichheit zwischen Freien und Sklaven voranzutreiben.41 Die Durchsetzung solcher eher rhetorischen Formeln blieb jedoch ganz der innerstaatlichen Politik anheim gegeben; die Souveränität im internationalen Bereich ließ kein gemeinsames Vorgehen zu. Transnationale soziale Bewegungen nahmen sich zwar einzelner Normen an, die zu den Menschenrechten gezählt werden konnten, wie etwa Pazifisten des humanitären Völkerrechts oder die Sozialistische Internationale sozialer Gruppenrechte, ein Ensemble dieser Normen kam jedoch nicht ins Blickfeld. Mit den Friedensregelungen nach dem Ersten Weltkrieg traten kollektive Normen wie Selbstbestimmungsrecht und Minderheitenschutz in den Vordergrund und blieben vielfach gekoppelt an nationale Interessen. Die Auslegungen waren in unterschiedlichen politischen Lagern so weit gefasst, dass letztlich auch die Anfänge nationalsozialistischer Expansionspolitik in Österreich, die Sudetengebiete oder den polnischen Korridor mit Normverletzungen der Staatengemeinschaft begründet werden konnten, die doch sonst mit Füßen getreten wurden. Erst aus der inneramerikanischen Mobilisierung für den Zweiten Weltkrieg („Four Freedoms“) mit einem breiten Ensemble von Menschenrechtsnormen wanderte deren Bedeutung ins internationale Feld. Das galt zunächst für die amerikanisch-britische Atlantic Charter 1941, ging in die Vorverhandlungen für die Vereinten Nationen im Washingtoner Dumbarton Oaks Ende 1944 ein42 und setzte sich dann in der UN-Charta fort: „Never before in history had any treaty ever given human rights such a prominent place as did the Charter of the United Nations.“43 Das fing in der Präambel an und setzte sich in zahlreichen Artikeln fort, die insbesondere – hier in der Tradition von britischer oder amerikanischer Sozialgesetzgebung, aber ebenso beeinflusst von Bestrebungen, die sich in der International
41 Boris Barth, Jürgen Osterhammel (Hg.), Zivilisierungsmissionen, Konstanz 2005; Gerrit W. Gong, The Standard of Civilization in International Society, Oxford 1984. 42 Samuel Moyn, The Last Utopia. Human Rights in History, Cambridge 2010, 48–66. 43 Paul Gordon Lauren, Human Rights. Visions Seen, Philadelphia 2003, 190; zum Folgenden ebd., 166–198; Roger Normand, Sarah Zaidi, Human Rights at the UN. The Political History of Universal Justice, Bloomington 2008, 107–176; Paul M. Kennedy, Parlament der Menschheit. Die Vereinten Nationen und der Weg zur Weltregierung, München 2007, dort Kapitel 6.
IV Regime und Normen am Beispiel von Menschenrechten
Labour Organization (ILO) artikuliert hatten44 – auch soziale Rechte enthielten, die aber zumeist im Rahmen der Zuständigkeit der UN-Vollversammlung angesiedelt wurden. Die im Sicherheitsrat privilegierten Großmächte sahen wenig Gründe, das Spannungsverhältnis zwischen ihrer herausgehobenen Rolle und damit insgesamt der Staatssouveränität und den potenziell diese Grenzen überschreitenden Menschenrechten als gravierendes Problem anzusehen. Wie eingeschränkt die menschenrechtlichen Formulierungen zunächst gesehen wurden, zeigt sich in der Tatsache, dass gerade die Präambel auf den Südafrikaner Jan Smuts zurückging, der keineswegs an rassische Gleichberechtigung dachte.45 Die Universal Declaration of Human Rights vom Dezember 1948 verdankte ihre Entstehung einer vielfältigen Lobbyarbeit von NGOs, zumal außerhalb Europas, darüber hinaus dem persönlichen Engagement einzelner Persönlichkeiten von Eleanor Roosevelt über Jacques Maritain bis zu René Cassin, traf aber bereits auf ein internationales Klima des Kalten Krieges. Hierbei spielte die UN-Commission of Human Rights eine wichtige Rolle, in der man sich jedoch in den ersten Jahren im Klaren war, keine wirklich gestaltende politische Rolle gegenüber Verletzungen von Recht spielen zu können. Sie enthielt eher eine „Vision“ (Lauren) denn handhabbare Normen.46 Im sich integrierenden Westeuropa schuf 1950 der Europarat eine Europäische Menschenrechtskonvention mit der Verpflichtung zu nationaler Umsetzung und darüber hinaus einer gemeinsamen Instanz, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, die sich zu einem Regime entwickeln konnte.47 Dagegen verfiel die UN-Menschenrechtsdiskussion um Durchsetzung der vereinbarten Normen für Jahrzehnte in einen „deadlock“ (Norman-Zaidi), so dass sich sogar von einem „death from birth“ (Moyn) sprechen lässt. Das lag primär am andauernden OstWest-Konflikt. Die UdSSR hatte sich bei Verabschiedung der Charter der Stimme enthalten, pflegte zwar seither ihr eigenes Verständnis von primär sozialen Menschenrechten, die sie auch international und zumal in der aufkommenden Dritten Welt durchzusetzen trachtete,48 aber menschenrechtliche Normen hatten es auch
44 Daniel Maul, Menschenrechte, Entwicklung und Dekolonisation – die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) 1940–1970, Essen 2007. 45 Mark Mazower, No Enchanted Peace. The End of Empire and the Ideological Origins of the United Nations, Princeton u. a. 2009, 28–65. 46 Lauren, Human Rights, 199–232; Normand, Zaidi, Human Rights, 177–196. 47 Ed Bates, The Evolution of the European Convention on Human Rights. From its Inception to the Creation of a Permanent Court of Human Rights, Oxford 2011; Mark Mazower, The Origin of Human Rights Regimes. Democratic Delegation in Postwar Europe, in: International Organization 54, 2000, 217–252. 48 Jennifer Amos, Unterstützen und Unterlaufen. Die Sowjetunion und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 1948–58, in: Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.), Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, 142–168.
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in der noch primär westlich bestimmten Staatengesellschaft schwer, akzeptiert zu werden. Man kann den Dekolonisierungskampf, der nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte und um 1960 einen Höhepunkt mit der Unabhängigkeit der meisten Staaten Afrikas erreichte, auch als eine Durchsetzung von Menschenrechten auffassen. Doch spricht vieles dafür – mit Samuel Moyn –, diese Auseinandersetzung in der Staatengesellschaft um Selbstbestimmung eher als eine sich dieser Normen nur bedienende Entwicklung mit primär anderen Zielen zu sehen.49 Das gilt besonders, wenn man die explosionsartige Zunahme von Berufung auf Menschenrechte in einer sich ausbildenden internationalen Zivilgesellschaft seit den siebziger Jahren in den Blick nimmt.50 Die Bedingungsfaktoren für diese Entwicklung sind derzeit in der Diskussion.51 Hier seien nur einige Eckpunkte festgehalten. Sicher hatte es auch zuvor Organisationen der Zivilgesellschaften wie amerikanisch-jüdische oder französische (Ligue des droits des hommes, seit 1898) gegeben, die aber eher als Lobbyistengruppen u. a. gegenüber den UN wirkten. Eher symptomatisch war eine internationale Menschenrechtskonferenz in Teheran 1968, die im Übrigen auch vom Schahregime unterstützt wurde.52 Das unterstreicht die in diesem Beitrag schon häufiger gemachten Beobachtungen über die Auslegung von gültigen oder erwünschten Normen auch durch deren diktatoriale Gegner. Die militärische Niederschlagung des Prager Frühlings 1968, der blutige Sturz Salvador Allendes in Chile 1973 bildeten einschneidende Etappen, um in Lateinamerika oder (Ost-)Europa soziale Menschenrechtsbewegungen entstehen zu lassen. Am markantesten wurde hier Amnesty International (gegründet 1961), das eine neuartige Vernetzung von weltweiter Massenorganisation und internationalem Beraterstatus erreichte. Nicht zuletzt der Friedensnobelpreis von 1977 und der UN-Preis für Menschenrechte 1978 zeugen von deren Erfolg.53 In dem Prozess zu einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa spielte die Argumentation mit Menschenrechten zunächst primär als westliches Druckmittel gegenüber der Sowjetunion eine Rolle. Deren (erneute) Kodifizierung in der Schlussakte von Helsinki 1975 schuf aber eine Basis für die Entstehung von zunächst hartnäckig unterdrückten Menschenrechtsbewegungen in den Staaten
49 Moyn, Last Utopia, 64–119. 50 Michael Coty Morgan, The Seventies and the Rebirth of Human Rights, in: Ferguson u. a., Shock of the Global, 237–250. 51 Breit diskutiert in dem Sammelband von Ferguson u. a., Shock of the Global. 52 Roland Burke, Decolonization and the Evolution of the International Human Rights, Philadelphia 2010, 92–111. 53 Jan Eckel, Utopie der Moral, Kalkül der Macht. Menschenrechte in der globalen Politik seit 1945, in: Archiv für Sozialgeschichte 49, 2009, 437–484 [ders., Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940er Jahren, Göttingen 2014].
IV Regime und Normen am Beispiel von Menschenrechten
des Ostblocks, aber auch für deren transatlantische und westeuropäische Vernetzung mit entsprechenden Unterstützungsbewegungen, die ihrerseits auf mehreren Ebenen Lobbyarbeit leisteten.54 Diese bürgerrechtlichen Bewegungen fanden darüber hinaus in der weitgehend dekolonisierten „Dritten Welt“ gleichfalls seit den siebziger Jahren einen breiteren transnationalen Resonanzboden für entsprechende menschenrechtliche Bewegungen. Eine Fülle derartiger NGOs entstand auch dort in vielen Staaten und vernetzte sich international.55 Das gilt zumal im Hinblick auf das Apartheid-Regime in Südafrika, dessen Ablösung allerdings erst seit 1994 erfolgte.56 Hinzu kamen neuartige Formen der weltweiten Kommunikation, aber auch die dezidierte Berufung auf Menschenrechte als Leitmotiv etwa in der programmatischen Auslegung Jimmy Carters oder der pragmatischen Vorgehensweise Ronald Reagans, die letztlich – gerade durch die breite transnationale Ausrichtung der sozialen Bewegungen – auch die Sowjetunion unter Mikail Gorbatschow erreichte. Auch unter der Berücksichtigung der Tatsache, dass in der UNO im Rahmen der Human Rights Commission etliche Staaten eher als Böcke in diesem Kreis der Gärtner angesehen werden müssen und eine Menge wenig qualifizierter Bekenntnisse zu diesen völkerrechtlichen Normen zustande brachten, nahm dennoch die Quantität der durch internationale Verträge eingegangenen Verpflichtungen zu neuen Menschenrechtsnormen (Rechte des Kindes u. a.) in derselben Zeit sprunghaft zu. So scheint es insgesamt berechtigt, bereits für die siebziger Jahre mit Akira Iriye zu summieren: Something like a universal awareness of human rights abuses was dawning on people everywhere who recognized that those rights transcended national distinctions and that discrimination in any form was an offense against a decent international order.57
Eine weitere Stufe in dieser weltweiten Berufung auf Menschenrechte folgte dem Ende des bisherigen Ost-West-Konflikts 1989/90 und damit entstand die Hoffnung, dass eine nun unipolare Welt primär von Recht und Normen getragen würde. Das erwies sich jedoch schnell als Illusion, als sich gerade die zeitweilige Weltvormacht USA unter George W. Bush weigerte, sich selbst potenziell unter die im UN-System
54 Wilfried Loth, Helsinki, 1. August 1975. Entspannung und Abrüstung. München 1998; Sarah B. Snyder, Human Rights Activism and the End of the Cold War. A Transnational History of the Helsinki Network, Cambridge 2011; Christian Philip Peterson, Globalizing Human Rights. Private Citizens, the Soviet Union and the West, New York/London 2012. 55 Lauren, Human Rights, 277–279. 56 Roland Burke, Decolonization, 59–91; Sue Onslow (Hg.), Cold War in Southern Africa. White Power, Black Liberation, London 2009. 57 Akira Iriye, Global Community. The Role of International Organizations in the Making of the Contemporary World, Berkeley 2002, 111.
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übernommenen rechtlichen Verpflichtungen zu stellen. Es lässt sich historisch noch nicht gesichert sagen, ob in den letzten zwei Jahrzehnten erneut wie nach den siebziger Jahren ein weiterer, gleich starker Schub an menschenrechtlichen Normen und deren Durchsetzung zu verzeichnen ist. Jedenfalls hat sich dieser Trend fortgesetzt. Es gibt eine Normenexplosion im humanitären Völkerrecht in der Staatengesellschaft. Es hat sich darüber hinaus eine internationale Zivilgesellschaft gerade um die Durchsetzung von menschenrechtlichen Normen gebildet. In neuartiger Dichte haben sich hier transnationale soziale Bewegungen, internationale Organisationen und auch die Politik von Staaten miteinander verflochten.
V Schluss Was hier für den Sektor humanitärer Normen gezeigt wurde, hat auch insgesamt auf die internationale Politik abgefärbt. Die eingangs aufgeworfene Dichotomie zwischen Recht und Macht bleibt aber dennoch tendenziell erhalten. Jedoch scheinen die Bereiche der Überschneidung und Ergänzung beider Kategorien breiter geworden zu sein. Wenn – wie dargelegt – Emigranten bereits während des Zweiten Weltkrieges für die künftige Weltordnung einerseits auf Recht – wie Hans Kelsen – oder andererseits auf Macht – wie Georg Schwarzenberger – setzten, so mischten sich in der Realität des Staatensystems beide Faktoren je nach Sektor unterschiedlich. Am formell normierten wie effizient praktizierten Vorrang von Großmächten hat sich von 1815 bis 2012 nichts Grundsätzliches geändert. Sie übernahmen in der Wiener Ordnung Selbstverpflichtungen für die unterzeichneten Rechtsnormen, deren Durchsetzung sie untereinander und gegenüber Dritten kollektiv gewährleisteten. Das blieb so trotz internationaler Organisationen seit Völkerbund und UNO bis in die Gegenwart. Darüber hinaus gilt das für staatliche Souveränität als Prinzip bis in die jüngste Zeit. Aber die Mechanismen der Absicherung haben sich grundlegend, wenn auch nicht unilinear gewandelt. Nicht nur ist auch unter dem Einfluss globaler Kommunikation die Zahl der Normen ständig gewachsen, es haben sich auch die Formen ihrer Anwendung und Umsetzung gewandelt. Macht ohne Recht – wenn auch zumeist mit rechtsförmigen Begründungen – hat es in den letzten Jahrhunderten immer wieder und bis in die Gegenwart gegeben. Doch hat die Verpflichtung wie Gewohnheit der Staaten zugenommen, politisches Handeln auch immer mit seiner Normativität zu begründen und damit zu legitimieren. Das ist vor allem dem Strukturwandel internationaler Beziehungen zu einer wesentlich stärker vernetzten Struktur zu verdanken. Das meint vielfältige IGOs, aber vor allem NGOs. Es geht aber nicht allein um Organisationsmacht, sondern um eine Verankerung in sozialen Bewegungen und spontanen Aktionsformen. Recht bedarf also nach wie vor der Macht zur Durchsetzung, aber dazu gekommen sind außer den Staaten selbst eine große
VI Nachtrag 2022
Anzahl an neuen Institutionen, Regimen und zivilgesellschaftlichen Kräften. Das führt seit einigen Jahrzehnten zu einem globalen Wandel im Charakter des ganzen Systems. Diese Organisationen und Regime wirken innerstaatlich und regional, aber auch global, wenn auch in sehr unterschiedlicher Verteilung über die Welt. Diese Entwicklung ist mit dem Recht als „gentle civilizer of nations“ gemeint,58 das keine teleologische Beschwörung sein sollte. Darüber hinaus lässt sich gerade an der sozialen Rolle von Normen zeigen, dass eine Kombination von horizontalen (also eher herkömmlichen) Strukturen und vertikalen Elementen der Zivilgesellschaften im globalen Maßstab seit dem späten 19. Jahrhundert, verstärkt aber im letzten halben Jahrhundert zu neuen Formen der Weltordnung geführt haben. Ob dies eine tragfähige Basis für die Zukunft darstellt, ist zwar zu hoffen, entzieht sich aber dem Urteil eines Historikers.59
VI Nachtrag 2022 In dem Jahrzehnt seit Abschluss dieses Beitrages sind eine Fülle an Ansätzen und Studien den Themen der Verrechtlichung, der Menschenrechte und des Humanitarismus entstanden; sie alle zu erwähnen, liefe auf eine ergänzende Bibliographie oder gar auf einen neuen Aufsatz hinaus. Das reicht allein im deutschsprachigen Bereich von Fabian Kloses Erfolgsgeschichte der humanitären Intervention im langen 19. Jahrhundert zumal in der Abschaffung des Sklavenhandels über Markus Payks Untersuchungen zur Verrechtlichung internationaler Politik seit dem späten 19. Jahrhundert mit dem Schwerpunkt auf den Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg bis hin zu Jan Eckels umfassendem Werk über die globale Diskussion zu Menschenrechten seit dem Zweiten Weltkrieg.60 Gerade in der Völkerrechtswissenschaft haben die Ansätze zur Verschärfung und Durchsetzung des internationalen Strafrechts wichtige neue Ergebnisse erbracht, wie u. a. die Studien von Claus Kreß zeigen.61 Im Rahmen der Fritz Thyssen Stiftung hat sich um Norbert Frei ein „Arbeitskreis Menschrechte im 20. Jahrhundert“ von 2012
58 Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations (Anm. 3). 59 Das ist eine Tendenz bei Mary Ann Slaughter, A New World Order, Princeton 2004. 60 Fabian Klose, “In the Cause of Humanity”. Eine Geschichte der humanitären Intervention im langen 19. Jahrhundert, Göttingen 2019; Marcus Payk, Frieden durch Recht? Der Aufstieg des modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg, Berlin 2018; Eckel (Anm. 53). 61 Kreß (Anm. 10); vgl. ders. (Hg.), Paris 1919–1920: Frieden durch Recht? Baden-Baden 2020 (Beiträge von Kreß, Payk und Herfried Münkler). – Mit anderem, eher liberaldemokratischen und teleologischen Akzent als Payk: Patrick O. Cohrs, The New Atlantic Order. The Transformation of International Politics, 1860–1933, Cambridge 2022.
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bis 2022 getroffen und 10 Bände zu unterschiedlichen Aspekten vorgelegt.62 Gemeinsam ist diesen Forschungen, dass sie, vielfach global, bislang vernachlässigte Themen der Entwicklung zu Normen und Rechtsbeziehungen als ihren Kern verstehen. Das internationale Staatensystem ist in den letzten gut 200 Jahren zu einem verrechtlichten System geworden. Der Umgang damit, die Rekonstruktion von wechselnden, im Kern linearen Beziehungen des internationalen Systems wird dabei unterschiedlich kontextualisiert und damit relativiert. „Die Ambivalenz des Guten“ titelte Jan Eckel; der letzte Sammelband des Thyssenprojekts über die Entwicklung von Menschenrechten seit 1990 hieß „Embattled Visions.“63 Die realen Entwicklungen der letzten Jahre, zumal der russische Angriffskrieg auf die Ukraine legen es nahe, dass die machtpolitische Ummantelung von Völkerrecht durch die russische Führung, aber auch etwa die Politik der VR China mit der Kategorie der Machtpolitik weiterhin gut zu erklären sind. Wenn etwa die verurteilende Resolution der UN-Generalversammlung zum russischen Überfall auf die Ukraine vom März 2022 eine überwältigende Mehrheit von 141 Staaten bei nur wenigen Gegenstimmen kleinerer Staaten fand,64 so ist dies scheinbar ein Zeichen für die Durchsetzung von Völkerrecht, sicher jedoch ein Ausdruck einer rechtsbasierten Argumentation. Wenn jedoch auf der anderen Seite ein Zusammenschluss nichtwestlicher Großmächte wie BRICS – und damit potenziell weiterer Staaten des globalen Südens – sich von dieser angeblich US-amerikanisch und damit materiell dominierten Sicht einfangen lässt, deutet dies in die entgegengesetzte Richtung. „Frieden durch Recht?“ – so wurde eingangs gefragt. Dieser Slogan hat seither weiter vielfältige Verbreitung auch zur Deutung der gesamten internationalen Ordnung gefunden. Damit war und ist immer ein optimistisches Element der erhofften weiteren Entwicklung gemeint. Angemessener erscheint es mir jedoch weiterhin von einem Spannungsverhältnis von Recht und Macht in der internationalen Geschichte der letzten 200 Jahre bis in die Gegenwart zu sprechen; die Wünschbarkeit und die Realität der Staatenpolitik gehen auch 2022 weiterhin weit auseinander.
62 Schriftenreihe Menschenrechte im 20. Jahrhundert, hg. Norbert Frei, Göttingen, 10 Bde., 2016–2022 (der Vf. ist Mitglied dieses Arbeitskreises). 63 Jan Eckel, Daniel Stahl (Hg.), Embattled Visions. Human Rights since 1990, Göttingen 2022. 64 https://www.un.org/depts/german/gv-notsondert/a-es11-1.pdf vom 2.3.2022 (16.11.2022): 141 zu 5 (Russland, Syrien, Belarus, Nordkorea, Eritrea), 35 Enthaltungen. – Die BRICS-Staaten VR China, Südafrika, Indien enthielten sich; Brasilien stimmte dafür.
Die Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht und die Friedensregelungen nach den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts
Wir schreiben das Jahr 1944. Der bekannte britische Historiker Alfred Cobban veröffentlichte ein schmales Buch: „The Nation State and National Self-Determination“. Das bildet eine bis heute für unser Thema lesenswerte Materialsammlung, die zugleich anregende Reflexionen bietet. Sein Schluss1 : Consciously or unconsciously, by wrapping up national sovereignty in the idealistic language of self-determination the peacemakers concealed from themselves the flaw in the system they had created. When the many failures to apply self-determination consistently and impartially were discovered, and perhaps exaggerated, the idealism seemed to be torn away from the peace settlement, and the conflict between national sovereignty and the League assured its true place in the fundamental issue presented to the world, the vital question that had not been settled in 1919, and was to be still unsettled in 1939.
Dieser Fundamentalkritik an der Gültigkeit von Selbstbestimmung in der Friedensregelung nach 1919 kann man auch heute noch zustimmen. Das gilt auch für den Nachsatz über die daraus bis 1939 erwachsenen Probleme. Wenn man sich verdeutlicht, dass Cobbans Kritik aus dem Verlauf des Zweiten Weltkriegs entstand, gibt dies einen Anhaltspunkt dafür, dass der Begriff „self-determination“, Selbstbestimmung, nach dem Zweiten Weltkrieg kaum oder gar nicht auftauchte: Die Friedensmacher hatten aus der Geschichte gelernt und handelten anders als nach 1918. Wäre dies wirklich so einfach, dann könnte der Beitrag hier enden: „Fehlanzeige“ wegen historisch erwiesener Unzulänglichkeit. Wie zumeist: Es war so ähnlich, aber doch komplizierter. Der Begriff wurde aus Überzeugung und aus taktischem Glauben im Ersten Weltkrieg fast inflationär gebraucht. Dass er vieldeutig, situations- und interessengebunden war, hat er mit allen politischen Begriffen gemein. Das wird zunächst (I.) an einigen Beispielen dargelegt. Sodann geht es II. exemplarisch um die Anwendung in der konkreten Friedensregelung nach dem Ersten Weltkrieg. Ein III. Abschnitt wird zeigen, wie
1 Alfred Cobban, The Nation-State and National Self-Determination, London 1944, hier zitiert nach der amerikanischen Auflage, Chicago 1947, 33; im Folgenden zitiert: Cobban, Nation-State. Das Zitat blieb erhalten in der revidierten Auflage London 1969 (revised edition), 83.
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der Begriff in der Zwischenkriegszeit vollends zum agitatorischen Passepartout verkam, so dass ihn im Zweiten Weltkrieg kaum noch ein Politiker in der letztlich siegreichen Kriegskoalition verwenden wollte. Stattdessen kamen (IV.) synonyme Begriffe auf, die nicht zuletzt dem Kriegsverlauf und der im Vergleich zum Ersten Weltkrieg ganz anders gearteten Kriegskoalition geschuldet waren.
I Einen guten Indikator gibt die geplante private Stockholmer Friedenskonferenz von 1917 ab, die letztlich nicht zustande kam. Dennoch wurde von der gleichsam neutralen skandinavisch-holländischen Zentrale der Internationalen Sozialistischen Kommission eine Art Hearing veranstaltet2 . Die Organisatoren hatten hierfür am 15. Mai einen Fragenkatalog ausgegeben, in dem Selbstbestimmung als eine Art regulative Idee hoch angesiedelt war. Der Niederländer Pieter Troelstra kam in den konkreten Gesprächen auch wiederholt darauf zu sprechen, dass dies zum Programm gehöre: Friedensbedingungen a) Allgemeine Grundlagen des Friedens: Selbstbestimmungsrecht der Nationen, Autonomie der Nationalitäten, Annexionen, Kriegs-Entschädigungen, Wiederherstellung. b) Anwendung dieser Prinzipien in den konkreten Fällen? 1. Belgien, Serbien, andere Balkanstaaten, Polen, Finnland, Elsaß-Lothringen, Nord-Schleswig, Armenien. 2. Lithauen, Ukraine, Tjechen [Tschechen], Juden. 3. Die Kolonien.
Das hieß zugleich, man werde mit den anreisenden Delegationen nicht das abstrakte Prinzip, sondern die konkrete Anwendung für strittige Fälle besprechen. Der Franzose Albert Thomas, Sozialist und Rüstungsminister, ging bereits im Vormonat selbstverständlich von der Rückkehr Elsass-Lothringens an Frankreich aus, hatte aber schließlich nichts gegen consultations der Elsässer auf Grundlage der Prinzipien der französischen Revolution – wobei offenblieb, was damit genau gemeint gewesen sei. Die deutschen MSPD-Vertreter argumentierten dagegen, dass sich die Elsässer, so auch die Sozialdemokraten, vor dem Krieg zum Reich bekannt hätten, 90 % sprächen ja auch deutsch. Wenn man eine Abstimmung fordere, sei das in Deutschland innenpolitisch kaum durchsetzbar; das werde den Krieg verlängern. Gleich zu Beginn der Besprechungen meldete Philipp Scheidemann Bedenken an: „Der Begriff [Selbstbestimmung] scheint mir dehnbar. Organisiertes Staatswesen
2 Die Stockholmer Friedenskonferenz, online-Edition durch Martin Grass: https://socialhistoryportal. org/stockholm1917/documents(18.11.2022) – Die folgenden Zitate hieraus; freundlicher Hinweis von Gottfried Niedhart.
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kann darunter verstanden werden. ,Völker‘ kann auch gemeint sein. Wie weit soll man dann gehen? Die ,Nationalitäten‘ und ihre Autonomie forderten auch eine Begriffsbestimmung. Versteht man kulturelle Autonomie – z. B. bei den Tschechen – oder meint man eine Autonomie im anderen Sinne?“ Bei Elsass-Lothringen fuhr sich die Debatte des Stockholmer Büros mit den Deutschen daran fest, dass die öffentliche Meinung auf beiden Seiten die Zugehörigkeit der Elsässer verlangte. Sollte ein Schiedsgericht aus Neutralen entscheiden, ggf. einen Gebietsaustausch mit Kolonien beschließen? Das schlug der Niederländer H. van Kol schließlich vor. Scheidemann wehrte sich nachdrücklich: Wenn die Franzosen weiter die Stellung einnehmen, die sie bisher einnahmen, dann befürchte ich fast, dass eine Verständigung nicht möglich ist. Die Franzosen haben sich ihrer Regierung angeschlossen und diese will Els[ass]Lothringen wieder haben. Wir lassen uns nicht von nationalen Strömungen leiten. Wir haben Stellung genommen gegen den Chauvinismus in unserem Lande. Wir wären als Partei erledigt, wenn wir die Els[ass]Lothringer deutscher Kultur gegen Neger austauschten.
Hermann Molkenbuhr legte nach. Nicht die Elsass-Lothringer verlangten eine Abstimmung, sondern Briten und Franzosen. Im gleichen Monat kamen auch Vertreter der USPD nach Stockholm. In ihrer vorbereiteten Erklärung vom Juni 1917 wurde klar, dass nationale Selbstbestimmung gegenüber der längerfristig angestrebten sozialistischen Umgestaltung sekundär war, aber eine nahe liegende Frage im Krieg sein könnte: Die innere Politik eines Staates ist daher keineswegs eine gleichgültige Sache für die anderen Staaten und schon gar nicht für die Internationale. Der inneren Politik weisen wir die Lösung der meisten Fragen zu, deren Lösung dem Weltkrieg zugewiesen wurde. Sie hängt ab vom Fortschritt der Demokratie, von der Machtentfaltung und inneren Selbständigkeit des Proletariats.
So könne z. B. Rumänien zum Territorialstand vor den Balkankriegen von 1912 zurückkehren. Aber auch für die Armenier müsse man aus Gründen der Gerechtigkeit nationale Selbstbestimmung und Selbstverteidigung fordern. Für Kolonien komme derzeit wohl nur der Wechsel von einer fremden Souveränität zu einer anderen infrage: Es wäre sinnlos, dafür den Grundsatz der Selbstbestimmung der Nationen und der Intrigität [Integrität] des nationalen Bodens anzurufen. Und die Verlängerung des Krieges um Kolonien Besitzes willen ist noch widersinniger als die, um Grenzveränderungen im
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Sinne nationaler Befreiung in Europa herbeizuführen. Auf diesem wie auf jedem Gebiet verlangen wir, dass der Friede ein Friede der Verständigung ist.
Das Stockholmer Büro seinerseits gestand den Finnen wegen kultureller und sprachlicher Andersartigkeit gegenüber den Russen gern nationale Selbstbestimmung zu. Delegationen zahlreicher muslimischer Regionen traten auf und forderten Autonomie bzw. Selbstbestimmung, so auch explizit muslimische Inder. Eine Variante legten die Zionisten von Poale Zion vor, gerade im Zeichen der Selbstbestimmung forderten sie freie Betätigung für Zionisten. Ihr Vertreter führte aus: Wir verlangen dass die Erde d[er] Menschheit gehört. Deshalb verlangen wir freie Kolonisation in allen Ländern. Wirksame Durchführung d[er] Pol[itik] d[er] off[enen] Thür u.s.w. Die Kolonialpol[itik; gemeint: Kolonisationspolitik] ein demokrat[isches] Verlangen. Palästina kann auf Grund d[er] Landwirtsch[aft] 4 Mill[ionen] Menschen ernähren. Nun giebt’s da nur 1 Million. Wir wollen niemand verdrängen. Wir wollen nur Betätigungsfreiheit.
Mit diesen Positionen haben wir bereits einen guten Überblick über die praktische Debatte nach dem Waffenstillstand gewonnen: 1. Selbstbestimmung changierte zwischen Autonomie, die je nachdem kulturell, politisch oder ökonomisch gesehen werden konnte, und völliger staatlicher Unabhängigkeit. Im finnischen Fall wurde die Andersartigkeit der Finnen als Kriterium für letztere angesehen. 2. Es gab in den Nationen – so im Deutschen Reich und Frankreich – öffentlich sehr fest verankerte Vorstellungen, was denn mit einer bestimmten Bevölkerungsgruppe geschehen sollte – nämlich die bleibende oder geänderte Inkorporierung in die eigene Nation. Für die Elsass-Lothringer wurde u. a. deswegen kein Plebiszit im Frieden anberaumt (die Wiedergutmachung „historischen“ Unrechts war das andere). 3. Auch Sozialisten – hier die USPD – sahen das relative Funktionieren von Staatlichkeit gegenüber anderen und damit den Befriedungsakt als wichtiger an als Selbstbestimmung. Das lag am Vorrang der später zu schaffenden internationalen proletarischen Solidarität. 4. Originell war die zionistische Idee, zur Selbstbestimmung durch freie Kolonisation in einem wenig besiedelten Lande beitragen zu können. 5. Die eigentlichen Kolonien gerieten zwar in den Blickpunkt, aber hierfür gab es noch kaum europäische Ideen in Richtung auf Selbstbestimmung; auf der Agenda waren sie allerdings. 6. Von europäischen Minoritäten – hier vor allem Österreich-Ungarns – bis zu Muslimen und dabei außereuropäischen Ethnien gab es eine Vielfalt an Vorstellungen, dass die – eigene wie auch immer anders beschriebene – Unterdrückung verringert werden oder aufhören müsse. Selbstbestimmung war hierfür ein noch unbekannter oder viel zu hoch gegriffener Begriff.
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Das führt zu den Schwierigkeiten der Politik im Ersten Weltkrieg. Seit Beginn kämpfte Großbritannien für die Unabhängigkeit kleiner, „vergewaltigter“ Staaten – Belgien und Serbien waren die ersten. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr wurde die Revolutionierung einzelner Gegner oder der Gegnerkoalition zu einem Teil der Kriegführung, nicht nur der psychologischen, sondern auch der militärischen. Das galt für die Versuche der Mittelmächte ab 1916 in der polnischen Frage, dann ab 1917 gegenüber dem revolutionären Russland, auch des zaristischen Russlands in der polnischen Frage, sodann der Entente gegenüber Österreich-Ungarn und seinen Nationen, Großbritanniens gegenüber den Arabern im Osmanischen Reich. Exilpolitiker in Paris, London und Washington taten ein Übriges, um ihre Rechte zu fördern. Auf diese Lobby wiederum konnten die Regierungen setzen. Kurz: Der säkulare Trend zur Bildung von Nationalstaaten kam im Weltkrieg, der wie auch sonst als Beschleuniger von Entwicklungen gelten kann, voll zum Tragen und damit auch der Begriff der Selbstbestimmung. Woodrow Wilson hatte 1917 in seiner Kriegsbotschaft erklärt, es gehe darum, „the world must be made safe for democracy“ und sprach in den beiden folgenden Jahren immer wieder von Zielen wie self-government oder free government. Darin kam ein Strang seines Denkens zum Ausdruck, den man als Übertragung der inneramerikanischen Verfassung auf den Rest der Welt betrachten könnte. Das war aber nur eine Seite des ja historisch bestens ausgewiesenen Präsidenten. Lloyd Ambrosius hat gezeigt, dass Wilson bei der Selbstbestimmung, die oft mit dem Prädikat „national“ versehen wurde, das amerikanische Beispiel vor Augen hatte. Er ging von seiner Nation aus, für die er beobachtet hatte, welche Integrationskraft in ihr nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg gesteckt hatte. Diese Integrationskraft glaubte er auch, wie naiv das immer gedacht war, nach außen hin zur Geltung bringen zu können. Nur handelte es sich beim Civil War um Selbstbestimmung in einem existierenden Staat und nicht um die Staatsbildung, die anderswo erst vollzogen werden müsse. Jedenfalls war Wilson nicht der Meinung, mit self-determination ein Passepartout für die Weltgeschichte gefunden zu haben. Bei den Philippinen war er sich bereits um die Jahrhundertwende sicher, dass sie noch nicht die nötige Reife zur Selbstbestimmung hätten und die US-Intervention ins bolschewistische Russland beruhte gerade auf der Idee, dass die neuen Machthaber nicht die geeigneten Träger von Selbstbestimmung seien, so dass man deren Findung von außen befördern müsse3 . Dieser in die Zukunft projizierte „historicist“ Ansatz des US-Präsidenten
3 Lloyd Ambrosius, Dilemmas of National Self-Determination: Woodrow Wilson’s Legacy, in: L’établissement des frontières en Europe après les deux guerres mondiales/The Establishment of European Frontiers after the Two World Wars, Hg. v. Carole Fink, Bern u. a. 1996, 21–36; vgl. ebd.: William R. Keylor, The Principle of National Self-Determination as a Factor in the Creation of Postwar Frontiers in Europe, 1919 and 1945, 37–54 (hier: 37–41), im Folgenden zitiert: Keylor, Principle; Derek Heater, National Self-Determination. Woodrow Wilson and his Legacy, Houndsmills 1994, bes. 28–52; im
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erklärt vieles, was man ihm sonst als Naivität, Unkenntnis vorgeworfen hat. Vor allem wird damit das oft unterstellte „eigentliche“ Kriterium zur Unterscheidung von Nation, nämlich Sprache, deutlich relativiert, wenn nicht falsifiziert. Dass sich der Begriff Selbstbestimmungsrecht zu einem solchen Schlüsselbegriff entwickelte, hatte zunächst nichts mit Wilson zu tun. In seiner Kongressrede vom 8. Januar 1918, in welcher er sein 14-Punkte-Programm darlegte, kam der Begriff gar nicht vor4 . Einige Territorien mussten nach diesen Punkten schlichtweg wieder hergestellt werden; für die österreich-ungarische Monarchie hieß es geradezu gegenläufig, den Völkern „sollte die freieste Gelegenheit zu autonomer Entwicklung gewährt werden“. Erst in seinen nachfolgenden Reden und Erklärungen verwandte er den weiter gehenden Begriff Selbstbestimmungsrecht – in den vier Grundsätzen vom 11. Februar, den vier Zielen vom 4. Juli, den fünf Punkten vom 27. September. „Herrschaft des Rechtes, gegründet auf die Zustimmung der Regierten“ – so am 4. Juli ganz im Anklang an die US-Unabhängigkeitserklärung. In dieser Rede führte er zugleich eine neue Berufungsinstanz ein, die Weltöffentlichkeit: „und gestützt durch die organisierte Meinung der Menschheit“5 . Widersprüchlich war dies alles – und es war vor allem nicht originell. Das waren allerdings die russischen Revolutionäre, die mit der Oktoberrevolution eine neue Qualität von internationaler Politik begründen wollten. Schon Lenins Dekret über den Frieden vom 25. Oktober/ 8. November 19176 enthielt die Forderung nach Selbstbestimmung, und mehrere ähnliche Bekundungen liefen auf das Ziel „eines demokratischen Friedens ohne Annexionen und Kontributionen mit der Garantie des nationalen Selbstbestimmungsrechts“ hinaus – so im Friedensangebot an die kriegführenden Mächte vom 28. November7 . Demokratie, Frieden und Selbstbestimmung als Schlüsselbegriffe hatten jedoch für den um Durchsetzung im eigenen Land ringenden Lenin und die Bolschewiki primär taktischen Charakter als Kampfmittel nach innen und nach außen. Der Appell an die arbeitenden Massen, an das internationale Proletariat zielte nicht auf bürgerliche Demokratie, sondern auf eine weltweite Revolution,
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Folgenden zitiert: Heater, Self-Determination; überzeugend jetzt Erez Manela, The Wilsonian Moment. Self-Determination and the International origins of Anticolonial Nationalism, Oxford 2007; Cobban, Nation-State, 62–66. James Brown Scott (Hg.), Official Statements on War Aims and Peace Proposals, 1916–1918, Washington 1921. Die Redeexzerpte bequem auf Deutsch in: Ursachen und Folgen vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkundenund Dokumentensammlung zur Zeitgeschichte, 26 Bde., herausgegeben und bearbeitet von Herbert Michaelis u. a., Berlin 1958. Im Folgenden zitiert: Ursachen und Folgen. Hier: Bd. II, 377. Text: Kurt O. Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, München 1963, 516–518; im Folgenden zitiert: Rabl, Selbstbestimmungsrecht; Diskussion: Ebd., 66–76. Heinrich Schulthess (Hg.), Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender 1918, München 1919, 769, im Folgenden zitiert: Schulthess, Geschichtskalender.
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welche auch die bisherigen Staaten abschaffen würde. Dieser sowjetische Appell setzte mit hoher Suggestivkraft bei allen Kriegführenden emotionale Kräfte frei. Nach Lenin, aber vor Woodrow Wilson äußerte sich aber noch David Lloyd George in einer großen Rede am 5. Januar 1918. Als er die wiederherzustellenden Länder aufzählte, benutzte er den Begriff Selbstbestimmung nicht, erwog nur hier und da, dass befreite Länder – zumal im Osmanischen Reich – nicht unter ihre alte Herrschaft zurückkehren sollten. Erst beim Umgang mit den deutschen Kolonien hieß es, „die allgemeinen Grundsätze der nationalen Selbstbestimmung sind daher in ihren Fällen ebenso wie in denen der besetzten europäischen Gebiete anwendbar“. In drei Hauptforderungen zugespitzt formulierte der britische Premierminister nachdrücklich als 2. Punkt: „Schlichtung von Gebietsfragen auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts oder der Zustimmung der regierten Völker“8 . Auch das bildete nur eine regulative Idee, kein grundlegendes Prinzip. Die Chronologie macht deutlich: Die Agenda setzte der bolschewistische Aufruf, Lloyd George und Wilson reagierten lediglich darauf. Ende 1917/Anfang 1918 war der Begriff Selbstbestimmung in aller Munde. Gewiss hatten manche Politiker schon 1914 den Begriff gebraucht. Aber was bei dem Friedensangebot der Mittelmächte und bei Wilsons Vermittlungsaktion Ende 1916 erst vage umrissen war, hatte sich jetzt zum Allerweltsbegriff entwickelt. Wenn Wilson zuvor von der Befreiung der Nationalitäten und dem Recht der kleineren Völker gesprochen hatte, so konterten die Mittelmächte mit der Erwähnung der irischen und finnischen Frage und mahnten auch die Unabhängigkeit der Burenrepubliken an oder kritisierten die Unterwerfung Afrikas durch Großbritannien, Frankreich und Italien. Durch Lenins Friedensplan Ende 1917/Anfang 1918 bekam der Begriff zumal für die Friedensverhandlungen der Mittelmächte mit Sowjetrussland taktische Bedeutung. Die Regierung Hertling stellte sich verbal auf dieses Prinzip ein und im Hauptausschuss des Reichstages fanden nachhaltige Debatten darüber statt. Matthias Erzberger (Zentrum) etwa am 3. Januar: „Das Selbstbestimmungsrecht der Völker müsse klar, ehrlich und wahr durchgeführt werden“9 ; Eduard David (MSPD): „Dem Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Völker liege derselbe ethische Gedanke zugrunde wie dem Selbstbestimmungsrecht des einzelnen. Die Zeit sei vorbei, dass Völker wie Hammelherden verteilt, auseinandergerissen und zusammengeworfen werden könnten, wenn siegreiche Staaten über sie Herr ge-
8 Schulthess, Geschichtskalender, 147. 9 Der Hauptausschuß des Reichtages, 191. Sitzung vom 3. Januar 1918, abgedruckt in: Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915–1918. Eingeleitet von Reinhard Schiffers, bearbeitet von Reinhard Schiffers, Manfred Koch in Verbindung mit Hans Boldt, Bd. 4, 191–275. Sitzung, Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Erste Reihe: Von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Republik, Bd. 9,4, Düsseldorf 1981, 1831.
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worden seien.“10 Allgemein kann man sagen, dass sich die Linke von der USPD bis hin in die Mitte des Zentrums verbal auf diese Basis zur Erreichung des Separatfriedens stützte, während die Rechte den Begriff lieber nicht in den Mund nahm und vom künftigen besseren Schutz der Grenzen sprach. Allerdings kam auf der Linken sehr bald Skepsis auf, ob die Landesräte in Kurland, Litauen oder Polen wirklich etwas mit demokratischer Basis und Volksmeinung zu tun hatten, was sich auch nach Erklärung der jeweiligen Unabhängigkeit fortsetzte. Während sich Paul von Hindenburg „mit Entrüstung“ gegen die Unterstellung wandte11 , jemals dem Prinzip der Selbstbestimmung etwas Positives abgewonnen zu haben, suchte die Reichsregierung das Diktat des Friedens von Brest-Litowsk dennoch in der Sprache von Selbstbestimmung zu rechtfertigen; der Begriff selbst tauchte im Vertragswerk mit der Ukraine und Russland nicht auf. Im Sommer 1918 entfaltete der Begriff Selbstbestimmung eine neue und allgemeine Dynamik. Ein Kongress der unterdrückten Nationalitäten im April 1918 in Rom griff das Stichwort auf12 , Exilpolitiker in den westlichen Hauptstädten argumentierten verstärkt mit diesem Anspruch. Erst nach dem deutschen Friedensersuchen von Prinz Max von Baden vom 3. Oktober an den amerikanischen Präsidenten erhielten dessen Erklärungen des Jahres 1918 kanonische Bedeutung. Mit Verzögerung gewannen die 14 Punkte und weitere Erklärungen den Status einer scheinbar verbindlichen Basis, welche auch die Westmächte binden konnte. Das Schlagwort vom pactum de contrahendo bekam so eine rechtliche, wenn auch nicht unbedingt politisch relevante Basis. Auch wenn für die künftige politische Ordnung des Reiches selbst nicht ausdrücklich von Selbstbestimmung die Rede war, spielte doch der außenpolitische Druck in den Lansing-Noten, ob die Reichsregierung für die alten militärischen Gewalten spräche („Die deutsche Nation hat dies in der Hand zu ändern“, legte einen gründlichen Regimewechsel nahe13 ) eine entscheidende Rolle in der Parlamentarisierung des Reiches. Für Wilson bedeutete dies erneut, dass die freie Entscheidung einer Nation gegen eine autokratische Staatsform den entscheidenden Parameter für deren Akzeptanz in der Staatenordnung darstellte. „Volksregierung“ und „Völkerfrieden“ gehörten daher fortan zu den auch von einigen deutschen politischen Rechten im Selbstbild beanspruchten Begriffen. Im gleichen Zuge gewann die Frage des Habsburger Reiches erst im Oktober 1918 eine entscheidende Wendung. In den 14 Punkten war das Ziel formuliert worden, ihren Völkern „sollte die freieste Gelegenheit zu autonomer Entwicklung
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Ebd., 1833. Ursachen und Folgen II, No. 291, 170. Cobban, Nation-State, 54 f. Ursachen und Folge II, 393 f. (394), Lansing 14. Oktober No. 415.
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gewährt werden“ (Punkt 10). Wilson hielt also nach wie vor viel von der Integrationskraft der Donaumonarchie, was bereits zur gleichen Zeit sein Staatssekretär Robert Lansing für illusorisch hielt. Den Ansprüchen einzelner Nationalitäten im Laufe der zweiten Kriegshälfte suchte Kaiser Karl mit dem „Völkermanifest“ vom 16. Oktober 1918 eine letzte verzweifelte Bündelung zu geben14 : „An die Völker, auf deren Selbstbestimmungsrecht das neue Reich sich gründen wird, ergeht Mein Ruf, an dem großen Werke durch Nationalräte mitzuwirken, die die Interessen der Völker zueinander sowie im Verkehr mit Meiner Regierung zur Geltung bringen sollen.“ Wilson jedoch wandte sich in einer Note zwei Tage später, am 18. Oktober 1918, erstmals von der Leitidee künftiger Autonomie ab und gab damit die Erhaltung Österreich-Ungarns auf. Er stellte jetzt den Völkern anheim, sie müssten entscheiden, ob und wie sie mit der Wiener Regierung zusammenarbeiten wollten. Das geschah nicht zuletzt aufgrund der südslawischen und tschechoslowakischen Bewegungen. Thomas Masaryk rief am gleichen Tage in Washington die Unabhängigkeit seines Staates mit Berufung auf Wilson aus: „Kein Volk darf gezwungen werden, unter einer Herrschaft zu leben, unter der es nicht leben will.“15
II Damit war der normative Gehalt des Begriffs Selbstbestimmung entscheidend geworden. Er hatte bisher die Mobilisierung gegen die Mittelmächte und deren Revolutionierung bedeutet. Das war mit Kriegsende obsolet geworden. Nunmehr stießen sich im harten Raum der politischen Umsetzung die ethischen Ansprüche mit machtpolitischen Interessen und Kategorien. Anders gesagt: Selbstbestimmung spielte insgesamt eine wichtige Rolle, und insbesondere der US-Präsident war grundsätzlich überzeugt, dass der freie Wille von Völkern festgestellt werden könne und als Leitlinie gelten müsse. Das könnte umfassend nur in einer Gesamtdarstellung gezeigt werden. Hier werden nur die unterschiedlichen Faktoren benannt und erläutert, die konterkarierend hinzukamen und eine je nach Einzelfall unterschiedliche Mischung in der Umsetzung hervorriefen. Da dies weitgehend bekannt ist, bedarf es nur der pointierten Zusammenfassung16 .
14 Text Rabl, Selbstbestimmungsrecht, 536 f.; Manfried Rauchensteiner, Der Tod des Doppeladlers, Graz 1993, 601–625. 15 Rabl, Selbstbestimmungsrecht, 82; Karl Renner, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Österreich, Leipzig, Wien 1918 (Neufassung einer Schrift unter Pseudonym von 1902) setzte sich unter dem Etikett Selbstbestimmung nachdrücklich für rechtlich gesicherte Autonomie ein. 16 Ausführlicher hierzu: Jost Dülffer, Selbstbestimmung, Wirtschaftsinteressen und Großmachtpolitik. Grundprinzipien für die Friedensregelung nach dem Ersten Weltkrieg, in: Auf dem Weg zum
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1. Die Ententemächte hatten im Krieg eine Fülle geheimer Verträge geschlossen, die u. a. den Zweck hatten, einen Staat wie Italien mit Aussicht auf Beute in den Krieg zu ziehen oder darin zu halten; ähnliches gilt für das zaristische Russland. Das betraf vor allem italienische Ambitionen auf die Brennergrenze, aber auch auf südslawische Gebiete, sodann das Osmanische Reich als solches, das weitgehend in Annexions- und Interessenzonen aufgeteilt war. Auch wenn Lenin zusammen mit dem Dekret über den Frieden die ihm bekannten Abkommen anklagend veröffentlicht hatte und sie durch sein Friedensprogramm ersetzte, waren die anderen europäischen Mächte nicht bereit, diese Abkommen gleichfalls für obsolet zu halten. Wilson ließ in seinen 14 Punkten u. a. eine Antwort darauf erkennen17 . 2. Es stellte sich nach dem emotional geführten Krieg schnell heraus, dass eine Anwendung des Selbstbestimmungsanspruches auf die unterlegenen Mächte nur dann infrage kam, wenn es sich nicht um eine Vergrößerung von deren Territorium oder Bevölkerung handelte. Dazu waren die Überzeugungen vom expansiven Charakter und der Schuld am Kriege zu weit verbreitet. Das bezog sich zumal auf die Sudetengebiete, die bis dahin zu Österreich-Ungarn und nicht zum Deutschen Reich gehört hatten, sodann aber auf den Beitritt Deutsch-Österreichs als solchem. 3. Die siegreichen Friedensmacher hatten keine Chance, etwa wie auf einem Reißbrett, neue Regelungen zu erfinden. Sie konnten zunächst einmal vielfach nur modifizieren oder gar ratifizieren, was mit dem revolutionären und nationalen Umbruch des Kriegsendes ohne ihr Zutun in Gang gekommen oder bereits vollzogen war. Sodann hatten Emigranten in Paris, London und Washington eigene Vorstellungen z. B. von einem polnischen, tschechoslowakischen oder südslawischen Staat, die sie in ihren Gastländern schon länger durchzusetzen trachteten. Sie und viele andere Vertreter neuer Nationsansprüche wirkten auch in Paris während der Friedenskonferenz als formell Beteiligte oder informelle pressure groups. Schließlich bildeten sich vor Ort unterschiedliche regionale oder nationale Komitees, welche unter dem Panier von Selbstbestimmung vollendete Tatsachen zu schaffen suchten. Das bedeutete jeweils nicht nur gegenüber der verbliebenen supranationalen Macht konkurrierende Ansprüche, sondern daraus ergab sich vor Ort auch eine Konkurrenz der nationalen Ansprüche, welche häufig gewaltförmig ausgetragen wurde. Selbstbestimmung bildete hier ein zentrales politisches Argument. Die bereits seit Generationen in Gang gesetzten Prozesse der Ausdifferenzierung in ethnisch bestimmte Bevölkerungsgruppen erfuhren in den Auseinandersetzungen vor Ort eine überstürzte Form der beschleunigten Aushandlung: In dieser Hinsicht bedeutete die Friedensregelung eine Fortsetzung der Balkankriege von 1912/13 und ethnisch reinen Nationalstaat?, Hg. v. Mathias Beer, Tübingen 2007, 41–67. Auch in ders., Frieden stiften. Deeskalations- und Friedenspolitik im 20. Jahrhundert, Köln 2008, 118–137. 17 Aviel Roshwald, Ethnic nationalism and the fall of empires. Central Europe, Russia and the Middle East, 1914–1923, London 1993.
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der militärischen Auseinandersetzungen des Ersten Weltkrieges mit gelegentlich anderen Mitteln. 4. Zu diesen vor Ort laufenden Staats- oder Nationsbildungen kamen bei den Friedensmachern andere Kriterien hinzu. Eine wichtige Überlegung bildete die wirtschaftliche Leistungs- und Lebensfähigkeit neuer Staaten. Das markanteste Beispiel ist Polen, das bereits in Wilsons 14 Punkten einen freien Zugang zum Meer haben sollte – eben um dadurch über die Ostsee an den Welthandel angeschlossen zu werden. Das lief in diesem Fall allen Begriffen von Selbstbestimmung – hier der Deutschen – diametral entgegen. Ähnliches lässt sich etwa für einen Staat wie Luxemburg sagen, wo vor allem verkehrstechnische Gründe (Eisenbahnen) von Bedeutung waren. Aber auch die Rückkehr Lothringens an Frankreich hatte sekundär wirtschaftliche Motive. 5. Zu den wirtschaftlichen kamen gelegentlich militärische oder militärgeographische Begründungen von Grenzziehung. Das spielte als Anspruch Frankreichs an seiner Ostgrenze eine große Rolle, galt aber auch für entsprechende polnische Ambitionen oder für die Grenzziehung zwischen dem neuen tschechoslowakischen und polnischen Staat (Teschen). 6. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges waren je nach Rechnung drei oder vier Großreiche an ihr Ende gekommen. Jedenfalls wurden Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich in Einzelteile zerlegt, das Russische Reich erfuhr in Krieg, Intervention und Bürgerkrieg eine sozialistische Umgründung. Sie hatte anfangs mit Lenins Prinzipien von Selbstbestimmung zu tun, entwickelte sich dann aber immer stärker in ein freies macht- und militärpolitisches Ringen um Revolution und Konterrevolution. Zumal bei der letztlich im Frieden zu Riga 1921 festgelegten polnisch-russischen Grenze spielte der Waffenerfolg die entscheidende Rolle. 7. Zu den Vorbereitungen, ja zum Teil auch Vorentscheidungen vor der Friedenskonferenz gehörten auch die Expertenkommissionen, welche die künftigen Siegermächte zur Entwicklung ihrer Kriegsziele (so im französischen Fall) und ihrer Vorstellungen einer künftigen Friedensordnung (so vor allem im US-amerikanischen und britischen Fall) eingerichtet hatten. Hier hatte das britische Political Intelligence Department bis Anfang 1919 71 sehr unterschiedliche Studien vorgelegt, die USamerikanische Inquiry beschäftigte bereits seit den Zeiten vor dem Kriegseintritt der USA über 100 Experten. Die Ausgangspunkte waren verschieden und bezogen neben verfügbaren Volkszählungen, sprachlichen, ethnischen, religiösen, historischen, militärischen und wirtschaftlichen Elementen und Argumenten auch ganz traditionelle Vorstellungen von europäischem Gleichgewicht ein. Sprache, Religion und volkliche Zuordnung mochten Kriterien für Selbstbestimmung abgeben, identisch mit einer Umsetzung von Selbstbestimmung waren sie aber nicht. 8. Wenn also die Pariser Konferenzen von unterschiedlichen Expertenansätzen vorbereitet worden waren, dann setzte sich dies nach Kriegsende fort. Neue Kommissionen wurden gebildet, ja Untersuchungsgruppen wurden in viele der
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umstrittenen Regionen geschickt, um vor Ort genaue Erkundigungen einzuziehen. Hier wurde von Armenien und anderen Kaukasusgebieten bis zu den diversen Grenzen in Europa außerordentlich viel Material nach etwa den gleichen Kriterien gesammelt. Das geschah unter großer Zeitnot; die Experten waren gelegentlich nicht nur von Lobbyisten der Region informiert, sondern stellten selbst nationale Interessenvertreter, wenn auch unter anderer Staatsbürgerschaft dar. So untersuchte etwa ein Tscheche in französischer Uniform die richtige Grenze zwischen der ČSR und Polen im Teschener Gebiet. Vor Ort konnte auch bei bestem Bemühen um objektive Zusammenhänge jeweils nur ein kleiner Kreis von regionalen Autoritäten oder Gewährspersonen befragt werden. In den so erarbeiteten Empfehlungen, die kaum mehr als fundierte Eindrücke über nationale Zugehörigkeiten sein konnten, wurde dennoch „Selbstbestimmung“ festgesetzt. Was sie gewiss nicht konnten, war, nationale Selbstbestimmung etwa in plebiszitärer Form vor Ort ersetzen. Die neuen Staaten entstanden somit in einem oft chaotischen militärischpolitischen Aushandlungsprozess. Volksabstimmungen oder Plebiszite waren hierbei die von außen auferlegte Ausnahme, die in nur neun Fällen angewandt wurde18 . Sie fanden zumeist dann statt, wenn alle oder einige Alliierte überzogene oder unberechtigte Ansprüche anderer Alliierter abwehren wollten. Das galt zumal für französische Ansichten hinsichtlich Schleswigs oder auch der Gebiete Allenstein und Marienwerder, wo das Plebiszit die Bevölkerungswünsche feststellte. Das galt im gleichem Maße für die erst im März 1921 abgehaltene Abstimmung in Oberschlesien, wo sich eine Mehrheit von 59,43 % für Deutschland gegenüber 40,57 % für Polen ergab und letztlich nicht in einem Zuschlag zum Deutschen Reich endete, sondern zur Teilung des Gebiets führte. Die Bedeutung von politischen Experten hatte sich schon vor den Abstimmungen in der Festsetzung der jeweiligen Abstimmungsgebiete niedergeschlagen, die naturgemäß nie objektiv festgestellt werden kann. Hier mussten politische Prozesse vorausgehen. Nur gelegentlich wurde eine Volksabstimmung zur Schlichtung militant vorgetragener nationaler Ansprüche angesetzt, wie im Falle Kärntens von den Siegermächten durchgeführt zwischen Österreich und dem SHS-Staat sowie bilateral im Burgenland zwischen Österreich und Ungarn. In Eupen-Malmédy gab es eine in die Macht der belgischen Behörden gelegte Möglichkeit, sich vor diesen zum Verbleib beim Deutschen Reich zu bekennen. Das bedeutete eine parteiische Abstimmung. In der Regel wurden Abtretungen nicht mit der Berufung auf ein vollzogenes Selbstbestimmungsrecht durchgeführt – etwa im Fall Elsass-Lothringens –,
18 Richard Breyer (Hg.), Deutschland und das Recht auf Selbstbestimmung nach dem Ersten Weltkrieg. Probleme der Volksabstimmung im Osten 1918–1922, Bonn 1985, mit Fallstudien aus Sicht der deutschen Minderheiten; umfassender: Seamus Dunn, T. G. Fraser (Hg.), Europe and Ethnicity. The First World War and contemporary ethnic conflict, London, New York 1996; u. a. mit Studien zu Irland oder den arabischen Territorien.
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aber auch politisch abgewehrt wie im Fall der von Frankreich geforderten Rheingrenze (die Saarabstimmung nach 15 Jahren stellte einen einmaligen Sonderfall dar). Wenn eine politische Einigung zwischen zwei oder mehr Ansprüchen nicht erreicht werden konnte, dann wurde etwa im Fall Danzig (bis 1939) oder Fiume (bis 1922) der Versuch einer „neutralen“ Lösung als Freistaat oder -republik versucht. Das stellte jeweils einen dilatorischen Kompromiss oder auch eine revisionistische Zeitbombe dar. Zusammenfassend: Komplexe Kompromisse bei den Friedensregelungen ließen den Anspruch auf Selbstbestimmungsrecht zwar zu einer regulativen Formel mit hohem öffentlichen Wirkungsgrad anwachsen. Aber zugleich wurde diese Forderung zu einer politisch brisanten und mehrdeutigen Leerformel zur Aufladung partieller Ansprüche. Dass „Selbstbestimmung“ auch bei weitgehend interesselosem Bemühen in konkreten Fällen problematisch werden musste, war schon in den internen Ausschüssen der Großmächte während des Krieges deutlich geworden und so auch den Experten in Paris. Daher entwarfen sie als Korrelat den Schutz von Minderheiten19 . Das Thema wurde von jüdischen Lobbyisten aus Frankreich, Großbritannien und den USA in die Verhandlungen eingebracht, zum Teil mit Berufung auf Karl Renner. Was vor allem im Hinblick auf die Juden in Rumänien und Polen als Ziel der Autonomie formuliert wurde, bedeutete, dass self-determination in self-government konkretisiert wurde. Eine Art „Staat im Staate“ – so Lloyd George – dürfe dies aber nicht werden, und auch Wilson sprach sich gegen so weitreichende Lösungen aus20 . Daher suchte die im Mai 1919 gebildete Minderheitenkommission des Obersten Rates nach anderen Lösungen. Das hatte mit den vorangegangenen Expertenkommissionen vor Ort zu tun, bei denen sich etwa die US-Historiker Archibald C. Coolidge und Robert Kerner als Experten für Böhmen gegen die Selbstbestimmung der Sudetendeutschen ausgesprochen hatten. Sie traten vielmehr für deren Autonomie ein, konnten diese angesichts der Vorentscheidungen zugunsten des tschechoslowakischen Staates nicht durchsetzen. Die Chimäre eines aus sechs Sprachnationalitäten bestehenden Staates – analog zur Schweiz – hatte unter den gegebenen chaotischen Verhältnissen vor Ort keine Chance.
19 Grundlegend auch für die „gescheiterten“ Plebiszite bis heute: Sarah Wambaugh, Plebiscites since the World War. With a Collection of Official Documents, 2 Bde., Washington 1933 (ein Band Text, ein Band Dokumente); Erwin Viefhaus, Die Minderheitenfrage und die Entstehung der Minderheitenschutzverträge auf der Pariser Friedenskonferenz 1919, Würzburg 1960; im Folgenden zitiert: Viefhaus, Minderheitenfrage; Carole Fink, Defending the Rights of Others. The Great Powers, the Jews, and International Minority Protection, 1878–1938, Cambridge 2004, vor allem 133–170, 209–236. 20 Viefhaus, Minderheitenfrage, 152 f.
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So wurde schließlich nicht für die Tschechoslowakei, sondern zwischen den Siegermächten und Polen am 28. Mai 1919 der erste Minderheitenvertrag geschlossen21 , mit dem die dortigen Minoritäten religiöse, sprachliche und rassische (racial) Gleichberechtigung zugestanden erhielten, die sich auch auf das Schulwesen bezog. Daneben wurde das Options- und Auswanderungsrecht zugunsten einer anderen Nation vereinbart. Inwieweit so ein Ausgleich im polnischen Sinne mit der Bereitschaft zur Assimilation gegenüber der Forderung nach Autonomie geschaffen war, blieb der Zukunft überlassen. Jedenfalls ließen die Großmächte hier wie gegenüber anderen neuen kleineren Staaten keinen Zweifel daran, dass sie ihnen ihre Existenz zu verdanken hätten und daher derartige Einschränkungen ihrer Souveränität hinzunehmen hätten. An sich hätte es Sinn gehabt, Minderheitenrechte in der neuen Weltorganisation Völkerbund zu verankern. Das hatte der US-Präsident ursprünglich vorgehabt, ja, er ging noch weiter: Wilson wollte den Völkerbund zu einem Instrument zur Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts machen. Ende August 1918 hatte er im Entwurf für Artikel 3 der Satzung formuliert22 , die Vertragsparteien garantierten sich Unabhängigkeit und territoriale Souveränität, aber „territorial readjustments“ durch Wechsel der „racial conditions“ oder „social relationship, pursuant to the principle of self-determination“ sollte möglich sein, was auch durch die entsprechenden Vorschläge einer Dreiviertel-Mehrheit der Delegierten geschehen könne. Dennoch gelte grundsätzlich, „that the peace of the world is superior in importance to every question of political jurisdiction or boundary“. Ein solcher Artikel hätte die Minderheitenprobleme eingeschlossen und Dynamik in eine Staatengesellschaft nur scheinbar absoluter Souveränität gebracht. Damit lief der US- Präsident jedoch bereits bei den anderen der Großen Fünf auf. Racial equality war vor allem ein japanisches Anliegen, das aus innenpolitischen Gründen angesichts der US-Rassenschranken unannehmbar war. Auch in der abgeschwächten Form von „equality among nations and the just treatment of their nationals“ (April 1919) war es nicht akzeptabel. So entfielen auch US-Vorstellungen, religiöse Betätigung solle in allen Staaten garantiert werden. Angesichts der Widerstände der Europäer verankerte die Völkerbundsatzung schließlich nur ein System kollektiver Sicherheit für souveräne Staaten (in Artikel 10 ff.). Dynamik brachte lediglich auf britischen Wunsch Artikel 19 hinein: „The Assembly may from time to time advise the reconsideration by Members of the League of treaties which have become inapplicable and the consideration of international conditions whose continuance might endanger the peace of the world.“ Damit war historischer Wandel in rechtsförmige Bahnen gebracht – aber von Selbstbestimmung war nicht mehr die Rede. Dazu hatte
21 Abgedruckt in Englisch u. a. bei Viefhaus, Minderheitenfrage, 231–234. 22 David Hunter Miller, The Drafting of the Convenant, New York, London 1928, Vol. 2, 12 f.
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nicht zuletzt die mögliche Anwendung des Prinzips auf außereuropäische Gebiete beigetragen. US-Außenminister Lansing notierte bereits zuvor am 30. Dezember 1918 in kritischer Abgrenzung von seinem Präsidenten23 : Dieses Prinzip wird der Ausgangspunkt unmöglicher Ansprüche an die Friedenskonferenz werden und viel Unruhe in vielen Ländern stiften. Welche Wirkung wird diese Phrase z. B. auf die Iren, die Inder, die Ägypter und die Burennationalisten haben? Wird sie nicht Unzufriedenheit, Ruhestörung und Aufruhr wecken.
Er erwähnte Syrien, Palästina, Marokko, Tripolis und fuhr fort: „Das ganze Wort ,Selbstbestimmung‘ ist mit Dynamit bis zum Rande geladen. Es wird Hoffnungen erwecken, die sich nimmer erfüllen lassen. Ich fürchte, dass es tausende Leben kosten wird ... Welch ein Verhängnis, dass dieses Wort je geprägt wurde! Welches Elend wird es über die Menschen bringen!“ Was hier potenziell für Gebiete des auseinanderfallenden Osmanischen Reiches (die nach den Teilungsverträgen des Weltkrieges von Briten und Franzosen nicht für fähig zur Selbstbestimmung gehalten wurden) und für die eigentlichen Kolonien formuliert wurde, fand schließlich in der Völkerbundsatzung im Mandatsartikel 22 Platz24 . Es handelte sich dabei aber nur um die kolonialen Gebiete der ehemaligen Kriegsgegner. Sie wurden als „Völker, die noch nicht imstande sind, sich unter den besonders schwierigen Bedingungen der heutigen Welt selbst zu leiten“ benannt. Hier bekamen die künftigen Mandatsmächte die „Vormundschaft“ als „heilige Aufgabe der Zivilisation“ zugeteilt. In einem abgestuften System sollten sie diese Tutel-Gebiete zur Entwicklung führen und hatten dem Völkerbund darüber zu berichten. Artikel 22 der Völkerbundsatzung konnte tatsächlich eine Berufungsklausel auch für die etablierten Kolonialgebiete werden. Für die arabische Welt allerdings bildete das Mandatsystem einen dünnen Firnis über die neue Kolonisierung durch Frankreich und Großbritannien, um die sich dort überlappenden Kriegsvereinbarungen vorerst durch Überwölbung sowohl des arabischen als auch zionistischen Nationsanspruchs in die Zukunft zu verschieben. „Do we mean in the
23 Robert Lansing, Die Versailler Friedens-Verhandlungen. Persönliche Erinnerungen, Berlin 1921. Kapitel VII: Das Selbstbestimmungsrecht, 70–78, hier 75 (englisch: Alan Sharp, The genius that would not go back into the bottle. National self-determination and the legacy of the First World War and the Peace Settlement, in: Europe and Ethnicity. The First World War and contemporary ethnic conflict, Hg. v. Seamus Dunn, T. G. Fraser [London, New York 1996], 10–29 [Zitat 19]; im folgenden zitiert: Dunn, Fraser, Ethnicity). 24 Erez Manela, The Wilsonian Moment. Self-Determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism, Oxford 2007.
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case of Syria to consult principally the wishes of the inhabitants? We mean nothing of the kind“, diagnostizierte Lord Balfour 191925 . Im Kern war Selbstbestimmung im Frieden nach 1918 ein Element des Umgangs mit den besiegten Staaten und nicht ein Universalrecht. „It was not within the privilege of the conference of peace to act upon the right of self-determination of any peoples except those which had been included in the territories of the defeated empires“, gab selbst Wilson nach seiner Rückkehr in die USA zu26 . Es kann nicht verwundern, dass überall dort, wo kein volonté générale eingeholt worden war, die entsprechenden nationalen und regionalen Politiker Agitation mit dem vernachlässigten Selbstbestimmungsrecht betrieben. Auch die unterschiedlichsten separatistischen Strömungen im Deutschen Reich nach der Niederlage beriefen sich gern auf das Selbstbestimmungsrecht. Oberschlesier, Wenden oder rheinische Separatisten zielten mit oder ohne Benutzung des Begriffs darauf. Der rheinische Separatist Dorten erklärte am 6. März 191927 : „Wir verlangen, dass unser Geschick lediglich durch unsere Selbstbestimmung entschieden wird“, und zielte damit auf einen westdeutschen Freistaat. Während sich schon der Rat der Volksbeauftragten für das „Ziel der großen deutschen Volksbewegung“ gegen die „Abtrennung und Selbstständigmachung“ aussprach, hatten sich gerade die demokratische Linke und Mitte in ganz anderer Konstellation bis zum Kriegsende immer stärker für das Recht auf Selbständigkeit kleinerer Nationen eingesetzt. Nunmehr galt jedoch28 : „Die deutsche Regierung wird sich jeder Veränderung der deutschen Grenzen mit aller Hartnäckigkeit widersetzen, die nicht durch das von ihr anerkannte Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerungen begründet werden kann.“ Im diplomatischen Austausch wurde dies als Frieden des Rechtes überwölbt, wie es Wilsons Mount Vernon-Rede gefordert hatte. In den Vordergrund trat der vermeintliche „Kriegsschuldartikel“ – aber die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts wurde von links bis zur Mitte immer wieder anklagend einbezogen. Historiker wie Jay Winter schließen sich dem an29 : Self-determination „shriveled from a ‘minor utopia’ to a minor diplomatic adjustment of the old order“. Die Friedensregelung der Pariser Vorortverträge blieb ein Torso. Der Frieden von Sèvres mit der Türkei, der am stärksten den Charakter eines spätimperialistischen Siegund Zerstückelungsfrieden trug, führte zu einem nationalen Aufbegehren und zu
25 11.8.1919, zit. n. T. G. Fraser, The Middle East. Partition and Reformation, in: Dunn, Fraser, Ethnicity, 158–178 (170). 26 17.9.1919 in San Francisco, zit. n. Heater, Self-Determination, 99 (umso mehr hoffte der Präsident auf den Völkerbund). 27 Ursachen und Folgen III, No. 628, 17. 28 Sprachanweisung AA, April 1919, Ursachen und Folgen III, No. 713, 344–346 (345). 29 Jay Winter, Dreams of Peace and Freedom. Utopian Moments in the 20th Century, New Haven, London 2006, 50.
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einer Rekonstruktion der modernen Türkei unter Mustafa Kemal, bis schließlich in Lausanne 1923 ein neuer Frieden vereinbart wurde, der für den nördlichen Teil des vormaligen Osmanischen Reiches eine völlig neue Gestalt schuf. Die Berufung auf Selbstbestimmung spielte hier eine Rolle, wurde aber doch im üblichen machtpolitischen Gerangel des Friedensschlusses vollzogen. Als die kemalistische Türkei bei den Friedensverhandlungen ein Plebiszit für den Anschluss der Provinz Mossul an die Türkei verlangte, wehrte Lord Curzon dies mit Verweis auf die früheren Schwierigkeiten um die entsprechenden Vorgänge in Teschen und Oberschlesien ab30 . Vorausgegangen war und weiter lief der Bevölkerungstransfer, mehr oder weniger gewaltsam, von über zwei Millionen Menschen zwischen Griechenland und der Türkei. Immerhin gab es im Vertrag von Lausanne weitergehende Minoritätenregelungen als in den vorangegangenen europäischen Friedensverträgen31 .
III Selbstbestimmung hatte sich als „Geist aus der Flasche“ (Alan Sharp) oder als „Büchse der Pandora“ (Zara Steiner) herausgestellt32 . Weitere konkrete Defizite der Friedensordnung von Paris kamen hinzu – weder die USA noch die Sowjetunion trugen sie letztlich mit, das Deutsche Reich war nur von 1926 bis 1933 Mitglied des Völkerbundes. Damit verlor und gewann die Forderung nach Selbstbestimmung gleichermaßen: Die USA als wichtigste Appellationsinstanz für einen „WilsonFrieden“ fielen machtpolitisch weitgehend aus. Die Forderung selbst konnte sich verselbständigen und wurde zum Teil dessen, was man für das Deutsche Reich als „Weimarer Revisionssyndrom“ bezeichnen kann. Umgekehrt wurde es gerade für die demokratischen Siegermächte schwer, mit dem Begriff Selbstbestimmung positive Politik zu verbinden. Durch Wilson „ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker zum ersten Grundrecht der Nationen geworden“, mahnte der Ungar Géza Lukács schon 1919 an33 . „Dreimal wehe aber dem Volke, das im Uebermute des Siegers die Ehre eines anderen zerbricht. Seine Enkel werden Sturm ernten!“ Noch
30 Wambaugh, Bd. I, 540 f. – Eine Untersuchungskommission des Völkerbundes mit Ortsterminen etc. bestätigte später gegen türkischen Widerspruch die Zugehörigkeit Mossuls zum britischen Mandat – ohne Plebiszit. 31 Aviel Roshwald, Ethnic Nationalism and the Fall of Empires. Central Europe, Russia & the Middle East, 1914–1923, London, New York 2001, 183–197; Zara Steiner, The Lights that Failed. European International History 1919–1933, Oxford 2005, 104–123; im Folgenden zitiert: Steiner, Lights. 32 Steiner, Lights, 4; Sharp (wie Anm. 23). 33 Géza Lukács, Selbstbestimmung, Wirtschaft, Völkerbund, Berlin 1919, 11, 29.
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weiter und origineller ging Karl Haushofer mit dem Begriff um, wenn er ihn geopolitisch auf Großräume ausweitete. Was er als Asien- und zumal Ostasienspezialist ausführte, ließ sich leicht und analog auch auf Europa ausdehnen34 . Er stellte die Aufgabe, „den Wiederaufstieg vergewaltigter Erdräume zur Selbstbestimmung als geographische Erscheinung am Vorgang der Monsunländer Südostasiens zu untersuchen“. Dies „drängt sich uns geradezu auf, weil wir unseren eigenen Lebensraum als einen vergewaltigten, durch unnatürliche Bindungen seiner Selbstbestimmung beraubten erkennen müssen. Sie könnte zum belebenden Sporn werden“, fügte er hinzu. Selbstbestimmung wurde hier in dieser extremen Form zum Synonym für Autarkie – natürlich nur unter Anleitung großer Mächte. Gewiss dominierte weiter der demokratisch-nationale Gedanke an Selbstbestimmung, aber spätestens mit dem Verfall der internationalen Ordnung durch Weltwirtschaftskrise und kumulative deutsch-italienisch-japanische Expansion wurde Selbstbestimmung zum propagandistischen Vehikel friedlicher Erpressung zumal deutscher Kriegspolitik, während Appeasementpolitik reaktiv in der britischen Version darauf setzte, legitime Revision der Friedensregelung auch unter dem Versuch einer Umsetzung von Selbstbestimmung zu befördern. Lloyd George hatte einen längeren Weg durchgemacht, als er Adolf Hitler 1937 besuchte, hatte er doch auf der Friedenskonferenz am Rande bemerkt35 : „It fills me with despair the way in which I have seen small nations, before they have hardly leapt into the light of freedom, beginning to oppress other races than their own. They are more imperialistic than either England or France, certainly than the United States.“ Die nationalsozialistischen Machthaber legten wenig Wert darauf, ihre Politik durch den Begriff Selbstbestimmung zu legitimieren. Dennoch fanden gerade in den Friedensjahren des Dritten Reiches Abstimmungen und Wahlen zur plebiszitären Bekräftigung bereits vollzogener territorialer Revisionen statt. Neben „Gleichberechtigung“ und Begriffen wie „geschlossene Volkskraft“ etc. fiel gelegentlich auch die Forderung nach Selbstbestimmung. „Allein zwei der an unseren Grenzen liegenden Staaten umschließen eine Masse von über 10 Millionen Deutschen“, verkündete Hitler am 20. Februar 193836 . „Die staatsrechtliche Trennung vom Reich kann nicht zu einer volkstumspolitischen Rechtlosmachung führen, d. h. die allgemeinen Rechte einer völkischen Selbstbestimmung [...] können nicht einfach missachtet werden“, meinte er mit Berufung auf Wilsons 14 Punkte. In der Proklamation zur Besetzung (noch nicht Anschluss) Österreichs hieß es37 :
34 Karl Haushofer, Geopolitik der Selbstbestimmung in Süd-Ost-Asien (München 1923), 19, vgl. 27. 35 Nach David Hunter Miller, My Diary at the Conference of Paris, 1924–26, New York 1928, Vol. XIX, 98; zit. n. Cobban, Nation-State, 87. 36 Max Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen, Würzburg 1962, Bd. I, 2, 801; im Folgenden zitiert: Domarus, Hitler. 37 Ebd., 816.
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„Wenn heute schon koloniale Lösungen von Fragen des Selbstbestimmungsrechtes der betroffenen niederen Völkerschaften abhängig gemacht werden, dann ist es unerträglich, dass 6 12 Millionen Angehörige eines alten und großen Kulturvolkes durch die Art seines Regimes praktisch unter diese Rechte gestellt sind.“ Ähnlich lautete die Rede zu den Sudetendeutschen auf dem Reichsparteitag38 . „Politisch werden hier 3 12 Millionen Menschen im Namen des Selbstbestimmungsrechts eines gewissen Herrn Wilson um ihr Selbstbestimmungsrecht gebracht.“ Es war ein zielgerichtetes Propagandaargument, das zusammen mit dem Begriff des friedlichen Modus der Revision zumal in London Eindruck machte – bis zum Sommer 1939, als es nur scheinbar um Danzig und die Volksdeutschen im polnischen Korridor ging. Wenn also NS-Expansionspolitik den Begriff der Selbstbestimmung taktisch als Vehikel zur Vorbereitung kriegerischer Expansion gebrauchte, dann machte auch die Sowjetunion einen ähnlichen taktischen Gebrauch davon. Josef Stalin hatte seine Karriere als Volkskommissar für die Nationalitäten begonnen und intern 1920 erklärt39 : „Das Prinzip der Selbstbestimmung muss ein Mittel im Kampf für den Sozialismus sein und den Prinzipien des Sozialismus untergeordnet werden.“ Dennoch hatte eine positive Erwähnung eines Selbstbestimmungsrechts der Völker einen hohen Stellenwert in den meisten Verträgen der Sowjetunion mit ihren Nachbarstaaten. Der Begriff diente darüber hinaus auch als klassenkämpferisches Kampfmittel gegen die Nichtbeachtung des Grundsatzes durch bürgerliche Staaten und Machthaber. Zweifellos kam dennoch spätestens mit dem Hitler-Stalin-Pakt und dem deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag vom August/ September 1939 eine rein machtpolitisch-imperiale Politik in Gang, welche die je friedlich oder im Krieg besetzten Gebiete zu Objekten rücksichtsloser Ausbeutung und Nazifizierung bzw. Stalinisierung machte. Immerhin brachten die Korrekturen der Interessengebiete im zweiten deutsch-sowjetischen Vertrag zugleich eine Korrektur ethnisch völlig unhaltbarer Abgrenzungen, indem die Demarkationslinie in etwa der Curzon-Linie entsprach, die 1919 vom damaligen britischen Außenminister Lord Curzon als annähernd angemessene ethnische Grenze vorgeschlagen worden war.
38 Ebd., 901 (13.9.1938). – Cobban, Nationstate, 94–97 behauptete fälschlich, es habe keine Bezugnahme Hitlers auf Selbstbestimmung gegeben. 39 Auf dem III. Allrussischen Kongress, 15.1.1918, zit. n. Rabl, 97, zum folgenden Zusammenhang: Rabl, 96–102, vgl. 140 f.
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IV Mit der Ausweitung des Zweiten Weltkrieges durch den deutschen Überfall auf die Sowjetunion (sowie dem Beginn des pazifischen Krieges zwischen Japan und den Anglo-Amerikanern) war absehbar, dass jede künftige Friedensregelung der Anti-Hitler-Koalition Demokratien und eine Diktatur wie die Stalins umfassen würde. Daher war keine wirkliche Einigung auf eine einheitliche mentale oder ideologische Basis möglich, wohl aber gab es diese in der öffentlichen Rhetorik. Hierin schien es dennoch eine gemeinsame Basis zu geben. Die Atlantic Charter vom 14. September 1941, vereinbart zwischen Winston Churchill und Franklin Delano Roosevelt, erhielt durch ihre Erhebung zum Kriegsbündnis der United Nations von 26 Nationen am 1. Januar 1942 eine breitere Grundlage, der sich u. a. auch die Sowjetunion anschloss. Vor allem ihre ersten drei (von acht) Artikeln formulieren die Basis für künftige Staatlichkeit40 . Wenn bereits der erste Artikel die Koalition als Status-quo-orientiert bezeichnete („keine Vergrößerung“), dann enthielten die beiden folgenden Artikel ein Prinzip, das der Selbstbestimmung nahekam: Territoriale Änderungen müssten dem freien Willen der Völker entsprechen – das zielte auf die nationale Komponente. Sodann wurde weiter vereinbart: ein Recht auf Wahl der eigenen Regierungsform und Selbst-Regierung, was zumeist mit Autonomie wiedergegeben wird. Nach US-Vorstellungen konnte die Wahl der Regierungsform primär auf Demokratie abzielen, während das andere Prinzip eher vage die ungeklärten Nationalitätenfragen betreffen konnte. Wenn sich Stalin durch diese Erklärung formal auf das Spannungsverhältnis von Zielsetzungen einließ, dann übernahm er sicher nicht die westliche Deutung, sondern suchte sie im sowjet-marxistischen Sinne auszulegen. Das hatte Folgen
40 „Erstens, ihre [Churchills und Roosevelts] Länder streben nach keiner Vergrößerung, weder auf territorialem Gebiet noch anderswo. Zweitens, sie wünschen keine territorialen Änderungen, die nicht mit dem frei zum Ausdruck gebrachten Wunsch der betreffenden Völker übereinstimmen. Drittens, sie achten das Recht aller Völker, sich die Regierungsform zu wählen, unter der sie leben wollen. Sie wünschen die obersten Rechte und die Selbstregierung der Völker wiederhergestellt zu sehen, denen sie mit Gewalt genommen wurden.“ Siehe: Erklärung Churchills und Roosevelts (Atlantik-Charta) vom 14. August 1941, abgedruckt in: Ursachen und Folgen XVII, No. 3192, 586. Im englischen Original: „First, their countries seek no aggrandizement, territorial or other; second, they desire to see not territorial changes that do not accord with the freely expressed wishes of the people concerned; third, they respect the right of all peoples to choose the form of government under which they will live; and they wish to see sovereign rights and self government restored to those who have been forcibly deprived of them.“ Siehe: Declaration of Principles known as the Atlantic Charter, by the President of the United States of America (Roosevelt) and the Prime Minister of the United Kingdom (Churchill), August 14, 1941, abgedruckt in: Documents on American Foreign Relations, Vol. IV July 1941–1942, Hg. v. Leland M. Goodrich, Boston 1942, 209 f.
IV
auch für die Nachkriegsregelung, als Sowjetisierung in die Sprache auch der Atlantikcharta formuliert wurde. Viel spricht dafür, dass Stalin sich persönlich nicht von solchen rechtlich-moralischen Verpflichtungen beeindruckt zeigte41 . Er hielt so etwas gelegentlich gern für Algebra, bekannte sich selbst eher zum schlichten praktischen Rechnen, das er besser verstehe – Mehrheiten, Grenzen und Einflusszonen nämlich42 . Dennoch sollte man den doppelten Sinn im Sprachgebrauch, als eigenen Wert und als Mittel im internationalen Klassenkampf, ernst nehmen. Darin lag der zweite Grund dafür, dass Selbstbestimmung nicht zu den Schlüsselbegriffen der Ordnung nach 1945 gehörte. Ein dritter Grund ergibt sich aus britisch-amerikanischen Differenzen43 . Dass in der Atlantikcharta der Begriff Selbstbestimmung nicht auftauchte, hing auch damit zusammen, dass Churchill befürchten musste, dass sich ein solcher Wert in Roosevelts Sicht auch auf die Kolonien erstrecken konnte. Gerade die nationalistische Quit-India-Bewegung machte das 1942 sehr deutlich: Das indische Verlangen nach Selbständigkeit wurde von britischer Seite blutig unterdrückt. Churchill als Empirepolitiker war wiederholt wütend über die Zumutungen seines amerikanischen Partners. Hinzuzufügen ist, dass Japan44 seine rassistische Kolonialherrschaft in Asien ab 1943 im Rahmen der Großostasiatischen Wohlstandssphäre mit der Emanzipation der Asiaten, ja mit einer asiatischen Monroe-Doktrin propagandistisch untermauerte. Auch daher war es gefährlich, die Terminologie der Selbstbestimmung zu benutzen. So sehr britische Dekolonisierungspolitik den Weg zur Selbstregierung seit dem Ersten Weltkrieg als Ziel verkündet hatte, so sehr dies durch den Zweiten Weltkrieg noch einmal beschleunigt wurde, dennoch beharrte der britische Prime Minister darauf, dass dies nach britischen Bedingungen geschehen müsse. Noch 1946 in der Opposition war er stolz, keinen britischen Boden im weitesten Sinn durch den
41 Vladislav Zubok, Constantin Pleshakov, Inside the Kremlin’s Cold War. From Stalin to Khrushchev, New York 1996; Vojtech Mastny, Russia’s Road to the Cold War. Diplomacy, warfare, and the politics of Communism, 1941–1945, New York 1979; Vojtech Mastny, The Cold War and Soviet Insecurity: The Stalin Years, New York 1996; Geoffrey Roberts, Stalin’s Wars. From World War to Cold War, 1939–1953, New Haven, London 2006. 42 William Taubman, Stalin’s American Policy, New York 1982, 49; FRUS 1944, Bd. 1, 733. 43 Wm. Roger Louis, Imperialism at Bay. The United States and the Decolonization of the British Empire, 1941–1945, Oxford 1977; John Darwin, Britain and Decolonization. The Retreat from Empire in the Post-War World, New York 1988; R. J. Moore, Churchill, Cripps and India, 1939–1945, Oxford 1979; Peter Clarke, The last Thousand Days of the British Empire. Churchill, Roosevelt, and the Birth of the Pax Americana, London 2008. 44 Milan Hauner, India in Axis Strategy. Germany, Japan, and Indian Nationalists in the Second World War, Stuttgart 1981; Bernd Martin, Deutschland und Japan im Zweiten Weltkrieg. Vom Angriff auf Pearl Harbor bis zur deutschen Kapitulation, Göttingen 1969.
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Weltkrieg verloren zu haben45 . Es versteht sich, dass auch die wiederbelebte französische Großmacht46 von der Erklärung de Gaulles von Brazzaville vom Januar 1944 an davon ausging, dass die (zum Teil wieder zu erobernden) Kolonien Autonomie allein im französischen Staatsverband anstreben sollten – die Grundlage der formell 1946 begründeten Union Française. Einig waren sich die Alliierten der strange coalition im Zweiten Weltkrieg vor allem über eines: Die von den Gegnern besetzten Länder mussten wiederhergestellt werden. Das bildete das Äquivalent zur Zerschlagung supranationaler Reiche nach dem Ersten Weltkrieg. Nur sollte diese Wiederherstellung zumindest anfangs nicht für das Deutsche Reich und Japan gelten (die frühe Anerkennung des Kurswechsels Italiens 1943 auf die alliierte Seite milderte die Behandlung dieses Staates). Gerade die Unconditional-Surrender-Formel von Casablanca vom Januar 1943 sollte die Berufung NS-Deutschlands auf eigene Selbstbestimmung verhindern, anders gesagt: Churchill und Roosevelt bauten einer ähnlichen Nutzung der Forderung wie nach dem Ersten Weltkrieg und vor allem in den Friedensjahren der NS-Herrschaft vor; Stalin dürfte dies seinerseits mit vergnügter Aufmerksamkeit betrachtet haben. In der Tat hatte viel an internen Diskussionen bei Briten, Amerikanern47 und bedingt auch Sowjets48 mit dem gravierenden Problem zu tun: Wie bekommen wir nach dem siegreichen Krieg langfristig ein friedensfähiges Deutschland in eine neue Friedensordnung integriert? Vorstellungen vom seit langem ausgebildeten deutschen Volkscharakter feierten zumindest bei den Großen Drei fröhliche Urständ49 . Unter den Möglichkeiten: Gebietsabtretungen am Rande, Zerstückelung – beides musste Ressentiments und neuen Revanchismus wecken – oder aber: langwährende und kostspielige Besetzung und Durchsetzung von Strukturreformen (Churchill: to make the Germans „fat but impotent“) war nicht leicht zu wählen. Zwischen Teheran und Jalta wurde eher die erste Möglichkeit favorisiert, dann aber stillschweigend mit dem Ende des europäischen Krieges fallen gelassen. Darin lag der vierte Grund für die Vermeidung des Begriffs Selbstbestimmung. Ein Blick auf die Kriegskonferenzen der großen Drei zeigt diese Faktoren in je unterschiedlicher Mischung in den Diskussionen. Nehmen wir exemplarisch 45 David Reynolds, Britannia Overruled. British Policy & World Power in the 20th Century, London 1991, 164. 46 Rudolf von Albertini, Dekolonisation. Die Diskussion über Verwaltung und Zukunft der Kolonien, 1919–1960, Köln, Opladen 1966, 412–453. 47 Lothar Kettenacker, Krieg zur Friedenssicherung. Die Deutschlandplanung der britischen Regierung während des Zweiten Weltkrieges, Göttingen 1989; Dokumente zur Deutschlandpolitik, Hg. v. Klaus Hildebrand, Hans-Peter Schwarz zur britischen bzw. US-amerikanischen Deutschlandplanung: I. Reihe (3.9.1939–8.5.1945): bisher Bde. 1–5. 1984–2002. 48 Wie Anm. 41. 49 Ausführlicher hierzu Jost Dülffer, Jalta, 4. Februar 1945. Zweiter Weltkrieg und Anfänge der bipolaren Welt, München 1998, 7-34.
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die polnische Frage. Nach der deutschen Enthüllung der sowjetischen Morde von Katyn im April 1943 und deren Anprangerung durch die Exilregierung in London brach die Sowjetunion die Beziehungen zu dieser ab. Moskau musste seine eigenen Polen „erfinden“, was schließlich mit dem Lubliner Komitee geschah. In Teheran hatte Churchill mit seinem Bild von den drei Streichhölzern Deutschland, Polen, Sowjetunion, die nach Westen verschoben werden müssten, eine Richtung zum politischen Kompromiss gewiesen50 . Von ethnischen Argumenten war dabei nicht die Rede. Stalin weigerte sich fortan. mit der Exilregierung zu sprechen – sie stehe mit den Deutschen in Verbindung und ermorde Partisanen, log er in Jalta. Die Briten, die 1939 zur Unterstützung Polens in den Krieg eingetreten waren, übernahmen mit Churchills Akzeptanz der Westverschiebung diese moralische Verpflichtung; Roosevelt hob auf die innenpolitische Bedeutung der Polen als Wähler in den USA ab. Die nach dem damaligen britischen Außenminister benannte Curzon-Linie war 1919 eine nach besten Kenntnissen gezogene Grenze zwischen Polen und seinem östlichen Nachbarn gewesen, die sich jedoch nicht durchsetzen konnte. Nunmehr nahm die Sowjetunion diesen früheren westlichen Vorschlag wieder auf. Jedoch waren diesmal Briten und Amerikaner nicht mehr ganz einverstanden und plädierten für leichte Modifikationen – etwa für die Zugehörigkeit Lembergs und Wilnas zu Polen. Auch hier sprach keiner der Großen Drei von einem möglichen Votum der Bevölkerung. In Jalta gelang es den Briten und Amerikanern, in die mittlerweile in Warschau etablierte Provisorische Regierung zwei Minister der Londoner Exilregierung aufnehmen zu lassen; der stellvertretende Exil-Ministerpräsident Mikołajczyk konnte am Rande der Potsdamer Konferenz nur resignierend von seinem schwächer werdenden Einfluss berichten. „Freie Wahlen“, welche von den Westalliierten seit 1944 zur Legitimation des neuen polnischen Regimes gefordert wurden, konnten erst 1947 durchgeführt werden und brachten einem kommunistisch geführten Block die eindeutige Mehrheit51 . So war es überall in Ostmitteleuropa. Die Befreiungsund Besatzungsmacht bestimmte die vorläufigen Regierungen und letztlich auch die Grenzen. Freie Wahlen gab es nur 1945 in Österreich und Ungarn mit jeweils schwachen Ergebnissen für die Kommunisten. Zugespitzt lässt sich sagen: Das Prinzip „freie Wahlen“ als Ausdruck von Selbstbestimmung konnte nach 1945 nur zur Legitimierung eines östlich oder westlich bestimmten Regierungssystems die-
50 Alexander Fischer (Hg.), Teheran, Jalta, Potsdam. Die sowjetischen Protokolle von den Kriegskonferenzen der „Großen Drei“, Köln 2. Aufl.1973, 83; im Folgenden zitiert: Fischer, Teheran, Jalta, Potsdam. Zum Folgenden etwa: Bernd Martin, Stanisława Lewandowska (Hg.), Der Warschauer Aufstand 1944, Warschau 1999, (Beiträge Bernd Martin bzw. Jost Dülffer). 51 1946 hatte es inhaltlich bestimmte Plebiszite gegeben, die aber nur dazu gedient hatten, die Bauernpartei Mikołajczyks zu schwächen.
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nen. Das geschah im Westen im Fall Italiens 1948 gleichfalls mit nachdrücklicher externer antikommunistischer Wahlhilfe durch die USA. Dennoch wurde vor und in Jalta an einer wenig bekannten Stelle über Ordnungsprinzipien diskutiert. In der US-Administration kam Anfang Januar 1945 der Gedanke auf, in Europa eine Art vorläufigen Sicherheitsrat zu schaffen, der einer Aufteilung Europas in Interessenzonen wie sie Stalin und Churchill vorgenommen hatten, etwas entgegenzustellen suchte52 . Am besten hieße dieses Vierergremium „Emergency European High Commission“ (Notstandskommission für das befreite Europa). Sie solle Europa „helfen, volkstümliche und stabile Regierungen einzusetzen und die Lösung von wirtschaftlichen Notstandsproblemen in früher besetzten und Satellitenstaaten zu erleichtern“. Die deutsche Frage sollte weiter bei der European Advisory Commission angesiedelt bleiben. Dies Anliegen wurde spezifiziert u. a. als Hilfe für die Aufstellung von Regierungsbehörden, „die weitgehend alle demokratischen Elemente in der Bevölkerung vertreten und die verpflichtet sind, zum frühsten möglichen Termin Regierungen, die dem Willen des Volkes entsprechen, durch freie Wahlen zu bilden“. Eine solche, wohl in Paris anzusiedelnde Organisation wäre also einem Instrument zur Selbstbestimmung nahegekommen – aber wohl nur innerhalb bestehender Grenzen. Nach dem Tagebuch von Außenminister Edward Stettinius sollte dies ein Gremium zur „Überwachung der Rückkehr einer demokratischen Regierung“ sein. Sein britischer Kollege Anthony Eden stimmte auf Malta am 1. Februar 1945 gern einer solchen Einrichtung zu. Dann wurde der Gedanke jedoch fallen gelassen, um der neuen UNO keine Konkurrenz zu machen. Es blieb die „Deklaration über das befreite Europa“. Im Kern, da waren sich die Amerikaner einig, ging es um die freien Wahlen in Polen und die Zurückhaltung kommunistischer Partisanen in Griechenland. Stalin beruhigte in Jalta seine Partner, er werde sich da heraushalten. Als Roosevelt ein wenig frivol meinte, die freien Wahlen in Polen müssten wie Caesars Frau über jeden Verdacht erhaben sein, konterte Stalin, das „habe man von der Gemahlin Caesars nur so gesagt. In Wirklichkeit habe sie ihre Sünden gehabt“53 . Mit ein wenig Augenzwinkern hatte sich das Problem auf freie Wählervoten verlagert, bei dem Stalin ein wenig süffisant auf das Problem von „freien“ Wahlen in Ägypten hinwies, mit welchen die Briten doch wohl Schwierigkeiten hätten. Bereits im internen amerikanischen Entwurf für die Erklärung hatte es geheißen, die (damals noch geplante) Kommission solle die Völker befähigen, „die letzten Spuren des Nazismus und Faschismus zu zerstören und demokratische Einrichtungen
52 Department of State (Hg.), Die Konferenzen von Malta und Jalta. Dokumente vom 17. Juli 1944 bis 3. Juni 1945, Düsseldorf 1957, 88–102; Zitate: 91, 93, 414, 469 (deutsche Übersetzung von FRUS); zum Kontext: Dülffer, Jalta. 53 Sechste Vollsitzung, Fischer, Teheran, Jalta, Potsdam, 167; Konferenzen Malta und Jalta, 787 f., bzw. 791 f.
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nach freier Wahl zu schaffen“54 . Genau dieses Ziel des Antifaschismus gefiel Stalin besonders gut, der anregte, die besondere Unterstützung antifaschistischer Kräfte in die Deklaration aufzunehmen. Das geschah zwar nicht in dieser Form. Aber hiermit war ein Einfallstor geschaffen, das fortan im sowjetischen Machtbereich den Antifaschismus in eine Linie mit Demokratisierung brachte. In der Endversion der Jalta-Erklärung figurierten die temporären Maßnahmen zur Wiederherstellung von Ordnung vor den endgültigen, aber die Verfestigung von vorläufigen Schritten zu Dauerlösungen (z. B. in der Deutschlandfrage) gehörte zu den charakteristischen Zügen der Friedensregelungen. Immerhin: Es ging um die „Wiederherstellung der souveränen Rechte und der Selbstregierung für jene Völker, die ihrer gewaltsam durch die Aggressor-Staaten beraubt wurden“. Beim Treffen der Großen Drei in Potsdam hatte sich die Umsetzung der Erklärung bereits ganz auf freie Wahlen und Wahlbeobachter in den befreiten Ländern verlagert: Italien, aber auch Bulgarien, Rumänien, Griechenland und Ungarn. Hier prallten die unterschiedlichen Demokratiebegriffe aufeinander; Stalin konnte sich mit seiner Forderung, auch die spanischen Verhältnisse der Franco-Diktatur auf die Tagesordnung zu setzen, nicht durchsetzen. In der Potsdamer „Mitteilung“ (nicht aber im „Protokoll“) wurde die Vorbereitung von Friedensverträgen mit „anerkannt demokratischen Regierungen“ bei den ehemaligen deutschen Satelliten als vorrangig bezeichnet. Die Qualität eines demokratischen Regimes bedeutete jetzt nur noch: Aufnahme westlich gesinnter Vertreter in kommunistisch beherrschte Regierungen55 . Die Hebelwirkung, die mit der Deklaration über das befreite Europa für eine gesamteuropäische Kooperation möglich war, wurde auf den nachfolgenden Außenministerkonferenzen nicht mit Nachdruck ausgeübt. Um der Kooperation willen insistierte US-Außenminister James Byrnes in London und Moskau 1945 zunächst nicht. Dann verhärtete sich die Konfrontation. Während sich die „Erklärung über das befreite Europa“ potenziell an alle Staaten außer Deutschland gerichtet hatte, stand 1946 der Friedensschluss mit den kleineren Verbündeten des Deutschen Reiches auf der Tagesordnung. Die Verträge mit Italien, Finnland, Bulgarien, Ungarn und Rumänien wurden gleichzeitig am 10. Februar 1947 unterzeichnet. Erst nachdem sich die Großen Vier geeinigt hatten, wurden auch die kleineren Alliierten beteiligt, dann durften – anders als nach 1918 – auch die Verliererstaaten ihre Meinung kundtun, ohne jedoch substanziell viel ändern zu können – auch das nicht gerade ein Zeichen von Selbstbestimmung. Die Friedensverträge wurden vorab von den jeweiligen Außenministern in Washington, London und Moskau
54 Konferenzen von Malta und Jalta, 92 f., 903. 55 Dokumente zur Deutschlandpolitik, II. Reihe, Bd. 1, drei Teilbände, Frankfurt am Main 1992, 2125–2149 (Mitteilung); 2149–2202 (Protokoll).
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unterzeichnet, dann erst am 10. Februar 1947 in Paris von Frankreich und allen anderen Verbündeten. Die Verliererregierungen mussten zuvor anerkannt werden und legten ihrerseits großen Wert auf die Darstellung ihres Charakters als „demokratisch“ – vorab die Ungarn. Substanziell wurden Waffenstillstandsbedingungen, die aus militärischer Ratio eine vorübergehende Besatzung mit eingeschränkten demokratischen Rechten zum Thema gehabt hatten, im Friedensvertrag fortgeschrieben. Der behauptete Antifaschismus ersetzte jetzt de facto die verhinderte Demokratisierung im sowjetischen Machtbereich56 . Die Friedensverträge regelten die Grenzberichtigungen der Staaten, aber nach alliiertem Gutdünken. Die davon betroffenen Staaten äußerten heftigen Protest, nicht zuletzt aus ethnischen Gründen, weil Landsleute in großer Zahl jeweils jenseits der Grenzen blieben. Das führte im italienischen Fall besonders wegen der von 1945 bis 1954 gefährlich schwelenden Triest-Frage zur offenen Weigerung, den Friedensvertrag zu unterzeichnen. Auch die Grenzen und Regelungen für die Freie Stadt Triest waren zuvor von den Mächten – wenn auch z. T. nach Prüfung ethnischer Argumente vor Ort – festgelegt worden; von einem Plebiszit war hier so wenig wie sonst die Rede57 . Die Probleme von neuer oder alter Diaspora wurden in den Friedensverträgen zumeist mit Optionsregeln zur Emigration angegangen. Viel wichtiger war jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg eine andere Erscheinung, welche mit Selbstbestimmung nur bedingt zu tun hatte: die Zwangsmigration von Millionen Menschen, welche hunderttausendfachen Tod mit sich brachte. Hier kann nur die Dimension benannt werden. Was vor und im Friedensvertrag von Lausanne 1923 begonnen hatte, wurde ab 1939 zum Kernbestand nationalsozialistischer Kriegspolitik, aber auch sowjetischer Maßnahmen. Das betraf Volksdeutsche, die oft auch erste Opfer wurden, mehr aber noch Juden und dann vor allem Slawen vieler Nationalitäten, die gerade dadurch vielfach in den Tod getrieben wurden. Bis zu einem gewissen Grad als Reaktion darauf lässt sich die Zwangsmigration von Deutschen aus großen Teilen Mittel- und Ostmitteleuropas begreifen. Darüber hinaus wurden hier traditionelle Ambitionen neuer Staaten systematisch umgesetzt. Dieses „gründliche Aufräumen“ (Churchill 1944) fand als Vertreibung von Deutschen, aber auch Umsiedlung von Polen, Ungarn etc. statt. Es ging dabei auch darum, ethnisch homogenere Staaten als zuvor zu schaffen. Aber diese Vorgänge wurden primär von
56 Stephen Kertesz, The Last European Peace Conference: Paris 1946 – Conflict of Values, Lanham 1985; Daniel Yergin, Der zerbrochene Frieden. Der Ursprung des Kalten Krieges und die Teilung Europas, Frankfurt am Main 1979, 109–262; John Wheeler-Bennett, Antony Nichols, The Semblance of Peace. The Political Settlement after the Second World War, London 1972. 57 Jean-Baptiste Duroselle, Le conflît de Trieste, 1943–1954, Brüssel 1966; Glenda Sluga, The Problem of Trieste and the Italo-Yugoslav Border: Difference, Identity, and Sovereignty in Twentieth-Century Europe, Albany, New York 2001.
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außen geleitet und nicht durch Bevölkerungswillen herbeigeführt oder später eher formal sanktioniert58 . Wenn ein Recht auf Selbstbestimmung in der konkreten territorialen oder politischen Friedensordnung nach 1945 kaum einmal durchgesetzt wurde, so wurde es dennoch als Prinzip nachhaltig in der Charta der Vereinten Nationen verankert59 . Hier tauchte es prominent im Artikel 1 (2) auf und bildete eine der wichtigsten Ausformungen für die Wahrung von Weltfrieden und internationaler Sicherheit. Danach war das Ziel, „freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete Maßnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen“. Wenn Gleichberechtigung nur auf der Grundlage von Souveränität denkbar war, dann stand mit Selbstbestimmung, ein Begriff, der in Artikel 55 wiederholt wurde, ein dynamischer Begriff dagegen. Er wurde auf sowjetisches Betreiben eingefügt. Bei dieser zweiten Erwähnung folgte auf Gleichberechtigung und Selbstbestimmung eine Auflistung von Kollektiv- und Individualrechten für wirtschaftliches und soziales Wohlergehen. Letztlich wurde dies auch in Verbindung mit konkreten individuellen Menschenrechten und Grundfreiheiten im Zusammenhang mit Rasse, Sprache, Geschlecht und Religion gebracht60 . Von sowjetischer Seite wurde demgegenüber immer wieder betont, es gehe darum, die Unabhängigkeit von Völkern herzustellen, welche diese noch nicht besäßen. Hier fand sich eine indirekte Verbindung zu den an anderen Stellen gefundenen Regelungen für Treuhandgebiete und Kolonien61 , welche die Kolonialmächte gerade aus der Agenda herauszuhalten versuchten. Was auf der Konferenz von San Francisco erstmals formuliert wurde, stand also im Spannungsfeld der Souveränität
58 Mathias Beer, Umsiedlung, Vernichtung, Vertreibung. Nationale Purifizierung, in: Auf dem Weg zum ethnisch reinen Nationalstaat? Europa in Geschichte und Gegenwart, Hg. v. Mathias Beer, Tübingen 2. Aufl. 2007, 119–144 (135 – „clean sweep“ Churchill); zur Dimension: Eugene M. Kulischer, Europe on the Move. War and Population Changes, 1917–1947, New York 1948; Joseph B. Schechtman, Postwar Population Transfer in Europe, 1945–1955, Philadelphia 1962; Norman Naimark, Fires of Hatred. Ethnic Cleansing in 20th Century Europe, Cambridge 2001 (dt. 2004). 59 Rabl, Selbstbestimmungsrecht, 194–207; Evan Luard, A History of the United Nations, Vol. 1. The Years of Western Domination, 1945–1955 (London u. a. 1982), bes. 17–92; Helmut Volger, Geschichte der Vereinten Nationen, München, 2. Aufl. 2008, 1–28; Wolfgang Heidelmeyer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Paderborn 1973, 171–182. 60 Paul Kennedy, Parlament der Menschheit. Die Vereinten Nationen und der Weg zur Weltgesellschaft, München 2007, 208–239. 61 Molotov in einem Interview der NYT, 8. Mai 1945: „Die Sowjetdelegation ist sich klar darüber, dass wir unter dem Gesichtspunkt der Interessen der internationalen Sicherheit zunächst dafür sorgen müssen, dass den abhängigen Ländern so rasch als möglich der Weg in die Unabhängigkeit geöffnet werde.“ Zit. n. Rabl, Selbstbestimmungsrecht, 195, Anm. 650.
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von Staaten und der Veränderbarkeit staatlicher Zugehörigkeit. Insofern war es wichtig, dass hier auch nur ein Grundsatz (principle) als regulative Größe, nicht ein (unmittelbares) Recht formuliert wurde. Der Plural von nations und peoples signalisierte in ähnlicher Weise ein Spannungsverhältnis, das nur durch künftige Politik aufzulösen war. Die Entwicklung zu einem „Recht auf Selbstbestimmung“ war damit vorgezeichnet. Ebenso zeichneten sich daraus weitere Probleme ab, gerade im Umgang mit kommunistischen Staaten, in der deutschen Frage und vor allem in den Unabhängigkeitsbestrebungen dessen, was seit den 1950er Jahren „Dritte Welt“ genannt wurde.
V In der Bilanz der Friedensregelung nach dem Zweiten Weltkrieg wird deutlich, dass der Grundsatz der Selbstbestimmung bereits zuvor eine solche innere Dynamik entwickelt hatte, dass er zum Kleingeld emanzipatorischer Berufung wurde. Die meisten Regelungen hatten gerade im Krieg und in der Nachkriegszeit militärische Eroberung, politische Interessenabsprache und ideologische Absicherung als Grundlage. Das ließ dennoch einen Kern an Prinzipien, beginnend mit der Atlantik-Charta, immer wieder aufscheinen und als regulative Forderung nach freien Wahlen, Regierungen in Übereinstimmung mit dem frei geäußerten Willen der Bevölkerung und ähnlichen Formeln erscheinen. Vorausgegangen und parallel lief weiter – anders als nach dem Ersten Weltkrieg – ein vielfältiger Prozess an Flucht und Umsiedlungen, die „Europe on the move“ (Kulischer) sah. Ob „population redistribution“ aber die Lösung der Probleme darstellt, wie William R. Keylor meint62 , darf man bezweifeln. Der US-Historiker schreibt: „The simple and surgical solution to a previously intractable problem in Europe set an instructive precedent for the rest of the world“, vor allem bei der indischen Unabhängigkeit. Dieses Äquivalent zu den Minoritätenregelungen nach dem Ersten Weltkrieg habe an die Stelle der Bestrebungen nach Grenzziehungen zur Vermeidung von Blutvergießen ein besseres Prinzip gesetzt: „Moving people might [work]“. Das ist nachdrücklich zu bezweifeln. Friedensregelungen nach Weltkriegen wie im 20. Jahrhundert schufen bestenfalls Angebote zur langfristigen Befriedung. Das hatte neben den rechtlichen Vereinbarungen vor allem soziale, ökonomische und kulturelle Folgen. Selbstbestimmung, Demokratie und freie Wahlen setzen an sich sympathische Werte um. Aber ob sie nach den mentalen Verwüstungen von Kriegen nicht zu viel an Kompromissfähigkeit, Toleranz und gemeinsamem Aufbauwillen voraussetzten, blieb für jeden
62 Keylor, Principle, 51 ff. (vgl. Anm. 3).
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Einzelfall zu prüfen. „Institutionalisierung vor Liberalisierung“ (IBL) hat der kanadische Politikwissenschaftler Roland Paris die Leitlinie für UN-Friedensmissionen seit den 1990er Jahren genannt – und nicht die simple Umsetzung von Selbstbestimmung63 . Etwas könnte daran sein.
63 Roland Paris, Wenn die Waffen schweigen. Friedenskonsolidierung nach innerstaatlichen Gewaltkonflikten, Hamburg 2007. Vgl. meine Rezension vom 25.01.2008: http:// hsozkult.geschichte.huberlin.de/rezensionen/2008–1-072 (7.11.2022).
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Humanitäre Intervention, Menschenrechte und die Legitimation von Gewalt Der deutsche Weg in den Zweiten Weltkrieg 1937/1939 Nationalsozialistische Herrschaft setzte von Beginn an auf nackte Gewalt nach innen. Sie zielte langfristig auf Gewalt nach außen, auf Krieg ab. Dazu fehlte 1933 noch das erforderliche Instrument: eine dafür bereite Wehrmacht und eine Mentalität in der Bevölkerung, die nach dem Ersten Weltkrieg eine neue militärische Auseinandersetzung aktiv billigte. Adolf Hitler nannte diese Voraussetzungen in den ersten Tagen seiner Regierung das Programm der „Wiederwehrhaftmachung“. Beide, die materielle wie die mentale Kriegsvorbereitung, wurden bis 1939 in einem atemberaubenden Tempo vorangetrieben, und stießen dennoch an Grenzen. Jede massive Gewaltanwendung nach außen rief in der Staatengesellschaft Widerstand hervor. Zumal die europäischen Westmächte, Großbritannien und Frankreich, sahen sich zunehmend veranlasst, deutsche Gewalt mit der Androhung von Gegengewalt zu beantworten, um die deutsche Politik zur Vernunft zu bringen. „Appeasement“ – als Bestreben, deutsche Saturiertheit zu erreichen und diese in eine neue europäische Ordnung einzubinden – war das eine, die Entschlossenheit, gegen die Verletzung internationalen Rechts von deutscher Seite vorzugehen, aber die Kehrseite. Da dies in der deutschen Politik wahrgenommen wurde, schien es den Akteuren zweckmäßig, das eigene Handeln zu verharmlosen, als legitime Revision etwa des Versailler Vertrages darzustellen. Ein anderer Weg war es, eine angebliche Unterdrückung von Deutschen im benachbarten Ausland zu beklagen und in diesem Zusammenhang humanitäre Gründe anzuführen, die einer Intervention vorausgegangen sein sollen. Hier setzt dieser Beitrag ein. Humanitäre Intervention wurde und wird meist als positiv konnotierte Aktion im Sinne der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 verstanden.1 Man kann mit Samuel Moyn unterscheiden, dass Menschenrechte immer von Staaten verletzt werden, humanitäre Intervention aber unabhängig von Staaten stattfinden kann: Auf eine entsprechende
1 Christian Tomuschat, Menschenrechtsschutz und innere Angelegenheiten, http://tomuschat.rewi.huberlin.de/not (7.11.2022); gute Überblicke: Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.), Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, bes. der Beitrag von Mark Mazower; Jan Eckel, Samuel Moyn (Hg.), Moral für die Welt? Menschenrechtspolitik in den 1970er Jahren, Göttingen 2012. – Thematisch überschneidend, mit ausführlicheren Ausführungen zu den Fällen Österreich, Prag und Polen: Humanitarian Intervention in the 19th and 20th Century, in: Fabian Klose (Hg.), The Emergence of Humanitarian Intervention, Cambridge 2016, 208–230. Ich danke Claudia Kemper für hilfreiche Anregungen und Peter Ridder für die redaktionelle Unterstützung.
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Notlage wird demnach von außen von entsprechenden Organisationen reagiert.2 Aber die Sache selbst, wie auch die Rede davon, ist älter, auch wenn der Begriff selbst nicht gefallen sein muss. Humanitäre Intervention aufgrund Verletzungen grundlegender Rechte hat Vorläufer, die besonders häufig in der Zeit zwischen den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts zu finden sind. Bemerkenswert in dieser Zeit ist die auffällige Spannung zwischen einerseits der Behauptung von Selbstbestimmung und andererseits den Rechten von Minderheiten.3 Die Schaffung neuer Nationalstaaten in Ostmitteleuropa und die Verkleinerung oder Auflösung von besiegten Großmächten brachten große Minderheitenprobleme mit sich: „The Paris peace treaties gave 60 million people a state of their own, but turned another 25 million into minorities.“4 Kompensation sollte dadurch geschaffen werden, dass Minderheiten durch entsprechende Verträge geschützt wurden.5 Das wurde zwar vereinbart, aber in der Praxis doch nur sehr unvollkommen durchgesetzt. Besonders in den neu gegründeten Staaten Ostmitteleuropas bestand bei den herrschenden Eliten Konsens über einen Primat der nationalen Konsolidierung. Diesen versuchten die Mehrheiten gegenüber den Minderheiten in wirtschaftlicher, politischer und manchmal auch kultureller Hinsicht herzustellen. Das schuf Spannungen innerhalb der Staaten, aber in vielen Fällen wurden diese begleitet durch Klagen von außen, von Nachbarstaaten, die eine schlechte Behandlung der ihnen verwandten oder zugehörenden Minoritäten konstatierten. „Irredenta“, ursprünglich ein italienisches politisches Schlagwort gegenüber Österreich-Ungarn aus den 1860er Jahren, erhielt nun auch die Bedeutung einer potenziellen Intervention zugunsten von Unterdrückten. Gerade nach dem Ersten Weltkrieg wurden Minoritäten zu einem politischen Problem in großen Teilen Mittel- und Osteuropas, oft auch verbunden mit dem Gedanken an eine Vergrößerung der neu gegründeten Nationalstaaten, die alle Landsleute auch jenseits der bestehenden Grenzen künftig einmal einschließen sollte. Dennoch blieb die politische Lage in dieser Region zunächst relativ ruhig bzw. ohne einen größeren Umschlag in Gewalt. Die latente und nur manchmal offene Drohung zur Intervention für die unterdrückten Minderheiten war jedenfalls in den 1920er Jahren kein manifestes Problem. Auch den
2 Samuel Moyn, The Last Utopia. Human Rights in History, Cambridge, MA, 2010, bes. Kapitel 1: Humanity before Human Rights, 11–43. 3 Carol Fink, Defending the Rights of Others. The Great Powers, the Jews, and International Minority Protection, 1878–1938, Cambridge 2004; Mark Mazower, Minorities and the League of Nations, in: Daedalus, 126, 2, 1997, 47–63. 4 Zara Steiner, The Lights that Failed. European International History 1919–1933, Oxford 2005, 259; Mazower (wie Anm. 3), 50, zitiert Jungjohann mit der Zahl von 35 Millionen Menschen, die einer Minorität angehörten, von denen nur 8,6 Millionen in Westeuropa lebten. 5 Fink (wie Anm. 3); Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000, v. a. Kapitel 2.
I Nationalsozialistische Außenpolitik
deutschen Fall kann man in diesen Kontext einordnen: Der „Anschluss“ des neu gegründeten Staates Österreich, ursprünglich als „Deutsch-Österreich“ ausgerufen, wurde von den Siegermächten verboten, weil sie eine territoriale Vergrößerung des Deutschen Reiches mit diesen ursprünglich zu Österreich-Ungarn gehörenden Territorien verhindern wollten. Die Errichtung einer Zollunion zwischen den beiden Staaten, die im Jahr 1931 geplant war, wurde ebenso vom Internationalen Gerichtshof abgelehnt. Die neu gegründete tschechoslowakische Republik umfasste starke deutschsprachige Minderheiten, die zwar bis 1918 Teil Österreich-Ungarns gewesen waren, aber eben nicht des Deutschen Reiches. In gleicher Weise lebten im wieder begründeten Staat Polen große deutsche (ebenso wie mehrere andere, vor allem ukrainische) Minoritäten, besonders im sogenannten Korridor zwischen Ostpreußen und dem Reich. Die Minderheitenverträge, die zwischen den Alliierten und den neu gegründeten Staaten ab 1919 geschlossen wurden, waren nicht eindeutig in ihrer Reichweite und daher auch nicht allgemein akzeptiert. Sie sprachen nicht über Menschenrechte, lediglich über Minoritätenrechte, welche die Mehrheitsbevölkerung der Minderheit gewähren sollte. Der erste dieser Verträge wurde mit Polen geschlossen und diente als Modell für die nachfolgenden Abschlüsse.6 Die Locarno-Verträge von 1925 garantierten zwar die bestehenden Grenzen der Tschechoslowakei und Polens nicht, aber sie enthielten Schiedsgerichtsverträge zwischen Deutschland einerseits und Polen und der Tschechoslowakei andererseits, welche die Spannungen reduzierten und damit die Gefahr einer deutschen revisionistischen Intervention weiter verminderten.
I Nationalsozialistische Außenpolitik Die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 änderte zunächst einmal nichts an den gerade geschilderten Verhältnissen und Problemen auf der Ebene täglicher Diplomatie. Eine unmittelbare Umsetzung ihrer Ziele hätte revolutionäre Folgen gehabt, so blieb als bedeutende Zäsur die latente, in die Zukunft gerichtete Bedrohung einer bis dahin akzeptierten internationalen Ordnung, die auf dem Prinzip des friedlichen Wandels beruht hatte. Die programmatischen oder situativen Grundlagen von Hitlers Außenpolitik sind seit jeher Gegenstand einer breiten Debatte.7 Wie auch immer man hierzu Stellung bezieht, grundlegende Axiome
6 Erwin Viefhaus, Die Minderheitenfrage und die Entstehung der Minderheitenschutzverträge auf der Pariser Friedenskonferenz 1919. Eine Studie zur Geschichte des Nationalitätenproblems im 19. und 20. Jahrhundert, Würzburg 1969; Zara Steiner, The Lights that Failed (wie Anm. 4), 361–363. 7 Andreas Hillgruber, Deutschlands Rolle in der Vorgeschichte der beiden Weltkriege, Göttingen 1967; Klaus Hildebrand, Deutsche Außenpolitik 1993–1945. Kalkül oder Dogma?, Stuttgart 1972 und öfter; Gerhard L. Weinberg, The Foreign Policy of Hitler’s Germany (1933–1939], 2 Bde., Chicago
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nationalsozialistischen Handelns tauchten immer wieder im Geheimen oder auch in der Öffentlichkeit auf. Die Schaffung von Lebensraum im Osten auf rassischer Basis unter der Herrschaft der germanischen Rasse war ein zentraler Gedanke Hitlers, und eine solche Expansion konnte nicht nur mit friedlichen Mitteln erreicht werden, sondern – wie einleitend angeführt – letztlich allein durch Krieg. Diese universelle rassistische Sicht gründete auf der Vorstellung, dass jüdische Einflüsse nicht nur innenpolitisch bekämpft werden müssten, sondern auch international: Bolschewismus erschien danach als jüdische Herrschaft, während westliche Demokratien immer in Gefahr standen, zur Beute jüdischen Finanzkapitals zu werden. Die positive Identifikation bildete die Überzeugung von der Überlegenheit der germanischen Rasse. „Es gibt nur ein einziges Volk der Erde, das in großer Geschlossenheit, in einheitlicher Rasse und Sprache eng zusammengedrängt im Herzen Europas wohnt, das ist das deutsche Volk mit seinen 110 Millionen Deutschen in Mitteleuropa [...]. Diesem geschlossenen Block Mitteleuropa wird und muss einmal die Welt gehören“, war Hitlers geheime Botschaft an Generäle am 22. Januar 1938.8 Auch in der Öffentlichkeit sprach er von 80 Millionen Germanen in ganz Europa, während das Reich Ende 1937 nur ungefähr 67 Millionen Einwohner hatte. Der entscheidende Punkt dieser Rhetorik war, dass in einem derartigen rassischen Denken das Vorschieben von Minoritätenproblemen nur ein Vehikel dafür war, Großdeutschland durch Annexionen herzustellen. Deutsche der Volksgemeinschaft hinzuzufügen (oder besser: sie zurückzubringen) wurde damit zu einem Ziel, in dem humanitäre Motive eine Rolle spielten, doch dies zunächst nur in rhetorischer Form. Die konkrete nationalsozialistische Außenpolitik agierte zunächst relativ vorsichtig und weitgehend kooperativ innerhalb der bestehenden internationalen Beziehungen, um die Großmächte nicht zu provozieren. Es war tatsächlich eine Politik der „grandiosen Selbstverharmlosung“,9 eine Politik, die Frieden predigte, um sich besser für den Krieg vorzubereiten, ohne dabei allzu viel Aufmerksamkeit oder gar Gegenmaßnahmen der anderen Mächte zu erregen. Es war darüber hinaus eine Politik, die sich politisch und später auch militärisch erpresserischer Mittel bediente, um eine Vergrößerung des Deutschen Potenzials zu erreichen, solange wie möglich, ohne offene Gewalt zu praktizieren. Unter diesen Umständen erlangten in den beiden Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg humanitäre Argumente und Motive in der deutschen Außenpolitik, und damit auch in den europäischen internationalen Beziehungen, eine bedeutende
1970/80; Martin Broszat, Der Staat Hitlers, München 1969; Frank McDonough (Hg.), The Origins of the Second World War: An International Perspective, London 2011 (bes. die Kapitel von David Dutton, John Charmley und Robert Young zu britischen Perspektiven). 8 Jost Dülffer, Weimar, Hitler und die Marine. Reichspolitik und Flottenbau 1920–1939, Düsseldorf 1973, 547. 9 Hans-Adolf Jacobsen, Nationalsozialistische Außenpolitik 1933–1938, Frankfurt am Main 1968, 328.
II Österreich
Rolle.10 Das wird hier an dem zentralen Fall Tschechoslowakei gezeigt, während die vorausgehenden Aktionen gegenüber Österreich und die nachfolgenden im Hinblick auf Polen nur knapp gestreift werden.
II Österreich Die Rückkehr des Saargebiets nach einer Volksabstimmung im Jahr 1935 und die Remilitarisierung des Rheinlandes im März 1936 waren Akte deutscher territorialer Expansion bzw. Ausweitung von Souveränität. Im Kern der Legitimation stand dabei die Anwendung oder Revision der Friedensregelungen nach dem Ersten Weltkrieg. Als legitime Heimholung deutscher Bevölkerungsteile hatten die Nationalsozialisten ursprünglich auch den Fall Österreich inszeniert. Aus der Lektion, dass ein solch revolutionäres Vorgehen kontraproduktiv war, lernte man und setzte daher ab 1934 auf eine politische Einbindung Österreichs im Rahmen des bestehenden europäischen Staatensystems, die 1936 zur weitgehenden Abhängigkeit des Nachbarstaates in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht führte.11 Seit 1937 stand jedoch die volle Integration Österreichs ins Deutsche Reich im Vordergrund – „Anschluss“ war das entsprechende Schlagwort, wie Hitler selbst rückblickend verkündete:12 „Im Januar 1938 fasste ich den endgültigen Entschluss, im Laufe dieses Jahres so oder so das Selbstbestimmungsrecht für die sechseinhalb Millionen Deutschen in Österreich zu erkämpfen.“ Diese Berufung auf „Selbstbestimmung“,13 eines der tragenden Prinzipien der Friedensregelung nach dem Ersten Weltkrieg, wurde auch hier gegenüber dem primär ethnisch-rassisch geprägten Volkstumsbegriff taktisch und durchaus wirkungsvoll gegenüber dem europäischen Ausland verwandt, gepaart mit offenen Großmachtansprüchen.
10 Es gibt eine ausführliche wissenschaftliche Debatte über das internationale Staatensystem auf dem Weg in den Krieg: Klaus Hildebrand (Hg.), 1939. An der Schwelle zum Weltkrieg, Berlin/New York 1990; Donald C. Watt, How War Came. The Immediate Origins of the Second World War, 1938–1939, London 1988; Zara Steiner, The Triumph of the Dark. European International History 1933–1939, Oxford 2011, bes. Kapitel 10–14; Joseph Maiolo, Cry Havoc. How the Arms Race drove the World to War, London 2010. 11 Norbert Schausberger, Österreich und die nationalsozialistische Anschluß-Politik, in: Manfred Funke (Hg.), Hitler, Deutschland und die Mächte. Materialien zur Außenpolitik des Dritten Reiches, Düsseldorf 1976, 728–756; ders., Der Griff nach Österreich. Der Anschluß, Wien 1978, 451–558. 12 Archiv der Gegenwart 1939, 3914 (30. Januar 1939). 13 Jörg Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker: die Domestizierung einer Illusion, München 2010; ders., Adolf Hitler und das Selbstbestimmungsrecht, in: Historische Zeitschrift 290 (2010), 94–118 (103, 108–115). Fisch zitiert mehrere Reden Hitlers: 20. Februar, 12. März, 18. März, 25. März, 12. September: Max Domarus, Hitler, Reden 1932–1945, Wiesbaden 1975, 801, 816, 827 ff., 833, 901.
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Diese Taktik ging gegenüber Großbritannien und Frankreich auf; die Klagen über die Verletzung von Rechten Deutscher in Österreich spielten nur eine begleitende Rolle. Der „friedliche“ Einmarsch der Wehrmacht, die öffentliche Begeisterung in Österreich und die plebiszitäre Absicherung taten ein Übriges, um die von Beginn an gewalttätige Gleichschaltung, zumal in politisch-rassischer Hinsicht, zu verbrämen.
III Der Fall Tschechoslowakei: die Sudetenkrise 1938 Der über drei Millionen starke deutschsprechende Bevölkerungsanteil in der Tschechoslowakei hatte zunächst wenig Anlass, sich über Unterdrückung zu beklagen.14 Aber unter dem Eindruck nationalsozialistischer Politik im Deutschen Reich radikalisierte sich diese auch in ihren politischen Aktivitäten. 1933 bildete sich als Zusammenschluss mehrerer Parteien der deutschen Minderheit die Sudetendeutsche Heimatfront, 1935 umbenannt in Sudetendeutsche Partei (SdP), da sie sich nur als Partei zur Wahl stellen konnte. Dies wurde begleitet von einer engeren Anbindung an die deutsche Politik und schwindender Loyalität gegenüber dem tschechoslowakischen Staat. Bedeutsam wurde die Radikalisierung der nationalsozialistischen Politik auf der konzeptuellen Ebene, als Hitler am 5. November 1937 eine interne Rede vor den Wehrmachtführern und dem Außenminister hielt, die durch die Hoßbach-Niederschrift bekannt geworden ist.15 Hier verkündete Hitler nicht nur, unter Zeitdruck zu stehen, da die europäischen Mächte nunmehr auf seine Politik mit maximaler Rüstung reagierten, darüber hinaus leitete er aus dem Befund einer schwindenden militärischen Überlegenheit das Erfordernis ab, einen großen Krieg in den kommenden Jahren zu führen. Im nächsten Schritt erklärte er nicht nur Österreich, sondern auch die Tschechoslowakei zu einem Expansionsziel: „Zur Verbesserung unserer militär-politischen Lage müsse in jedem Fall einer kriegerischen Verwicklung unser erstes Ziel sein, die Tschechei und
14 Ronald M. Smelser, Das Sudetenproblem und das Dritte Reich, 1933–1938. Von der Volkstumspolitik zur Nationalsozialistischen Außenpolitik, München 1980, bes. das Kapitel: Von der Volkstumspolitik zur Außenpolitik, 188–215; Ralf Gebel, „Heim ins Reich“. Konrad Henlein und der Reichsgau Sudetenland (1938–1945), München 2009, für 1937/8: 51–61; René Küpper, Karl Hermann Frank (1898–1946). Politische Biographie eines sudetendeutschen Nationalsozialisten, München 2010, 88–115; Detlef Brandes, Die Sudetendeutschen im Krisenjahr 1938, München 2008; klassisch: Helmut K. G. Rönnefarth, Die Sudetenkrise in der internationalen Politik, 2 Bde., Stuttgart 1961; Jürgen Zarusky, Martin Zückert (Hg.), Das Münchener Abkommen von 1938 in europäischer Perspektive, München 2013 (v. a. Beiträge von Studt, Neville, Brandes, Soutou). 15 Hossbach-Niederschrift, Berlin 10. November 1937, Akten zur deutschen Auswärtigen Politik 1918–1945, Serie D, Bd. I, Baden-Baden 1949, No. 18, 25–32, hier Seite 29 f. Zu den wirtschaftlichen Hintergründen für diese Rede: Dülffer (wie Anm. 8), 446–452.
III Der Fall Tschechoslowakei: die Sudetenkrise 1938
gleichzeitig Österreich niederzuwerfen, um die Flankenbedrohung eines etwaigen Vorgehens nach Westen auszuschalten.“16 Darin lag ein Primat der militärischen Strategie und der Geopolitik – ein Argument, das gewiss auch im Hinblick auf seine Zuhörer verwandt wurde. Ethnische Argumente spielten diesen gegenüber, wenig überraschend, keine Rolle: „Der Führer [...] wolle in eigener Selbständigkeit und unter Ausnutzung dieser sich nur einmal bietenden günstigen Gelegenheit den Feldzug gegen die Tschechei beginnen und durchführen, wobei der Überfall auf die Tschechei ‚blitzartig schnell‘ erfolgen müsse.“17 In öffentlichen Reden jedoch spielte das völkische Argument als Vorbereitung für einen solchen Schritt eine bedeutende Rolle. Ungefähr zur selben Zeit, zu der diese Rede gehalten wurde, legte der Führer der Sudetendeutschen Partei, Konrad Henlein, Hitler ein langes Memorandum vor. Darin kündigte er die Radikalisierung seiner Bewegung und zugleich ihre stärkere Abhängigkeit von der Politik des Reiches an:18 Das tschechische Regime geht [...] vor allem in der letzten Zeit mit allen Mitteln planmäßig davon aus, die wirtschaftlichen und sozialen Existenzgrundlagen des Sudetendeutschtums zu zerstören [...]. Es gibt heute kaum mehr eine sudetendeutsche Familie, in der nicht ein Angehöriger wegen eines politischen Deliktes verfolgt würde, in Untersuchungshaft sitzt oder aber eingekerkert ist. Die tschechische Justiz ist vollständig zu einem Mittel der antideutschen Vernichtungspolitik des Regimes geworden.
Dieser „Bericht für den Führer“ führte sehr detailliert die Schwierigkeiten des sozialen und kulturellen Lebens für die Sudetendeutschen auf. Bei Henlein bedeutete diese Klage über humanitäre Unterdrückung damals noch keinen Appell an unmittelbare Intervention, eher intendierte er eine Flucht nach vorn, im Sinne eines Versuchs, sich durch die Gefolgschaft gegenüber Hitler endgültig innerhalb der SdP durchzusetzen. Dennoch versorgte er den deutschen „Führer und Reichskanzler“ mit Argumenten, die dieser zunehmend im Tagesgeschäft politisch nutzen konnte. Dazu gehörte auch explizit die Verletzung von Menschenrechten. Nach dem Anschluss Österreichs beklagte sich Hitler in seiner Reichstagsrede vom 18. März über die „Rechtsvergewaltigung“ von Millionen Deutschen außerhalb der Reichsgrenzen.19 „Recht muss Recht sein, auch dann, wenn es sich um Deutsche handelt! Und wer will sich nun darüber wundern, dass sich die Völker, denen man dieses Recht beharrlich verweigert, endlich gezwungen sehen, sich ihr Menschenrecht 16 Akten (wie Anm. 15) No. 19. Memorandum, 11. November 1937, 29–39, Zitat 35. 17 Ebd., Zitat: 37 f. 18 ADAP (wie Anm. 15) D, II, No. 23. Henlein an Neurath, 19. November 1937, Anlage: Bericht für den Führer, 40–51, Zitate 42 f. 19 Domarus (wie Anm. 13), 828 auch zum Folgenden.
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selbst zu holen.“ Es dauerte noch bis Mai 1938, bis der unmittelbare Kurs zu einem militärischen Angriff auf die Tschechoslowakei beschritten wurde. Vorwand dazu bildete die sogenannte MaiKrise, während derer Teile der tschechoslowakischen Armee mobilmachten, nachdem es dort Gerüchte über deutsche Truppenkonzentrationen gegeben hatte. Hitler war empört und verkündete intern seine feste Entschlossenheit, das tschechische – nicht nur das sudetendeutsche – Problem ein für alle Mal mit militärischen Mitteln zu lösen. Noch kurz vor dieser Eskalation hatte es in einer Weisung für die Wehrmacht vom 20. Mai 1938 über ein mögliches Vorgehen geheißen:20 „Es liegt nicht in meiner Absicht, die Tschechoslowakei ohne Herausforderung schon in nächster Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen, es sei denn, dass eine unabwendbare Entwicklung der politischen Verhältnisse innerhalb der Tschechoslowakei dazu zwingt.“21 Wie so etwas konkret geschehen könnte, ging aus dem Zusatz hervor, nämlich „durch blitzschnelles Handeln aufgrund eines ernsten Zwischenfalles, durch das Deutschland in unerträglicher Weise provoziert wird und wenigstens einem Teil der Weltöffentlichkeit gegenüber die moralische Berechtigung zu militärischen Maßnahmen gibt“22 . Mobilisierung von „Weltöffentlichkeit“ als Grundlage für eine humanitäre Intervention – das bildete in der Tat den Kern von Hitlers Argument, aber es erwies sich dennoch schwieriger als angenommen, dies in Politik zu implementieren. Bereits zwei Monate zuvor hatte Außenminister Joachim von Ribbentrop mit Blick auf künftige Ziele argumentiert,23 „es käme darauf an, ein Maximalprogramm aufzustellen, das als letztes Ziel den Sudetendeutschen die volle Freiheit gewähre. Gefährlich erscheine es, sich frühzeitig mit Zusage der tschechoslowakischen Regierung abzufinden.“ In dieser Hinsicht erwiesen sich Konrad Henlein und seine SdP als zuverlässiges Instrument deutscher Eskalationspolitik. Im Anschluss an den Parteitag – und nun in enger Abstimmung mit Berlin – verabschiedete die SdP ihr sogenanntes Karlsbader Programm,24 in dem sie nicht nur volle Gleichberechtigung innerhalb der Tschechoslowakei (analog zu den Staatsnationen der Tschechen
20 ADAP (wie Anm. 15), D II, No. 175, Anlage 20. Mai 1938: Entwurf Weisung Grün, 236–240, Zitat 237. Dieses und das folgende Dokument auch online unter http://www.ns-archiv.de/krieg/ (7.11.2022). 21 Die endgültige Weisung Grün vom 30.5.1938 verschärfte: „Es ist mein unabänderlicher Entschluß, die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen“; in ihr wurde weiter erläutert: „Der Propagandakrieg muß einerseits die Tschechei durch Drohungen einschüchtern und ihre Widerstandskraft zermürben, andererseits den nationalen Volksgruppen Anweisungen zur Unterstützung des Waffenkrieges geben und die Neutralen in unsrem Sinne beeinflussen.“ ADAP (wie Anm. 15), D II, No. 221, Zitat 282. 22 Wie Anm. 20, 237. 23 ADAP (wie Anm. 15), D, II, No. rn9, 29. März 1938. 24 ADAP (wie Anm. 15), D II, No. 135, 192: 8 Karlsbader Forderungen. Englische Zusammenfassung: Documents on British Foreign Policy, London 1949, Serie III, Vol. 1, No. 157, 182–186.
III Der Fall Tschechoslowakei: die Sudetenkrise 1938
und Slowaken) einforderte, sondern auch Entschädigung für das angeblich erlittene Unrecht, das die Sudentendeutschen seit dem Ersten Weltkrieg erlitten hatten für ihr „Bekenntnis zum deutschen Volkstum“. Das bedeutete weit mehr als Autonomie, blieb aber dennoch unterhalb der Forderung nach Anschluss ans Deutsche Reich, dem österreichischen Weg also vergleichbar. Diese Forderung bildete die Grundlage für ihre innenpolitischen Verhandlungen mit den tschechoslowakischen Behörden. Genau diese Taktik wurde Henlein wenig später von Hitler selbst als zweckmäßig bestätigt: „immer verhandeln und den Faden nicht abreißen lassen. Aber immer mehr fordern als die Gegenseite anbieten kann.“25 Parallel dazu lief eine zunehmend militante Politik der Sudetendeutschen, wobei Freikorps, unterstützt von der SA im Reich, das Ihrige taten, um die soziale Situation unerträglich erscheinen zu lassen.26 Bereits vor Karlsbad hatten sich die Klagen der Sudetendeutschen radikalisiert und zu stärkeren Spannungen mit ihren tschechoslowakischen Landsleuten geführt. Die deutsche diplomatische Berichterstattung ist voll von Berichten über ein wachsendes sudetendeutsches Selbstbewusstsein, dem die tschechoslowakischen Behörden zunächst mit scharfen Gegenmaßnahmen zu begegnen trachteten:27 Erstmalig nach dem Aufgehen der deutschen Splitterparteien in der Sudetendeutschen Partei fanden am 27. März 1938 im sudetendeutschen Gebiet rund 36 Versammlungen der HenleinBewegung mit insgesamt etwa 500.000 Teilnehmern statt. Kundgebungen standen naturgemäß im Zeichen der Ereignisse in Österreich und waren gekennzeichnet durch „stärkste Begeisterung Sudetendeutschen Volkes, das völlige Neugestaltung seines Schicksals erwartet“.28 Bald darauf wurden sogar schon vereinzelt Rufe wie „ein Volk, ein Reich, ein Führer“ vernommen. Unter diesen Bedingungen erhielt die taktische Verwendung des Arguments von der Unterdrückung der Sudetendeutschen eine ganz spezifische Bedeutung auch in der internationalen Politik. Als etwa der britische Botschafter in Berlin, Sir Neville Henderson, sich während der Mai-Krise über deutsche Eskalationsmaßnahmen beklagte, erwiderte Ribbentrop:29
25 Smelser, 233 (eigene Rückübersetzung). 26 Stefan Dölling, Henleins Bürgerkrieger – Das Sudetendeutsche Freikorps zwischen Eigenmobilisierung und Fremdsteuerung durch das 3. Reich, unpubl. MAArbeit, Humboldt-Universität Berlin 2010; Grenzüberschreitende Gewalttätigkeit – die SA und die ‚Sudetenkrise‘, in: Yves Müller, Reiner Zilkenat (Hg.), Bürgerkriegsarmee. Forschungen zur nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA), Frankfurt am Main 2013, 241–263. 27 ADAP (wie Anm. 15), D, II, No. 112, Gesandter in Prag, 31. März 1938. 28 Ebd. 29 ADAP (wie Anm. 15), D, II, No. 186, Note von Ribbentrop, 21 May 1938, 249.
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Lord Halifax habe davon Kenntnis genommen, dass ich dem britischen Botschafter gesagt habe, wenn ein Blutbad in der Tschechoslowakei aus der Spannung zwischen den Tschechen und den Deutschen entstände, werde Deutschland handeln. [Außenminister Lord Halifax solle sich lieber in Prag als in Berlin beschweren.] Unbewaffnete deutsche Menschen, die heute nicht mehr Radfahren oder auf der Straße spazieren gehen könnten, ohne dem übelsten Terror bewaffneter Tschechen ausgesetzt zu sein, zur Ruhe mahnen zu sollen, schienen mir eine groteske Zumutung, und ich könnte dieses Ansinnen nicht ernst nehmen.30
Solche Aussagen beruhten auf der Annahme, dass insbesondere die europäischen Westmächte ein offenes Ohr für die Klage über die Verletzung von Menschenrechten haben würden. Oder anders gesagt: Obwohl in Paris und London die Überzeugung wuchs, dass Berlin Krieg und Gewalt meinte und nur Vorwände für deren Anwendung suchte, konnte man angesichts der eigenen Öffentlichkeit die Berliner und sudetendeutschen Klagen nicht auf die leichte Schulter nehmen. Das erleichterte eine kompromisslose Politik der Abschreckung, verbunden mit einem Eingehen auf legitime Klagen – genau das war der Kern der Appeasement-Politik – nicht unbedingt. Frankreich war der Tschechoslowakei durch einen Beistandspakt aus dem Jahr 1935 verbunden. Da sich das französische Militär dennoch nicht in der Lage sah, im Falle eines europäischen Krieges den eigenen Verpflichtungen nachzukommen, war es besser, sich an den Strohhalm zu klammern, der vielleicht eine Lösung hervorbringen konnte, zumindest aber härtere Entscheidungen herauszögern sollte. Beides ging aber nur mit Unterstützung Großbritanniens. Bereits 1937 hatte die britische Regierung begonnen, der tschechischen dringend nahezulegen, den Minderheiten Autonomie zu gewähren, oder doch zumindest darüber zu verhandeln. Das galt primär für die Sudetendeutschen, aber auch für die Slowaken, die – anders als Erstere – konstitutiver Teil der Republik waren. Die Sudetendeutschen wurden zunehmend aus Berlin ermuntert, ihre Forderungen mit stärkerem Nachdruck zu vertreten. Ende April 1938 übte der britische Gesandte in Prag erneut Druck auf die tschechoslowakische Regierung aus, für die Klagen ihrer Minderheiten Kompromisse zu finden.31 Damit akzeptierte er implizit die Klage über Verletzung von Menschenrechten bei den Sudetendeutschen. London stritt mit Prag, ob ein Vorschlag für eine umfassende Regelung von Minoritäten oder Nationalitäten sprechen solle. Mit großer Besorgnis registrierte man die wachsende Kluft zwischen den tschechoslowakischen Vorschlägen einerseits und den sich steigernden sudetendeutschen Gegenvorschlägen andererseits – ganz nach deutschem Plan. Im Rahmen britisch-französischer Konsultationen zeigte sich die
30 Ebd. 31 DBFP (wie Anm. 24), III, Vol. I, No. 154, 22. April 1938.
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britische Seite entschlossen:32 „It would be made very clear to the Czechoslovak government and to Dr. Benes that they must seize this opportunity which might be the last to make a supreme effort to reach a settlement“ – natürlich mit weiteren Konzessionen an die von deutscher Seite formulierten humanitären Klagen. Auf französischer Seite war man skeptischer und unterstrich vielmehr den Primat eines gemeinsamen Vorgehens mit London in machtpolitischem Auftreten, in der Hoffnung, dies könne die Deutschen abschrecken. Aber auch Paris schreckte vor einer militärischen Aktion, oder auch nur der unmittelbaren Androhung, zurück. Britische Vermittlungsversuche in der humanitären Frage erreichten Ende Juli 1938 einen neuen Höhepunkt, als Lord Runciman, zu dieser Zeit ohne Regierungsamt, zum Leiter einer Mission in die Tschechoslowakei ernannt wurde. Die britische Regierung konnte natürlich nicht offiziell zwischen der souveränen tschechischen Regierung und ihren eigenen Staatsbürgern vermitteln. Daher trat Runciman als unabhängiger „investigator and mediator“ in dieser formal innertschechischen Angelegenheit auf.33 Sicher war bekannt, dass die Haltung der deutschen Regierung in dieser Frage entscheidend war, und dass Krieg drohte, wenn alle bisherigen Lösungsversuche scheitern würden und es nicht gelänge, den Beschwerden der Sudetendeutschen abzuhelfen. Daher griffen die Westmächte mit dieser RuncimanMission nach einem Strohhalm, die Franzosen nun eher im Schlepptau der Briten. Informell versuchten britische Diplomaten dennoch, Runciman bestimmte Vorschläge nahezulegen, die aber nur minimale Aussicht auf Erfolg hatten.34 Letztlich brachten all diese Bemühungen nichts. Ribbentrop vertrat offiziell die Ansicht, die Tschechen würden durch eine solche Mission nur noch aggressiver werden oder sich künftig gar bolschewistischen Ideen verschreiben – damit verwies er auf die Gefahr einer drohenden stärkeren Bindung Prags an Moskau und schürte damit bestehende britische Ängste. Für ihn stellte einzig die tschechische Regierung ein Hindernis für ein „Settlement and the pacification of Europe“ dar.35 Seit dem Anschluss Österreichs im März 1938 lagen also die deutschen Absichten gegenüber der Tschechoslowakei in der sudetendeutschen Frage auf dem Tisch. Diese Propaganda blieb aber zunächst recht vorsichtig. Es gab eine scharfe Überwachung und Presselenkung, unter anderem durch tägliche Pressekonferenzen des Propagandaministeriums und gelegentlich durch Joseph Goebbels persönlich.36
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Ebd., No. 164, 28./29. April: British-French talks in Downing Street, 198–234, Zitat 214 f. DBFP (wie Anm. 24) III, Vol. 2., No. 541/546, 25./26. Juli 1938. Ebd., No. 662, Botschafter Berlin, Henderson, an Halifax, 22. August 1938, 129–130. Ebd., No. 661, Ribbentrop an Halifax, 21. August 1938, 127–129, Zitat 128. Nach wie vor ein guter Überblick über die Quellen: Walter Hagemann, Publizistik im Dritten Reich. Ein Beitrag zur Methode der Massenführung, Hamburg 1948, für den Sommer 1938, 348–377 (Zitat 366, Zusammenfassung 377); Engelbert Schwarzenbeck, Nationalsozialistische Pressepolitik und die Sudetenkrise 1938, München 1979; die fundamentale Quellenpublikation: Hans Behr-
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Gewiss bedurfte es immer noch der Abstimmung zwischen den sudetendeutschen Führern und Berlin; die Reichsregierung war nicht völlig Herr der Lage, aber die Medienlenkung in Deutschland war doch recht eng. Nachrichten über tschechische Übergriffe durften bisweilen nur in regionalen Zeitungen, und nur gerüchteweise, dann auch als angebliche Fakten gebracht werden. Später fanden sie auch eine reichsweite Verbreitung in verschiedenen Zeitungen, durften aber zunächst noch nicht kommentiert werden. Im August jedoch wurde der Ton im Zuge der parallel laufenden militärischen Planungen schärfer. Mit Hitlers Rede auf dem Reichsparteitag am 12. September beschleunigte und intensivierte sich die Medienkampagne.37 Der „Führer“ bekräftigte seine bereits zuvor geäußerte Ankündigung, „dass das Reich eine weitere Unterdrückung und Verfolgung dieser dreieinhalb Millionen Deutschen nicht mehr hinnehmen wird“.38 Am 19. September wurden die Journalisten ermahnt, in ihren Berichten nicht länger mit „7,5-cm-Kanonen“, sondern in ihrer Propaganda mit „21-cm-Artillerie“ zu schießen – Journalismus als Vorbereitung des Krieges mit anderen Mitteln, eine Festung sollte so mit Berichten über humanitäre Gräuel gleichsam sturmreif geschossen werden.39 Walter Hagemann hat bereits vor über 60 Jahren diesen instrumentalisierten Gebrauch von humanitären Verletzungen auf den Begriff gebracht: Die Richtlinien waren sehr flexibel handhabbar. Die Pressekampagne erreichte einen ersten Höhepunkt im Mai, wurde dann wieder gemäßigt, aber seit Mitte Juli schwollen die Propagandaberichte über angebliche Untaten der Tschechen ständig an – die Stationen diplomatischer Verhandlungen Hitlers mit Chamberlain und anderen westlichen Staatsmännern in effektiv flankierend. Die Initiative wurde anfangs allein den Sudetendeutschen zugeteilt, gelegentlich verstärkt vonseiten der deutschen Medien. Nur in der letzten Phase stimmte die NS-Führung mit Reichsparteitagsreden und bei anderen Gelegenheiten ein. Immer ging es darum, die eigene Bevölkerung mental zu mobilisieren und das Ausland einzuschüchtern. Die einzelnen Schritte zur Angliederung der Sudetengebiete ans Reich sind oft dargelegt worden und können als bekannt gelten. Premierminister Neville Chamberlain suchte Hitler dreimal zwischen dem 15. und 30. September auf: in Berchtesgaden, Bad Godesberg und München, Letzteres gar im Rahmen eines westeuropäischen Gipfeltreffens mit dem französischen Ministerpräsidenten Édouard Daladier sowie dem italienischen Duce Benito Mussolini, aber ohne jeglichen tschechoslowakischen Repräsentanten. Als Folge davon wurde das Sudetengebiet unmittelbar an Deutschland abgetreten. Hitler hatte seine
mann u. a. (Hg.), NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit: Edition und Dokumentation, München 1984–2001, 7 Bände mit Kommentaren; jüngst: Bernd Heidenreich/Sönke Neitzel (Hg.), Medien im Nationalsozialismus, Paderborn 2010 (bes. der Beitrag von Joachim-Felix Leonhard). 37 Max Domarus (wie Anm. 13). 38 Ebd., 900. 39 Walter Hagemann (wie Anm. 36), 366.
IV Der Weg in den Krieg: Grenzen des humanitären Arguments
Bereitschaft, einen großen europäischen Krieg zu riskieren, in die Waagschale geworfen, um die anderen westeuropäischen Großmächte zu erpressen. So hatte er etwa in Berchtesgaden Chamberlain mit der Klage konfrontiert:40 Die Lage sei sehr ernst. Aufgrund der neuesten Nachrichten müsse man mit 300 Todesopfern bei den Sudetendeutschen und vielen hunderten von Verletzten rechnen. Ganze Ortschaften seien von der Bevölkerung fluchtartig verlassen worden. Unter diesen Umständen müsse, so oder so, in kürzester Frist eine Entscheidung getroffen werden.
Und weiter: Im Falle der sieben Millionen Deutschen aus der Ostmark [Österreich] sei diese Forderung erfüllt worden. Den drei Millionen Deutschen in der Tschechoslowakei werde er (der Führer) unter allen Umständen die Rückkehr in das Reich ermöglichen. Er würde jeden Krieg und sogar das Risiko eines Weltkrieges dafür in Kauf nehmen. Es sei hier die Grenze erreicht, wo die übrige Welt tun könne, was sie wolle, er würde keinen Schritt zurückweichen.41
IV Der Weg in den Krieg: Grenzen des humanitären Arguments Das Münchner Abkommen stellte einen sehr prekären Sieg für Hitler dar. Er hatte nur deswegen Erfolg, weil das Argument der Unterdrückung der Sudetendeutschen, also das Motiv der Verletzung von Menschenrechten aus ethnischen Gründen, an der Oberfläche der Reden ins Feld geführt worden war. Das passte sich sehr gut in die Taktik ein, die der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Ernst von Weizsäcker, im Anschluss an die Mai-Krise empfohlen hatte,42 nämlich eine „chemische Lösung“ des Problems zu finden, also eine Auflösung des tschechoslowakischen Staates von innen, ohne militärische Drohung oder gar Eingreifen, begleitet von wirtschaftlichem Druck. Aber Hitler beharrte darauf, auch mit militärischem Einsatz zu drohen. Dennoch wurde die Sudetenfrage, u. a. mit dem Argument des humanitären Problems, schließlich „chemisch“ und damit friedlich gelöst. Hitler war dennoch enttäuscht von „München“. Er hatte eigentlich die militärische Besetzung der ganzen westlichen Tschechoslowakei samt Prag beabsichtigt, und dies, wenn nötig, durch einen regional begrenzten Krieg. Dieses Vorhaben zielte auf
40 ADAP (wie Anm. 13), D, II, No. 487, Aufzeichnung 15. September 1938, 627–636, Zitat 628. 41 Ebd., Zitat 630. 42 Ernst von Weizsäcker, Die Weizsäcker-Papiere, Hg. Leonidas E. Hill, Frankfurt 1974, 129, 131 u. ö.
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einen kurzen und isolierten Krieg, der die Wehrmacht testen und zugleich die Deutschen mental an Aggressionen größeren Stils gewöhnen sollte. In einer Geheimrede vor der deutschen Presse am 10. November 1938 erklärte er, dass nun die „pazifistische Platte“ – also die humanitären Elemente – abgespielt sei, betonte vor den Verlegern und Journalisten auch seine relative Zufriedenheit darüber, „eine Front von fast 2000 Kilometern Befestigungen zu bekommen, ohne einen scharfen Schuss abgefeuert zu haben. Meine Herren, wir haben dieses Mal mit der Propaganda im Dienste einer Idee 10 Millionen Menschen mit über 100.000 Quadratkilometern Land bekommen.“43 Was Hitler hier korrekt als Propaganda bezeichnete, war in der Substanz das Argument der Verletzung von Menschenrechten. In Verbindung mit der Androhung kriegerischer Mittel hatte er hier vorerst Erfolg. Hitler war mit der Angliederung der Sudetengebiete, wie bereits dargelegt, keineswegs am Ende seiner Ziele, ordnete auch sogleich militärische Vorbereitungen für eine Zerschlagung der „Rest-Tschechei“ an, während die Westmächte untereinander vereinbarten, den Deutschen fortan keine Zugeständnisse mehr zu machen, die sich nicht mit dem Selbstbestimmungsrecht vereinbaren ließen. Das erhöhte dann auch den politischen Druck auf die verkleinerte Tschechoslowakei und rückte vor allem die slowakische Frage in den Vordergrund: Auch hier unterstellten die Deutschen ein Unterdrückungsverhältnis der zweiten Staatsnation der Republik. Das führte letztlich zum friedlichen deutschen militärischen Einmarsch in Prag am 15. März 1939, während sich die Slowakei für unabhängig erklärte. In der von Goebbels verlesenen Proklamation war wieder von humanitären Verletzungen Deutscher die Rede: „Seit Sonntag finden in vielen Orten wüste Exzesse statt, denen nunmehr zahlreiche Deutsche zum Opfer fielen. Stündlich mehrten sich die Hilferufe der Betroffenen und Verfolgten. Aus den volkreichen deutschen Sprachinseln [...] beginnt wieder ein Strom von Flüchtlingen, von um Hab und Gut gebrachten Menschen, in das Reich zu fließen.“44 Aber dieses Mal hatte Hitler die Geduld in Großbritannien überstrapaziert. Die Mischung aus ethnischen Argumenten und militärischen Mitteln war ausgereizt. Gerhard Weinberg formulierte das prägnant und zugespitzt: The reason is easy to see: in this sphere his 1938 strategy simply had not worked. He had in 1938 been required to settle for his ostensible demands, and he was not about to take a chance on that happening again. If you did not want a negotiated settlement, and wished to avoid the risk of being nudged into one against your own preference, the safest thing to do was not to negotiate at all.45
43 Domarus (wie Anm. 13), 975. 44 Ebd., 1096. 45 Gerhard Weinberg (wie Anm. 7), II, 561.
V Zusammenfassung
Damit bezog er sich auf die polnische Frage, genauer: den polnischen Korridor zwischen dem Reich und Ostpreußen. Genau darüber schien es schon seit Längerem eine gute und einvernehmliche internationale Lösung geben zu können. Hermann Göring hatte im April 1938 dem britischen Botschafter erklärt: „But, apart from the Sudeten, everything else was of minor importance: Danzig was already practically German again; the problem of the corridor could be solved possibly by a corridor across a corridor; Memel would also have to come back to Germany, but these were all matters of comparatively easy adjustments.”46 Zu diesem Zeitpunkt war von Unterdrückung der Deutschen in diesen Gebieten noch keine Rede. Auch nach dem Ende deutsch-polnischer Kooperation im Rahmen des 1934 geschlossenen Nichtangriffspaktes änderte sich daran im Frühjahr 1939 zunächst nichts. Seit April 1939 ging es dann intern im Zusammenhang mit den Kriegsvorbereitungen auch nicht länger um ethnische Forderungen wie im Falle Danzigs oder des polnischen Korridors, sondern um einen – möglichst regional begrenzten – Krieg. Die deutsche Presselenkung blieb daher gerade mit Klagen über humanitäre Übergriffe der Polen auf Deutsche relativ ruhig, ethnische Argumentationen spielten erst ungefähr seit dem 8. August eine Rolle in den Medien und erst nach dem deutschen Überfall sprach Hitler im Reichstag am 1. September 1939 von der Unterdrückung Deutscher in Polen und zumal im Korridor – kein vorbereitendes, sondern ein rückwirkendes Argument. Die „pazifistische Platte“ hatte endgültig ausgespielt.
V Zusammenfassung Die nationalsozialistische deutsche Außenpolitik war eine Politik zum Kriege, der die Aufstellung einer international überlegenen Armee voraus und parallel lief. Sie sollte in der Lage sein, einen dauerhaften Krieg zu überstehen und um „Lebensraum“ und letztlich schrankenlos um Weltherrschaft zu kämpfen – und dies auf einer rassisch begründeten und motivierten Basis. Das hatte auf den ersten Blick nichts mit Menschenrechten oder einer Intervention aus humanitären Gründen zu tun. Aber sekundär erlangte das Argument der humanitären Intervention doch mehr als eine rein taktische Funktion. Das propagierte Ziel, alle Deutschen, im weitestmöglich gefassten Sinne, in das Reich zu integrieren, wies eine entfernte Ähnlichkeit auf mit den Prinzipien der Selbstbestimmung, eine der Leitlinien der internationalen Ordnung seit dem Ersten Weltkrieg. Völlig unabhängig jedoch davon, ob alle, die von Berlin aus als Deutsche bezeichnet wurden, auch wirklich ihr höchstes Glück darin sahen, im NS-Staat zu leben – und ganz abgesehen von den gänzlich ungeklärten Schwierigkeiten, wie denn in gemischt ethnischen Gebieten gerade
46 DBFP (wie Anm. 24), III, No. 152, 20. April 1938, 174.
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mit „Deutschen“ hätte verfahren werden sollen. Insofern hatte die NSBlut-undBoden-Ideologie etwas anderes im Sinne, auch wenn sie demonstrativ bemüht war, scheinbar innerhalb der Kategorien Woodrow Wilsons zu operieren. Das Recht auf Selbstbestimmung konnte sich grundsätzlich auf den Schutz von Minderheiten in anderen Staaten beziehen, aber auch als Argument für eine Einbeziehung der von diesen bewohnten Gebieten ins Deutsche Reich verstanden werden. Da sich viele Auslandsdeutsche von den augenscheinlichen Erfolgen nationalsozialistischer Innen- und Außenpolitik ab 1933 beeindruckt zeigten, gab es von daher starke Sogeffekte, die durch eine Propaganda der Selbstbestimmung aus Berlin verstärkt wurden. Deutsche Minderheiten und ihre Repräsentanten erschienen daher mehr und mehr als fünfte Kolonne oder auch Agenten der NS-Politik in den jeweiligen Staaten. Konzessionen dieser Nachbarstaaten an die deutschen Minderheiten wurden so immer obsoleter und ließen sich leicht mit „zu spät – zu wenig“ abtun. Neben dem Argument des Rechts auf Selbstbestimmung war die proklamierte Verletzung von Menschenrechten oder humanitären Grausamkeiten gegenüber Deutschen durch die Regierungen von Nachbarstaaten ein potenziell wirksames Argument. Unabhängig von tatsächlichen sozialen, ökonomischen, kulturellen Benachteiligungen, von Verfolgungen ganz zu schweigen, konnte dieser Aspekt den jeweiligen Erfordernissen entsprechend – mal abgeschwächt, mal verstärkt – medial eingesetzt werden. Es wurde so zum Instrument sowohl innen- wie außenpolitischer Propaganda, und das heißt: ihr integraler Teil. Darüber hinaus entwickelte es sich zum diplomatischen Argument gegenüber den betroffenen Staaten, zunehmend auch gegenüber den europäischen Westmächten. Humanitäre Intervention mit dem Ziel der Einverleibung in das Deutsche Reich bildete kein konstantes Argument deutscher Außenpolitik in der NS-Zeit. Das SaarPlebiszit von 1935 war ein Überbleibsel der Versailler Ordnung und entsprach auch traditionellen deutschen nationalen Zielen. Die Rechte der Südtiroler hingegen, auch sie zu einem großen Teil deutschsprachig, die nach dem Anschluss Österreichs von 1938 in der unmittelbaren Nachbarschaft Großdeutschlands in Italien lebten, wurden noch im selben Jahr auf dem Altar der deutsch-italienischen Verständigung geopfert; sie spielten keine Rolle mehr. Während des Zweiten Weltkrieges sollten sie im deutsch-italienischen Einvernehmen an verschiedene, außerhalb der zentraleuropäischen Großreiche gelegene Orte (u. a. auf die Krim) umgesiedelt werden.47 Ähnliches trifft für die deutschsprachige Bevölkerung von Elsass und Lothringen zu. Bis 1940 beharrte die nationalsozialistische Politik mit Rücksicht auf Frankreich darauf, die Frage sei nach dem Ersten Weltkrieg geregelt worden;
47 Macgregor Knox, Common Destiny. Dictatorship, Foreign Policy and War in Fascist Italy and National Socialist Germany, Cambridge 2000.
V Zusammenfassung
erst nach der Besetzung großer Teile Frankreichs wurden diese Gebiete de facto ins Reich eingegliedert.48 Selbstbestimmung und Verletzung von Menschenrechten traten so grundsätzlich als Vorwand und taktisches Mittel für die Vorbereitung von Intervention oder Aggression in Erscheinung. Bei den drei hier dargelegten Fällen treten substanzielle Unterschiede zutage. Der Fall Österreich weist eine ansteigende Intervention seit dem Jahr 1934 auf, bis zur fast völligen politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeit von Deutschland. Hier kam also die von Ernst von Weizsäcker entwickelte Politik der „chemischen Lösung“ zur Anwendung, zunächst ohne dass humanitäre Argumente eine Rolle spielten. Erst in Kombination mit der militärischen Intervention erhielt dieses Argument eine nachrangige Bedeutung, als ein österreichischer Hilfsappell aus dem Reich bestellt wurde. Die Begeisterung vieler Österreicher auf dem Heldenplatz am Tag des Anschlusses und das nachfolgende Plebiszit beeindruckten jedoch auch die Westmächte. Der Fall der Tschechoslowakei und der Sudetengebiete lag anders. Hier wurde über ein Jahr lang das Argument unerträglicher Unterdrückung der Deutschen, ja auch Verletzung von Menschenrechten und Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts je nach Zweckmäßigkeit in Propaganda und Diplomatie angeführt. Dies geschah, obwohl Hitler selbst eine militärische Besetzung der ganzen Tschechoslowakei und die Zerstörung des Staates beabsichtigte. In diesem Fall erlangte die „chemische Lösung“ als Mischung aus sudetendeutschen Forderungen und Intervention aus dem Reich zentrale Bedeutung, und hier waren es die sich intensivierenden und medial flankierten Klagen über die Verletzung von Menschenrechten, die auch im Ausland bedeutsam wurden, wie die Runciman-Mission verdeutlichte. Hitler war schließlich in der selbst aufgestellten Falle seiner Versicherung, es gehe „nur“ um die humanitäre Intervention, gefangen. Im Münchener Abkommen hatte er, gemessen an seinen weitergehenden Absichten, auf halbem Wege nachgeben müssen: Nur die Sudetendeutschen wurden zu deutschen Bürgern. Der deutsche Diktator lernte daraus und war fortan entschlossen, eine solche Argumentation nicht noch einmal in den Vordergrund zu stellen. Folglich wurden im März 1939 auch aus Berlin primär slowakische Tendenzen zur Autonomie menschenrechtlich begründet vorgetragen, die deutsche Argumentation zum Einmarsch in der westlichen Tschechoslowakei und in Prag lief eher auf einen gescheiterten Staat hinaus. Im Falle Polens konnte die Absicht zur Zerschlagung des Staates daher nicht mit humanitärer Intervention verbrämt werden. Dieses Argument hätte bestenfalls den Korridor und die Freie Stadt Danzig abgedeckt. Aber gerade weil eine internationale Mediation diesmal möglichst vermieden werden sollte, waren die Vorbereitungen zunächst ganz überwiegend militärischer Natur. Erst in den letzten Augustwochen spielte das Leid
48 Lothar Kettenacker, Die nationalsozialistische Volkstumspolitik im Elsass während des Zweiten Weltkrieges, Stuttgart 1973.
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der Deutschen, primär im Korridor, und nicht das Recht auf Selbstbestimmung eine Rolle für die politisch absichernde Strategie, um einen regional begrenzten Krieg führen zu können, nicht aber den allgemeinen europäischen Krieg führen zu müssen. Der Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 war in dieser Hinsicht jedoch weit wichtiger. Dennoch begann der europäische Krieg nach dem deutschen Überfall am 3. September mit der britischen und französischen Kriegserklärung: Die Herausforderung auch der missbräuchlichen Verwendung menschenrechtlicher Argumente wurde angenommen. Das nationalsozialistische Beispiel, die Verletzung von Menschenrechten für nackte militärische Macht- und Expansionspolitik zu gebrauchen, ist extrem, aber nicht singulär. Politik bedient sich immer einer bestimmten Sprache und nutzt darin gerade die Berufung auf Werte auch taktisch, auch wenn diese Werte gar nicht den Kernzielen einer solchen Politik entsprechen.49 Historiker sollten es sich nicht zu einfach machen, wenn sie von vornherein unterscheiden zwischen einem falschen und einem guten oder adäquaten Gebrauch im Sinne des eigenen, westlichen Wertesystems wie etwa im Falle der Menschenrechtskonvention der UNO von 1948 oder des Europarates von 1950. Diese tragen keine absolute Moral in sich, man muss sie historisieren. Es gibt auch seit diesen Konventionen Chancen ebenso wie Grenzen in der Verwendung wertbehafteter Sprache, zumal in Fragen der Verletzung von Menschenrechten. Diese sollten zwar universal gelten, wurden und werden aber in der internationalen Politik immer wieder interessengeleitet ausgelegt und instrumentalisiert.50
49 Für den westdeutschen Fall nach 1945: Lora Wildenthal, The Language of Human Rights in West Germany, Philadelphia 2013. 50 [Zusatz 2022: die Entwicklung der russischen Expansionen seit 2014 lassen sich als weitere Beispiele in diesem Kontext lesen].
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When the ‘United Nations Organization’ was founded during the San Francisco Conference of 1945, this was not the first institution of this name.1 The war coalition of 26 nations which had been founded in early 1942 bore exactly the same name, ‘United Nations,’ and it was no accident that the new UN was formally only renamed, as the permanent, peacetime institution of the coalition which had defeated Nazi Germany and its allies. When re-examining the plans and expectations for a peaceful world and co-operation after the war, we have to state that there was a clear primacy of Great Power politics on the agenda of the new organisation. The most important impulses were derived from the meetings of the Big Three powers.2 From Tehran 1943 to Yalta 1945, the main driving force for these three powers was maintaining their unity into the post-war period. Joseph Stalin made the strongest remarks on this, when he argued3 that the main thing was to prevent quarrels in the future between the three Great Powers and that the task, therefore, was to secure their unity for the future. The convent of the new World Organization should have this as its primary task. Franklin D. Roosevelt also attached the greatest importance to the institutionalisation of this effort in the new world order of the United Nations system. The Security Council and the power of veto of the final five permanent member states, the basic principle of national sovereignty, codified in Article 2(7) of the UN Charter – all these go back to massive political interests of both the Soviet Union and the United States. It was only because of the 1944 election campaign that President Roosevelt was willing to concede more authority to the General Assembly. 1 Robert C. Hilderbrand, Dumbarton Oaks. The Origins of the United Nations and the Search for Postwar Security, Chapel Hill 1990; Georg Schild, Bretton Woods and Dumbarton Oaks. American economic and political postwar planning in the summer of 1944, Basingstoke 1996; Evan Luard, A History of the United Nations, Vol. 1: The Years of Western Domination, 1945–1955, London, Basingstoke 1982; Helmut Volger, Geschichte der Vereinten Nationen, 2nd edn., Munich 2008, 1–28; Paul Kennedy, Parliament of Men. The United Nations and the Quest for a World Government, New York 2006. 2 John Wheeler Bennett, Anthony Nicholls, The Semblance of Peace. The Political Settlement after the Second World War, London 1972; Wilfried Loth, Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges, 1941–1955, 8th edn., Munich 2000; Jost Dülffer, Jalta, 4. Februar 1945. Zweiter Weltkrieg und Entstehung der bipolaren Welt, 2nd edn., Munich 1999; David Reynolds, Warren Kimball, Alexandr Chubarian (eds.), Allies in War: The Soviet, American, and British Experience, 1939–1945, Basingstoke 1994. 3 Third Plenary Meeting, Yalta, 6 February 1945, Foreign Relations of the United States. The Conferences of Malta and Yalta, Washington 1955, 666 sqq.
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It was Stalin in particular who had warned him in Tehran that the smaller states might want to have more rights, rather than simply expressing their opinion on the decisions taken by the Great Powers, as the US President had originally proposed.4 This became the basis for the secondary competence of the General Assembly in the UN Charter. To be clear: the Great Powers5 were there at the start and it was these states which made the new institution an instrument which must not interfere with their ideas of a collectively agreed new world order – mainly directed against a new ‘fascist’ aggression. Seen this way, the peace settlements with the former aggressor states were clearly reserved for the Great Powers first, and only at a later stage, did the smaller belligerents of World War II have the opportunity to add minor points to the Paris Peace Treaties of February 1947. It is well known that soon the unity of the Great Powers and their common management of the major security problems, i. e., questions of war and peace, were to be superseded by the conflicts of the forthcoming ‘Cold War.’ But nevertheless, remnants of co-operation as well as status problems of the permanent members of the UN Security Council also played a major role when dealing with other topics on the early UN agenda. This can be shown for the origins of the Genocide Convention, too.
I Chronological Outline The chronology of events is well known.6 Briefly after the judgment of the tribunal of the major war criminals in Nuremberg was delivered on 30 September/1 October, 1946, the UN General Assembly on 11 December, 1946, passed Resolution 96(I), in 4 Roosevelt had proposed an all-states committee (‘Executive committee’) which could make recommendations, and the Great Powers, then called the ‘Four Policemen,’ should decide on the major questions. Stalin: ‘He did not think that the small powers of Europe would like the organization composed of the Four Policemen.’ Stalin to Roosevelt, 29 November 1943, in Foreign Relations of the United States. The Conferences of Tehran and Cairo, Washington, 529–531. 5 Originally, China had been the fourth power. France was only accepted in Yalta as the fifth member with a permanent seat in the Security Council – a major concession to Great Britain, which preferred a continental European power as a counterweight against the Soviet Union. China’s position is neglected here because the Guomindang government of Chiang Kai-shek, under the conditions of the civil war, could never really play a major role in this pertinent question. 6 The best overviews and reference works William A. Schabas, Genocide in International Law. The Crime of Crimes, Cambridge 2000, esp. 51–101; John Cooper, Raphael Lemkin and the Struggle for the Genocide Convention, Houndsmills 2008; Peter N. Drost, The Crime of the State. United Nations Legislation on International Criminal Law, Vol. II, Leiden, 1959: a good, but general first overview; Hirad Abtahi, Philippa Webb (eds.), The Genocide Convention. The Travaux Préparatoires (The Travaux Préparatoires of Multilateral Treaties), Leiden, December 2008) was not available to this author.
II Basic Questions
which genocide was declared a crime. This resolution was passed to the Economic and Social Council for further consideration and proposals. As a consequence, on 28 March 1947, ECOSOC returned the matter to the Secretary General and asked him to undertake the ‘necessary studies.’ His Human Rights Division commissioned three experts to prepare a draft, Raphael Lemkin (USA), Henri Donnedieu de Vabres (France), and Vespasian V. Pella (Romania). On 13 June 1947, this ‘Secretariat’s Draft’ was sent by the Secretary General to the ‘Committee on the Progressive Development of International Law and its Codification’ and then to ECOSOC which, on 6 August, again passed it to the General Secretary and asked him to collect the opinions of states for the further consideration of ECOSOC. Then, on 21 November, 1947, the General Assembly under Resolution 180(II) returned the draft to its legal committee (Sixth Committee), together with comments by several states. ECOSOC created an ad hoc drafting committee consisting of seven states. After 28 sessions, their new draft was submitted with comments to the Commission on Human Rights in June 1948. Again, via this committee and the ECOSOC, a new Draft Genocide Convention reached the General Assembly’s Human Rights division, the Sixth Committee, which completed its examinations on 2 December 1948. Basically, this text was adopted by the General Assembly in the form of a resolution on 9 December 1948. This became known as the Genocide Convention and came in effect on 12 January 1951. Another convention, the Universal Declaration of Human Rights had been negotiated by separate bodies and was signed one day after the Genocide Convention, on 10 December 1948.7
II Basic Questions The course of debates clearly shows that the convention did not have an easy birth, but one in which many tactical objections as well as questions of principle were raised, both in the open, and even more behind closed doors. Certainly, the genocide question was negotiated under the responsibility of the General Assembly where the permanent members of the Security Council held no veto power, but nevertheless a convention against the opposition of one or more of these powers would have made little sense. During this phase of building the United Nations, the position of each individual state or its representative depended mainly on two tactical political reasons: firstly, would the position taken further one’s own country’s national interests; and secondly, would it permit others to accuse one’s
7 Paul G. Lauren, The Evolution of International Human Rights, 1945–1995. Vision e seen, 2nd edn., Philadelphia 1993, 1 88–232; John Morsink, The Universal Declaration on Human Rights. Origins, Drafting and Intent, Philadelphia 1999.
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own state of past, present or possible future violations of the convention, i. e., of genocide? The positions adopted in the General Assembly and its commissions shall be analysed in this regard. I will limit myself to the four questions of greatest impact during these negotiations.8 1. Should there be a new international institution to judge the crime of genocide, i. e., a criminal court? 2. Should the problem of ‘cultural genocide’ be included in the definitions? 3. Should ‘political genocide’ be part of the definition of genocide? 4. Should there be precautions not only to punish genocide committed, but also to prevent it in earlier preparatory stages? (The fifth question would be whether intention forms an intrinsic factor of genocide. This question was discussed in detail only in later years. In this essay it will only be dealt with in passing). At this stage not all United Nations procedures, rites and rules were fixed. To a certain extent, committee members could express their personal legal opinions, which might not have been bound by government instructions from home. This holds especially true for representatives of smaller or medium-sized states, which might not have had an established or political interest in a certain form of resolution or convention. These states could also be prone to outside influences exerted by pressure groups or individuals. In addition, the local atmosphere at the meeting places – Lake Success, Geneva, Paris, Washington – and the lobbyists, present unofficially, played an important role, as well as strong personal convictions regarding the development of international law or mankind in general, or even personal vanity. All these factors could intermingle, of course. The situation was basically different, when the interests of the Great Powers came into play. Then the situation was completely different from that where only minor states stated their opinions. One possible attitude of a Great Power was that its government had a strong and active interest in the definition of the crime of genocide – either wanting to see genocide punished because it had been inflicted on the country in the past, present or possibly in a foreseeable future, or wanting to avoid any attempt to use the Convention against it for past or present politics, for whatever reason. Understandably, it was above all the Great Powers who might be guided by the idea that a certain phrasing of a Genocide Convention would be used against their government or state, even for past events. Nevertheless, even over this aspect, they sometimes displayed a wide-ranging lack of interest. This might have been the result of a haughty Great Power attitude, or even arrogance, because they saw themselves as standing above the negotiated clauses.
8 A similar list, but also the debate in further research mostly by intellectuals: A. Curthoys, J. Docker, ‘Defining Genocide’, in Dan Stone (ed.), The Historiography of Genocide, Basingstoke 2008, 9–41.
III Great Power Interests and the Negotiations for the Genocide Convention
III Great Power Interests and the Negotiations for the Genocide Convention The staunchest opponent of a genocide convention was the United Kingdom. One of the arguments which were frequently repeated was the claim that the Nuremberg trial had already de facto condemned genocide – so that the principle was clear. At several other points, British delegates tried to move the deliberations on genocide to the International Law Commission. The majority of observers were convinced: these British measures were intended to stall the convention. Why? Sir Hartley Shawcross, the British chief prosecutor at Nuremberg who also became principal delegate of his country to the UN from 1945 to 1949, in November 1946 still publicly claimed a favourable attitude:9 ‘It was necessary ... that international law should limit the omnipotence of certain States over their citizens … International conventions should be concluded, but the public denunciation of this crime would have to take place immediately.’ But it was only two months later that the principal legal adviser of the Foreign Office reported to his government:10 ‘It is a complete waste of time, seeing that, if genocide takes place anywhere, it will take place under conditions where no international convention will be observed.’ Indeed, there were actual circumstances just at this time which had involved Britain in grave international conflicts. It was not the colonial past of the European powers, which might have caused some memory of massacres. Neither in the British nor in the French case is there any direct and explicit connection with this problem. In spring 1947, Britain had returned its trusteeship of Palestine to the United Nations for further consideration.11 In November 1947, the General Assembly proposed a separation between Jews and Arabs – a solution which was immediately rejected by the Arab states who fought a bitter war against Israel’s declaration of independence in May 1948, when the British authorities finally left Palestine. Already in summer 1947, the Arab states began to oppose the idea of a Genocide Convention because it could be seen as an instrument to help the Zionist cause.12 The United Kingdom, particularly from 1947, had a massive interest in remaining in a mediator’s position between the Arab world, which was important for the future of the British Empire in the Middle East (Egypt, the Suez Canal and oil were the major issues), and the Zionists, who could be regarded as custodians of the cause of the European Jews, a logical follow-up to World War II and the genocide.
9 Cooper, n. 6, 84 (Journal of the United Nations, 2 December 1946). 10 Cooper, n. 6, 94 (Eric Becket in a report to his Government). 11 Good overview: David Reynolds, Britannia Overruled. British Policy and World Power in the 20th Century, London 1991, 145–172; John Brown, William R. Louis (eds.), The Oxford History of the British Empire. The Twentieth Century, Oxford 1999. 12 Cooper, n. 6, 96; Bernard Wasserstein; The British in Palestine. The Mandatory Government and the Arab-Jewish Conflict, 2nd edn., Oxford 1991.
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Besides the violent situation in Palestine which, among others, caused the British to prevent the landing of the ship ‘Exodus’ with more than 4000 Jewish survivors of World War II in Palestine in July 1947, there was massive British interest in not giving the Arab states a pretext for accusing Britain of being partisan in the Zionist cause. The question was not whether the character of the violence towards Jews or Arabs could have any meaningful connection with a definition of genocide, but for the Arab states, the fight against a Genocide Convention became a real and important tactical instrument in fighting British interests. At this stage, the United States refrained from helping the British government in this question – thus the former mandate was returned to the General Assembly of the UN. Clearly, Washington was prepared to step in for Britain on other issues – for example, the Truman Doctrine of March 1947 was aimed at stabilising Turkey and Greece against communist intervention –, but refrained from doing so in the Palestine case. The Indian question and the violence following the independence of India and the partition of the South Asian subcontinent into the states of India and Pakistan after 15 August, 1947, was a different matter:13 since 1946, violence between Hindus and Muslims had accelerated the planned British withdrawal. Now there was a chaotic migration: the flight and expulsion of millions of Muslims from India, and Hindus from East and West Pakistan. In the process, over 200.000 people, maybe half a million or even a million, died due to violence. In late 1946, the Indian ambassador to the UN, Vijaya Lakshmi Pandit, the sister of Congress Party leader Jawarhal Nehru, had been instrumental in moving the first UN resolution for genocide;14 the following autumn brought bitter recriminations by the Pakistani delegate against India. According to him hundreds of thousands of people had been murdered for religious reasons, with the connivance of the Indian government – a reproach which the Indian delegate flatly rejected.15 Without doubt, in this case, the debate on the Genocide Convention had entered the sphere of current politics and had become an instrument of war and then a political battle between two Commonwealth members. To make things worse, Pakistan accused India of genocide in at least four Security Council sessions, on 28 January, 7 May, 3 and 8 June, 1948.16 The Pakistani foreign minister also raised this topic in the debates on genocide in the ECOSOC.17 In the eyes of the proponents of a Genocide Convention, this event was a reason for increased urgency, while for British policy-makers it became a reason to try and bury this dangerous undertaking, because of Britain’s leading, but declining role as a world power. 13 14 15 16 17
Robin J. Moore, Escape from Empire. The Attlee Government and the Indian Problem, Oxford 1983. Cooper, n. 6, 80. Ibid., 100. Ibid., 127. Id. (quotes letter from Zaffrulla Khan to Charles Malik, 4 February 1948).
III Great Power Interests and the Negotiations for the Genocide Convention
The Soviet Union’s attitude towards a convention was ambivalent. On 20 November 1947, it formed an obstructive coalition with the United Kingdom, trying to adjourn the whole debate. But basically, the Socialist state followed a policy of cooperation in favour of a convention, but with its own specific aims. In the 1930s, the Soviet delegate and deputy Foreign Minister Andrey Vishinsky, had been the prosecutor in many of the Stalinist show trials (and later became Foreign Minister from 1949–1953). During this earlier period, he had published articles opposing ‘counter-revolutionary intervention through criminal law.’18 And of course the memory of the lethal Soviet policies against the ‘kulaks’ and their starvation policy in the Ukraine, with millions of dead, as well as their deportation policy during World War II, were commonly known facts, but not discussed in diplomatic circles. However, this does not seem to have overly influenced the Soviet Union’s attitude.19 Maybe this was one reason, though, why the Soviet Union vehemently opposed the inclusion of political genocide in the convention.20 However, the attitude of the Communist state seems to have had much more to do with the concrete situation in Eastern Europe in the years following World War II, where all political parties were more or less deprived of their independence, and where legal and illegal terror as well as other internal measures with mass killings took place.21 In an ideology where class struggle was seen as a basic principle of history and where the communist party functioned as the avant-garde of the proletariat, the persecution of other parties, or bourgeois, capitalist governments even by means of force, was probably the reason for the massive Soviet fight against the inclusion of political genocide in a convention. Most western politicians (including the chief lobbyist and inventor of the notion of genocide, Raphael Lemkin) objected to the inclusion of political groups among those to be protected against genocide because they were regarded as too volatile. The delegates were especially impressed by the argument that people were free to decide both to join or leave such an organisation (political party). On the contrary, the Soviet attitude seems to have been influenced by a much more essentialist or structurally based assessment of such groups. On the other hand, Soviet delegates repeatedly moved for a wider interpretation of racist groups. For them, the genocide of racial groups had been closely linked to Fascist Nazi theories22 ‘which preach racial and national hatred, the domination of the so-called
18 Cooper, n. 6, 83. 19 Ibid., 102. 20 There exists no special study on the Soviet attitude. The following observations are based on Cooper, n. 6, and W. A. Schabas, n. 6, passim. 21 Good overview: Geoffrey Roberts, Stalin’s Wars. From World War to Cold War. 1939–1953, New Haven, London 2006; Stefan Creuzberger, Manfred Görtemaker (eds.), Gleichschaltung unter Stalin? Die Entwicklung der Parteien im östlichen Europa, 1944–1949, Paderborn 2002. 22 Cooper, n. 6, 123; cf., UN Doc. A/C.6/273 (Soviet amendment 18 November 1948).
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superior races and the extermination of inferior races.’ This was not exactly Marxist terminology. As far as can be seen, this attitude was not so much a tactical one, but during these years was frequently based on a hope of establishing a common basis with the Western powers (which, for example, had been included in the Potsdam Declaration of 1945).23 And for obvious reasons, this had to do with the experience of racial war waged by Germany during World War II. ‘Racism is [the] spiritual father of G[enocide]. Organic relationship between Fascism and Genocide.’24 The Soviet Union also proposed a radical ban on propaganda and wanted to punish ‘all forms of public propaganda (press, radio, cinema etc.) aimed at inciting racial, national or religious enmities or hatred or at provoking the commission of acts of genocide.’25 In reality, during these years, this pretended fight against any fascist propaganda had more and more been used as an arbitrary instrument to promote Soviet rule in Eastern Europe. It also became a pretext for abolishing political parties or other organisations which were labelled ‘fascist.’ But this does not seem to have been the main motive for Soviet proposals to legitimise the destruction of free opinion in the public sphere.26 On the other hand, this process was dominant in the western assessment of the Soviet policy of abolishing freedom of expression. With this in mind, preparatory steps, such as propaganda or the incitement of hate, could not be made part of the new convention. ‘If it were admitted that incitement were an act of genocide, any newspaper article criticising a political group, for example, or suggesting certain measures with regard to such a group for the general welfare, might make it possible for certain States’ to claim an act of genocide, was the stated US attitude.27 The United States’ attitude to a convention was probably the most complicated one.28 Firstly, the US had a long tradition of human rights; powerful humanitarian groups especially Jewish and Christian ones, were agitating for a convention. Of course, the annihilation of the European Jews during World War II was their yardstick, and the US delegation made a point of sharing opinions with these groups or individuals very often. The ad hoc committee was headed by the American diplomat, John Maktos, and the delegation in some cases was prone to accepting very
23 Potsdam declaration, in Foreign Relations of the United States: The Conference of Berlin, Vol. II (Washington, Government Printing Office 1960), 1481–1485 (This included the ‘four Ds’: democratisation, decentralisation, demilitarisation and denazification). 24 Cooper, n. 6, 139. 25 UN Doc. A/C.6/215 Rev 1, 9 October 1948. 26 Matthew Lippman, A Road Map to the 1948 Convention on the Prevention and Punishment of the Crime Genocide, in: Journal of Genocide Research 4 (2) 2002, 177–195, esp. 182–185. 27 Schabas, n. 6, 268. 28 Lawrence J. LeBlanc, The United States and the Genocide Convention, Durham, N. C.1991.
III Great Power Interests and the Negotiations for the Genocide Convention
far-reaching regulations. Secondly, while diplomatic considerations of establishing a common position with the other great Western power, the United Kingdom, were not important in 1946, they gained some weight in the following two years. Thirdly, the questions of domestic legislation in regard to all problems of genocide, and new or far-reaching international obligations towards establishing a new international court were not clearly discussed. To summarise the argument: as in many other cases the United States developed two foreign policies: one which was more oriented towards domestic issues – a broad plea for human rights and punishment of violations – and one more oriented towards foreign issues. This was the case especially in the genocide question. There was one matter on which the US was and remained strictly critical: the question of the inclusion of cultural genocide. Understandably, Raphael Lemkin and other people were guided by the image of German policies not only towards the Jews, but they focussed clearly on German racial policies against Poles and other Slav countries as well. To a large extent, Lemkin’s 1944 book, Axis Rule in Occupied Europe, was a collection of data which could be interpreted in this sense, e. g., showing Germanisation policies etc.29 During the deliberations on the ‘Secretariat’s Draft,’ Lemkin had argued in favour of a multiplicity of cultures, so that ‘cultural genocide’ meant much more than forced assimilation. It could be inflicted also ‘by the involuntary transfer of children from one group to another, by the destruction of the nation’s intelligentsia, by the prohibition of the use of a national language in private conversation, and by the burning of books and the destruction of religious monuments or their diversion to alien uses.’30 This was, of course, very vague and in practice would have mostly been accompanied by other physical measures against people. As a consequence, cultural genocide as such was not included in the Secretariat’s Draft, but only the issue of ‘preventing its [a group’s] preservation or development.’31 Later, however, the notion of cultural genocide was included in the ad hoc committee’s draft. Because it formed such a broad notion which might possibly be rather difficult to delimit, it was confined to a separate article. Delegates
29 Raphael Lemkin, Axis Rule in Occupied Europe. Laws of Occupation. Analysis of Government. Proposals for Redress, Washington 1944. 30 Cooper, n. 6, 91, n. 447. 31 A. Dirk Moses, The Holocaust and Genocide, in: Dan Stone (ed.), The Historiography of the Holocaust, Houndsmills 2004, 533–551, quot at 541; cf., A. Dirk Moses, Empire, Colony, Genocide: Keywords and the Philosophy of History, in: id., Empire, Colony, Genocide. Conquest, Occupation, and Subaltern Resistance in World History, New York, London 2008, 3–54, at 17–20; Anson Rabinbach, ‘Raphael Lemkin’s Concept of Genocide. Fifty Years later. The First Conviction was handed down’, in IP Magazine. Transatlantic Edition, Spring 2005, 55–75; Claudia Kraft, Völkermorde im 20. Jahrhundert. Raphael Lemkin und die Ahndung des Genozids durch das internationale Strafrecht, in: Joachim Hösler, Wolfgang. Kessler (eds.), Finis Mundi. Endzeiten und Weltenden im östlichen Europa. Festschrift für Hans Lemberg, Stuttgart 1998, 91–111.
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(such as the Danish one) could mock that the closure of libraries could not properly be regarded as genocide. What was more important, of course, was the attitude of the United States towards this issue. In the summer of 1947, the State Department had accepted the inclusion of political groups and of cultural genocide in the Convention with the comment: ‘The possibility exists that sporadic outbreaks against the Negro population of the United States may be brought to the attention of the United Nations,’ but since the US authorities would retain their jurisdiction anyway, ‘no possibility can be foreseen of the United States being held in violation of the treaty.’32 Thus the reliance on national sovereignty on the one hand, enabled the US in 1947 to support wide-ranging efforts for a convention on the other hand. But the subtext of earlier US treatment of the Native Americans (Indians) or African Americans (Negroes) remained. In 1948, the US-President of the ad hoc committee, Maktos, even pleaded for a new world court – but under these new conditions the question of cultural genocide which had been included in the draft, was vehemently rejected by the US.33 In addition, the US delegation argued that primarily the persecution of individuals should be punished – cultural arguments belonged more to the protection of minorities, a matter where the League of Nations had already broken ground.34 Other delegations argued that the question of cultural protection ought better to be included in the human rights declaration, which finally, however, did not include this issue. On both questions – cultural genocide and a new international court – the US position ended up being a minority position. The underlying principle was: the more the US seemed ready to accept new international authorities or even a court, the less it would be ready to include broad provisions, such as cultural genocide, in the convention. This position changed again in spring of 1948, when John Maktos was instructed by his government not to accept universal jurisdiction by an international tribunal and to confine the crime of genocide to governments only.35 Among others, the Soviet Union continued to argue at this time that Nazi policies had also aimed at the cultural destruction of whole nations,36 and pleaded for the inclusion of ‘national32 Cooper, n. 6, 99. 33 Ibid., 123, 124. 34 Schabas, n. 6, 179 et seq.; Carole Fink, Defending the Rights of Others. The Great Powers, the Jews, and International Minority Protection, 1878–1938, Cambridge 2004; as to the divergence of peace-making after the two world wars in regard to minorities: Jost Dülffer, Die Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht und die Friedensregelungen nach den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, in Jörg Fisch (ed.), Selbstbestimmung und Selbstbestimmungsrecht: Errungenschaft der Moderne oder kollektive Illusion? [Self-Determination and the Right of Self-Determination: Achievement of Modernity or Collective Illusion?], Munich, 2011, 113–139 (auch in diesem Band). 35 J. Cooper, n. 6, 131. 36 Ibid., 153; W. A. Schabas, n. 6, 181.
III Great Power Interests and the Negotiations for the Genocide Convention
cultural genocide.’ In a special draft for the ad hoc committee, the Soviet Union, together with other states, also wanted to include the definition of ‘destroying, or preventing the use of, the libraries, museums, schools, historical monuments, places of worship or other cultural institutions and objects of the group’ as cultural genocide.37 This can be easily understood as a general circumscription of the sufferings of World War II, but also applies to some events which had just happened in Sovietdominated Eastern Europe. In the decisive session of the UN assembly’s Sixth Committee, on 25 October 1948, all the western Great Powers voted against the inclusion of cultural genocide. With a majority of 25 to 16 votes (and four abstentions), cultural genocide was excluded.38 The Soviet Union remained one of the proponents of cultural genocide. Probably, besides the United States with their Native American problem, the European colonial powers also felt that for them some problems might arise from such a wording.39 Indeed the difference between cultural genocide on the one hand, and common assimilation of – as it was then seen – ‘primitive cultures’ was not easy to define. The delegate Gilberto Amado from Brazil warned that ‘some minorities might have used it as an excuse for opposing perfectly normal assimilation in new countries.’40 Thus it was preferable to delete this dangerous provision. Similar to the United States, French delegates stressed their state’s long-standing championship of human rights since the French Revolution. But in other aspects, the fourth Great Power, France, developed a position substantially different from that of the other three. Firstly, its representatives tried to see the Nuremberg principles and the Nuremberg judgment as precursors and consequently moved phrases connecting the Convention to this trial. Secondly, in the French view, the question of the annihilation of a group as such or ‘in part,’ could also mean the killing of one person – if the intent was genocidal. Thirdly, cultural genocide was not a principle which the French would accept in any case. Further research would be needed to clarify whether this was a result of the French colonial doctrine of assimilation41 which gave all subjects a chance to become French citizens by adopting the French language and culture. In the light of its own recent history and therefore national interests, it is astonishing that the Soviet Union propagated the inclusion of ‘cultural-national genocide’ and also took a positive attitude towards the institution of a new world court. The
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W. A. Schabas, n. 6, 182 (quotes UN Doc. E/AC.25/SR 14, 13). United Nations, General Assembly, Sixth Committee, 1948, Paris, 1948, 206. Cooper, n. 6, 158; W. A. Schabas, n. 6, 178–189. W. A. Schabas, n. 6, 184 (UN Doc. A/C 6/SR. 135); M. Lippman, n. 26, 183. Charles-Robert Ageron, La decolonization française, Paris-1994, Rudolf v. Albertini, Dekolonisation. Die Diskussion über Verwaltung und Zukunft der Kolonien, 1919–1960, Cologne 1966, 307–538.
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fact that genocide was regarded as a crime under international law stood at the beginning of all deliberations. There was a common consensus in this assessment. The evasive or obstructive arguments which were, e. g., favoured by the British delegation, were that genocide had already been implicitly banned, and explicitly after the Nuremberg trials. Therefore, no further action or resolution was needed. The fact that genocide as a notion had not literally been included at Nuremberg, was to be one of the main motives for Raphael Lemkin to lobby for a special Genocide Convention.42 After declaring genocide a crime, this would lead to the logical conclusion that all states were obliged to prosecute this crime in their domestic laws. This would include individuals or groups. But from the beginning of the debate, it was evident that in most cases states themselves would be involved in genocidal crimes. How to deal with them or their representatives?43 While some smaller states concluded from this the necessity to create a new international court, others warned that this would be an infringement of national sovereignty. With hindsight, both positions can be logically accepted. The attitude of the Great Powers can best be explained by the idea that they themselves would never accept the accusation of genocide. At a very early stage, Sir Hartley Shawcross argued this: it was necessary that ‘international law should limit the omnipotence of certain States over their citizens and in certain cases protect them against their own government.’44 France also traditionally had a strong standing as the nation of human rights. Likewise, the Frenchman René Cassin was a central figure in the elaboration of the Human Rights Convention. And in 1948, the French delegate also supported the creation of an international court.45 Thus a French proposal of 5 February 1948 went so far as to include detailed provisions for the establishment of an international court in The Hague which should have exclusive competence for genocide in relation to national courts.46 In the Sixth Committee, France went so far as to propose:47 Genocide ‘is committed, encouraged or tolerated by the rulers of a State.’ This could have had far-reaching consequences for a future court – and also for all states, including the Great Powers.
42 W. A. Schabas, n. 6, 37–42; J. Cooper, n. 6, 73–83; Annette Weinke, „Von Nürnberg nach Den Haag“? Das Internationale Militärtribunal in historischer Perspektive, in: Justizministerium NordrheinWestfalen (ed.), Leipzig – Nürnberg – Den Haag. Neue Fragestellung und neue Forschungen zum Verhältnis von Menschenrechtsverbrechen, justizieller Säuberung und Völkerstrafrecht, Recklinghausen 2008, 20–43. 43 M. Lippman, n. 26, 185 et seq. 44 J. Cooper, n. 6, 84. 45 Ibid., 139, 156, 161. 46 W. A. Schabas, n. 6, 371 (UN Doc. E/623, Add. 1.); new French proposal: UN Doc. A/C.6/211, 1 October 1948. 47 UN Doc. A/C.6/224 & Corr. 1, 8 October 1948.
IV Conclusion
No other major power was prepared to follow this course. While the United States on its part refused to take to a clear responsibility for transforming the Genocide Convention into national, i. e., potentially state law, the other Great Powers, with the exception of France, were also negative: the Soviet Union, but also Britain, dismissed the idea of recognising such far-reaching world law. The compromise finally found in Article VI of the Convention ruled that, as an alternative to national courts, crimes may be judged ‘by such international penal tribunal as may have jurisdiction with respect to those Contracting Parties which shall have accepted jurisdiction.’ This left the way open to ad hoc tribunals, but did not create an ad hoc or permanent new court.48 In the final stages of the negotiations, Great Britain and other states had argued that other UN organisations, such as the Security Council, might deal with genocide which was not punished nationally, and on other occasions, the British delegate had argued, that the punishment of states’ crimes would normally mean war.49 In the last days before the unanimous adoption of the Genocide Convention by 56 states in December 1948, the United Kingdom once again worded its fundamental criticism that the Convention had started from the wrong end, namely from individual crimes, while France deplored the failure of the institution of a new court, but stressed that the principle had been accepted anyway. Soviet delegates again brought forward most of their earlier amendments which were rejected.
IV Conclusion After the signing ceremony, all proponents in the General Assembly underlined the great progress which had been made. What this paper has tried to emphasise is that this was indeed the case, but that General Assembly Resolution 260 also had to do with compromises in the political sphere. This was especially important for the Great Powers who had no right of veto in the deliberations, but were nevertheless decisive on the final extenuated versions of several central issues. This paper could, of course, not deal with the matter in an exhaustive way, but only provide some examples. After ratification by the first 20 states, the Convention came into effect as planned in 1951. But nothing serves better to demonstrate the Convention’s ultimate weakness than the fact that the United States was not among the ratifying states. In the first ratification debate in the US Senate on
48 W. A. Schabas, n. 6, 418–424. 49 J. Cooper, n. 6, 161; W. A. Schabas, n. 6, 419 et seq.
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24 January, 1950, a member from Louisiana argued:50 ‘How can the United States be asked, or urged, to ratify this so-called Genocide Convention which is a direct encroachment on the domestic affairs of this country under the Constitution of the United States ... [Ratification would mean] a flagrant violation of one of the solemn provisions of its own charter, or a violation of that part of the international agreement by which the United States came into being.’ Of course, this alluded to national sovereignty, guaranteed in Article 2(7) UN Charter. Basically, this refusal continued for the next decades under Republican as well as Democratic administrations. During the years between 1946 and 1948, the United States had been important in preparing the Convention, but it was only forty years later, one year before the fall of the Berlin Wall, that the US finally ratified the Convention, on 25 November 1988. But quite apart from that, during the entire period of the prolonged East-West conflict, the Convention went through a period of ‘lengthy hibernation’ as Matthew Lippman has called it. It lay ‘largely dormant’ as William Schabas argued.51 Their assessments remind one of the old fairy tale ‘Snow White and the Seven Dwarfs’! This paper has tried to show that at least during the years of negotiation, this sceptical diagnosis could not completely or even mainly be attributed to the rising ‘Cold War,’ i. e., to the antagonism between the enemy camps. The very negotiation of the Convention between 1946 and 1948 underlined the thesis that national interests, at least on the side of the United States, the United Kingdom and the Soviet Union, precluded a better and further-reaching result. What then does the minor impact of the Genocide Convention in the years until 1989 mean for the overall importance of this resolution? Was this related to a certain type of international system or was there a long period of collective learning in the community of states? Or was genocide as a crime really less important in the forty years following the signing of the Convention than in the past twenty years? In this author’s opinion, the answers are anything but clear. In the years after World War II, the world and thus the United Nations still felt the impact of the German genocide of the European Jews, and all member states felt obliged to make a new start to prevent similar developments in the future. Nevertheless, in 1948, the category of ‘intent to destroy’ (Art. II) was generally
50 Judge L. H. Perez, 24 January 1950 in the Senate subcommittee. The original quotation (accessed November 2009) in 29(12) Congressional Digest (December 1950); 316–318 is no longer available, but cf. the summary: https://bit.ly/3X3Cvr3, D34 (16.12.2022). 51 M. Lippman, n. 26, 191; W. A. Schabas, Preventing the “Odious Scourge”: The United Nations and the Prevention of Genocide, 14 International Journal on Minority and Group Rights, 2007, 379–397 at p. 384.
IV Conclusion
accepted52 as a description of National Socialist crimes and thus transferred to the Genocide Convention. This hardly conforms with the serious contemporary historical scholarship which tries to explain the genocide of the European Jews.53 The United Nations, in the first years of its existence as a new world organisation could not be much more than a clearing house for the diverging interests of different states, not an active organisation in its own right. But during the following decades, the codification and sharpening of the universal determination that such crimes as committed during World War II should be punished, nevertheless led to a growing trust in new norms. Maybe during the intense period of East-West conflict up to 1989, such features were superseded by the special character of East-West relations – and this also holds true especially for the North-South conflict. But since then, major progress has been made in the indictment and punishment of genocidal crimes. Whether there was more genocidal violence after 1989 or whether the persecution of genocide has increased during this period, in my opinion is less than clear today. The ‘gentle civilizer of nations’ – that is how Martti Koskenniemi characterised International Law in general.54 Undoubtedly, this effect did not unfold immediately after the signature of the UN Genocide Convention, but only in the decades since then.
52 W. A. Schabas, n. 6, 213–228; a good brief summary: Claus Kreß, The Crime of Genocide under International Law, 6 ICLR (2006), 461–502 at 484–502. 53 There has been a long scholarly and public debate which in the l970s culminated in two schools of ‘intentionalist’ and ‘structuralist’ interpretations. Today, the prevailing interpretation is that radical anti-Semitism in Germany led to an escalation to genocidal mass murder only under the special situation of World War II. The older debate was conducted in Gerhard Hirschfeld, Wolfgang Mommsen (eds.), Der ‚Führerstaat‘, Anspruch und Realität. Studien zur Struktur und Politik des Dritten Reiches [The ‘Führer State’: Myth and Reality], Stuttgart 1981; actual summary: Richard Evans, The Third Reich at War, New York 2008; good research overview: Klaus Hildebrand, Das Dritte Reich, 6th edn., Munich 2003, 327–444 (new edition 2010); Dan Stone (ed.), The Historiography of the Holocaust, Houndsmills 2004; my earlier interpretation: Jost Dülffer, Nazi Germany. Faith and Annihilation, London, 1996. 54 Martti Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law 1870–1960, Cambridge 2001, esp. Chapter 6: Out of Europe: Carl Schmitt, Hans Morgenthau and the turn to “international relations”, 413–508.
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Menschenrechte in den Außenbeziehungen der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989 Ein Aufriss „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Dieser zweite Satz des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland wird viel seltener zitiert als der erste über die Unantastbarkeit der Würde des Menschen. In den Beratungen zum Grundgesetz hatten sich die Delegierten des Konvents vom Herrenchiemsee im August 1948 bis zur Verabschiedung in Bonn im Mai 1949 auf die unterschiedlichsten Quellen berufen. Das reichte von den antiken Ursprüngen über die mittelalterliche Magna Charta von 1215, die Bill of Rights 1689, die französische Nationalversammlung 1789 bis hin zur Kodifizierung von Verfassungen der deutschen und europäischen Staaten seit dem 19. Jahrhundert. Aber auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR-Resolution der UN-Vollversammlung vom 10. Dezember 1948, später zumeist Charta genannt) diente in den Beratungen einzelner Grundrechte bereits als Referenzgröße. Schon am Herrenchiemsee, dann auch in Bonn war man über die gleichzeitigen Beratungen im UN-Rahmen informiert und bezog sich wiederholt auf die international laufenden Diskussionen. Nicht zuletzt die Erwartungen, welche die Westalliierten in den Frankfurter Dokumenten geäußert hatten, ließ es zweckmäßig erscheinen, sich auf diese Wertedebatte einzulassen.1 Zum Unterschied von Grundrechten und Menschenrechten wurde damals hervorgehoben, dass die AEMR nur deklaratorisch sei, während die – meist synonym mit den Menschenrechten gebrauchten – Grundrechte unmittelbar einklagbares Recht werden sollten. Ferner sollten die Grundrechte eine innerstaatliche Legitimationsbasis schaffen, während Menschenrechte gerade in der AEMR einen globalen und damit zwischenstaatlichen und „westlichen“ Bezug aufwiesen.2 Dieser Beitrag will im Kern drei Fallstudien liefern, welche von Ansatz und Methode her unterschiedliche Aspekte der Menschenrechtspolitik der Bundesrepu-
1 Der Parlamentarische Rat 1948/49 [Bd. 5/1], Ausschuss für Grundsatzfragen, Boppard 1993, Nr. 10: Entwurf allgemeine Erklärung der Menschenrechte; 7.10.48, Ebd., Plenum, [Bd. 9], Boppard 1996, Nr. 2: Rede Dr. Süsterhenn, 8. September 1948; Michael Feldkamp, Der Parlamentarische Rat. Die Entstehung des Grundgesetzes, Göttingen 2009; hier: 43. – Ich danke Annette Weinke, Andreas Hilger und Peter Ridder für anregende Gespräche und kritische Lektüre. 2 Manuel Fröhlich, Vom gebrannten Kind zum Musterknaben. Die Aufnahme der Allgemeinen Erklärung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Vereinte Nationen, 6, 1998, 200–206.
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Menschenrechte in den Außenbeziehungen der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989
blik über die ganzen vierzig Jahre der Weststaatsexistenz geben. Von Außenpolitik konnte in der jungen Bundesrepublik zunächst kaum die Rede sein. Die alliierten Hohen Kommissare, die ihrerseits auf staatsbildende Grundrechte gedrungen hatten, bildeten zunächst gleichsam die Nabelschnur zur Außenwelt, langsam aber erweitert durch die Wiedergründung des Auswärtigen Amtes und internationale Möglichkeiten wie dem Beitritt der Bundesrepublik zur UNESCO 1951, schließlich durch die formale Souveränität 1955, bei der dennoch beträchtliche Vorbehaltsrechte bei den Alliierten blieben.3 Erst mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten fielen 1990 formal die letzten Beschränkungen. Menschenrechte kann man analytisch in unterschiedlicher Weise einkreisen.4 Man kann nominalistisch nach dem Begriff selbst fragen, nach der Sprache der Menschenrechte suchen. Insofern brachen die AEMR und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK, 1950 im Rahmen des Europarats ausgehandelt und 1953 nach Ratifikation in Kraft getreten)5 rechtlich basierte und definierte Bezugsgrößen für den politischen Diskurs, hier mit der Genozidkonvention vom Vortag, dem 9. Dezember 1948, vergleichbar.6 Bei dem Bezug auf die Konvention(en) beziehungsweise den dadurch geschaffenen Institutionen ging es um die außenpolitische Form, sich gegen Rechtsverletzungen, Verbrechen, für politische Emanzipation oder schlicht das Gute im Rahmen der Weltgesellschaft als Untersuchungsfeld zu wehren.7 Noch einen Schritt weiter geht man, wenn man Menschenrechte als im (subjektiv) guten Glauben einzufordernde Werte ansieht, ohne dass der analysierende Beobachter die damalige Einschätzung teilt, ja aus eigenen Wertvorstellungen heraus kritisch sieht. In diesem Beitrag werden tendenziell alle drei Bedeutungen verwandt.8 Menschenrechtspolitik war und ist Moralpolitik, sucht einen politischen
3 Eckart Conze, Das Auswärtige Amt. Vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, München 2013; ders. u. a., Das Amt und die Vergangenheit, München 2010. 4 Lora Wildenthal, The Language of Human Rights in West Germany, Philadelphia/PA 2013, 7–16 f. 5 Marco Duranti, The Conservative Human Rights Revolution. European Identity, Transnational Politics, and the Origins of the European Convention, Oxford 2017. 6 Jost Dülffer, The United Nations and the Origins of the Genocide Convention 1946–1948, in: Christoph Safferling, Eckart Conze (Hg.), The Genocide Convention: 60 Years after its Adoption, Den Haag 2010, 55–68 (auch in diesem Band). 7 Jan Eckel, Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940er Jahren, Göttingen 2014, 6 schließt dies ein, scheint mir jedoch die hier nachfolgende Sichtweise als zu allgemein abzulehnen. 8 In einschlägigen Sachregistern. Zumal von Quelleneditionen lange Zeit Menschenrechte nur bei Berufung auf die beiden Konventionen auftauchen. Manuel Fröhlich konstatiert, im Register des Bulletins der Bundesregierung gebe es zwar den Begriff Melkmaschine, nicht jedoch Menschenrecht. Siehe Fröhlich, Vom gebrannten Kind, in: Vereinte Nationen, 6, 1998, 200. Erst für die 1970er- oder 1980er Jahre werden Menschenrechte als Werte stärker als Registerbegriff wahrgenommen., etwa in AAPD.
I Menschenrechte aus der Opferperspektive in der Ära Adenauer
oder sozialen Raum für die eigenen Wert- und Moralvorstellungen mit Anspruch auf Durchsetzungen zu gewinnen, unabhängig davon, welche Legitimation ein späterer oder heutiger Beobachter diesem Anspruch zuzumessen vermag. Sie wird so als Wert in sich, aber zumeist auch als Instrument in einem weiteren oder ganz anders gelagerten politischen Zusammenhang gesehen. In einem ersten Schritt werden die menschenrechtlichen, meist auf das Eigenbild als Opfer bezogenen Deutungen in der frühen Bundesrepublik umrissen, sodann geht es – nach dem Mauerbau – um die Ausweitung menschenrechtlicher Bezüge, deren konzeptuelle Einbettung bei Egon Bahr ermittelt wird. Schließlich wird die konzeptuelle Breite menschenrechtlicher Ansätze im Auswärtigen Amt in den 1980er Jahren gezeigt.
I Menschenrechte aus der Opferperspektive in der Ära Adenauer Eine aktive Menschenrechtspolitik lag in der Gründungsphase des westdeutschen Staates außerhalb der Handlungsmöglichkeiten. Etwas anderes wurde aber zentral: Insgesamt stand die Bundesrepublik von Beginn an unter beträchtlichem innenpolitischem Druck, um reale oder angebliche Menschenrechte selbst einzufordern. Gemeint ist hier die Bedeutung, die man im weitesten Sinne als Opferdiskurs der Deutschen im Rahmen der Vergangenheitspolitik bezeichnen kann; von Menschenrechtsverletzungen durch Deutsche im vorangegangenen rassenideologischen Vernichtungskrieg wurde dabei gezielt geschwiegen.9 Dieses Leiden an erhaltenem Unrecht wiederum wirkte verständlicherweise auf das allgemeine Außenverhalten zurück. Drei Problemkreise sind hier vor allem zu nennen. Als Erstes handelte es sich um den Umgang mit der NS-Vergangenheit und dem Zweiten Weltkrieg. Zum Zweiten kamen die Interessen der deutschen Migranten hinzu, damals Flüchtlinge und Vertriebene genannt, zum Dritten – und mit den erstgenannten Faktoren eng zusammenhängend – um die Wendung gegen den Kommunismus und die Herrschaft der Sowjetunion im Allgemeinen. Diese drei innenpolitischen Problemlagen konnten – ja, mussten – das Verhalten nach außen wesentlich beeinflussen. Kriegsverbrecher und „Kriegsverurteilte“ Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess, der von allen vier Besatzungsmächten in Deutschland 1945/46 durchgeführt wurde, lag zwar schon drei Jahre zurück, aber die insgesamt zwölf Nürnberger Folgeprozesse gegen exemplarische
9 Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996, 25–306.
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Vertreter der alten Eliten zogen sich bis unmittelbar vor die Gründung der Bundesrepublik hin; weitere Prozesse schlossen sich an.10 Waren die Nürnberger Prozesse anfangs noch von den Deutschen als gerecht empfunden worden, so hatte sich das bis 1949 geändert: Die Verfahren erschienen vielen als unfair. Hinzu kam die in heutiger Sicht recht halbherzige Entnazifizierung, die zu einer „Mitläuferfabrik“ (Lutz Niethammer) wechselseitiger Entlastung führte. In der Öffentlichkeit erfreute sich der Begriff „Siegerjustiz“ großen Beifalls. Da in den Nürnberger Prozessen jeweils Personen unterschiedlicher Sektoren der deutschen Gesellschaft vor Gericht standen, spielte die falsche Unterstellung zunehmend eine Rolle, den Deutschen sei eine Kollektivschuld zugeschrieben worden. Besonders stark und gut organisiert war die Lobby der ehemaligen Soldaten, die die Verurteilten zumeist weiter als Teil des eigenen Berufsstandes ansahen und sich kollektiv diffamiert fühlten.11 In seiner ersten Regierungserklärung vom 20. September 1949 unterschied Konrad Adenauer: Die wirklich Schuldigen an den Verbrechen, die in der nationalsozialistischen Zeit und im Kriege begangen worden sind, sollen mit aller Strenge bestraft werden. Aber im Übrigen dürften wir nicht mehr zwei Klassen von Menschen in Deutschland unterscheiden: die politisch Einwandfreien und die Nichteinwandfreien. Diese Unterscheidung muß baldigst verschwinden.12
Der hier beschrittene Weg, gerade gegenüber den Hohen Kommissaren, lief nicht auf eine explizite Argumentation mit Menschenrechten hinaus, selten nur mit humanitären Erwägungen, sondern auf den rechtlichen Weg der Begnadigung oder Amnestie. Sie erreichte einen Höhepunkt in der Debatte um – häufig nach Nürnberger Gerichtsverfahren – im Kriegsverbrechergefängnis Landsberg einsitzende Häftlinge. Während dort weiter Hinrichtungen gemäß den Urteilen vollzogen wurden, erließ der US-Militärgouverneur John McCloy 1950 und 1951 unter dem Eindruck einer mittlerweile breiten Lobby Amnestien, Begnadigungen von der Todesstrafe, Haftverkürzungen und vorzeitige Entlassungen.
10 Annette Weinke, Die Nürnberger Prozesse, München 2006; hier: 99–112; Ulrich Brochhagen, Nach Nürnberg. Vergangenheitsbewältigung und Westintegration in der Ära Adenauer, Hamburg 1994; Kim Christian Priemel, The Betrayal. The Nuremberg Trial and German Divergence, Oxford 2016; hier: 674–706. 11 Georg Meyer, Zur Situation der deutschen militärischen Führungsschicht im Vorfeld des westdeutschen Verteidigungsbeitrages [= Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik, 1945–1956, Bd. 1], München 1982, 577. 12 Deutscher Bundestag, Sitzung 20.9.1949, 25, in: https://dserver.bundestag.de/btp/01/01005.pdf (5.9.2022).
I Menschenrechte aus der Opferperspektive in der Ära Adenauer
Die politische Lage hatte sich gewandelt. Nicht zuletzt unter dem Eindruck des Koreakrieges ab August 1950 erhielten die ehemaligen Soldaten der Wehrmacht eine Schlüsselrolle, als es um die Aufstellung neuer westdeutscher Truppenverbände ging. Die militärischen Berater Adenauers forderten im Einklang mit den gut organisierten Soldatenverbänden als Voraussetzung für einen neuen Wehrbeitrag eine Rehabilitierung der Wehrmacht, die angebliche „Diffamierung“ müsse aufhören. Nach komplexen Hintergrundgesprächen wurde diese für die Wehrmacht generell durch den NATO-Oberbefehlshaber General Dwight Eisenhower am 23. Januar 1951 ausgesprochen, eine entsprechende Erklärung Adenauers folgte am 5. April für alle Soldaten, die sich nichts zu Schulden hatten kommen lassen.13 Zumindest auf Regierungsseite ging es gezielt nicht um eine menschenrechtliche Argumentation über die Urteile und Haftbedingungen der ja unter anderem wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilten Offiziere, sondern um eine weichere Argumentation, mit der die Rechtmäßigkeit amerikanischer oder alliierter Prozesse nicht grundsätzlich infrage gestellt wurde. Aktiver war die Regierung Adenauer allerdings bei der Freilassung und Repatriierung von Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion, die dort zumeist als Kriegsverbrecher verurteilt worden waren. Hier fand das menschenrechtliche Argument der Bundesregierung über die Westalliierten Eingang in UN-Debatten. Die „Freilassung“ der letzten in der Sowjetunion verbliebenen Wehrmachtsoldaten 1955 bildete eine der populärsten Leistungen Konrad Adenauers.14 Auch im Westen gab es neben Wehrmachtsoldaten vor allem SS-Männer, die als Kriegsverbrecher verurteilt wurden und unter anderem weiterhin in Italien und den Niederlanden einsaßen. Unter dem Einfluss einer starken Lobby, zu der auch die Kirchen zählten, setzte sich hierfür der Begriff der Kriegsverurteilten durch, was semantisch einen Anklang an Siegerjustiz erkennen ließ. Die Forderung nach Generalamnestie erbrachte zwar bis Mitte der 1950er Jahre die Freilassung der meisten von ihnen. Je länger die wenigen dann Verbliebenen jedoch weiter in Haft blieben, desto mehr setzte sich auch die offizielle bundesrepublikanische Politik für die alternden oder kranken Kriegsverbrecher ein – letztlich alle Regierungen oder ihre Vertreter bis in die 1980er Jahre hinein. Das humanitäre Argument stand hierbei im Vordergrund.15
13 Bert-Oliver Manig, Die Politik der Ehre. Die Rehabilitierung der Berufssoldaten in der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2004, 197–271; hier: 254–571; Priemel, Betrayal, 352–368. 14 Michael Borchard, Die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion. Zur politischen Bedeutung der Kriegsgefangenenfrage 1949–1955, Düsseldorf 2000, 123–158; Andreas Hilger, Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion, 1941–1956, Essen 2000. 15 Felix Bohr, Die Kriegsverbrecherlobby. Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter, Berlin 2018.
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Die Vertriebenen und das „Recht auf Heimat“ Ähnlich wie die Soldatenverbände entwickelten sich auch die Vertriebenenverbände zu einer vielgestaltigen Lobby, vom Zentralverband über die Landsmannschaften und zu einer politischen Partei, dem Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE), bis hin zu christlich-demokratischen Ministern in der Regierung Adenauers. In der Charta der Heimatvertriebenen vom August 1950 verzichteten die Vertriebenen zwar auf Rache, jedoch deutete die Verkündung des Rechts auf Heimat verbunden mit dem Begriff der Selbstbestimmung und der Erklärung der Vertreibung zum größten Verbrechen der Geschichte in eine andere Richtung. Diese Argumentation begleitete die Geschichte der Bundesrepublik für Jahrzehnte.16 In diesem Sinne verabschiedete der Bundestag im Dezember 1952 mit allen Stimmen (außer der KPD) eine Resolution, mit der ein allgemeiner Frieden nur auf Basis der „allgemeinen Menschenrechte“ gefordert wurde, zu der auch das Recht zur Siedlung in der alten Heimat gerechnet wurde. Konkreter in Einforderung der Menschenrechte der Vertriebenen wurde die Bundesregierung in ihrer Außenpolitik in der Regel nicht. Nicht nur Minister hielten Sonntagsreden mit den Forderungen der Flüchtlinge. „Es wäre müßig, die Heimatvertriebenen oder die Deutschen zur Demokratie erziehen zu wollen, wenn diese Demokratie den Bruch der primitivsten Menschenrechte zuläßt. Jedes Volk, die Engländer, die Amerikaner sind stolz darauf, ihre Nation zu lieben“, erklärte etwa 1949 der bald Richtung BHE abschwenkende, rechtsradikale Abgeordnete Günter Götzendorf in der Aussprache über Adenauers erste Regierungserklärung im Bundestag. Noch weiter ging der nationalbewusste SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher, wenn er die Durchsetzung der Menschenrechte gerade in der SBZ als Voraussetzung für ein geeintes Deutschland einforderte: „Die deutsche Einheit ist nur möglich auf der Grundlage der persönlichen und staatsbürgerlichen Freiheit und Gleichheit und der gleichen Wertung und Würdigung der Menschenrechte in allen Besatzungszonen. (Bravorufe und Händeklatschen bei der SPD und vereinzelt rechts).“17 Auch Adenauer selbst bezeichnete das Recht auf Heimat 1954 als „das elementarste Recht, das der Mensch von Gott erhalten hat“. Vorsichtiger, aber doch deutlich
16 Pertti Ahonen, After the Expulsion. West Germany and Eastern Europe, 1945–1990, Oxford 2003, 42–53. Das Folgende primär nach Ahonen. Autoren wie Samuel Salzborn, Heimatrecht und Volksgruppenkampf, Hannover 2001 schätzen die Einbeziehungen der Vertriebenenverbände eher als zynisch ein. 17 Deutscher Bundestag, 1. WP, 128 (Günter Götzendorf), 35 C (Kurt Schumacher). Der Berliner CDU-Abgeordnete Dr. Tillmanns hoffte, dass „diese 20 Millionen da drüben auch die treuesten Anhänger eines vereinten Europas sein werden“, sie hätten erfahren, wie das Leben sei „in einer Ordnung, in der die Achtung vor der Person und die Anerkennung der Menschenrechte tragende Fundamente sind“, 30.9.1949, 238, in: https://dserver.bundestag.de/btp/01/01007.pdf (5.9.2022).
I Menschenrechte aus der Opferperspektive in der Ära Adenauer
brachte der erste Kanzler die östliche Grenzfrage auch in den Verhandlungen mit den Alliierten bis hin zum Deutschlandvertrag von 1952 beziehungsweise 1955 ein, jedoch blieb es letztlich bei dem verbrieften Vorbehalt in der Grenzfrage – bis 1990. Der Hauptstrang der Vertriebenenpolitik richtete sich auf die Integration durch Lastenausgleich. Die anfängliche Sorge vor einer Radikalisierung der Vertriebenen ließ jedoch die Rhetorik des Rechts auf Heimat ein integraler Teil der öffentlichen Deklamationen und somit auch im außenpolitischen Anspruch bleiben.18 Allerdings nahm der faktische Einfluss dieser Verbände Ende der 1950er Jahre ab, wie sich paradoxerweise sogar an der Unterstützung des vom Bund der Vertriebenen für 1965 ausgerufenen Jahres der Menschenrechte zeigte. Das Bundeskabinett mit Kanzler Ludwig Erhard an der Spitze beschloss dazu zwar die Unterstützung mit 500.000 D-Mark, aber gerade mit der Maßgabe, Einfluss auf „maßvolle“ Kundgebungen zu haben; die Hauptreden hielten Erich Mende, Minister für gesamtdeutsche Fragen, und Wenzel Jaksch, sozialdemokratischer Politiker aus Böhmen.19 Der „Tag der Heimat“, seit 1950 bis heute teils offiziös begangen, setzte häufig menschenrechtliche Begriffe in sein Motto, seit den 1970er Jahren zunehmend über die deutsche Frage hinausweisend. DDR, Selbstbestimmung und Antikommunismus Konkreter in der internationalen Einforderung von Menschenrechten der Vertriebenen wurde die Bundesregierung in der Regel nicht. Das (auch menschenrechtlich zu verstehende) Gebot zur Wiedervereinigung im Grundgesetz bildete die selbstverständlich mitgedachte mentale Basis, die nicht immer wieder ausgesprochen wurde. Das war bemerkenswert, da sich gerade Vertreter der kleineren rechten Parteien häufig explizit auf Menschenrechte beriefen. Rhetorisch ließ es auch Adenauer nicht an verbalen Verurteilungen des kommunistischen Unrechts fehlen. So betonte er etwa zur Vorstellung einer Resolution gegen die ersten Volkskammerwahlen 1950 die Defizite im anderen Teil Deutschlands: „Das ganze deutsche Volk fühlt sich den freien Völkern der Welt zugehörig. Es verlangt die Anerkennung aller demokratischen Grundrechte in allen Teilen Deutschlands“, aber es war Herbert Wehner (SPD), der die Aufforderung der Resolution, gegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit rechtlich vorzugehen, noch schärfer und menschenrechtlich
18 Konrad Adenauer zit. n. Ahonen, Expulsion, 2003: „the most elementary right given to man by God“, 73 (eigene Rückübersetzung), zum Weiteren: 110–115. 19 Kabinettsprotokolle, 16.12.1964, TOP B. Sie wurde vom Bundestag gebilligt. Die Eröffnung dieses Gedenkjahres am 30.1.1965; der „Vorwärts“, 5.3.1965, sprach von Vertriebenen, die zur Versöhnung über Gräbern mahnten, hinzu kam eine Briefmarke „20 Jahre Vertreibungen“, die für Post in Ostblockländer nicht akzeptiert wurde.
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begründete: „Das kommunistische System bedeutet Vernichtung der Menschenrechte, Versklavung der arbeitenden Menschen, Verewigung von Hunger, Elend und Ausbeutung. Die kommunistischen Machthaber sind die wahren Kriegshetzer gegen das eigene Volk.“20 Die Außenpolitik Adenauers und seines engeren Kreises bediente sich einer anderen Sprachsphäre. Das Grundanliegen des ersten Bundeskanzlers lag in einem Primat der Westintegration, die schrittweise zu einer weitgehenden, ja völligen Souveränität der BRD führen sollte. Das bedeutete eine Fülle von kleinen, zumeist rechtlichen Schritten gegenüber den Hohen Kommissaren. Gerade die Fragen, die Deutschland als Ganzes betrafen – und das schloss die Ostgebiete jenseits von Oder und Neiße ebenso wie die DDR ein – überließ man aber eher in der Verantwortung der Alliierten. Dass die DDR – so sie denn überhaupt eine Bezeichnung als Staat zuerkannt erhielt und nicht einfach als „Mitteldeutschland“ bezeichnet wurde – ein Unrechtsstaat war, der die Menschenrechte missachtete, war Konsens (außer bei der KPD). Es lag in der Regel außerhalb des Horizontes der jungen Bonner Republik, offiziell und offensiv menschenrechtlich gegenüber der vierten Besatzungsmacht Sowjetunion zu polemisieren. So hieß es etwa in einem Memorandum der Bundesregierung an die drei westlichen Hohen Kommissare zur Weitergabe an den sowjetischen Hohen Kommissar vom 1. Oktober 1951: „Die Bundesregierung könne aber nur mit denjenigen in Besprechungen über die deutsche Wiedervereinigung eintreten, die willens seien, eine rechtsstaatliche Ordnung, eine freiheitliche Regierungsform, den Schutz der Menschenrechte und die Wahrung des Friedens vorbehaltlos anzuerkennen und zu garantieren.“21 In dieser Aufzählung lag die Summe der Vorbehalte gegenüber dem anderen Teil Deutschlands. Eingefordert wurde dies von der Bundesrepublik als Teil des freien Westens und dies nicht gegenüber der DDR, sondern gegenüber der Sowjetunion als vierter verantwortlicher Macht für die deutsche Frage insgesamt. Das zeigte sich exemplarisch 1952 bei dem Austausch der Vier Mächte über die Stalinnoten, in welchen der sowjetische Diktator seinerseits die Einhaltung von Menschenrechten in ganz Deutschland betont hatte.22 In Adenauers Erklärung zur Souveränität der Bundesrepublik vom 5. Mai 1955 hieß es an die Bevölkerung der DDR gewandt: „Ihr könnt Euch immer auf uns verlassen, denn gemeinsam mit der freien Welt werden wir nicht rasten und ruhen, bis auch Ihr die Menschenrechte wiedererlangt habt und mit uns friedlich vereint in einem Staate lebt.“23
20 Deutscher Bundestag, 1. WP, 14.9.1950, 3184, 3188. https://dserver.bundestag.de/btp/01/01085.pdf. (5.9.2022). 21 Konrad Adenauer, Erinnerungen 1953–1955 [= Erinnerungen, Bd. 2], Stuttgart 1966, 41. 22 Wilfried Loth, Die Sowjetunion und die deutsche Frage. Studien zur sowjetischen Deutschlandpolitik, Göttingen 2007; hier: 101–174. 23 Adenauer, Erinnerungen, 2, 1966, 433.
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Eine eigene Politik der Menschenrechte gegenüber der Sowjetunion zeichnete sich auch nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen nur rudimentär ab. Aber nach einigen Sondierungen trat doch 1958 eine andere Lösung der deutschen Frage auch für den Kanzler in den Vordergrund: die Österreich-Lösung für die DDR, sprich: die Anerkennung eines zweiten, aber freien deutschen Staates.24 Ein Ende fanden diese Sondierungen vor dem Beginn der zweiten Berlinkrise 1958. Gegenüber dem sowjetischen Botschafter in Bonn, Andrej Smirnow, sprach der Kanzler am 4. Oktober 1958 die Frage aber doch einmal im Klartext an. Während der Botschafter die Anerkennung der beiden existierenden deutschen Staaten forderte, setzte Adenauer die auch von der Sowjetunion unterzeichnete Charta der Menschenrechte dagegen; die Menschenrechte würden in der DDR „mit Füßen getreten“. Nach seiner eigenen Aussage setzte er empört hinzu: „Die Mehrzahl der Deutschen betrachtet das in der Sowjetzone vorhandene Regime als ein Regime, das mit der Charta der Menschenrechte nicht in Einklang zu bringen ist.“25 Die Saarfrage Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen durch die Westalliierten, den Besatzern des Anfangs und Partnern der Zukunft, waren im Großen ausgeschlossen, aber doch nicht ganz. Die 1949 geplante und dann auch erfolgte Aufnahme der Bundesrepublik wie des Saargebietes als assoziierte Mitglieder des Europarats brachte dies ans Tageslicht. Als es um die französisch-saarländische Autonomiekonvention vom März 1950 ging, die dann am 13. Juli 1950 vollzogen wurde, kam es zu einem Grundsatzstreit mit Frankreich.26 Gerade im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages wurden schwere Bedenken vorgebracht, ob an der Saar unter der herrschenden französischen Verwaltung die Menschenrechte geachtet würden. Beispiele von willkürlichen polizeilichen Eingriffen wurden in der Öffentlichkeit, im Bundestag und zumal im Auswärtigen Ausschuss häufig angesprochen.27 Gerade weil es sich
24 Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Staatsmann: 1952–1967, Stuttgart 1991, 550–562. 25 Zit. n. Konrad Adenauer, Erinnerungen [= Erinnerungen, Bd. 3], Stuttgart 1967, 441–451; hier: 441, 451. Vgl. Ebd. 376–380 (Adenauer-Smirnow 4.3.1958). 26 Birte Wassenberg, Histoire du Conseil de l’Europe 1949–2009, Brüssel 2012, 72 ff.; Rainer Hudemann, Raymond Poidevin (Hg.), Die Saar 1945–1955. Ein Problem der europäischen Geschichte, München 1992; hier: die Beiträge von Winfried Schumacher, Per Fischer und Hermann Küppers. – Wilfried Loth zeigte kürzlich, dass de Gaulle in den ersten Nachkriegsjahren eine volle Annexion an Frankreich angestrebt hatte: Die unvollendete Annexion. Frankreich und die Saar 1943 bis 1947, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 70, 2022, 513–541. 27 Stenographische Berichte Bundestag 10.3.1950, u. a. Kurt Schumacher, „Grundsätze der Herrschaft des Rechts und der Wahrung der Menschenrechte“, 1567 f., Helene Wessel fragte, ob die „Durchführung der Menschenrechte“ jetzt schon ein „Ruhmestitel Deutschlands“ sei – mit Blick auch auf die DDR: Ebd., 1582.
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hier nach bundesdeutscher Auffassung widerrechtlich um „Ausland“ handelte, war die Sprache der Menschenrechte angebracht. Demnach ging es vor allem um die Zulassung von Schwesterparteien der bundesrepublikanischen Parteien, welche die Saarregierung von Johannes Hoffmann 1952 ausdrücklich verboten hatte, also um die „Entnationalisierung“ der Saarfrage. Auch im offiziellen diplomatischen Verkehr protestierte das Auswärtige Amt bei den Mitgliedern des Europarats noch 1953 ausdrücklich, „um Verletzungen der in der Konvention des Europarats zur Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten aufgeführten Grundrechte [...]“ einzuklagen.28 In den folgenden Verhandlungen über das Saarstatut wurde von Adenauer und Robert Schuman die Lösung in einer Europäisierung im Rahmen der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, dann der Westeuropäischen Union, gefunden, aber mit dem Vorbehalt einer Gültigkeit bis zum Friedensvertrag mit ganz Deutschland. Diese Lösung galt als problematisch, da hierbei erstmals die Abtretung eines Teils des Deutschen Reiches vorläufig ratifiziert und das Prinzip der Selbstbestimmung dadurch eingeschränkt wurde. In der Tat blieb es ein Makel, dass hier auf die „Menschenrechte“ der Saarländer vorerst verzichtet wurde. Die Volksabstimmung für eine selbständige Saar scheiterte jedoch im Oktober 1955: Das Saarland trat der Bundesrepublik bei. Es spricht einiges dafür, dass die vorläufige Preisgabe des Saargebiets durch Adenauer, die dann doch durch die Attraktivität der Bundesrepublik zur Wiedervereinigung führte, auch ein Modell für die „Österreich-Lösung“ des bundesrepublikanischen Vorschlags von 1958 bildete, eine späte, dann aber doch gescheiterte Ausformung der Magnettheorie einer nicht nur wirtschaftlich, sondern auch menschenrechtlich erfolgreichen Bundesrepublik. Opferstatus und Antikommunismus beherrschten große Teile des Menschenrechtsdiskurses im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik. Vertriebenenministerium und Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen argumentierten propagandistisch, trugen Material zusammen, welches die Bevölkerung integrieren und wachhalten sollte. Vorfeldorganisationen, zum Teil transatlantisch vernetzt und aktivistisch von der „Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kreise“ bis zur „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ legen Zeugnis davon ab. War die Gründung der Freien Universität in Berlin 1948 zunächst ein direkter Ausdruck der antikommunistischen Selbstbehauptung, so kam in einer sich wandelnden internationalen Situation eine weitere Universitätsgründung in Berlin nicht zum Zuge. So wie die Freie Universität 1948 als antikommunistische Aktion errichtet wurde, so plante kein geringerer als der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Reinhard Gehlen, um 1960 eine private Menschenrechtsuniversität in Berlin zu gründen, die den geistigen Kampf
28 Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland, 1953, München 2001, Nr. 129 v. 30.4.1953, vgl. Nr. 40. mit Anm. 13.
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gegen den Kommunismus für Studenten aller nichtkommunistischen Staaten vorantreiben sollte.29
II Mauerbau und die Ausweitung der Menschenrechte seit den 1960er Jahren Der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 bildete gerade in dieser auf sich selbst bezogenen Opfersicht der Deutschen eine Zäsur. Äußerlich allerdings bildete dieser Akt den Anlass für die vielleicht schärfsten, auch menschenrechtlichen Proteste über das Verhalten der DDR und der dahinterstehenden Sowjetunion, mit welcher der Systemvergleich antagonistisch in der Öffentlichkeit auf den Punkt gebracht wurde.30 Das betraf Regierung und Opposition gleichermaßen; den Regierenden Bürgermeister Willy Brandt deutlich mehr als Adenauer und andere Vertreter der Bundesregierung. Ein Vorschlag von Herbert Wehner, die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen in der Sache anzurufen, wimmelte Außenminister Gerhard Schröder ab. Man entschied sich dafür, eine Broschüre des Kuratoriums Unteilbares Deutschland durch je einen Abgeordneten der drei Bundestagsparteien in New York bei der UNO und in Washington bei der US-Regierung präsentieren zu lassen. Was 1962 erstmals geschah, wurde im folgenden Jahr wiederholt. Zunächst übergab das Kuratorium Unteilbares Deutschland im April 1963 am Sitz der UN-Menschenrechtskommission ein zweites Dossier, dann folgte ein drittes am 30. September 1963 in New York. Die gehabte Dreierdelegation des Bundestages flankierte das durch zahlreiche Gespräche vor Ort. Das war, in den Worten ihres Sprechers, Johann Baptist Gradl (CDU), allerdings nur „die Wand, an der man dieses deutsche Elend in New York im Bereich der Vereinten Nationen plakatieren konnte“ – Symbolpolitik würde man das heute nennen. Aber die Abgeordneten sprachen auch mit vielen Botschaftern bei der UNO. Die Vertreter Somalias und Kameruns bat man, ihre „Brudergruppen aus dem schwarzen Erdteil zu informieren“; die indische Botschafterin, Frau Nehru [vermutlich Lakshmi Pandit, die Schwester des Ministerpräsidenten], setzte die bundesdeutschen Delegierten in Verlegenheit, als sie meinte, eine solche Demarche könne doch wohl nicht von der Bundesregierung ausgehen. Der weltpolitische Ausflug nach New York zeigte, dass die deutsche Frage außerhalb Europas nicht den zentralen Stellenwert hatte, den
29 Jost Dülffer, Geheimdienst in der Krise. Der BND in den sechziger Jahren, Berlin 2018, 593 f. – Darüber ist sonst noch wenig bekannt. 30 Gisela Biewer (Hg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik, 12.8.–31.12.1961 [= Dokumente zur Deutschlandpolitik, Reihe IV, Bd. 7], München 1976; hier: Brandt, 13., 16.8.1961.
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man in Bonn voraussetzte. Gradl und Kollegen widersprachen den Einwänden pikiert.31 Hier prallten also in New York zwei Welten aufeinander, die einen grundsätzlichen Wandel in der Menschenrechtspolitik andeuteten. Weltweite Aufmerksamkeit für die Berliner Mauer – symbolisiert seither durch das Pflichtprogramm auch von Staatsbesuchen in Berlin –32 war das eine, eine gezielte, auch rechtlich darauf aufbauende Politik darauf aufzubauen, das andere. Die Menschenrechtsverletzungen durch die DDR traten in den Hintergrund und wurden seit den Siebzigern zu wichtigen Vorbedingungen von Teilen der oppositionellen CDU/CSU, einen Ausgleich mit dem sozialistischen Lager auf anderer Basis zu erreichen. Auf den Punkt gebracht: Nach Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte 1975 beantragte die CDU/CSU zusätzlich zum seit 1968 üblichen „Bericht zur Lage zur Nation“, zusammen mit diesem künftig „einen Bericht über Verwirklichung der Menschenrechte im geteilten Deutschland vorzulegen“. Er wurde von den Regierungsparteien SPD und FDP abgelehnt.33 Es gab mehrere andere Faktoren des Wandels, die hier nur benannt werden können:34 1. Der größte Teil der bisherigen Kolonien Afrikas wurde um 1960 unabhängig; die sich seit Bandung 1955 etablierende „Dritte Welt“ erforderte einen ganz anderen Umgang mit der Forderung nach Menschenrechten. Die bloße Analogie: Die neuen Staaten dort und anderswo müssten doch aus ihrer eigenen Erfahrung diese Rechte und Selbstbestimmung der Deutschen unterstützen, wurde zwar verstanden, aber zunehmend obsolet, denn die beiden deutschen Staaten ließen sich ausgezeichnet gerade in Sachen Wirtschaftshilfe gegeneinander ausspielen; die Hallstein-Doktrin wurde spätestens 1969 endgültig beiseitegelegt.35 In diesen Jahren erfolgte jedoch
31 Diskussion im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages. Sitzungsprotokolle 1961–1965, Düsseldorf 2004; hier: 14. Sitzung 12.7.1962, 16. Sitzung 4.10.1962, 39. Sitzung 19.10.1963; Gisela Biewer (Hg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik, 12.8.–31.12.1961 [= Dokumente zur Deutschlandpolitik, Reihe IV, Bd. 9], München 1978, 236–248, 733–735. 32 Simone Derix, Bebilderte Politik. Staatsbesuche in der Bundesrepublik 1949–1990, Göttingen 2009, 89–133. 33 Deutscher Bundestag, Drucksache 7/4616 22.1.1976, Debatte 3.6.1976, 17582 ff. 34 Globalgeschichtlich ausgeführt bei Jan Eckel, „Unter der Lupe“. Die internationale Menschenrechtskampagne gegen Chile in den siebziger Jahren, in: Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.), Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, 368–396. In breiterem Rahmen Jan Eckel, Samuel Moyn (Hg.), Moral für die Welt? Menschenrechtspolitik in den 1970er Jahren, Göttingen 2012. 35 William Glenn Gray, Germany’s Cold War. The Global Campaign to Isolate East Germany 1949–1969, Chapel Hill/NC 2003; Young-Son Hong, Cold War Germany, the Third World and the Global Humanitarian Regime, Cambridge/MA 2015; Philipp Rock, Macht, Märkte und Moral. Zur Rolle der Menschenrechte in der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland in den sechziger und siebziger Jahren, Frankfurt am Main 2010.
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auch der „Aufstieg der Bundesrepublik zur globalen Wirtschaftsmacht“,36 was der Regierungspolitik einen möglichen Hebel gegenüber der damals sogenannten „Dritten Welt“ in die Hand gab, aber auch eine Auseinandersetzung mit dem von der UN-Vollversammlung seit 1966 proklamierten „Recht auf Entwicklung“ erforderte.37 2. Der neuartige Einsatz für Menschenrechte außerhalb Deutschlands, so vor allem gegenüber Diktaturen, führte zu einer permanenten Debatte über die Universalität der Menschenrechte oder dem Einsatz für diese in je selektiven Fällen, es stellte sich immer wieder die Frage einer „Doppelmoral“.38 3. Es bildete sich eine neue transnationale zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit. Am markantesten war die Wirkung von Amnesty International (1961 gegründet), aber auch die Humanistische Union, die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte kümmerten sich explizit um andere Opfer verweigerter Menschenrechte als die der Deutschen, Human Rights Watch entstand nach 1975.39 Hinzu kam ein genereller, emanzipatorischer Aufbruch in sozialen Bewegungen zumal von Studenten, die in 1968 einen markanten Höhepunkt gerade in der BRD erlangten. Friedens- und Ökologiebewegung fanden seit den 1970er Jahren neue Anhänger. Der öffentliche Raum, aus dem heraus Politik gemacht wurde, änderte sich; es entstanden neue Bottom-up-Wege der politischen Meinungs- und Willensbildung, die ab Ende der 1960er Jahre in der sozialliberalen Koalition einen sichtbaren Ausdruck fanden. 4. In der UNO gelang es nach langen Verhandlungen, 1966 zwei grundlegende Menschenrechtspakte zur Ausfüllung der Menschenrechtskonvention von 1948 zu schließen, der Sozial- und der Zivilpakt, welche allerdings erst 1976 in Kraft traten. Sie bildeten aber den Auftakt für eine Kodifizierung von zahlreichen weiteren Menschenrechten bis in die Gegenwart.40 Pointiert gab es global, aber auch regional in
36 Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis heute, München 2009, 516. 37 Ramon Leemann, Entwicklung als Selbstbestimmung. Die menschenrechtliche Formulierung von Selbstbestimmung und Entwicklung in der UNO, Göttingen 2013. 38 Silke Voß, Parlamentarische Menschenrechtspolitik. Die Behandlung internationaler Menschenrechtsfragen im Deutschen Bundestag unter besonderer Berücksichtigung des Unterausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe 1972–1998, Düsseldorf 2000, 217–274. 39 Wildenthal, Language, 2013, 63–166. 40 Roger Normand, Sarah Zaidi, Human Rights at the UN. The Political History of Universal Justice, Bloomington/IN 2008; Peter Ridder, Die Menschenrechtspakte, in: https://www.geschichtemenschenrechte.de/die-menschenrechtspakte/?type=98765 (6.12.2020); ders., Konkurrenz um Menschenrechte. Der Kalte Krieg und die Entstehung des UN-Menschenrechtsschutzes von 1965–1993, Göttingen 2022.
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diesen Jahren geradezu eine „human rights revolution“.41 Da nach den Ostverträgen der Bundesrepublik Deutschland auch beide Staaten 1973 als Vollmitglieder in die UNO aufgenommen wurden, eröffnete sich eine neue Arena der Politik im UN-Rahmen. 5. Die Vertretung von Außenpolitik wurde auf zahlreichen Feldern zunehmend in inter- beziehungsweise transnationalen Gremien vorbereitet und dann auch umgesetzt. Das waren in erster Linie die Gremien (west-)europäischer Integration in Ausfüllung der geschlossenen Verträge, zu denen intergouvernementale Gremien ad hoc oder dauerhaft hinzutraten.42 6. Der neue multilaterale Horizont bundesdeutscher Außenpolitik schlug sich besonders nachhaltig im Weg zu einer europäischen Sicherheitskonferenz nieder, die sich mit der Schlussakte von Helsinki 1975 und den Folgekonferenzen von Belgrad, Madrid und Wien gerade in den Menschenrechten („Korb 3“) einen permanenten Bezugspunkt schuf.43
III Egon Bahr – Frieden, Sicherheit und Menschenrechte Der Fall eines der wichtigsten außenpolitischen Akteure der BRD, der sowohl konzeptuell als auch handelnd mit Menschenrechten umging, soll im Folgenden den Stellenwert von Menschenrechten seither verdeutlichen. Egon Bahr war Senatspressechef im Berlin Willy Brandts, wurde 1966 Leiter des Planungsstabes im Außenministerium Brandts, handelte ab 1969 in der sozialliberalen Regierung wesentliche Teile der Ostverträge aus. In Sachen globaler Süden hatte er 1959 als Attaché einige Monate in Ghana verbracht, wurde 1974 bis 1976 Entwicklungshilfeminister in der Regierung Schmidt – Genscher und arbeitete von 1980 bis 1982
41 Akira Iriye, Petra Goedde, William Hitchcock (Hg.), The Human Rights Revolution. An International History, Oxford 2012. 42 Kiran Klaus Patel, Projekt Europa. Eine kritische Geschichte, München 2018, 186–223; Gabriele Clemens, Alexander Reinfeldt, Telse Rüter, Europäisierung von Außenpolitik? Die europäische politische Zusammenarbeit in den 1970er Jahren, Baden-Baden 2019. 43 Wilfried von Bredow, Der KSZE-Prozeß, Darmstadt 1992; Gottfried Niedhart, Entspannung in Europa. Die Bundesrepublik Deutschland und der Warschauer Pakt 1966 bis 1975, München 2014; Helmut Altrichter, Hermann Wentker (Hg.), Der KSZE-Prozess. Vom Kalten Krieg zu einem neuen Europa 1975–1990, München 2011; Matthias Peter, Die Bundesrepublik im KSZE-Prozess, 1975–1983. Die Umkehrung der Diplomatie, München 2015 [Zur Konzeption Bahrs (neben Vogtmeier, unten Anm. 44) jetzt umfassend: Peter Brandt, Hans-Joachim Gießmann, Götz Neuneck (Hg.), „... aber eine Chance haben wir“. Zum 100. Geburtstag von Egon Bahr, Bonn 2022: neben den Beiträgen mehrerer Historiker, u. a. Gottfried Niedhart: zu Bahr und Menschenrechtenbesonders die Zeitzeugen Christoph Zöpel und Michael Brie].
III Egon Bahr – Frieden, Sicherheit und Menschenrechte
in der Palme-Kommission für Abrüstung und Sicherheit. Von 1984 bis 1994 leitete er das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg. Frieden oder Menschenrechte? So könnte man das Dilemma in Bahrs Ansatz auf einen Punkt bringen. Eine zentrale Voraussetzung für Politik war bei ihm, dass weder ein Sturz des Regimes der DDR noch ein Krieg praktikable Zukunftsziele darstellten. Nichts weniger als die Überwindung der drohenden Atomkriegsgefahr stand als Leitmotiv dahinter. Gerade die Einsicht aus dem Mauerbau 1961, „daß es keinen praktikablen Weg über den Sturz des Regimes gibt“, führte ihn dazu: „Ich sehe nur den schmalen Weg der Erleichterung für die Menschen in so homöopathischen Dosen, daß sich daraus nicht die Gefahr eines revolutionären Umschlags ergibt, die das sowjetische Eingreifen aus sowjetischem Interesse zwangsläufig auslösen würde.“ Das war eine zentrale Beobachtung aus seiner Tutzinger Rede vom 15. Juli 1963.44 Diese These signalisierte, dass es um kleine Reformen, humanitäre Verbesserungen für die Bevölkerung der DDR gehen müsse, nicht um eine grundsätzliche und damit konfrontative Politik der Menschenrechte. Die Passierscheinregelungen für Besucher von West- nach Ost- Berlin für die Weihnachtsferien von 1963 bis 1966 unterstrichen dies. Sie waren vom Westberliner Senat ausgehandelt worden – aber mit der Regierung der DDR, die dadurch aufgewertet wurde. Das wurde gezielt in Kauf genommen, ja sie waren eine Voraussetzung seines Konzepts. Die in Tutzing der Kennedy-Administration unterstellte Strategie, „daß die kommunistische Herrschaft nicht beseitigt, sondern verändert werden soll“, war auch seine eigene. „Die Änderung des Ost/West-Verhältnisses, die die USA versuchen wollen, dient der Überwindung des Status quo, indem der Status quo zunächst nicht verändert werden soll.“ Er fügte selbst hinzu: „Das klingt paradox“, meinte damit aber einen langen Weg, der zunächst durch Verzicht auf einen zu starken Nachdruck auf rhetorische Verwendung des Arguments Menschenrechte den Regierungen im Ostblock eine größere Offenheit gegenüber dem Westen ermöglichen sollte; das führte für den in die Außenpolitik eingebundenen Politiker zu zahlreichen Planungspapieren einerseits, ließ ihn aber bei Reisen nach Osteuropa nur vorsichtig für humanitäre Lockerungen eintreten.45 Nachdrücklich wehrte er sich jedoch in zahlreichen Verhandlungsrunden, die Grenzen und den Status quo in Europa als unveränderlich anzuerkennen, denn: Veränderung zu einer gesamteuropäischen Friedensordnung und damit Überwindung der Blockkonfrontation blieben das Fernziel dieses „Wandels durch Annäherung“ – und damit die Stabilisierung des Ostblocks auf absehbare Zeit. Tutzing 1963 wurde so in der Tat zu einer Blaupau-
44 Wieder abgedruckt in: Egon Bahr, Sicherheit für und vor Deutschland, München 1991, 11–17. Vgl. Andreas Vogtmeier, Egon Bahr und die deutsche Frage, Bonn 1996; hier: 59–66. 45 Besonders hervorzuheben: Aufzeichnung Leiter Planungsstab AA, 27.6.1968, in: Archiv der sozialen Demokratie, Nachlass Bahr, 1/EB AA 001051.
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se, welche auch die Politik der Regierung Brandt – Scheel und die Ostverträge wesentlich mitbestimmte, ohne dass hier auf Nuancen eingegangen werden kann.46 Genau zehn Jahre später, nach Abschluss der meisten Ostverträge, hieß es – erneut in Tutzing: „Wir gehen mit der Regierung der DDR jenen schmalen Weg der Erleichterung für die Menschen in solchen Dosen, dass sich daraus nicht die Gefahr eines Umschlags ergibt. Die Dinge müssen stabil und kontrollierbar bleiben, wenn die Transformation von Konflikt und Kooperation funktionieren soll.“47 Über eine solche Grundhaltung, die DDR oder den Ostblock nicht zu destabilisieren, entbrannte letztlich ein Grundsatzstreit mit der CDU/CSU-Opposition, zunächst um die Ostverträge und später um die KSZE-Schlussakte. Die Opposition beharrte in diesen Jahren immer wieder auf einer Grundsatzkritik an der Ostpolitik, in der es unter anderem hieß, die sozialliberalen Regierungen täten nicht genug für die Rechte der Menschen in der DDR.48 In seinen Memoiren brachte Bahr dies 1996 nachträglich auf den Punkt: „Aus Verantwortung, nicht aus Zynismus wurde Sicherheit den Menschenrechten übergeordnet – insoweit von Nixon und Brandt.“49 Dieser Ansatz, die Menschenrechte gegenüber Frieden und Sicherheit in die zweite Reihe zu stellen, wurde durch die Reformen in der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow in vielem überholt. Hatte Bahr – schon nicht mehr im öffentlichen Amt – diese anfangs bejaht, so hielt er die Breite der Reform- und Bürgerbewegungen letztlich für gefährlich; 1988 plädierte er publizistisch für einen Primat Europas: „Der europäische Friede ist wichtiger als die deutsche Einheit. […] Die Gemeinsamkeit der beiden Staaten, das Interesse an verlässlicher Sicherheit zu fördern, kann zu einer bedeutenden Kraft im Dienste Europas werden.50 In diesem Sinne hielt er die öffentlich vertretene Menschenrechtspolitik des US-Präsidenten Jimmy Carter für kontraproduktiv. Das deckt sich zum Teil mit den Ergebnissen der jüngeren Forschung zu den Menschenrechtsansätzen dieses Präsidenten.51 Die stille Menschenrechtsdiplomatie, die nach Snyder und Peterson sein Nachfolger Ronald Reagan praktizierte, stand in dieser Hinsicht Bahrs Ansatz
46 Gottfried Niedhart, Durch den Eisernen Vorhang. Die Ära Brandt und das Ende des Kalten Krieges, Darmstadt 2019. 47 Manuskripte 1972–1978, Tutzing 11.7.1973, 1 EB AA 00458; wieder abgedruckt: Bahr, Sicherheit, 1991, 44–59, 53. 48 Peter, Bundesrepublik, 2015; hier: 203–237. Vgl. z. B.: Manfred Abelein, Menschenrechte dulden keinen Aufschub, Rede Deutschland-Union-Dienst, 24.1.1974, in: Archiv der sozialen Demokratie 1/EB AA 00769. 49 Egon Bahr, Zu meiner Zeit, München 1996, 420. 50 Egon Bahr, Zum europäischen Frieden. Eine Antwort auf Gorbatschow, Berlin 1988, 48. 51 Juso-Pressemitteilung, Grußwort Bundesgeschäftsführer Egon Bahr, 20.3.1977, ASD 1 EB AA 00458; Sarah Snyder, Human Rights Activism and the End of the Cold War. A Transnational History of the Helsinki Network, Cambridge/MA 2011, 245; Christian Peterson, Globalizing Human Rights. Private Citizens, the Soviet Union, and the West, London 2012.
III Egon Bahr – Frieden, Sicherheit und Menschenrechte
viel näher. Gemeinsame Sicherheit, Entspannung und Frieden bildeten also die wichtigsten Koordinaten; die Schaffung von Möglichkeiten zur humanitären Erleichterung in der DDR und den anderen Ländern des sowjetischen Machtbereichs von innen her, waren wichtig, sie konnten aber leicht außer Kontrolle geraten und waren daher riskant; Menschenrechte standen dazu in einem Spannungsverhältnis und blieben sekundär gegenüber der atomaren Gefährdung des Weltfriedens. Bahr bekannte sich aber auch nachdrücklich zur „Dritten Welt“. Bei Übernahme des Entwicklungshilfeministeriums 1974 erklärte er, Afrika bedeute die „Rückkehr zu einer stillen Liebe“.52 Er bevorzugte statt Entwicklung den Begriff Partnerschaft und wollte sich von der einseitigen wirtschaftlichen Orientierung dieses Sektors auch in der Außenpolitik freimachen. In diesem Sinne erklärte er es als sein Ziel, die Lebensbedingungen der Menschen in den Entwicklungsländern zu verbessern und diesen Staaten einen höheren Grad von Unabhängigkeit zu ermöglichen. Dabei gehe ich nicht nur von dem Prinzip der Achtung der Unabhängigkeit anderer Staaten aus und ihrem Recht, ihren Weg selbst zu bestimmen, sondern ich gehe auch aus von unserer Vorstellung, daß Gleichheit der Bürger und mehr Gerechtigkeit in einer demokratischen Gesellschaft die Grundpfeiler unserer Entwicklung sind. In der Spannung zwischen diesen beiden Prinzipien bestimmen die Regierungen ihren Weg.53
Freilich geschah dies in einer Kundgebung für „Brot für die Welt“. Vom rein ökonomischen Fortschritt setzte er sich im folgenden Jahr bei Diskussionen um eine neue Weltwirtschaftsordnung ab. Weit entfernt, den gesetzmäßigen Fortschritt im Sinne humanistischer Werte zu garantieren, zeigt die technisch-materielle Eigendynamik des Industriezeitalters eher eine zunehmende Tendenz – zu Polarisierungen, zu Welt- und Selbstzerstörung, sofern ihre politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen nicht bewußter Steuerung […] unterworfen wird. Der humane Fortschritt im Sinne unserer Werte ist durch keine geschichtliche Gesetzmäßigkeit garantiert; er hängt von unserem wertorientierten Handeln ab.
52 Vogtmeier, Bahr, Deutsche Frage, 1996, 212 nach einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung, 212–221 zum Folgenden. 53 Bahr 6.10.1974, 1 EB AA 00458 (hektografiert).
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Damit zitierte Bahr Richard Löwenthal, mit dem er sich vor deutschen Gewerkschaftern Anfang 1975 identifizierte.54 Wie in Osteuropa so hielt er also auch hier ein Plädoyer für behutsame humanitäre Fortschritte für angemessen. Mit dem Motiv für eine solche Zurückhaltung verhielt es sich gegenüber dem globalen Süden jedoch ein wenig anders als gegenüber dem sowjetischen Machtbereich. Die Charta der Menschenrechte verlangte die Teilhabe am technischen Fortschritt. Die Charta ist für Industrieländer wie für Entwicklungsländer gültig. Die Teilhabe der Länder der Dritten Welt am technischen Fortschritt zu fördern, heißt also im Sinne der Menschenrechte zu handeln. Die Teilhabe zu verhindern oder zu erschweren, könnte als ein Verstoß definiert werden. Der Hintergrund ist die Überzeugung, daß das Ideal der Menschenrechte eine materielle Basis braucht. Wo die Aussicht eines Lebens auf den Kampf ums reine Überleben bleibt, muss man zögern, das Wort ‚Menschenrecht‘ noch zu gebrauchen. Der Mensch braucht auch in den Entwicklungsländern Aussicht auf ein Leben in Würde. Der Wohlstandsstaat der Industrieländer, die Gesellschaften des Massenkonsums, wurde nicht aus dem Boden gestampft. Sie sind in 150 Jahren gewachsen.55
Er plädierte also für eine geduldige industrielle, ja kapitalistische Entwicklung und fügte auf der Buchmesse im selben Jahr hinzu: Es geht um die Frage, wie Freiheit von Not und Freiheit von Furcht gleichzeitig zu erreichen sind. Freiheit von Not bedeutet: keine Sorgen um die Sicherung des Lebens und der Lebensgrundlagen zu haben. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen setzt mit Recht Freiheit von Furcht gleich mit der Freiheit von Not, wenn die Menschenrechte nicht verletzt sein sollen. Wo finden unsere Sternmärsche statt, wenn Zehntausende verhungern?56
Noch deutlicher wurde Egon Bahr 1987 in einem analytischen Festschriftbeitrag Uneingelöste Menschenrechte. Hierin äußerte er sich prinzipiell kritisch gegenüber der AEMR. „Wie das denn überhaupt möglich sei, darüber schweigt sich die Erklärung aus“, die doch noch „kein verbindliches internationales Recht“ darstelle. „Sie berücksichtigt nicht Machtverhältnisse und nicht die Verteilung des Wohlstandes auf dieser Erde. Die Erkenntnis, dass liberale Verhältnisse erst noch durchgesetzt
54 Die Rolle der Gewerkschaften in der Entwicklungspolitik, Bundesminister Bahr, Bonn 26.3.1975, ASD 1 EB AA 00458, 19. 55 Rede EB zur Eröffnung des zweiten Symposiums mit Industrialisierungsländern, Hannover 3.5.1976, 7, 1 EB AA 00458. 56 Rede BM Bahr Eröffnung Buchmesse, Lateinamerika, 15.9.1976, 5, ebd.
III Egon Bahr – Frieden, Sicherheit und Menschenrechte
werden müssen, ignoriert sie.“ Dennoch dürfe man, wie es auch auf anderen Gebieten der Fall sei, nicht das Ziel infrage stellen, „nur weil sie noch nicht geachtet sind“. Sie würden gerade durch die Reichen verletzt, was ein Grund zur Selbstanklage darstelle. Aber ich verstehe im vollen Sinne dieses Wort [der Freiheiten auf allen Gebieten], wenn für die Mehrheit der Menschheit das Recht auf Leben höher rangiert. Ich kann niemandem übelnehmen zu meinen, daß er nicht gegen die Furcht kämpfen könne, solange er gegen die Not kämpfen muß: daß er nicht für die Freiheit kämpfen könne, solange er gegen den Hunger kämpfen muß.
Oder auf eine einfache Formel gebracht: Erst muß der Mensch essen, dann bringt er die Kraft zur täglichen Arbeit auf. Erst muß sein Auskommen im Alter gesichert sein, dann erst kann er die Zahl seiner Kinder, die ihn im Alter versorgen, in Grenzen halten. Erst wenn er sicher ist, daß sein Leben keinem unvermutbaren (sic) Risiko ausgesetzt ist, kann er es in Würde gestalten.
An dieser klaren Priorität hielt Bahr fest: „Konventionen ändern noch keine Machtverhältnisse. Sie dürfen nicht zu einem internationalen Schlafmittel werden.“ Und abschließend: „Nicht die Konvention muß umformuliert werden, aber die Voraussetzungen sind zu schaffen, damit ihre Ziele erreichbar werden.“57 In seinen öffentlichen Ämtern blieb Bahr nach außen hin ein Verfechter der Menschenrechte insgesamt, hatte aber Schwierigkeiten, nicht deren universale Geltung als solche, sondern deren Rolle in aktuelle Politik einzubringen; sie blieben eine Zukunftsvision, wenn erst einmal die materiellen Bedürfnisse, Hunger voran, aber auch demokratische Politik in der Dritten Welt befriedigt seien. Gewiss solle man in diese Richtung Druck ausüben. Dass im UN-Pakt über soziale Rechte von 1966 in Artikel 11 das Recht „auf einen angemessenen Lebensstandard“ (und damit die Frage von materieller Not) menschenrechtlich verankert war, kam ihm dabei nicht in den Sinn. In seinen Memoiren brachte er seine eigene Konstruktion von Menschenrechten realpolitisch zugespitzt auf den Punkt, jetzt von allen politischen Rücksichten frei: Selbst Menschenrechte sind nicht davon gefeit, mißbraucht zu werden im innen- wie außenpolitischen Kampf. Da können Fanfarenbläser des Beifalls immer sicher sein. [...] Zuweilen ist das öffentliche Verschweigen die Voraussetzung für erfolgreiche Diskussionen
57 Egon Bahr, Uneingelöste Menschenrechte, in: Willy Brandt u. a. (Hg.), Festschrift für Helmut Simon, Baden-Baden 1987, 865–871. Vgl. Bahr, Zu meiner Zeit, 1996, 472–476.
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hinter verschlossener Tür, zuweilen ist es Feigheit oder dient dem Interesse, Geschäfte nicht zu schädigen. Unterschiedliches Verhalten gegenüber Freunden und Gegnern, gegenüber kleineren und größeren Staaten sollte gewogen werden. Gegenüber Israel und Saudi-Arabien fällt das schwerer als etwa gegenüber Chile und Nicaragua. Einäugigkeit ist auf dem linken wie auf dem rechten Auge möglich.58
IV Menschenrechte und die Außenpolitik unter Hans-Dietrich Genscher in den 1980er Jahren Seit den 1960er Jahren wandelte sich die Bedeutung von Menschenrechten für die Außenpolitik zunehmend.59 Am Anfang standen Diskussionen über die spanische Diktatur Francos, die nicht der NATO angehörte. Hinzu kamen dann bald menschenrechtliche Erwägungen, wenn es um den Umgang mit der Obristendiktatur in Griechenland (1967–1974) oder mit den Militärdiktaturen in der Türkei (1960, 1971, 1980) ging, beides NATO-Mitglieder. Gerade in den Beziehungen zur Herrschaft im Iran, zu dem die Bundesrepublik seit den 1950er Jahren freundschaftliche Beziehungen unterhielt, traten auch menschenrechtliche Verstöße stärker ins Blickfeld, öffentlich markant beim Staatsbesuch des Schahs von Persien 1967. Galten bisher gegenüber den Beziehungen zu den Entwicklungsländern wirtschaftliche Beziehungen als zentrale Bezugsgröße, gelegentlich durch Konkurrenz zur DDR und humanitäre Hilfen gemildert, so setzte sich nunmehr ein kritischer Blick auf die menschenrechtliche Seite von entsprechenden Regierungen durch.60 Das galt wohl für keinen Staat so stark wie für das Apartheid-System der Südafrikanischen Union, hier im Einklang mit großen Teilen der westlichen Welt.61 Mehrere Länder Lateinamerikas folgten wenig später in der Außenwahrnehmung. Es war aber nicht nur die erhöhte Aufmerksamkeit für Entwicklungsländer, welche die Beschäftigung mit den Menschenrechten in der Bundesrepublik neue Qualitäten erreichen ließ,
58 Ebd., 474. 59 Zu Griechenland: Philipp Rock, Macht, 2010, 45–119, 163–216. Zum Iran: Jan Eckel, Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik, Göttingen 2014, Kapitel 5 und 7. 60 Amit Das Gupta, Handel, Hilfe, Hallstein-Doktrin. Die bundesdeutsche Südasienpolitik unter Adenauer und Erhard 1949–1966, Husum 2000; Sven Olaf Berggötz, Nahostpolitik in der Ära Adenauer. Möglichkeiten und Grenzen, 1949–1963, Düsseldorf 1998; Bastian Hein, Die Westdeutschen und die Dritte Welt. Entwicklungspolitik und die Entwicklungsdienste zwischen Reform und Revolte 1959–1974, München 2006, 189–240. 61 Rock, Macht, 2015, 120–183 [Peter Ridder, Uran, Menschenrechte und die Angst vor einem ‚Rassenkrieg‘. Die westdeutsche Südafrikapolitik in den 1970er Jahren, in: Jahrbuch zur Liberalismusforschung 33, 2021, 27–50; zum Rahmen: Eckel, Ambivalenz, 293–295, 498–502].
IV Menschenrechte und die Außenpolitik unter Hans-Dietrich Genscher in den 1980er Jahren
ein Problem war auch die permanente Konkurrenz zu Exportinteressen, unter denen der Waffenhandel eine bedeutende Rolle spielte.62 Die Sprache der Menschenrechte drang auch in andere bilaterale Beziehungen ein. Hans-Dietrich Genscher, Außenminister von 1974 bis 2002 unter den Kanzlern Schmidt und Kohl, war ebenso wenig die allein prägende Kraft der Außenpolitik, wie es Bahr unter Brandt zumindest für die Jahre der Ostpolitik gewesen war. Vor allem Helmut Schmidt zog kleine Schritte einer sicherheitspolitischen Entspannung moralisch überhöhten Ansprüchen vor.63 Kohl unterschied sich zumindest darin nicht grundsätzlich von seinem Vorgänger. Genscher wird seit Langem zugeschrieben, er habe sich nachdrücklich für die Menschenrechte eingesetzt, sein Ansatz sei fern von jeder Machtpolitik gewesen.64 Doch die Verrechnung mit Sicherheitspolitik gerade im Prozess der Auflösung der Blöcke deutet auch hier zumindest Spannungsfelder an, die in konkreten Situationen pragmatisch bearbeitet wurden. Immerhin zeigte Genscher gerade in Fragen des Umgangs mit der Erklärung des Kriegsrechts in Polen, der Unabhängigkeit Namibias, aber auch in mehreren jährlichen Reden vor der UN-Vollversammlung starkes menschenrechtliches Engagement. Insbesondere sein Vorschlag vor der UN 1976, einen internationalen Menschengerichtshof einzurichten, spricht für eine solche Perspektive, die bis 1989 zum ständigen Repertoire gehörte.65 Gerade in der Post-KSZE-Phase legte die oppositionelle CDU/CSU zunächst eher Wert darauf, Menschenrechtsverletzungen in Europa zu thematisieren, zumal wenn die sozialliberale Regierung sich gegen die Verletzungen auf anderen Kontinenten wandte. Doch entwickelte sich in den 1980er Jahren langsam ein innenpolitischer „Fundamentalkonsens“ (Jan Eckel), dass Menschenrechte ein gemeinsames Anliegen der BRD-Politik bildeten. Es gab große Zonen der Übereinstimmung, ohne dass diese Fragen einen zentralen Teil der Außenpolitik bildeten.66 Das Auswärtige Amt Genschers bemühte sich, Menschenrechte als integralen Bestandteil der bundesdeutschen Politik zu vereinheitlichen. In diesem Sinn ließ Genscher vom Leiter der Politischen Abteilung, Hermann Freiherr von Richthofen, am 22. Dezember 1986 eine Aufzeichnung zu Grundüberlegungen der Menschenrechtspolitik anfertigen.
62 Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 1982–1989, Stuttgart 2006, 80–590. 63 Kristina Spohr, Der Weltkanzler, Darmstadt 2016, 75–131; Eckel, Ambivalenz, 439. 64 Siegfried Schieder, Liberalismus vs. Realismus, in: Kerstin Brauckhoff, Irmgard Schwaetzer (Hg.), Hans-Dietrich Genschers Außenpolitik, Wiesbaden 2015, 41–66; hier: 61. 65 Hans-Dietrich Genscher, Deutsche Außenpolitik. Ausgewählte Aufsätze und Reden. 1974–1985, Stuttgart 1985; ders., Erinnerungen, Berlin 1995, 328–334; zum Rahmen: Agnes Bresselau von Bressendorf, Frieden durch Kommunikation. Das System Genscher und die Entspannungspolitik im Zweiten Kalten Krieg, 1979–1982/83, München 2015. 66 Eckel, Ambivalenz, 567–582.
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Diese Aufzeichnung schwankte zwischen analytischer Vorgabe und Sprachregelung. Hierin ging es nicht um die Politik gegenüber Einzelstaaten. Am Anfang stand die Verpflichtung, für alle Deutschen menschenrechtlich einzutreten. Menschenrechtskritik stelle keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten dar. Es geht um „Augenmaß für das Machbare“. Man könne weltweite Kritik „überziehen“, brauche überall Partner, so vor allem aus der EG, den NATO-Verbündeten und der „westlichen Gruppe“, wozu unter anderem Japan gehörte. Mit diesen habe man in angegebenen Fällen gemeinsam „demarchiert“. Die USA – es handelte sich um die Reagan-Administration – nutze die Menschenrechte „zunehmend für spezielle politische Ziele“, denen man im „Zwölferverband“ – also der EG –, „entgegenzuwirken“ suchte. Das zunehmende Interesse im Bundestag, aber auch bei menschenrechtlichen Gruppen sei ein Ansporn zur Nutzung der Menschenrechte. Allerdings werde es immer auch „Zielkonflikte“ zwischen menschenrechtlichen Ansprüchen und „konkreten politischen, sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Interessen“ geben. Wenn wirtschaftliche Interessen aber einmal nicht wirklich wichtig seien und Nachteile durch menschenrechtlichen Einsatz nur behauptet würden, müssten sich letztere behaupten. Dasselbe gelte bei möglichen Konflikten „unserer Friedensund Entspannungspolitik“ zu den Menschenrechten. An mögliche neue Normen lege man „strenge Maßstäbe“ an. Abzulehnen sei das „scheinbare MR“ eines Rechts auf Frieden; einem neuen Recht auf Entwicklung stehe man skeptisch gegenüber. In vielen Fällen gehe es um die „Wahl des kleineren Übels“. „Öffentliche Maßnahmen und ‚stille Diplomatie‘“ seien unterschiedliche Wege, die sich gegenseitig ergänzten. Grundsätzlich könne man nicht alle menschenrechtlichen „Verletzungen in der Welt“ gleich behandeln, sondern müsse nach Interessen abwägen. Das gelte gerade auch für den Grad der Beteiligung an UN-Resolutionen.67 Genscher las das Memorandum mit Randbemerkungen; ihm war dies wohl insgesamt doch noch zu vage, so dass Richthofen daraufhin in einer zweiten Aufzeichnung einzelne „menschenrechtliche Initiativen“ ergänzte.68 Das war zunächst die UN-Konvention gegen Folter von 1984, der die Bundesrepublik im Oktober 1986 beigetreten war. Galt dieses Recht nach dem Grundgesetz generell, so war es erst jetzt im UN-Rahmen im Verbot der Ausweisung von Asylbewerbern enthalten, falls diesen Menschen Folter drohe. Dagegen hatten Innen- und Justizministerium Bedenken; doch tatsächlich wurde die Konvention 1990 ratifiziert. In dieselbe Richtung ging eine von Genscher schon 1980 in der UNO vertretene Initiative zur Vorbeugung von Fluchtursachen. Dazu hatten sechsjährige Verhandlungen
67 Akten zur auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland (AAPD), 1986, München 2016, Nr. 376, v. 22.12.1986, 963–974, Anm. 1[ Auch zur deutschen Bestandsaufnahme im Auswärtigen Amt ein Jahrzehnt zuvor: Ridder, Konkurrenz, 233–235]. 68 AAPD, 1987, München 2017, Nr. 38. v. 12.2.1987, 167–173. Erläuterungen hier z. T. aus den Anmerkungen zum Dokument entnommen.
IV Menschenrechte und die Außenpolitik unter Hans-Dietrich Genscher in den 1980er Jahren
stattgefunden, bis eine entsprechende UN-Resolution am 3. Dezember 1986 angenommen wurde. Dabei ging es unter anderem um Prävention, das Vermeiden von „Flüchtlingsströmen“ also. Staaten verpflichteten sich demgemäß – so hieß es wohlfeil – „keine Flüchtlingsströme zu erzeugen“. Richthofen schloss, dass die UNO damit der deutschen These gefolgt sei, dass die bisher „ausschließlich humanitärenkurativen Anstrengungen“ jetzt durch den Bedarf „komplementärer praktischer Schritte zur Bekämpfung von Flüchtlingsströmen“ ergänzt werden sollten. Im Rückblick lässt sich erkennen, dass hier eine damals in ganz Westeuropa und so auch in der Bundesrepublik auf Grund von hoch gehaltenen Asylbewerberzahlen innenpolitisch heftig diskutierte Frage auf die internationale UN-Agenda gesetzt wurde.69 Schließlich wurden zwei Institutionalisierungen genannt: Die bisher befürwortete Schaffung eines „Hochkommissars für Menschenrechte“ wurde eher kritisch gesehen, da hierdurch die „mühsam entwickelten Durchsetzungsmechanismen des UN-Menschenrechtssystems“ durch eine neue, schlecht ausgestattete Institution infrage gestellt werden könne. Dies wurde dann 1993 nach der Wiener Menschenrechtskonferenz geschaffen. Auch die von Genscher lange betriebene Idee eines Menschengerichtshofes lasse sich derzeit kaum durchsetzen, da die je nationalen Rechtsvorstellungen zu unterschiedlich seien. Auf europäischer Ebene zeigte sich das Auswärtige Amt vor allem mit dem Ausgang der dritten KSZE-Folgekonferenz in Wien Anfang 1989 zufrieden. Der bundesdeutsche Delegierte Graf Rantzau sah fast alle bundesdeutschen Ziele im Rahmen gemeinsam erarbeiteter westlicher Positionen erreicht, ja mehr als man erwartet hatte. Insbesondere bei den menschlichen Erleichterungen – das betraf vor allem den bisherigen Ostblock – sah man jetzt „stringente Texte“ ohne „escape clauses“. Das waren Entwicklungen, die ganz wesentlich auf sowjetische Glasnost zurückgingen.70 Menschenrechtspolitik, hier verstanden vor allem als Durchsetzung menschlicher Erleichterungen, schien zum wichtigen Konstruktionsmerkmal des entstehenden europäischen Hauses (Gorbatschow) zu werden. Aber auch, dass es dann schnell anders kam und – um im Bild zu bleiben – das Haus in seinen Grundfesten neu konstruiert werden musste, hatte wesentlich mit dem Erfolg der menschenrechtlichen Diskurse der letzten Jahrzehnte zu tun.
69 Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2015, 989–996; Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2002, 360–377. 70 AAPD 1989, Nr. 22. 25.1.1989, 89–92. Vgl. die Ergebnisse von Wien, Nr. 7, 16.1., 28–36 und die Folgekonferenzen mit NGOs und Regierungen in Paris: Nr. 191 und 192 v. 22.6.1989, 842–852.
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Menschenrechte in den Außenbeziehungen der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989
V Schluss Der Menschenrechtsdiskurs in den Außenbeziehungen der Bundesrepublik hatte zwischen 1949 und 1989 einen fundamentalen Wandel durchgemacht. Er wurde selten explizit und herausfordernd geführt, sondern immer eingebettet in andere Interessenlagen. Von den Gründen für Nachkriegsnot und Teilung, die in Rassenkrieg und Vernichtung lagen, und menschenrechtlichen Verbrechen singulärer Art, war dabei nicht die Rede. In der Ära Adenauer bemühten sich der Kanzler und sein Außenminister vielmehr appellierend und mit Interessen argumentierend für einen Zuwachs an Eigenständigkeit und Rechten. Humanitäre Argumente wurden zwar gebraucht; eine direkte Berufung auf Menschenrechte gab es im offiziellen internationalen Verkehr selten. Das ist zu verstehen durch einen massiven Druck von Vertretern der vermeintlichen Opfer des Krieges in der bundesdeutschen Gesellschaft, die von Flüchtlingen über Kriegsverbrecher bis hin zur Anklage kommunistischer Herrschaft in der DDR führte. Diese Stränge schwächten sich ab, blieben aber generationell erhalten. Insbesondere im Verhältnis zur DDR trat als Nahziel seit den späten 1960er Jahren die Verbesserung der Lebensbedingungen, humanitäre Ziele also, in den Vordergrund, deren Umsetzung mit dem Mauerfall 1989 am Ziel zu sein schien. Seit den 1960er Jahren änderte sich aber der Fokus zunehmend, indem der Blick der wirtschaftlich erstarkten Mittelmacht auch auf Menschenrechte in Diktaturen, in und auch außerhalb Europas gelenkt wurde, Das betraf primär „rechte“ Diktaturen, wurde aber zu einem wichtigen Faktor der entsprechenden bi- oder multilateralen Beziehungen. Diese wurden darüber hinaus mehr und mehr im Rahmen multinationaler Bindungen Bonns formuliert. Menschenrechte blieben aber – wie am Beispiel von Egon Bahr gezeigt – für viele Situationen in einem Spannungsfeld zur Sicherheitspolitik, sprich: zu den Gefahren einer militärischen Konfrontation im Zuge eines drohenden Nuklearkrieges. Formulierungen einer Einheit von Friedens- und Menschenrechtspolitik verdeckten immer stärker einen Gegensatz, aus dem heraus pragmatische und fallweise Kompromisse gefunden und Entscheidungen getroffen wurden: (Erhaltung des atomaren) Friedens oder Menschenrechte. So ließ sich das vom Ergebnis her zuspitzen. Das wurde exemplarisch an Erwägungen aus dem Auswärtigen Amt unter Außenminister Genscher 1986/87 gezeigt. Stille Diplomatie, öffentliches Vorgehen, völkerrechtliche Vereinbarungen, menschenrechtliche, sicherheitspolitische und nicht zuletzt wirtschaftliche Interessen bildeten bereits in der Zeit bis zum Mauerfall eine vielfältige Matrix von Aktionsmöglichkeiten, die je neu auszuhandeln waren. Aber der Bezug auf Menschenrechte war bis dahin zu einem konstituierenden Faktor der bundesdeutschen Außenpolitik geworden. *
V Schluss
Nach dem Vollzug der deutschen Einheit wurde am 21. November 1990 die Charta von Paris für ein neues Europa von 32 europäischen Staaten, USA und Kanada unterzeichnet.71 Menschenrechte spielten hierin eine zentrale Rolle und weiteten zumal für die deutsche Außenpolitik die Bedeutung von Menschenrechten als zentralem Faktor der internationalen Politik.
71 [Zusatz 2022: Text der Charta: https://www.bundestag.de/resource/blob/189558/ 21543d1184c1f627412a3426e86a97cd/charta-data.pdf (7.11.2022); vgl. AAPD 1990, Dok. 390; Jan Eckel, Daniel Stahl (Hg.), Human Rights since 1990, Göttingen 2022, besonders Einleitung Eckel; vgl. Andreas Wirsching, Die Charta von Paris, die Vision einer liberalen Weltordnung und die deutsche Außenpolitik 1990–1998, in: Jahrbuch zur Liberalismusforschung 33, 2021, 169–190.]
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Völkerrecht im Ost-West-Konflikt 1945–1991 Die Sicht eines Historikers „La paix par le droit“ – Frieden durch Recht war eine der großen Parolen der aufkommenden Friedensbewegungen im 19. Jahrhundert gewesen. Theodore Ruyssen gab sogar eine Zeitschrift dieses Titels heraus. Ließen sich Machtbeziehungen herkömmlichen Stils nicht zunehmend durch Verrechtlichung ablösen, konnte die Gewöhnung an rechtliche Mechanismen der Staatenbildung im Inneren – des modernen Nationalstaats – nicht analog auch für die Reform der Staatengemeinschaft gelten? Die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts bedeuteten in dieser Hinsicht Ambivalentes: Gleichermaßen bestärkten und schwächten sie eine solche Sicht. Es erscheint sinnvoll, als Eckpunkte des Themas Überlegungen vor und nach dem Ende der hier zu erörternden Zeit vorzustellen, nämlich die Diskussion der Alliierten noch während des Zweiten Weltkrieges über eine neue Weltordnung einerseits, andererseits die inneramerikanische Diskussion nach dem Ende des Kalten Krieges, die wiederum eine neue Staatenordnung anstrebte. Beginnen wir im Weltkrieg: Teheran, 29. November 1943. Es war die erste Gipfelkonferenz der Kriegsverbündeten in der Anti-Hitler-Koalition. Franklin D. Roosevelt und Josef Stalin trafen sich zuvor zu einem Höflichkeitsbesuch zu zweit und besprachen einige Dinge, die ihr dritter Partner, Winston Churchill, nicht unbedingt mitzubekommen brauchte.1 Der US-Präsident schlug eine mehrschichtige Weltorganisation vor. Diese solle aus einem Polizeikomitee bestehen, welches vier Länder umfasse. Unschwer erkennt man darin die Konzeption der „four policemen“, des Sicherheit stiftenden Kerns der vier Weltmächte. Das waren zunächst die USA, Sowjetunion, Großbritannien, welche der US-Präsident schon länger als Basis betrachtete. Nach damaligem Stand sollte sodann noch China hinzukommen. Dieses Gremium müsse schnell und 1 Alexander Fischer (Hg.), Teheran, Jalta, Potsdam. Die sowjetischen Protokolle der „Großen Drei“, 2. Aufl. Köln 1973, 44–46; Keith Sainsbury, The Turning Point. The Cairo, Moscow and Teheran Conferences. London 1985. Zum Rahmen etwa: Warren F. Kimball, Forged in War. Roosevelt, Churchill, and the Second World War, New York 1997; Andreas Hillgruber, Der Zweite Weltkrieg. Kriegsziele und Strategie der großen Mächte, 6. Aufl., hrsg. von Bernd Martin, Stuttgart 1996, 127 ff.; Jost Dülffer, Jalta, 4. Februar 1945. Zweiter Weltkrieg und Anfänge der bipolaren Welt, 2. Aufl. München 1999. – Zum Verhältnis „four policemen“ und Weltorganisation: Georg Schild, Bretton Woods und Dumbarton Oaks, London 1995 (verdeutlicht u. a. das wahltaktische Schwanken Roosevelts zwischen Großmächten und Internationalismus im Jahr 1944); Robert C. Hilderbrand, Dumbarton Oaks. The Origins of the United Nations and Postwar Security. Chapel Hill 1990, bes. 30–66. – Seit dem Erstdruck 2010 sind eine Fülle von neuen substanziellen Studien zum Thema erschienen; nur einige wenige wurden in den Anmerkungen nachgetragen.
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aus dem Stand handeln können. Ferner solle es daneben ein Exekutivkomitee aus zehn bis elf Ländern geben. Das solle ebenfalls die Großen Vier umfassen, angereichert jedoch durch regionale Vertreter der einzelnen Kontinente, sowie Experten für Landwirtschaft, Nahrung, Wirtschaft, Gesundheit. Schließlich solle es geben: ein „allgemeines Organ, in dem jedes Land, soviel es will, sprechen kann und in dem kleine Länder ihre Meinung zum Ausdruck bringen könnten“, Stalin war grundsätzlich einverstanden, meinte nur, die Kleinen würden sich vielleicht nicht mit bloßen Meinungsäußerungen zufriedengeben, und gab seinerseits zu erwägen, neben (oder auch an Stelle) der allgemeinen Weltorganisation regionale Organisationen etwa für Europa oder den Fernen Osten einzurichten. Er fügte hinzu, auch Churchill denke an solche regionalen Organisationen, vielleicht gebe es ja auch eine für Amerika? (Natürlich gab es die schon). Es gehe einfach darum, künftig auf sicher zu erwartende deutsche, aber auch japanische Aggression schnell reagieren zu können. Der Idee, dazu geeignete Stützpunkte bereits im Frieden zu besetzen – also natürlich auch von Seiten der Sowjetunion –, stimmte Roosevelt (damals noch) „hundertprozentig“ zu. Szenenwechsel: Jalta, 6. Februar 1945.2 Die „Großen Drei“, Churchill, Roosevelt und Stalin, trafen sich zum zweiten „Gipfel“. Friedenswahrung für die nächsten fünfzig Jahre sei, so Roosevelt, das Ziel der neuen Weltorganisation. Stalin stimmte zu; für die Lebenszeit der jetzigen Großen Drei sei der Frieden gewährleistet. Aber was werde danach, in fünfzig Jahren sein? „Die wichtigste Voraussetzung für die Erhaltung eines dauerhaften Friedens sei die Einheit der drei Großmächte. Bleibe diese Einheit erhalten, sei die deutsche Gefahr nicht furchtbar. [China und Frankreich könnten hinzukommen] Deshalb komme der Frage der zukünftigen Satzung der internationalen Sicherheitsorganisation eine solche Bedeutung zu.“ Alle Drei waren sich einig, dass dabei die Abstimmungsmodalitäten – nämlich das Vetorecht der Großmächte – im künftigen Sicherheitsrat entscheidend sei. Die Vereinten Nationen wurden auf der Basis dieser Konstruktion gegründet und bilden somit seit 1945 den Kern institutionalisierter rechtlicher weltweiter Verpflichtungen. Bekanntlich glückte die einvernehmliche Friedensstiftung schon sehr bald nicht so gut, es gab Konflikte, die viele den „Kalten Krieg“ nennen, und knapp 50 Jahre später überlegte man sich in Washington erneut, wie denn die künftige Weltordnung aussehen solle. Seit Herbst 1991 (die Sowjetunion gab es damals noch – sie erlosch erst Ende dieses Jahres) erstellte im Pentagon ein Komitee unter dem Präsidenten George H. W. Bush, geleitet von Verteidigungsminister Richard Cheney und seinem Stellvertreter Scooter Libby, ein Dokument. Man nannte dies eine Defense Planning Guidance.3 2 Fischer (Hg.), Teheran (wie Anm. l), 123–132. 3 https://nsarchive2.gwu.edu/nukevault/ebb245/index.htm(17.11.2022) darin die Einzeldokumente, bes. Entwurf vom 18. Februar 1992. Einige dieser Planungen sind heute zensiert (Schwärzungen),
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Mit von der Partie waren als Diskutanten u. a. Colin Powell und Paul Wolfowitz – alles Personen, die in den künftigen Regierungen von Präsident George W. Bush (2001–2009) zeitweilig bedeutende Ämter innehatten. Was war die Basis? Die Sowjetunion gebe es nicht mehr; auf dem eurasischen Kontinent hätten ihre Nachfolgestaaten zusammen immer noch das größte militärische Potenzial aufzuweisen. Aber der Weltfrieden oder auch das restliche Europa werde auf vorhersehbare Zeit davon nicht mehr bedroht. Stattdessen müsse man sich darauf einrichten, dass für westliche Sicherheit aus anderen Regionen Bedrohungen kommen könnten, die man aber hoffentlich gerade am Persischen Golf – durch erfolgreichen Krieg – abgeschreckt habe. Stattdessen seien jedoch low intensity conflicts auf mehreren Ebenen entstanden, die für die westliche Sicherheit gefährlich werden könnten. Our strategy must now refocus on precluding the emergence of any potential future global competitor. But because we no longer face either a global threat or a hostile, nondemocratic power dominating a region critical to our interests, we have the opportunity to meet threats at lower levels and lower costs – as long as we are prepared to reconstitute additional forces should the need to counter a global threat re-emerge.
Bis 1999 könne man sich in den Militärplanungen darauf einlassen, in allen Weltregionen mit nur geringeren Kosten präsent zu sein. Das solle möglichst im Bündnis mit den Alliierten in der NATO und anderswo geschehen. Aber man müsse auch der Möglichkeit eines Alleingangs der USA entgegensehen und die Fähigkeit entwickeln, wider eine entsprechende Gegenmachtbildung zu wirken. Auf den Punkt gebracht: nach Auffassung der damaligen Planer im Verteidigungsministerium in Washington gab es nur noch einen „Policeman“, der mit militärischen Mitteln ordnende und damit Recht setzende Kompetenzen für die Weltordnung beanspruchte. Selbstverständlich sind die informellen Gespräche der Großen Drei und die noch informelleren des internen Pentagon-Komitees für die Ausrichtung einer zweiten Amtszeit George H. W. Bushs (er wurde dann nicht bestätigt und William Clinton folgte für acht Jahre) nicht ganz zu vergleichen. Aber die hier entwickelten Denkhorizonte lassen doch anders als die „glatteren“ öffentlichen und offiziellen Dokumente erkennen, welche Leitlinien und Denkmuster die Staatengesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur auf Seiten der USA tatsächlich bestimmten.
waren jedoch früher schon unautorisiert veröffentlicht worden. Das ergibt sich aus dem Vergleich mit einem zeitgenössischen und ausführlicheren „Leck“ in der New York Times vom 8. März 1992, gegenüber gestellt in: http://www. gwu.edu/-nsarchiv/nukevault/ebb245/doc03_extract_nytedit.pdf (7.11.2022); die letztlich verabschiedete Version war wohl sprachlich vorsichtig und verklausulierter formuliert.
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Es sollte bereits hier deutlich sein, dass eine Verständigung der Großmächte – so lange es denn mehrere gab – oder eine Dominanz der einen Großmacht USA, für welche die Verbündeten eine willkommene Ergänzung darstellten, die Basis von militärisch gestützter Weltpolitik darstellten. Dick Cheney, der Vizepräsident der acht Jahre von George W. Bush, erfand ja eine weltweite Präsenz der USA, gestützt auf die modernste Technologie und mit möglichst geringen Kosten, nicht neu. Bereits nach 1945 hatte sich unter Präsident Harry S. Truman eine Konfrontationsstrategie ausgebildet, die nach Vorherrschaft strebte. „We can within the next several years gain preponderant power“, schrieb Paul Nitze, Chef des Political Planning Staff, Mitte 1952 an das State Department.4 Neben Stärke im Zentrum müsse man „strength at the periphery“ entwickeln sowie das Ziel anstreben: „retraction of Soviet power and change in the Soviet system“. Doch sei das ein langer Prozess, zu dem man zunächst einmal überall auf der Welt Stützpunkte erwerben oder ausbauen müsse, um die Möglichkeiten zum Handeln überall da zu haben, wo eine konkrete Bedrohung aufschien. Die Basis der roll-back-Politik wurde hier entwickelt, die dann allerdings in der Praxis auf große Schwierigkeiten stieß, wie sich Präsident Dwight D. Eisenhower und seinem Außenminister John Foster Dulles bald erschloss, da sie die Gefahr eines Weltkrieges zur Basis ihres Kalküls machten. Es ist unbekannt, ob Richard Cheney die Einschätzungen seines früheren Vorgängers Paul Nitze kannte – die er ja durchaus in späterem direktem Kontakt von diesem erhalten haben könnte, denn Nitze als Veteran der US-Sicherheitspolitik seit Ende der 1940er Jahre war bis Ende der 1980er als Regierungsberater aktiv und starb erst 2004, während Cheney bereits 1975 zum Sicherheitsberater für Präsident Richard Nixon avancierte.5 Auch wenn ein personeller Einfluss nur Hypothese ist, gelten die intellektuellen Denkmuster dennoch zumindest für einen wichtigen Strang US-amerikanischer Weltsicht: Um diese geopolitischen Großmachtstrategien zu entwickeln, reichte ein sehr viel allgemeinerer Zug amerikanischen weltpolitischen Denkens. Imperiale Weltsteuerung und Völkerrecht scheinen auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam zu haben, es sei denn, man nehme eine imperiale Weltsteuerung durch Völkerrecht an. Die Relation von Völkerrecht und internationaler Geschichte nach dem Zwei-
4 Melvyn P. Leffler, A Preponderance of Power. National Security, the Truman Administration, and the Cold War, Stanford 1992, 446. – Natürlich gab es für diese Einschätzung der USA und zumal von der Bedrohung durch die Sowjetunion gute Gründe, welche die Geschichtsschreibung zu den internationalen Beziehungen seither intensiv diskutiert hat. 5 Strobe Talbott, The Master of the Game. Paul Nitze and the Nuclear Peace, New York 1988; seine Memoiren: Paul Nitze, From Hiroshima to glasnost. At the center of decision. A memoir, New York 1989.
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ten Weltkrieg6 hängt wesentlich von der Klärung der Begriffe und Denkmuster ab. Es scheint mir richtig zu sein, dass eine rein „realistische“ Interpretation von Internationaler Geschichte kaum weiterhilft, wonach das Staatensystem im Prinzip ein anarchisch reguliertes Selbsthilfesystem darstelle. Auch Modelle des „liberalen Internationalismus“ helfen nur begrenzt weiter. Es gibt wohl in allen historischen Epochen Regelmäßigkeiten zu verzeichnen, die es den jeweiligen Entitäten oder Akteuren – in neuerer Geschichte zumeist Staaten – möglich machte, ein wechselseitiges Interaktionsverhältnis mit anderen derartigen Entitäten aufzunehmen und zu unterhalten. Ein gewisser Grad an Vertrauen herrschte, Regelhaftigkeiten der wechselseitigen Wahrnehmung und daraus abzuleitende Handlungen lassen sich zwischen zwei „Staaten“ herausarbeiten. Aber diese differierten auch in jeder gegebenen Zeit für eine bestimmte Region. Das kann man Normen nennen. Sie können sich implizit aus dem wiederholten Verhalten ergeben, aber auch kodifiziert sein. Das mag in bilateralen Abmachungen geschehen, die Vorbild für andere sein können. Daraus können mehrseitige Abmachungen oder Verträge entstehen, welche als geschriebenes Völkerrecht bezeichnet werden: ein kodifiziertes Corpus von als verbindlich betrachteten Abmachungen, auf die sich die Vertragsparteien verpflichteten. Damit gewannen sie als – ursprüngliche – Selbstverpflichtung auch eine darüber hinaus reichende Wirksamkeit. Derartige Entitäten unterwarfen sich diesen Verpflichtungen unter dem klassischen pacta sunt servanda und begrenzten damit ihre künftige Aktionsfreiheit, die man im neuzeitlichen Staatensystem auch als Souveränität bezeichnet. Darin liegt eine contradictio in adiecto, ein Widerspruch in sich. Darüber hinaus herrscht Einigkeit, dass solche, im Völkerrecht7 zusammengefassten Regeln, nicht absolut stehen, sondern einem Wandel unterliegen, der von der allgemeinen historischen Entwicklung bestimmt wird, sprich: dem sozialen, politischen, kulturellen Wandel, der letztlich einvernehmlich hergestellt werden sollte. In Verträgen ist dem mit der expliziten oder impliziten clausula rebus sic stantibus oft Rechnung getragen. Wenn dem so ist, dann ist auch Völkerrecht historisch in Zeit (und Raum) zu verorten, historisch konstruiert. Es hat dann nur eine größere Haltbarkeit oder auch einen Härtegrad, als es politisches Handeln im Staatensystem sonst auch hätte. Sein Wandel geht langsamer vor sich und Verstöße gegen vereinbarte Wortlaute und Inhalte von Recht lassen sich diskutieren, postulieren, feststellen und gelegentlich auch sanktionieren. Dadurch legten sich die jeweiligen Entitäten Schranken auf, die sie einhielten – oder auch nicht.
6 Methodisch sehr nützlich: David Armstrong, Theo Farrell, Helene Lambert, International Law and International Relations, Cambridge 2007. 7 Zupackend etwa: Stephan Hobe, Einführung in das Völkerrecht. Begründet von Otto Kimminich, 9. Aufl. Tübingen/Basel 2008.
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Entitäten – ich habe bewusst allgemein formuliert, denn diese Entitäten sind zumeist und zumal bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als Staaten definiert, die sich durch legitimierte Institutionen und deren Repräsentanten, Politiker, ausweisen. Vornehmlich für Fragen von Sicherheit, Krieg und Frieden trifft das auch zu. Aber ist das gerade für die Zeit nach 1945 noch ein angemessener oder der alleinige Fokus? Internationale Organisationen, aber auch Non-Governmental Organisations (NGOs) gewannen zunehmend Einfluss, spezifische Rechtsräume entstanden supranational und dies mit steigender Tendenz. Kommunikationsprozesse schufen Kommunikationsräume mit Verdichtungen, Regelhaftigkeiten, Normen – ist das noch Recht, internationales Recht oder „Völkerrecht“ (also: Recht der Völker), wie es im Deutschen relativ singulär heißt? Gerade das Verhältnis von Staat und Völkerrecht kompliziert sich dadurch zunehmend oder löst sich gar ganz auf, wie einige meinen. Wenn man von global governance spricht,8 und das mit guten Gründen, reduzieren sich Begriffe wie Staatsverhalten gegenüber selbst übernommenen rechtlichen Verpflichtungen zu Teilbereichen von größeren Kommunikationszusammenhängen, die sicherlich in einer modernen internationalen Geschichte in den Blick zu nehmen sind. Die Thematisierung solcher Geflechte ist sinnvoll und wichtig, nähme diesem Beitrag aber jede, auch heute noch mögliche Trennschärfe. Internationale Politik und Völkerrecht könnten sich sonst auflösen in transnationale Diskursgeschichte. Das scheint für viele Bereiche inhaltlich zutreffend und methodisch neue Felder zu erschließen. Hier soll ein engerer Brennpunkt dennoch als Teilbereich akzeptiert werden. In dieser global governance spielten auch die sich rapide entwickelnden Institutionen und Verpflichtungen der Weltorganisationen eine gewichtige Rolle. Die Vereinten Nationen sollten seit 1945 eine neue Weltordnung garantieren – das wurde aus den Zitaten der Großen Drei schon deutlich –, die sich vom Völkerbund unterscheiden sollte. Die Voraussetzungen9 waren auch günstiger, waren doch diesmal vom Ansatz her alle akzeptierten Großmächte vertreten; die friedensunfähigen „Aggressoren“ Deutsches Reich, Japan, Italien sollten gleichsam gemeinsam resozialisiert werden, was im italienischen Fall bereits 1947 „gelang“, im japanischen brachte der Friedensvertrag von 1951 eine Integration in den Westen gegen die Sowjetunion und die VR China; nur das geteilte Deutschland brauchte de iure bis 1990, de facto war es spätestens in Form der Bundesrepublik seit 1955 ein
8 Eine gute Ausgangsbasis: Franz Nuscheler (Hg.), Entwicklung und Frieden im Zeichen der Globalisierung, Bonn 2000; Helmut Wilke, Global Governance, Bielefeld 2006. 9 Ausführlicher: Jost Dülffer, Frieden nach dem Zweiten Weltkrieg? Der Friedensschluß im Zeichen des Kalten Krieges [2002], in: ders., Frieden stiften. Deeskalations- und Friedenspolitik im 20. Jahrhundert, Köln 2008, 196–219.
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Teil der internationalen Gesellschaft. Die beiden deutschen Staaten wurden 1972 Mitglieder der UNO. Die Vereinten Nationen, die ihren Namen aus dem gleichnamigen Kriegsbündnis gegen die Aggressormächte von 1942 bezogen, versuchten seit 1945 in ihren Grundstrukturen im Sicherheitsrat und in der Generalversammlung die von den Großen Drei vorab besprochenen Zweckbestimmungen zu koordinieren. Es war ja Stalin, der in Jalta davor gewarnt hatte, dass sich die kleineren Staaten in der Vollversammlung wohl kaum mit einem bloßen Rederecht begnügen würden. Diese Großen Drei waren sich einig, dass nur sie die Sicherheit einer neuen Weltordnung garantieren konnten, dass die Kleineren eher Unsicherheit produzierten, dass man sich auf keinen Fall der Situation aussetzen dürfe, dass gleichsam der Schwanz mit dem Hund wedele. Klientelsysteme der einzelnen Großmächte wurden auch nach 1945 als normal und stabilisierend angesehen – und nicht als Bedrohung einer wie auch immer gearteten Weltordnung. Völkerrechtler können besser erklären, wie Sicherheitsrat und Vollversammlung, die beiden zentralen Organe der UN-Charta, austariert wurden. Artikel 2, 1 und 7 hielten ausdrücklich die Staatensouveränität als Basis fest, was einen sicheren Rückzugspunkt bis in die Gegenwart hinein bedeutete.10 Alle internationalen Verpflichtungen, die zugleich mit dieser Charta übernommen und seither weiter entwickelt wurden, konnten daran nichts Grundsätzliches ändern. Sicher war in der UN-Satzung und ihrer Anwendung sehr viel window-dressing gerade gegenüber den kleineren Mächten involviert, die ja eingebunden werden mussten. Die harten Fakten des internationalen Lebens wurden mit dem Bonbon formal nationaler Souveränität als höchstem Wert versüßt. Ganz ähnlich ging es übrigens bei den Friedensverträgen vom 10. Februar 1947 mit den kleineren Kriegsgegnern zu: Die Außenministerkonferenzen der vier Hauptsiegermächte bereiteten in ihren Sitzungen einvernehmlich die Grundzüge vor und arbeiteten Entwürfe für Verträge aus. Dann erst konnten in einer gesonderten Konferenz in Paris alle jeweiligen Kriegsgegner der Italiener, Finnen, Bulgaren, Ungarn und Rumänen ihre eher bescheidenen weiteren eigenen Wünsche einbringen und durchsetzen (die Kriegsgegner mussten dagegen das dann gefundene Diktat mehr oder weniger in integraler Form unterzeichnen. Es konnte aus dieser Entstehung wie auch nach dem Ersten Weltkrieg nur ein mehr oder weniger deutliches Friedensdiktat geben).11 Waren die konkreten Friedensregelungen selbst – wie auch nach 1919 – nicht der neuen Institution anheimgegeben, so drückte sich in der real in Gang kommenden UNO doch sogleich der Gegensatz der Großmächte aus. Über Ursprünge, Ursachen
10 Die Responsiblity to Protect, im UN-System diskutiert seit 2005 und auch angewandt, scheint seither nur fallweise den Primat der einzelstaatlichen Souveränität einvernehmlich durchbrechen zu können. 11 Genauer in diesem Band: Friedensschlüsse, Friedlosigkeit und Friedensrituale, 1945–1990.
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und Verlauf der überwiegend antagonistischen Auseinandersetzung, den manche den Kalten Krieg nennen, den seit Werner Link viele Historiker lieber als OstWestKonflikt bezeichnen, lässt sich trefflich streiten. Hier sei nur hervorgehoben, dass gleich in den ersten Jahren den Protagonisten zwei unterschiedliche „Fehler“ unterliefen, welche die UNO selbst polarisierte und damit in ihren Wirkungsmöglichkeiten nachhaltig beschädigte. Das erste Ereignis war die Irankrise von 1946. Die erste Sitzung des UN-Sicherheitsrats am 26. März 1946 wurde nämlich einberufen, um die Sowjetunion zum Abzug (er war im Krieg ausdrücklich für die Zeit bis nach dem Sieg verabredet worden) aus der iranischen Provinz Azerbaidschan zu zwingen – die Sowjets erklärten, sie hätten dies schon seit dem 2. März begonnen. Weiteren Sitzungen blieb der sowjetische Delegierte zum Teil fern, schließlich wurden die Fragen bilateral zwischen Moskau und Teheran geregelt.12 Halten wir fest: die Sowjetunion legte kein Veto ein, sondern löste die Frage bilateral. Der UN-Sicherheitsrat trat also erstmals und prägend in Erscheinung als angloamerikanisches Druckmittel gegenüber der Sowjetunion. Er war somit von Beginn an ein politisches Instrument der Konfrontation. Das scheint dem rückblickenden Historiker ein Fehler gewesen zu sein, wenn man von der normativen Wünschbarkeit einer kooperativen UNO ausgeht, in der die ständigen Mitglieder kooperierten. Der zweite Fall betraf den Koreakrieg. Hier hatte sich die UNO durch eine ständige Kommission auf Veranlassung der Vollversammlung bereits seit 1947 engagiert. Als jedoch der nordkoreanische Präsident Kim Il-Sung mit Genehmigung der chinesischen wie der sowjetischen Politik am 25. Juni 1950 seinen Angriff auf den Süden startete, beschloss der UN-Sicherheitsrat unmittelbar darauf auf USAntrag, es liege eine Gefährdung des Weltfriedens vor, und genehmigte eine militärische Intervention mit UN-Mandat, die bekanntlich erst drei Jahre später zum Abschluss eines Waffenstillstandes zwischen Nord- und Südkorea führte, der bis heute formal andauert. Was war schiefgelaufen? Die Sowjetunion hatte seit Januar 1950 den Sicherheitsrat (wegen der Chinafrage nach dem Sieg Maos im Vorjahr) boykottiert. Daher war sie auch am 25. Juni nicht vertreten und übte kein Veto aus.13 Falls denn die Sowjetunion zu dieser Zeit noch ein Interesse an einer funktionierenden UNO gehabt hatte, dürfte sie dies nachträglich als Fehler
12 [Umfassend: Roland Popp, Vor der Revolution. Die Vereinigten Staaten und die Permanente Intervention in Iran, 1953–1975, Kapitel: Globalismus und Intervention: Der Aufstieg der USA zur Vormacht in Iran, 1941–1953, 2021, https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-658–33888–6_2 (Sept. 2022).] 13 William W. Stueck, Rethinking the Korean War: A New Diplomatic and Strategic History, Princeton 2002; Bernd Stöver, Geschichte des Koreakriegs. Schlachtfeld der Supermächte und ungelöster Konflikt, München 2013.
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angesehen haben. Sie hätte zwar diesen UN-Krieg durch Veto kaum verhindern können, wohl aber dessen Legitimation. Um es zusammenzufassen: die UNO wurde seit ihrem praktischen Beginn über die Friedensregelung hinaus auf beiden Seiten zum Instrument der konfligierenden Großmachtinteressen. Man gewöhnte sich sehr bald daran, das Muster „freie Welt“ versus „kommunistische Unterdrückung“ auch und gerade in der UNO abgebildet zu sehen. Die sowjetischen Vetos wurden zum Zeichen der kommunistischen Intransigenz; Politiker wie Konrad Adenauer waren sowieso der Meinung, dass die Sowjetunion im Sinne leninscher Taktik potenziell oder real auf längere Sicht die meisten Verträge bräche. Das sah man naturgemäß in Moskau anders, wo alle Argumentationen ebenfalls rechtsförmig gestaltet waren und dem eigenen politischen Vorteil dienten. Das galt zumal für die deutsche Frage. Welche völkerrechtlichen Grundlagen gab es hier? Während man im Westen argumentierte, dass die Vereinbarungen von Teheran, Jalta und Potsdam gleichermaßen gälten, argumentierte die Sowjetunion, dass „Potsdam“ mit seinen Leitlinien der bekannten „4 Ds“ (Demokratisierung, Dezentralisierung, Demilitarisierung und Dekartellisierung) die letzte und damit einzige Verpflichtung darstelle. Die Deutung dessen, was Demokratisierung sei, wurde ebenso wie die weiteren Umgestaltungsziele zum Teil der Konfrontation. Das gleiche gilt, wenn Begriffe wie Selbstbestimmung in Ost und West jeweils von anderen Konnotationen bzw. Voraussetzungen begleitet wurden, welche Rechtsbegriffe zu politischen Kampfbegriffen machte. Das galt gerade für die drei Intensivphasen des Ost-West-Konfliktes um Berliner Blockade/Korea (1948/51), um Berlin- und Kubakrise (1958–1962) und um die Mittelstreckenraketennachrüstung (1979–1983). Völkerrecht, rechtsförmige Argumentation wurde hier zur politischen Waffe, um der Gegenseite dessen Bruch vor den Augen oder Ohren der Weltöffentlichkeit zu zeigen – sprich: der nichtbeteiligten Neutralen, im universalen Klassenkampf östlicher Prägung, aber auch oppositionellen Kräften in den kapitalistischen Staaten und später der Staaten der Dritten Welt. Völkerrecht in der je eigenen Auslegung erhielt in der dichotomischen Welt zwischen Ost und West einen legitimatorischen Anspruch, der über rein politische Interessen hinaus verstärkend wirken sollte. Es kann dennoch nicht die Rede davon sein, dass – wie bei Carl Schmitt – eine völkerrechtliche Ebene dazu diene, Herrschaft abzusichern, indem die politisch konstruierten Großräume ihre eigenen Gesetze konstruierten.14 Das mag deren Binnenverhältnis bis zu einem gewissen Grad bestimmt haben. Vielmehr dürfte mit der Deutung des finnischen Völkerrechtlers Martti Koskenniemi die Ansicht von Hans Morgenthau15 vorzuziehen sein, dass zwar Machtbeziehungen zentral 14 Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des ius publicum Europaeum, Köln 1950. 15 Hans J. Morgenthau, Politics among Nations. The Struggle for Power and Peace, New York 1960 [Nicolas Guilhot, After the Enlightenment: Political Realism and International Relations in the Mid-
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gewesen seien, jedoch eine Verbindung von soziologischem Ansatz und moralischem Impuls Bedeutung erlangt habe – zu letzterem rechnet er dann auch das Völkerrecht.16 Darin liegt wohl eine Weiterführung der an sich schon breit aufgefächerten realistischen Theorie internationaler Beziehungen. Freilich gelte: „The relations between the superpowers were ‘politics’ not law. Or perhaps better, to think of them as law would be to move within a rationalist utopianism.“17 Wenn sich jedoch die Frage nach der Rechtsförmigkeit im konkret ausgetragenen Ost-West-Konflikt auf die Überzeugung zu der rechtlichen Fundierung und damit moralischen Überlegenheit der eigenen Position steigerte, dann konnte daraus eine strukturelle Kompromisslosigkeit des Verhaltens werden, ein potenzieller Kreuzzug. „Universalizability in theory leads automatically to expansion as practice. If my principle is valid because it is universal, then I not only may, but perhaps must try to make others accept it as well.“18 Das scheint mir nicht den Kern des OstWest-Konfliktes als eine Art totaler Konfrontation der Werte zu treffen. Andere Historiker wie Bernd Stöver sehen das anders, wenn sie den antagonistischen Streit gerade auf unterschiedlichen Weltanschauungen, Werten und damit wohl auch diesen dienenden Rechtsordnungen beruhend defi nierten.19 Dass der crusading expansionism zwischen 1945 und 1991 nicht zum Tragen gekommen ist, wäre nach der integralen Kalter-Kriegs-Deutung allein dem Gleichgewicht des Schreckens nuklearer Rüstung und seit den frühen 1960er Jahren der entsprechenden Overkill-Optionen beider Seiten geschuldet. So sehr mir die relative Stabilität (oder selfsustained growth) in diesem Wettrüsten auch als Kategorie sinnvoll benannt zu sein scheint20 , so wenig scheint mir die oft auch in Karikaturen benutzte Metapher der beiden sich gegenseitig an die Gurgel gehenden Kontrahenten die einzige sinnvolle Erklärung zu sein. Die Idee, politische Erpressungsmacht
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Twentieth Century, Cambridge 2017; Udi Greenberg, Weimarer Erfahrungen. Deutsche Emigranten in Amerika und die transatlantische Nachkriegsordnung, Göttingen 2021, 209–240]. Martti Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law 1870–1960, Cambridge 2001, bes. Chapter 6: Out of Europe: Carl Schmitt, Hans Morgenthau and the turn to “international relations”, 413–508. – Diese Beobachtung führt manche Historiker dazu, den gesamten OstWest-Konflikt als „weitgehend entgrenzte politisch-ideologische Auseinandersetzung“ wahrzunehmen – so Bernd Stöver, Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters, München 2007, 21; vgl. auch John Lewis Gaddis, Der Kalte Krieg, Berlin 2007. Koskenniemi, 481 in Zusammenfassung von Morgenthaus Argumenten. Ebd., 490. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang die friedenswissenschaftliche Kategorisierung bei Martin Ceadel, Thinking about Peace and War, London 1987. Bernd Stöver, Der Kalte Krieg, 1947–1991. Geschichte eines radikalen Zeitalters, München 2007. Jost Dülffer, “Self-sustained conflict”. Systemerhaltung und Friedensmöglichkeiten im Ost-WestKonflikt 1945–1991 [2006], in: ders., Frieden stiften (wie Anm. 8), 54–76; demgegenüber eine Phasendifferenzierung dreier Intensivphasen als „Kaltem Krieg“: ders., Europa im Ost-West-Konflikt 1945–1991, München 2004.
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aus Rüstungsvorsprüngen zu ziehen, bildete wohl beim dritten Kalten Krieg der späten 1970er und frühen 1980er Jahre eine Rolle, aber andere Instrumentarien wie die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, die soziale und mentale Zustimmung zu den je eigenen Werten, die kulturellen Attraktionen vor allem von Seiten des Westens als universale, auch in den Osten und die Dritte Welt hineinwirkende Faktoren: all dieses scheint mir gleichfalls von Bedeutung gewesen zu sein und nicht auf eine Formel reduzierbar. Auch in Völkerrechtsfragen dürfte es trotz des Kampfcharakters einen Restkonsens über dessen Nützlichkeit gegeben haben. Diese Aussagen lassen sich zwar großflächig und verallgemeinernd in einem Aufsatz vertreten. Sie bedürften jedoch für einzelne Phasen und wohl auch für einzelne Protagonisten in der großen Auseinandersetzung über die beiden Supermächte hinaus einer starken Differenzierung. Französische Ansätze unterschieden sich von US-amerikanischen deutlich, Christdemokraten in der Bundesrepublik definierten dies anders als Sozialdemokraten. Und innerhalb der britischen Labour Party bestanden zu jeder Zeit ganz divergierende Strömungen zur Einschätzung des Charakters der Auseinandersetzung mit der sowjetischen Macht. Die eingangs angesprochenen Kontinuitäten in den USA wurden gerade dort immer wieder innenpolitisch durch andere Denkrichtungen herausgefordert. Mittlerweile wissen wir auch deutlich mehr über innersowjetische Auseinandersetzungen zumindest in der Zeit nach Stalin nicht nur über Taktik, sondern über Grundlagen der eigenen Außenpolitik. Schließlich: Entspannungsphasen führten zumindest tendenziell zu anderen Einschätzungen der Bedeutung von Recht in der Politik als Zeiten der Konfrontation. Aber gerade in den Rüstungen, dem in vieler Hinsicht zentralen Bereich zunächst der politischen Konfrontation und sodann auch des Abbaus von Blockkonfrontation, spielten rechtliche Vereinbarungen eine wichtige Rolle. Das Wettrüsten in seinen wichtigsten strategischen Komponenten: atomaren Sprengköpfen und Trägervehikeln, aber auch in den Seerüstungen, entwickelte sich für längere Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg anarchisch, eskalierend und konfrontativ. Von Recht war dabei nicht viel die Rede. Daran änderten auch die diversen Verhandlungen im Rahmen des UN-Systems – etwa die Genfer 18-Mächte-Abrüstungskonferenz von 1962 bis 1968 – nichts. Wohl aber begann bei peripheren Faktoren des Wettrüstens die Vereinbarung von einzelnen Nicht-Rüstungs- bzw. Rüstungskontrollschritten, die tatsächlich Schwungkraft gewannen. Gemeint sind der Antarktisvertrag von 1959, der Atomteststoppvertrag von 196321 , der Weltraumvertrag von 196722 .
21 Vojtech Mastny, The 1963 Nuclear Test Ban Treaty: A Missed Opportunity for Detente? in: Journal of Cold War Studies 10, No. 1, 2008, 3–25. 22 Götz Neuneck, Andre Rothkirch, Weltraumbewaffnung und Optionen für präventive Rüstungskontrolle, ISFH-Paper Hamburg 2006 http://www.ifsh.de/pdf/aktuelles/DSF_Space%20final_Endfassung_acro5.pdf (7.11.2022).
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Vor allem aber der Non-Proliferationsvertrag von 1968 markierte hier einen entscheidenden Einschnitt.23 Sie setzten sich bedingt fort24 mit den SALT I- und SALT II-Abkommen von 1972 und 197925 , fielen dann aber in das „Loch“ des dritten Kalten Krieges, bis unter gewandelten politischen Bedingungen unter Reagan und Gorbatschow der Weg für Abrüstung frei war: START I, ab 1982 vorgeschlagen, wurde schließlich 1991 abgeschlossen, die KSE-Verhandlungen entstanden aus der gleichen Konstellation und wurden 1987 mit dem INF-Vertrag, sodann mit dem 1990 unterschriebenen KSE-Vertrag (über konventionelle Rüsrungen) hergestellt. Trotz allen Fehlschlägen oder window-dressing gegenüber der Weltöffentlichkeit mit vorangegangenen Vorschlägen: Hier wurde durch völkerrechtliche, oft bilaterale, dann aber auch multilaterale Verträge ein Abbau des „Gleichgewichts des Schreckens“ erreicht und rechtsförmig festgeschrieben, der zum Ende des Kalten Krieges führte. Das geschah aber eben erst, nachdem er zwischenzeitlich um 1980 nochmals zu einer neuen Intensivphase mit nachhaltigen Bedrohungsängsten geführt hatte. Viel wichtiger scheint aber die Wirkung von Völkerrecht zur Strukturierung von Internationaler Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg in einem anderen Bereich gewesen zu sein: bei der Integration von sich als gleichartig empfindenden Rechtszonen. Gemeint und benannt sei hier nur die westeuropäische Integration, ergänzt zumal im Militärischen durch die transatlantische Dimension. Hier hat es Sinn, von politischem Willen zu reden, der in je neue völkerrechtlich verbindliche vertragliche Abmachungen gegossen wurde, die nach und nach in innerstaatliches Recht, daraus folgend auch innerstaatliche und damit soziale, politische, wirtschaftliche und nicht zuletzt mentale Wirklichkeit umgeformt wurden (Gewiss ging die 23 Jan Bellany u. a. (Hg.), The Nuclear Non-Proliferation Treaty, London 1985; Andreas Wenger u. a. (Hg.), At the Roots of European Security. The Early Helsinki Process Revisited, 1965–1975, London 2008. 24 Quellengestützte Forschungsliteratur nimmt schnell zu: Odd Arne Westad (Hg.), The Fall of Detente. Soviet-American Relations during the Carter Years, Oslo 1997; Raymond L. Garthoff, The Great Transition. American-Soviet Relations and the End of the Cold War, Washington 1994; Norman A. Graebner, R. Dean Burns, J. M. Siracusa, Reagan, Bush, and Gorbachev: Revisiting the End of the Cold War, New York 2008; Paul Lettow, Ronald Reagan and His Quest to Abolish Nuclear Weapons, New York 2005; Leopoldo Nuti u. a. (Hg.), The Crisis of Detente in Europe – From Helsinki to Gorbachev, 1975–1985, London 2008. Silvio Pons, Federico Romero (Hg.), Reinterpreting the End of the Cold War. Issues, Interpretations, Periodizations, London 2006; Richard Rhodes, The Making of the Nuclear Arms Race, New York 2007 [Bernhard Blumenau/Jussi M. Hanhimäki/Barbara Zanchetta (Hg.), New Perspectives on the End of the Cold War. Unexpected Transformations?, New York 2018]. 25 John Newhouse, Cold Dawn. The Story of SALT, 2. Aufl. Washington 1989; Dan Caldwell, The Dynamics of Domestic Politics and Arms Control: The SALT II Ratification Debate, Columbia SC 1991; Strobe Talbott, Endgame. The Inside Story of SALT II. London 1979 [Arvid Schors, Doppelter Boden: Die SALT-Verhandlungen 1963–1979, Göttingen 2016].
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Richtung auch zugleich und parallel von „unten“ nach „oben“). Hier sind gerade die vertraglichen Abmachungen von der Montanunion über die Römischen Verträge bis zu den Verträgen von Maastricht und Amsterdam zu nennen, die häufig zwar in der Top-down-Richtung initiiert, letztlich und langfristig aber breite gesellschaftliche Wirkungen entfalteten. Umgekehrt machten sich nationale Politiken ihrerseits gegenüber zu weit reichenden Ansätzen an entsprechenden Verträgen fest – die gescheiterte Europäische Verteidigungsgemeinschaft von 1952, die drei zunächst abgelehnten britischen Beitrittsgesuche zur EWG oder Margaret Thatchers Nachbesserungsforderungen der 1980er Jahre sind Beispiele für eine Politik, die sich gegen völkerrechtlich drohende oder schon verbindliche Projekte wendete. Derartige Funktionen wären auch für andere Weltregionen mit regionalen Rechtssystemen zu ergänzen. Ich würde die These wagen, dass in mental einigermaßen etablierten Integrationszonen, in Gebieten, in denen ein Grundkonsens über Werte herrscht, auch die Rolle von Völkerrecht wesentlich größer und dienender gegenüber Politik war als in einem so antagonistischen System, wie es der Ost-West-Konflikt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war. Dennoch findet sich auch im Grundkonflikt ein Element der Befriedung durch Recht. Seit 1954 strebte die Sowjetunion nach einer europäischen Sicherheitskonferenz, welche ihr primär die im Zweiten Weltkrieg erreichten Einflussgebiete völkerrechtlich sichern sollte. Nach langen Stufen von Sondierungen kam nach dem Abschluss der Ostverträge der Bundesrepublik Deutschland und der Anerkennung einer Beteiligung der USA und Kanadas bei den Verhandlungen eine Vereinbarung zustande: mit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki am 1. August 197526 hatte sich der Fokus gegenüber den Anfängen deutlich verlagert: mit „Korb 3“ und anderen „weichen“ Elementen waren Menschenrechtsfragen erneut reguliert worden und aus unveränderlichen Grenzen waren in westlicher Deutung unverletzliche geworden – um nur zwei markante Kodifizierungssektionen zu nennen. Wie Wilfried von Bredow als einer der ersten, aber immer noch einleuchtend dargelegt hat27 , entwickelte sich hieraus eine Dynamik an Folgekonferenzen über Belgrad, Madrid und Wien, welche eine Fülle von gesellschaftlichen Aktivitäten, nicht zuletzt auch in den Staaten des sowjetischen Vorherrschaftsbereichs, bündelten. Darin lag ein wichtiger Beitrag in der mentalen Auflösung des Ost-WestKonflikts: Der Prozess führte bis in die Gegenwart hinein zur Institutionalisierung in der OSZE und zugleich einer Abschwächung des dynamischen Prozesses der
26 Wilfried Loth, Helsinki, 1. August 1975. Entspannung und Abrüstung, München 1998; Olaf Bange, Gottfried Niedhart (Hg.), Helsinki and the Transformation of Europe, New York/Oxford 2008; Wilfried Loth, Georges Henri Soutou (Hg.), The Making of Detente. Eastern and Western Europe in the Cold War, 1965–1975, London 2007. 27 Wilfried von Bredow, Der KSZE-Prozeß. Von der Zähmung zur Überwindung des Ost-WestKonflikts, Darmstadt 1992.
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Anfangsjahre. Bemerkenswert ist daran vor allem, dass sich diese Wirkung auch über den dritten Kalten Krieg um die Mittelstreckenraketen (Euromissiles) hinzog und nicht durch diesen völlig überwölbt wurde. Über die genaueren Zusammenhänge scheint mir noch auf lange Sicht wissenschaftlicher Klärungsbedarf zu bestehen. Wenn die oben gemachte Aussage akzeptiert wird, dass die UNO in der Realität des Ost-West-Konfliktes als Akteur, als Forum und als Rechtssystem gleichermaßen präsent war und somit eine Rolle spielte, dann war sie dennoch nicht zentral für diese Auseinandersetzung. Diesem Befund sind zwei wichtige Faktorenbündel hinzufügen, welche die Bedeutung des Völkerrechts für die internationale Politik seit dem Zweiten Weltkrieg positiv unterstreichen. Das eine ist das humanitäre Völkerrecht, das andere die Dekolonisierung. Beides hängt mit einigen Zwischenschritten zusammen. Dass Dekolonisierung28 ein langfristiger Prozess sein würde, war bereits 1945 absehbar und in der UNCharta in Artikel 73 für den Umgang mit „Hoheitsgebieten ohne Selbstregierung“, jedoch im Detail vage, formuliert worden. Von der Unabhängigkeit Indiens und Pakistans 1947 an beschleunigte sich jedoch dieser primär politische Prozess zunehmend, nicht zuletzt durch die Schwächung der Kolonialmächte im Gefolge des Zweiten Weltkriegs bedingt. Es war zumal die teils aktive, teils passive Politik Frankreichs und Großbritanniens seit 1957, welche eine Lawine der nationalen Unabhängigkeit vor allem in Afrika hervorrief. Das hatte wenig zu tun mit Artikel 73 oder dem nachfolgenden Abschnitt XII über das Treuhandsystem als solchem. Aber immerhin waren, vom Treuhandsystem ausgehend, prinzipielle Pflichten für Treuhandmächte formuliert worden, welche auf die genuinen Kolonialgebiete zurückwirkten und damit indirekt eine dritte, eine Völkerrechtsgröße, in die bisher bilateralen Beziehungen Kolonialmacht – Kolonie hineinbrachten. Staatspräsident de Gaulle in Frankreich erklärte seit 1958, Kolonien könnten die Unabhängigkeit innerhalb oder außerhalb der französischen Union wählen. Prime Minister Harold Macmillan versuchte den winds of change zur Unabhängigkeit Afrikas im Januar 1960 in Südafrika aktiv zu propagieren. Dennoch stellte die UN-Resolution 1514 Mitte 1960 eine neue Qualität der UN-Politik dar.29 Die zu dieser Zeit etwa 40 unabhängigen Staaten der Dritten Welt setzten in Ablehnung eines ganz ähnlichen, von Nikita Chruschtschow eingebrachten Textes eine
28 Muriel E. Chamberlain, Decolonization: The Fall of European Empires, 2. Aufl. Oxford 1999; John Darwin, Britain and Decolonization. The Retreat from Empire in the Post-war World, London 1988; Odd Arne Westad, The Global Cold War. Third World Interventions and the Making of Our Times, Cambridge 2005; Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, 4. Aufl. München 2003 [Lorenz M. Lüthi, Cold Wars. Asia, the Middle East, Europe, Cambridge 2020]. 29 Evan Luard, A History of the United Nations, Vol. 2: The Age of Decolonization, London u. a. 1989,175–187.
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Resolution durch, welche mit Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht aus Artikel 73 der UN-Charta die staatliche Unabhängigkeit als Prinzip formulierte. Das geschah einstimmig, mit 89 positiven Stimmen bei nur neun Enthaltungen. Diese erste bedeutsame Dritte-Welt-Initiative der UN setzte als Deklaration der Generalversammlung sicher kein verbindliches Völkerrecht, signalisierte aber einen politischen Kurswechsel dieser Frage in der UN in der Form rechtlicher Verpflichtungen, allerdings – wie bei Resolutionen der Generalversammlung, aber eben auch bei härteren Rechtsprinzipien üblich – ohne genaue Handlungsstrategie. Das löste – so Evan Luard – die Dominanz des Westens in der UNO ab und ließ künftig gerade in Fragen der Dekolonisierung Mehrheiten aus Dritter Welt und sozialistischem Lager zu, die allerdings nur in der General Assembly zum Tragen kommen konnten. Die BlockfreienBewegung insbesondere stellte fortan unter der aktiven Mitwirkung der Volksrepublik China und Kubas eine in vielen Zügen antiwestliche Mehrheit in der UNO, welche amerikanische und andere westliche Vetos fortan häufiger machte. Die Rolle von Völkerrecht in der mehr oder weniger antagonistischen Welt des Ost-West-Konflikts zu analysieren, heißt aber auch, weitere zentrale Teile der UN-Tätigkeit wenigstens zu benennen. Die UN Friedensmissionen, angefangen von den ersten Blauhelmen nach der Suezkrise von 1956 und dem Einsatz im vormals belgischen Kongo 1960 stellten wichtige Etappen dar. Die gesamte Tätigkeit des ECOSOC hat ein transnationales Netz an Institutionen und daraus folgend völkerrechtlichen Bindungen geschaffen, welches nicht nur die Staaten, sondern auch die Gesellschaftswelt (Ernst Otto Czempiel)30 zunehmend durchdrangen oder anders gesagt: eine „Gesellschaftswelt“ quer zu den herkömmlichen Staaten erst schufen oder bestehende intensivierten. Wirtschaftsprogramme aller Art haben besonders die Probleme der dekolonisierten Welt nachhaltig, im Positiven wie Negativen, gestaltet.31 Vom BrettonWoods-System um Weltbank und Währungsfonds angefangen über UNDP bis zur ILO und Foren wie UNCTAD sind eine Fülle beratender, verbindlich beschließender und Geld aufbringender Institutionen zu nennen, welche die Welt nachhaltig veränderten. Die unabhängig davon, teils aber auch im Gefolge oder in loser Anbindung entstandenen NGOs bis hin zu Greenpeace und Amnesty International haben neue Formen der transnationalen Beziehungen geschaffen. Hilfsorganisationen von Flüchtlingshilfsorganisationen über UNICEF bis hin zur UNESCO sorgten im UNO-System für Kommunikation und Hilfe, die tief in Gesellschaften hinein reichte. Neue Politikbereiche wie Umwelt- und Klimapolitik bilden seit der Gründung 30 Ernst-Otto Czempiel, Kluge Macht. Außenpolitik für das 21. Jahrhundert, München 1999. 31 Von historischer Seite ausgezeichnet zusammengefasst bei Paul M. Kennedy, Parlament der Menschheit. Die Vereinten Nationen und der Weg zur Weltregierung, München 2007, Kapitel 4, 5, 7 [Thomas G. Weiss, Sam Daws (Hg.), The Oxford Handbook on the United Nations, Oxford 2020].
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von UNEP 1972 Kommunikations- und Aktionsplattformen aus, die in anderer Form als im 19. Jahrhundert einen neuen Internationalismus schaffen. An dieser Stelle sei nur noch auf zwei Abkommen hingewiesen: 1. die Rolle der UN-Menschenrechtskonvention von 1948. In ihr, so formulierte es Paul Kennedy, „konstituieren [sich] die Rechte der Zivilgesellschaft“32 . Das bezog sich auf deren unmittelbaren Inhalt, aber auch auf eine Fülle von Folgevereinbarungen. Genannt sei hier nur 2. die in den gleichen Tagen 1948 unterzeichnete Genozidkonvention33 , welche zumeist keine direkten Folgen für politische Aktionen hatte. Zumindest in der hier zur Debatte stehenden Zeit verhinderte die Blockade des Ost-WestKonflikts eine nachhaltige Anwendung der formulierten Prinzipien – aber auch die latente Durchlöcherung von eigenstaatlicher Souveränität führte dazu, dass etwa die USA die Genozid-Konvention erst 1988 unter Ronald Reagan ratifizierten – und dann noch mit Vorbehalten. Dennoch gingen von hier aus Tiefenwirkungen aus: die Verankerung wichtiger Teile in nationalen Verfassungen, nationalen Politiken34 , aber auch in regionalen oder supranationalen Vereinbarungen mit gelegentlich stärker bindendem Charakter. Man konnte sie – so einer der führenden Völkerrechtler in dieser Frage35 – in den siebziger oder achtziger Jahren als eine historical curiosity ansehen, ähnlich wie frühere Verpflichtungen gegen den Sklavenhandel: Symbolpolitik allein. Wenn die Europäische Konvention der Menschenrechte von 1950 bereits schneller unmittelbare Wirkungen entfaltete und damit hier genannt wird, ist auf ihre Erneuerung und Ausweitung in der KSZE-Schlussakte von 1975 hinzuweisen, aber auch für Afrika gibt es eine analoge Übernahme seit 1981/1987. Trotz aller Berufung auf Menschenrechte kann kein Zweifel bestehen, dass seit dem Zweiten Weltkrieg Menschenrechtsverletzungen, von Rassismus, Klassenkampfunterdrückung – bis hin zum Genozid wie in Kambodscha oder Ruanda in unserer Periode – nicht aufgehört haben, ja sich möglicherweise seit dem Ende des bisherigen Ost-West-Konflikts intensiviert haben. Unmittelbare Wirkungen hat das
32 Kennedy, Kapitel 6, 212; Paul G. Lauren, The Evolution of International Human Rights, Philadelphia 1998; Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.), Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010 [Jan Eckel, Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern, Göttingen 2014; Norbert Frei, Daniel Stahl, Annette Weinke (Hg.), Human Rights and Humanitarian Intervention. Legitimizing the Use of Force since the 1970s, Göttingen 2017]. 33 William A. Schabas, Genocide in International Law. Cambridge 2000 (dt. Genozid im Völkerrecht, Hamburg 2003); John Cooper, Raphael Lemkin and the Struggle for the Genocide Convention, Houndsmills 2008; A. Dirk Moses, The Holocaust and Genocide, in: Dan Stone (Hg.), The historiography of the Holocaust, New York 2004, 533–551 – vgl. meinen Beitrag in diesem Band. 34 Vgl. z. B. Kenneth Cmiel, The Emergence of Human Rights Politics in the United States, in: The Journal of American History, December 1999, 1231–1250; ders., The Recent History of Human Rights, in: American Historical Review, February 2004, 117–135. 35 Schabas, Genocide (wie Anm. 27), 8.
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humanitäre Völkerrecht vor allem in Einzelfällen entfaltet. Aber dennoch ist ein grundlegender Einfluss hierdurch auf die Staaten- wie Gesellschaftspolitik überall auf der Erde in einer Tiefenschicht der gesellschaftlichen Organisation zu verzeichnen. Es stellt eine Art basso continuo für die internationale Politik dar. Wenn nicht alles täuscht, hat diese weitere Verrechtlichung nach dem Ende der bipolaren Welt seit den 1990er Jahren zugenommen; der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag 1998, die Einrichtung eines High Commissioners for Human Rights deuten in diese Richtung. Sie legen aber auch die Deutung nahe, dass in den Zeiten der Ost-West-Konfrontation nach dem Zweiten Weltkrieg, dem „Kalten Krieg“, solche Einrichtungen und entsprechende Wirkungen nicht möglich waren. Rechtsverletzungen haben seit den 1990er Jahren nicht aufgehört, aber die Berufung auf Völkerrecht gerade in seinen menschenrechtlichen Formen oder die Verfolgung von Genoziden hat als Legitimationsgrundlage zugenommen. Damit bin ich am Schluss angelangt. Der Ost-West-Konflikt in seinen eher archaischen Formen der politisch-militärischen und ideologisch-kulturellen Konfrontation ist nach meiner Einschätzung vom Völkerrecht und dessen Normen nur marginal beeinflusst worden. Wohl aber könnten damit die Wege aus der Gefahr36 mit einem Vertrauensgewinn auch durch Völkerrecht indirekt im Zusammenhang gestanden haben. Konstruktivistische Ansätze könnten zur Erhärtung einer solchen Ansicht den Ausgangspunkt bilden, nämlich die Einsicht, dass Wahrnehmungen von historischer Realität auch im internationalen System von Normen wie dem Völkerrecht geprägt sind und sich mit diesen Wahrnehmungen ändern.37 Martti Koskenniemi charakterisierte den Aufstieg und Fall des Völkerrechts mit dem schönen Epitheton, es sei „the gentle civilizer of nations“38 . Das leuchtet als analytischer Befund ein, könnte aber vielleicht mit dem ursprünglichen Zitat von George F. Kennan besser normativ gefasst werden, wenn dieser Historiker und Diplomat von dem gentle civilizer of the national self-interest gesprochen hatte.39 Historische Analyse und normative Ausrichtung für die Zukunft fallen häufig auseinander.
36 Ein Buchtitel von Erhard Eppler, Wege aus der Gefahr, Reinbek 1981 (zum Rüstungswettlauf des dritten Kalten Krieges), mit dem er indirekt auf einen Titel von Carl Friedrich von Weizsäcker, Wege in der Gefahr, München 1976, antwortete. 37 Armstrong, Farrel Lambert, International Law (wie Anm. 5), 95–109, hier nehmen die Autoren drei Faktoren an, die zur „compliance“ mit dem Völkerrecht führen können: persuasion, cogniscence, habit (109): „compliance becomes a matter of habit“. 38 So sein Buchtitel (Anm. 11); er schließt mit dem Wert einer “culture of formalism in trying to account for the possiblity of democratic politics in an era deeply suspicious both of universalist ideologies and the bureaucratic management of social conflict by bargaining between interest groups. Between the Scylla of Empire and the Charybdis of fragmentation, the culture of formalism resists reduction into substantive policy, whether imperial or particular.”, Ebd., 504. 39 Zitiert nach ebd., 472.
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Sie zusammenzubringen, bleibt eine Aufgabe für die Zukunft. An völkerrechtlichen Instrumentarien mangelt es nicht, wohl aber an einer politischen Umsetzung. Zugleich gilt, dass die angesprochenen „nationalen Interessen“ in Zeiten einer zunehmend globalisierten Weltgesellschaft kaum mehr aus sich selbst heraus wahrgenommen oder gar gelöst werden können. Internationale Kooperation wird im Zeichen von globalen Klimaproblemen, Bevölkerungswachstum und Weltwirtschaftskrise wichtiger auch für die Wahrnehmung und Aktionen bei den durch Wählerinteressen zu legitimierenden Regierungen. Jedoch hat es den Anschein, dass dies im Ost-West-Konflikt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark in den Hintergrund gedrängt worden ist – mit materiellen und mentalen Kosten für alle und bis heute [2010].
Friedensbewegungen und Friedensbedingungen
Global Governance und Weltregierung seit dem 19. Jahrhundert Ein Essay Governance, verstanden als zwischenstaatliches oder transnationales System von Normsetzung und Institutionalisierung, ist ein auf die Gegenwart gemünzter Begriff der letzten 20 Jahre; in einer näheren und ferneren Vergangenheit geht es um Vorläufer oder funktionale Äquivalente hierfür1 . Man kann darin recht unterschiedliche Elemente unterscheiden, hier werden drei für zentral gehaltene Faktoren benannt. Dabei gehe ich nicht davon aus, dass sich diese einander tendenziell ablösen, sondern sich vielmehr nacheinander entwickeln und gleichermaßen bis in die Gegenwart weiterwirken. Diese drei Ebenen werden hier knapp für die letzten 200 Jahre vorgestellt: 1. das Konzept und die Realität von Weltregierung, 2. die des Staatensystems und 3. die der nichtstaatlichen Akteure. Erstens: Weltherrschaft oder Dominanz bedeutete, den Kommunikationsbedingungen der jeweiligen Zeit geschuldet, lange Zeit einen Anspruch, der nur bei ethnozentrischem Blick auch eingelöst schien – etwa im orbis terrarum. Nach der napoleonischen Zeit erhielt ein solcher Begriff ebenso wie Universalmonarchie aber einen zutiefst pejorativen Sinn, verbunden mit Assoziationen von Krieg, Zwang und Fremdherrschaft. Friedrich Gentz etwa schrieb über den französischen Kaiser:2 „Die Welt im Frieden erobern und die Waffen führen, das ist seine Sache.“ Auch die reale pax Britannica des späten 19. Jahrhunderts erwies sich ebenso als ein Element zeitweiliger Perzeption (Ferguson 2002, Hull 2014)3 , wie auch die kurzfristige pax Americana der 1990er Jahre eher als Propagandabegriff zur Binnenintegration oder als Feindbild der Fremdperzeption wirkte, als dass sie je Realität hatte. Nationalsozialistische Politik propagierte nicht nur Weltherrschaftsideen, sondern suchte sie mit genozidalen Folgen, aber glücklicherweise unzureichenden Mitteln zeitweilig umzusetzen. Die Grundkonstellation der Konfrontation der beiden Supermächte unterstellte der je anderen Seite ein ideologisches Weltherrschaftsstreben des Imperialismus bzw. des Weltkommunismus, was aber eher der Binnenintegration des
1 Ich danke Marc Frey für hilfreiche Kritik und Anregungen zu dem Beitrag. Entgegen dem Stil der weiteren Beiträge dieses Bandes wurde die zitierte Forschungsliteratur in einem Anhang zusammengefasst. 2 Dülffer, Gewalt, 31. 3 Die Pax Britannica hat viele Züge; andere Autoren sehen sie eher als einen neuartigen Rechtsraum, der die Voraussetzungen für eine weitere und tendenziell globale Ausdehnung seither schuf.
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je eigenen Lagers durch ein Feindbild diente, als dass es den konkreten Absichten und Möglichkeiten der Blockführungsmächte entsprochen hätte. Diesen vielfältigen negativen Weltherrschaftsfantasien gegenüber findet sich eine unüberschaubare Fülle an oft philanthropischen Plänen für eine Weltregierung, die sich auf Immanuel Kant berufen können, dann aber etwa im Rahmen des Völkerbundes von William Rappard, nach 1945 von Albert Einstein oder Bertrand Russell als Individuen, vom World Federal Movement (ab 1947) und anderen Organisationen vertreten wurden. Das zielte in manchen Fällen recht genau auf das, was in der Gegenwart als Fortentwicklung oder Endziel von Global Governance diskutiert wird. Gemeinsam war den meisten hier genannten Formen von Weltregierung oder Universalmonarchie, dass sie europazentrisch bestimmt waren und nur gelegentlich weltweite Bedeutung erlangten und wenn ja, dann oft auch als Instrumente europäisch-transatlantischer Herrschaft genutzt werden konnten. Auf einer zweiten Ebene geht es um zwischenstaatliche Ordnungssysteme, die eine gewisse Stabilität und Regelhaftigkeit aufwiesen. Das europäische Konzert seit 1814/15 ist hierfür das zentrale Beispiel. Es war zunächst angelegt, um ein „Monster“ wie Napoleon I. und damit seine so bereits charakterisierte Herrschaft künftig zu verhindern. Das bedeutete: eine strukturelle Prävention solcher Vorkommnisse durch die Großmächte. Da man Napoleon in vielem als Spross, aber auch als Vollender der französischen Revolution ansah, ging es um eine antirevolutionäre Stabilität der Staaten in einer Staatenordnung des Kontinents, die nicht erneut destabilisiert werden durfte. Dieser Primat der Stabilität setzte eine monarchischlegitimistische Ordnung unter Quarantäne gegenüber demokratisch-liberalen oder nationalen Ansätzen in den Gesellschaften. Das führte zunächst zu militärischen Interventionen in Italien und Spanien und bedrohte auch anderswo Reformen an der überkommenen politischen und sozialen Ordnung. Dies hatte Grenzen und brach als System spätestens Mitte der 1820er Jahre zusammen. Liberale und konservative Ordnungsvorstellungen konkurrierten fortan in Europa. Was übrig blieb, war der konzertierte Ansatz der Großmächte, einen neuen großen Krieg zu vermeiden. Dazu entwickelten sie ein Normensystem, das nur zum Teil kodifiziert wurde. Neben zahlreichen formellen und informellen Konferenzen ging es zentral um das Kompensationsprinzip, nämlich proportionale Entschädigungen für Machtoder Territorialzuwachs einer Macht oder Mächtegruppierung. Es versteht sich, dass sich diese Ordnung gegen die kleineren Staaten richtete und diese bedrohte, ja gelegentlich auch deren Existenz infrage stellte. Dieses System bildete auch den Rahmen für die europäische koloniale Expansion, am deutlichsten markiert in der Berliner Kongo-Konferenz von 1885, als es um die teils formelle, teils aber auch informelle Teilung Afrikas ging und das Prinzip des herrenlosen Landes (terra nullius) dem Ganzen einen völkerrechtlichen Anstrich gab. Diese Wiener Ordnung von 1815, von Matthias Schulz ahistorisch als damaliger
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„Weltsicherheitsrat“ apostrophiert, hielt fast ein Jahrhundert lang (Schulz 2009; 2013; Dülffer 2012). Sie konnte sich auch gegen Großmächte richten und diese von aggressiverem oder militärischem Vorgehen abschrecken, wie etwa Russland in den 1820er und 1870er Jahren oder das Deutsche Reich in diversen internationalen Krisen wie um Marokko 1911. Sie schloss sogar einen letztlich regional begrenzten Eindämmungskrieg gegen eine Großmacht wie Russland im Krimkrieg nicht aus, sie war jedoch flexibel genug, die auf Kriege folgende italienische und dann deutsche Nationalstaatsgründung hinzunehmen. war sie so anpassungsfähig, um auch gelegentlich neue Mitglieder wie Italien als aufstrebende Macht oder das Osmanische Reich als nicht abendländisch geprägt seit 1856 mit heranzuziehen. Es gab seit den 1890er Jahren Tendenzen, auch die USA einerseits, Japan andererseits an einem erweiterten Großmächtesystem neuen Zuschnitts, einem Weltstaatensystem, zu beteiligen. Als Beispiel für Möglichkeiten und Grenzen mag die Kreta-Krise 1895/97 gelten (Dülffer 1986: 13–60), als sich der überwiegend griechische Teil der Bevölkerung der Insel zum wiederholten Male gegen die osmanische Herrschaft auflehnte und den Anschluss an Griechenland anstrebte, vom dem es auch unterstützt wurde. Alle Großmächte entsandten Kriegsschiffe, welche Kreta in Schiffspatrouillen um die Insel herum unter Quarantäne stellten. Sie waren in Chania in der Suda-Bucht stationiert, wo die Kapitäne und Offiziere dieser internationalen Schutztruppe gern in einer Hafenkneipe „Au Concert Européen“ saßen und ihren Wein tranken. Sie verhinderten in der Tat, dass sowohl offizielle türkische als auch griechische Verstärkungen auf die Insel gelangten und den Krieg auf die Insel trugen, nicht aber einen griechischen Angriff auf die Osmanen in Thessalien. Der ging jedoch für die Griechen negativ aus und so wurden sie ob der hohen Schulden unter ein internationales Finanzregime gestellt. Ein solches Regime bildet aber eine dritte Kategorie – neben Weltherrschaft und Mächtekonzert, auf die zurückzukommen ist. Dieses System brach mit dem Ersten Weltkrieg zusammen (anregend dazu: Reimann 2013). Erneut ging es darum, nach einem verlustreichen Krieg, der auch mit hohen Emotionen geführt worden war, in dem etwa die Gegner zu Barbaren erklärt wurden, ein stabileres Normensystem zu schaffen. Hatte Walther Schücking die Ergebnisse der Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 schon vorschnell als Errichtung eines neuen „Staatenverbandes“ gefeiert, so bildete der Völkerbund einen neuen Anlauf dazu, dessen Institutionalisierung immerhin gelang. Er integrierte nunmehr gleichermaßen Groß- und Kleinstaaten. Doch glückte ihm die Friedenssicherung nur unvollkommen (Henig 2010 – anders Herren 2013). Dazu trug einerseits die mangelnde Universalität in einem Zeitalter bei, das nicht erst im Weltkrieg globaler geworden war. Er litt auch daran, dass eine Eindämmung von Großmächten nicht einmal im Ansatz gelang – im Gegenteil verließen Japan, das Deutsche Reich und Italien dieses Instrument von Governance gerade dann, als sie zu eigener Expansion schritten und dabei auch die letzten Bindungen abschütteln
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wollten. Das Sanktionssystem des Völkerbundes erfüllte nicht die erwünschte abschreckende Wirkung, sondern beschleunigte die Erosion der friedenssichernden Wirkung des Völkerbundsystems4 . Man sollte meinen, dass die 1945 neu gegründeten Vereinten Nationen in der Organisation von Frieden einen ganz neuen Schritt versucht hätten, doch das Gegenteil traf zu. Aus der Kriegskoalition entstanden, schrieben zunächst die Großen Drei ihre exzeptionelle Rolle in der Staatengemeinschaft fort, in Stalins Worten: die Hauptsache sei, dass sich die USA, Großbritannien und die Sowjetunion einig seien, dann sei der Frieden für die nächste Generation gesichert (Dülffer 1998: 7–34). Der damaligen Weltsituation angepasst, erhielten die dann auf fünf Großmächte aufgestockten Privilegierten ein Vetorecht und machten zur Grundlage, dass gegen den Willen einer dieser Mächte nichts Entscheidendes in Sachen Weltfrieden und Sicherheit geschehen konnte – ganz anders als im 19. Jahrhundert, als sich Großmächte gelegentlich öffentlich gegen eine von ihnen stellten. Es lässt sich argumentieren, dass sich unter den Bedingungen des fast gleichzeitig einsetzenden Zeitalters atomarer Vernichtungswaffen eine ähnliche Norm der Friedenswahrung durchsetzte wie im Konzert des 19. Jahrhunderts und dass die Gipfelkonferenzen bis zum 2+4-Vertrag von 1990 eine ähnliche Funktion hatten wie die großen Kongresse und Konferenzen jener Zeit. Da sich auch mit dem neuen Globalisierungsschub der siebziger Jahre und nach dem Ende des bisherigen Ost-West-Konflikts an dieser nunmehr anachronistischen Verteilung der Vetos nichts geändert hat, hat sich in einem erweiterten Sicherheitsdenken gerade die Behandlung der wirtschaftlichen und finanziellen Strukturprobleme zu einer Governance durch andere Gremien ausgelagert. Die ursprünglichen G7 der westlichen Industriestaaten hat sich bis 1999 zu einer G20 der global stärksten Industrie- und Schwellenmächte gewandelt. Das alte, militärisch definierte Großmachtsystem hatte sich weiterentwickelt und damit auch der Begriff der Sicherheit eine neue Bedeutung erhalten, der nun sehr viel stärker nicht nur militärisch, sondern auch ökonomisch und sozial gedeutet wurde. Zugleich bedeutete dies jedoch auch eine Ausweitung des bis dahin eher exklusiven Großmachtbegriffs, ja seine Infragestellung als sinnvolle Kategorie überhaupt. Nur die ständigen Mitglieder im UN-Sicherheitsrat behaupten gegenwärtig ihre Rolle mittels ihrer Vetomacht – und insofern zeigt sich auch diese Institution derzeit als nicht anpassungsfähig an neue weltpolitische Realitäten. Die dritte Kategorie, die der transnationalen Vereinigungen, ist die, welche wohl das stärkste Interesse beanspruchen kann (Mazower 2013; Lyons 1963; Herren 2009). Gerade hier bildete sich im 19. Jahrhundert ein vielgestaltiges System aus, welches nicht militärisch abgestützt war und dennoch Staatlichkeit auf allen Ebenen zunehmend überlagerte, ergänzte und veränderte. Das geschah im Kern mit und
4 Die Leistungen des Völkerbundes auf transnationalem Gebiet sind dagegen ganz anders zu beurteilen.
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durch die Staaten, entwickelte sich aber in vielen Fällen auch aus privaten Initiativen, welche den transnationalen Raum auf neue Weise durchdrangen. Grundsätzlich gingen alle diese Ansätze von Europa aus. Ein gesamtamerikanisches System entwickelte sich parallel in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts. Viele griffen aber auch über den alten Kontinent hinaus und erweiterten sich global. Nicht zuletzt dienten sie auch als Instrumente imperialistischer Expansion. So setzte 1815 Großbritannien auf dem Wiener Kongress ein Verbot des afrikanischen Sklavenhandels durch, das sich allerdings mangels transnationaler Institutionalisierung erst langsam in politische und soziale Realität wandelte. Ebenso wurde auf dem Wiener Kongress eine Konvention über die Freiheit der Rheinschifffahrt vereinbart, welche die Gründung einer entsprechenden Kommission nach sich zog, die – in einem geographisch begrenzten Gebiet – seither Governance ausübt. Man sollte sich also hüten, den Beginn von Governance – wie es meist geschieht – erst später im 19. Jahrhundert anzusetzen. Craig N. Murphy hat dies in seinem einflussreichen Buch für die Jahre um 1850 behauptet. Wohl aber verdichteten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend die internationalen Kooperationen. Madeleine Herren hat vom Annus mirabilis 1864/65 gesprochen, als sich die Internationale Telegraphenunion, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und die Internationale Arbeiterunion bildeten. Man kann genauso gut das Jahr 1889 als wichtige Zäsur erkennen, denn in diesem Jahr gründeten sich die Interparlamentarische Union, die World Peace Union und die neue, Zweite Sozialistische Internationale. Diese Häufung an wichtigen Neugründungen stellte aber nur die Spitze eines Eisbergs in einem Kontinuum dar. Die Gründe sind vielfältig und lassen sich formelhaft mit der zweiten industriellen Revolution umschreiben, welche sie vorbereiteten, deren Ausdruck sie aber auch zugleich waren. Viele dieser Gründungen waren Reaktionen auf die Verdichtung, ja das Schrumpfen von Zeit und Raum, die wiederum durch neue technisch-industrielle Entwicklungen befördert wurden (Geyer/Paulmann 2001). Erst unter den Bedingungen von Eisenbahnfahrplänen wurde die Festsetzung von Zeiten wichtig, die von Uhren gemessen werden wurden, die einem einheitlichen Standard unterlagen: Es gab einen erhöhten Regelungsbedarf, der solche, auf Dauer gestellte Vereinigungen zur historisch-logischen Konsequenz machte. Oder anders formuliert: Die Zunahme von Einrichtungen der Governance war Teil und Folge dieser regional sehr unterschiedlich ablaufenden Entwicklungen. Das sagt bereits etwas für unterschiedliche Partizipation dieser im Wesentlichen nordatlantisch-europäischen Gründungen aus. Aber nicht alle Formen von Governance waren neu. Es ist ein von manchen Politikern und Politologen verbreiteter Mythos, dass es ein „westfälisches System“ der Friedensordnung von 1648 gegeben habe, das für die nächsten Jahrhunderte die souveränen Staaten zu alleinigen Akteuren der internationalen Politik gemacht habe. Hier sei nur erwähnt, dass es Religionsgemeinschaften, voran die katholische Kirche, schon seit Jahrhunderten schafften, staatslos in existierende Gesellschaften
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und auch auf Staaten selbst einzuwirken. Handelsgesellschaften, voran etwa die britische East India Company (Keay 2010), praktizierten schon frühzeitig staatsunabhängige Governance. Große Wirtschaftskonzerne mit staatsübergreifenden Netzen fingen im 19. Jahrhundert an, auch wenn sie erst seit dem Ersten Weltkrieg entscheidende Rollen erlangten. Die europäischen Monarchien bildeten zumindest bis zum Ersten Weltkrieg ein Netzwerk aus „Pomp und Politik“ (Paulmann 2000) und nicht nur Hochadelsfamilien, sondern auch bürgerliche Clans entwickelten interne, durchaus zwischengesellschaftlich wirksame und auf Dauer gestellte Netzwerke, die auch staatliche Stellen von innen wie von außen beeinflussten – und das galt zumal für Wirtschaft und Finanzen, wie gerade am Beispiel der Thyssens auch transatlantisch gezeigt wird (Derix 2012). Die Entwicklungen und Arten von Governance in einem engeren Sinne lassen sich nach unterschiedlichen Kriterien klassifizieren. Ihre Form fanden sie oft in Konferenzen oder Treffen, die sich periodisch oder unregelmäßig wiederholten, hierin den genannten Regierungskonferenzen ähnlich. Oft fassten sie Beschlüsse und vereinbarten Normen, die national durchgesetzt, aber auch international kontrolliert oder fortgeschrieben wurden. Das bedingte die Schaffung von ad-hocKomitees oder auch ständigen Organisationen. Staatliche Initiativen, aber auch informelle Netzwerke waren vielfach der Ausgangspunkt gewesen, die nach Verstetigung drängten, aber viele von ihnen blieben für lange Zeit lose und flexibel. Außer Konferenzen und Kongressen fanden diese Treffen ihre Verdichtung, Verbreitung und Ausweitung seit 1851 gerade auf den zahlreichen Weltausstellungen, welche diesen Zeitenwandel medial nach außen trugen und popularisierten. Herkömmlich ist die nach 1945 üblich gewordene Unterscheidung von International Governmental Organizations (IGO) und Non-Governmental Organizations (NGO), die primär etwas über Staatsnähe und -ferne sagen, die darüber Auskunft gibt, ob sie durch Staaten geschaffene Instanzen außerhalb ihrer unmittelbaren Verfügungsgewalt kreierten oder ob sie ganz staatsfern, also zivilgesellschaftlich-privat entstanden oder blieben. Die bereits genannte Rheinschifffahrtsunion gehörte zu ersterem, die sozialistischen Internationalen zum zweiten Sektor. Zwischen diesen gab es typologisch zahlreiche Übergänge, Zwischen- und Mischformen, die aber alle nicht nur zu einer verstärkten transnationalen Kommunikation, sondern auch zu Normen- und Regelsetzungen beitrugen. Man kann sie nach Lebenssektoren und Leitbildern kategorisieren – etwa Brüderlichkeit, Recht, Wissenschaft – wie Mark Mazower es getan hat. Bei Craig N. Murphy sind es die Zwecke: „fostering industry, managing potential social conflicts, strengthening states and the state system, strengthening society.“5 Dem Härtegrad nach kann man sie von den inter-
5 Craig N. Murphy, International Organziation and Industrial Change. Global Governance since 1850, Cambridge 1994, 47 f.
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nationalen Verwaltungsunionen (public international unions) über Mischformen von privaten und staatlichen Veranstaltungen bis zu imperialen Penetrationsinstrumenten (Finanzkontrollen etc.) (Mazower 2013) und schließlich zu informellen Regimen wie dem Freihandel gliedern, wie es Matthias Schulz vorschlägt (Schulz 2013). Im Mittelpunkt des Interesses stehen hier die internationalen Verwaltungsunionen, die man auch als Regime bezeichnen kann. Sie beruhten häufig auf einem set an neuen Normen, die aus nationalen Bedürfnissen in das transnationale Feld überschwappten. Sie waren meist durch technisch-wirtschaftlichen Fortschritt bestimmt und schufen eine innovative Form von Governance, die bis heute Wirkung erzielen. In vielem waren es Regime mit mehr oder minder hohem Organisationsgrad. Darüber hinaus gab es Ansätze für solche Unionen, auch in den sozialen, religiösen, kulturellen und wissenschaftlichen Bereich überzugreifen. Die Internationale Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz6 entstand am Rande der Pariser Weltausstellung von 1900. Bestrebungen, auch den Kern staatlicher Politik zu umgreifen, wie sie sich in den Haager Konferenzen von 1899 und 1907 manifestierten, zeitigten geringe Erfolge (Dülffer 1981): Der 1899 geschaffene Internationale Schiedsgerichtshof bestand nur aus einer fakultativ zu benutzenden Liste von Juristen. Obwohl programmatisch der Primat nationaler Souveränität vor allem von deutscher Seite hochgehalten wurde, entfalteten politisch zu lösende Schiedsverfahren und scheinbar rein technische Untersuchungskommissionen dennoch einen Sog in Richtung zu einer Anwendung zumindest auf periphere Fragen. Als 1909 ein tatsächlich supranationaler Prisengerichtshof vereinbart wurde (Rindfleisch 2012), zeigten sich Grenzen: die Vereinbarung wurde u. a. von Großbritannien nicht ratifiziert und spielte daher im Weltkrieg keine Rolle. Dennoch war der Trend zu verstärkter Governance deutlich: Wenn man 1874 erst 32 transnationale NGOs zählte, waren es 1914 schon 466. Dieser Weltkrieg unterbrach den Trend zu Governance in vielen, aber nicht allen Bereichen, sie beschränkte sich oft auf die jeweiligen Kriegslager (Hull 2014). Die internationale Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg blieb europazentrisch, erweiterte sich aber etwa durch die Aufnahme der britischen Dominions in dieses System deutlich. Schon bei den Friedensverhandlungen waren zahlreiche Vertreter unterdrückter, auch außereuropäischer Minderheiten anwesend, die dauerhaft nutzbare Kontakte knüpften. Mitglieder in NGOs kamen nun auch verstärkt aus dem Nahen Osten, Asien, Lateinamerika, auch Afrika und waren damit globaler angelegt (Kunkel und Meyer 2012, Iriye 2002, 28). Im Völkerbundsystem selbst gingen viele Ansätze der Vorkriegszeit auf, einige wurden obsolet. Jedoch entstanden auch neue NGOs. Vor allem bildeten sich um den Völkerbund wirkungsvolle
6 Herren, 38 f.
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Unterorganisationen, deren Möglichkeiten zur Governance die Forschung in den letzten Jahren besondere Aufmerksamkeit widmete (Herren 2009; Iriye 2002). Die Economic and Financial Organization (anfangs: Committee) oder die International Labour Organisation (Maul 2007) gehören zu den bekanntesten. Nicht nur bei der ILO entwickelte sich eine korporatistische Kooperation von Arbeitgebern und Arbeitnehmern und damit eine Ergänzung staatlicher Vereinbarungen durch zivilgesellschaftliche Elemente. Darüber hinaus entstanden Ansätze einer internationalen Bürokratie und deren Kooperation mit Wissenschaftlernetzen vieler Art. Der Bruce-Report von 1939 schlug dem Völkerbund eine stärkere Bündelung internationaler Kooperation durch ein Central Committee for Economic and Social Questions vor, aus dem aber angesichts der internationalen Lage nichts wurde. Stärker als im Ersten Weltkrieg brachen im Zweiten Weltkrieg viele, wenn auch nicht alle Normen von Governance zwischen den Kriegsparteien zusammen. Aber auch die faschistischen Regierungen und Bewegungen bildeten Ansätze für eine Internationalisierung. Wichtiger wurde jedoch, dass eine neue Organisation wie die United Nations Relief and Rehabilitation Administration bereits 1943 im Krieg entstand, gefolgt von zahlreichen anderen Sonderorganisationen, die dann im UNRahmen durch ECOSOC koordiniert werden sollten. Die International Labour Organisation ist dabei die vergleichsweise älteste, die aus einem Teil des Völkerbundes nun zu einer Sonderorganisation der UN wurde. Die bisher genannten Trends verstärkten sich weiter quantitativ und qualitativ, kulturelle und humanitäre Organisationen und Netzwerke kamen hinzu. Weltbank und Weltwährungsfonds, Welthandelsorganisation (Mazower 2013, 420 f.) können als Elemente westlicher, vor allem US-amerikanischer Dominanz gelesen werden, die zunächst den Wiederaufbau der Weltwirtschaft erleichterten. Es gab jedoch auch gegenläufige Trends. Seit den 1960er Jahren nahmen Entwicklungs- oder Bevölkerungspolitik zu (Frey 2007). Entsprechende Netzwerke fanden ihren Ort auch im UN-System. Ausschlaggebend war die Dekolonisierungswelle vor allem in Afrika um 1960 (Luard 1989). Noch wichtiger war jedoch der globale Rahmen der Ost-West-Konfrontation, von dem eingangs die Rede war. Er führte zu einer Ausbildung von NGOs primär in der ersten, westlichen Welt, die sich auch auf die Dritte Welt erstrecken konnten, jedoch lange nicht in die zweite, „sozialistische“. Im UN-System konkurrierten darüber hinaus oft unterschiedliche Ansätze und Interpretationen der gemeinsam vereinbarten Ziele und Mittel, die in dieser Hinsicht eine globale Governance verhinderten. Das änderte sich jedoch partiell. Nicht erst das Ende der bisherigen Blockkonfrontation war hierfür ausschlaggebend, sondern bereits in den 1970er Jahren finden sich viele Einschnitte nicht nur einer neuen Globalisierung, die freilich nur auf der einen Seite – nämlich in weltwirtschaftlicher Hinsicht in der Ölpreiskrise – als Schock (Ferguson et al. 2011) erfahren wurde, sie wurde vielmehr ambivalent auch als Aufbruch zu neuer Intensität von Governance gedeutet. Statistiker
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wollen wissen, dass die Zahl der NGOs von 1972 bis 1984 von 2795 auf 12.686 stieg, die der IGOs von 1530 auf 2795 (Dülffer 2012). Mazower spricht davon, dass 90 % der NGOs erst seit 1970 entstanden seien. Das gilt gerade für viele Bereiche, aber auch und gerade für die Menschenrechte, für die Iriye u. a. eine „Human Rights Revolution“ diagnostiziert haben (Moyn 2010; Eckel 2012). Das trifft besonders für zivilgesellschaftliche Netzwerke und Organisationen (Eckel 2014) zu, etwa für Amnesty International (1961), Greenpeace (1971) oder Médecins Sans Frontières (1970). Es trifft aber auch für das UN-Menschenrechtsregime zu und schließlich in einer ganz spezifischen Weise für Europa, wo sich in Folge der KSZE-Schlussakte von 1975 zivilgesellschaftliche Aktivitäten auch im Bereich des Ostblocks entfalteten. Diese Helsinki-Gruppen im Osten vernetzten sich mit etablierten zivilgesellschaftlichen Organisationen des Westens, fanden aber auch gouvernementale Unterstützung (Peterson 2012; Snyder 2011). Die Verbindung von neuer Globalisierung und Menschenrechten trug entscheidend dazu bei, dass sich die bisherigen Konfrontationsmuster abbauten. Darüber hinaus zeichnet sich durch die Zäsuren der siebziger und neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts die Diagnose ab, dass Governance auch die Kernbereiche von staatlicher Sicherheit erreicht hat und damit zumindest partiell Souveränität auch hier untergräbt. Der knappe historische Überblick wird hier abgebrochen und nicht versucht, die Entwicklungen der letzten 20 Jahre noch präziser in den Blick zu nehmen. Stattdessen werden einige Gedanken zusammengefasst und weitergeführt. International Governance nahm seit dem frühen 19. Jahrhundert zu. Sie spiegelte die Veränderungen und Modernisierungen der technisch-sozialen Welt. Sie war damit ein Mittel, auch die Nationalstaaten durch Internationalität zu stärken und ihre Leistungsfähigkeit zu steigern. Sie setzte zumeist europäisch, dann auch nordatlantisch an, erreichte aber in mehreren Stufen, verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg, annährend globale Teilhaberschaft, die jedoch selten gleichberechtigt unter allen Staaten funktionierte. Der Vorrang der Groß- und dann der Weltmächte blieb erhalten. Bei allem Beitrag zur Emanzipation konnte aber eine solche Regelung wie die Kodifizierung des Kriegsrechts für zivilisierte Staaten in Den Haag tatsächliche imperialistische Herrschaft legitimieren (Mazower 2013, 80 f.). Dennoch waren die unterschiedlichen Organisationsformen transnationaler Zivilgesellschaft häufig Vorreiter eines humanitären Engagements und sensibilisierten die herkömmlichen Staaten und ihren etablierten diplomatischen Austausch zur Reaktion, oft zur Übernahme ihrer Initiative. Angesichts der explosionsartigen Zunahme von Regelungen und Regimen gibt es einen Trend, nationale Souveränität durch nichtstaatliche Steuerung nicht nur zu ergänzen, sondern diese zu ersetzen, zumindest Strategien dazu für die Zukunft zu entwickeln. Bei allen Fortschritten im humanitären oder menschenrechtlichen Bereich ist es jedoch fraglich, ob eine solche Entwicklung immer nutzbringend
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ist oder gar menschliches Zusammenleben global verbessert. Die Weltwirtschaftsund Finanzordnung treibt verstärkt seit 2008 große Teile der Welt in Krisen. Die Weltsportordnung mit ihren Vergabepraktiken in allen ihren Facetten bildet eine Mischung restfeudaler Statuspolitik und Bereicherung monopolistischer Großorganisationen, die zunehmend auf Aufmerksamkeit stößt. Governance without Government (Czempiel und Rosenau 1992) hat quantitativ wie qualitativ zugenommen. Karitative Institutionen sammeln und verteilen Milliarden Dollars jährlich, die sie zu ungeheuren PR-Maßnahmen veranlassen, um solche Apparate weiter in Gang zu halten. Ob dies grundsätzlich besser geschieht als von etablierten Bürokratien, bleibt zu fragen. Mark Mazower hat in einem anregenden Buch zum hier behandelten Thema „Governing the world“ den zunehmenden Trend zur Zustimmung zu Governance und einer Kritik an Governing beklagt (Mazower 2013: 420 ff.). Er sieht Regierungen jedenfalls besser durch demokratische Kontrolle legitimiert als viele Institutionen von humanitärer Governance, deren demokratische Qualität zweifelhaft bleibe. Soweit würde ich nicht gehen. Aber das Spannungsverhältnis von zivilgesellschaftlichen supranationalen Institutionen, die sensibler auf neue Entwicklungen und Problemlagen agieren und reagieren können, und Regierungen blieb für die letzten beiden Jahrhunderte hinweg ungeklärt. Indem sich Governance zunehmend global entfaltete, ergänzten und erweiterten sich gleichzeitig und nur zum Teil dadurch auch Möglichkeiten von Government. Das wird wohl auch weiterhin bedeutsam bleiben, denn die Vorstellung, dass Global Governance in eine Weltregierung mutieren könnte, bleibt erhalten. So ist wohl nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für die Zukunft das Spannungsverhältnis von Government und Governance ein lohnendes Thema.
Zitierte Literatur Czempiel, Ernst-Otto, Rosenau, James (Hg.), Governance without Government: Order and Change in World Politics, Cambridge 1992. Derix, Simone, Transnationale Familien, in: Dülffer, Jost/Loth, Wilfried (Hg.): Dimensionen Internationaler Geschichte, München 2012, 335–351. Dülffer, Jost, Regeln gegen den Krieg? Die Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 in der internationalen Politik, Frankfurt am Main 1981. Dülffer, Jost, Die Kreta-Krise und der griechisch-türkische Krieg 1895–1898, in: Dülffer, Jost, Mühleisen, Hans-Otto, Torunsky, Vera. Inseln als Brennpunkte internationaler Politik: Konfliktbewältigung im Wandel des internationalen Systems, 1890–1984, Köln 1986. Dülffer, Jost, Jalta, 4. Februar 1945. Der Zweite Weltkrieg und die Entstehung der bipolaren Welt, München 1998.
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Friedensschlüsse, Friedlosigkeit und Friedensrituale, 1945–1990
Souverän ist, wer mit den Bildern entscheidet.1 Bilder verdrängen Fakten […]. Es wäre […] gefährlich, die Wirkungen der Talmi-Diplomatie zu unterschätzen. Die mediale Inszenierung des Gipfels von Singapore [zwischen Donald Trump und Kim Jong-Un, 12./13. Juni 2018] war außerordentlich erfolgreich.2
Für die Zeit zwischen Ende des Zweiten Weltkrieges und der Charta von Paris von November 1990 hat sich international der Begriff des Kalten Krieges durchgesetzt – und eben nicht der des Friedens. Dennoch ist vielfach auch von einer selten dagewesenen langen Friedenszeit die Rede, spricht man von den ersten Jahrzehnten nach 1945 von den Trente Glorieuses als einer Periode des fortlaufenden wirtschaftlichen Aufschwungs, dem dann ab Mitte der siebziger Jahre etwas Anderes folgte, was Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael mit „nach dem Boom“ inhaltlich weitgehend offengelassen hatten, ein Harvard-Team aber in einer vielbeachteten Vorlesungsreihe mit „The shock of the global“ benannte.3 Sieht man sich dieses Buch allerdings genauer an, dann ist von Schock wenig die Rede, sondern viel eher von rapidem Wandel auf einer Reihe von sehr unterschiedlichen Sektoren der Weltpolitik; Krieg und Frieden ist dabei nicht das Thema, sondern eher Wirtschaft. Wenn es eine Einheit der hier zu behandelnden Zeit gibt, dann liegt dies jedoch darin begründet, dass es keinen umfassenden Krieg gegeben hat, obwohl er dauernd gefürchtet wurde. Es wäre ein Weltkrieg geworden, der nach vorherrschender und in jener Zeit zunehmender Einsicht die Gefahr des Endes der bisherigen Formen des Zusammenlebens von Menschen bedeutet hätte, also eines mit allen Mitteln geführten Nuklearkrieges. Das war im Militärkalkül der Supermächte etwa ab 1962 1 Horst Bredekamp, Souverän ist, wer mit den Bildern entscheidet, in: Grit Strassenberger, Felix Wassermann (Hg.), Staatserzählungen. Die Deutschen und ihre politische Ordnung, Berlin 2018, 127–148. Der Anklang an Carl Schmitt ist offensichtlich: „souverän ist, wer über den Notstand entscheidet.“ 2 Hanns W. Maull in: FAZ 26.6.2018, 8. 3 Jean Fourastié, Les Trente Glorieuses ou la révolution invisible de 1946 à 1975, Paris 1979; Anselm Doering-Manteuffel, Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008; Niall Ferguson u. a. (Hg.), The Shock of the Global. The 1970s in Perspective, Cambridge/MA 2010.
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der Fall, als man zumindest in den USA von einer Mutual Assured Destruction ausging, vulgo: Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter.
I Worum ging der Kalte Krieg? „For the soul of mankind“, hat Melvyn Leffler seine Geschichte dazu überschrieben.4 Also um alles: Das hatte viele Facetten, betraf je nach Zeit und geographischer Lage unterschiedlich viele oder alle Lebensbereiche und wird daher von manchen als total angesehen.5 Bei den hier zur Debatte stehenden Fragen von Krieg und dessen Enden können aber nur wenige Aspekte einbezogen werden. Eine ältere, zumal in Deutschland gern gepflogene Nabelschau, und dies zumal in den Jahrzehnten unmittelbar nach dem Weltkrieg, vertrat eine Art MatrjoschkaAnsicht, eine Puppe-in-der-Puppe-Sicht: es ging um das geteilte Deutschland, das geteilte Viermächte-Berlin bildete hierbei gleichsam den härtesten Kern. Um diese Frage herum hätten sich die Probleme des geteilten Europa angelagert, und schließlich habe es auch eine „Teilung der Welt“ insgesamt gegeben, wie Wilfried Loth seine globale Sicht 1980 in Anlehnung an den Vertrag zwischen Spanien und Portugal von Tordesillas 1495 titelte und wie manche andere das Ergebnis der Jalta-Konferenz von 1945 fälschlich summieren.6 Dieser Blickwinkel kann heute als überholt gelten, doch legen zahlreiche Titelbilder von einschlägigen Arbeiten von den Gipfelkonferenzen der Großen Drei oder Vier, vor allem bis zum Mauerfall, dennoch eine solche Veranschaulichung nahe: mit der deutschen Teilung begann der Kalte Krieg, mit der ‚Wieder‘-Vereinigung hörte er auf. Dass der Kalte Krieg eine globale Erscheinung war, ist schon früh betont worden – Stichwort: Teilung der Welt –, aber erst Odd Arne Westad hat diese globalen Elemente 2005 erstmals schlüssig zusammengefasst. In seiner jüngsten Gesamtdarstellung geht er so weit: „In an historical sense [...] the Cold War was a continuation of colonialism through slightly different means.“7 Er schränkte das zwar besonders 4 Melvyn Leffler, For the Soul of Mankind. The United States, the Soviet Union and the Cold War, New York 2007. 5 Bei uns vor allem Bernd Stöver, Der Kalte Krieg, 1947–1991. Geschichte eines radikalen Zeitalters, München 2007. Ich sehe diesen „totalen“ Ansatz anders. 6 Wilfried Loth, Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941–1955, München 1980, Neuauflage 2002. – Gemeint war hier allein die Entstehung dieser Formation bis 1955; zur Bilanz: Ders., Die Rettung der Welt, Frankfurt am Main 2016; die These von der Zentralität Deutschlands für den Kalten Krieg aber noch bei John Lewis Gaddis, Der Kalte Krieg. Eine neue Geschichte, München 2007, 9–12. 7 Odd Arne Westad, The Global Cold War. Third World Intervention and the Making of our Times, Cambridge 2005, 396; Ders., The Cold War. A World History, New York 2017.
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auf die Sicht des ‚Südens‘ ein, urteilte aber überzeugend, dass die Methoden der beiden Supermächte in bemerkenswerter Weise denen der europäischen Mächte in der letzten Phase des Kolonialismus ähnelten, so u. a. das Versprechen der Modernisierung, die vielfach Tod und Not brachte. Ich würde diese Perspektive thesenhaft zuspitzen: In längerem Rückblick könnte es sich herausstellen, dass der herkömmliche Blick aus dem Norden weniger wichtig wird als eine Nord-Süd-Perspektive, welche die sich wandelnde Rolle des Südens zum zentralen Fokus erhebt. Dies besagte dann auch, dass zwei hochgerüstete staatlich definierte Blöcke, die wiederum auf spezifischen Ideologien und Gesellschaftsordnungen beruhten (Kapitalismus und Kommunismus), gemeinsam Faschismus und Nationalsozialismus besiegten. Nur deswegen stießen sie in der Mitte Europas zusammen und demnach bestimmte diese Konstellation einige Jahrzehnte vordergründig-geopolitisch die weltpolitische Wahrnehmung. Der ‚Globale Süden‘ ist ein analytisches Kunstwort, das von Lateinamerika über Afrika bis Asien sehr viele grundverschiedene Elemente in sich birgt.8 Dennoch ist es für das Friedensthema entscheidend, dass von den über 150 Kriegen, die zwischen 1945 und 1990 geführt wurden, der ganz überwiegende Teil im Globalen Süden stattfand.9 Oder anders gesagt: in dieser Zeit gab es etwa 20 Millionen Tote durch Kriege, davon kamen aber nur 200.000 Menschen im Globalen Norden um.10 Diese Kriege fanden nicht unabhängig vom Norden statt, sie waren vielfach ‚NordSüd-Kriege‘ und wurden maßgeblich von den Interessen der sich ihrer Kolonien entledigenden europäischen Mächte, aber auch der Supermächte bestimmt. Sie waren darüber hinaus in vielen Fällen auch Regionalkriege, bei denen es um Unabhängigkeit ging. Sie wurden vom globalen Kalten Krieg aufgeladen, ‚getriggert‘, verlängert, kaum aber einmal verhindert. Wenn dem so ist, dann müssen wir uns systematischer fragen, als es die Forschung bisher getan hat, wie alle diese Kriege denn endeten: Mit einem Frieden? Genau das ist hier die Frage. Wie sollen wir dann angesichts dieses globalen Befundes die viereinhalb Jahrzehnte von 1945 bis 1990 charakterisieren? Ich halte zunächst fest: Diese Jahre bilden – wie immer in der Geschichte üblich – einen Durchgang für Entwick-
8 Vgl. einleuchtend den Tagungsbericht: Globale Ungleichheiten diskutieren – Der Nord-Süd-Konflikt in den internationalen Beziehungen, 16.2.2018–17.2.2018 Leipzig, in: H-Soz-Kult,http://www. hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-126268 (1.8.2022) [gedruckt: Jürgen Dinkel, Steffen Fiebrig, Frank Reichherzer (Hg.), Nord/Süd – Perspektiven auf eine globale Konstellation, Berlin 2020]. 9 Bernd Greiner, Christian Th. Müller, Dierk Walter (Hg.), Heiße Kriege im Kalten Krieg, Hamburg 2006, 8; Zusammenfassung langjähriger Forschungen: Klaus-Jürgen Gantzel, Über die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg. Tendenzen, ursächliche Hintergründe, Perspektiven, in: Bernd Wegner (Hg.), Wie Kriege entstehen, Paderborn 2003, 299–318. 10 Jost Dülffer, Weltordnungskonflikte im Ost-West-Konflikt, in: Wissenschaft und Frieden 4, 2016, 15–19, hier 16.
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lungen, die zuvor begonnen haben und sich anschließend fortsetzten. Das meint die mit dem Ersten Weltkrieg einsetzende Dekolonisierung, die sich trotz einiger neuer Kolonisierung und dem nationalsozialistischen Versuch der Kolonisierung weiter Teile Europas als geschichtsmächtig erwies. Allerdings wurden hier auch durch die Ausbreitung eines globalen Welt- und Finanzmarktes neue Formen von Abhängigkeit und Ausbeutung entwickelt, die bis in die Gegenwart zunehmend wichtiger geworden sind. Sieht man von dieser neueren Perspektive einmal ab, dann lohnt es zwei bereits in der Zeit entwickelte Großdeutungen gegenüberzustellen. Schon 1969 prägte Dieter Senghaas in seinem Buch ‚Abschreckung und Frieden‘ den Begriff der ‚organisierten Friedlosigkeit‘. Er meinte damit eine Abschreckungspolitik, mit welcher „der offene Krieg, gerade durch die Perfektionierung seiner Mittel, eliminiert werden [soll], indem jedem potenziellen Aggressor eine empfindliche Vergeltung angedroht wird. Das Ergebnis ist eine Praxis, die gewissermaßen den potenziellen Krieg laufend antizipiert, um ihn in seinen möglichen manifesten Formen einzudämmen.“11 Wenn das auch nicht direkt so angesprochen wurde, so war hiermit die gefährliche Eskalation zum Atomkrieg angesprochen. Nur scheinbar gegensätzlich argumentierte John Lewis Gaddis 1987 mit seinem Buch mit dem provozierenden Titel ‚The long peace‘, angesichts der auch damals noch andauernden Konfrontation der beiden Supermächte mit einem nie dagewesenen Waffenarsenal, dessen Anwendung jedoch immer möglich schien. Er urteilte dennoch, „that the development of nuclear weapons has had, on balance, a stabilizing effort on the postwar international system. They have served to discourage the process of escalation that has, in other eras, led to war. They have had a sobering effect upon a whole range of statesmen [...]“. Das habe zu einem Verbund an informellen Regeln geführt, welche generell beachtet worden seien. Mit Moral oder Gerechtigkeit habe dies alles nicht zu tun gehabt, aber eben mit Kriegsvermeidung. Gaddis spitzte ein Jahrzehnt später, 1997, zu: „Nuclear weapons exchanged destructiveness for duration.“12 Betonte also Senghaas die sich perpetuierende, latente wie manifeste Aggressivität der Abschreckung, so hob Gaddis die letztlich kriegsverhindernde Wirkung der zugrunde liegenden nuklearen Rüstung hervor. Ich habe diese beiden Seiten der Sicht einmal auf den Begriff des self-sustained conflict gebracht, also des sich aus sich
11 Dieter Senghaas, Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit, Frankfurt am Main 1969, ND ebd. 1972, 19. Senghaas meinte damals in der Tat primär die wechselseitigen Bezüge und hielt die zugrunde liegenden „Interessen“ für sekundär. 12 John Lewis Gaddis, The Long Peace. Inquiries into the History of the Cold War, Oxford 1987, 231; vgl. ders., We Know. Rethinking Cold War History, Oxford 1997, 291.
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selbst heraus relativ stabilisierenden Antagonismus.13 Gewiss gab es wiederholt gefährliche, auch nukleare Eskalationen, die zum Krieg hätten führen können. Kuba 1962, das US-Manöver Able Archer 1983 oder eine Konstellation noch 1987 werden hier immer wieder genannt, als ob hier nur durch Zufälle oder besonnenes, befehlswidriges Verhalten von einzelnen ein Nuklearschlag verhindert worden wäre. Die Diskussion darüber stellt ein weites Feld dar.14 Ich möchte das Problem des Friedens während des Ost-West-Konfliktes in diesem Spannungsfeld ansiedeln: Friedlosigkeit einerseits: ja, die blieb gewiss zentral – und sie hatte, wie darzulegen ist, noch andere Dimensionen –, aber andererseits: der große Nuklearkrieg fand nicht statt, ein Weltkrieg blieb anders als in den Jahrzehnten zuvor aus und wurde verhindert. Mit diesem dialektischen Blick bin ich scheinbar erneut allein bei dem globalen Norden angelangt, in dem das nukleare Vernichtungspotenzial die internationalen Beziehungen entscheidend prägte. Die mittelbaren und unmittelbaren Auswirkungen sind damit noch nicht erfasst. Denn im Zuge des festgefahrenen Ost-West-Konflikts im Norden verlagerte sich deren Austragung zunehmend auf den Süden. Das deckte oder überlappte sich mit dem Prozess der Dekolonisierung und beschleunigte sich ab 1960. Nichts machte das Selbstbewusstsein des ‚Südens‘ deutlicher als die Resolution 1514 der UN-Generalversammlung vom 14. Dezember 1960. Sie war gegen die Kolonialmächte gerichtet, unterschied sich aber auch von einem sowjetischen Entwurf deutlich15 und signalisierte fortan den oft kriegerischen Wettbewerb der Amerikaner, Sowjets, schließlich auch Chinesen vorwiegend im Süden. An der Art und Weise, wie nach Kriegen und Konflikten Frieden geschlossen wurde, möchte ich Ihnen diesen Formwandel exemplarisch vorführen.
II Die klassische Form der endgültigen Kriegsbeendigung bildete ein Friedensvertrag, also eine vertragliche Regelung aller oder zumindest der meisten aus einem Krieg
13 Jost Dülffer, „Self-Sustained Conflict“ – Systemerhaltung und Friedensmöglichkeiten im Ost-WestKonflikt 1945–1991, in: Corinna Hauswedell (Hg.), Deeskalation von Gewaltkonflikten seit 1945, Essen 2006, 31–60. 14 Eckart Conze, u. a. (Hg.), Nuclear Threats, Nuclear Fear and the Cold War of the 1980s, Cambridge 2017. 15 A/Res/1514(XV), https://documents-dds-ny.un.org/doc/RESOLUTION/GEN/NR0/152/88/PDF/ NR015288.pdf?OpenElement (17.11.2022); vgl. Evan Luard, A History of the United Nations, Bd. 2: The Age of Decolonization, Houndsmills 1989, 175–216, 180–187, Jürgen Dinkel, Die Bewegung bündnisfreier Staaten. Genese, Organisation und Politik (1927–1992), München 2015.
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resultierenden Fragen völkerrechtlicher Art. Das konnte zwischen zwei Kriegsparteien geschehen, beteiligte aber zumeist mehrere Staaten. Der Blick auf Friedensschlüsse nach dem Zweiten Weltkrieg hilft somit auch zu einem besseren Verständnis, wie sich der lange Frieden der Abschreckung konkret anließ. Bei ihrer Gründung gehörten zur UNO nur 51 Staaten, 1990 waren es 159 Staaten; schon das signalisiert einen fundamentalen Wandel, der nicht zuletzt die Aushandlungsmöglichkeiten von Frieden komplexer machte. Das kann nur exemplarisch geschehen.16 Eine Weiterung des Themas wäre möglich, aber die Untersuchung verzichtet auf das ertragreiche Feld der Versöhnungs- und Verständigungsversuche dieser Zeit.17 Wie auch sonst zumeist üblich, entwickelten sich aus den Kriegszielen des Zweiten Weltkriegs die Friedensziele in einer künftigen Nachkriegsordnung. Das traf zunächst vor allem für die Westmächte zu. Dabei wurden über die militärischen Aktionen hinaus gerade wegen der überragenden ökonomischen Bedeutung der USA die Wertebindungen zum zentralen Kitt des Kriegsbündnisses gegenüber dem Deutschen Reich, Italien und dann auch Japan. Das manifestierte sich zunächst in der von Churchill und Roosevelt unterzeichneten Atlantikcharta vom 14. August 1941. Sie enthielt u. a. den Verzicht auf territoriale Expansion, gleichberechtigten Zugang zum Welthandel, Verzicht auf Gewaltanwendung, das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, engste wirtschaftliche Zusammenarbeit aller Nationen mit dem Ziel der Herbeiführung besserer Arbeitsbedingungen, eines wirtschaftlichen Ausgleichs und des Schutzes der Arbeitenden, Sicherheit für die Völker vor Tyrannei, Freiheit der Meere sowie die Entwaffnung der Nationen, um hierauf aufbauend ein System dauerhafter Sicherheit zu schaffen und dann zu gewährleisten.18 Natürlich steckten hierin auch sehr konkrete Wirtschaftsinteressen, etwa der USA und auch gegenüber den Briten, aber diese Basis war doch flexibler. Diese Atlantikcharta bildete die Grundlage für das allgemeine, breite Kriegsbündnis der Vereinten Nationen, das ab Anfang 1942 die Sowjetunion einschloss. Sie endeten gegenüber dem wichtigsten Gegner Deutschland in der Potsdamer Erklärung mit den bekannten „Ds“ der Demokratisierung, Demilitarisierung, Dekartellisierung, Denazifizierung. Was war da geschehen? 16 Ich greife Gedanken auf, die ich u. a. formuliert habe in Jost Dülffer, Versailles und die Friedensschlüsse des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Gerd Krumeich (Hg.), Versailles. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte, N. F., 14), Essen 2001, 17–34, ders., Frieden nach dem Zweiten Weltkrieg? Der Friedensschluß im Zeichen des Kalten Krieges, in: Bernd Wegner (Hg.), Wie Kriege enden. Wege aus dem Krieg von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn 2002, 213–237 (beide auch in Jost Dülffer, Frieden stiften, Köln 2008). 17 Gute sektorale Zusammenfassung: Corine Defrance, Ulrich Pfeil (Hgg.), Verständigung und Versöhnung nach dem „Zivilisationsbruch“? Deutschland in Europa nach 1945, Brüssel 2016; vgl. Jennifer Lind, Sorry States. Apologies in international Politics, Ithaca/New York 2008 (vgl. meine kritische Rezension: www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=25778 [1.8.2022]). 18 https://en.wikisource.org/wiki/Atlantic_Charter (1.8.2022).
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Die Werteziele waren im Laufe des Krieges im Konsens der Großen Drei zu Struktureingriffen geworden, die zu einem Wandel in Deutschland führen sollten und die hierdurch das Land erst friedensfähig machen sollten. Die bedingungslose Kapitulation und die völlige Übernahme der Regierungsgewalt des Deutschen Reiches schufen dafür die Voraussetzung. Dennoch standen am Anfang nicht die eigentlichen Friedensverträge, sondern als neuer Unterbau der internationalen Ordnung wurde die UNO gegründet. Diese verfolgte von Beginn an das Ziel, „den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken […]“ (Art. 1).19 Das angestrebte Gewaltmonopol der Staatengemeinschaft und damit das Verbot zur eigenständigen Kriegführung war aber nicht absolut gemeint. Die Zusicherung der vollen Souveränität der Staaten, aber auch deren Recht auf Selbstverteidigung markierten ein Spannungsverhältnis zum Friedensprinzip, das die wohltönenden Absichten der Gründer seither mit den Realitäten internationaler Politik konfrontiert. Diese angestrebte Normierung der Friedenserhaltung und die tatsächlich über Jahrzehnte hinweg seither vorangetriebene Verrechtlichung des Internationalen fand statt. Sie führte jedoch in sich nicht zu einer durchschlagenden und allgemein akzeptierten Friedensordnung, sondern es blieben u. a. das mühselige Geschäft der Konfliktminderung, Kriegsbeendigung und letztlich des Bemühens um Friedensschlüsse. Bevor die proklamierten strukturellen Reformen durchgesetzt waren, konnte Deutschland für die Alliierten unter Viermächteverwaltung noch nicht friedensfähig sein, wohl aber konnten nach dem Fahrplan der Alliierten die Großen Vier durch ihre Außenminister die Friedensverhandlungen mit den besiegten Staaten vorbereiten. Das klappte anfangs, doch gerieten die Westmächte und die Sowjetunion gerade in diesem Gremium der Außenminister in Auseinandersetzungen. Die Friedensverträge mit den kleineren Verbündeten der Deutschen wurden anders als 1919 (wo es zunächst den Vertrag mit dem Hauptgegner Deutsches Reich gab, dann die weiteren Friedensverträge) vorgezogen. Diese fielen durch deren vorzeitige Lösung vom NS-Staat auch milder aus als das, was für Mitteleuropa anvisiert war. Aber auch Italien, Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Finnland hatten in den Friedensdiktaten der Sieger vom 10. Februar 1947 jeweils Struktureingriffe vor allem auf militärischem Sektor zu akzeptieren, wurden darüber hinaus zu Reparationen verpflichtet, von denen die Sowjetunion sich – ähnlich wie Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg – strukturell zum Wiederaufbau abhängig sah. Andere Vorentscheidungen über Strukturänderungen der politischen Systeme in den Friedensverträgen waren jedoch schon zuvor gefallen, als sich die Sowjetunion in
19 https://unric.org/de/charta/ (1.8.2022).
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ihrem Machtbereich an soziale und politische Umgestaltung gemacht hatte, ohne dass die Westmächte beteiligt waren, während im italienischen Fall die Sowjetunion keinerlei Mitwirkung bei der Besatzung erlangen konnte. Bemerkenswerterweise gelang der Friedensschluss aber hier mit einer der drei ‚faschistischen‘ Hauptmächte. Auch dieser Vorgang war der sich verstärkenden Konfrontation zwischen Ost und West geschuldet. Dennoch: das waren herkömmliche Friedensschlüsse, welche den besiegten und nunmehr befriedeten Staaten eine volle Rückkehr ins Staatensystem, hier symbolisiert durch die UN-Mitgliedschaft, möglich machten.20 Als letztes Glied in dieser Kette der (der Form nach) geglückten Friedensschlüsse ist der mit Japan zu nennen. Er kam im September 1951 in San Francisco zustande. Es war ein vom Westen, voran die USA und Großbritannien, ausgehandelter Normalisierungsfrieden, ohne dass zunächst die Sowjetunion, China oder auch Indien unterzeichneten. Er machte Japan wieder souverän und beendete formell die Besatzung. Dieser Frieden folgte auf den chinesischen Bürgerkrieg, fand während des Koreakrieges statt und diente nunmehr der antisowjetischen Stabilisierung des Westens um den Faktor Japan. Dieses Vorgehen begrenzte Japans Souveränität zwar weiterhin, machte es aber doch zum Partner gerade der USA. Auch wenn wertbestimmte Klauseln in dem Vertrag eine Rolle spielten, so hatten hier die machtpolitischen Interessen die moralpolitischen eingeholt – wie man ähnlich auch für die deutsche Frage argumentieren kann.21 Anders lief der Prozess im Koreakrieg ab.22 Auch diese Kämpfe zwischen 1950 und 1953 lassen sich noch als Folge des Zweiten Weltkrieges begreifen. Die formale Grundkonstellation hieß: es war ein UN-Sanktionskrieg gegen den Aggressor Nordkorea. Tatsächlich kämpften vorwiegend die USA, daneben 20 weitere Staaten zur Hilfe Südkoreas gegen Nordkorea, das wiederum informell durch chinesische Freiwillige und damit durch die VR China sowie die Sowjetunion unterstützt wurde. Nach je schnellen wechselseitigen Schlachtensiegen der einen oder anderen Seite begannen schon nach einem Jahr ab Juli 1951 Waffenstillstandsverhandlungen, die noch zwei Jahre bis zur Unterzeichnung des Waffenstillstands am 27. Juli 1953 benötigten. Dieser blieb bis heute, 2022, die Grundlage der koreanischen Verhältnisse. Verhandelt wurde primär von den USA und Nordkorea; Südkorea weigerte sich lange Zeit, überhaupt teilzunehmen; Nordkorea wurde bei den Verhandlungen massiv und unterschiedlich von der Sowjetunion und China beeinflusst, ja gesteuert.
20 Detaillierter: Dülffer, Frieden nach dem Zweiten Weltkrieg (wie Anm. 16). 21 Akira Iriye, Japan and the Wider World. From the Mid-Nineteenth Century to the Present, London 1997. 22 Bernd Stöver, Geschichte des Koreakrieges. Schlachtfeld der Supermächte und ungelöster Konflikt, München 2013, 118–130; Chen Jian, China’s Road to the Korean War. The Making of the SinoAmerican Confrontation, New York 1994.
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Vordergründig wurde der Gefangenenaustausch die entscheidende Sachfrage, in zweiter Linie natürlich die geographische Abgrenzung beider Staaten. Diese Stellvertretersituation führte dazu, dass der Konflikt nicht in einem Frieden aufging, sondern dass nur die Minimalbedingungen für ein Aufhören der Kampfhandlungen erreicht wurden, eben für einen Waffenstillstand. ‚Frozen conflict‘ kann man das nennen, nicht Frieden. Alle Erwartungen in Richtung auf einen Frieden, der einen Normalzustand zwischen beiden Staaten und damit auch in der Region herstellen sollte, scheiterten fortan. Kein Frieden in Korea, ein Befund, den auch die Fotos des US-Präsidenten und des nordkoreanischen Führers vom Juni 2018 nur symbolpolitisch zu überwinden scheinen [und bis 2022 nicht überwunden haben]. Die Bemühungen um die Beendigung des Vietnam-Krieges hatten einige ähnliche Züge aufzuweisen wie in Korea, sie dauerten aber insgesamt länger und waren komplexer.23 Schon von den amerikanischen Anfängen unter John F. Kennedy an ging es den USA vordergründig um eine innergesellschaftliche Stabilisierung Südvietnams, die durch Nordvietnam und die von dort gestützten Guerillas bedroht schien. Angesichts dessen, dass das südvietnamesische Regime weder für diese Aktivitäten zu gewinnen war, noch überhaupt sich als solches zu stabilisieren schien, gerieten die USA immer tiefer „into the quagmire“ (in den Sumpf)24 eines – mit Verbündeten geführten – umfassenden Krieges hinein, den sie trotz aller militärischen Eskalation politisch und sozial nicht gewinnen konnten. Nordvietnam, materiell von den mittlerweile verfeindeten Staaten VR China und Sowjetunion unterstützt, konnte dagegen trotz hoher Verluste auch im Süden stärker Fuß fassen. Parallel dazu gab es zahlreiche neutrale Vermittlungsversuche, dann aber aus partiell anderen Gründen eine Pendeldiplomatie Henry Kissingers nach Moskau und Peking, welche seit den frühen siebziger Jahren die Verhältnisse der drei Großmächte neu zu tarieren trachtete und somit auch auf Vietnam wirken sollte. Die US-Eskalation, um den Krieg im eigenen Sinn zu gewinnen, wurde zu einer militärischen Eskalation, um glimpflich aus dem Krieg herauszukommen. Dazu dienten vor allem die US-nordvietnamesischen Verhandlungen in Paris, die am 27. Januar 1973 zu einem ‚Abkommen zur Beendigung des Krieges und zur Wiederherstellung des Friedens‘ führten.25 Beteiligt waren die Regierungen beider Vietnams und die südvietnamesische ‚National Liberation Front‘ sowie die USA. Schon die versteckte Benutzung des Begriffs Frieden gleichsam als Codewort zeigt, dass der Waffenstillstand mit der Verpflichtung der USA zum Rückzug der Truppen nur
23 Marc Frey, Die Geschichte des Vietnamkrieges, München 2008; Christopher Goscha, Vietnam. A New History, New York 2016. 24 Brian Vandemark, Into the Quagmire. Lyndon B. Johnsen and the Escalation of the Vietnam War, Oxford 1995. 25 Zum Rahmen: Christopher Goscha, Maurice Vaisse (Hg.), La guerre de Vietnam et l’Europe. 1963–1973, Paris 2003.
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eine dünn verhüllte Kapitulation war. Der für Washington gesichtswahrende Kompromiss führte tatsächlich innerhalb Vietnams nicht zur Waffenruhe, sondern am 1. Mai 1975 zur vollständigen Einnahme Saigons durch den Norden und letztlich zur Einverleibung Südvietnams in ein von Nordvietnam her gesellschaftlich umgestaltetes einheitliches Vietnam – ein klassischer Sieg-Frieden, aber ohne formellen Friedensvertrag, der dennoch seit den 1990er Jahren zu erstaunlicher Normalisierung des Verhältnisses der USA und (des vereinigten) Vietnams geführt hat. Der Nahe Osten: Die zahlreichen Kriege Israels mit seinen arabischen Nachbarn signalisieren, dass ein Friedensschluss über lange Zeit nicht glückte.26 Der mit der Unabhängigkeit Israels im Mai 1948 einsetzende Angriff der arabischen Nachbarn endete zwischen sieben und 14 Monaten später mit insgesamt separaten Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und den vier arabischen Nachbarstaaten, die kaum mehr als diesen vorläufigen Waffenverzicht bedeuteten, aber ein arabisches Flüchtlingsproblem schufen („Nakba“). Im Suezkrieg 1956 bildete Israel eine Speerspitze für das spätkoloniale Vorgehen Frankreichs und Großbritanniens gegen Ägypten. Hier führte eine seltene Kollusion der USA und der Sowjetunion u. a. in der UNO dazu, dass ein Waffenstillstand zustande kam, diesmal erstmalig von einer bis 1967 vor Ort eingesetzten UN-Einsatztruppe unter kanadischem Oberbefehl gepuffert.27 Der Sechstagekrieg dieses Jahres 1967 stellte einen israelischen Präventivkrieg dar, der an allen Fronten schnell von Israel siegreich beendet wurde. Er brachte jedoch erneut nur eine Einstellung der Kämpfe und zog einen langen subversiven Krieg Ägyptens gegen israelische Besatzung nach sich. Der Yom-Kippur-Krieg von 1973 endete erneut mit einem weitgehenden Sieg Israels, das den Kampf jedoch nach US-Druck abbrach. Der Konflikt globalisierte sich zunächst in ein Ölembargo der OPEC, dann gab es eine Reihe von Teilabkommen in einer mehrjährigen Genfer Nahostkonferenz, die als Prozess der Friedensbildung verstanden werden können, bis das CampDavid-Abkommen zwischen Israel und Ägypten 1978 zustande kam, das ein halbes Jahr später in einen formellen Friedensvertrag gegossen wurde. Hier wurden über Territorialfragen u. a. auch solche der Siedlungen vereinbart: ein selten beschrittener klassischer Weg in einen zunächst dauerhaft erscheinenden positiven Prozess, dessen Reichweite trotz Verleihung von Friedensnobelpreisen jedoch begrenzt blieb (Ermordung von Anwar al-Sadat 1981, dann auch von Yitzak Rabin 1995) und der tatsächlich nicht den Weg zur Lösung aller Nachbarschaftskonflikte Israels
26 Douglas Little, The Cold War in the Middle East. Suez Crisis to Camp David Accords, in: Melvyn Leffler, Odd Arne Westad (Hg.), The Cambridge History of the Cold War, Cambridge 2010, Bd. 2, 305–326, 551–552; Peter Mansfeld, Nicolas Pelham, A History of the Middle East, New York 2004. 27 Vgl. dazu u. a. Jost Dülffer, Die Suez- und Ungarn-Krise, in: Michael Salewski (Hg.), Das Zeitalter der Bombe. Geschichte der atomaren Bedrohung von Hiroshima bis heute, München 1995, 95–119, 219–221.
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wies. US-Präsident Jimmy Carter hatte einen umfassenden Frieden angestrebt, der sich aus dem Teilfrieden nach Camp David eben gerade nicht entwickelte. Er führte auch weiterhin zu wechselnden kriegs- und kriegsähnlichen Phasen in den folgenden Jahrzehnten. Ein charakteristisches, spätes und daher auch besonders Gewalt trächtiges Beispiel für Unabhängigkeitskriege bildete Angola.28 Er stellte wie viele andere eine Mischung von Bürgerkrieg und internationaler Intervention dar, bildete somit auch einen Stellvertreterkrieg. Mindestens drei unterschiedliche Befreiungsbewegungen sahen nach der portugiesischen Nelkenrevolution (25. April 1974) und der daraus folgenden Politik der Unabhängigkeit für die afrikanischen Kolonien ihre Chancen zur inneren Durchsetzung. Die marxistische MPLA rief ebenso wie die Unita und FNLA im November 1975 die Unabhängigkeit aus, die von einer Mischung aus Krieg und Bürgerkrieg begleitet wurde. Kuba, dann auch die Sowjetunion sicherten auf Seiten der MPLA einen militärischen Sieg. Die zunächst erfolgreiche Intervention des Apartheidregimes Südafrikas und die der USA mit und über den Kongo auf der anderen Seite endete im Frühjahr 1976 mit einem relativen Sieg der MPLA, damit auch bedingt Kubas und der Sowjetunion, die ihr Engagement für marxistische Regime zumal in Afrika steigerte. Der Kalte Krieg in Afrika erreichte auch aufgrund des Falls Angola als heißem Krieg seine volle Eskalation. Der Bürgerkrieg dauerte im Prinzip auch nach 1976 weiter an, von Waffenstillstand oder gar Frieden war nicht die Rede. Die Konstellationen wandelten sich schnell: Unter zahlreichen Politikwechseln der Szene in Angola, in der afrikanischen Region, aber letztlich auch in der Weltpolitik dauerte der Kampf bis 2002. Wenn irgendwo von Friedlosigkeit zu sprechen ist, dann hier. Von Friedenschluss in einem bedeutsamen Sinn konnte nicht die Rede sein.
III Damit komme ich zu einigen zusammenfassenden Bemerkungen zur Situation des Friedens im ‚Kalten Krieg‘. Wie am Fall Angola angedeutet werden konnte, mischten sich Krieg und Bürgerkrieg in einer charakteristischen Weise. Man hat hier von hybriden oder den
28 Christine Hatzky, Kubaner in Angola, Süd-Süd-Kooperation und Bildungstransfer 1976–1997, München 2012, 41–68; Odd Arne Westad, The Global Cold War, Cambridge 2005, 220–240; Michael Latham, The Cold War in the Third World, in: Leffler, Westad (wie Anm. 26), Bd. 2, 258–280, 547–549.
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neuen Kriegen gesprochen, so etwa Herfried Münkler oder Mary Kaldor.29 Neuartig sind diese nur bedingt, denn ein Blick in die Geschichte zeigt, dass auch etwa Guerillakrieg, ein Begriff aus den antinapoleonischen Kriegen in Spanien ab 1807/08, nur ein neuer Begriff für gängige Erscheinungen in der Geschichte war. Ethnosoziale Konflikte hatten jedoch unter den Bedingungen von Dekolonisation eine neue Aufladung gewonnen, doch waren ethnische Zuschreibungen auch für frühere Bürgerkriege zentral gewesen. Dennoch scheinen – zumal angesichts der gewachsenen zahl unabhängiger Staaten und häufig unklarer Staatlichkeit – solche hybriden Kriege häufiger und zum Normalfall geworden zu sein. Die zahlreichen Kriege in diesen Jahrzehnten seit 1945 wurden zumeist ebenso wenig formell erklärt, wie sie umfassend beendet wurden. Das lag auch an der UN-Charta mit ihrem eingangs zitierten Verbot, Kriege anders als zur Selbstverteidigung zu führen. Die Tabuisierung des Kriegs-Begriffs führte jedoch nicht zu einer Tabuisierung des Krieges an sich, sondern zur Umschreibung zunächst als „Konflikt“ oder ähnlichen verharmlosenden Begriffen. Ebenso wie kollektive Gewalthandlungen vielfach schleichend, gleichsam „formlos“ begannen, so liefen sie auch aus – ohne einen Frieden oder Friedensschluss. Die internationalen Bestrebungen zur rechtlichen Einhegung von Gewalthandeln liefen parallel zu der tatsächlichen Friedlosigkeit und bestimmten ihre Austragung sekundär mit. Gemeint sind nach der UN-Charta von 1945 Konventionen wie die Genozid-Konvention und die UN-Menschenrechtskonvention jeweils aus dem Jahre 1948.30 Unter den Bedingungen der Ost-West-Konfrontation hatten diese kriegsvermeidenden oder auch Friedenshandeln fördernden Vereinbarungen über Werte und Normen zunächst geringere Bedeutung, was sich erst seit den Menschenrechtspakten der sechziger Jahre langsam änderte. Das ganze System des sich entfaltenden UN-Völkerrechts, vor allem seinen Resolutionen der Generalversammlung mit bleibenden Normen oder auch situativen Sicherheitsratsbeschlüssen, suchten fallweise, regional oder situativ normierend zu wirken und damit Wege zum Frieden, wenn schon nicht zu entwickeln, so doch zumindest zu kanalisieren.31 Das erlangte vielfach Bedeutung für Kriege und Konflikte, wandelte die Lösungen
29 Mary Kaldor, Neue und alte Kriege, Frankfurt am Main 2000; Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Hamburg 2002, vgl. Jost Dülffer, Alte und neue Kriege. Gewaltkonflikte und Völkerrecht seit dem 19. Jahrhundert, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 26/8, 2016, 4-10. 30 Christoph Safferling, Eckart Conze (Hgg.), The Genocide Convention Sixty Years after its Adoption, Den Haag 2010; Johannes Morsink, The Universal Declaration of Human Rights: Origins, Drafting and Intent, Philadelphia 1999. Zum Rahmen: Paul M. Kennedy, Parlament der Menschheit. Die Vereinten Nationen auf dem Weg zur Weltregierung, München 2007. 31 [Peter Ridder, Konkurrenz um Menschenrechte. Der Kalte Krieg und die Entstehung des UNMenschenrechtsschutzes von 1965–1993, Göttingen 2022.]
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vor Ort aber dennoch häufig nicht in die Richtung auf Konsolidierung der Konflikte – auf Frieden. Parallel zu der weltweiten UN-Verrechtlichung gelang relativ spät die Schaffung eines ähnlichen gesamteuropäischen Rahmens, der 1975 mit der KSZE-Schlussakte und dem anschließenden KSZE-Prozess Fahrt aufnahm und auf diese Weise einen wesentlichen Beitrag zur Überwindung der Friedlosigkeit durch langsamen Gewinn von Vertrauen möglich machte. Gerade an der gefährlichsten und bedrohlichsten Scheidelinie der Ost-West-Konfrontation war der Konflikt jedoch früh eingefroren, wie die Ergebnisse der Aufstände im Ostblock 1953, 1956, 1968 und 1961 der Mauerbau in Berlin zeigten. Ein Frieden war über vorbereitende Maßnahmen wie die bundesdeutschen Ostverträge 1970–1974 hinaus nicht möglich. Der „Ersatzfriedensschluss“ in der deutschen Frage kam erst durch den 2+4-Vertrag und die allgemein formulierte europäische Wertevereinbarung der Charta von Paris 1990 zustande.32 Außerhalb Europas – und das haben die hier besprochenen Fälle exemplarisch gezeigt – war es für die weltpolitischen Blöcke, voran die beiden Supermächte, möglich, die andere Seite in den genannten Kriegen, die fast immer auch Bürgerkriege waren, militärisch herauszufordern und begrenzte ‚Erfolge‘ einzustreichen, die nur de facto, nicht aber in der Form von Friedensschlüssen beendet wurden. Die Erwartung zu einer Friedenskonsolidierung, auf ‚spill-over‘-Effekte der weiteren Versöhnung taugte nur manchmal etwas. Dafür entstand ein neueres Instrument über die Mediation von Dritten oder der UN heraus, nämlich die oft andauernde physische Präsenz von Mediatoren von UN-Friedenstruppen, welche Waffenstillstände überwachen, Friedensprozesse fördern sollten und dies gelegentlich auch mit ‚robustem Mandat‘, also mit Waffengewalt. Das begann schon bei den Nahost-Kriegen 1948, spielte auch in der Suezkrise 1956 eine Rolle und fand seit der Kongo-Krise 1960 langsam weitere Verbreitung. ‚Post-conflict peace building‘ wurde mit oder ohne Einsatz von Blauhelmen eine der Möglichkeiten, Frieden herzustellen.33 Das gelang gelegentlich de facto, führte aber auch zu nicht nur politisch, sondern häufig auch kulturell eingefrorenen Konflikten, in denen Krieg verhindert, Frieden aber nicht gestiftet wurde. Gerade dieser Zustand des Nicht-Krieges blieb also vielfach eingefroren – auch ohne unmittelbaren Einfluss von nuklearem Patt – ein Ausdruck der fortdauernden Friedlosigkeit.
32 Für viele andere: Saki Dockrill, The End of the Cold War Era. The Transformation of the Global Security Order, London 2005; Mary Sarotte, 1989. The Struggle to Create Post-Cold War Europe, Princeton 2014. Zusammenfassend zum ganzen Komplex: Hannsjörg Küsters, Der Integrationsfriede. Viermächte-Verhandlungen über die Friedensregelung mit Deutschland 1945–1990, München 2000. 33 Vincent Chetail (Hg.), Post-Conflict Peacebuilding. A Lexicon, Oxford 2009; Roland Paris, Wenn die Waffen schweigen. Friedenskonsolidierung nach innerstaatlichen Konflikten, Hamburg 2007.
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In dieser Epoche zwischen 1945 und 1990 wirkte der zweite Weltkrieg als realer Schrecken ebenso wie als abschreckende Berufungsinstanz noch lange nach. Er verband sich mit dem neu hinzugekommenen Schrecken und der daraus folgenden konkreten Angst vor einem Nuklearkrieg – aber dies vornehmlich im globalen Norden des Ost-West-Konflikts. Beide wirkten zusammen und trugen mit ihrem Drohpotential zum prekären Frieden bei, doch gewann die Nuklearisierung über die Großmächte des Nordens hinaus den Charakter eines politischen Instruments.
IV Die Münsteraner Tagung [u. a. zu Friedensritualen und -bildern von 2018] richtete sich nicht allein auf die realen, rechtlich-politischen Vorgänge von Friedensschlüssen und materiellen Folgen solcher Akte, sondern gerade auch auf deren rituelle Einbettung,34 die in früheren Zeiten eher konstitutiv gewesen sein dürfte. Gerade für die neueste Zeit lässt sich aber die Frage nach dem Zusammenhang äußeren Vollzugs und Intention, ja von politisch-historischen Folgen neu stellen.35 In Zeiten der wachsenden und ubiquitären Bildgebung werden internationale Verhandlungen in den meisten Fällen auch öffentlich präsentiert und folgen deswegen auch etablierten Riten. Entsprechende Forschungen nicht nur zur Diplomatie, sondern vor allem zu Friedensprozessen und -schlüssen stehen noch in den ersten Anfängen. Es gab permanent bemerkenswerte Gesten im Prozess von internationalen Aushandlungen, die sich als ikonische Bilder oder Schlagbilder ins zeitgenössische Gedächtnis bis in die Gegenwart hinein eingebrannt haben. Die Ostverträge der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis 1973 waren bekanntlich keine Friedensverträge, sondern solche der bilateralen Normalisierung. Im Dezember 1970 wurde der bundesdeutsch-sowjetische Vertrag zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen, ein klassischer Normalisierungsvertrag, ein Schritt weiter in den seit den fünfziger Jahren vorangetriebenen tastenden informellen Kontakten, geschlossen. Dabei fand die normale Bildgebung von Unterzeichnung und Überreichung der gebundenen Vereinbarungen statt. Wenn aber am Rande der Unterzeichnungszeremonien in Warschau Willy Brandt vor dem Denkmal für den Warschauer Ghettoaufstand von 1943 kniete, war dies zunächst eine Geste gegenüber Juden, keine gegenüber Polen, für deren „nationalen“ Aufstand ab August 1944 es damals noch kein Denkmal
34 Vgl. dazu die Konferenzvorgaben, jetzt die Einleitung zu Gerd Althoff u. a. (Hgg.), Frieden. Theorien, Bilder Strategien. Von der Antike bis zur Gegenwart, Dresden 2019, 8-21; Hans-Ulrich Thamer, Politische Rituale und politische Kultur im Europa des 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 1, 2000, 79–98; diese bezieht sich ganz auf die innergesellschaftlichen Rituale des Zusammenhalts. 35 Zum Rahmen: Barbara Stollberg-Rilinger, Rituale, Frankfurt am Main 2003, hier zumal 203.
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gab: Es herrschte sofort Erstaunen über dieses ursprünglich religiöse Ritual, das zunächst einmal den Genozid an den europäischen Juden zum Ausdruck brachte. In nationalpolitischem polnischem Kontext war das nicht unbedingt willkommen. So brauchte es erst einige Zeit und eines beträchtlichen historisch-politischen Wandels, bis der historische Adlerblick in dieser Demutsgeste des Kanzlers der Bundesrepublik eine allgemeine Aussage über den Umgang mit der NS-Vergangenheit mit ikonischer Wirkung erkannte, oder gar meinte: „Der Christus des Kalten Krieges“.36 Es bedurfte also in einer Verlaufsgeschichte des Bedeutungswandels eines solchen performativen Aktes, bis er auch von polnischer Seite angenommen wurde und generell für die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition im Bewusstsein der NS-Geschichte treten konnte. Es ‚war‘ also nicht der Kniefall, sondern eine wachsende und sich wandelnde geschichtspolitische Deutung des Rituals. Mit einem geradezu planetarisch ausgeweiteten Blick kann dieser Kniefall dann auch für die Aussöhnung von Ost und West, den Zusammenbruch der Sowjetunion und damit für einen informellen Frieden im Kalten Krieg stehen. Es fragt sich nur, welche konkrete Aussage dann noch darin liegt. Eine methodisch vertiefte Verfolgung dieses Argumentationsstranges würde diesen Beitrag sprengen.37 Gerhard Paul hat die Entfaltung dieses Wandels von Bildbedeutungen und -zuschreibungen in opulenten Bänden ebenso unternommen, wie ein solches Eigenleben in der Deutung performativer Rituale sektoral für deutsche Erinnerungsorte oder andere nationale Unternehmungen versucht worden ist.38 Ein anderes, herkömmliches Versöhnungsritual par excellence stellt der ‚Bruderkuss‘ dar. Er stammte wohl in der hier zu nennenden Version aus der sozialistischen Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts und setzte sich in der Nach-Stalinzeit bis in die sechziger Jahre im sogenannten Ostblock im Begrüßungsritual zwischen führenden Politikern als übliche Solidaritätsgeste durch.39 Ohne Zweifel, das war ikonisch, ein Friedensritual, das sich jedoch von Oppositionellen und post festum
36 Christoph Schneider, Der Kniefall von Warschau, in: Gerhard Paul (Hg.), Das Jahrhundert der Bilder von 1949 bis heute, Göttingen 2008, 410–417 (hier die Deutung nach dem Cover von Time Magazine 1971); Friedrich Kießling, Täter repräsentieren. Willy Brandts Kniefall in Warschau. Überlegungen zum Zusammenhang von bundesdeutscher Außenrepräsentation und der Erinnerung an den Nationalsozialismus, in: Johannes Paulmann (Hg.), Auswärtige Repräsentationen. Zur Selbstdarstellung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, Köln 2005, 205–224; meine Einordnung: https://erinnerungsorte.fes.de/der-kniefall-willy-brandts/ (1.8.2022). 37 Ohne unbedingt die Performanz von Entschuldigen einzubeziehen, gibt es Ansätze zu einer – problematischen - Nationentypologie: Jennifer M. Lind, Sorry States (wie Anm. 17). 38 Gerhard Paul (wie Anm. 36); Etienne Francois, Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001; Jens Jäger, Fotografie und Geschichte, Frankfurt am Main 2009. 39 Claudia Schimmel, Der ‚sozialistische Bruderkuss‘, in: Berliner Osteuropainfo 11, 1998, 81–84, https://www.oei.fu-berlin.de/media/publikationen/boi/boi_11/27_schimmel.pdf. (1.8.2022). [https://de.wikipedia.org/wiki/Sozialistischer_Bruderkuss, (1.8.2022)].
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hervorragend ironisieren ließ, da der Kuss real häufig das Gegenteil zu bedeuten schien als das, was er behauptete; der Kuss Leonid Breshnews und Erich Honeckers von 1979 sticht hierunter hervor. Ein anderer Ansatz, um das Themen der Friedensbilder und -rituale einzubetten, bestünde in der genaueren Untersuchung der Ikonographie von Staatsbesuchen, die ja auch immer etwas mit Kommunikation, die spannungsabbauend und damit friedensfördernd sein können, zu tun hat. Johannes Paulmann hat dies für Monarchenbegegnungen im 19. Jahrhundert wegweisend methodisch erschlossen.40 Doch das führt zu etwas ganz anderem, der Selbstdarstellung von Staaten und von Staaten in Interaktion. Während erneut Paulmann für die BRD vielfältige Beiträge zur Ritualisierung und Selbstdarstellung von Politik gesammelt hat, hat Simone Derix für den engeren Rahmen, die Staatsbesuche in der Bundesrepublik, die wechselnden Elemente, langsamen Wandel und je bilateral zu gestaltende Programmpunkte innovativ erschlossen.41 Das hat mit einem sinnvoll abgrenzbaren Begriff von Frieden als solchem nichts zu tun, zeigt aber, dass es einen Rahmen und frei zu gestaltende Züge für solche Staatsinszenierungen gab, die international ein spannendes Feld sein können. Nehmen wir in diesem Sinne vertiefend noch einmal die eingangs genannten Friedensschlüsse mit den kleineren Verbündeten des Deutschen Reiches zur Hand: Die Außenminister der Großen Vier arbeiteten in camera in mehreren Sitzungen bis 12. Juli 1946 Friedensverträge mit diesen Staaten vor. Diese Entwürfe erhielten ihre 21 Verbündeten in einer Pariser Friedenskonferenz unterbreitet. Das Ergebnis dessen waren 94, zumeist mit Zwei-Drittel-Mehrheit unterbreitete Änderungsvorschläge. In einer New Yorker Außenministerkonferenz der Großen Vier nahmen diese in einem Monat bis 12. Dezember 1946 71 davon an. Diese Verhandlungen liefen jeweils geschäftsmäßig und wenig ritualisiert ab. Die Unterzeichnung der Friedensverträge im traditionellen Uhrensaal des französischen Außenministeriums gestaltete sich glanzvoll mit aufeinander folgender Unterzeichnung durch die – je nach vormaliger Kriegskonstellation – um die 20 Sieger und die ehemaligen Verlierer. Zwei Dinge trübten jedoch diese traditionelle Friedensperformanz: Die Außenminister der Großen Drei hatten zuvor schon in ihren Hauptstädten einzeln unterzeichnet. Der Grund lag im Wechsel im US-Außenministerium, wo James F. Byrnes unterzeichnete, der zur Zeit der Friedenskonferenz schon durch George Marshall abgelöst worden war. Da diese distanzierte Unterzeichnung in der eigenen Hauptstadt eine Art Augenhöhe der Großen darstellte, taten das auch der britische und der sowjetische Außenminister in London und Moskau, so dass die Botschafter
40 Johannes Paulmann, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn 2000. 41 Simone Derix, Bebilderte Politik. Staatsbesuche in der Bundesrepublik 1949–1990, Göttingen 2009.
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der Großen Drei den Akt ihrer Außenminister in Paris noch einmal beglaubigten. Es versteht sich, dass der französische Außenminister anders verfuhr, da er selbst an seinem Amtssitz der Zeremonie vorsaß. Die zweite Merkwürdigkeit im Friedensritual war es, dass einige der Verlierer mit einigen der Sieger am Tag der Unterzeichnung in Streit gerieten, auch einige der kleineren Siegerstaaten gegen ihnen nicht genehme Regelungen protestierten. Letztlich unterzeichneten alle. Aber zum abendlichen Festbankett der französischen Regierung waren die Sachfragen und damit die Animositäten noch nicht verdaut, so dass die Italiener hier nicht teilnahmen.42 Ein solches Vorgehen eröffnet ein weites Feld künftiger Forschungen: Der ritualisierte Konflikt im inszenierten Frieden. Ein Eindruck soll jedoch für die ganze Epoche des Kalten Krieges thesenhaft formuliert werden: das gesamte Instrumentarium an Symbolen, Bildern, Gesten und Ritualen der letzten Jahrhunderte stand und steht in der internationalen Diplomatie bereit und lässt sich als mehr oder weniger beliebiges Versatzstück einsetzen. Die Inszenierung, das Bild, die Performanz bleibt wichtig, doch stehen diese häufig an erster Stelle der Ergebnisse; die materielle oder rechtliche Substanz der „Verhandlungen“, diplomatischen Gespräche bleibt dabei zumindest vorläufig offen und letztlich sekundär:43 Hauptsache, es gibt eine angemessene Repräsentation eines Treffens in der Öffentlichkeit, die zunehmend auch im Modus der Gleichzeitigkeit und der Ubiquität durch soziale Medien erscheint. Hinzu kommt die Zunahme bewegter Bilder, der Farbe und der dauernden Wiederholbarkeit. Doch das dürfte sich in den letzten 30 Jahren nochmals zugespitzt haben. Gerade bei internationalen Verhandlungen bilden sich bestimmte Elemente als wahrscheinlich bis zwingend aus: das Foto vom Verhandlungstisch, oft eines runden Tisches, die Unterzeichnungszeremonie mit mehreren (fast immer) Männern vor Vertragsdokumenten, der Handschlag oder Händedruck. Das gilt auch noch für die Friedensverträge von Paris und San Francisco 1947/1951. Wenn es weit über den Rahmen der wenigen Verhandlungspartner hinausreicht, dann gewinnt das „Gipfelfoto“ eine mehr oder weniger verpflichtende Qualität für die öffentliche Darstellung: G7, G20, Europäischer Rat und eine kaum mehr überschaubare Zahl internationaler Spitzentreffen auf allen Kontinenten und mit regionalen oder kontinentalen Öffentlichkeiten, die zunächst auf Performanz angewiesen sind, welche die materiellen Verhandlungsergebnisse (vorerst) überstrahlen. Genau dies will aber jeweils wohl inszeniert sein; die Platzierungen werden zuvor genau ausgehandelt, Überschreitungen kommen vor, sind dann aber wohl erwogene oder
42 Dülffer, Frieden nach dem Zweiten Weltkrieg (wie Anm. 16), 222–225. 43 Zur frühneuzeitlichen Diskussion, z. B. Heinz Schilling, Symbolische Kommunikation und Realpolitik der Macht, in: Barbara Stollberg-Rilinger u. a. (Hgg.), Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektive der Erforschung symbolischer Kommunikation, Köln u. a. 2013, 189–198.
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spontane Interventionen, die wiederum der medialen Präsentation und Deutung anheimgegeben werden.
V Im Jahre 1952 erschien das Buch eines Kriminologen, Hans von Hentig: „Der Friedensschluß“.44 Der Autor sprach damals von einem „Halbfrieden“, der „dem schlaueren Koalitionspartner ein Land mitsamt allen ‚Menschenrechten‘ aus(händigt). Er stärkt die eine Seite für die Auseinandersetzung, die kaum noch zu vermeiden ist. Es ist der ‚Frieden‘, der stets das Böse will und stets das Böse schafft.“ Er führte ferner aus: Wer nach einer Erklärung sucht, warum Idee, Inhalt und technische Konstruktion des Friedens in Zerfall geraten sind, muß in das Vorfeld der geschichtlichen Geschehnisse zurückgehen. Hier scheinen Entwicklungen abzulaufen, die Unvermögen und Unfähigkeit zu dieser höchsten aller kollektiven Leistungen hervorrufen [...] Was, fragen wir, hat die Menschheit so vergröbert, ihren Blick verdunkelt, ihre schützenden Instinkte abgestuft? Wie kam es, dass die Errungenschaften endlos langer Perioden der Domestikation verlorengingen, deren Funktion es war, das Überleben der Menschen zu sichern?
Der Verfasser suchte teils mit psychologischen Kategorien, teils aber auch mit fragwürdigen historischen und politischen Voraussetzungen zu antworten. Seine Äußerungen spiegeln aber die Erregung und den Pessimismus, ja Fatalismus, mit dem ein deutscher Zeitgenosse sieben Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg die Welt im Allgemeinen und besonders für die Deutschen sah. „Zwischen Waffenstillstand und Friedensschluß, der der Allmacht gewisse Grenzen setzt, dehnt sich, dem internationalen Recht unbekannt, ein Blachfeld [sic!] absoluter Willkür. Wird es den Völkern gelingen, diesen Leerraum der Zivilisation mit neuen Normen auszufüllen?“ Er hatte auch die Antwort: „Wir lehren Militärwissenschaft. Wir kennen keine Wissenschaft des Friedens.“ Diese bleibt in der Tat bis in die Gegenwart in ihrer Konzipierung und Durchsetzung ein schwieriges Unterfangen. Die Bedingungen für eine Minimierung von Friedlosigkeit zu erkennen und umzusetzen, ist einer dieser Umschreibungen.
44 Hans von Hentig, Der Friedensschluß. Geist und Technik einer verlorenen Kunst, Stuttgart 1952, nachfolgende Zitate: 272, 308, 309.
Friedensbewegungen in der Bundesrepublik Deutschland 1945–2005 Ein knapper Versuch1 Friedensbewegungen sollte man als soziale Bewegungen analysieren. Wenn man sie versteht „als ein[en] auf gewisse Dauer gestellte[n] Versuch mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen, sozialen Wandel durch Protest herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen“ (Dieter Rucht), kommt man weiter als mit einer blutleeren Ideen- und Organisationsgeschichte. Denn dann lassen sich auch die Mobilisierungsformen in den Blick nehmen, Binnenöffentlichkeit und Wirken in einer weiteren regionalen, nationalen oder überstaatlichen – transnationalen – Öffentlichkeit treten dann als Analysekategorie auf. Das gibt potenziell eine vielgestaltige Matrix, die in den folgenden Bemerkungen nur als Rahmen dienen kann; er wird hier weder an jeder Stelle ausdrücklich benannt noch gar ausformuliert und entfaltet. Der Zweite Weltkrieg drang ins deutsche Bewusstsein zunächst vor allem als militärische Niederlage ein, nicht so sehr als von deutscher Seite verantworteter und rassenideologischer Vernichtungskrieg. Ebenso bildeten Hiroshima und Nagasaki zunächst noch keinen Orientierungspunkt. Auch das reichte aus, um zu Wunsch, Einsicht und Erwartung zu kommen, dass ein allgemeiner Krieg nunmehr erst recht vermieden werden musste. Aber zu einer durchgängigen mentalen Ächtung etwa von Militär in Deutschland kam es nicht. Sehr früh, zunehmend ab 1947, sorgte der aufkommende Kalte Krieg dafür, dass auch die Deutschen in zwei Staaten getrennt und wieder zur Aufstellung von Soldaten veranlasst wurden. Diese wurden wichtige Elemente der jeweiligen Integration der Machtblöcke untereinander wie der Integration beider deutscher Staaten in westlichem bzw. östlichem Block. Selbstverständlich gab es darüber hinaus je unterschiedliche wirtschaftliche und mentale Einbindung wie Zwang. Anders als in den Dekaden zuvor waren die westdeutsche Regierungspolitik wie die Mentalität in der Gesellschaft nicht dauerhaft von Kriegsbereitschaft oder gar -begeisterung bewegt; vielmehr beherrschte wiederholt zeitweilig Kriegsfurcht (Berliner Blockade 1948/49, Korea-Krieg 1950–53, Berlin-Krise 1958–62, Kuba-Krise
1 Dieser Beitrag geht auf eine stark gekürzte, überarbeitete und ergänzte Fassung eines Vortrages vom 27. November 1992, „Die Friedensbewegungen und das deutsche Problem mit dem Frieden 1892–1992“ für die „Philosophisch-Politische Akademie Bonn“ (Leitung: Susanne Müller) zurück, der 2005 publiziert wurde. Dieser wiederum wurde hier aktualisiert.
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1962, „Nachrüstung“) die Einstellungen weiter Bevölkerungskreise. Friedensbewegungen nach 1945 hatten es daher einerseits schwer, andererseits aber auch leicht: Sie standen in ihrer Ablehnung von Krieg oder einer deutschen Beteiligung daran in einem mentalen Grundkonsens. Hinzu kam in konkreten Krisen, dass eine Ausweitung zum allgemeinen Krieg in Europa, welcher die Perspektive eines globalen und völkervernichtenden Atomkrieges in sich barg, in einer ersten Stufe auch immer Bürgerkrieg in Deutschland bedeutete. Das erzeugte Probleme wie Chancen auch und gerade für Friedensbewegungen. Man musste den Regierungen nachweisen bzw. für die Ansicht Gehör finden, dass die konkret betriebene (west-) deutsche Außenpolitik bzw. die des Westens insgesamt ihr Ziel nicht erreichen werde, ja das Gegenteil befördere. Zunächst ging es vor allem darum, dass die Trennung der beiden deutschen Staaten befestigt oder vorangetrieben werde. Es handelte sich also um die Entlarvung offizieller Friedensbekundungen als „objektiv“ falsch oder gar kriegsfördernd und damit um das Eintreten für andere Mittel zur Friedenssicherung, wie etwa die Kriegsdienstverweigerung. Hinzu kam die umgekehrte Unterstellung des mit friedenssicherndem Anspruch auftretenden Regierungsestablishments, wonach gerade Friedensbewegungen das Gegenteil der erstrebten Friedenssicherung bewirkten, ja objektiv betrieben und gar die „Geschäfte Moskaus“ durch Schwächung westlichen Selbstbehauptungswillens besorgten. Es war die These vom „Trojanischen Pferd“, ironisiert bis hin zum „trojanischen Esel“. Das schuf für die permanente Organisation von Friedensbewegungen in der Bundesrepublik bis 1989 schwierige Ausgangsbedingungen: Friedensbewegungen – in großer Vielfalt im Einzelnen – neigen wohl zumeist dazu, „Sicherheitsargumente“ der eigenen Seite für übertrieben oder unbegründet zu halten, die bedrohlichen Aspekte der Politik der gegnerischen Seite zu vernachlässigen. Grundsätzliche Argumentebenen wie die von der Aggressivität „des“ Kommunismus taten ein Übriges, um eine abwägende Beurteilung der Konfrontation zu erschweren. Im deutschen Fall waren sie aber bis zur Wende von 1989 über den weltweiten Aspekt hinaus, gelegentlich widerwillig, eng in die nationale Frage eingebunden – auch und gerade, wenn sie seit den siebziger Jahren zunehmend die Existenz einer solche leugneten. Genau darin lag auch das Dilemma der 1946 größtenteils von alten Mitgliedern des Westdeutschen Landesverbandes der Deutschen Friedensgesellschaft wiederbegründeten Bewegung, deren Mitgliedschaft im Laufe der nächsten anderthalb Jahrzehnte von fünfstelligen Zahlen unter die Tausendergrenze sank. Sie kooperierte und fusionierte 1968 mit der Internationale der Kriegsdienstgegner, 1974 auch mit dem Verband der Kriegsdienstverweigerer (zunächst über 10.000 Mitglieder). Kriegsdienstverweigerung kennzeichnet einen zentralen Programmpunkt. Aber neben weltbürgerlich-pazifistische Zielen, die im zunehmenden Kalten Krieg weniger Anklang fanden, trat in den fünfziger und sechziger Jahren eine neutra-
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listische Haltung, begleitet von Appellen zu direkten Verhandlungen der beiden deutschen Staaten, welche die DFG von außen her, z. T. berechtigt, als kommunistische Vorfeldorganisation erscheinen ließ. Auf andere, an Weimar anknüpfende Organisationen kann hier nicht eingegangen werden. Die dominierenden Strömungen in der Entwicklung der westdeutschen Friedensbewegungen liefen anders. Sie waren und blieben schwach organisiert, oft in losen Netzwerken; sie traten als wechselseitiges Bündnis heterogener Gruppierungen hervor. Dabei suchten sie Anlehnung oder Unterstützung von SPD, Gewerkschaften und Kirchen, bekämpften diese aber auch gelegentlich wegen zu schwachen Engagements für ihre Ziele. Ihre Handlungsfähigkeit steigerte dies freilich nicht. Sie traten in zeitlichen Wellenbewegungen hervor, die aus akuten Anlässen entstanden. Ihre Aktivitäten verebbten nach einiger Zeit wieder weitgehend. Die DFG, aber auch einzelne Personen sowie die genannten Institutionen bildeten nur gelegentlich einen beachteten und zur Aktion drängenden dauerhaften organisatorischen Kern, stellten sonst eher eine Disposition mit Mobilisierungsmöglichkeit dar. Die Friedensbewegungen stellten einen zentralen Teil sich entfaltender Bürgerproteste dar, sie begriffen sich seit den sechziger Jahren unter Ausweitung des Friedensbegriffs gerade auf innergesellschaftliche Phänomene mehr und mehr als Teil alternativer Reformbewegungen insgesamt. Das erklärt die Vielfältigkeit der programmatischen Ansätze, aber auch gelegentlichen punktuellen Rekurs auf den allgemeinen internationalen Frieden. Ob oder wie weit hier ein kontinuierlicher Lernprozess zu verzeichnen ist oder ob kurzfristig emotionale Empörung als vorpolitische Mobilisierung zu sehen ist, steht noch zur Debatte. Nach 1945 gab es – wohl noch stärker als 1918 – eine Nie-Wieder-KriegStimmung im Konsens der geschlagenen Deutschen, aber zunächst keine Bewegung. Es war eine „Tendenz mit Massenbasis“ (Wasmuht), eine Ohne-MichHaltung. Sie wurde in der Opposition gegen die Wiederaufrüstung artikuliert. Von 1950 bis 1955 reichte daher eine erste Phase. In dieser Zeit mobilisierte sich zunächst um Gustav Heinemann und Martin Niemöller bewusst kein großer aktiver Kreis. Militärfragen und nationale waren beide unlösbar miteinander verbunden. Bei Sympathien von Teilen der SPD und der Basis im DGB, aber bei Distanz der Organisation selbst erbrachte eine Unterschriftenaktion für eine Volksbefragung angeblich ca. sechs Millionen Unterschriften. Die Volksbefragung selbst wurde aber – nicht zuletzt aufgrund der Besetzung gerade des Friedensbegriffs durch die Kommunisten – von Bundesinnenminister Robert Lehr im April 1951 verboten. Die von Heinemann und Helene Wessel begründete „Notgemeinschaft für den Frieden Europas“ wurde bald von SPD und FDP bekämpft und scheiterte im Herbst 1952 mit einer Petition von etwa 148.000 Unterschriften. Hieraus wurde ebenso wenig eine Volksbewegung wie aus der „Paulskirchen-Bewegung“ 1955, schon der Ort, die Reihenfolge der Begriffe in der Parole: „Rettet Einheit, Freiheit, Frieden. Gegen
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Kommunismus und Nationalismus“ in diesem „Deutschen Manifest“ machten klar, dass die Frage neuer deutscher Streitkräfte nicht nur ein Friedensargument war, sondern vor allem die Wiedervereinigung dadurch in weitere Ferne gerückt werden musste. Trotz Beteiligung von Personen wie DGB-Chef Walter Freitag und SPD-Vorsitzendem Erich Ollenhauer blieb diese Bewegung „ohne organisatorische Konzentration und politische Durchsetzungskraft“ (Kleßmann). In der zweiten Phase (1957–1958) wechselte das zentrale Thema von Friedensbewegungen. Die nationale Frage trat in den Hintergrund gegenüber einer akuten Sorge um die Gefährdung des Friedens, die Folgen eines atomaren Krieges. Pointiert lässt sich sagen, dass erst jetzt die grundsätzliche Erkenntnis von der Unführbarkeit eines modernen Krieges in die Breite drang. Es ging nicht mehr primär um die Wiederkehr der Schrecken des Zweiten Weltkrieges, sondern um die Vernichtung der Menschheit im Atomkrieg. Aber zu breit war dies dennoch nicht. Die Wiederbewaffnung als solche war nach allem, was aus Meinungsbefragungen bekannt ist, in den fünfziger Jahren bis in die sechziger Jahre hinein unpopulär, hatte zunächst drei Viertel, dann lange noch bis zur Hälfte der Bevölkerung in der Bundesrepublik gegen sich, was sich auch 1951/52 in Landtagswahlentscheidungen niederschlug. Die Frage nach atomaren Trägerwaffen für die Bundeswehr wurde wohl in ähnlicher Weise nur von einem Viertel der Befragten positiv gesehen. Nur mobilisierte diese Meinung nicht zu einer umfassenden Bewegung. Gegen Atomwaffen im Allgemeinen, US-Stationierung in Europa und Manöverlagen im Besonderen war seit 1955 eine gewisse Sensibilisierung in Westdeutschland erwachsen. Aber erst der „Appell der Göttinger Achtzehn“ vom 12. April 1957 nach Adenauers Bagatellisierung von Atomwaffen als weiterentwickelter Artillerie, dann das Eingreifen des populären „Urwaldarztes“ Albert Schweitzer in die Debatte entfachten eine breitere Bewegung. DGB und SPD trugen zunächst diese Bewegung mit, verkoppelten sie mit Disengagement-Plänen in Europa, was für die Regierung die Struktur der bundesdeutschen Einbettung in den Ost-West-Gegensatz infrage stellte. Viele Einzelaktionen wurden im März 1958 zu einer breiten Initiative von parlamentarischer Opposition (mit Teilen der FDP) und außerhalb in der Aktion „Kampf dem Atomtod“ gebündelt. Meinungsbefragungen signalisierten eine knappe Mehrheit der Bevölkerung für eine Bereitschaft zum Generalstreik, einige Gewerkschaften, wie die IG Metall, standen ganz auf der Seite der Bewegung. Massenkundgebungen mit einer geschätzten Teilnehmerzahl von über 300.000 Menschen bis zu einer Million fanden im Frühjahr 1958 statt. Aber drei Vorgänge brachen jeden Schwung: Nach der parlamentarischen Entscheidung für die Stationierung beschloss das Bundesverfassungsgericht am 30. Juli 1958 eine Volksbefragung sei unzulässig. Hinzu kam das Ergebnis der nordrhein-westfälischen Landtagswahlen, in denen die CDU am 6. Juni 1958 erstmals eine absolute Mehrheit erzielte (wie bereits zuvor erstmalig und einmalig die CDU in der Bundestagswahl im Herbst 1957 die absolute Mehr-
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heit der Stimmen erzielte). Nach dem DGB zog sich auch die SPD zurück. Die Bewegung bröckelte; ihr Engagement nahm ab. In dieser zweiten Phase hatte es im Gefolge Gustav Heinemanns über die Gesamtdeutsche Volkspartei und manche Protestanten eine direkte personelle Kontinuität zur ersten Phase gegeben, wohl auch – bei verändertem Programm – eine kumulative Mobilisierung. Sie dominierte aber im allgemeinen Meinungsklima des Antikommunismus und der beginnenden Wohlstandsgesellschaft nicht. Das erklärt weitgehend ihren mangelnden organisatorischen Bestand. Eine dritte Phase der Friedensbewegungen entwickelte sich aus der OstermarschBewegung der fünfziger, vor allem aber sechziger Jahre, deren punktuelle Mobilisierung vor allem gegen die nuklearen Rüstungen nach britischem Vorbild vornehmlich an einem bestimmten Feiertag – eben Ostern – zu Umzügen und Märschen zu recht unterschiedlichen militärischen Orten führte (z. B. dem Truppenübungsplatz Bergen-Hohne). Zwar in neuer Form stand diese dennoch in Kontinuität zu der vorausgegangenen Phase, fand auch stärker als zuvor eine internationale Vernetzung. Zugleich entwickelte sie andere, auch international geprägte Ausdrucks- und Aktionsformen. Damit löste sie sich auch von den bestehenden Organisationen wie Parteien und Gewerkschaften. Zum Teil ging hieraus in den 1960er Jahren die Studentenbewegung hervor, die viel radikaler ansetzte und grundsätzlicher argumentierte. Die Friedensfragen wurden hier vielfach allgemein eingebettet in eine Kritik des Kapitalismus, des Spätkolonialismus, der Welt- und sozialen Ordnung gleichermaßen. Diese bis zu einer umfassenden „Kulturrevolution“ formulierenden Proteste entwickelten neue, kreative Formen, die zu einem beträchtlichen Teil aus dem US-amerikanischen Protest stammten und globale Wirkungen entfalteten. Das fing in Universitäten mit Teach-ins und Sitins und anderen kreativen bis konfrontativen Riten an und suchte immer wieder als Teil des allgemeinen, ja globalen Klassenkampfes auch die Gesamtgesellschaft, vor allem also die Arbeiterschaft, zu erreichen. Hiermit scheiterte die Studentenbewegung jedoch. Neben den Fragen etwa nach der Rolle von Elterngeneration in der NS-Zeit und damit die Vergangenheit standen grundlegende innenpolitische Fragen (Notstandsgesetze als Sorge vor Demokratieverlust). Einen friedenspolitischen Kern bildete der Protest gegen den Vietnamkrieg und damit eine zentrale Klammer, ja einen Katalysator nicht nur der deutschen, auch der internationalen Mobilisierung. Aus den Universitäten heraus kam es zu Straßenumzügen und Protestdemonstrationen, aber auch Tagungen, Kongressen. Kurz: Durch die Massenmedien, Fernsehen voran, motiviert, nutzte die Protestbewegung ihrerseits die relativ neuen Medien zur Beförderung von Aufmerksamkeit für politische Ziele im Rahmen einer radikalen Gesellschaftskritik. Das trug auf der einen Seite wesentlich zu einer allgemeinen Sensibilisierung der Gesellschaft bei, führte aber auch zu Abstoßungsreaktionen („kleine radikale Minderheit“). Die Friedensfrage wurde zu nur einem der vielen
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gesellschaftlichen Themen. Die Entwicklung von einer solchen umfassenden, dennoch primär auf Studenten basierenden Bewegung bis in ihr teilweises Eintauchen in die Radikalität von Terror bis hin zur „Roten Armee Fraktion“ oder zu kadermäßig organisierten kommunistischen Gruppen, die sich zu unterschiedlichen (Splitter)Parteien wandelten, trug zu ihrer Diskreditierung in breiten Teilen der Öffentlichkeit bei. Jedoch war dies keineswegs der gleichsam „natürliche“ Weg dieses Aufbruchs gewesen. Sie mündete vielmehr in den siebziger Jahren in einer breit gefächerten grün-alternativen Bewegung mit der Vertretung anderer, innovativer Lebensformen, in denen die militärische Bedrohung, aber auch die zivile atomare Verwendung wichtige Punkte blieben. Massendemonstrationen um Wyhl, Brokdorf, Frankfurter Startbahn West oder Gorleben signalisieren dezentrale Orte, an denen Großkundgebungen oft zur Konfrontation mit den Ordnungskräften führten und führen sollten. All dies hatte in der vierten Phase, den siebziger Jahren, nur mehr sehr begrenzt mit Friedensfragen zu tun, wenn auch vor allem im Gefolge von Ökologie die Atomkriegsgefahren und -folgen als Teil der Programme erhalten blieben. Die bislang größte Friedensbewegung formierte sich in dieser Zeit mit einem zentralen Argumentationskern: der Verhinderung einer Stationierung neuer (Mittelstrecken)Raketen. Endzeiterwartungen eines bevorstehenden Atomkrieges in Deutschland – sei es als feste Absicht der US-Regierung Reagan unterstellt, sei es als zu erwartende Reaktion der durch die Stationierung provozierten Sowjetunion – führten 1981/82 mehrmals hunderttausende Demonstranten zusammen, nicht zuletzt, um eine friedfertige Gegenwelt zu demonstrieren. Erneut schlossen sich (nach einem Generationenwechsel auch in diesen Organisationen) wesentliche Teile von SPD, Gewerkschaften und Kirchen an. Aber nach dem nicht zuletzt deswegen vollzogenen Sturz der sozialliberalen Regierung Helmut Schmidts setzte die nachfolgende Regierung Kohl die Stationierung der neuen Waffen ab 1983 durch. Die inneren Widersprüche der heterogenen Koalition der Friedensbewegung, schließlich auch die dann doch begonnenen Verhandlungen und Abkommen der Supermächte führten zwar noch bis 1987 zu Blockaden wie in Mutlangen, ließen die Massenbewegung erneut weitgehend zerfallen. Ob der Erfolg der nachfolgenden Abrüstungsabkommen wegen der Einsätze der im internationalen Rahmen besonders intensiven deutschen Friedensbewegung erreicht wurde, oder ob ihre Erfolglosigkeit bei zunächst vollzogener Stationierung zu diesem Ergebnis wesentlich beitrug, bleibt eine in der Forschung seither diskutierte Frage. Schließlich sei erwähnt, dass sich nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten – die DDR hatte ganz andere Bedingungen für Friedensbewegungen, die sich seit den achtziger Jahren als Opposition formierten – und dem damit einhergehenden Ende der militärischen Konfrontation im Ost-West-Konflikt eine fünfte Phase von Friedensbewegungen erkennen lässt. Sie war jetzt nicht mehr so stark von der Angst vor einem allgemeinen Atomkrieg bestimmt, sondern ent-
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wickelte sich kurzfristig vor und während des zweiten Golfkrieges 1990/91 um Kuwait (nach dem ersten, dem iranisch-irakischen Krieg) und dem dritten Golfkrieg (im Irak) 2003. Sie bildete den Ausdruck einer mittlerweile entwickelten breiteren Protestkultur. Die Massenumzüge und Großdemonstrationen Anfang 1991 standen vielfach unter der Parole „Kein Blut für Öl“, artikulierten sich in Sorge vor einer Mitwirkung der Bundesrepublik an einem zwar von den Vereinten Nationen legitimierten und regionalen Krieg, dem oftmals plakativ mit dem Etikett: „Der Krieg“ eine Allgemeinheit unterstellt wurde, den er jedoch mit der Befreiung Kuwaits von irakischer Herrschaft so doch nicht entwickelte. Die Kundgebungen des Jahres 2003 vor dem US-amerikanischen Krieg am Persischen Golf erreichten eine neuartige europaweite Dimension und gipfelten in den bisweilen weltweit neuartig vernetzten Demonstrationen vom April desselben Jahres. Sie wussten sich diesmal vielfach im Einvernehmen mit ihren Regierungen (so zumal in Frankreich und in Deutschland) und artikulierten einen tiefgehenden Zweifel am Sinn eines kriegerischen Einsatzes seitens der USA aus dort vorgebrachten Gründen, die in der Gefährdung der Sache nach und in seiner Ursächlichkeit im weltweiten Tenor angezweifelt wurden. Erstaunlich bleibt dennoch die Breite der punktuellen Mobilisierung ebenso wie das Abebben trotz des (relativ kurzen) offenen Krieges der „Koalition der Willigen“ im Irak. Die Wellen der Friedensbewegung in Westdeutschland markieren insgesamt einen langfristigen Wandel in gesellschaftlicher Mentalität, sind Teil davon und haben ihn vorangetrieben. Das gilt auch und gerade in der langsamen Annäherung an den eingangs diagnostizierten Funktionswandel von Krieg in modernen Gesellschaften seit 100 Jahren. Eine Diagnose vom Scheitern der Friedensbewegungen nach 1945 in den hier charakterisierten fünf Phasen ist daher nur vordergründig zu vertreten, wenn man sie an den artikulierten Zielen in den jeweiligen internationalen politischen Krisenlagen misst. Zentral waren jeweils die Anlässe für die kurzfristige Mobilisierung: Es waren in vielem aktuelle Politikentscheidungen, denen zunächst tiefgreifende Folgen für die nationale Existenz, ja apokalyptische Folgen für die Menschheit insgesamt beigemessen wurden. Lässt sich für die ersten Phasen streiten, ob es überhaupt im Kern Friedensbewegungen waren, also ob nicht z. B. die nationale Frage („Wiedervereinigung“) das zentrale Anliegen war, das in dieser Wahrnehmung durch Remilitarisierung verhindert wurde, so erwies sich 1957/58 und 1979/83 (Phase 2 und 4) die Angst vor einer unwiderruflichen Entscheidung auf atomare Vernichtung hin als unbegründet, auch wenn damit die Wahrnehmung von Erscheinungsformen eines allgemeinen Krieges im Bewusstsein breiter Kreise nach und nach verankert wurde. Wenn die langlebigen Organisationen der Friedensbewegung in der Bundesrepublik letztlich marginal blieben, so konnte dies auch damit zusammenhängen, dass andere Werthaltungen mit der an sich akzeptierten Friedensabsicht im Wider-
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streit standen. Allen voran ist der Antikommunismus zu nennen, das – wie auch immer berechtigte, aktuell manipulierte oder historisch überkommene – Gefühl einer Bedrohung aus dem Osten. Das führte zu einer Werteabwägung, welche seit den späten vierziger Jahren – plakativ zugespitzt – die Alternative „lieber rot als tot“ nicht akzeptieren wollte und so nicht primär auf die materielle oder mentale Nichtrüstung oder Abrüstung setzen wollte. Das ist mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes ebenfalls hinfällig geworden. Es könnte aber auch so gewesen sein, dass der „Kalte Krieg“ unter anderem wegen der Pax Atomica nicht in heißen Krieg umschlug. Wenn John Lewis Gaddis bereits 1987 von „The Long Peace“ handelte, war das vielleicht polemisch zugespitzt. Vielleicht sollte man lieber von einem „Sustainable Conflict“ reden – ein nachhaltiger Konflikt, an dessen Schüren und Weiterbestehen beide Seiten aufgrund ihrer ideologisch bestimmten kognitiven Muster allzu gerne lange festhielten. Beide Seiten wussten auch in Krisensituationen, dass ein solcher Krieg nicht gewinnbar sei, dass politische Positionsvorteile bis hin zum direkten militärischen Druck und Stellvertreterkriegen unterhalb der Schwelle des allgemeinen Krieges gehalten werden mussten und konnten; sie blieben berechenbar. Friedensbewegungen, die jeweils im Kontext weiterreichender Protestbewegungen standen, suchten gerade diese Dilemmata nicht nur zu benennen, sondern durch spezifische Formen der Aktion und Öffentlichkeit zu unterlaufen. In mancher Hinsicht ist die Wende von 1989/90 der größte Erfolg von Protestbewegungen, der jemals auf deutschem Boden stattfand. Sie ging von der DDR aus und ihr gelang es, die benannte Konfrontation des Ost-West-Konfliktes aufzubrechen und schließlich zu überwinden. Die Friedensfrage spielte hier gegenüber bürgerrechtlichen Motiven (und sehr speziellen Protestformen) nicht die zentrale Rolle, aber die Prägungen der Antiraketenproteste der frühen 1980er Jahren hatten auch im östlichen Teil Deutschlands zuvor für eine Mobilisierung gesorgt. Die innenpolitischen Folgen, die mentale Mobilisierung von Feindbildern nicht nur im Osten, sondern auch im Westen und zumal in beiden deutschen Staaten müssen allerdings dagegengehalten werden. Es geht darum, die Kosten zu erkennen, „den Krieg gegen die gesellschaftliche Einbildungskraft“, wie ihn Michael Geyer einmal nannte, um ihn mit dem Preis des vermiedenen heißen Krieges der Staatengesellschaft zu verrechnen. Friedensbewegungen zeichneten sich dadurch aus, dass sie gerade diese Mechanismen der Verfestigung des Ost-West-Konflikts in internationaler Politik wie mentaler Ausrichtung zu unterbrechen suchten. Von 1945 bis heute, vom Vierzonendeutschland über zwei deutsche Staaten bis zur Vereinigung von 1990, suchten die Deutschen primär nicht von sich aus durch militärisch gestützte Machtpolitik Konflikte zu lösen, deren Austragungsformen durch die jeweiligen Bündnisse im Osten und Westen wesentlich bestimmt wurden. *
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In der Gegenwart des Jahres 2022 zeichnet sich noch stärker als im Vorangegangenen betont ein mehrfacher Wandel ab. Zunächst einmal: sozialer, friedlich ausgeübter Protest wurde schon in der alten Bundesrepublik als selbstverständlicher Teil politischer Auseinandersetzungen angesehen und akzeptiert. Sodann: Friedensbewegungen waren fast immer ein Teil von Bürgerbewegungen gegenüber von staatlicher Seite, sei es im eigenen Lande, sei es im internationalen Kontext, zu kurz gekommenen, vernachlässigten oder bekämpften Entwicklungen. Sie suchten Regierungen wie Parlamente mit dem Thema Frieden gesellschaftspolitisch unter Druck zu setzen, zumal wenn die entsprechenden Parteien die Regierung stützten. Das richtete sich schon in den frühen achtziger Jahren gegen die Regierungspartei SPD, später dann auch gegen die Grünen in der Regierung (1998–2005). Das Thema Frieden erhielt mit der Überwindung des bisherigen Ost-WestKonflikts 1989–1991 einen neuen Stellenwert: die Angst vor dem menschenvernichtenden Atomkrieg ließ deutlich nach. An ihre Stelle traten stärker als bisher (mit Ausnahme Vietnam) nach den Jugoslawienkriegen die außereuropäischen Kriege, bei denen sich intensiver als zuvor die Frage nach deutscher Beteiligung an militärischen Einsätzen stellte und zunehmend positiv entschieden wurde. Zugleich wurden Friedensbewegungen immer stärker zu einem Teil allgemeiner sozialer Protestbewegungen. Hierzu hatte sich seit den 1960er Jahren, verstärkt aber seit den 1980er Jahren, mit der Ausbreitung des Bewusstseins von Problemen der „Dritten Welt“, des globalen Südens, ein neues Konglomerat von Themen entwickelt, zu dem auch die weltweite Ökologie- und Umweltbewegung zählte. Frieden wurde hier zu einem eng hierin verflochtenen Themenkreis eines ganzheitlichen Ansatzes zur Bewältigung aktueller und bedrohlicher Zukunftsprobleme. Nur am Rande sei erwähnt, dass auch von „rechts“ Protestbewegungen entstanden, die sich neben sozialen Fragen vor allem fremdenfeindlich agierten und gegen Migration polemisierten und auch agierten – mit einem Höhepunkt 2015; „Frieden“ erhielt hier einen ganz anderen, primär innergesellschaftlich ausgrenzenden Sinn zugeschrieben. Die Situation eines (bis auf den Fall Jugoslawien) im Kern gesicherten europäischen und Weltfriedens hat sich 2022 durch den russischen Krieg mit dem Ziel einer Auslöschung der selbständigen Ukraine geändert. Krieg in großem, derzeit jedoch in Osteuropa lokalisierten Ausmaß wird in Europa geführt. Im Rahmen der Selbstbehauptung der Ukraine, der mentalen und vor allem materiellen Unterstützung durch eine breite westliche Koalition zeigen sich Ansätze zu einer Friedensbewegung besorgt um eine Ausweitung des Krieges auf andere Länder, aber auch zu einem nuklearen Charakter. Bei dem Stand vom Herbst 2022 ist jedoch angesichts der Neuartigkeit dieser Entwicklung zu einer Rückkehr zu den Konfliktkonstellationen des alten Ost-West-Konflikts vor 1989 kaum die Rede.
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Ergänzungen 2022
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Ergänzungen 2022 Detlef Bald, Wolfram Wette (Hg.), Friedensinitiativen in der Frühzeit des Kalten Krieges 1945–1955, Essen 2010. Detlef Bald, Wolfram Wette (Hg.), Alternativen zur Wiederbewaffnung. Friedenskonzeptionen in Westdeutschland, Essen 2008.
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Eigene Versuche zur partiellen Vertiefung
Robert Lorenz, Protest der Physiker. Die „Göttinger Erklärung“ von 1957, Bielefeld 2014. https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/69189 (7.11.2022). Silke Mende, „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“: Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011. Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014. Melanie Riechel, Friedensbewegung in der DDR: Motive von Zeitzeugen in der Friedensbewegung im Eichsfeld und der DDR in den 1980er Jahren, Stuttgart 2016. Richard Rohrmoser, „Sicherheitspolitik von unten“: Ziviler Ungehorsam gegen Nuklearrüstung in Mutlangen, 1983–1987, Frankfurt am Main 2021. Axel Schildt, „Atomzeitalter“ – Gründe und Hintergründe der Proteste gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr Ende der fünfziger Jahre, in: „Kampf dem Atomtod“. Die Protestbewegung 1957/58 in zeithistorischer und gegenwärtiger Perspektive, München 2009, 39–57. Susanne Schregel, Der Atomkrieg vor der Wohnungstür. Eine Politikgeschichte der neuen Friedensbewegung in der Bundesrepublik 1970–1985, Frankfurt 2011. Andreas Sedlmaier (Hg.), Protest in the Vietnam War Era, London 2022.https://link.springer. com/content/pdf/10.1007/978-3-030-81050-4.pdf. (18.11.2022). Quinn Slobodian, Foreign Front: Third World Politics in Sixties West Germany, Durham, N. C. 2012. Dorothee Weitbrecht, Aufbruch in die Dritte Welt. Der Internationalismus der Studentenbewegung von 1968 in der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2012. Michael Werner, Die „Ohne mich“-Bewegung. Die bundesdeutsche Friedensbewegung im deutsch-deutschen Kalten Krieg (1949–1955), Münster 2006. Jan Ole Wiechmann, Sicherheit neu denken. Die christliche Friedensbewegung in der Nachrüstungsdebatte 1977–1984, Baden-Baden 2017. Lora Wildenthal, The Language of Human Rights in West Germany, Philadelphia 2013. Benjamin Ziemann, A Quantum of Solace? European Peace Movements during the Cold War and Their Elective Affinities, in: Archiv für Sozialgeschichte 49 (2009), 351–389. Benjamin Ziemann, Martin Niemöller. Ein Leben in Opposition, München 2019.
Eigene Versuche zur partiellen Vertiefung Horror und Hoffnung – Vietnamkrieg und Protestbewegungen 1963–1969, in: Der Friedensnobelpreis von 1963–1970, Zug/Schweiz 1991, 6–31 (= Der Friedensnobelpreis von 1901 bis heute, Bd. 8). Die Protestbewegungen gegen Wiederbewaffnung 1951–55 und atomare Aufrüstung 1957/ 58 in der Bundesrepublik – ein Vergleich, in: ders., Im Zeichen der Gewalt. Frieden und Krieg im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Martin Kröger, Ulrich S. Soénius, Stefan Wunsch, Köln u. a. 2003, 205–218.
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The Anti-War Movement in West Germany, in: Christopher Goscha, Maurice Vaïsse (Hg.), La guerre du Vietnam et l’Europe 1963–1973, Brüssel, Paris 2003, 287–305. (dt.: Die Antivietnamkriegsbewegung in der Bundesrepublik Deutschland, in: ders., Frieden stiften. Deeskalations- und Friedenspolitik im 20. Jahrhundert, hg. Marc Frey, Ulrich Soénius, Guido Thiemeyer, Köln u. a. 2008, 316–331). Multiple Ängste vor dem Nichtverbreitungsvertrag von Atomwaffen in den 1960er-Jahren, in: Hélène Miard-Delacroix, Andreas Wirsching (Hg.), Emotionen im Kalten Krieg, München 2020, 161–181.
The Democratic Peace Controversy in Retrospect as a “Civilizing Mission”? A Theory Revisited “No one pretends that democracy is perfect or all-wise. Indeed, it has been said that democracy is the worst form of Government except all those other forms that have been tried from time to time.” This is a famous quote by former British Prime Minister Winston Churchill1 which does not denounce this form of government, but shows its possible limits. This view differs from one voiced in antiquity, from Aristotle to Cicero, according to which democracy represents one stage in a circular progression towards ochlocracy, the rule of the rabble. But during the last two centuries a different view has linked democracy, not only to good governance, but also to a state of peace in the international system. This linking of democracy and peace thus became a blueprint for a better world or, if you will: a civilising mission. This notion was articulated by some philosophers as a principle and by politicians as a policy guideline, but during the last half-century it has also been formulated as a social science theory which has tried to prove its usefulness empirically by analysing historical evidence by quantitative or qualitative means. This author has dealt with the topic on several occasions. He has tried to redraw the political science debate and with Gottfried Niedhart has organized a conference on the historical context in which during the 20th century the argument of peace through democracy played a major or guiding role in politics as such.2 This article thus expands on the first approach while taking into account some recent developments in which political action has been based on the assumptions and evidence of this debate. The extent to which the two values of peace and democracy were linked was the question that initially inspired the Democratic Peace theory – and the answer which has received the most widespread acceptance is that there is a causal link between
1 In the House of Commons, Hansard’s Parliamentary Debates, 11.11.1947 (https://hansard.parliament.uk/; [7.11.2022]). 2 Jost Dülffer, Internationale Geschichte und historische Friedensforschung, in: Internationale Geschichte – Themen – Ergebnisse – Ansichten, eds. Wilfried Loth and Jürgen Osterhammel, München 2000 (abridged: Dülffer, “‘Democratic Peace’. Sind Demokratien friedlicher?”, in: Frieden stiften. Deeskalations- und Friedenspolitik im 20. Jahrhundert, eds. Marc Frey, Ulrich S. Soénius, Guido Thiemeyer, Köln 2008; Frieden durch Demokratie? Genese, Wirkung und Kritik eines Deutungsmusters, ed. Jost Dülffer, Gottfried Niedhart, Essen 2011. A first version of this paper was presented at a conference in Oslo 2009, organized by Boris Barth and Rolf Hobson, confronting political scientists and historians. I have to thank the following for their support for this research over many years: Simone Derix in the late 1990s, Hajo Schmidt, Sönke Kunkel and Rolf Hobson in 2008.
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democracy and peace. Developed democracies, Jack S. Levy’s famous formulation ran: do not wage war against each other. This would be “the closest thing we have to a law in international politics”.3 Partly, this notion was related to the hope that at the end of history men would live together in accordance with the biblical prophecy that the lion would lie down with the lamb. More specifically, in an ideal final stage of humankind, democracy and peace would prevail worldwide. In the meantime, the messengers of a democratic peace had to convince all enemies of democracy and peace that their resistance to the advance of humanity was futile. But exactly which means those messengers should employ in their crusade for a democratic peace was and remains a controversial issue. Yet, how does this “empirical law” of peace and progress through democracy hold up to the findings of historians? To what extent are the basic concepts and propositions of the Democratic Peace theory in accordance with the results of historical research? In the following paper I will only briefly explore the historical-ideational points of reference of the Democratic Peace theory – Kant’s idea of a perpetual peace, Wilsonianism and the Atlantic Charter. Then I will describe in more detail several concepts of the Democratic Peace theory – the monadic approach, the dyadic model and the systemic school.
I The Societal Background of Peace Arguments from Kant to World War II The debate on democratic peace in our days starts mostly with Immanuel Kant. I do not want to discuss his “Perpetual Peace” of 1795 as such: “[The] republican constitution … provides for this desirable result, namely, perpetual peace, and the reason for this is as follows: If (as must inevitably be the case, given this form of constitution) the consent of the citizenry is required in order to determine whether or not there will be a war, it is natural that they consider all its calamities before committing themselves to so risky a game.”4 I do not want to discuss the difference between republicanism and democracy here,5 but the citizens, Kant opined, would consider and calculate the consequences of a war – its costs, misery etc. A monarch,
3 Jack S. Levy, Domestic Politics and War, in: Journal of Interdisciplinary History 18, no. 5, 1988. 4 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1795), English translation quoted after James Lee Ray, Democracies and International Conflicts. Evaluation of the Democratic Peace Propositions, Columbia 1995, Ch. 1: Theory and Research on the Democratic Peace Propositions, 1; cf. Hajo Schmidt, Ein bedenkenswertes Jubiläum: Kants Traktat „Zum ewigen Frieden“(1795), in: Jahrbuch Frieden 1995, eds. Hanne-Margret Birckenbach et al., München 1994. 5 Thomas Kater, Am Anfang war Kant? Über Demokratie, Republik und Frieden, in: Dülffer, Niedhart, Frieden.
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on the other hand, would not do so, for he would not suffer personally from war or would simply adhere to very different values and interests – hunting, pleasure, the expansion of his territory etc. Kant’s conclusion was that the civic constitution should be republican – that was his famous first definitive article. In his second article, Kant added the international context, arguing that international public law should be founded, on a federalism of “free states” (which does not necessarily mean “republican”). Finally, the third definitive article postulated that a world citizenship should be limited (eingeschränkt) on the basis of general hospitality – which indeed is not a general and free right for men to live wherever they might want to live. Kant was clearly aware that world society had its normative limits (a thought which can still be usefully pondered in our age of the UN system), which cannot be fully demonstrated here, where we are only mentioning that DP theorists refer to the basics of the philosopher’s approach as the “Kantian tripod”. This tripod means the combination of democracy, liberal economies and a functioning world organization as the components of a good order. This seems to me a somewhat modernist as well as a reductionist view. Following in Kant’s footsteps, while at the same time drawing on a long American ideological tradition, Woodrow Wilson was the next influential thinker to develop the concept of a democratic peace. One of his guiding ideas was “to make the world safe for democracy”. In 1918 he clarified this as meaning “the destruction of every arbitrary power anywhere that can separately, secretly and of its single choice disturb the peace of the world, or, if it cannot be presently destroyed, at the least its reduction to virtual impotence”.6 This was indeed a program for peace – and Wilson was determined to enforce it. The change of government in Germany in October 1918 as well as the introduction of parliamentary responsibility into the German governmental system were important prerequisites for peace. Wilson sought to position the United States so it could act as a mediator at the coming peace conference. During the period of the peace conference he attached the greatest importance to the new world organization he had envisioned in the last of his 14 points speech of January 1918: the League of Nations. Yet the missionary politician had to compromise in this case as well. The League of Nations as superior peacekeeper did not exist as a league of democratic countries, and even Germany’s admission in 1926 had more to do with Great Power status considerations than with its record as a democratic country. The Briand-Kellogg Pact of 1928, the peace pact in which all signatories renounced war except in self-defence, was not linked
6 Speech on Mount Vernon, 4 July 1918, quoted in Henry Kissinger, Diplomacy, New York 1994, 52, cf. Lloyd Ambrosius, Wilsonianism: Woodrow Wilson and his Legacy in American Foreign Relations, New York 2002; Erez Manela, The Wilsonian Moment. Self-Determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism, Oxford 2007; a good summary of debates in: Diplomatic History 38, No. 4, 2014: Legacies of World War I: A Commemorative Issue.
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to a specific type of regime, since the Soviet Union and other dictatorial states could accede to it. It was a diplomatic instrument serving tactical purposes, but one which nevertheless marked an important change in the fundamental values accepted in the international system. Wilsonianism introduced new features into the international system, although in practice this did not represent the direct implementation of democracy, but rather of national self-determination. Nevertheless, it did mark a departure from the balance of power tradition of which the United States itself had become a part at the end of the 19th century. When Henry Kissinger looked back on history after his career in politics, he was not the first to distinguish two different approaches to international relations: the power-oriented approach which accepts only interests of states and the calculus of governments and governing persons – and the moral approach which tried to create a better world, based on values of American idealism. We will return to this tension between guiding principles. Obviously, these approaches have not only been present within US foreign policy formulation since Wilson’s days. In the scholarly study of International Relations since the interwar period two similar methodologies have striven for acceptance. On the one hand, the “realist” school of IR had its early proponents such as Edward Hallett Carr, who in 1939 provided a lucid survey of the “Twenty Years Crisis”, and was fully developed by Kenneth Waltz in 1959.7 On the other hand, the “idealist” school’s concern with creating conditions for a lasting peace regained influence when the Allied war aims were being discussed. The United Nations first came into being on 1 January 1942 as a military alliance and adopted the Atlantic Charter as its basis. Its third principle stated that the signatories must “respect the right of all peoples to choose the form of government under which they will live; and they wish to see sovereign rights and self-government restored to those who have been forcibly deprived of them.” It did not explicitly mention democracy, but self-government may be seen as one important component of democracy. Nevertheless, the Atlantic Charter did name other, not directly related vital components of the future world: access to free trade and raw materials was principle four, “improved labor standards, economic advancement and social security” was included as number five. The renunciation of territorial aggrandizement and the alteration of state borders only “in accord with the freely expressed wishes of the peoples concerned” was another principle. In this the essence of democracy was embedded into a broader context of other exigencies. For the period after the victory over Nazi tyranny – this was formulated before Japan formally entered the war – the new peace order provided the “assurance that
7 Edward Hallett Carr, The Twenty Years’ Crisis, London 1939; Kenneth Waltz, Man, the State and War, New York 1959.
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all the men in all the lands may live out their lives in freedom from fear and want”. And finally, the renunciation of war was pledged, for “all of the nations of the world, for realistic as well as spiritual reasons must come to the abandonment of the use of force”. Disarmament was among the measures specified which should lead to that result. To be sure, this document, which served the political integration of a worldwide war coalition, as well as an instrument of propaganda, was not suited for the exposition of an elaborate theory of peace. But it did represent a further sophisticated attempt to formulate principles for a lasting international and peaceful order after the war. It was a mixture of several factors which essentially amount to what was later called a “negative peace”. It was a political document which to an extent also ran counter to British interests and was able also to integrate Stalin’s dictatorship as an equal partner. Certainly, the years following the Atlantic Charter and the declaration of the United Nations witnessed an inflated use of the notion of democracy which neither side in the crumbling wartime alliance would abandon. From this time onwards, the Soviet Union also claimed to champion democracy and self-determination – and of course peace as well – in its own “true” understanding of the word.8 In the following cold war debates, on the Western side democracy was quickly abandoned in favour of the key notion of freedom: The Paris based Congress for Cultural Freedom (1950–1969) became symptomatic of this approach.9 On the other side, democracy in the sense of people’s democracy became a key slogan of the socialist camp, which called itself the camp of peace. The Potsdam declaration therefore only vaguely outlined a strategy of how to restructure Germany for its future integration into the community of nations: through democratization, decartelization, denazification and demilitarization – the famous “four Ds”. What had been difficult at Potsdam, namely to find common ground in applying the peace-through-democracy formula, became virtually impossible with the rise of the East-West conflict. The roll-back rhetoric of the Eisenhower-Dulles election campaign in 1952 marked a short departure, though, as it called for a policy of liberation and the spread of democracy. But were Eisenhower and Dulles really on a mission to establish a democratic peace? At times their rhetoric suggested it, for example when Dulles demanded freedom for the oppressed peoples in Eastern
8 An appropriate historical criticism of the various and problematic notions of self-determination, in: Jörg Fisch, ed., Die Verteilung der Welt. Selbstbestimmung und Selbstbestimmungsrecht der Völker, München 2011, see my contribution in this volume: “Die Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht und die Friedensregelungen nach den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts”; Jörg Fisch; Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion, München 2010. 9 Michael Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für Kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998.
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Europe through liberation by propaganda and self-help, but also by military action as a supplement. The former NATO Supreme Commander Dwight D. Eisenhower once declared: “We can never rest – and we must so inform all the world, including the Kremlin – that until the enslaved nations of the world have in the fullness of freedom the right to choose their own path, that then, and then only, can we say that there is a possible way of living peacefully and permanently with communism in the world.”10 Certainly there was a connection between freedom of choice in politics and peace, but Eisenhower chose a careful wording which accepted Moscow’s role and sought to convert it to Western ideas, projecting a future of permanent coexistence with communism. In practice, as we know, the Eisenhower administration abandoned roll-back politics immediately after it took over power, as became apparent in its attitude towards the uprisings in the GDR in June 1953 and in Poland and Hungary in the fall of 1956. As Bernd Stöver has shown, the basic institutions of a liberation policy continued to be maintained for decades to come, but in the world of nuclear confrontation and deterrence theories a grand design for the spread of democracy could no longer form more than a rhetorical guideline of Western policies.11 Of course, the idea that the political system of the West was better for the people and morally superior was a common conviction not only in the United States. Konrad Adenauer remarked to former US Ambassador James B. Conant: “A dictator is always more ready to use such a method [nuclear weapons and rockets] without a declaration of war than a democratic statesman. The Soviet Union would therefore have an advantage over the United States because it could utilize such weapons suddenly. Hitler, for example, did not recognize the concept of law and international law.”12 This was a theory of totalitarianism and war which indeed pronounced an opinion on the warproneness of dictatorships based on the personalities of the rulers as well as on the possibility of quick decisions. The mostly unspoken flip-side was that democracies might be (more) peaceful, but they would have difficulties in defending themselves against external aggressors. This understanding remained influential during the following decades.
10 Samuel Huntington, The Common Defense. Strategic Programs in National Politics, New York 1961, 18 (First published in: The New York Times 26 Aug 1952). 11 Bernd Stöver, Die Befreiung vom Kommunismus. Amerikanische Liberation Policy im Kalten Krieg 1947–1991, Köln 2002, cf. for early perceptions in West Germany: Gerhard Sälter, Phantome des Kalten Krieges, Berlin 2016. 12 Foreign Relations of the United States, 1955–1957, Washington 1992, vol. XXVI, 155–161 (quote 159).
II Dimensions of the Democratic Peace Theory
II Dimensions of the Democratic Peace Theory I would now like to turn from the historical points of reference to the Democratic Peace theory itself. One would expect to find that the Democratic Peace theory was developed roughly at the same time as ideas of a democratic peace shaped public discourse. That is only partly the case. To be sure, Quincy Wright published the ground-breaking “Study of War” as early as 194213 in which he assembled a vast array of data for the period since 1480 and claimed that the international system could only be peaceful if all governments were democratic. But he did not attempt to demonstrate that there was a quantitative relationship between peace and democracy. The first one to do this was the little-known official and sociologist Dean Babst in a rather obscure journal in Wisconsin in 1964.14 Using data from World War I and World War II he put forward the argument that there was a correlation between elected governments and the preservation of peace. Wright’s and Babst’s efforts notwithstanding, a Democratic Peace theory did not attract attention until the 1970s when J. David Singer and Melvin Small started a comprehensive collection of data which came to be known as the Correlates of War collection (CoW).15 Since that time, almost all publications at least start with this set of data. Singer and Small also established the period from 1816 to their own day as the standard period under scrutiny. Only rarely do contributors to the debate go back to the early modern period or to antiquity when “democracy” was founded and first defined. (One example is a debate based on Thucydides’ portrayal of the Peloponnesian War and its relation to democratic societies.)16 Recent studies by Azar Gat17 on ancient Greece and Rome to an extent used the common coding process, but could find no correlation between ancient democracies and peace. Certainly, if at all, it is only with regard to the period following the American and French revolutions that one can discuss democracy in terms meaningful to us. But there does exist research into the causes of war in the early modern period (not necessarily the much talked about “Westphalian System”), which provides
13 Quincy Wright, A Study of War, Chicago reprint 1965. Best treatment of this subject: Ray, Democracies and International Conflicts; Martin Mendler, Demokratie und Kapitalismus als Garanten für ein friedliches Außenverhalten? Ein Literaturbericht, in: ami 23, No. 5 (1993). 14 Dean V. Babst, Elective governments – a force for peace, in: The Wisconsin Sociologist 3, No. 1 (January 1964), reprinted in Lutz Schrader, ed., Demokratie und Frieden, Hagen: Fern Universität, 2006, cf. Ray, Democracy and International Conflict, 12 ff. 15 Melvin Small and David J. Singer, Resort to Arms. International and Civil Wars, 1816–1980, Beverly Hills 1982. 16 Bruce Russett and William Antholis, Do Democracies fight each other? Evidence from the Peloponnesian War, in: Journal of Peace Research 29, No. 4, 1992; Bruce Russett, The Imperfect Democratic Peace of Ancient Greece, in: Russett, Grasping the Democratic Peace, Princeton 1993. 17 Azar Gat, The Democratic Peace Theory Reframed, in: World Politics 58, 2005, 80–83.
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a substantial fund of sources and interpretations. Are these centuries irrelevant to contemporary discussions of the origins and consequences of wars? Obviously not, but wars were an integral part of politics in those centuries, and one could argue that it is only in the modern period that mankind has been presented with the opportunity to find not only a preventive strategy but a cure, abolishing war once and for all. Bellicist attitudes could be associated with the feudal or absolutist tendencies of kings and princes who simply did not care about the suffering caused by war. This was Kant’s diagnosis precisely.
III The Monadic Approach Singer and Small presented a first statistical survey of their data in 1976,18 and it was only then that Babst’s proposition that “the general public does not want war, if it can choose” became widely known. But they also concluded that between 1816 and 1965 58 % of interstate wars were initiated by democracies. If “extra-systemic wars” such as colonial wars were added, the number sank to 35 %, albeit with a rising tendency. According to their data, in this period 65 extra-systemic wars were initiated by democracies. Singer’s and Small’s findings were highly questionable, for they were based on dubious definitions: wars were defined as armed conflicts in which more than 1000 soldiers died. Singer and Small thus excluded civilian deaths and civil wars (which are very often connected with “wars”) – a decision which historians remain sceptical about. In addition, their definition ignored many colonial and postcolonial wars, as well as the extremely important foreign interventions of “democratic”, colonial powers. Even more dubious was their definition of a democracy as a state in which 10 % of the population were entitled to vote, where free elections were contested by a plurality of parties, and a parliament either controlled the executive effectively or had an important role in this process. Other authors later raised the threshold electorate to 30 % of the population19 and added the condition that female suffrage must have been introduced or at least be pending. Thus, an index for democracy could be built and refined by introducing other factors. A polity database for democracy was established containing 152 states and grading them on a scale from 1 to 10. Again, historians will have grave doubts about the usefulness of such an assessment. But, nevertheless, this database did provide the opportunity to establish new correlates between war and democracy. If one wants to quantify at all, it is perhaps better to do so with these data than on the basis of less precise assumptions. 18 Melvin Small and David J. Singer, The War-Proneness of Democratic Regimes, in: Jerusalem Journal of International Studies 1, No. 4, 1976. 19 Michael W. Doyle, Kant, Liberal Legacies, and Foreign Affairs, in: Philosophy and Public Affairs 12, nos. 3, 4, 1983.
III The Monadic Approach
Ironically, Singer and Small confirmed the fact that democracies did indeed wage wars and not to any lesser extent than other states. If such monadic explanations for the intrinsic peacefulness of democratic states cannot be accepted, it is difficult to sustain the argument that the slow deliberative processes in democratic states would prevent war-mongering. Even a cursory examination of the way in which the democracies fought two world wars, taking quick decisions and mobilizing effectively, can corroborate this counter-argument. One could also tackle Singer’s and Small’s Democratic Peace argument from another angle: even autocratic states do not permanently wage war. Absolutist princes may have been of a bellicose disposition, but they abhorred wars because they were expensive in terms of money and even of men. Wars also carried the risk of losing both territory and money – and of threatening the whole monarchical state with ruin. To put it bluntly: violent structural components notwithstanding, even in pre-democratic times the normal state of affairs was “peace” in the sense of Small and Singer.20 Of course, at this point proponents of the Democratic Peace theory have put forward the counter-argument that authoritarian or dictatorial states stir up external tensions and capitalize on them in order to stabilize their domestic rule. In the words of Ernst-Otto Czempiel: This need not lead to war and the resort to violence, but preparation for this is necessary. Dictatorial systems are not permanently aggressive, but they are permanently ready for aggression, and that matters. At the very least they depend on images of enemies. If these interrelations are seen the other way round, the war aversion of democracies becomes immediately evident. Because their internal hierarchy of values is accepted by a societal consensus, violence is not needed and the potential of violence does not need to be provided for.21
I have to confess that I cannot agree with these assessments of 1992. Although recent developments may offer some examples in Czempiel’s direction, in general I would doubt whether dictators really gain popular support by continuously conjuring up external enemies. Do they not have a wider range of possibilities? Do not democratic leaders bolster their position, especially before elections, by creating enemy images (the Falklands/Malvinas war being one illustration)? This argument, by the way, is reminiscent of George F. Kennan’s “Long Telegram”. Neither do I share Rudolph
20 Jost Dülffer, Alte und neue Kriege. Gewaltkonflikte und Völkerrecht seit dem 20. Jahrhundert, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 35/36, 2016. 21 Ernst-Otto Czempiel, Demokratie und Frieden, in: Sicherheit und Frieden 10, No. 2, 1992, 74.
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Rummel’s plea that22 “democracies are in fact the most pacific of regimes”. One only has to recall the vital role played by enemy images in American history, or Larry Berman’s argument that US policymakers launched the Vietnam War for purely domestic reasons (!) in order to confront Czempiel’s and Rummel’s assumptions.23
IV The Dyadic Assessment A second formulation of the Democratic Peace theory stems from Michael W. Doyle, the so-called “dyadic” diagnosis: democracies almost never wage war against one another.24 During the ensuing debates of the 1980s critics contested the validity of this finding, asking whether it was probable or highly probable, and if so whether it represented a possible means of forecasting behaviour.25 This time, a level of debate was reached at which historical examples mattered; they mostly took the form of long lists and tables with qualifying classifications, but the first attempts to develop qualitative narratives also appeared. As far as I can see, however, many of these studies rarely and only very selectively used historical scholarship for more than illustrative or legitimizing purpose. Historians tend to be sceptical about these codifications and assignments. Nonetheless, certain critical cases were identified: the United States and Great Britain fought a war between 1812 and 1814 – but in Great Britain at the time no more than 3% of the population had the vote. An historian would prefer to explain the conflict by referring to the blockade enforced by Britain during the Napoleonic wars. The American republic could not tolerate these economic sanctions, or the conflicting security interests caused by British forts near its border. Spain and the United States waged war against each other in 1898. Could Spain be characterized as a non-democracy at this time, or was the United States setting out to become an imperialist power while pretending to defend other values, irrespective of the nature of the regime on Cuba or in Spain? During World War II Great Britain and Finland were both democracies, but they fought on opposite sides, Finland
22 R. J. Rummel, Democracies are Less Warlike than Other Regimes, in: European Journal of International Relations 1, No. 4, 1995, quoted in Miriam Fendus Elman, ed., Path to Peace: Is Democracy the Answer? Cambridge, 1997, 15. 23 See Ragngild Fiebig-von-Hase, Ursula Lehmkuhl, Enemy Images in American History, Providence 1997; Larry Berman, Planning a Tragedy. The Americanization of the War in Vietnam, New York 1982. 24 Doyle, Kant. 25 Rudolph J. Rummel, Libertarianism and International Violence, in: Journal of Conflict Resolution 27, No. 1, 1983; Harvey Starr, Why Don’t Democracies Fight One Another?, in: The Jerusalem Journal of International Relations 14, No. 4, 1992.
IV The Dyadic Assessment
being an ally of Germany. Could it not be that the circumstances leading to this multi-layered coalition were more complicated? Finland had been attacked by the Soviet Union in 1939 and had to accept a detrimental peace in 1940; hence it joined Germany in the attack on the Soviet Union, bringing this Nordic country down on the other side of the fence. Did democracy matter in this case at all, or was Finland really a democracy under Marshall Mannerheim? One of the objections to the Democratic Peace theory which strikes me most forcibly is its understanding of democracy. Miriam Fendius Elman, the editor of the most insightful collection of case studies, defines democracy “as a regime in an independent state that ensures full civil and economic liberties; voting rights for virtually all the adult population; and peaceful transfers of power between competing political groups.”26 This would exclude many democracies in the sense applied above – and thus explain away many examples of wars: not all democracies may be so fully developed as to fit this definition. Bruce M. Russett goes so far as to state that the democratic peace can emerge only if citizens in both countries regard one another as being governed by democratic principles, and Elman finally joins him in emphasising that the mutual perception of democracy should be the easiest criterion to identify democracy with. I would add the corollary that not only citizens (who would mostly not have the opportunity to act directly) but also governments should perceive their opposite numbers in such a way. From an historian’s perspective one can only wonder about Russett’s and Elman’s constructivist understanding of democracy. Indeed, perceptions matter and politics is largely determined not by what others really mean and which resources they possess, but what the other side thinks it might do and might provide. One problem with the perception argument is that it tends to form a self-fulfilling prophecy, to which we will return later. But it is a kind of argument which was also common in the 19th century when most countries were monarchies, and the monarchs regarded themselves as a kind of limited guarantee of peace because they operated at the same societal level. France as a republic after 1871 was seen by other states as a danger – not because it was a democracy, but because it was perceived to be a potentially unstable regime which could revive the “red spectre,” the Revolution, which that country had already produced in 1789, 1830 and 1848. It was not only Bismarck who believed that its status as an outsider would isolate France and thus minimize the chances of a future war of revenge. A further caveat may be added to the role of perceptions: during the time of the so-called socialist world system all the members of this group have defined themselves as developed or socialist democracies; this was of course never accepted by Western democracies. Should
26 Elman, Paths, 21.
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we simply state that it is the perception of the West, or indeed of the United States which is the decisive criterion? In addition, I would strongly argue that there are important qualitative differences between 19th and 20th century democracies. In a meaningful sense we should only talk about democracies in the 20th century. The expansion of the social or welfare state created completely new living conditions for the majority of the population in many countries of the first and then second world. These qualitative differences would be obscured if 19th century “democracies” were defined according to the same criteria as their 20th or 21st century successors. Seen in this light, the great power system before World War I may not have been defined so much by the opposition between the democracies – Great Britain and France – and the autocracies which reigned in Russia, Germany and Austria-Hungary. At least in the German case it might plausibly be argued that a steady growth in participation, social security and welfare took place which was comparable to that which occurred in the Western European powers. Furthermore, with regard to the rights of parliaments the influence of the Reichstag grew steadily at the national level. Of course, in France during the Third Republic there were continual changes in governments, but these cabinet crises had little to do with peaceful attitudes or a mature democratic culture. The process of European democratisation created dynamics of its own, as Reich Chancellor Theobald von Bethmann Hollweg correctly perceived when he explicitly warned in the Reichstag that it was not always the governments who were chauvinistic, but that pressure from the masses could force governments to pursue a violent course.27 He was correct in this respect also in hindsight: US jingoism in 1898 and French and British confrontation over Fashoda in 1898 were both accompanied, even triggered, by massive popular pressure. That France shrank from further confrontation over the Fashoda issue has in my historical explanation nothing to do with democracy, which might instead have pushed towards war, but with the insight of the government in Paris that an all-out war with the dominant sea power could not be fought either in Africa or in Europe. It was a “lesson in sea power” (Arthur Marder) in a game of mutual brinkmanship which decided the issue. This kind of confrontation was not confined to the 19th century (as the Falklands War illustrated). The Boer War between Great Britain and the semi-independent South African territories was also accompanied by massive outbursts of chauvinism in the motherland. And it was a real war (although it may be explained away in some analyses as not being an interstate war); it was finally won by the stronger colonial
27 Verhandlungen des Deutschen Reichstags: Stenographische Berichte, 12. April 1912, vol. 284, col. 1300; https://www.reichstagsprotokolle.de/index.html (7.11.2022).
IV The Dyadic Assessment
power, not by the smaller republic striving for self-determination.28 “Extra-systemic warfare” is the notion which Democratic Peace theorists apply here, a notion which makes no sense to historians. They may have been unequal wars, but the simple fact that this kind of collective violence was resorted to underlines the fact that it was widely accepted in an earlier phase of the globalized world.29 Seen as a whole, there were very few democracies in the 19th century, and according to certain criteria, Germany before 1914 may be described as moving towards more democracy. If it is accepted that Germany was on the path to democratisation, the whole Democratic Peace theory would collapse, and World War I would have been in its origin a war which was also fought between democracies. My overall impression is that many of the scholars, who treat Wilhelmine Germany within the context of Democratic Peace theory, remain attached to the image of an autocratic Emperor heading a military clique which longed for war – a war which they believed would strengthen autocracy as it had in the age of absolutism. Although some historians like John Röhl still cling to a similar notion, in the last decades others have demonstrated that there was a degree of participation within the German polity, or at least a development in this direction, which bears comparison with other countries such as France, Italy and Spain.30 Admittedly much earlier scholarship has demonstrated that the reforms in Germany before 1914 were limited, and that the societal elements in comparison to the political systems were blocked, but it was not an autocratic system which was forced to go to war because of a lack of democracy.31
28 Hilde Ravlo, Nils Petter Gleditsch, Han Dorussen, Colonial War and the Democratic Peace, in: The Journal of Conflict Resolution 47, No. 4, August 2003. Based on Ravlo’s dissertation the authors find that democracy had “an inhibiting effect on extra-systemic war involvement.” This author has extreme difficulties with this kind of coding and correlating procedure. Much more relevant and convincing: Sebastian Rosato, The Flawed Logic of Democratic Peace Theory, in: American Political Science Review 97, No. 4, Nov. 2003, 588–90. 29 Jörg Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht, Stuttgart 1984; Gerrit W. Gong, The “Standard of Civilization” in International Society, Oxford 1984. 30 John Röhl, in all his books up to now, stresses the personal rule of the Kaiser and the role of court society, e. g.: Wilhelm II., Munich 1993–2008, 3 vols. The other side argues that there were tendencies towards, or even a realization of, a parliamentary system before 1914. Some authors underline the development of a civil society which practised democracy, but did not reach the top level of politics etc. There may have been a kind of democratization without formal parliamentarisation. The difference at least between a conservative Prussia (three class electoral system) vs. a general male suffrage at the Reich level may have obscured some of these developments. And finally: during World War One there was a demagogic mobilization, but the price was paid with an extension of parliamentary rights up to and including a formal change of the constitution in the last days of the war. 31 E. g. Jost Dülffer and Karl Holl, eds., Bereit zum Krieg, Göttingen 1986; cf. Recent literature on the origins of WW I, includes Christopher Clark, The Sleepwalkers, Oxford 2013; Jörn Leonhard,
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But although there have been debates over the origins of, and responsibility for the Great War, differing degrees of democracy do not seem to have been among the major causes. Rather, in James Joll’s analysis all the great powers for different reasons feared that a window of opportunity was closing and that their position in Europe or in the world might decline in the years ahead. These fears significantly shaped the confrontational strategy that they all pursued, the outcome of which was all-out war. It was only subsequently that the ideological interpretation of a fight against autocracy and for democracy could serve a war propaganda which was widely believed and – as has been alluded to before – to a degree determined the character of the war and the war aims of the western allies. Seen from this perspective the different sets of CoW or polity data may be meaningfully accepted only for the 20th century, or even only for the era after World War II. The Democratic Peace debate would be useful for the present day, but should not claim to be historically proven or even to formulate rules or laws. In cooperation with my colleagues Martin Kröger and Rolf-Harald Wippich I have published a 600-pages study on wars which were avoided between the great powers in the years between 1856 and 1914.32 As historians, we examined some 34 case studies in situations when a war between two or more of the great powers had seemed likely. These ranged from the question of why the Italian war of 1859 or the German-French war of 1870/71 did not escalate to an all-out war, to the question of why Anglo-Russian confrontation in Asia in 1885 or grave German-British disputes in South Africa in 1896 did not lead to a bilateral war. We did not attach any importance to democracy, but in retrospect it can also be seen that our findings could not establish that a democracy such as Great Britain – the best candidate for a democratic regime – acted more peacefully than other states. Great Britain proved to be the most bellicose country, and one which escalated many conflicts. Its governments prevailed in many cases when the other escalating power drew back from the brink. I have already mentioned the example of the Fashoda crisis. In many cases, however, the opposite held true: Great Britain found a reason not to escalate, but to accept a compromise. Is this proof of democratic behaviour or the influence of a liberal public opinion? We came to the conclusion that the first and only world power in this period could allow itself to pursue both menacing and uncompromising policies, even ones that led to war, as well as milder policies leading to a peaceful outcome. In these latter cases, the other powers were simply not capable of threatening vital British interests,
Geschichte des Ersten Weltkrieges, München 2014; Gerd Krumeich, Juli 1914. Eine Bilanz, Paderborn 2014; my review essay: Jost Dülffer, Die geplante Erinnerung. Der Historikerboom um den Ersten Weltkrieg, Osteuropa 64, No. 2–4, 2014. 32 Jost Dülffer, Martin Kröger, Rolf-Harald Wippich, Vermiedene Kriege. Die Eskalation von Konflikten der Großmächte zwischen Krimkrieg und Erstem Weltkrieg 1856–1914, München 1997.
V Empires: Their Rise and Fall
and so the world power could afford to give in. Of course, this also had to do with the domestic basis of British politics. Conservatives traditionally tended to think in harder terms of a balance of power – as Benjamin Disraeli or Lord Salisbury would do – while Whigs or Liberals such as William Gladstone or Lord Rosebery would in principle follow the path of moral engagement, human rights or even the pacific settlement of disputes. But it was Gladstone, who was responsible for the annexation of Egypt in 1882, and later on Liberals tended to be the most chauvinist imperialists – Joseph Chamberlain is only the most prominent example that comes to mind. And it must be underlined that such assertive policies were as much furthered by democratic institutions as they were by the strength of the largest economy and financial centre of the world. The conclusions of our research into 19th century Great Britain, i. e. a mixture of peaceful claims and bellicose attitudes, may well be applied to the role of the United States in the period since 1945. Similarly, by employing genuine historical methods, some refreshing research went beyond coding countries and conflicts to deal with dynamic complexities rather than with static simplifications. Christopher Layne deserves to be mentioned in this context as well as James Lee Ray and Miriam Fendius Elman, who published the best collection of case studies in 1997, studies which differentiate monocausal approaches from genuine historical research.33 “Do not put democratic allies on automatic pilots,” “Do not assume that new democracies will conform;” and especially: “Do not assume that all democracy is U.S. style democracy” are good caveats by Fendius Elman.
V Empires: Their Rise and Fall The static Democratic Peace model ignores the inner and exterior dynamics of empires. So far states have been classified as entities with an inner life which may be democratic or less so. Yet not only are empires different entities, but the very process of state or empire building is inextricably linked to the role of war among modern human societies. Historians of early modern Europe have demonstrated that wars were a constitutive force of that era. While Johannes Burkhardt argued that from the 15th to the 17th century wars drove the state-building process, Bernhard Kroener added the dimension of Staatsverdichtung (state concentration) by war in the ensuing
33 Christopher Layne, Kant or Cant. The Myth of the Democratic Peace, in: International Security, No. 2, 1994; James L. Ray, Wars between Democracies? Rare or Non-Existent? in: International Interactions 18, No. 3, 1993; Elman, Paths, 498–501.
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period.34 Historians would question the assumption that states historically have always been equally stable entities – that is, if the United States and, say, Britain and France are not taken as the main models. Formal and informal empire building as well as the dissolution of larger empires belongs to the categories which a stable-state centred approach could hardly deal with adequately. The formation of larger political entities out of smaller units – what is called empire building – may by definition be left out by political scientists in building their models because it was mostly not achieved in a peaceful way. But during and after World War I the reestablishment of the state of Soviet Russia on the territory of much of former Czarist Russia was a violent affair of civil war, combined with external war. In our days there exists one preeminent example of a peaceful transformation into a larger union of states which all had become democratic: the European Union, which is not a state but is accused by some of becoming a superstate, seems to reflect a tendency to build a larger unit out of smaller national states; but this example raises doubts in the light of recent developments. The opposite paradigm is much more important during the last two centuries: the dissolution of larger empires or units of states into smaller units which tried to become nation states. The larger unit may have been a democracy, the smaller one was supposed to become one. The whole process of decolonization, especially in Africa, may be seen in this light. Were the colonial powers after World War II not democracies – Great Britain, France, the Netherlands, Belgium – to name but the most important ones? Of course, the “transfer of power” was in most cases achieved in an orderly or peaceful way; decades of research have shown, however, that it was not the formal handover of power that was decisive, and that a longer period should be considered as the decolonizing period. Violence was frequently applied between newly created states which were supposed to become true democracies. More particularly, interstate and civil war commonly overlapped; such conflicts often broke out between different ethnic groups who might have lived with the colonial state, but would not suffer the dominance of one ethnic group over another. The case of the independence of India in 1947 with the ensuing Indian-Pakistani war is one of the bloodiest examples. Of course, Pakistan both then and later can be interpreted as not being a democracy. But is this particular characterization really helpful to the Democratic Peace theory?
34 Johannes Burkhardt, Worum ging es im Dreißigjährigen Krieg. Die frühmodernen Konflikte um Konfessions- und Staatsbildung, in: Wie Kriege entstehen. Zum historischen Ort von Staatenkonflikten, ed. Bernd Wegner, Paderborn 2000; Bernhard Kroener, Herrschaftsverdichtung als Kriegsursache: Wirtschaft und Rüstung der europäischen Großmächte im Siebenjährigen Krieg, ibid., and Kroener, Antichrist, Archenemy, Disturber of the Peace. Forms and Means of Violent Conflict in the Early Modem Ages, in: Transcultural Wars from the Middle Ages to the 21st Century, ed. HansHenning Kortüm, Berlin 2006.
V Empires: Their Rise and Fall
In Europe before and mainly after World War I the construction of new states out of the debris of the multinational empires was a challenging task. The Ottoman Empire as the “sick man at the Bosporus” was for the most part driven out of Europe during the Balkan wars of 1912/13, and finally fell apart after the World War. AustriaHungary and Russia were the other two empires which were territorially reduced and forced to play a lesser role in international politics. But the newly founded states had to contend with grave ethnic conflicts. Many of them could either not become or not remain democratic, even when they started off as such, because of an ethnic diversity which often also overlapped with social differentiation. The last steps in this process, which could never have been smooth, were the downfall and dissolution of the Soviet Union in 1991, but even more so the ensuing collapse of Yugoslavia in the 1990s; this took place through a mixture of war and civil war of an intensity recognizable from previous extra-European decolonization. Even after the fighting has stopped, the Situation remains precarious in many cases, with the Kosovo problem at the top of the list. Many more cases from other times and other regions could be added. The counter-argument is obvious: researchers such as Edward D. Mansfeld and Jack Snyder argue “that the democratic peace theory is confined to the relations between mature, stable democracies. These new democracies are characterized by weakly institutional democratic procedures, and they often confront illiberal, radicalized societal groups.”35 This may be true, but how do we distinguish mature, developed, consolidated and stable democracies from other states which may have held “free elections,” yet subsequently slid into violence? I fear that the argument comes close to being a tautology: they are stable when they behave peacefully towards neighbouring states and seek to resolve their conflicts without resorting to force. Indeed, some such versions of the Democratic Peace can be regarded as the sum of good governance at the domestic as well as the international level. This tends to be either empirically empty or a self-fulfilling prophecy. There is by now a growing literature on post-conflict or civil peacebuilding.36 This is a very useful field of analysis because it covers many facets of the problem. The advice and experience relevant to such situations usually does not limit itself to the claim that holding free elections constitutes democracy, but provides for a set
35 Quoted in Elman, Paths, 29; cf. Tobias Debiel, Demokratie und Gewalt in einer Welt des Umbruchs. Zur friedenspolitischen Relevanz politischer Herrschaftsformen in den 90er Jahren, Friedliche Konfliktbearbeitung in der Staaten- und Gesellschaftswelt, eds. Norbert Ropers and Tobias Debiel. Bonn, 1995, 73 ff. 36 Christoph Weller, ed., Zivile Konfliktbearbeitung. Aktuelle Forschungsergebnisse, Duisburg: INEFReport 85/2007; Roland Paris, Wenn die Waffen schweigen. Friedenskonsolidierung nach innerstaatlichen Gewaltkonflikten, Hamburg 2007; Paris, Liberal Peacebuilding, in: Review of International Studies 36, 2010.
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of sophisticated measures which have be interlinked. Unstable or newly founded democracies are warlike – that is a finding of many quantitative studies in the Democratic Peace discussion. But how can they be stabilized? Transformation or transition theories are becoming more and more important. Democracy in many of these cases is an aspiration for the future, but not the primary means of ensuring the pacific transformation of conflicts, as the above-mentioned research project on avoided wars demonstrated. Holding democratic and pluralistic elections, nevertheless, may in many conflict- and tension-ridden countries resolve the situation after the fall of dictatorships etc. But they will rarely provide a direct path to peace, be it in Congo Brazzaville in 2006 or in Iraq after 2003/5 and in many other cases of the last decade. Transitional processes moving towards democracy may indeed be more violent or war-prone; and “unstable democracies” may use more violence than stable dictatorships.37 One question related to Democratic Peace theory should at least briefly be mentioned, the question as to whether “the state” as a territorially defined nation state is not itself an historical construction. Charles Maier has argued that when the 20th century is consigned to history, the territorial state as such would not be presented as a future model for political and social identification.38
VI Zones of Peace This brings us to the third approach of the Democratic Peace theory – not the monadic one, not the dyadic one, but the systemic concept which Bruce M. Russett39 introduced in 1990 and which has since inspired many scholars, among them Nils Petter Gleditsch:40 “is an international system with a high proportion of democratic states more peaceful?” Of course, this is an important question, but if it is related to regional systems or coalitions rather than to the global international system as the UN system might claim to be, it creates new dichotomies between more democratic or less democratic states. And how could one explain that less democratic states or
37 Lutz Schrader, Demokratie und Frieden, 117 ff., 180 ff.; Bruce M. Russett, John R. Oneal, Triangulating Peace: Democracy, Interdependence, and International Organizations, New York 2001, 116: “Are political transitions dangerous?”. 38 Charles S. Maier, Consigning the Twentieth Century to History: Alternative Narratives for the Modern Era, in: American Historical Review, 105, No. 3, June 2000. 39 Bruce M. Russett, Controlling the Sword. The Democratic Governance of National Security, Cambridge, MA 1990; cf. Dieter Senghaas, Die OECDWeltzone des Friedens, in: Der gelungene Frieden. Beispiele und Bedingungen erfolgreicher Konfliktbearbeitung, ed. Volker Matthies, Bonn 1997. 40 Nils Petter Gleditsch, Harvard Hegre, Peace and Democracy. Three Levels of Analysis, in: Journal of Conflict Resolution, 42, No. 2, 1998.
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non-democratic states join coalitions of democratic states. Are they then used as instruments for purposes other than their own? The concept of peace zones nevertheless remains an attractive one. Arie Kacowicz has tried to identify them since the 19th century.41 The author was able to define eight peace zones. Some of them are regarded as stable (Europe 1815 to 1848 – the Metternich system!), most of them are characterized only as negative peace, the absence of war. In most of these zones not all states were democracies – the only positive examples having been North America since 1918 and Western Europe since 1945. In this way the author, when questioning the Democratic Peace concludes: “At first glance, it seems obvious that states will maintain peaceful relations if they are satisfied with the status quo, though absence of war is not a precise indicator of satisfaction.” This links the Democratic Peace debate to a rather conventional, but not outdated debate, which is normally associated with the realist school. Saturated states do not easily wage war: that was the principle expounded by Otto von Bismarck for the German Reich after the War-in-Sight-Crisis of 1875. Over the following 15 years he repeatedly set it out in public as the guideline of his policy, even though he abhorred democracy as such and especially its revolutionary modern connotations. Expanding the idea of saturated zones to the international system, the definition which Henry Kissinger once developed comes close to this: if in the international system one (great) power questions the status quo as such and wants to change the system, then the whole system becomes “revolutionary” and the status quo or satiated powers will face a problem with which they may deal individually or collectively, depending on which phase the international system is in.42 To investigate the legitimate or revolutionary character of a given international order – at least in the perception of its members – might indeed be a challenge for IR historians. Legitimacy in the sense of Talleyrand and revolutionary approaches nevertheless form a characteristic change of focus in the DP debate: democracy then becomes only one of many explanatory elements for stability. When analysing the conditions for “revolutionary” claims of major participants, then many explanatory factors may be discussed, and democratic structures will be one of them. Let us return to Kacowicz’s explanations for peace zones. He claims: 1. They (democracies) are generally fully-fledged nation-states, without irredentist claims, and strong states vis-à-vis their societies; 2. They are usually strong powers, both from
41 Arie M. Kacowicz, Explaining Zones of Peace. Democracies as Satisfied Powers?, in: Journal of Peace Research 32, No. 3, 1993, 273. 42 Henry Kissinger, A World Restored: Metternich, Castlereagh and the problems of peace 1812–22, Boston 1957; cf. Klaus Hildebrand, Imperialismus, Wettrüsten und der Kriegsausbruch 1914, in: Neue Politische Literatur 20, 1975.
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a military and a socio-economic point of view; 3. They share a normative consensus of international law and a common institutional framework, which reflects their inherent bias toward the status quo; 4. They are affected by domestic institutional constraints, which also favor the Status quo; and 5. Their high level of economic growth, development and interdependence creates vested interests for keeping the existing regional and international order.43
I do not wish to take issue with each of the arguments; but this author demonstrates, as do many other politicians and scholars cited above, that a multifaceted approach may work as an analytical model. Democracy may not be the most significant factor when economic development, wealth and social security come into play. We are back to Singer’s and Small’s insights that it is not democracy as such which creates peace. Indeed, even from the monadic standpoint it has been pointed out that democracies are janus-faced. As Tobias Debiel has argued: They wage wars against non-democratic states, but not or seldom among themselves.44 The argument of an intrinsic peacefulness or the spill-over of domestic democratic rules to the resolution of conflicts or the external behaviour of states does not hold up to empirical scrutiny. Great Britain in the 19th century was the example which my research project has checked. Other authors find other sets of arguments and factors, perhaps even more convincing ones. Dieter Senghaas, for example, has developed a “civilizing hexagon” in a major and ambitious attempt to compete with Immanuel Kant. He has called it: Zum irdischen Frieden (“Peace on Earth”).45 Senghaas’ manual for an earthly peace recommends the following steps: first there has to be a legitimate monopoly of violence, a community of law. Secondly, the “rule of law” has to be publicly controlled and must not be arbitrary. Thirdly, there must exist a societal control or sublimation of affects, i. e. no private violence, multiple interdependencies from division of labour to many other forms of interconnected actions. (Only) the fourth factor is: political or democratic participation which also includes mobility and the possibility of integrating different interests in the political process. The fifth states that conflicts must be dealt with in a way which aims at social justice, safeguarding basic needs etc., as summed up in the term equity or Verteilungsgerechtigkeit. The sixth factor according to Dieter Senghaas is a culture of constructive conflict resolution.
43 Kacowicz, Explaining Zones of Peace. 44 Debiel, Demokratie und Gewalt, 73 f. and note 24. 45 Dieter Senghaas, Zum irdischen Frieden, Frankfurt am Main 2004, ch. 2: “Das zivilisatorische Hexagon oder Die Notwendigkeit der Zivilisierung des modernen sozialen Konflikts”, 30–41.
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This hexagonal “construct” has constitutional and institutional, as well as material dimensions which are accompanied by mental factors. All of these components are the result of painful learning processes (in the sense of Karl W. Deutsch) and form a matrix which provides the basis for peace: not the preliminary, but the definitive articles for our time. It is a hexagon, and not simply one overloaded principle such as democracy which is expected to contain everything else. Some sophisticated interpretations within the realm of Democratic Peace theory do come close to this kind of multicausal explanation. Bruce M. Russett and John R. Oneal are among them, referring to the “Kantian tripod”, as they see it. With these observations we return to the peace zones concept to which also Senghaas adheres.46 I consider it a useful concept as well. The OECD, including Western Europe and North America, became a zone of stable peace in the decades after World War II in which conflicts were permanently regulated peacefully. Participatory rights, economic equilibrium and an unprecedented degree of wealth and well-being for the majority of the involved societies are some of its characteristics. How did that come about? I would underline some factors as especially important which Democratic Peace theorists tend to neglect completely: the aftermath and the long shadow of World War II, the impact of the Cold War on the Western participants in the “game,” the accumulation of wealth by way of internal modernization, but also the disciplining presence of the US empire.47 It was especially important that the former authoritarian, fascist and national-socialist countries such as (West) Germany, Italy and Japan could be integrated into a Western system and also became stable democracies. It was, though, not democracy as such which was the crucial variable, but rather a multi-layered program which both in its intended aims as well as in its unintended consequences worked as it did. We are now operating at the level where historians’ debates normally take place. That is to say, we find a lot of factors which differed and mixed in the course of time, but not the simplistic idea that the law of parsimony should apply to good social theories and that the Democratic Peace theory may be the best of all. Parsimony may also result in intellectual poverty. The Democratic Peace is simply a flawed theory, as Sebastian Rosato has shown.48 There is certainly a status of stable peace among many democracies, but it may not have causally to do with this. A lot of
46 Senghaas, Zum irdischen Frieden, 162–181. 47 There is a vast amount of literature on this question which has grown since the finishing of this manuscript. My own version in: Jost Dülffer, Europa im Ost-West-Konflikt 1945–1990, Munich 2004; there are also different schools of political science: Christopher Layne, The Peace of Illusions: American Grand Strategy from 1940 to the Present, Ithaca, NJ 2007; Tony Smith, A Pact with the Devil Washington’s bid for world supremacy and the betrayal of the American promise, New York 2007. 48 Rosato, Flawed Logic.
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other factors surely apply as well, among which modernity and welfare are the most important ones. Thus, the Democratic Peace theory is converted into the liberal peace theory, which has a greater explanatory value, as Gottfried Niedhart has argued elsewhere in the tradition of Robert Jervis.49 Unfortunately, this is not the end of the story. The prescription for an enlargement of the OECD zone of peace and its expansion throughout the world are very insightful and laudable political ideas. But on the flip side of the stable zones of peace there are other regions of the world where the decay of states continues; failed states, zones of violence are the consequence. In the era of the east-west conflict only the dichotomy between democracies and dictatorships mattered. Yet, modernization on the scale of the Western model may have serious consequences for the rest of the world. Religion matters, local traditions matter, different moral convictions matter. Some years ago, Odd Arne Westad showed brilliantly that from Iran to Afghanistan a new set of questions began to matter in the late 1970s, the importance of which is only now fully unfolding, and that set was quite different from the dichotomy between warring dictators and peaceful democrats. Ecological problems, not only global warming, have only very recently begun to influence public concerns.50 The whole debate on the G8 and globalization with its new impacts points in the same direction. It will be hardly possible to create a worldwide OECD zone when China and India become major players. In other contexts there are many fruitful debates on transformation. What began as a convincing approach to former communist Eastern Europe has now developed into a broader concept which can also be applied to failed states or declining democracies, especially in the so-called Third World. Governance is the key concept for managing political restructuring. What kind of development aid produces the best results? German strategies, for example, aim at transformation processes which increase social inclusion, lawful measures of conflict management, security against violence, administrations oriented towards citizens, basic social provisions and broad economic growth.51 “Post-conflict peace building” is a popular and necessary step after the end of the Cold War and the increasing involvement of international 49 Gottfried Niedhart, Selektive Wahrnehmung und politisches Handeln: Internationale Beziehungen im Perzeptionsparadigma, in: Internationale Geschichte. Themen, Ergebnisse, Aussichten, ed. Wilfried Loth and Jürgen Osterhammel, Munich 2000. 50 Odd Arne Westad, The Global Cold War, Cambridge 2006; John R. O’Neill, Something New Under the Sun. An Environmental History of the XXth Century, New York 2001. For the framework, see: Akira Iriye, Jürgen Osterhammel, eds., Geschichte der Welt 1945 bis heute. Die globalisierte Welt, Munich 2013. 51 Stephen Haggard, Robert R. Kaufman, The Political Economy of Democratic Transition, Princeton 1995; Tobias Debiel, Daniel Lambach, Dieter Reinhardt, “‘Stay Engaged’ statt ‘Let Them Fail’. Ein Literaturbericht über entwicklungspolitische Debatten in Zeiten fragiler Staatlichkeit”, in: INEF Report September 2007, 38–40.
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institutions seems to be a major feature of the decades since 1990. Roland Paris who has been quoted above, tends towards a balanced critique of the idea of merely introducing democracy and liberalizing the economy if stable institutions are not already present.52 This comes close again to the analysis of Dieter Senghaas.
VII Political Science, DP Theory and Political Use: an Interdependent Relationship There can be no doubt that democracy and peace form essential values for a large part of the world, especially the northern transatlantic zone for several generations. But their interdependence as a framework for a civilizing mission seems to be much less general even in these regions. In a narrower sense an extensive debate on the theory of democratic peace took place only in the United States, in Norway, in Israel and in Germany since the 1960s and has tailed off during the last decade. I would argue that the decisive prerequisite for the development of Democratic Peace on an intellectual level was the rise of modernization theory in the United States in these years and its subsequent spillover into the political realm. Walt Rostow and others argued for economic growth and nation building which should be supported – originally in an anti-communist way. It was only in the 1970s that the value of freedom was overshadowed by democracy in the cold war debates on the Western side. Thus, it may not have been fortuitous that major initiatives in the DP debate began during the Carter presidency. Although in hindsight we tend to emphasise Jimmy Carter’s campaign to extend human rights rather than democracy, both notions seem to be closely connected, and the human rights debate has gained momentum after it has come to be understood as a prerequisite for a more peaceful international system. Seen from the vantage point of 2017, I would argue that the human rights debate at the international level has proved to be a much more promising discussion than the one about democracy. Since then, two varieties of democratic peace in particular have informed the rhetoric of US international politics. There was a more peaceful and campaigning version advanced during the Clinton and Obama administrations and a more aggressive and even bellicose one during the Reagan and Bush jr presidencies. It was not by chance that Bill Clinton chose Anthony Lake, diplomat and political science professor who advocated the expansion of democracy over the world, as his national security adviser. They argued explicitly that “democracies rarely wage war on one another” and created new posts in the State Department and the
52 Paris, Wenn die Waffen schweigen. Friedenskonsolidierung nach innerstaatlichen Gewaltkonflikten, Hamburg 2007, my review at: http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-11000 (18.11.2022).
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National Security Council as well as funding efforts to support free elections all over the world.53 “The Cold War is over; we must secure the peace,” the US president articulated his program at the UN General Assembly in 1994.54 And in the same speech later on: “Our sacred mission is to build a new world for our children – more democratic, more prosperous, more free of ancient hatreds and modern means of destruction.” Clinton’s approach was basically multilateral. “Democracies, after all, are more likely to be stable, less likely to wage war. They strengthen civil society. They can provide people with the economic and political opportunities to build their future in their own homes, not to flee their borders.” The UN general secretaries from Boutros Boutros-Ghali to Kofi Annan also attached great importance to the spread of democratic institutions as a prerequisite for peace. It should be mentioned in passing that Prime Minister Margaret Thatcher in 1995 chose a much more aggressive language for the promotion of peace: “Moreover, democracy is not only desirable in itself: the spread of democracy is a strategy for peace. History shows that genuine democracies do not go to war with each other,” argued the Prime Minister who had fought the Falklands/Malvinas War in 1982. The more aggressive version of the spread of democracy in the United States was prepared by “neocons” since the late 1960, many of them being defense intellectuals.55 This version got major influence during Ronald Reagan’s administration who famously characterised the Soviet Union as the “Evil Empire,” a notion which widely was understood as the start for an offensive policy to fight this evil. As it turned out, the reality of his policy turned out to be different.56 Under the presidency of George W. Bush words were followed by corresponding actions. The National Security Strategy which Condoleezza Rice developed and which the president signed in September 2002 was a blueprint for spreading (also) democracy all over the world. What was new was the unprecedented zeal with which the first Bush administration tried to promote it – regardless of cost and regardless of the scale of force and military means necessary for achieving this purpose – and finally “peace.” “The great struggles of the twentieth century between liberty and totalitarianism ended with a decisive victory for the forces of freedom – and a single sustainable model for national success: freedom, democracy, and free enterprise” is the first sentence. The intention:
53 Elman, Paths, 2. 54 William Clinton, We Must Secure Peace. A Struggle Between Freedom and Tyranny, September 26, 1994, in: Clinton, Vital Speeches of the Day, LXI, October 15, 1994, quotes on 1 f. 55 See Rolf Hobson, American Nationalism and Regime Change. How the Neocons Tried to Speed up the Inevitable, in: Boris Barth, Rolf Hobson, eds., Civilizing Missions in the 20th Century, Leiden 2020, 177–208. 56 E. g.: John Lewis Gaddis, The Cold War. A New History, New York 2005, 195–235.
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We seek instead to create a balance of power that favors human freedom: conditions in which all nations and all societies can choose for themselves the rewards and challenges of political and economic liberty. In a world that is safe, people will be able to make their own lives better. … We will extend the peace by encouraging free and open societies on every continent. … Finally, the United States will use this moment of opportunity to extend the benefits of freedom across the globe. We will actively work to bring the hope of democracy, development, free markets, and free trade to every corner of the world.
Of course, economic well-being and progress, as well as cooperation with “the other great powers” were also on this agenda for the fight against terrorism. But this breathtaking enterprise to create a homogenous world of free states was subjected to its first test in Iraq in the years following the invasion of 2003. The results are well known. Democracy did not follow the fall of Saddam Hussein, rather, elections unleashed sectarian strife which subsequently destabilized the whole region. The early hopes placed in the Arab spring since 2011 were in many cases guided by the same expectations that since then have largely disappeared. The idea that free elections would bring democracy and that freely elected democratic governments would establish peaceful relations with their neighbours and subsequently throughout the world has proved to be lop-sided, to say the least. Democracy – however it is understood – as the sole or main prerequisite for a stable peace has lost its attraction. But to be fair, in practical politics, too, the DP theorem was most often linked to other values and aims. Woodrow Wilson had at least 14 points, the Atlantic Charter of 1941 had eight. And the UN Charter provided us with a complex amalgam of analytical and normative rules. In scholarly debates, sets of factors as in Arie Kacowicz’s peace zones, in Dieter Senghaas’ “civilizational hexagon” or in the OECD-peace are much more attractive. The doyen of Austrian historians, Gerald Stourzh, has recently pleaded for an “isonomy” – a kind of equal access to rights – as a form of government which links democratic participation with rights and their guaranteed and accepted use as a more comprehensive approach.57 UN peacekeeping forces, as analysed by Roland Paris, or more general studies of post-conflict peace-building offer a broader approach for creating the prerequisites for peace. Liberal peace as an old slogan of the 19th century has always included more components than democracy – at the very least economic well-being. Freedom on the one side, human rights on the other have superseded or replaced democracy as the guiding principle. The Democratic Peace hypothesis had its time – the most fruitful time for this is over.
57 Gerald Stourzh, Die moderne Isonomie. Menschenrechtsschutz und demokratische Teilhabe als Gleichberechtigungsordnung, Vienna 2015.
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I had originally assumed that the Democratic Peace theory was popularized only in the aftermath of Walt Rostow’s “Stages of Economic Growth,” which in 1960 presented one of the most influential blueprints for political action, not least because of the author’s role as National Security Adviser in the Kennedy administration.58 Modernization had comprised much more than democracy. Rostow had already developed the classical theory of modernization in the 1950s, partly in cooperation with Max Millikan at Harvard. His double line of attack against the communist threat and economic backwardness produced strategies formulated mainly in the language of industrial development. But his American sense of mission undoubtedly expected that stable democracies on the US model would be established; this was a final outcome which was not expected to be directly implemented. Only in one chapter (chapter 9:123–144), did he speak about the link to “the problem of peace.” He primarily argued from the standpoint of the arms race and arms control and the potential economic growth rates of communist states, and did not advocate the spread of democracy. As far as I can see, he did not do so later, either, after his efforts for comprehensive modernisation and nation-building in Latin America, and especially in Vietnam, had failed. At the time, Rostow was severely criticized for applying the model of European development to a general backwardness without taking into account national traditions in the emerging “third world.” Thus, he and his kind of modernization theory became tainted with failure in practical application, although his model for a final outcome of stable democracies was much more sophisticated than much of what followed.59 The so-called “third wave of democratization” which Samuel Huntington proclaimed in 1991 inspired widespread hope that world peace could be established, but did not work out well.60 A fourth wave of democratization by some other authors was linked to the “Arab spring” which by 2015/17 has more turned out to become an Arab winter. In recent years President Barack Obama has propounded a
58 Walt W. Rostow, The Stages of Economic Growth. A Non-Communist Manifesto, Cambridge 1960, 10 f.; I am much indebted to two MA theses for this argument: Sönke Kunkel, Rethinking Walt Rostow: Ideology and the Making of American Foreign Policy, 1961–1968, MA Thesis Ohio State University 2006 (see his: Systeme des Wissens, Visionen von Fortschritt. Die Vereinigten Staaten, das Jahrzehnt der Modernisierungstheorie und die Planung Nigerias 1954–1965, in: Archiv für Sozialgeschichte 48, 2008; Mankel Brinkmann, Walt Whitman Rostow und die Modernisierungstheorie im Hinblick auf die Alliance for Progress, MA Thesis Cologne 2007. 59 Nils Gilman, Mandarins of the Future. Modernization Theory in Cold War America, Baltimore 2003; Michael Latham, Modernization as Ideology. American Social Science and “Nation Building” in the Kennedy Era Alliance of Progress, Chapel Hill 2000; a classical summary of this critique is: David C. Engerman, Nils Gilman, Mark Haefele and Michael E. Latham, eds., Staging Growth: Modernization, Development, and the Global Cold War, Amherst 2003. 60 Samuel Huntington, The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century, Norman, OK 1991.
VIII Conclusion
quite different and more differentiated path to peace which did not mainly trust on the building of democracy. In his Nobel peace speech of 2009 he argued: “I believe that peace is unstable where citizens are denied the right to speak freely or worship as they please; choose their own leaders or assemble without fear.” That may be regarded as a reference to democracy. He added the promotion of human rights which might go beyond “exhortation” and thirdly: “a just peace includes not only civil and political rights – it must encompass economic security and opportunity. For true peace is not just freedom from fear, but freedom from want.”61 With the last sentence he took up some basics of the proclamation of the four freedoms by Franklin D. Roosevelt in 1941.
VIII Conclusion Recent developments in large parts of Europe and the United States threaten to overturn the international system which has existed since the Second World War. They are looming and may bring a complete reversal of these value-bound categories for civilization. Democracy and peace are political and ethical values I would readily subscribe to; but an historian’s approach should be different. To believe that there is a direct and immediate correlation between the two especially that the introduction of democracy will be immediately followed by peace, has proved to be naïve at best and has only to do with codification of data and specialized methods of some political scientists. Historians traditionally have had and still have the possibility to place this assertion within broader contexts. The good life not only of individual men, societies, but of regions and of the world as such in a globalized context is not as easy to achieve as the proponents of the Democratic Peace theory have originally assumed and whose progress we have to evaluate here. Definitions of civilizing missions of the 20th century in most cases were more complex and included more constitutive factors than only democracy. Political scientists such as Dieter Senghaas, Ernst-Otto Czempiel, political analysts like Roland Paris or politicians such as Barack Obama have developed complex relationships between different factors which were regarded as being more or less interdepend. What has become relatively new in this context was the connection between (world) peace and civilizing missions. US Politicians from George W. Bush to Barack Obama have stressed that the mere propaganda and material support may not be
61 10 December 2009, https://obamawhitehouse.archives.gov/the-press-office/remarks-president-ac ceptance-nobel-peace-prize (18.11.2022).
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sufficient and that other means might have to be applied, including violence and force.62
62 A bibliography, originally attached to the first print version was omitted; the latest, antagonistic publications in political science include: Azar Gat, The Causes of War and the Spread of Peace: Will War Rebound? Oxford 2017; Michael Haas, Deconstructing the ‘Democratic Peace’: How a Research Agenda Boomeranged, Los Angeles 2014.
Krieg, Frieden und Umwelt Staat und soziale Bewegungen in Deutschland seit 1945 Die deutsche Geschichte des letzten Jahrhunderts ist reich an Erfahrungen von Gewalt und Krieg.1 Erinnert sei daran, dass der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg nunmehr über 100 Jahre zurückliegt. Er wurde in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft nicht als solcher akzeptiert; von daher führte zwar kein gerader Weg in den Zweiten Weltkrieg, aber die Belastungen dieses als demütigend gedeuteten Friedens – fälschlich, wie vielfach gezeigt wurde2 – wurden in der deutschen Gesellschaft doch als so groß empfunden, dass der Aufstieg der Nationalsozialisten auch dadurch bestimmt wurde. Rechtsradikale Gesinnung und Organisation wurde zur Antriebskraft für einen Krieg, der nur vorgeblich der Revision der Niederlage von 1918 galt. Doch der Krieg selbst, in dem Eroberung und rassisch motivierte Verfolgung und Ermordung in der Moderne nie gekannte Höhe- und Schreckpunkte erreichten, endete vor einem Dreivierteljahrhundert mit der totalen Niederlage dieses kriegstreiberischen Staates. Es ist keine Banalität festzuhalten, dass Deutschland, wenn auch vierzig Jahre in zwei Staaten geteilt, in dieser Zeit nicht nur von Krieg auf seinem Territorium verschont wurde, sondern auch von sich aus keinen Krieg angezettelt oder geführt hat. Diese Abwesenheit von Krieg in der Mitte Europas sollte man gerade aufgrund der gegenwärtig in der Welt geführten Kriege nicht geringschätzen, zumal wenn man an Syrien seit 2011 denkt und die hybriden russischen Kriege seit 2009, die 2022 in der Ukraine in einen offenen Angriffskrieg übergegangen sind. Diesem, wie man es auch nennen kann, negativen Frieden steht ein anderer und erweiterter Friedensbegriff gegenüber, den man den positiven Frieden genannt hat.3 Und an diesen, weiter reichenden und umfassenden, knüpft der heutige Alltagsbegriff in vielem an. Die Generalversammlung der UNO hat im Oktober 1999 die sich hiervon ableitende Friedenskultur definiert: Sie sei „a set of values, attitudes, modes of behaviour and ways of life that reject violence and prevent conflicts by tackling their root causes to solve problems through dialogue and
1 Dieser Beitrag geht auf einen Vortrag an der TU Berlin am 6. November 2019 auf einer Tagung zum Thema „Bäume – Stadt – Räume zurück“, veranstaltet von Dorothee Brantz. Der Beitrag „Friedensbewegungen“ in diesem Band enthält eine umfängliche Bibliographie zu jenem Thema, so dass im Folgenden in der Regel auf deren Zitierung verzichtet wird. 2 Eckart Conze, Die große Illusion. Versailles 1919 und die Ordnung der Welt, München 2018; Jörn Leonhard, Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923, München 2018. 3 Zuerst Johan Galtung Ende der 1960er Jahre, hier: ders., Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Anders verteidigen, Reinbek 1982.
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negotiation among individuals, groups and nations“. Friedenskultur ist demnach zunächst ein „Ensemble von Werten, Einstellungen und Verhaltensweisen und Lebenseinstellungen, die Gewalt ablehnen und Konflikte verhindern, indem sie die ihnen zugrundeliegenden Probleme angehen, um diese durch Dialog und Verhandlungen zwischen Einzelnen, Gruppen und Nationen zu lösen“. Es folgten acht weitere Kategorien des UN-Selbstverständnisses; darunter auch: „efforts to meet the developmental and environmental needs of present and future generations“.4 Da war es zum ersten Mal in einem so prominenten Beschluss verankert: „environmental needs“ – also gerade die Umwelt muss als eine der Bedingungen für Frieden gezählt werden. Das schließt alle ökologischen Fragen ein, den Frieden mit der Natur. Das sind alles Fragen, die in den letzten drei, vier Jahrzehnten relativ neu ins öffentliche Bewusstsein gedrungen sind, das gerade in jüngster Zeit weiter geschärft worden ist. Ich werde mich im Folgenden primär dem engeren Friedensbegriff – der Abwesenheit von Krieg – widmen, an geeigneter Stelle aber auf den weiteren eingehen und damit das Spannungsverhältnis beider im historischen Wandel mit Kern auf Deutschland – und hier primär auf dessen Westen – darlegen. Das ist ein komplexer Zusammenhang, der hier nur in einigen Punkten vertieft werden kann. Es geht dabei um eine gewiss nicht konfliktfreie Gesellschaft, wohl aber um den friedlichen Austrag solcher Konflikte, die für eine pluralistische Gesellschaft konstitutiv sind – nicht um die Durchsetzung von Wahrheiten oder a priori-Zielen dieser oder jener Personen. Mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht im Mai 1945 waren nicht die letzten Schüsse des Zweiten Weltkrieges gefallen. In Ostasien ging der reguläre Krieg in seine letzte Phase, aber auch in Mittel-, Ost- und Südosteuropa setzten sich heftige Kriege und Bürgerkriege fort; in Afrika zeichnete sich zu Kriegsende z. B. in Algerien ein Übergang vom Weltkrieg zu antikolonialen Befreiungskriegen ab, die dann die kommenden Jahrzehnte bestimmten. Diese gewaltsamen Jahre reichten gerade in Europa z. T. bis 1950.5 Sie betrafen jedoch die Deutschen im Kern als Opfer: Flucht und Vertreibung von Millionen von Menschen schufen extrem unfriedliche soziale Lagen wie sie weite Teile Europas unter deutscher Herrschaft bisher in anderer Form zu ertragen hatten. Wichtiger aber: die vier alliierten Siegermächte waren sich darüber einig, dass es eines langen Weges bedürfe, um die Deutschen wieder zu Mitgliedern der Staatengesellschaft zu
4 Das geschah nach langen Verhandlungen, in denen sich insbesondere die Großmächte und die EU gegen die Bezeichnung des gegenwärtigen Standes als „culture of war“ verwahrt hatten: https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N99/774/43/PDF/N9977443.pdf?OpenElement (18.11.2022). 5 Keith Lowe, Der wilde Kontinent. Europa in den Jahren der Anarchie 1943–1950, Stuttgart 2015; Tony Judt, Geschichte Europas. Von 1945 bis zur Gegenwart, München 2006.
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machen. Demilitarisierung war daher eines der von ihnen schon im August 1945 vereinbarten Prinzipien. Das hieß nicht nur: nie wieder deutsche Soldaten, sondern auch Umerziehung zu einer neuen Mentalität, wenn man will: zu einer Friedenskultur.6 Das sollte vor allem einen Bruch nicht nur mit dem preußisch-deutschen Militarismus bringen, wie ihn die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs 1945 in der Potsdamer Konferenz als eine der tragenden Strukturen des Deutschen Reiches ansahen. Gerade der Zweite Weltkrieg hatte im von Goebbels propagierten „totalen Krieg“ tatsächlich über die 17 Millionen Soldaten hinaus die ganze deutsche Gesellschaft zu mobilisieren gesucht – und die dadurch propagierte Mentalität wirkte lange nach. Sie konnte sich allerdings unter alliierter Kontrolle zunächst nur noch bedingt öffentlich äußern. Es passierte jedoch etwas Anderes: die vormaligen Alliierten, die nur aufgrund der deutschen Expansion in der Mitte Europas und Deutschlands zusammengekommen waren, gerieten ihrerseits untereinander in Konflikt. Es waren zunächst andere Fragen, die zur Konfrontation führten, aber bis 1947/48 schlugen diese Gegensätze auch in der Mitte Europas voll durch; die Gründung zweier deutscher Staaten war die Folge. Da sich dieser Kalte Krieg schnell militarisierte, ging es auch früh um neue deutsche Soldaten. Was für alle ehemaligen Kriegsgegner eigentlich undenkbar gewesen war, wurde nun für diese zur Notwendigkeit: die beiden deutschen Staaten wurden militarisiert, Teil der jeweils neu geschaffenen Militärbündnisse NATO und Warschauer Pakt. Freilich blieben deutsche Soldaten in Ost und West engstens eingebunden in ihre jeweils multilateralen Bindungen, erstrebten nicht und erreichten somit auch nie die Gelegenheit zu eigenständigen Aktivitäten.7 Friedenspolitik im Kalten Krieg blieb fortan ein Widerspruch in sich. Oder besser gesagt: unter den Bedingungen eines möglichen Atomkrieges wurde der große, mit allen Waffen geführte Krieg zwar unwahrscheinlich – er wurde ja auch letztlich bis heute vermieden –, aber die materiellen und mentalen Vorbereitungen erreichten über die Jahrzehnte hin schwindelerregende Ausmaße. Auf den Punkt gebracht: alle vier Siegermächte und ganz Europa erstrebten nach 1945 nichts sehnlicher als Sicherheit vor Deutschland. Das blieb auch unausgesprochen für die kommenden Jahrzehnte so.
6 Thomas Kühne (Hg.), Von der Kriegskultur zur Friedenskultur? Münster 2000; Arnold Sywottek (Hg.), Der Kalte Krieg. Vorspiel zum Frieden? Münster 1994. 7 Einige Referenzwerke, auch zum Folgenden: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945–1956, 4 Bde., München 1982–1997; Marc Trachtenberg, A Constructed Peace. The Making of the European Settlement 1945–1963, Princeton 1999; Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis zur Gegenwart, München 2009.
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Überlagert wurde dies jedoch durch die Suche nach Sicherheit gegenüber dem jeweils anderen Lager. In der DDR wie insgesamt im sowjetischen Machtbereich war damit gemeint: gegenüber dem expansiven Kapitalismus und Imperialismus, aber auch vor einer Bundesrepublik, in der die alten Machteliten bis 1970 in der Anklage standen, tendenziell faschistisch zu werden oder gar geblieben zu sein. Das hatte tiefgreifende Folgen für gesellschaftliche Wahrnehmung, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Auf der anderen Seite stand schon seit den 1940er Jahren: die Sicherheit gegenüber der ideologisch wie militärisch expansiven Sowjetunion als zentralem Bindemittel zwischen Bundesrepublik und Westmächten, aber auch innerhalb der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Diese antikommunistische Stabilisierung wurde bis in die sechziger Jahre hinein zu einem der wichtigsten Elemente westdeutscher Politik. Zahlreiche Behörden und Ministerien bis hin zur Schule waren mit der Verbreitung und Aufrechterhaltung dieses Bedrohungsgefühls beschäftigt. Dabei ging es nicht nur um Information über das oder aus dem kommunistische(n) Herrschaftssystem, sondern auch um eine innenpolitische Auseinandersetzung, die bis weit ins demokratische Spektrum der Parteien hinein mit Verdacht und politischer Überwachung für alles agierte, was nicht der vorherrschenden christlich-abendländischen Linie entsprach. Genau diese Mentalität stärkte auch die Bereitschaft, die neuen Streitkräfte, die dann zur Bundeswehr wurden, zu unterstützen oder zumindest zu akzeptieren. Denn die Kriegserfahrung hatte bei den meisten Deutschen nicht nur eine Mobilisierung für den Krieg gezeitigt, sondern auch eine große Kriegsmüdigkeit, eine Stimmung, die auf den Punkt gebracht: „Nie wieder Krieg!“ hieß. Als ab 1950 von neuen deutschen Soldaten die Rede war, erbrachten Umfragen überwältigende Mehrheiten gegen diese Idee, in den folgenden Jahren war es jeweils annähernd die Hälfte der Bevölkerung, die sich gegen eine Wiederbewaffnung, wie man es nannte, oder Remilitarisierung wandten. Erst ab 1960 änderte sich das, als die Zahl der Bundeswehr-Befürworter die der Ablehnung übertraf.8 Einen stärkeren Indikator gab zu Zeiten der BRD-Gründung die „Ohne Mich“Bewegung ab. Hier wurden Unterschriften gegen ein neues Militär gesammelt, die aber zugleich Ausdruck der Skepsis über die Gründung der BRD als solcher und aus sozialer Not geboren waren. Der hierin zum Ausdruck kommende Pazifismus wurde auch von den Kommunisten und aus der jungen DDR unterstützt, war somit auch aus der Sorge um eine Vertiefung der deutschen Teilung geboren. Bei den angeblich sechs Millionen Unterzeichnern waren darüber hinaus Mehrfacheintragungen üblich. „Ohne mich“ erschlaffte, als eine Volksbefragung zur Wiederbewaffnung 1951 verfassungsrechtlich verboten wurde. Die „Paulskirchen-Bewegung“ knüpfte
8 Michael Geyer, Der Kalte Krieg, die Deutschen und die Angst, in: Klaus Naumann (Hg.), Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001, S. 267–318.
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1955 mit einem „deutschen Manifest“ daran an: es ging nunmehr um die konkrete Aufstellung von westdeutschen Soldaten und die Einbindung der beiden deutschen Staaten in die Bündnissysteme. Obwohl von SPD und DGB unterstützt vermochte diese Bewegung nur kurzzeitig zu mobilisieren; in Wahlen schlug sich das nicht nieder. Eine weitere Mobilisierung für den Frieden stellte die „Kampf dem Atomtod“-Bewegung her. Hier ging es 1957/58 gegen die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen (genauer gesagt: Trägerwaffen für diese; die Atomsprengköpfe blieben in US-Gewahrsam), war doch hier eine genuine Angst vor einem vernichtenden Krieg stärker noch als die nationale Frage das Thema. Obwohl sich hier im außerparlamentarischen Bereich eine starke Bewegung bildete, die u. a. von SPD, Gewerkschaften und protestantischen Kirchen getragen wurde, lehnte die SPD einen Streik gegen den mit Mehrheit gefassten Bundestagsbeschluss ab, zumal regionale Wahlen in dieser Zeit für sie nicht gerade positiv ausgingen.9 Während diese Auseinandersetzungen um Militär und antikommunistische Konsensbildung liefen, fand in dem Windschatten noch etwas Anderes in Richtung auf eine Friedenskultur statt: die Aussöhnung mit den ehemaligen Kriegsgegnern im Westen, zumal mit dem angeblichen „Erbfeind“ Frankreich. Friedenskultur ging einher mit abendländischem, z. T. auch aus demokratisch-sozialistischem Denken. Mentale Aussöhnung, wirtschaftlicher Wiederaufstieg und politische Integration waren die Hauptbestandteile, die EWG wurde zum wichtigsten Rahmen. Aber hier lief auch viel Verständigung von unten mit dem europäischen und transatlantischen Westen insgesamt; den Höhepunkt dessen bildete der (bundes-)deutschfranzösische Freundschaftspakt von 1963. Ergänzt wurde dies durch die militärische Integration, Einbindung ins Transatlantische, die zugleich dem Westen Sicherheit vor Deutschland, wie den Westdeutschen Sicherheit vor dem Kommunismus signalisierte.10 In diesem Rahmen näherte sich die bundesrepublikanische Gesellschaft – nicht nur die Staatspolitik – einer Kultur des Friedens an, wie sie eingangs beschrieben wurde.11 Anders lagen die Dinge lange Zeit in der politischen Kultur gegenüber dem (kommunistisch gewordenen) Osten Europas. Gewiss hatte es auch hier in Westdeutschland erste Ansätze zu einer Versöhnung gegeben – markant gegenüber Polen
9 Ausführlicher in diesem Band mein: Friedensbewegungen in der Bundesrepublik; vgl. zum breiteren Rahmen: Philipp Gassert, Bewegte Gesellschaft. Deutsche Protestgeschichte seit 1945, Stuttgart 2018. 10 Axel Schildt, Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999; Wilfried Loth, Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte, Frankfurt 2. Aufl. 2020. 11 Corine Defrance, Ulrich Pfeil (Hg.), Verständigung und Versöhnung nach dem Zivilisationsbruch? Deutschland in Europa seit 1945, Bern u. a. 2015.
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durch Kirchen und Publizistik12 –, aber erst die Ostpolitik der sozialliberalen Politik Brandt – Scheel ab 1969 schaffte den Durchbruch. Vorangegangen waren Erklärungen des Warschauer Paktes, in denen das Feindbild des potenziell faschistischen Westdeutschlands im Rahmen der Expansion des kapitalistischen Imperialismus fallen gelassen wurde. Die Ostverträge dieser Regierung schufen die Voraussetzung für eine staatlich gestützte Aussöhnung. Allerdings war Willy Brandts Kniefall in Warschau, im Rückblick eines der wichtigsten Versöhnungssymbole im Kalten Krieg, Ende 1970 nicht nur international, sondern innergesellschaftlich höchst umstritten. Dieser, mehr aber noch das System der Ostverträge erschien konservativen Kreisen als Kapitulation gegenüber dem expansiven Kommunismus, als eine Preisgabe westlicher Rechts- und Politikpositionen, nicht zuletzt als ein indirekter Verzicht auf die früheren deutschen Ostgebiete.13 Als Extremposition kann hier die schlesische Landsmannschaft gelten, deren Parole „Schlesien bleibt unser“14 noch 1985 bewusst zweideutig einen territorialen Revisionismus im öffentlichen Raum anmeldete. Politische Proteste, wie sie zu einer offenen, demokratischen Gesellschaft gehören, waren das eine. Auf der anderen Seite wurde der Konflikt antagonistisch ausgetragen, mit hoher Emotionalität; in der Öffentlichkeit kursierten Vorstellungen, das – letztlich gescheiterte, aber legale und legitime – Misstrauensvotum stelle einen Putsch dar. Tatsächlich blieben die festen Westbindungen die Basis und wurden durch Ostverbindungen ergänzt (Werner Link 1987); allerdings brauchte er bei den nach wie vor konfliktreichen Beziehungen zum „Osten“ bis zur Ära Gorbatschow, bis 1986/87, bis auch die Konservativen, nun in einer schwarz-gelben Koalition, diese Verbindungen als friedliche Basis voll akzeptierten. Zuvor allerdings gab es die größten Friedensdemonstrationen der BRD. Anlass dazu war der NATO-Doppelbeschluss von 1979. Dabei ging es nicht nur um neue, atomar bestückte Raketen (und Marschflugkörper) des Westens wie des Ostens in Europa, sondern es kam Angst auf vor einem aktiv oder bewusst herbeigefügten Atomkrieg, der ein Vernichtungskrieg sein würde. Wer derartige neue Rüstungen – reaktiv oder doch selbst aktiv – durchsetzen wolle, schaffe sich neue Optionen der Kriegführung, wolle ggf. wirklich mit Atomkrieg drohen, um die Gegenseite zur Kapitulation zu zwingen, oder gar den Krieg selbst wollen. Flächendeckend breitete sich der Protest in Westdeutschland aus und erreichte mit mehreren Großdemonstrationen mit 350.000 bzw. 500.000 Menschen im Bonner Hofgarten 1981/82 seinen Höhepunkt.
12 Friedhelm Boll u. a. (Hg.), Versöhnung und Politik: polnisch-deutsche Versöhnungsinitiativen der 1960er Jahre und die Entspannungspolitik, Bonn 2009. 13 Gottfried Niedhart, Durch den Eisernen Vorhang. Die Ära Brandt und das Ende des Kalten Krieges, Darmstadt 2019. 14 Motto des Schlesier-Treffens 1985: gemeint sein konnte die Hoffnung auf konkreten Wiedergewinn wie ein mentaler Besitz.
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Sitzblockaden, Friedensketten und unzählige Kundgebungen und Diskussionen auf allen Ebenen der Gesellschaft an vielen Orten der Bundesrepublik waren weitere Kennzeichen dieser Zeit.15 Inzwischen hatten die neuen sozialen Bewegungen eine stärkere thematische Auffächerung durchgemacht. Zugespitzt formuliert hatte der Zukunftsoptimismus der Aufbruchsjahre der ersten beiden Jahrzehnte der Bundesrepublik eine Wende genommen. Naturschutz war ein altes und traditionell konservatives Thema und spielte bereits in den frühen Jahren eine wichtige Rolle. Mit dem industriellen Wachstum wurde auch von Regierungsseite die Frage nach Reinhaltung von Wasser, Boden und Luft diskutiert und eher technokratisch als ein insgesamt zu lösendes Problem angesehen. Politik und Wissenschaft arbeiteten hier eng zusammen. Langsam entwickelte sich ein gesteigertes Bewusstsein von Problemen auch in der Öffentlichkeit, es gab erste Proteste gegen Großprojekte, aber Lösungen wurden zumeist pragmatisch und für einzelne Fälle gesucht. Charakteristisch war die Ankündigung des Kanzlerkandidaten der Opposition, Willy Brandt, im Bundestagswahlkampf 1961: „Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden.“ In der Tat geschah dies zunächst durch den Bau hoher Schornsteine, welche die Schadstoffe in die höhere Atmosphäre bis nach Nordeuropa trugen und dort erst recht Umweltprobleme verursachten. Spätestens Ende der 1960 war dieser punktuelle Weg also gescheitert; es stellte sich eine systemische Frage. Die war von Zukunftsforschern unterschiedlicher Richtung schon früher aufgeworfen worden, sie wurde ab 1969 auch sehr schnell zum zentralen Teil der Regierungspolitik. Dies geschah im Übrigen in einem ständigen europäischen und transatlantischen Austausch auf publizistischer wie gouvernementaler Ebene. Rachel Carson hatte schon 1962 das auch in Deutschland viel beachtete Buch „Silent Spring“ veröffentlicht.16 Man begann die Fragen von „Katastrophen wie Kriege, Überbevölkerung, Erschöpfung der Rohstoffe“ zusammenzudenken – hier der Politologe Ossip K. Flechtheim 1968. Die Menschheitsfrage war gestellt, in den Worten des Philosophen Georg Picht 1973: „Wir rasen ohne Scheinwerfer mit infernalischer Geschwindigkeit einer planetarischen Katastrophe entgegen, wenn man nicht auf der Stelle beginnt, die Basisprobleme zu lösen, [mit] denen wir – wie noch keine Periode der Menschheit – konfrontiert sind.“17 In die Politik übersetzt hieß das: „Wir hätten wenig erreicht, wenn die Menschen in der Zukunft nicht durch Krieg, sondern durch Umweltkatastrophen ungeahnten Ausmaßes in ihrer Existenz bedroht würden.“ Gerade die NATO gab sich 1969 eine „dritte Dimension“ mit 15 Philipp Gassert, Tim Geiger, Hermann Wentker (Hg.), Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive, München 2011. 16 Rachel Carson, Silent Spring, 1962, dt: Stummer Frühling, München 1963. 17 Kai Hünemörder, Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und die Formierung der deutschen Umweltpolitik (1950–1973), Wiesbaden 2004, Zit. 202 (Flechtheim), 213 (Picht), 262 (Brandt).
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einem „Committee on the Challenges of Modern Society“. Ein hier weit gespannter Sicherheitsbegriff schloss zunehmend auch Umweltsicherheit mit ein. Eine von der UNO veranstaltete globale Umweltkonferenz in Stockholm 1971 suchte erstmals global, die Umweltprobleme zu diskutieren und politische Folgerungen zu ziehen. Noch stärker als Carson wirkte international und zumal in der Bundesrepublik 1972 die Publikation eines privaten Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“: Endlichkeit der Ressourcen auf der Erde und die gleichzeitigen Gefahren durch Umweltzerstörung waren nun etablierter Teil der Debatte – Warnungen vor „Umwelthysterikern“ behielten eine gewisse Bedeutung, ein eher linker Verdacht, die katastrophalen Gefahren für die Menschheit lenkten von akuten Problemen ab, verlor an Gewicht. Dafür konnte die Konkurrenz von Wirtschaft und Umwelt mit grundlegenden antikapitalistischen Forderungen untermauert werden. Hinzu kam gleichfalls in den frühen 1970er Jahren die Einsicht, dass nicht nur nukleare Rüstung den Weltfrieden gefährde, sondern dass auch die bis dahin weitgehend zukunftsoptimistische zivile Nutzung von Atomenergie gleichfalls Umweltgefahren heraufbeschwor. Das fing in Deutschland ab 1973 mit konkreten, für ein Jahrzehnt dauernden Massenprotesten gegen den Bau von Atomkraftwerken wie in Wyhl, dann 1981 in Brokdorf an und schien mit einem Reaktorunfall in den USA 1979 (Reaktor „Three Mile Island“) eine konkrete Bestätigung zu finden.18 Die oben genannte neue Friedensbewegung der späten 1970er Jahre entstand vor dem Hintergrund dieser Ausweitung des politischen Themenfeldes durch die Ökologie und damit der allgemeinen Gefährdung der Lebensgrundlagen auf der Erde in unmittelbarer (militärischer) Sicht wie in mittel- und langfristigen Überlebensfragen der Menschheit. Protest wurde in einem linken und alternativen Milieu zum Lebensstil.19 In den unmittelbaren „Nachrüstungsprotesten“ stand allerdings die Frage des durch neue Rüstungen in Europa akut gefährdeten Friedens im Vordergrund. Allerdings erloschen damit die unmittelbaren friedenspolitischen Ansätze der Bewegung weitgehend, obwohl die neuen Raketen auch in der Bundesrepublik stationiert wurden. Am Rande sei erwähnt, dass in der DDR regierungsoffiziell viel Sympathie (und auch propagandistische Unterstützung) für die westlichen Friedensbewegungen aufgebracht wurde, unabhängige Demonstrationen dort je-
18 Aus der reichhaltigen Literatur eher exemplarisch: Silke Mende, „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011; Thorsten Schulz-Walden, Anfänge globaler Umweltpolitik. Umweltsicherheit in der internationalen Politik 1969–1975, München 2013; Andrew S. Tomkins, Better Active than Radioactive! Anti-Nuclear Protest in the 1970s in France and in West Germany, Oxford 2016; Eckart Conze, Geschichte der Sicherheit. Entwicklung – Themen – Perspektiven, Göttingen 2018, Gassert (Anm. 9), bes. Kapitel 5. 19 Sven Reichhardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014.
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doch nur in ersten Ansätzen in den 1980er Jahren aufkommen konnten. Wohl aber formulierten sich seit den frühen 1980er Jahren im nicht-öffentlichen Raum, oft um die evangelischen Kirchen zentriert, neue Zentren der politischen, staatsfremden Diskussion zu alternativem Denken im Rahmen des bestehenden Staates. Mit dem Fall der Mauer 1989 und der 1990 folgenden Vereinigung der beiden deutschen Staaten stellte sich auch das Friedensproblem grundsätzlich anders dar; denn damit brach auch zugleich die europäische und weltweite Konfrontation der beiden bisherig zentralen Militärblöcke weg. Es tat sich die Chance zu einem gesamteuropäischen Friedensprojekt auf, eines „gemeinsamen europäischen Hauses“, wie es Michail Gorbatschow Ende der achtziger Jahre propagiert hatte. Das Wort von der Friedensdividende kursierte; das vereinte Deutschland – historisch gesehen: ein Kleindeutschland im Vergleich zur Geschichte des Deutschen Reiches von 1871–1945 – sah sich nur noch „von Freunden umzingelt“, wie ein zufriedener politischer Slogan fast aller Parteien in den Nullerjahren lautete. Als äußeres Zeichen dafür konnte gelten, dass die Bundeswehr, die bis dahin annähernd eine halbe Million Soldaten umfasst hatte (die Nationale Volksarmee der DDR hatte ca. 170.000 Mann) im folgenden Jahrzehnt trotz Auflösung und Eingliederung einiger Personen aus der NVA auf eine Viertelmillion schrumpfte; 2022 gibt es nur noch 173.000 Menschen in der Bundeswehr. Das war ein Zeichen dafür, dass man hierzulande trotz der Kriege außerhalb Europas, der Kriege in Jugoslawien, dann aber seit 2014 verstärkt auch in anderen Teilen Europas weiterhin glaubte, eine weitgehend nicht mehr militärgestützte internationale Ordnung erhalten oder weiter fördern zu können. Doch es kam anders, die Globalisierung setzte sich nicht gerade harmonisch fort und der zweite Golfkrieg 1991 wurde von den USA und zahlreichen anderen Staaten geführt, mit UN-Mandat ausgestattet. Er brachte die Befreiung Kuwaits von irakischer Besetzung und somit geriet Krieg schnell erneut auch ins deutsche Bewusstsein. Demonstrationen einer neuen Friedensbewegung unter der Parole „Kein Blut für Öl“ richteten sich gegen die Weltpolizisten-Rolle der USA und damit im weiteren Sinn auch gegen eine sich liberalkapitalistisch ausbreitende Wirtschaftsordnung. Zeitgenössisch monierte „Der Spiegel“ schon zu Beginn dieses Krieges, am 28. Januar 1991, unter dem Titel „Die Deutschen und der Krieg“, diese, nunmehr vergleichsweise kleine Friedensbewegung der Zehntausende verhalte sich wie ein kleines Kind gegenüber den mächtigen Eltern: „Nie mehr Täter sein“, sei eine legitime Rolle, aber die unrechtmäßige Besetzung eines Staates wie Kuwait müsse auch eine Rolle spielen. SPD und Grüne, die die Nachrüstungsproteste ein Jahrzehnt zuvor getragen hatten, hielten sich diesmal zurück. Makropolitische Diagnosen einer potenziell oder real gewaltenthaltenden globalen Wirtschaftsordnung und die Einstellung zu regionalem, konkretem Krieg traten hier deutlich wie selten zuvor zutage und bildeten eine der Problemkonstellationen seither. Ein Jahrzehnt später, nach den terroristischen Angriffen auf die USA am 9. September 2001, mobilisierte sich die deutsche Gesellschaft anders. In der Reaktion auf
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den Angriff mit dem dritten Golf- oder Irakkrieg stürzten die USA und eine „Koalition der Willigen“ ohne direkte deutsche Beteiligung, aber auch ohne UN-Mandat, den irakischen Staatschef Saddam Hussein. Gestützt auf den Erfahrungsschatz der international vernetzten Friedensbewegungen war diesmal das Engagement im vereinten Deutschland wesentlich stärker; für eine Berliner Kundgebung werden 500.000 Teilnehmer und Teilnehmerinnen angegeben. Vorausgegangen und inhaltlich in demselben Zusammenhang hiermit war bereits zuvor der Krieg gegen den Terror nach Afghanistan getragen worden, der kurzfristig mit dem Sturz der Taliban endete, jedoch in einer breit aufgestellten internationalen Friedensmission unter der bislang stärksten deutschen militärischen Beteiligung keine dauerhafte Befriedung schaffte und somit 2021 zum fluchtartigen Rückzug dieser internationalen Truppe führte. Aber der Krieg war bereits kurz nach dem Ende des bisherigen Ost-WestKonflikts und zehn Jahre vor „9/11“ wieder in Europa ausgebrochen. Bei dem Zerfall des bisherigen jugoslawischen Staates fanden zwischen 1991 und 1999 und darüber hinaus auf diesem Gebiet eine Reihe aufeinander folgender, aber vernetzter Bürgerkriege, dann auch internationaler Kriege statt, die in dem Kosovokrieg 1999 gipfelten. „Nie wieder Krieg“ wurde ergänzt durch „nie wieder Auschwitz“ – so von Außenminister Joschka Fischer am 7. Mai 1999. Das vereinte Deutschland musste sich in Jugoslawien, aber auch weltweit zu Kriegen und Bürgerkriegen politisch verhalten und tat dies mit einer Mischung herkömmlicher und neuer Mittel und Methoden, die z. T. von Anhängern der bisherigen Friedensbewegungen akzeptiert, z. T. aber auch heftig abgelehnt wurden. Das waren zunächst einmal die UN-Friedenseinsätze der Blauhelme, an denen sich Deutschland – hier beide deutsche Staaten – schon vor dem Mauerfall 1989 in Namibia beteiligte, dann auch in Kambodscha 1992/93 und in vielen anderen Konflikten. Das waren zumeist UN-Einsätze der „Blauhelme“, aber auch Engagements im Rahmen von NATO oder OSZE und anderen internationalen Organisationen. Zugrunde lag dem ein Wandel in der Vorstellung von peace keeping, das seither zunehmend auch den direkten militärischen Einsatz in Bürgerkriegen bedeutete, nicht mehr nur einen Puffer zwischen verfeindeten Staaten meinte. Hinzu kam gerade im Rahmen von UN-Missionen nach dem unmittelbaren peace keeping die langfristige Aufgabe des peace building und damit auch die Schaffung einer Mischung von zivilen Strukturen und militärischem Einsatz. Der Begriff der robusten Friedenseinsätze signalisiert auch militärischen Kampf für akzeptierte Ziele. Die alte Frage nach dem „gerechten Krieg“ stellt sich in neuer Form.20 Afghanistan
20 Roland Paris, Wenn die Waffen schweigen. Friedenskonsolidierung nach innerstaatlichen Gewaltkonflikten, Hamburg 2007; Andreas Hilger, Swapna Kona Nayudu (Hg.), UN Peacekeeping: The Cold War & After, Special Issue des Journal of Cold War Studies, angekündigt 2023.
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war über Jahrzehnte das vielleicht umfassendste Beispiel mit negativem Ausgang – der positive Standard internationaler solidarischer, ggf. auch militärischer Hilfe für Wege aus inner- und zwischenstaatlichen regionalen Konflikten beeinflusst aber seit fast drei Jahrzehnten auch die innerdeutsche Diskussion, zumal das Ende physischer Gewalthandlungen in je einzelnen Regionen vielfach als Voraussetzung für strukturelle Eingriffe gilt, damit danach auch ökologischen Gefährdungen vor Ort und in größerem Rahmen entgegentreten zu können. Parallel lief die Entwicklung von völkerrechtlichen Instrumenten gegen Krieg, gipfelnd im Internationalen Strafgerichtshof, 1998 unterzeichnet und 2002 in Kraft getreten und seither in Den Haag arbeitend.21 Wenn die Arbeiten am Frieden komplexer und schwerer überschaubar geworden sind, dann lag das auch an der neuen Komplexität der realen Gewalt- und Kriegsverhältnisse, innerhalb, aber vor allem außerhalb Europas. Die „neuen“ oder „hybriden“ Kriege waren zwar so neu nicht, sie dominierten dennoch zunehmend die internationale Politik: die Mischung von zwischenstaatlichem und innergesellschaftlichem Krieg, der Wille zu Gewalt und Zerstörung bis hin zum Genozid, die neuen technischen Mittel des elektronischen Zeitalters bis hin zum Cyber Warfare und der Weiterentwicklung von Waffen von Drohnen bis zu den Star Wars, dem Krieg aus dem und im Weltraum.22 Darüber hinaus wurden bisherige Nuklearwaffen und Raketen seit dem letzten Jahrzehnt verstärkt modernisiert, welche die Drohkulisse des Kalten Krieges bis 1989 nachhaltig bestimmt haben, ohne dass die öffentlichen Begleitreaktionen so stark wahrgenommen worden wären, wie 1979 nach dem NATO-Doppelbeschluss. Die Formulierung einer responsibility to protect (R2P) oder Schutzverpflichtung definiert – politisch umstritten – ein Interventionsrecht gegenüber schweren Menschenrechtsverstößen oder in humanitären Katastrophen. Gewaltanwendung zu „guten“ Zwecken macht eine eindeutige öffentliche Bewegung zu einer schwierigeren Aushandlung. Missbrauchsmöglichkeiten im Rahmen nationaler Interessen liegen auf der Hand. Darin stecken Varianten eines wenn schon nicht „gerechten“, dann doch gerechtfertigten, legitimierten Krieges.23 Die deutschen Regierungen beanspruchten, in diesem Rahmen Friedenspolitik zu betreiben; gesellschaftlich umstritten blieb diese allemal. Größere öffentliche
21 Ronen Steinke, The Politics of International Criminal Law, Oxford 2012. 22 Mary Kaldor, Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt 2000; Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Hamburg 2002; meine knappe Diskussion: Alte und neue Kriege. Gewaltkonflikte und Völkerrecht seit dem 20. Jahrhundert, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 35/36, 2016, 4–10. Online: http://www.bpb.de/apuz/232960/alte-und-neue-kriege (7.11.2022). 23 Fabian Klose (Hg.), The Emergence of Humanitarian Intervention. Ideas and Practices from the 19th Century to the Present, Cambridge 2018, hier die kontroversen Beiträge 13–15 von Bradley Simpson, Manuel Fröhlich und Andrew Thompson.
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Proteste hiergegen waren jedoch nach meinem Eindruck insgesamt nicht auszumachen. Die Forderung nach friedlichen und damit zumeist präventiven Lösungen, nach einer deutschen Nichtbeteiligung an Konflikten oder Kriegen gehörten bis zum Krieg gegen die Ukraine 2022 dazu und damit zu einer friedlich ausgetragenen öffentlichen Diskussionskultur. Das scheinen mir die letzten Jahrzehnte thesenartig gut zu charakterisieren. Dagegen gibt es jedoch eine andere und vielleicht wichtigere Entwicklung zu konstatieren. Tödliche Gewaltaktionen innerhalb oder zwischen Staaten haben nie aufgehört, sind aber zumeist wenig in die öffentliche Diskussion eingegangen oder hätten sie gar beherrscht. Das gilt nach Jugoslawien auch für andere Kriege in Europa, zumeist gegen die Folgen des Zusammenbrechens des Kommunismus und damit zugleich Auseinanderfallens der Sowjetunion 1990/91. Auch diese Wende verlief nach hiesiger Erinnerung weitgehend gewaltfrei – wenn auch nicht überall.24 Es folgten aber in der charakteristischen Mischung von nationalen Ansprüchen und militärischer Aktion gegen angeblichen Terror blutige russische Kriege in Tschetschenien, dann gegen Georgien, ab 2014 in der Ostukraine und die rechtswidrige militärische Besetzung der Krim durch die Moskauer Regierung. Erst mit dem Angriff Russlands auf die gesamte Ukraine ab 24. Februar 2022 stellt sich in dieser Reihe russischer Machtansprüche auf eine auch mit militärischen Mitteln betriebene Wiederherstellung alter Großmacht als konsequente Abfolge dar, zu der auch die russische Beteiligung am syrischen Bürgerkrieg gehört. Auf der anderen Seite stand der seit den 2000er Jahren verstärkte Trend von Staaten der ehemaligen Sowjetunion oder des Sowjetblocks, Sicherheit vor Russland im Rahmen des westlichen Bündnisses oder durch eigene demokratischer werdende Strukturen zu finden.25 Damit geriet die Friedensfrage im militärischen Sinn mit langem Anlauf auch wieder ins Zentrum deutscher Diskurse, ohne bisher Massen öffentlich mobilisiert zu haben. Das jedoch geschah aus anderen Gründen, die nur locker miteinander verbunden sind, aber in sich überlappenden Segmenten größere Teile der Bevölkerung mobilisierten. Migration nach Europa und zumal nach Deutschland war ein politisches Dauerthema, wurde aber 2015 zu einem sowohl positiv mobilisierenden Element („refugees welcome“) wie Anlass zu verstärkter öffentlicher Ausländerfeindlichkeit und einer Mobilisierung von rechts, die sich seither auch aus anderen aktuellen Problemen, wie der Pandemie um Covid-19 seit 2020 speist und hier außer Acht bleiben soll. Migration jedoch erhielt im letzten Jahrzehnt einen Stellenwert nicht
24 Martin Sabrow (Hg.), 1989 und die Rolle der Gewalt, Göttingen 2012. 25 Über die Jahre 1990–1999: Mary Sarotte, Not One Inch. America, Russia, and the Making of PostCold War Stalemate, New Haven 2021; für die deutsche Erinnerungskultur: Hope M. Harrison, After the Berlin Wall. Memory and the Making of the New Germany, 1989 to the Present, Cambridge 2019.
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nur im Rahmen der Flucht vor (temporärem) Krieg und Gewalt wie in den Jugoslawienkriegen, dann in Syrien und Bürgerkriegsländern Afrikas und 2022 in der Ukraine. Migration nach Europa und Deutschland wurde seither verstärkt nicht nur als Folge der Rohstoffnutzung und ökologischen Verschmutzung, sondern auch der irreversibel zu werdenden Klimaveränderung, des global warming, erkannt. Wie die meisten sozialen Bewegungen haben sich auch Fridays for future im Anschluss an die Pariser Beschlüsse der Weltklimakonferenz der UNO von 2015 seit 2018 als globaler öffentlicher (Schüler-)Protest ausgebildet und suchten, öffentlich, dezentral und international koordiniert, seither Menschen dauerhaft zu sensibilisieren und zu mobilisieren. Globalisierung ist dabei zu einem vielgestaltigen und vielsinnigen Schlagwort geworden, in dem sich die unterschiedlichsten Sorgen der Gegenwart und Gefahren der Zukunft spiegeln. In den meisten Teilen der westlichen Industriegesellschaften sind die Diagnosen über die Gefahren konsensual, auch Deklarationen und mehr oder weniger bindende Beschlüsse aus den UN-Organisationen liegen vor. Es gibt demnach eher ein Durch- und Umsetzungsproblem als mangelnde Erkenntnisse über die Gefahren für die Erde im Anthropozän, dem Zeitalter menschlicher Erdbeherrschung – und damit einhergehend Erdzerstörung.26 Wie für die meisten der bisher genannten Friedensprobleme kann die je nationale Umsetzung nur einen Bruchteil der drohenden oder anwachsenden Probleme lösen – wohl aber je einen konkreten politischen Ansatz im eigenen Land schaffen und es dabei zugleich unternehmen, die globalen Gefahren anzusprechen und weltweite Lösungen anzubahnen. Die Verschärfung der Weltprobleme erzeugen einen ganz neuen Handlungsdruck. Was seit den 1960er Jahren als positiver Friedensbegriff formuliert wurde, als wünschbares und machbares Ziel einer neu herzustellenden Welt, gewinnt in den letzten Jahrzehnten im Bewusstsein vieler Menschen gerade in Deutschland einen ganz anderen und weiteren politischen Imperativ als die Bedingung zum Überleben von Menschheit insgesamt. Dieser neue positive Frieden baut immer noch auf der Abwesenheit von Krieg, der Beendigung von konkreten militärisch geführten Kriegen, dem negativen Frieden also, auf. Eine solche, nicht immer mit dem Friedensbegriff bezeichnete künftige Entwicklung stellt eine zentrale Frage gegenwärtiger und künftiger Politik dar. Auch der Atomkrieg war (und bleibt) gefährlich für die weitere Existenz der Menschheit, wird in der Gegenwart des Krieges gegen die Ukraine im Jahr 2022 wieder zu einem verbalen Drohelement wie das zumal in den frühen 1980er Jahren der Fall war.
26 John R. McNeill, Peter Engelke, Mensch und Umwelt im Zeitalter des Anthropozäns, in: Akira Iriye (Hg.), Geschichte der Welt 1945 bis heute. Die globalisierte Welt, München 2013, S. 358–533; John McNeill, Corinna Unger (Hg.), Environmental Histories of the Cold War, Cambridge 2010.
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Krieg, Frieden und Umwelt
Kommen wir auf die eingangs zitierte Definition von Friedenskultur zurück. Danach geht es darum, „Konflikte [zu] verhindern, indem sie die ihnen zugrundeliegenden Probleme angehen, um diese durch Dialog und Verhandlungen zwischen Einzelnen, Gruppen“ zu lösen. Genau diese Form der Auseinandersetzung um einen nicht nur erwünschten, sondern notwendigen neuen, positiven Frieden, wird von der politischen Rechten durch eine absolute Setzung auf scheinbar allgemein gültige Werte wie die des Nationalen geleugnet. Damit gerät ein friedenskulturelles politisches Klima in Deutschland in Gefahr – und zwar von beiden Seiten. Der Weg von postnationalsozialistischer, friedensgefährdender Kultur nach 1945 war immer umstritten, zeitweise gefährdet, aber er wurde in den nachfolgenden Jahrzehnten beschritten und führte zu beachtlichen Ansätzen einer Friedenskultur, die nicht nur den Krieg vermied, sondern auch Formen des Austrags fand, die demokratisch-achtsam wurden. Angesichts der neuen, globalisierenden Entwicklungen steht genau dies wieder zwar noch nicht zur Disposition, aber doch in der Diskussion. Zu den Bedingungen von Frieden wird seit Beginn dieses Jahrhunderts nicht nur in Deutschland und Europa in erster Linie das Überleben der Biosphäre gezählt, von der Menschen nur ein Teil sind und zwar der Teil, der für die Zerstörung eben dieses verflochtenen Ökosystems durch seine eigene Entwicklung zuständig ist.27 Hatte es 1999 im UN-System noch einen unüberbrückbaren Dissens darüber gegeben, ob man in der damaligen Zeit eine „Kultur des Krieges“ zu überwinden habe, so stellte UN-Generalsekretär Antonio Guterres 2021 in seinem Vorwort zum UN Environmental Program gleich einleitend fest: „Die Menschheit führt einen Krieg gegen die Natur. Das ist sinnlos und selbstmörderisch. Die Folgen unserer Rücksichtslosigkeit sind bereits heute sichtbar: menschliches Leid, gewaltige wirtschaftliche Verluste und die zunehmende Vernichtung des Lebens auf der Erde.“ In einem elaborierten Programm wird hierin eine Fülle interdependenter Maßnahmen entfaltet, die alle auf das Kernziel setzen: „Das Wohlergehen der heutigen Jugend und künftiger Generationen hängt davon ab, ob es uns gelingt, die gegenwärtigen Trends der Umweltzerstörung unverzüglich und eindeutig zu stoppen. Das kommende Jahrzehnt ist entscheidend.“28 Es gibt von daher kein Erkenntnisproblem, nur eines der Umsetzung. Das Ziel ist einleuchtend – die Zukunft läuft in der Gegenwart bereits von diesem Ziel weg.
27 Dipesh Chakrabarty, Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter, Berlin 2022; Akira Iriye, Petra Goedde, International History. A Cultural Approach, London 2022. 28 https://www.unep.org/resources/global-assessments-sythesis-report-path-to-sustainable-future (7.11.2022); dt.: https://dgvn.de/publications/PDFs/UN_Berichte/UNEP-Bericht-Frieden_schlie ssen_mit_de_Natur-Web.pdf (7.11.2022).
Geschichte und Geschichtsschreibung
„Pax Optima Rerum“ Friedenswahrung und Kriegsbereitschaft als Thema der deutschen Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert Als ich diesen Beitrag vorbereitete,1 besuchte ich wieder einmal das Schloss von Versailles und war gleichermaßen beeindruckt von Größe und Prunk. Natürlich schob ich mich auch in dichten Massen durch den Spiegelsaal, der ja nicht zuletzt ein Erinnerungsort gerade deutscher Geschichte ist.2 Denn auf die Proklamation des Deutschen Reiches dortselbst am 18. Januar 1871 folgte mit einer gewissen historischen Logik die Unterzeichnung des Friedensvertrages der Alliierten mit dem Deutschen Reich am 28. Juni 1919. Er bleibt einer der meistdiskutierten Friedensakte jüngerer Geschichte, für den Historiker von Politologen den Begriff des Versailler Systems abgeleitet haben, analog zum angeblichen Westfälischen System von 1648 – problematisch sind beide3 . (Zur kontroversen Bewertung des „Diktats“ habe ich freilich ein relativ simples Urteil.4 ) Für mich war jedoch überraschend, dass ich in den Saal durch den Salon de la Guerre eintrat, der – so konnte man das auch erwarten – beherrscht wird durch die Kriege Ludwigs XIV.: „1686 vollendete Charles Le Brun die Innenausstattung, die die militärischen Siege des Sonnenkönigs, die letztlich zum Frieden von Nimwegen führten, verherrlicht. Die Wände wurden mit Marmorplatten bestückt und mit sechs Siegestrophäen und kriegerischen Emblemen aus Goldbronze geschmückt.“5 Dazu gehört vor allem das Deckengemälde, auf dem sich der siegreiche König zu Pferde über die am Boden liegenden Feinde hinwegsetzt und von der Siegesgöttin gekrönt wird.
1 Dieser Beitrag entstand für ein Symposium zum 350. Jubiläum der Christian-Albrechts-Universität Kiel im Juni 2015. In diesem wurden Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen unterschiedlicher Disziplinen eingeladen, über ihr Gründungsmotto „Pax Optima Rerum“ („Der Frieden ist das höchste Gut“ – von Erasmus von Rotterdam in der Neuzeit popularisiert) eine Querschnittreflexion über Frieden und Krieg anzustellen; Titel des Symposiums: „Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Kriegen als Beitrag zur wissenschaftlichen Fundierung von Friedenssicherung“. 2 Hagen Schulze, Versailles, in: Etienne Francois und ders. (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, München 2001, Bd. I. 407–421. 3 Heinz Duchhardt, „Westphalian System“. Zur Problematik einer Denkfigur, in: Historische Zeitschrift 269, 1999, 305–315. 4 Vgl. dazu u. a. die beiden Beiträge Selbstbestimmungsrecht bzw. German Research in diesem Band. 5 https://chateau-versailles.hpage.com/1–2-2–2-01–08-guerre.html (18.9.2022); zum frühneuzeitlichen Friedensdiskurs: Irene Dingel, Michael Rohrschneider, Inken Schmidt-Voges, Siegrid Westphal, Joachim Whaley (Hg.), Handbuch Frieden im Europa der Frühen Neuzeit/Handbook of Peace in Early Modern Europe, München 2021.
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Der Spiegelsaal selbst mündet in den Salon de la Paix – und hier hoffte ich Anregung zu finden. In diesem findet sich an der Decke ein Gemälde, das darstellt, wie Frankreich (nach dem Frieden von Nimwegen 1679) Europa den Frieden bringt, der Wagen gezogen von vier Tauben. Das Bild des siegreichen Staates als Friedensgarant brachte mich zum Nachdenken. Es wurde nicht zuletzt durch eine im Fresko symbolisch dargestellte Heiratspolitik ergänzt, in der an Frieden überdies dadurch erinnert wird, dass Merkur diesen per Ölzweig an das Reich, Spanien und die Niederlande überbringt,6 die auf den anderen vier Seiten des Deckengemäldes diesen Frieden akzeptieren; die Christenheit kommt an der vierten Wand dazu. Nun will ich keinen kunsthistorischen Beitrag leisten, möchte aber summieren, dass Frieden im späten 17. Jahrhundert – wie hier in Versailles – sehr vereinfacht in einem linearen Ablauf dargestellt wurde: der Krieg Frankreichs gegen Gegner, darauf Sieg und Niederwerfung – und sodann erst die Gewährung des Friedens. Deutlich wird an den gängigen Friedenssymbolen Taube und Olivenzweig – das sind nicht zufällig die Symbole für die Überwindung der biblischen Sintflut –, dass es nicht nur um den diplomatischen Akt des Friedensvertrages ging, sondern um begleitende bzw. folgende Umstände. In einem solchen Rahmen bewegt sich bis heute auch ein bedeutender Teil frühneuzeitlicher historischer Friedensforschung, die sich stark auf die diplomatischen Verhandlungen und die Akte der Friedensverträge bezieht7 . Es geht dabei zunehmend neben den Personen und Rechtsakten auch um Symbole, Inszenierung und Kommunikation. Darüber hinaus geht es um Erklärungen für den als selbstverständlich betrachteten Bellizismus der vormodernen Zeiten, ja seit den 1980er Jahren auch um die modernen Implikationen solcher Staatsbildungskriege (Johannes Burckhardt).8 Darin wird Krieg ebenso als Bedingung für Fortschritt gesehen, während andere Autoren den Ausgleich zwischen Großmächten durch Territorialschacher schafften – bekanntestes Beispiel: die erste polnische Teilung von 1772 (der dann zwei weitere folgten). Durch sie wurde ein Krieg zwischen Russland, Österreich und Preußen vermieden und damit der europäische Frieden zwischen Großmächten.9 Autoren wie Heinz Duchhardt haben sich intensiv der
6 http://www.galeriedesglaces-versailles.fr/html/11/collection/paix.html (24.4.2022). 7 Umfassend eingebettet in: Irene Dingel, Michael Rohrschneider, Inken Schmidt-Voges, Siegrid Westphal, Joachim Whaley (Hg.), Handbuch Frieden im Europa der Frühen Neuzeit/Handbook of Peace in Early Modern Europe. Berlin, Boston 2021. 8 http://link.springer.com/chapter/10.1007%2F978-3-531–93299–6_27 (21.11.2022), Johannes Burckhardt, Der mehr als Dreißigjährige Krieg. Theorie des Staatsbildungskrieges; ders., Der Dreißigjährige Krieg 1618–1648. Frankfurt am Main 1992. Johannes Burkhardt, Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, in: Zeitschrift für Historische Forschung 24 (1997), 509–574. 9 Michael G. Müller, Die Teilungen Polens 1772, 1793, 1795, München 1984.
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zwischenstaatlichen Friedenswahrung in der Frühen Neuzeit angenommen und dabei auch die Gegenfrage aufgeworfen und beantwortet, warum nicht dauerhaft Krieg herrschte.10 Denn es gab ja auch erklärungsbedürftige und erklärbare Formen, Strategien und Verhaltensweisen, die Krieg vermieden und relativ stabile Zustände ohne Krieg entstehen und bestehen ließen. Krieg kostete nicht zuletzt viel Geld, das zumeist den Untertanen abgenommen werden musste. Schließlich gab es von Erasmus von Rotterdam bis hin zu Immanuel Kant und Jean Paul Richter eine Fülle von Denkern, Dichtern und Praktikern, die auch später immer wieder das Interesse der Geschichtswissenschaft auf sich gezogen haben,11 und von denen einige gezeigt haben, wie sich Öffentlichkeit unter Gebildeten nicht nur in Deutschland gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts konstituierte. Gerade die soziale und kulturelle Ausbreitung von Ideen hat in der Frühneuzeit-Forschung weite Verbreitung gefunden.12 Was hat dies alles mit Friedensicherung zu tun? Historiker und Historikerinnen beschäftigen sich per definitionem mit der Vergangenheit und bemühen sich, ein angemessenes Bild von vergangenen Zeiten zu gewinnen. Sie lassen sich also nicht in erster Linie von Motiven der aktuellen Gegenwartsdiagnose leiten. Aber je mehr das erstere eine zentrale und für mich bleibende Erkenntnis des Historismus ist, desto stärker hat sich herausgestellt, dass auch Historiker ihrer eigenen Zeit verpflichtet sind und aus den Werthaltungen des je eigenen kulturellen, sozialen und politischen Umfeldes heraus forschen und schreiben. Historiker sollten sich mit dem zeitlichen Wandel auch immer bemühen, aus dieser veränderten Zeit eine andere, fremde Zeit verständlich zu machen und genau damit können sie nicht objektive Medien einer toten, vergangenen und verfügbaren Zeit sein, sondern nur Übersetzer aus einer anderen Zeit in ihre Gegenwart und Dolmetscher einer älteren Sprache in die der eigenen Zeit. Es fragt sich jedoch, was sie aus dieser Erkenntnis machen: Soll man sich allein auf die vergangene, fremde Zeit einlassen – dann springt kaum Erkenntnis oder gar Beitrag zur Friedenssicherung der Gegenwart heraus. Oder geht es darum, aus der Vergangenheit die Beiträge und Beispiele zu erarbeiten, die für gegenwärtige Orientierung am wichtigsten erscheinen? Anspruchsvolle Historie wird sich
10 Heinz Duchhardt, Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Köln, Wien 1991. 11 Kurt von Raumer (Hg.), Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance, Freiburg u. a. 1953. 12 Ausgangspunkt hier: Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1961, historisch eingebettet: Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994; enzyklopädisch: Wilhelm Janssen, Frieden, in: Otto Brunner u. a. (Hg.), Historische Grundbegriffe, Stuttgart 1975, Bd. 2, 543–591.
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kaum ausschließlich dem einen wie dem anderen Pol verschreiben, sondern versuchen, beides miteinander zu verbinden. Oder anders gesagt: Ein ganz historistisch gemeinter Ansatz, „nur“ eine andere Zeit zu verstehen, lässt sich von anderen Zeitgenossen oder später Urteilenden dann doch oft nur allzu leicht als Zeugnis der eigenen Zeit lesen und nicht wie beabsichtigt als erhellend für frühere Vergangenheit erkennen. Historisches Lernen, so viel sei zu dem hier gesetzten Rahmen bekannt, vermag in der Regel indirekt durch distanziertes Beispiel, durch Darlegung vergangener Komplexität, durch Einsicht in frühere Fehlkalküle in einer je zu benennenden Gegenwart zu wirken. Das gilt auch und gerade für Friedenspolitik und Sicherheitswahrung. Auch wenn es in diesem Rahmen sinnvoll sein könnte, global zu formulieren, so macht es doch bescheidener einen Sinn, sich im Kern auf eine deutsche Perspektive zu beschränken. Der folgende Beitrag hat demgemäß drei Kapitel: Zunächst geht es um die Darlegung von Positionen klassischer deutscher Historiker zum Friedensproblem; das bedeutet vor allem einen ideengeschichtlichen Streifzug (I). Sodann wird der Umbruch durch die Weltkriege des 20. Jahrhunderts und zumal nach dem Zweiten Weltkrieg diskutiert, der sich deutlich aus ihrem Beitrag zur politischen Gegenwartsorientierung ergab (II). Schließlich suche ich einige Entwicklungen der letzten Jahrzehnte aufzuzeigen und dabei auch das Aufkommen einiger Institutionen anzudeuten, die sich besonders oder ausschließlich um die Entwicklung einer spezifischen Historischen Friedensforschung seit den 1960er Jahren gewidmet haben (III).
I In diesem Sinne werde ich im Schnellschritt einige einflussreiche Positionen vorstellen. Leopold von Ranke (1795–1886) war wohl der berühmteste deutsche Historiker des 19. Jahrhunderts. Er war ein ungemein produktiver Autor mit universalhistorischem Ansatz, aber preußischer Gesinnung. So schrieb er 1833 einen Aufsatz über die Großen Mächte; natürlich hatte er dabei das frühneuzeitliche Europa vor Augen, diskutierte die Entwicklung der fünf großen Mächte und landete bei Preußen unter Friedrich dem Großen: Wenn es als der Begriff einer großen Macht aufgestellt werden könnte, daß sie sich wider alle anderen, selbst zusammengenommen, zu halten vermögen müsse, so hatte Friedrich Preußen zu diesem Range erhoben. Seit den Zeiten der sächsischen Kaiser und Heinrichs des Löwen zum ersten Male sah man im nördlichen Deutschland eine selbständige, keines Bundes bedürftige, auf sich selber angewiesene Macht.
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Die Französische Revolution mit allen ihren Schrecken ließ aber doch durchweg eine breitere nationale Fundierung zurück und diese sah er als eine geistige Kraft an, wie es früher nur die Religionen waren. „Unser Jahrhundert“ – also das 19. Jahrhundert – „[hat] die positivsten Ergebnisse hervorgebracht, es hat eine große Befreiung vollzogen, aber nicht so durchaus im Sinne der Auflösung; vielmehr diente ihr dieselbe, aufzubauen, zusammenzuhalten. Nicht genug, daß es die großen Mächte allererst ins Leben gerufen; es hat auch das Prinzip aller Staaten, Religion und Recht, es hat das Prinzip eines jeden insbesondere lebendig erneuert.“
Diesem Optimismus einer sittlich fundierten Weltordnung, die durch die großen Mächte zu gewährleisten sei, stellte er parallel die eigene, deutsche oder preußische, Aufgabe zur Seite: „Dem Übergewichte, das eine andere Nation über uns zu bekommen droht, können wir nur durch die Entwickelung unsrer eigenen Nationalität begegnen. Ich meine nicht einer erdachten, chimärischen, sondern der wesentlichen, vorhandenen, in dem Staate ausgesprochenen Nationalität.“ Staaten entstanden für Ranke aus Kampf, aus Krieg: „Um etwas zu sein, muß man sich erheben aus eigener Kraft, freie Selbständigkeit entwickeln, und das Recht, das uns nicht zugestanden wird müssen wir uns erkämpfen.“13 Aber dieser Staat beruhte für ihn auf sittlichen Grundlagen. Das war nicht unbedingt aggressiv gemeint, argumentierte nur kurz nach dem Ende der französischen Juli-Revolution und in deren beschränkten Einflüssen in Deutschland für einen Rahmen, dem über Jahrzehnte die deutsche Nationalstaatsgründung mit deutlich noch weiteren Akzenten von statten ging. Heinrich von Treitschke (1834–1896) wurde der Historiker dieses Machtstaates, zu dessen Füßen im Hörsaal der Berliner Universität ab 1873 eine Generation künftiger bedeutender Militärs, Diplomaten und Beamten saß, während er selbst in jüngeren Jahren ein Mandat als nationalliberaler Reichstagsabgeordneter (bis 1884) wahrnahm. Bei aller Kritik am persönlichen Regiment Wilhelms II. formulierte er jedoch ein Politikbild und prägte über Generationen hinweg einen Denkstil, die im Ausland für den deutschen Weg etwa in den Weltkrieg typisch erschienen. Ihn charakterisierte eine Verbindung von politischem Wirken und Geschichtswissenschaft, wie sie nicht häufig vorkommt. Große Staaten seien zentral und damit zugleich ihre Stärkung der Macht.
13 Leopold von Ranke, Die großen Mächte, in: Historisch-politische Zeitschrift 2, 1833, hier zitiert nach: ders., Die großen Mächte. Politische Gespräche. Mit einem Nachwort von Theodor Schieder, Göttingen 1955, 38, 42, 59; vgl. Ulrich Muhlack, Leopold von Ranke (1795–1886), in: Lutz Raphael (Hg.): Klassiker der Geschichtswissenschaft. Bd. 1: Von Edward Gibbon bis Marc Bloch, München 2006, 38–63.
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Ein solcher Staat wird dann zur Sicherung seines eigenen Daseins und der Güter der Kultur, die er zu behüten hat, auch wünschen, dass der Friede bewahrt bleibe […]. Erkennt der Staat, daß die bestehenden Verträge nicht mehr der Ausdruck der wirklichen Machtverhältnisse sind, und kann er den anderen Staat nicht durch friedliche Verhandlung zum Nachgeben bewegen, dann tritt der Völkerprozeß ein, der Krieg. […] Daß der Krieg berechtigt und sittlich, daß der Gedanke des ewigen Friedens ein unmögliches und zugleich unsittliches Ideal sei – das sei erwiesen.14
Das setzte die Verherrlichung des Krieges fort, die er über Jahrzehnte zu seinem ceterum censeo gemacht hatte. Nur der Staat war hier noch eine sittliche Macht, Einschränkungen durch Völkerrecht kamen für ihn nur sehr begrenzt infrage – und gegenüber „unzivilisierten Völkern“ sowieso gar nicht. Natürlich hingen nicht alle Historiker genau diesem, auch politisch weit verbreiteten Machtstaatsdenken und der daraus folgenden Kriegslegitimierung an. Aber sie beeinflussten stärker als andere auch die Öffentlichkeit: Sicherheitsdenken konnte nur heißen, in einer unsicheren europäischen Mittellage militärische und wirtschaftliche Stärke zu entwickeln. Gewiss gab es auch einige linksliberale oder sozialistische Historiker, die anders dachten oder gar dem aufkommenden Pazifismus nahestanden. Ich erwähne hier nur Ludwig Quidde (1858–1941). Er war ein seriöser Mittelalterhistoriker, der an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften eine Stelle als Redakteur hatte. Thematisch war er gewiss dafür nicht ausgewiesen, aber 1894 veröffentlichte er eine knappe Studie „Caligula – Eine Studie über Cäsarenwahnsinn“. Das Bild dieses römischen Kaisers taugte auch als althistorische Studie, aber den Lesern war schnell klar, dass dies eine Persiflage auf den Regierungsstil Kaiser Wilhelms II. darstellte. Man konnte ihn deswegen nicht juristisch belangen, schaffte es aber, dass er wenig später aus anderem, nichtigen Grund wegen Majestätsbeleidigung zu einer dreimonatigen Haftstrafe in Stadelheim verurteilt wurde. Kritik am Kaiser und damit dem herrschenden Militärkult kann man als Beitrag zu einer alternativen Sicherheitspolitik lesen – aber das wäre sehr weit hergeholt. Jedenfalls war Quiddes akademische Laufbahn ruiniert und er, der sich schon zuvor auch in linksliberalen Parteien engagiert hatte, widmete sein Leben nun dem Kampf gegen Vivisektion und für den Pazifismus. Für letzteren erhielt er 1927 als einziger deutscher Historiker den Friedensnobelpreis. Der Historiker war zum politischen Aktivisten für den Frieden geworden.15
14 Heinrich von Treitschke, Völkerrecht und Völkerverkehr, in: Politik. Vorlesungen, Leipzig 5. Aufl. 1922 (ursprünglich 1898), Bd. 2, 543–575, hier 548, 553, 554; vgl. Georg Iggers, Heinrich von Treitschke, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. II, Göttingen 1971, 66–80 [zur Wirkungsgeschichte: Thomas Gerhards, Heinrich von Treitschke. Wirkung und Wahrnehmung eines Historikers im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn 2013]. 15 Karl Holl, Ludwig Quidde (1858–1941). Eine Biografie. Düsseldorf 2007.
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Gehen wir eine Generation weiter als Treitschke, so nahm auch Friedrich Meinecke (1862–1954) als bedeutender Historiker, dann auch als zeitgeschichtlicher Kommentator eine öffentliche Rolle aus der Zeit16 vor dem Ersten bis nach dem Zweiten Weltkrieg ein. An Treitschke kritisierte er:17 Er wurde durch mehr als ein Menschenalter zum Führer der Nation, das heißt derjenigen Schichten der Nation, die den nationalen Staat als Geber von Macht und Freiheit errichten und erhalten wollen – aber er wurde dabei auch zum Verführer derer, die mehr das Wollen als das Denken schätzten.
Damit distanzierte er sich nicht ganz vom vormaligen Machtstaatsdenken, vermisste nur die sittliche Qualität. Für Ernst Schulin18 zerbrach [der Erste Weltkrieg] ihm aber eine so einfache Staat- und Geistesentwicklung harmonisierende Auffassung. Er stellte das handelnde Individuum ganz in den Vordergrund und sah gerade in der „Idee der Staatsräson“ einen unaufhebbaren Dualismus, den „Kratos und Ethos“, von Handeln nach Machttrieb und Handeln nach sittlicher Verantwortung.
Dieser Dualismus, der von Schulin zunächst eher als Umdenken des desillusionierten Machtpolitikers gesehen wurde, enthält rückblickend doch eine stärkere Anlehnung an Staatsgläubigkeit. Aber Meineckes Memento galt letztlich einer unheilvollen Verbindung eines eher traditionellen Militarismus mit einem neuen Nationalismus – ausweislich der Mobilisierung menschlicher Ressourcen im Weltkrieg – und nicht zuletzt dem Kapitalismus und damit der Entfesselung der materiellen Produktivkräfte für den Krieg.19 Nur durch ihr schicksalhaftes, ganz von selbst sich verstehendes Zusammentreffen sind die europäischen Großmächte zuerst auf die Höhe ihrer Macht und dann in einen Abgrund
16 Ludwig Quidde, Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn (1894). Wieder abgedruckt in: ders., Caligula. Schriften über Militarismus und Pazifismus, hg. von Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt am Main 1977. 17 Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte [1924], hg. v. Walther Hofer, München 1957 (Gesammelte Werke, Bd. 1), 467; die folgenden Zitate hieraus: 495, 497, 498. 18 Ernst Schulin, Friedrich Meinecke, in: Wehler (Hg.) Deutsche Historiker, Göttingen 1973, 39–57, hier 45. 19 Das wird ganz ähnlich aufgegriffen und weiterentwickelt von Stig Förster, Der doppelte Militarismus. Die deutsche Heeresrüstungspolitik zwischen Status-quo-Sicherung und Aggression 1890–1913, Stuttgart 1985.
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geführt worden, der auch den europäischen Siegern unter ihnen noch verhängnisvoll werden kann.
Zugleich erkannte er im historischen Rückblick zu Ludwig XIV. ein(en) grauenhaften Zustand der Durcheinanderwirbelung von Krieg und Frieden […]. Die überhitzte Angst um die eigene zukünftige Sicherheit verband sich mit dem ruhelosen Prestigebedürfnis einer ehrgeizigen Nation, aber drohte nun auch neue schwere Weltkrisen heraufzubeschwören, die für Frankreich selbst unheilvoll werden konnten.
Oder wenig später: Die mitleidlose Staaträson der antiken Freistaaten scheint wieder aufzuleben, die die bloße Existenz eines einmal gefährlich gewordenen Gegners nicht ertragen konnte und in seiner völligen Vernichtung ihre höchste Aufgabe sah.
Halten wir von den vielen möglichen Implikationen nur fest, dass eine Kritik an den mentalen und materiellen Möglichkeiten der Mobilisierung von Staaten formuliert wurde, die nicht zur Entwicklung ganz anderer Paradigmen führte, die der Historiker auch nicht als seine Aufgabe ansah. Auf der anderen Seite ist der Appell gegen Vernichtungswillen auch als ein Beitrag zur deutschen Revisionsdebatte der zwanziger Jahre zu lesen. Es wäre reizvoll, diese Linie etwa bis zum Historiker des deutschen Militarismus, Gerhard Ritter, fortzuführen, der von 1954 bis 1968 vier monumentale Bände zu diesem Thema veröffentlichte und dabei den langsamen Verfall der Staatskunst gegenüber dem Kriegshandwerk beklagte. Ludwig Dehio wäre zu erwähnen, der schon 1948 über „Gleichgewicht und Hegemonie“ nachdachte und dabei später auch das Atomzeitalter reflektierte.20 Man könnte von Andreas Hillgruber, dem Historiker der deutschen Großmacht, sprechen, der jahrzehntelang die angehenden Diplomaten unterrichtete und gerade den Gründen für den Niedergang eben jener Großmacht nachspürte.21 Man könnte mit den die Öffentlichkeit prägenden Personen Theodor Schieder, Hans-Ulrich Wehler oder Heinrich August Winkler fortfahren, bei denen jeweils am Rande, explizit oder implizit, eine Auseinandersetzung mit Kriegen und Bedingungen von Friedenswahrung zu verzeichnen ist. Doch das würde den Rahmen dieses Textes sprengen.
20 Dazu ausführlicher: Jost Dülffer, „Balance of Power“ im Nuklearzeitalter? In: Michael Jonas, Ulrich Lappenküper, Bernd Wegner (Hg.), Stabilität durch Gleichgewicht? Balance of Power im internationalen System der Neuzeit, Paderborn 2015, 159–179. 21 Siehe dazu den Beitrag zu Hillgruber in diesem Band.
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II Wichtig war, dass die Historiker ebenso wie die ganze Gesellschaft durch die Erfahrungen des Ersten, dann verstärkt aber noch die des Zweiten Weltkrieges gegangen waren. Nach 1918 war es nicht allein das Kriegserlebnis als solches, über das sie zumeist fachlich schwiegen, sondern es wurde überschrieben durch den als zutiefst schockierend und niederschmetternd empfundenen Versailler Friedensvertrag von 1919.22 So reihten sich die meisten von ihnen in die publizistische Abwehrfront gegen die Kriegsschuldfrage (so lautete der Titel eines einflussreichen, öffentlich finanzierten Periodikums)23 , hier zumeist als „Kriegsschuldlüge“ bezeichnet, ein. Dieser abwehrende Patriotismus ließ kaum Raum für ein Umdenken. Es ging um großmächtliche Gleichberechtigung, während man in Frankreich eher Sicherheit gegenüber dem östlichen Nachbarn und dann auch in Europa anstrebte.24 In diesem Klima gedieh Pazifismus oder supranationales Denken – etwa in der Deutschen Liga für Völkerbund – nur in den ersten Jahren nach dem Krieg besser und Historiker wie Quidde konnten bis zu ihrer Emigration 1933 kaum aus ihrem Fach heraus, sondern nur publizistisch für ihre Sicht werben. Dennoch ist es bemerkenswert, dass ein junger Historiker wie Eckart Kehr zu einer Fundamentalkritik am wilhelminischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystem gelangte und absoluter Außenseiter in der Historikerzunft blieb, denn der „Versuch eines Querschnitts durch die innenpolitischen, sozialen und ideologischen Voraussetzungen des deutschen Imperialismus“25 hätte ja eigentlich zu einem Überdenken des auf militärische Instrumente setzenden Kaiserreichs und seiner Strukturen führen können. Tatsächlich blieb er, der früh starb, öffentlich unbeachtet, und Historikerkollegen fanden damals, eine Analyse wie die von Kehr gehöre eher nach Moskau als nach Berlin. Er wurde erst in den 1960er Jahren von Wehler u. a. wiederentdeckt.26 Es zeichnete sich hier aber eine Denkfigur ab, die von sozialistischer Publizistik längst vorformuliert worden war: Herrschaftssysteme wie das deutsche führten zu imperialer Expansion und von daher zu Krieg. Je nachdem konnte dies auch auf 22 Christoph Cornelißen, Die Frontgeneration deutscher Historiker und der Erste Weltkrieg, in: Jost Dülffer, Gerd Krumeich (Hg.), Der verlorene Frieden. Politik und Kriegskultur nach 1918, Essen 2002, 311–337, hier bes. 322 ff. 23 Die Kriegsschuldfrage: Berliner Monatshefte für internationale Aufklärung, 1922–1928 (danach fiel der Haupttitel weg). 24 Maurice Vaisse, Sécurité d’abord, Paris 1981. 25 Eckart Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894–1901: Versuch eines Querschnitts durch die innenpolitischen, sozialen und ideologischen Voraussetzungen des deutschen Imperialismus, Berlin 1930. 26 Hans-Ulrich Wehler, Eckart Kehr, in: ders. (Hg.) Deutsche Historiker, Göttingen, 1971, Bd. 1, 100–113.
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das ganze „kapitalistisch“ geprägte Staatensystem angewandt werden, wie es von Lenin über Eduard Bernstein und Rudolf Hilferding vorformuliert worden war. Doch: Das waren keine Historiker. Noch größer waren Schock und Bereitschaft zu einem Neuanfang nach Zweitem Weltkrieg und Genozid. Hier sei nur Friedrich Meineckes „Die deutsche Katastrophe“ von 1946 erwähnt. Am verbrecherischen Charakter des NS-Systems und dessen Verantwortung für den Krieg gab es keinen Zweifel und es kam diesmal auch keine Apologie deutscher Politik dieser Jahre in einem friedensrelevanten Sinn auf. Wohl aber machten sich Historiker bald daran, freundlichere Traditionen in der Geschichte als mögliches neues Leitbild herauszupräparieren. Es verwundert nicht, dass dies zunächst in einer Quellenedition wie bei Kurt von Raumer geschah: Sein „Ewiger Friede“ von 1953 war hier wegweisend.27 Heinz Gollwitzer verfasste analog dazu „Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts“28 . Wenn es aber – auch durch alliierte Besatzung bekräftigt – eine Abscheu vor dem gewalttätigen und kriegerischen NS-Regime gab, so wurde durch den schnell intensiver werdenden Ost-West-Konflikt und deutsche Teilung die Frage nach der Rolle nicht nur von gehabtem, sondern auch von künftigem Krieg auch für Historiker virulent. U.a. durch die Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher von 1945 bis 1949 bedingt, wurde es jedoch für weite Teile der Bevölkerung in Westdeutschland schnell möglich, die „Katastrophe“ weitgehend auf die NS-Zeit zu beschränken und hier zumal Adolf Hitler und bestenfalls eine kleine Gruppe von Verbrechern für schuldig zu erklären. Die historisch-gesellschaftliche Aufarbeitung war ein langer und langsamer Prozess; er dauert noch an. In diesem Rahmen erhielt auch die westeuropäische Integration eine historische Fundierung, indem etwa die Außenpolitik der 1920er Jahre, in der Gustav Stresemann und Aristide Briand 1926 zusammen den Friedensnobelpreis erhielten, eine historische Vorbildfunkten. Sie wurde damit zum Vorläufer der aktuellen Integration erklärt. Genau aus diesem Geist der Versöhnung erschien dann die vormalige Kriegsschulddebatte von 1914 in einem milderen Licht: man wollte eher nach vorne als zurück blicken. Diese doppelte, zeitliche wie personelle, Abkapselung der NS-Zeit erlitt einen schweren Schock durch die sogenannte Fischer-Kontoverse, die bislang wichtigste historische Debatte der letzten 70 Jahre.29 Diese Kontroverse entfaltete sich gradu-
27 Siehe Anm. 9. 28 München 1951. Er blieb für Jahrzehnte am Thema dran, zuletzt: Geschichte des weltpolitischen Denkens, 2 Bde., Göttingen 1972/1982. 29 Annika Mombauer (Hg.), The Fischer Controversy 50 years on, in: The Journal of Contemporary History 48 (2), 2013 (und das nachfolgende Themenheft) 231–417). – Vgl. zur Fischerkontroverse auch in anderem Zusammenhang in diesem Band: German Research on the First World War.
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ell, polarisierte mehrere Generationen deutscher Historiker und erreichte so durch Skandalisierung auch öffentliche Aufmerksamkeit. Das Ergebnis: Fritz Fischer (1908–1999) stellte sich gegen die historische Fundierung in einem Trend allgemeiner westeuropäischer Versöhnung, indem er die zentrale Verantwortung des Deutschen Reiches am Ersten Weltkrieg aus neuen Quellen erarbeitete und darüber die weitreichenden Kriegsziele des Ersten Weltkriegs als Vorläufer der NS-Ziele des Zweiten Weltkrieges begriff. Längere Zeit danach brachte er selbst das Ergebnis auf den Begriff: „Kontinuität des Irrtums“30 . Das hatte mehrere Implikationen. Um nur einen der markantesten Kritiker Fischers, den Kieler Historiker und wohl Mitbegründer der deutschen Politikwissenschaft Michael Freund (1902–1972) zu zitieren: Kurz ehe ein halbes Jahrhundert seit dem Beginn des schrecklichen Jahres 1914 vergangen war [also 1964], erschien das Buch eines deutschen Historikers, der die ganze Auseinandersetzung um die deutsche Kriegsschuld wieder aufgreift und diese Fragen zu dem vergiftenden Leben zu erwecken sucht, das ihr nach 1918 innewohnte. Fritz Fischer läßt in seinem Buch den Kriegsschuldartikel des Versailler Vertrages in seiner krassesten Deutung erneut erstehen. Was ist denn eigentlich 1914 geschehen? Unser gegenwärtiges politisches Dasein legt uns die Verpflichtung auf, über das Wesen des Ersten Weltkrieges mit uns ins Reine zu kommen. Wenn es so wäre, daß 1914 dasselbe geschah wie 1939, daß nämlich die planvolle Entfesselung eines Weltkrieges durch die Führung des deutschen Diktators stattfand, dann können wir das Buch der deutschen Geschichte endgültig zuschlagen; dann hätte Hitler über uns regiert und würde er immer über uns regieren,
hieß es unter der Überschrift: „Bethmann Hollweg, der Hitler des Jahres 1914?“31 Gewiss war das eine Verengung ganz auf die deutsche Sicht, aber sie zu zitieren, macht Sinn. Denn sie wurde wichtig als Folie starker geschichtspolitischer Auseinandersetzungen um die Rück- und Neubesinnung von Politik in der Bundesrepublik, gerade zu Fragen von Frieden und Krieg. Um nur zwei markante politische Begleiterscheinungen zu zitieren: Das Auswärtige Amt untersagte eine finanzielle Unterstützung einer Lesereise Fischers in die USA, die dann von den dortigen einladenden Universitäten selbst übernommen wurde. In Bonn tagte gar eine einschlägige Staatssekretärsrunde um das Innenministerium herum, die
30 Aufsatztitel in: Historische Zeitschrift 191, 1960, 83–100. 31 Michael Freund, Bethmann-Hollweg, der Hitler des Jahres 1914? In: Ernst Graf Lynar (Hg.) Deutsche Kriegsziele 1914–1918, 175–193 (hier 175, nach FAZ 28.3.1964).
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sich intensive Gedanken machte, wie denn den – angeblich – verhängnisvollen Ansichten Fischers publizistisch zu begegnen sei.32 Die Bedeutung der Debatte reichte aber weiter. Denn wenn schon aus der wilhelminischen Zeit her Stränge zur deutschen Gewaltpolitik führten, dann konnte man die NS-Zeit nicht mit wenigen Protagonisten allein erklären, wie es Freund andeutungsweise mit der Parallelisierung Bethmann – Hitler tat. Es ging also latent um gesellschaftliche Bedingungen, unter denen die extreme innere und vor allem äußere Gewaltsamkeit der vorangegangenen Jahre möglich wurden. Von einer personenbezogenen Betrachtung zu einer strukturellen war es also ein konsequenter Schritt, den Fritz Fischer nach und nach und vor allem etliche seiner Schüler taten. „Bündnis der Eliten“ hieß die letzte Schrift des Hamburger Historikers33 – und das war ein Bündnis der Eliten vom Kaiserreich bis in die und über die NS-Zeit hinweg (die nicht friedensfähig gewesen seien – wird man in unserem Kontext hinzufügen müssen). Eine entscheidende Implikation lag in der immer wieder gestellten Frage, wozu diese Eliten denn fähig und wofür sie verantwortlich gewesen waren: für Krieg und die Verhinderung eines friedlichen Zusammenlebens der Völker. Seit den 1960er Jahren nahm der Trend zu, deutsche Geschichte auch in längerem Rückblick immer wieder daraufhin zu prüfen, inwieweit sie auf die Zeit 1933 bis 1945 hinwies, diese Zeit präformierte und präfigurierte, gleichsam ein Telos der Fehlentwicklungen oder Sonderwege darstellte.34 Das ist ein zentraler Hintergrund für die hier interessierenden Fragen. Natürlich hatte Fischer mit seinen Thesen und Quellen nicht ein für alle Mal historisch „recht“. Auch die Diskussionen zum 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges haben dies aus meiner Sicht gezeigt. Aber es war ein Zuwachs an Perspektiven, der sich ganz wesentlich auf die Basis friedfertigen oder bellizistischen Handelns bezog und insofern zur Sicherheitsdebatte indirekt beitrug. Hinzugefügt sei, dass diese Wende um 1960 zu einer stärkeren Betonung gesellschafts- und später auch kulturgeschichtlicher Stränge einen internationalen Trend darstellte und bis heute darstellt. Gerade im westdeutschen Fall sind andeutungsweise zwei weitere Motive zu nennen, die beide aus der allerjüngsten Geschichte stammten: die Deutung der Revolution von 1918/19 als gescheitertem Umsturz im bolschewistischen Sinn oder als Möglichkeit für demokratisches
32 Klaus Große Kracht, Die Fischer-Kontroverse. Von der Fachdebatte zum Publikumsstreit, in: ders. (Hg.) Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 2. Aufl. 2011, 47–68, hier 56–58. 33 Untertitel: Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871–1945, Düsseldorf 1979. 34 Das war vor allem publizistisch in den ersten Jahren nach Kriegsende geschehen, hatte aber wenig Tiefenschärfe.
II
Potenzial der damaligen deutschen Gesellschaft.35 War Weimar also schon 1919 am Ende – oder wurden nur Chancen nicht ergriffen bzw. von alten Eliten verhindert? Voraus ging dieser Debatte schon Mitte der 1950er Jahre eine Diskussion über die Gründe des Scheiterns von Weimar in den letzten Jahren der Republik und die Mechanismen der NS-Machtübernahme. All dies hatte explizit mit der neuen Demokratiegründung in der Bundesrepublik zu tun. Die Frage, ob Bonn nicht Weimar sei oder werden könne, brachte dies publizistisch auf den Punkt;36 die Antworten wurden eher in der Politikwissenschaft gegeben, aber es gab in jenen Jahren eine Reihe genuin historisch arbeitender Politikwissenschaftler, unter ihnen am bedeutendsten Karl Dietrich Bracher, die mit umfassender Quellenkenntnis Kategorien politischen Handelns prägten und zugleich untermauerten. Der von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs erhobene Vorwurf eines spezifischen deutschen Militarismus war zentral und ging u. a. in deren Potsdamer Deklaration vom August 1945 ein. Neben und parallel zur Entstehung von Gerhard Ritters genanntem Werk gab es eine Reihe von Ansätzen, diesen Befund nicht nur politikwissenschaftlich-systematisch auszufüllen, sondern über eine Geschichte des Militärs, zumal in preußisch-deutscher Tradition, diesen Militarismus historischgenetisch genauer zu bestimmen, vielfach mit der Absicht politischer Warnung in der Gegenwart. Volker Berghahn suchte das in mehreren Publikation seit Mitte der 1970er Jahre international vergleichend zu leisten, während Wolfram Wette sich seit diesen Jahren wiederholt stark auf die deutschen Erscheinungen konzentrierte und dies als einen zentralen Gegenstand der – in III. zu nennenden – historischen Friedensforschung definierte.37 Dieses eingangs genannte Verhältnis von Wissenschaft und Politik scheint sich auch auf dem Gebiet der Friedenswissenschaft etabliert zu haben: Aktuelle Probleme werden in Medien diskutiert, zu den Journalisten und Publizisten kommen Sozialwissenschaftler, allen voran Politikwissenschaftler, hinzu, während Historiker sich dort zumeist zu vergangenen Sachverhalten äußern, die durch neue Darstellungen oder – zunehmend – Jahrestage mit aktuellen Bezügen legitimiert werden. Damit beriefen sie sich zumeist auf ihre historische Kompetenz, konnten aber kaum größere Rationalität in die Debatten bringen. Erwähnt seien hier nur die
35 Die wichtigsten Protagonisten der Debatte der 1960er und 1970er Jahre waren Karl Dietrich Erdmann, Eberhard Kolb und Reinhard Rürup. 36 Fritz René Allemann, Bonn ist nicht Weimar, Köln 1956. 37 Volker Berghahn (Hg.), Militarismus, Köln 1974 (ein Reader mit umfassender Perspektive); ders., Militarismus: die Geschichte einer internationalen Debatte, Hamburg, Leamington Spa 1986 (ursprünglich englisch: Militarism. A History of an International Debate 1861–1979, Leamington 1981); Wolfram Wette (Hg.), Militarismus in Deutschland. 1871 bis 1945. Zeitgenössische Analysen und Kritik, Münster 1999; ders., Militarismus in Deutschland. Geschichte einer kriegerischen Kultur, Darmstadt 2008, Frankfurt am Main 2010.
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Diskussionen vor und nach dem Mauerfall, in denen es um die zu erwartenden Entwicklungen der deutschen Frage ging. Es gab dabei einige renommierte Historiker, die mit ihrer Fachkompetenz vor einer neuen deutschen staatlichen Vereinigung als Gefahr für den europäischen Frieden warnten. Soweit erkennbar wurde dies nach 1990 nicht fortgesetzt.
III Ich werde nun meinen Fokus verengen und, statt ideengeschichtlich zu argumentieren, auf die Entwicklung eines spezifischen Forschungsfeldes, die Historische Friedensforschung zum 19. und 20. Jahrhundert, zu sprechen kommen. Die fokussierte Beschäftigung mit Frieden in der Disziplin Geschichte kann, wird aber nicht unbedingt als Beitrag zu einer – wie auch immer verstandenen – emanzipatorischen Wissenschaft gesehen. Drei Beispiele seien genannt. Wolfgang Steglich hat sich als einer unter mehreren Autoren mit den Friedensinitiativen im Ersten Weltkrieg beschäftigt und dabei – kritisch nach allen Seiten – die Chance für einen Sonderfrieden und die verpassten Möglichkeiten beleuchtet.38 Ganz ähnlich hat Bernd Martin 1974 „Friedensinitiativen und Machtpolitik im Zweiten Weltkrieg“39 vorgelegt: Ein Ausgleich mit dem Deutschen Reich ohne dessen mehr oder weniger volle Niederlage war zwar jeweils ernsthaft erwogen worden; aber diese Beschäftigung mit dem Frieden ging gerade nicht auf die ethisch-moralischen oder rechtlichen Aspekte ein. Oder anders formuliert: Britische Appeasement-Politik der 1930er Jahre zu untersuchen – ein Begriff, der etymologisch eng mit Paix, Frieden, verknüpft ist – führte für viele internationale wie auch deutsche Autoren, etwa Gottfried Niedhart, dazu, mehr Verständnis für die britische Politik der Friedenswahrung zu entwickeln und – bei Entfaltung der damaligen Rahmenbedingungen – Appeasement nicht als moralisch verwerflich, sondern als tief in nationalen und internationalen Traditionen verwurzelt darzustellen.40 Auch das sollte zum historischen Friedensdenken anreizen, ist aber seinerzeit nicht kanonisiert worden, zeigten sich doch je problematische Seiten des Friedensbegriffs. In der Gegenwart der 2020er Jahre bietet dies Chancen zum Gewinn historischer Tiefenschärfe. Ein inhaltlicher Kanon historischer Friedensforschung hat sich bislang nicht ausgebildet. Es gab und gibt jedoch einige Ansätze zur institutionellen Bündelung.
38 Wolfgang Steglich, Die Friedenspolitik der Mittelmächte 1917/18, Wiesbaden 1964 und mehrere nachfolgende Monographien und Editionen. 39 Düsseldorf 1974. 40 Gottfried Niedhart, Großbritannien und die Sowjetunion 1934–1939: Studien zur britischen Politik der Friedenssicherung zwischen den beiden Weltkriegen, München 1972.
III
Die Anfänge lagen in der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg. Sie bemühte sich seit den 1960er Jahren, interdisziplinär – und das hieß unter Einschluss von Natur- und Kulturwissenschaftlern – aktuelle Weltfragen zu diskutieren. Dazu gehörte vornehmlich die Gefährdung des Friedens im Atomzeitalter. Georg Picht und Carl Friedrich von Weizsäcker waren hier einige der bedeutenden Anreger. Organisatorisch und intellektuell wichtig wurde der eine Generation jüngere Theologe Wolfgang Huber. Bei der FEST las man unter seiner Ägide zunächst ideengeschichtliche christliche und weltliche Texte zum Friedensbegriff und begann auf dieser Basis 1969 auch in eine gesellschaftliche Einbettung einzusteigen. Otto Dann etwa benannte dazu den Anspruch der Geschichtswissenschaft, „in umfassender Form den entwicklungsgeschichtlichen Standort der gegenwärtigen Gesellschaft“ zu explizieren „und […] ihr damit in ihren Friedensbemühungen zur Bewußtwerdung ihrer eigenen Situation“ zu verhelfen. Dazu „entwickelt sie durch vergleichende Ideologie- und gesellschaftskritische Forschung Modelle und Problemstellungen für die modernen Friedensbemühungen in Theorie und Praxis“41 . Das stand quer zur ersten Buchpublikation der FEST von Annette Kuhn zu „Theorie und Praxis der historischen Friedensforschung“, wo es hieß: „Historische Friedensforschung hat zu allererst die Aufgabe der Kritik; sie muß […] Traditionen und ihre Konsequenzen für das Verhalten von Gruppen, nämlich für die Verweigerung der Teilnahme an friedensfördernden Prozessen, aufdecken.“Das war eine unmittelbar emanzipatorische Forderung nach Einfluss auf gegenwärtige Konfliktlagen.42 Sie konkurrierte fortan mit analytisch-erklärenden Impulsen. In der FEST erarbeiteten seit 1970/71 zwei Arbeitsgruppen ein umfassendes Panorama an Themen, die sich um die Begriffe Sozialismus und Frieden bzw. neuzeitliche Kirchen und Frieden scharten. Das Ergebnis waren zwei Sammelbände, die das ursprünglich von Huber gestellte Ziel zu ergründen, „welche Möglichkeiten gesellschaftliche Gruppen haben, Konzeptionen zur Erhaltung oder Förderung des Friedens durchzusetzen“, nicht voll erfüllten. Sprich: Die Modellbildung sozialwissenschaftlicher Herangehensweisen ließ sich in der Geschichtswissenschaft für die Kirchen nur ansatzweise, für die Sozialisten gar nicht erreichen.43 Ansätze zur
41 Persönliche Papiere von Otto Dann, Kopien Archiv Dülffer. 42 Annette Kuhn, Theorie und Praxis historischer Friedensforschung, Stuttgart 1971. 43 Wolfgang Huber, Johannes Schwerdtfeger (Hg.), Frieden, Gewalt, Sozialismus. Studien zur Geschichte der sozialistischen Arbeiterbewegung; dies. (Hg.), Kirche zwischen Krieg und Frieden. Studien zur Geschichte des deutschen Protestantismus, jeweils Stuttgart 1976. – Zu diesem Komplex demnächst Philipp Gassert, Frieden als historisches Problem. Versuch einer Einordnung der Historischen Friedens- und Konfliktforschung als einem normativen Projekt, in: Daniel Gerster, Jan Hansen, Susanne Schregel (Hg.), Historische Friedensforschung. Die Quadratur des Kreises? Frankfurt 2023.
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Popularisierung der sektoralen Erkenntnisse in Medien und Didaktik, wie sie u. a. Wolfram Wette vorbrachte, scheiterten. Aus der Heidelberger Initiative nahm den Faden zu einem genuin historischen Ansatz Karl Holl auf, der mit einem informellen Arbeitskreis Historische Friedensforschung 1977 einige lockere Treffen unter die Fittiche der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung stellte. Konkret hieß das, dass in der Politikwissenschaft gleichsam als Vorläufer schon zahlreiche Ansätze vorlagen. Diese vor allem aus den USA übernommenen und adaptierten analytischen Bemühungen um Frieden fanden mit Autoren wie Dieter Senghaas, Ekkehart Krippendorff und Karl Kaiser, später auch Ernst-Otto Czempiel zwar schon zum Teil in die historische Arbeit bei der FEST Eingang, für Historiker prägend wurden sie nicht – die fachlichen und methodischen Differenzen waren doch zu groß. Vor allem ging es um die praktischen Wirkungsmöglichkeiten, deren Chancen ganz überwiegend gering eingeschätzt wurden. Dies führte unter Karl Holls Federführung 1984 zur formellen Gründung eines Arbeitskreises Historische Friedensforschung.44 Dieser einigte sich nicht auf einen einheitlichen Friedensbegriff und erst recht nicht auf ein Konzept des Vorgehens. Aber „die Orientierung am Leitwert Frieden und die analytische Frage nach der Friedensfähigkeit moderner Gesellschaften“ gelten als „zentraler Antrieb und Bezugspunkt“45 . Es ging seit der Begründung einer eigenen Publikationsreihe 1992 darum, Frieden in „all seinen historischen Dimensionen zu erforschen“. „Schwerpunkte der Arbeit“ waren u. a. „die Bemühungen zur Verhinderung von Kriegen, zur Eindämmung innergesellschaftlicher Gewalt, zur friedlichen Beilegung von Konflikten und zur Entwicklung eines gerechten Friedens“.46 Das Spannungsfeld zwischen mehr oder weniger direkter politischer Aufklärungsund Wirkungsabsicht und distanzierter Analyse historischer Phänomene blieb seither konstitutiv für einen Kreis, der sich von zehn Personen im Jahr 1984 zeitweilig auf bis zu 150 Personen ausgeweitet hat. Wolfram Wette hat in einem der Historischen Friedensforschung gewidmeten Band der angesehenen Suhrkamp-Reihe Friedensanalysen im Jahr 1990 eine einleuchtende Zwischensumme gezogen.47 Danach versteht sie sich als einen Zweig der Geschichtswissenschaft, „der friedensrelevante historische Gegenstände mit den Methoden der Geschichtswissenschaft untersucht“. Das sind nicht nur „Friedensideen, Friedensprojekte, staatliche und
44 Ich habe mich seither in diesem AKHF engagiert und bin also beobachtender Teilnehmer. 45 Hier nach Benjamin Ziemann (Hg.), Perspektiven der Historischen Friedensforschung, Essen 2001, Klappentext. 46 So der Vorspruch der Herausgeber (Gottfried Niedhart, Detlef Bald, Jost Dülffer, Andreas Gestrich, Karl Holl, Arnold Sywottek, Wolfram Wette) zum Jahrbuch Historische Friedensforschung 1992 ff. 47 Wolfram Wette, Geschichte und Frieden. Aufgaben historischer Friedensforschung, in: Friedensanalysen 23, Frankfurt 1990, 14–60, zit. 19, 20.
IV Schluss
nichtstaatliche Friedensaktionen, Friedensschlüsse und Friedenszustände […], sondern ebenso jene historischen Kräfte, die Frieden verhindert oder beeinträchtigt haben.“ Dazu gehörten vor allem Erscheinungsformen von Gewalt, die jedoch nicht so weit gehen, wie Galtungs Begriff der strukturellen Gewalt, der zu weit gefasst sei. Als Hauptthemen schälten sich für Wette heraus: Kriegsursachenforschung, bürgerliche Friedensbewegungen und solche der Sozialistischen Arbeiterbewegung, es gehe um die Geschichte innergesellschaftlicher Konflikte, um eine kritische Militärgeschichte sowie Rüstung und Abrüstung. Auch das war sehr weit gespannt. Methodisch wichtig – und ich würde mich dem auch heute noch anschließen – war „eine Tendenz zur Abkehr von früher – zu Beginn der siebziger Jahre – […] sehr weitgehenden Erwartungen an die Erklärungskraft und Reichweite historischer Studien zum Friedensproblem zu beobachten. Die Annahme, man könne konkrete Lehren aus der Geschichte ziehen und sie in politische Handlungsanweisungen umsetzen, ist einer nüchterneren, bescheideneren Aufgabenbeschreibung gewichen.“ Die spezifische Stärke historischer Friedensforschung liege „nicht in erster Linie in der generalisierenden Aussage, sondern in der Konkretheit der Darstellung […], welche durch quellennahe Arbeit ermöglicht wird“. So hat sich im Rahmen des AKHF der Schwerpunkt Pazifismus einerseits und Antimilitarismus andererseits zu einer wichtigen Achse von erkenntnisleitenden Themen ausgebildet. Versuche jedoch, statt früher gängiger großer Militärs nunmehr bedeutende Pazifisten durch Friedensforschung im öffentlichen Bewusstsein zu verankern, haben sich als illusorisch erwiesen. Studien zu Gewaltausübung behielten jedoch im AKHF die Tendenz, mögliche „Wege aus der Gewalt“, zur Gewaltminderung und ggf. die Gründe für deren begrenzte Umsetzung aufzuzeigen. Internationale Politik kam vor allem im Gewand von Konfliktlösungen, Kriegsvermeidung oder Friedensschlüssen vor. Seit 2014 hat der Arbeitskreis seinen Namen erweitert und nennt sich seither Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. Diese Ausweitung hat zu einer Bereitschaft geführt, auch weitere Themenkreise aus dem sozialen, politischen und kulturellen semantischen Feld von Frieden, Krieg, Konflikt und Gewalt einzubeziehen. Ein Diskussionsforum, wie es ein Arbeitskreis darstellt, bringt naturgemäß keine grundlegenden Studien hervor.
IV Schluss Die neueren Entwicklungen in Deutschland können sich so stark wie nie zuvor auf einen internationalen, vornehmlich anglo-amerikanischen Diskurs stützen, zu dem sie ihrerseits beitragen. Eine Frage nach der Bedeutung von „pax optima rerum“ in der jüngsten Zeitgeschichte könnte sich mit der Hypothese beschäftigen, dass die zentrale Argumentation von Friedenswahrung und Kriegsvermeidung ganz
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wesentlich auf die Jahre des „Kalten Krieges“ mit ihrer latenten Nuklearkriegsgefahr zurückgehe. Sie war historisch neuartig, lässt sich aber als eigentlich ahistorisch kritisieren, wie etwa Thomas Hippler und Miloc Vec argumentierten.48 Dazu gehörte dann auch – nicht unmittelbar an der Zäsur von 1989/90 festzumachen – eine starke Schwerpunktsetzung auf Völkerrecht und hier zumal auf Menschenrechte. Heinrich August Winkler stellte in seiner vierbändigen monumentalen „Geschichte des Westens“ die Frage nach den normativen Zusammenhängen eben dieses „Westen“. Für ihn stehen an der Spitze dieses „normativen Projekts“ „die unveräußerlichen Menschenrechte, die weltgeschichtliche Errungenschaft der beiden atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts“, die er in ihren wechselnden und konfliktreichen Durchsetzungsmöglichkeiten bis in die Gegenwart verfolgte.49 Was bei Winkler eher als roter Faden gelten kann, wird bei Jan Eckel zum zentralen Gegenstand, nämlich die Probleme bei der Durchsetzung von Menschenrechten seit den 1940er Jahren – eine „Ambivalenz des Guten“. Sein Ansatz – wie der vieler anderer Autoren und Autorinnen – überschreitet die traditionelle europäisch-atlantische Fokussierung und schreibt aus einem globalgeschichtlichen Zusammenhang, der zugleich die wachsende Transnationalisierung zum Thema macht. Menschenrechtspolitik kann für Eckel nicht gelöst von den dominierenden Faktoren internationaler Konflikte gesehen werden, verlief diskontinuierlich und setzte sich dennoch nicht linear, aber doch immer stärker als Teil einer internationalen Sicherheitspolitik durch.50 Parallel dazu hat der Fokus auf humanitäre Intervention als Teil internationaler Politik seit dem 19. Jahrhundert an Bedeutung gewonnen.51 Völkerrechtliche, menschenrechtliche und damit friedenssichernde Kategorien sind somit als Faktoren internationaler Politik gegenüber dem Kriegsparadigma stärker in den Fokus geraten. Dazu gehört auch die Entwicklung eines umfassenden Sicherheitsbegriffs, der weit über die inter- und transnationale Ebene hinaus die Staatenpolitik bestimmte; „Versicherheitlichung“ ist hier das Stichwort.52 Wenn zur Diskussion steht, dass und wie weit die starke Fokussierung auf die Bedrohung des Weltfriedens vom Zweiten Weltkrieg bis zur Wende von 1989/90 einen bedeutenden Einfluss auch auf
48 Thomas Hippler, Miloc Vec (Hg.), Paradoxes of Peace in Nineteenth Century Europe, Oxford 2015, 7; vgl. mit anderem Akzent: Gabriele Metzler, Der Staat der Historiker. Staatsvorstellungen deutscher Historiker seit 1945, München 2018, 243–309. 49 Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens, 4 Bde., München 2009–2015, hier III, 13. 50 Jan Eckel, Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940er Jahren, Göttingen 2014. 51 Fabian Klose, „In the Cause of Humanity“. Eine Geschichte der humanitären Intervention im langen 19. Jahrhundert, Göttingen 2019. 52 Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009; ders., Geschichte der Sicherheit: Entwicklung – Themen – Perspektiven, Göttingen 2018. Versicherheitlichung ist die unschöne Übersetzung des Begriffs „securitizaton“.
V Nachtrag 2022
die historische Beschäftigung mit den Themen von Krieg und Frieden hatte, könnte dieser nachfolgende Fokus auf die ‚hellere‘ Seite der historischen Entwicklung, auf die Chancen und Alternativen auch in der herkömmlichen Staatenpolitik mit der Hoffnung auf die Überwindung der Kriegsproblematik zu tun haben. Auf der anderen Seite hat in den letzten Jahrzehnten die Überschreitung des Eurozentrismus aber auch zu einem wichtigen Perspektivwechsel auf die koloniale und imperiale Vergangenheit der europäischen Geschichte gefunden. Was früher eher als Zivilisierungsmission oder Fortschrittsgeschichte gesehen wurde, findet nach dem Ende der formalen Kolonialherrschaft seit den 1950er und 1960er Jahren stärkere Beachtung. Enzyklopädische und perspektivreiche Arbeiten wie die von Wolfgang Reinhard und Jürgen Osterhammel haben die globalen Dimensionen von Kriegs- und Friedensgeschichte bereits vor einiger Zeit nüchtern herausgearbeitet, aber in Deutschland ist erst danach in einer breiteren Öffentlichkeit das Bewusstsein aufgekommen, dass Deutschland nicht nur Teil der europäischen Expansion war, sondern trotz des formalen Verlustes seiner Kolonien nach dem Ersten Weltkrieg ein Teil der imperialen Gewaltherrschaft war, dass Krieg bis hin zu genozidaler Qualität prägend für koloniale wie metropolitane Gebiete war. Die postkoloniale und vergleichende Kriegs- und Gewaltgeschichte als strukturelles Merkmal zeigt sich als bedeutendes Themenfeld. Wird hierbei die Gewaltgeschichte eher als moralischer Vorwurf an den kollektiven und miteinander vernetzten Westen gesehen, so wirft Dieter Langewiesche einen anderen Blick auf Krieg und Gewalt in der Moderne insgesamt, nicht zuletzt im 19. Jahrhundert und auch mit Blick auf die globalen Dimensionen. „Zukunftsgestaltung durch Krieg“ war für ihn eine „Vision seit dem 17 Jahrhundert“, die mit dem Zweiten Weltkrieg untergegangen sei. Es geht ihm aber nicht nur um die Nachzeichnung von vergangenem Bewusstsein, sondern um „Krieg als Gestaltungskraft in der Geschichte“ als brisantem Thema. Im rückblickenden Urteil des Historikers formuliert er plakativ: „Ohne Krieg, kein Nationalstaat und keine Nation“, „Ohne Krieg keine erfolgreiche Revolution“, „Ohne Krieg kein Kolonialreich und keine Dekolonisation“.53 Damit beansprucht er, eine Geschichte nicht nur des Erwünschten, sondern des Realen zu schreiben.
V Nachtrag 2022 Im Lichte der jüngeren Entwicklung in Europa mit einem neuen Großkrieg Russlands gegen die Ukraine seit Februar 2022 spricht einiges dafür, dass sich die Geschichtswissenschaft auch weiterhin auf das Paradigma des Krieges oder der
53 Dieter Langewiesche, Der gewaltsame Lehrer. Europas Kriege in der Moderne, München 2019, Kapitelüberschriften, 12, 410.
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Friedensgefährdung einlassen wird. Nur Teile davon werden sich mit dem Etikett der historischen Friedensforschung versehen lassen wollen. Mich selbst interessiert wie manche andere auch die Analyse vergangener Friedensgefährdung in einem angegebenen Staatensystem und einer historischen Situation, aber vor allem die Wege, die aus solchen Konstellationen und zumal aus Krieg herausführten. Ich habe in diesem Zusammenhang einmal eine vergleichende Friedensschlussforschung vorgeschlagen, die politische, völkerrechtliche und mentale Prozesse verbinden sollte.54 Das ist gar nicht so weit von Versailles und dem Salon de la Paix entfernt, wenn man die Tauben und Ölzweige der Friedensgöttin nicht als transzendente Gewährung von außen, sondern als komplexen und immanenten Prozess ansieht. Historische Friedensforschung insgesamt hat sich darüber hinaus sehr viel stärker der kulturellen Konstruktion und Aufladung von Gewaltphänomenen und dem kritischen Umgang damit zugewandt. Pax optima rerum – dagegen wird auch ein Historiker als Staatsbürger kaum etwas einzuwenden haben, historische Friedensforscher stellen ja gerade die Untersuchung dieses Wertes in den Vordergrund. Aber der Optimismus, den einige Politiker nach 1989 zur Herstellung einer friedlichen one world der Pax Americana zeitweilig entwickelten, hat in der Gegenwart gezeigt, dass die Geschichte weitergeht und traditionelle Fragen, Werthaltungen und Perspektiven neue Bedeutung gewinnen und existenziellen Problemen von heute mit historischer Tiefenschärfe Maßstäbe bereitstellen können, die keine Prognosen, wohl aber Orientierung liefern können.
54 Frieden zwischen Politik, Völkerrecht und Mentalität, in: Benjamin Ziemann (Hg.), Perspektiven der Historischen Friedensforschung, Essen 2002, 194–207.
German research on the First World War in a centenary perspective
The centenary of the outbreak of World War I caused the production of a surprisingly big amount of scholarly literature as well as public debates and commemoration in a truly international perspective. Thus, it is impossible to approach the discussion on only German scholarly research on the First World War in a simple way. This holds true for two reasons. Firstly, more than most other historical topics historiography on World War I was related to politics, public debates, historical memory and national culture. In Germany, perhaps more than in any other country, scholarly debates were, most of the time, a defining part of a national debate on memory. Secondly, since the 20th century scholarly, but not necessarily public debates were always international debates. From their beginning German historical scholarships were part of the international debate and tried to contribute to it. Thus, to exert some influence on the image of Germany as a state during these decisive years, while only German politics and warfare, more than most other countries, were part of an international debate. What can be regarded as a national feature on the first view, is not so much the part historians and historiography by German scholars played in these debates, but only in the German society its reception was specific and national. Thus, talking about German historiography on the First World War means to embed it into the international scholarly context as well as into the debate on German national memorial culture. We will come back to this; but e. g. to not talk about Christopher Clark’s Sleepwalkers, the best-selling book and its reception in Germany, which was written by an Australian historian teaching at the University of Cambridge (UK), would miss a decisive point. The fight for an interpretation of the war started 1914 immediately with the war itself – or even: before the war had started, when politicians and publicists insinuated the other camp with a war-mongering mind. This competition began with the sources, an indispensable basis for all scholarship. This meant that white papers (or differently coloured) from all sides of the participants poured out, which should demonstrate that their own foreign ministries and chancelleries had tried to keep peace, acted out of honourable motives, and had tried to prevent war, but unfortunately were forced by irresponsible enemies to defend themselves against unacceptable impositions. In applying this to Germany: political decision-making for war, thus, very early in August 1914 served two purposes: to charge the other powers and to legitimate the German side for its purely defensive course of action. Of course, also Chancellor Bethmann Hollweg’s Reichstag speech became important
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in which he pleaded for British neutrality by assessing the violation of Belgian neutrality on the basis of only a “scrap of paper.” This will be taken up later. In this way, positions taken towards the interpretations for the road to war were fixed very early, influenced by the impression of victory and defeat during the war and guided by the tendency to mentally mobilize for war, were very difficult to change or to modify. With some exaggeration one can argue that these positions have left their marks even in the debates of today. A second element has to be added: it was not only the road to war, but also the way in which war was waged that early came into focus. “We wage a decent and legal war – the other side does not,” was one of the main arguments. And again, in this regard the Germans produced very bad headlines, regarding the follow-up of the violation of Belgian neutrality: the Belgian atrocities, which culminated in the burning of the famous library of Leuven, but also the death of hundreds of perceived “franc-tireurs.” These were the most visible German crimes committed already in the last days of peace.1 This led to an important consequence between the different war-coalitions: by treating and discussing the enemy as a “barbarian” who committed war-crimes while the respectively own coalition fought for decency and human values. This dehumanizing propaganda against the enemy had – the longer the war lasted – contributed to the effect of mentally stabilizing the endurance of society and thus helped their own war effort against the others. Also in this case, the mechanism was evident: the acceptance or repudiation of a statement in a historical context was and remained important for warfare itself and in supplementing the economic mobilization and the war on the different fronts. These perspectives on the war not only remained valid during the war, but determined also the aftermath, the peace process and civil life in the afterwar period. This does not only hold true for the Versailles Treaty as such which Prime Minister Scheidemann from the Social Democratic party called “unacceptable” as a whole, using the metaphor that the hand of the person who would sign the treaty should wither. This verdict in 1919 was based on war-related assessments in the draft treaty, and especially of Article 231 which stated: “The Allied and Associated Governments affirm and Germany accepts the responsibility of Germany and her allies for causing all the loss and damage to which the Allied and Associated Governments and their nationals have been subjected as a consequence of the war imposed upon them by the aggression of Germany and her allies.” In the Versailles treaty, this was the beginning for the section on reparations and should only set a general claim for the Allies who were split on this question. But from 1919 on,
1 John Horne, Alan Kramer, German Atrocities, 1914. A History of Denial, New Haven 2001. – For important linguistic improvements in comparison to the original printed version, I have to thank Simone Derix and Emily MacKenzie, Erlangen.
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in Germany the conviction spread that reparations were conditioned only by this so-called “war guilt clause.” This was a grotesque, but in retrospect understandable misrepresentation of the meaning of the article as such; indeed, the reparations clauses were severe, but by no means unbearable for the German economy, at least in the long run. A second feature also gained importance: these were the penalty paragraphs of the Versailles Treaty, Articles 227 to 230, which claimed the extradition of the Kaiser and other “Persons guilty of criminal acts against the nationals of one of the Allied and Associated Powers.” Indeed, articles of this kind were relatively new in international law. But because the Kaiser had gone into exile to the Netherlands, he could not be indicted, and the Germans tried to avoid an international court by promising to judge war criminals before their own courts. This they really did, but more or less half-heartedly, thus creating a new source of tension between them and the former allies – on a factual as well as moral question of what had happened during the war2 . From this moment on, not only public discourse, but also German scholarly historical debates were fixated on dealing with the interpretations of the prehistory and history of the First World War. Even before the signing of the Versailles Treaty in the German Foreign Office, a special war guilt office was created, which financed and coordinated a lot of initiatives which gathered information and published national propaganda. In 1921 the Arbeitsausschuss deutscher Verbände – Working Group of German Associations – was founded. Since 1923 there was a popular journal Die Kriegsschuldfrage, which often published documents and historical assessments which could or even should relieve from German war guilt. Papers by foreign historians were welcome as well as documents from the archives of other countries. Die große Politik der europäischen Kabinette, published in 40 volumes from 1922 to 1927, was a major achievement for publishing German Foreign Office and Chancelleries documents since 1871. German historians were massively involved in this procedure3 . The same holds true for the use of documents from the editions of the other war-engaged countries. Finally, a commission of enquiry by the Reichstag during
2 Walther Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfrage: die Strafverfolgung wegen Kriegsverbrechen als Problem des Friedensschlusses 1919/20, Stuttgart 1982; Gerd Hankel, Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003; Annette Weinke, Gewalt, Geschichte, Gerechtigkeit. Transnationale Debatten über deutsche staatliche Gewalt im 20. Jahrhundert, Göttingen 2016. 3 Ulrich Heinemann, Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik, Göttingen 1983; Jost Dülffer, Perspektiven auf Wahrheit. Debatten über deutsche Kriegsverbrechen nach dem Ersten Weltkrieg, in: Jose Brunner, Daniel Stahl (ed.), Recht auf Wahrheit. Zur Genese eines neuen Menschenrechts, Göttingen 2016, 38–51.
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several years heard eye-witnesses, read documents and took note of the opinion of experts, among them historians, but mostly jurists. All this taken together: the Republic was constituted mentally in continuing the war by other means – meaning these public debates – during peacetime. This general tendency was contested on the political left from the beginning, declined in the late Twenties, but, it has to be underlined, all this was about historical questions and historians were participating in, or, in some cases, were even guiding the central debate over the self-perception of the Republic. In this context, the memoirs of David Lloyd George have to be brought into the picture. They were published in a German translation in 1933 and contained the diagnosis: the powers “slithered over the brink.” This meant, in German perception, that more or less all of them were equally responsible for the war, that one of the main opponents during the war, former Prime Minister, now aged 70, had fundamentally changed his assessment. But this was not what the politician originally had argued. After his statement on the “slithering,” the Welsh statesman had continued his argument, that on the part of all the powers the phantasies about the upcoming war were guided by a gross misjudgement of things to come, in the light of the general horrors of war which formed a common Pan-European (and not only European) experience after the war had begun. Pre-war expectations and the reality of the war differed completely. But nevertheless, until today in Germany – and sometimes also internationally – Lloyd George is quoted as a representative of an apology for war-guilt of the Central Powers4 . It goes without saying that under national socialist auspices there could not be any critical debate, but only a simplified confirmation of this kind of legitimation of German politics which was even used to legitimize the renewed aggression of the Second World War. As far as history is concerned, the Nazis claimed a total revocation of Versailles, accused the ignominy of Versailles and claimed the return to a territorial status at least of the German Reich as of 1914. Also, or especially, for this period it is evident that political and cultural debates framed any specific historical discussion5 . After 1945 almost everything had changed. The German genocide and conquest of large parts of Europe did not allow for any identification with or revisionism of the character of the Nazi period, neither in East nor in West Germany. Allied War crimes tribunals condemned parts of the Nazi elite, thereby implicitly acquitting the rest of German society as perpetrators. The de-nazification procedures did not have a thorough impact. But what became more important is our topic: the
4 David Lloyd George, The Truth About Reparations and War-Debts, London 1932. 5 Wolfgang Jäger, Historische Forschung und politische Kultur in Deutschland: Die Debatte 1914–1980 über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Göttingen 1984.
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view of Germany’s role in First World War changed. West Germany in the early Fifties had become a crucial asset for the West in the upcoming and fully developed Cold War and as part of a German mental and cultural (re-)integration into the West, also the commonly agreed image of the meaning of First World War got an important new role. In 1951/52 a German-French historian’s commission which included Jacques Droz, Pierre Renouvin and Gerhard Ritter passed a resolution which recommended: the documents do not allow “to ascribe to any government or any people a conscious will to wage a European war.” This seemed to be a complete reversal of the international interwar positions and a fall-back on the “slithering”position in the Lloyd George formula: West Germany’s integration into the West could continue in cultural harmony and lead to a reconciliation over the tombs of two World Wars6 . So far, I did not mention any German scholarly book on the First World War and I did this intentionally: of course, there were also hundreds of scholarly books on many aspects of the war, mainly on military history and battles, but also on the armistice and peace-making, which are not relevant to the major debates presented here. In the GDR slowly since the late Fifties, a different historical meaning was developed. It derived from the supposed continuity of the war-mongering of capitalist states and culminated in the Seventies with a path-breaking Marxist three-volume edition about Germany in the First World War which was organized by Fritz Klein7 . All this changed in the West when Hamburg historian Fritz Fischer published a major book Griff nach der Weltmacht (which would literally translate as “Grab for world power”) in 1961.8 It had been preceded by an article in the Historische Zeitschrift in 1959 about German war aims in the East: economic war aims before the war had changed to military achievable territorial aims during the war. This article concentrated on a change of attitude in German leadership after the beginning of the war (September-Programm). This was new, but not as mind-changing as it might seem in retrospect. In 896 pages of his 1961 book, this thesis was expanded by a host of newly excavated sources. Fischer remained cautious as to the responsibility for the war, the “war guilt,” and would not say more than that there was a graduated (“abgestuft”) responsibility of the powers. At this early time, he did not want to argue that the German Reich was mainly or solely responsible for war-mongering. The second provocation was the title: Grab for World Power – which, in contrast to Fischer’s explicit arguments, could not but be understood as a willingly steered course into the war before summer of 1914. But in Fischer’s contemporary publications the “grab” was mainly expanded to continuity from the First World War 6 Christoph Cornelißen, Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaften und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001, 470–476. 7 Fritz Klein (ed.), Deutschland im ersten Weltkrieg, Berlin (East) 1968/69, 3 Vol. 8 English title: War of Illusions. German Politics from 1911 to 1914, New York 1975.
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aims to Lebensraum in the Second World War, when he argued about Denkformen which were further developed after this war9 . The Fischer debate which followed became the most important historical debate so far in Post-World War Germany. It was a public debate on (West) German consciousness, but it was based on scholarly discourses and triggered an enormous amount of new scholarship on the First World War and the question of continuities in German history since the 19th century in general. One feature was the reaction of other historians who had accepted more or less the Lloyd George formula – in the German reading of it. Gerhard Ritter who had written extensively on German militarism as such, and, at this time, was probably the most influential nationalconservative historian in the country, asked whether there was a new war-guilt thesis and stressed the difference between pan-Germans and liberal imperialist ideas and aims. He also argued against Ludwig Dehio’s influential thesis about a (German) hegemonic fight in two world wars and concluded, that Fischer’s thesis meant “a darkening of German historical consciousness” which after the catastrophe of 1945 had substituted the deification (of its history – Selbstvergötterung) and was becoming more and more influential. This would be a fatal blow for Germany. Thus he “put down the book in deep sadness and with sorrow regarding the coming generations.” Michael Freund, a political scientist, asked whether Bethmann Hollweg now was modelled as the Hitler of 1914, and concluded, that if the “book of German history would finally be closed, in this case Hitler would permanently rule us and will do so permanently” (175). Why that? It had to do with a deep-seated notion of national honour which was only broken by the Nazi period. In the following debate, Fischer himself sharpened his thesis; in another major volume in 1969 he broadly painted German expansive aims before the First World War which only now constituted a full continuity of aims from the pre-war to the war period. In other publications he upgraded his political history to a stronger emphasis on German society as such, thus contributing to a social history of elites and finally he tightened up his view of the continuity of German politics from World War I to the Second World War: “Alliance of elites” and “continuity of error” were article or book titles. Besides all this, Fischer did not speak of an exclusive German responsibility for the outbreak of the First World War, but stressed that a comparative history of the interaction of the powers still had to be written10 .
9 Fritz Fischer, Deutsche Kriegsziele. Revolutionierung und Separatfrieden im Osten, in: Historische Zeitschrift, 188, 1959, 249–310; id., Griff nach der Weltmacht, Düsseldorf 1961. 10 A good collection of the relevant texts: Ernst W. Graf Lynar (ed.), Deutsche Kriegsziele 1914–1918, Berlin 1964 (with all quotes by Ritter, Freund u. a.); John A. Moses, War aims of Imperial Germany. Professor Fritz Fischer and his critics, Brisbane 1968; Fritz Fischer, Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871–1945, Düsseldorf 1979; id., Hitler war kein Betriebsunfall, Munich 1992.
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Taken all together, the Fischer debate had a lasting influence on restructuring the German national narrative: it was not only Hitler and his circle of co-criminals who had captured Germany, unleashed a world war and committed unprecedented crimes, thus creating a kind of accident (Betriebsunfall) in an otherwise normal German history, but there was a degree of continuity in German history which might be dated from Luther or Bismarck or the First World War to Nazi Germany and of course also in the aftermath of the Second World War occupied and then divided Germany. This opened a broad spectrum of interpretations. Just to mention one person: in 1967 the conservative historian Andreas Hillgruber already published two essays “continuity and discontinuity in German foreign policy from Bismarck to Hitler” and compared similarities and changes in Germany’s role (responsibility) in the prehistory of both World Wars11 . From a methodological view, the Fischer controversy triggered also in German history a wealth of social historical approaches not only for the First World War, but in general, the Bielefeld school since the Seventies surpassed Fischer’s methods, but studies as Jürgen Kocka’s “class society at war” or Ute Daniel’s book on working-class women which dealt with occupation, family and politics in Germany during the First World War12 were results of this turn. All this cannot be presented in this article. But suffice it here to say, that the major comparative books which Fischer always called for, were finally written – but not by Germans. David Stevenson and David G. Herrmann, both in 1996, published comprehensive books on the Coming of the First World War, while George-Henri Soutou had already published L‘or et le sang – a broad comparative history of political and economic war aims of the powers in as well as after the First World War in 198913 . The diagnosis has to be repeated: scholarship had become international, only societal receptions had to do with national political cultures. It may be characteristic that none of the three just
11 There is a wealth of secondary literature on this question, cf. Konrad Jarausch, Der nationale Tabubruch. Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik in der FischerKontroverse, in: Martin Sabrow, Ralph Jessen, Klaus Große-Kracht (ed.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte, Munich 2003, 20–40; Special edition of Journal of Contemporary History, 48 (2), 2014, ed. Annika Mombauer, especially her introduction: The Fischer controversy. 50 years on, 231–240 and further articles by Jonathan Steinberg, Jennifer Jenkins, Hartmut Pogge von Strandmann, op.cit. 12 Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg, Göttingen 1973; Ute Daniel, Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft 1914–1918: Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1989. 13 David Stevenson, Armaments and the Coming of War. Europe 1904–1914, Oxford 1996; David G. Herrmann, The arming of Europe and the making of the First World War, Princeton 1996; GeorgesHenri Soutou, L’Or et le sang. Les buts de guerre économiques de la Première Guerre mondiale, Fayard, Paris 1989; cf. for a broader approach: Jost Dülffer, Martin Kröger, Rolf-Harald Wippich, Vermiedene Kriege. Deeskalation von Großmächtekonflikten zwischen Krim-Krieg und Erstem Weltkrieg, München 1997.
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mentioned books were translated into German (while Kocka’s and Daniel’s book found an English translation). Germany in the First World War in this country remained a topic among others. The progress being made since the Sixties may perhaps best be characterised by Peter Graf Kielmansegg’s Deutschland und der Erste Weltkrieg of 1968 which integrated a large amount of scholarship in writing a political and military history up to Roger Chickering’s Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg. Chickering’s treatment of the same topic in 1998 (in German 2002) also included a broad range of social, mental and cultural historical perspectives14 ; this approach since then has become common – not so much as a paradigm shift, but as a broadening of perspective and a far-reaching pluralism of different approaches. Before switching to the centenary publications on the First World War, one moment has to be underlined. Fritz Fischer had to some extent gained a public victory: up to textbooks, Germany’s main responsibility for the First World War was established, at least among progressive and critical persons, but also for a broader, historically interested public. While the following generations of professional historians somewhat criticized Fischer’s limited methodological approach, his critical approach to German history of the 20th century remained a major asset. This was the situation until recently, when a new run on the sources with a third large public reception after the Twenties and Sixties opened. In early 2017, we are still part of this process, but 2014 was the year in which a media hype of a historical jubilee took place which I have never seen before. Of course, historians might be satisfied that their scholarly engagements turned into a general debate: in the mass media, TV and radio, as well as on internet platforms, which collected memory from below. Museums of national and/or regional range organized exhibitions. Many historians published extensive books, the most important ones after years, if not decades of preparation with nearly or even more than 1000 pages. And this led up to public speeches, conferences up to the highest level of the German Bundespräsident or the Auswärtiges Amt. Some of my German colleagues had appearances in public debates which exceeded 100 events in 2014 (Gerd Krumeich), a number that was not reached again in the following two years, but with still a major public interest. This German debate was not due to Christopher Clark’s Sleepwalkers alone, but it can hardly be understood without the book. I remember having listened to Clark at a conference on the 50th anniversary of Fritz Fischer’s Grab in London in 2011. His new look on the European states’ system – not so much in the long run, but an exact analysis of the international diplomacy in 1914 – caused no stir. The debate was rather structured by diverging assessment of the old “fischerites” as John Roehl,
14 Peter Graf Kielmansegg, Deutschland und der Erste Weltkrieg, Stuttgart 1966, 2nd ed. 1980; Roger Chickering, Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg, Munich 2002.
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Hartmut Pogge von Strandmann and Annika Mombauer – all three of them with some German origin, but teaching in Great Britain – and a younger generation of Germans and other nationals who offered fresh looks e. g. on French politics, Russian motives or the Anglo-German naval race15 . Sleepwalkers was published in German in fall 2013 and had already sold more than 200.000 copies in early 2015, an astonishing success for a scholarly book. As it turned out, most of the debate once again dealt with war guilt, a notion which otherwise is rarely used to characterize a historical event within a scholarly distance. Even when it was now replaced mostly by the notion of responsibility, the fierce debates of the Twenties again were taken up on a higher level with the aim of finding a new synthesis – which of course cannot be found in a world of pluralistic scholarship and a diffuse public opinion. Before this paper, a vast number of balancing summaries have already been written, among those some by long-standing protagonists of this debate who on this occasion did not public major books of their own, among them Stig Förster and Roger Chickering16 . This is not the place to assess the quality of the book as such. In an early review of 2013 I had praised it to establish a new systematic order into the multilateral interactions of the major powers, in painting a broad picture of the various subjective interactions of the traditional governing elites, but neglecting the structural conditions and thus the long-term imprint on the situation17 . The longer the debate went on in Germany, the more the public and scholars, especially from my generation, asked, whether Clark, teaching in Great Britain, was a welcome apologist for German normalcy then and now, 100 years later. At what points or events was Clark in his fresh look on the sources of all sides hiding the special features of German war-mongering? In my view, Christopher Clark simply was not so much interested in the again common hit list
15 A selection of the revised papers was published by Annika Mombauer in: Journal of Contemporary History, op. cit. [full report of this conference: Andreas Gestrich, Hartmut Pogge-von Strandmann, ed., Bid for World Power? New Research on the Outbreak of the First World War, Cambridge 2017]. 16 Roger Chickering, Imperial Germany’s Peculiar War, 1914–1918, in: Journal of Modern History, 88, 2016, 856–894; id., Deutschland im Ersten Weltkrieg. Betrachtungen zur Historiographie des Gedenkjahres, in: Archiv für Sozialgeschichte, 55, 2015 (published 2017), 395–444; S. Förster, Hundert Jahre danach. Neue Literatur zum Ersten Weltkrieg, in: Neue Politische Literatur, 60, 2015, 5–25, online: https://www.neue-politische-literatur.tu-darmstadt.de/fileadmin/npl/NPL_1_ 2015_Foerster.pdf; Stephan Lehnstaedt, In der Endlosschleife? Debatten über die Schuld am Ersten Weltkrieg von Emil Ludwig bis Christopher Clark, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 64, 2016, 620–641; Ulrich Wyrwa, Zum Hundertsten nichts Neues. Deutschsprachige Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg, ibid., 683–702; Jost Dülffer, Die geplante Erinnerung. Der Historikerboom um den Ersten Weltkrieg, in: Totentanz. Der Erste Weltkrieg im Osten Europas, Osteuropa, 64, Heft 2–4, 2014, 351–367. id., 100 Jahre Erster Weltkrieg. Eine Bilanz des Jahres 2014, Osteuropa, 64, Heft 11/12, 2014, 45–58 (published February 2015). 17 http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-21416 (21.10.2013).
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of major responsibilities, which had been important in the debates for a century. He wrote about the interaction of the male elites with all their prejudices and wrong expectations who did calculate the possibility of a war, but could not find a way out. Was a systemic level legitimate with regard to national responsibilities? This was the point, when some conservative scholars from a younger generation (Sönke Neitzel, Dominik Geppert, Thomas Weber), in the beginning of 2014 in a newspaper article in the daily “Die Welt” argued indeed that such a systemic view and explanation of the course into war demonstrated German normalcy then, which would also enable a return to German normalcy in the 21st century states’ system. They tried to provoke a debate on Germany’s responsibility for Europe in 2015 not only with economic implications, but also on general great power and security debates. Since then, this formed a kind of background noise which might easily come up again or is already going on without appeal to the historical situation of the First World War. The reaction from some of the prominent scholars of the older generation in the newspapers was critical. Hans-Ulrich Wehler argued Clark would blur the massive German responsibility, one of the criticisms by Heinrich August Winkler stressed the “continuity of the (German) war party” and accepted a polemic title for another essay: “and deliver us from war-guilt.” What happened in the Clark debate was best evaluated by Andreas Wirsching. According to him, the German reception of Clark’s book: bears all signs of instrumentation (use for other purposes) [which the author would think of as a misunderstanding]. This misunderstanding promptly reveals breaks in German political culture. It offers deep insights in the state of mind (Seelenlage) of those Germans who are repelled by the scholarly and journalist mainstream. [...] Consequently we must continue to talk about the difficult German history of the first half of the 20th century, which is characterized by violence, annihilation, as well as guilt.
This verdict and explanation had little to do with Clark’s book as such, but even more so with the special memorial and self-esteem debate in Germany in the last years18 . To sum up: it was not mainly German scholarship on the First World War which mattered, but also to emphasis this: it had to be a foreigner who was instrumental for the debate. This being said, we pass over to some examples of recent scholarship by Germans on the Great War; it is impossible to present them all. In 2014 there were more than one hundred popular and scholarly books, even more edited volumes and the series
18 Documentary evidence in my reports, mainly from „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Süddeutsche Zeitung“, „Die Zeit“.
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of conferences held are a hint that their outcome will result in more edited volumes. Some of them only deal with the pre-war period, and in this field a balance may be drawn by now, while others cover the whole period of the war. In the first field a book by Gerd Krumeich stands out19 . This author, who, forty years ago, had dedicated his scholarly production to the French side, but since a long time has added the German part, too, in his book insists, that German politics in the July crisis of 1914 bore the brunt of responsibility – followed by Austria-Hungary and maybe Russia (an on-going debate, because some studies on the Russian side are still under discussion). Again, this is a debate on close-reading of the sources, of neglecting some, of underestimating others. The difficult methodological question is asked, but cannot be solved once and for all time: which political initiative or step could or could not provoke the next reaction by another player, which was foreseeable and what was not. What does it mean that “necessarily” a response had to follow etc.? In the concrete situation, the most important single question still seems to be for me: would an Austrian punitive action against Serbia “necessarily” provoke Russia in such a way that it would go to war? Independently of Krumeich, Volker Berghahn and Annika Mombauer (again: two German scholars, teaching in the US or Great Britain) would basically join Gerd Krumeich20 . But the most convincing answers for me were given by Jörn Leonhard21 . While underlining a responsibility of all powers, he summed up: In this sense the players of the summer of 1914 lacked two things: Their sense of reality was shaped by restrictive perspectives and very special constraints for action. Their sense of possibilities did not include alternative strategies, but was articulated as assumptions and a negative logic for action: They had to defend themselves against the assumed intentions of the opponent. With the aim not in advance to get into a weak position, they had to act preventively. The selfimage of all players to be attacked and to have to defend oneself in a legitimate way, finally could not stop the escalation.
Not only in my judgement, Leonhard wrote the best overall book on the World War I we have had so far in Germany, it got applause by Hans-Ulrich Wehler as the “lonely champion” of the book production of 201422 . But what has to be underlined in this regard: Leonhard’s assessment of the July crisis comes close to Christopher Clark’s analysis, only differing in the aspect that Clark presented a tense web of 19 Gert Krumeich, Juli 1914. Eine Bilanz, Paderborn 2014. 20 Volker Berghahn, Der Erste Weltkrieg, Munich 2014 (3 ed.); Annika Mombauer, Die Julikrise. Europas Weg in den Ersten Weltkrieg, Munich 2014. 21 Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieges, Munich 2014, quote 277. 22 Hans-Ulrich Wehler, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 6 May 2014.
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interactions while Leonhard’s approach is more categorical and developed lucid analytical questions and answers with a bird’s-eye view. Besides and maybe after Leonhard’s 1157 pages some other monographs on the war itself can be praised. This is Herfried Münkler’s 924 pages, Oliver Janz 400 pages. These three authors provide us with global histories of the Great War, while Gerhard Hirschfeld and Gerd Krumeich in their 336 pages concentrate on Germany’s role in the European War23 . It is impossible to characterize the richness of sometimes new sources, but in general the success of analytically rearranging the well-known facts. Münkler is a well-known political scientist who attaches great importance on military thinking and acting also in an ideational aspect. All monographs have in common that they open the view towards a real global history, not confining themselves to the Western front and the traditional triangle France, Great Britain and Germany, but including to some extent the Eastern European theatre – Leonhard is the best one in this regard. But in this field there are still some blind spots in German studies. The Middle Eastern World War is another theatre which often had been neglected in Germany24 . Besides the war at sea, the real global perspective has gained momentum. Chinese Kulis, digging trenches in Péronne/France, Indian Sikhs fighting in Mesopotamia are among them. The insight that economic exchange and world trade were fundamentally influenced in all parts of the world and also in a transnational historical perspective is rather recent in Germany. And Africa was not only important because of the fight for German colonies, but the war also triggered short term as well as long term social and cultural developments from South America to East and Southern Asia. This kind of a global Great War, which Swiss author Daniel Segesser had already underlined for the German speaking world some years before25 , is now a common part of the new German approach. By the way, the view only from the German or from the side of the Central powers, which had been so characteristic of the Fischer debate has now completely been overcome – a result of international research in the last half-century26 . Nevertheless, it is worth mentioning that cultural and social history also “from below” has now gained some attention e. g. for Africa27 . But besides these
23 Herfried Münkler, Der große Krieg. Die Welt 1914–1918, Berlin 2013; Oliver Janz, 14 – Der Große Krieg, Frankfurt 2014; Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Deutschland im Ersten Weltkrieg, Frankfurt 2014. 24 A convincing overview: Wilfried Loth, Marc Hanisch (ed), Erster Weltkrieg und Dschihad. Die Deutschen und die Revolutionierung des Orients, Munich 2014. 25 Daniel Segesser, Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive, Wiesbaden 2010, 4th ed. 2014. 26 Ulrike Lindner, Kriegserfahrungen im Empire. Von den Kolonialkriegen zum Ersten Weltkrieg, in: Niels Löffelbein a. o. (ed.), Europa 1914. Wege ins Unbekannte, Paderborn 2015, 81–101. 27 Ulrich Braukämper, Afrika 1914–1918. Antikolonialer Widerstand jenseits der Weltkriegsfronten, Berlin 2015.
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important German monographs, the international standard is set by the impressive Cambridge History of the First World War, in which also German scholars are involved to a large extent28 . Another similar event is the still-developing online encyclopaedia29 1914–1918. Unlike the German main editor Oliver Janz and the funding by German sources may suggest, this is also an international undertaking with broadly conceived essays in English on various aspects of the history of the Great War, including its prehistory, and its aftermath. At the beginning of 2017, 1028 articles were online which should be less than two thirds of the planned amount; there will be more than 1600. [In October 2022, 1587 articles were listed on the website.] Besides the broad public debates on the origins of the First World War which had reached its peak in 2014 and then slowed down, the other major feature of recent German scholarship is the emphasis laid on cultural developments. This means material culture as such, but also the broad spectrum of media, arts, music, theatre which in some collective volumes by German authors have found a broad analysis. Ernst Piper has tried to write an overall cultural history of Europe30 – and this means: a comparative and to some extent also transfer history; this author, by the way, is still convinced of a German leading role in war-mongering. Some chapters of an impressive cultural historical handbook31 may serve as examples of the new cultural imprint on war history: war as cultural catharsis, the war of nerves and will, the war in the media, making sense of nonsensical, money and gender – taken together with a strong emphasis on the home front and especially on emotional history. Generally speaking: all the already mentioned books attach great importance to the home front and the interaction with the warfare as such. Authors like Hirschfeld and Krumeich or Thomas Flemming and Bernd Ulrich32 try to develop this view specifically for the German side, the others do that as well for the other powers or try to establish common features of the relationship. This view seems to be only a symptom of the growing importance of the local or regional experiences of the war in Germany. American historian Roger Chickering, for decades broadly anchored in the German historical debate, has set the benchmark when he published a kind of “total history” of the middle-size town
28 Jay Winter a. o. (ed.), The Cambridge History of the First World War, 3 Vol., Cambridge 2013/14 (Again: Gerd Krumeich was one of the chief editors in this international undertaking). 29 http://www.1914–1918-online.net/(21.11.2022). 30 Ernst Piper, Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs, Berlin 2013. 31 Niels Werber, Stefan Kaufmann, Lars Koch (ed), Erster Weltkrieg. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart/Weimar 2014. 32 Thomas Flemming, Bernd Ulrich, Heimatfront. Zwischen Kriegsbegeisterung und Hungersnot – wie die Deutschen den Ersten Weltkrieg erlebten, Munich 2014.
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of Freiburg im Breisgau already in 2006 which was published as well in German as in English33 . Only a few, sometimes grass-route diggings of the last years have reached Chickering’s sophistication by continuously changing perspective with the purpose to present a nearly “total” picture of just one town in war. However, the fact that World War I has become a popular, but strange world of yesterday could be observed in many local publications, collected sources and exhibitions and partly explain the popular resonance of the centenary. One major feature still deserves discussion because it again has to do with the overall view of Germany’s society in the Great War. This might be approached as the question of civil-military relations, which has a long tradition since the Fifties when conservative historian Gerhard Ritter complained about the continuously rising influence of the military in comparison to the civil part of government in Prussia and especially in Germany during the First World War34 . But the counter-argument is still valid, that it would not matter whether civilians or military persons were wearing uniforms or not, but what their political worldview looked like. There can be no doubt that the military, especially the Third High Command with Paul von Hindenburg and Erich Ludendorff, exerted decisive influence in the second part of the war, but besides the question of the role of German militarism as an institution, the question of this overall mentality in German society remains important. This is especially important when it comes to the role of international law. In 2014, Isabel Hull, who so far had published mostly on the peculiarities of Imperial Germany and the brutality of its military culture, presented a comparative book on the dealing with international law during the First World War, A scrap of paper 35 . The title referred to Bethmann Hollweg’s open confession of the German violation of Belgian neutrality. She was awarded an important German scholarly prize (International Prize of the Max-Weber-Stiftung) – not least for her thesis that there was a kind of German Sonderweg. Her book amounted to the conclusion that the German atrocities in World War I had started in the first months in Belgium. But they were only the first examples in a permanent violation of international standards during the war with Germans waging an unlawful war at sea, killing already surrendered soldiers, of badly treating prisoners of war, starving the people in occupied territories and many other facets. The author admits in her multilateral approach that such deeds were also committed by French or British warfare, but she regards this as accidental
33 Roger Chickering, The Great War and Urban Life in Germany. Freiburg 1914–1918, Cambridge 2007, id., Freiburg im Ersten Weltkrieg. Totaler Krieg und städtischer Alltag 1914–1918, Paderborn 2009. 34 Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Munich 1954–1968, 4 vol. 35 Isabel V. Hull, A Scrap of Paper. Breaking and Making International Law during the Great War, London 2014.
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or due to specific emergency situations while the German side acted intentionally because of the disregard of law as such. More than a decade ago, there was a thorough and convincing analysis of the already mentioned German atrocities in Belgium at the beginning of the First World War by John Horne and Alan Kramer. Since then, Kramer has deepened his research on the comparative aspects of the cultural history of mass killing which is much more open-minded than Hull36 . I cannot discover a similar judgement as Isabel Hull’s by any other author mentioned before with regard to international law – and likewise not in the quoted Cambridge History of the First World War. I am rather sceptical, but especially some German reviewers endorsed Hull’s view, and well-informed historian Annette Weinke in a major overview found much praise for Hull when she argued that Hull’s book was not a fall-back to the position of the early Twenties and the then ongoing war-crime debate. For Weinke, these German discourses and practises were developed with regard to future international law which should form the basis for a new, German-led international war after victory37 . Here again: the Hull thesis is embedded in an international debate on the course of Germany’s role in the First World War, but so far it is not broadly discussed in the German or international historian’s debates. Apparently, this other major accusation (besides starting the war) of German war guilt by committing war crimes may again become a debatable topic. Almost all of the so far mentioned publications date from 2014 and a kind of exhaustion has spread since then. In Germany, the centenary of 1915 has brought up neither many efforts to discuss the emerging topic of diverse theatres of war nor efforts to differentiate their intensity. In this year, 2016, the two authored volume on Verdun by Antoine Prost and Gerd Krumeich is the most remarkable followup publication. As such it is a memorable event that the authors from France and Germany are able to publish a consensual text. This event has its forerunners in the decade-long cooperation of Krumeich and other Germans in the bilateral memorialization with French colleagues in Verdun and the trilateral one in Péronne, which included Krumeich, Jean-Jacques Becker from France and Jay Winter for the British side. The Krumeich-Prost volume is important not only for the common narrative of the battle itself, but also for the clear elaboration of the still continuing divergent national historical cultures regarding this battle. The anniversaries of
36 John Horne, Alan Kramer, German Atrocities. A History of Denial, New Haven 2001 (German 2004); Alan Kramer, Dynamic of destruction. Culture and mass killing in the First World War, Oxford 2007; for a substantial partial aspect of dealing with international law: Heather Jones, Violence against Prisoners of War in the First World War. Britain, France and Germany, 1914–1920, Cambridge 2013. 37 Annette Weinke, Gewalt, Geschichte, Gerechtigkeit. Transnationale Debatten über deutsche Staatsverbrechen im 20. Jahrhundert, Göttingen 2016, 49 f.
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Verdun and the Somme this summer will probably again be subject to a broad media coverage. If the auguries for the upcoming years are not deceptive, the massive public historical interest in the First World War has decreased a little. This may not be the fault of historical scholarship. 2015 remained relatively calm, the remembrance by calendar only had major repercussions in 2016 when the battle of Verdun and the Somme had their centenary. And this of course had its focus on the German-FrenchBritish triangle, culminating in the inauguration of a new historical museum on the battleground of Verdun. In scholarly terms the equivalent was a collectively written book on the battle of Verdun by the two well-known German and French historians Gerd Krumeich and Alain Prost. Krumeich, who already a decade ago had managed to co-author a well-received overall history of the First World War with Jean-Jacques Becker, now did the same with one of the best French historians in the field of historical memory studies38 . That meant that two authors from former arch enemy states managed to write a joint assessment of the major aspects of this battle, touching upon military, social, and cultural aspects in both countries. Especially rewarding are the observations on the different memorial aspects of Verdun in the century since then. While writing this article [in 2016], the centenary has moved to the Russian revolutions and the first US entry into a European war. As to the first aspect, major conferences and memorials are in the making which the role of the US for Europe especially with regard to the present crisis of transatlantic relations may easily come up again. Historians are no professionals in foreseeing the future. However, it can be expected that in 2018 there will be several important new books on the end of the First World War and especially about the new international order that the Paris peace treaties from 1919 tried to create. This prediction draws on the wellfounded rumours of some authors who are under contract to write major books on this topic [This impression is fully confirmed by the results of the following years. At least three major books on the post-war peace order were published in Germany in 2018/1939 ]. That may gain further momentum by the actual crisis of the international order of the post-Cold War period, which can offer rich empirical
38 Jean-Jacques Becker, Gerd Krumeich, Der Große Krieg. Deutschland und Frankreich 1914–1918, Essen 2010; Gerd Krumeich, Antoine Prost, Verdun 1916, Essen 2016 (the volumes were simultaneously printed in German and French). 39 [Eckart Conze, Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt, Munich 2018; Jörn Leonhard, Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923, Munich 2018; Klaus Schwabe, Versailles. Das Wagnis eines demokratischen Friedens 1919–1923, Paderborn 2018; for the latest comprehensive overview, especially of the First World war and the following peace order, see German born scholar Patrick O. Cohrs, The New Atlantic Order. The Transformation of International Politics 1860–1933, Cambridge 2022].
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as well as methodological material for a reconstruction of the international state system. Until now, only an outsider in German historiography, Jörg Friedrich, in book-length has complained about the hard handling of the Germans during the war, by not offering compromises, and after the war with Versailles, while Hull, as has been seen, tends towards the opposite direction. At present, British historian Margaret MacMillan’s balanced book can sum up a broad consensus while Zara Steiner earlier had outlined not only the creation, but also the long consequences of “Versailles”40 . Alas, these are two English volumes by British people who set the standard also in Germany. Having a decade ago edited a book on Versailles with Krumeich and contributed to another one edited only by Gerd Krumeich41 , the latter author tends to see the provisions of peace as so harsh that Germany’s motives for signing only under protest are fully justified, I tend to explain why a peace treaty like Versailles was the logical outcome of a devastating war on all sides and of the way the war was fought. We may not only have a debate on just and lasting peace in the traditional sense, but also reflections what an international order in a different period when nation-states as well as transnational tiers in society and economy were expanding and how our present differs from or resembles the past. To sum up: there is no national German historiography on the First World War, but a specific German national memorial culture. German historiography was focused on its delimination from the international field until the Fifties42 . Since then it turned towards cooperation and was part of international efforts and functioned in an intellectual give and take process. It started as an apologia against the war-guilt accusation, but ended up in a more or less easy-going exchange that competes for good sources and better methodological approaches and arguments. The three source-excavating periods of the Twenties, the Sixties and the second decade of the 21st century have produced a wealth of new documents and a much better understanding of many aspects of this war. The question of how people over more than four years kept fighting, despite the severe losses, remains a major problem for which only approximative explanations can be found. Besides this, there are some convincing attempts to draw balances even beyond the impressive monographs. The most important one is the Cambridge History of the First World War, in which Jay Winter served as the main editor of an otherwise
40 Margaret MacMillan, The War that Ended peace: How Europe Abandoned Peace for the First World War, London 2013 (Die Friedensmacher. Wie der Versailler Vertrag die Welt veränderte, Frankfurt 2015); Zara S. Steiner, The lights that failed: European international history 1919–1933 and: The triumph of the dark: European international history, 1933–1939, Oxford 2005/2011. 41 Gerd Krumeich (ed.), Versailles. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung, Essen 2001; Jost Dülffer, Gerd Krumeich (ed.), Der Verlorene Frieden. Politik und Kriegskultur nach 1918, Essen 2002. 42 The Rome International Historians Congress of 1955 is the best example although it did not deal so much with the First World War.
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international consortium, among the other chief editors again Gerd Krumeich; German historians and topics of German history are well integrated. There is the already quoted Encyclopedia 1914–1918 online43 in which Oliver Janz functions as the main coordinator with 90 world-wide subeditors from 22 countries. The online encyclopedia is organized by a German, and funded by German institutions, but is published in English. The most relevant criticism I can bring forward so far, is the observation that many authors from the English-speaking world are so international-minded that they do not read relevant German language historiography. Is this a sign indicator for the status of German historiography on the Great War or should it be deplored, that German history as a discipline side is better known for providing money and organisation than for its international reputation? For the time being, I leave the question open for further discussion.44
43 https://encyclopedia.1914-1918-online.net/home/(22.11.2022). 44 [International Research on the First World War has continued to flourish since the centenary; my further assessment: Erster Weltkrieg und prekärer Frieden. Neue Bücher zum Jahrestag der Friedensschlüsse, in: Osteuropa 1/2, 2019, 177–194; Centenary, in: https://encyclopedia.1914-1918online.net/article/centenary_historiography ( of July 2020) (22.11.2022].
Politische Geschichtsschreibung der „45er-Generation“ Von der Militärgeschichte des Zweiten Weltkriegs zur kritischen Zeitgeschichte (1950–1970) Zu den Meistererzählungen bundesdeutscher Historiographie gehört es, dass sich aus der in der NS-Zeit groß gewordenen Volksgeschichte nach dem Krieg in den folgenden zwei Jahrzehnten eine moderne Sozialgeschichte ausgebildet habe, die mit dem Primat der Politikgeschichte gebrochen und damit ein lange gängiges und konservatives bis reaktionäres Paradigma abgelöst habe. So ein gerader Weg in die historische Sozialwissenschaft als Fortschrittsnarrativ oder Ausweis von Modernisierung ist nicht unbedenklich und bedarf mancher Ergänzung. Daher wird hier eine andere Richtung in den Blick genommen. Gemeint sind einige Historiker der sogenannten „45er-Generation“,1 die eine bemerkenswerte Entwicklung durchmachten. Sie erwarben noch in der letzten Kriegszeit militärische Erfahrungen und kämpften, gerieten kurz- oder langfristig in Kriegsgefangenschaft und begannen dann Ende der 1940er/Anfang der 1950er Jahre mit dem Studium, das sie Mitte des Jahrzehnts mit der Promotion abschlossen. Sie lassen sich nur lose als Gruppe auffassen, bildeten eher ein Netzwerk thematischer Orientierung, das sich zunehmend mit der „Zunft“ verband und deren Teil wurde. Eine zentrale Erfahrung dürfte das eigene militärische Erleben im Krieg gewesen sein, sodann die alliierte Besatzung und die alliierten Kriegsverbrecherprozesse, mit deren Urteilen ja historisch über Personen der NS-Zeit gerichtet wurde. Gemeint sind Jürgen Rohwer (1924–2015), Andreas Hillgruber (1925–1989),2 Hans-Adolf Jacobsen (1925–2016), Klaus-Jürgen Müller (1930–2011). Dazu rechnen lassen sich aus unterschiedlichen Gründen noch Manfred Messerschmidt (1926–), Eberhard Jäckel (1929–2017) und Wilhelm Deist (1931–2003). Sie wechselten zum Teil die Universität, aber sie promovierten alle bei drei Professoren: in Freiburg bei Gerhard Ritter (Messerschmidt, Jäckel, Deist), in Göttingen bei Percy Ernst Schramm (Hillgruber, Jacobsen) oder in Hamburg bei Egmont Zechlin (Rohwer und Müller). Sie gehörten einer Generation an, wenn auch in der Bandbreite von knapp einem Jahrzehnt. Hillgruber, Jacobsen und Rohwer waren selbst Soldaten gewesen,
1 A. Dirk Moses, The Forty-Fivers. A Generation Between Fascism and Democracy, in: German Politics and Society 50, 1999, 95–127; zusammengefasst jetzt: ders., German Intellectuals and the Nazi Past, Cambridge u. a. 2009, bes. 55–73; Rolf Schörken, Die Niederlage als Generationserfahrung. Jugendliche nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft, München 2004, 11–70. Interviews wurden geführt mit Hans-Adolf Jacobsen, Eberhard Jäckel, Manfred Messerschmidt, Hans Mommsen, KlausJürgen Müller, Jürgen Rohwer, Gottfried Schramm, Februar/März 2010. 2 Vgl. zu Hillgruber den Beitrag in diesem Band.
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die beiden Letzteren hatten den Offiziersrang erreicht, die beiden Ersteren waren danach noch lange in Kriegsgefangenschaft gewesen – Hillgruber drei Jahre bei den Franzosen, Jacobsen vier Jahre in der Sowjetunion. Messerschmidt3 war vom Flakhelfer noch kurzzeitig zum Soldaten geworden. Jäckel hatte noch in einem Wehrertüchtigungslager Uniform getragen und die Gefangennahme erlebt, Müller im Jungvolk gedient. Deist als Jüngster dieser Gruppe hatte ab 1942 die Reichsführerschule der NSDAP in Feldafing besucht. Sie waren somit „45er“, wie Dirk Moses und andere danach ihre Generation beschrieben.
I Die „45er“, ihre Lehrer und frühe Netzwerke Von einer eigentlichen Schule Gerhard Ritters zu Themen der damals jüngsten Geschichte wird man nicht sprechen können.4 Ritter war in den Fünfzigerjahren einfach einer der führenden und konservativ-protestantischen Historiker. Messerschmidt schrieb über das britische Deutschlandbild seit dem 19. Jahrhundert, Jäckel promovierte über Thomas Morus, während Deists Schrift sich auf die deutsche Haltung zur Abrüstungskonferenz 1932/33 verlegte: Die ersten beiden lassen sich der Ideengeschichte zurechnen, letztere der Außenpolitik. Nur Messerschmidts Arbeit wurde als Buch gedruckt und in einem Vorwort bescheinigte der Freiburger Ordinarius dem Autor, er habe sich mit „jugendlichem Schwung an die Quellen selbst gehalten“.5 Der Wissenschaftler hatte in der Promotionszeit in Großbritannien prägende Erfahrungen gemacht, etwa durch die Offenheit, mit der ein bekannter Historiker wie G. P. Gooch ihn über das Wissenschaftliche hinaus betreut hatte. Messerschmidt suchte einen Gelderwerb in der Industrie und in der Versicherungswirtschaft und arbeitete an verschiedenen Orten in der Bundesrepublik. Er studierte nebenher Jura und bewarb sich dann um 1962 als Jurist bei der Bundeswehr. Weil er in Südwestdeutschland bleiben wollte, entsprach es seinen Wünschen, beim jungen Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) angestellt zu werden. Das erst brachte ihn in die Geschichtswissenschaft zurück. Anders Jäckel, der 3 Messerschmidts Selbstzeugnis: Typische und untypische Kriegserlebnisse im Ruhrgebiet, in: Alfred Neven Dumont (Hg.), Jahrgangg1926/27. Köln 2007, hier TB München 2009, 159–166; ders., Meine Erfahrungen als Soldat 1944/45, in: Ders., Militarismus, Vernichtungskrieg, Geschichtspolitik. Zur deutschen Militär- und Rechtsgeschichte, Im Auftrag des MGFA, hrsg. v. Hans Ehlert, Arnim Lang, Bernd Wegner. Paderborn 2006, 383–394. 4 Zum Gesamtkomplex Christoph Cornelißen, Gerhard Ritter, Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001; Klaus Schwabe, Rolf Reichardt (Hg.), Gerhard Ritter. Ein politischer Historiker in seinen Briefen, Boppard 1984. 5 Manfred Messerschmidt, Deutschland in englischer Sicht. Die Wandlungen des Deutschlandbildes in der englischen Geschichtsschreibung, Düsseldorf 1955, 5 (Diss. von 1954). Interview mit Messerschmidt Freiburg, 20.2.2010.
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bis zur Promotion in Freiburg bereits in Tübingen, Göttingen sowie in Gainesville, Florida, und in Paris am Institut d‘Etudes politiques studiert hatte. Er fand bemerkenswerte Lehrer auch außerhalb der Geschichtswissenschaft, so in dem Philosophen Nicolai Hartmann, aber auch dem Juristen und späteren Rechtsberater des AA, Wilhelm Grewe. Nach einem Zwischenspiel bei Arnold Bergsträsser in Frankfurt gelangte Jäckel nach Kiel zu dem Völkerrechtler Eberhard Menzel und erhielt eine Assistentenstelle bei Karl Dietrich Erdmann. Das öffnete für einen sich eher links verortenden jungen Historiker (er trat der SPD 1967 bei) die Chance, auch bei dem CDU-Mitglied, der aktiv Bildungspolitik machte, wissenschaftlich weiterzuarbeiten. In Hamburg lehrte Egmont Zechlin gelegentlich über den Zweiten Weltkrieg, bildete jedoch gleichfalls hierzu nicht gezielt einen Schülerkreis. Jürgen Rohwers Thema vom Februar 1954 waren die deutsch-amerikanischen Beziehungen 1937 bis 1941, die als erster Teil deklariert waren, dessen Fortsetzung aber nie erschien. Bei Klaus-Jürgen Müller war es das deutsch-britische Verhältnis während des Frankreichkriegs 1940. Andere ließen sich hinzufügen wie Karl Klee, später Offizier. Er promovierte bei Zechlin 1957 über den deutschen Operationsplan gegenüber Großbritannien 1940. Diese Themenwahl lässt sich am ehesten durch die damals erste wissenschaftliche Edition, die von einer (west-)alliierten Historikerkommission herausgegebenen Akten zur deutschen auswärtigen Politik, erklären.6 Eingedenk der endlosen Kriegsschulddebatten im Gefolge des Ersten Weltkriegs setzte diese mit der Serie D zur unmittelbaren Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs ein. Die Autoren hatten allesamt keine Schwierigkeiten mit einer Sicht, die der Schweizer Historiker Walther Hofer bereits 1954 in einem Buch auf den Begriff brachte, „die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs“. Das war geschichtspolitisch von nicht geringer Bedeutung. Anders war die Situation in Göttingen bei Percy Ernst Schramm.7 Ähnlich prominent wie Ritter, aber ausgewiesener Mediävist, promovierte er ungefähr zehn Doktoranden mit Themen zum engeren und weiteren Bereich des Zweiten Weltkriegs. Das war auf seine Tätigkeit als Kriegstagebuchführer des Oberkommandos der Wehrmacht (KTB OKW) in den Jahren 1943 bis 1945 zurückzuführen. Er hatte in dieser Tätigkeit große Gestaltungsfreiheit gehabt, fasste oft erst nachträglich und
6 Astrid M. Eckert, Kampf um die Akten. Die Westalliierten und die Rückgabe von deutschem Archivgut nach dem Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 2004. 7 Zur Vita: Joist Grolle, Der Hamburger Percy Ernst Schramm – ein Historiker auf der Suche nach der Wirklichkeit, Hamburg 1989; Kurzform auch in: Die Zeit, 13.10.1989, 49 f. (Grolle wurde 1958 von Schramm promoviert und war 1974–1976 niedersächsischer Wissenschaftsminister, 1978–87 Hamburger Schulsenator). [zu Schramm im Krieg erhellend: Jens Brüggemann, Männer von Ehre? Die Wehrmachtgeneralität im Nürnberger Prozess. Die Entstehung einer Legende, Paderborn 2018, hier 340–378].
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somit als erster Historiker die eingegangenen Meldungen zusammen. Da er zuvor in der Wehrmachtpropaganda diente und auch auf der Krim eingesetzt war, ist es wahrscheinlich, dass ihm der besondere Charakter des Krieges zumindest bekannt war. Auch in seiner Stellung im OKW gingen seine Informationen weit über die kämpfende Truppe hinaus und dürften damit auch Züge des Vernichtungskriegs eingeschlossen haben [Wie jetzt bekannt ist, war er auch Augenzeuge vieler dieser Verbrechen]. Doch machte er hiervon keinen Gebrauch bei der ganz überwiegend operativ-politischen Berichterstattung.8 Wichtiger aber noch dürfte die Tatsache gewesen sein, dass aus dieser Tätigkeit in der Nachkriegszeit eine andere Rolle erwuchs: Der Wissenschaftler fertigte bereits im Juni 1945 eine lange Aufzeichnung an für die Verteidigung des Chefs des Wehrmachtführungsstabes, Alfred Jodl, deren Kern er im Verhör für den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess ausführte: dieser sei ein rein unpolitischer Fachmann, eben Militär, gewesen.9 Weitere Aussagen, Gutachten für die Verteidigung, eidesstattliche Erklärungen schlossen sich in Vorbereitung und Durchführung anderer alliierter Verfahren an, so unter anderem zu Kesselring, den „Südostgeneralen“ Kurt Lanz und Kurt Ritter von Geitner, später auch Walter Warlimont, Ernst Remer u. a. Das zog sich bis in die 1950er Jahre hin. Die meisten der Generale waren wegen Kriegsverbrechen angeklagt, also wegen Vorwürfen, deren Inhalt Schramm spätestens zu diesem Zeitpunkt bekannt wurde. Aber auch hier handelte er nach dem Grundsatz, jeweils deren militärfachlichen Handlungsansatz und Kompetenz herauszustellen. Der scheinbar objektive Historiker stellte sich in den Dienst einer Sache, deren positiver Werthaftigkeit er sich offensichtlich nicht entziehen wollte. Schramm befand sich noch bis 1947 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft/ Internierung, in der er sich mit anderen handelnden Personen der NS-Zeit im „Prominentencamp“ in Oberursel austauschen konnte und bereits ein umfängliches Manuskript „1945. Die Geschichte des Deutschen Zusammenbruchs“ erarbeitete.10 Nach Göttingen zurückgekehrt war er einer der wenigen Personen, die nicht nur an der Universität, sondern auch in einer breiteren Öffentlichkeit über den Zweiten Weltkrieg sprach und lehrte. Sein Ziel sei es gewesen, so berichtete sein Sohn Gottfried, eine zweite Dolchstoßlegende – demnach also durch inneren Verrat etwa des Widerstandes – durch realistische Darlegungen zu verhindern; der Krieg sei
8 Manfred Messerschmidt, Karl Dietrich Erdmann, Walter Bußmann und Percy Ernst Schramm. Historiker an der Front und in den Oberkommandos der Wehrmacht und des Heeres, in: Hartmut Lehmann, Otto Gerhard Oexle (Hg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. I, Göttingen 2004, 418–443, hier 435–443. 9 Dies und das Folgende nach dem Familienarchiv Schramm, Akte 291, Staatsarchiv Hamburg (Benutzung durch freundliche Genehmigung von Gottfried Schramm). 10 Familienarchiv Schramm, Akte L 287; Interview mit Gottfried Schramm, Freiburg 20.2.2010. Die Themen sind elaboriert in: Percy Ernst Schramm, Hitler als militärischer Feldherr, Bonn 1962.
I Die „45er“, ihre Lehrer und frühe Netzwerke
militärisch verloren worden. Studenten wie Jacobsen, der erst 1949 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden war, zogen genau deshalb in diesen Umkreis; Jäckel war dagegen von Schramm weniger beeindruckt.11 Jedenfalls war Andreas Hillgruber der erste, der im Februar 1954 über die deutsch-rumänischen Beziehungen 1939 bis 1944 von Schramm promoviert wurde.12 Das Thema lässt sich in Schramms historisch-wissenschaftliches Konzept so einbauen, dass die Treibstofffrage und damit auch die Erdölversorgung aus Rumänien eine der materiellen Ursachen für die Kriegsniederlage bildete. Hillgruber selbst legte seine Arbeit eher als eine zu den Bündnisbeziehungen beider Staaten auf, die gegen die herrschende Meinung kein Satellitenverhältnis gebildet hätten. Der Nachweis eines Auf und Ab, eingebettet in die jeweilige internationale Kriegssituation, wies bereits einen unverwechselbaren Stil auf, weg von der Geschichte der reinen Interaktion von Diplomaten, wenn sich der Autor anschickte, politische, wirtschaftliche und militärische Faktoren im Zeitenwandel zu gewichten. Hinzu kam – bereits im Titel angedeutet – die Einbeziehung der jeweiligen politischen Führungsstrukturen, so dass ein recht komplexes Geflecht entwirrt werden konnte. Noch etwas fällt auf: die Unsicherheit über die Quellenbasis und damit zugleich das Bestreben, hier größtmögliche Sicherheit zu gewinnen. Hillgruber stützte sich in der Buchfassung, die bereits 1954 erschien, vornehmlich auf die im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess und in den US-geführten Nachfolgeprozessen vorgelegten Quellen, dazu auf privat zur Verfügung gestellte, vor allem militärische Quellen – eben auch auf das KTB OKW und andere vormals dienstliche Dokumente. Dies wurde ergänzt durch eine möglichst breite „Befragung der überlebenden Rumänienexperten“13 , wie Hillgruber 1965 im Vorwort zu einer zweiten Auflage darlegte. Bis dahin hatte er genau diese Befragungen nach der Rückkehr einiger Protagonisten aus der Kriegsgefangenschaft fortgeführt, aber etliche, vor allem militärische Quellen, waren nun ediert. Jacobsen hatte sich sein Promotionsthema, die Vorgeschichte des deutschen „Frankreichfeldzugs“ von 1940 (genannt „Fall Gelb“) selbst gesucht, was von Schramm akzeptiert wurde.14 Die Promotion fand im April 1956 statt, das Buch erschien im folgenden Jahr, gefolgt von einem einschlägigen Zusatzband mit
11 Zur Atmosphäre: Hans-Paul Bahrdt, Studium in Göttingen in der Zeit nach 1945, in: Kornelia Duwe u. a. (Hg.), Göttingen ohne Gänseliesel, 2. Aufl. Göttingen 1989, 203–211. 12 Die Promotionsdaten hier wie weiter nach den Angaben in der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt am Main. 13 Andreas Hillgruber, Hitler, König Carol und Marschall Antonescu. Die deutsch-rumänischen Beziehungen 1938–1944, Wiesbaden 1954, hier 2. Aufl. 1965, VIII. 14 Interview mit Hans-Adolf Jacobsen, 12.2.2010, Bonn-Duisdorf; ich verdanke Herrn Jacobsen ferner die Erlaubnis zur Benutzung seines noch ungeordneten Nachlasses im Bundesarchiv Koblenz (N 1413).
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Dokumenten. Jacobsen hatte in noch weit größerem Maße als Hillgruber Zeitzeugen befragt und vor allem einen damals unter Militärs tobenden Grundsatzstreit wissenschaftlich zu lösen versucht: Hatte Generalfeldmarschall von Manstein den genialen Plan gehabt, war es Hitler, oder spielte der Generalstabschef des Heeres Franz Halder die entscheidende Rolle? Jacobsen interviewte alle, die bereitwillig Auskunft gaben, schloss sich letztlich eher Halder an. Entscheidend war aber das Ziel, nämlich „das geistige Ringen“ um den Operationsplan, korrekt eingebettet, zu rekonstruieren.15 Schon vorher waren andere Göttinger Arbeiten zu diesem Themenkreis entstanden, wie etwa von Ulrich Eichstädt, der über die deutsch-österreichischen Beziehungen der Dreißigerjahre gearbeitet hatte (1952). Es folgten die Arbeiten von Gerd Brausch zu den deutsch-ungarischen Beziehungen 1937–1939 (1958) und Gerhard Meinck zur Aufrüstungspolitik 1933–1937 (1959). Helmuth Rönnefarth hatte ursprünglich 1953 über die deutsch-britischen Beziehungen während der Sudetenkrise 1938 promoviert, erweiterte diese Schrift dann bis 1961 zu einer dreibändigen Arbeit über die Sudetenkrise insgesamt. Auch hier gilt für die Themenwahl: Die Aktengrundlage war entscheidend und bedingte den methodischen Zugriff. Zum Verständnis sollte man sich vor Augen führen, dass das Bestreben nach einer soliden wissenschaftlichen Basis vor allzu schnellen Aussagen dominierte. Bedingt wurde dies zum einen durch die wachsende Erkenntnis, wonach die Propaganda in der NS-Zeit vor allem in Hinblick auf den Kriegsverlauf durch Lügen gespeist worden war. Zum anderen dadurch, dass die alliierten Kriegsverbrecherprozesse und die ihnen folgenden Medien zwar eine Fülle von Quellen in gedruckter Form zur Verfügung stellten, aber dies waren Quellen, die zu Zwecken von Strafprozessen aus ihren Zusammenhängen herausgerissen waren. Hier bildete sich in der deutschen akademischen Historie die Überzeugung aus, auch diese müssten anders und durch die seriellen Quellen der Behörden, aus denen sie hervorgingen, kontextualisiert werden. Zum dritten gab es auch noch die Fülle von Militärmemoiren, die mit sprechenden Titeln wie „Verlorene Siege“ (von Manstein), „Heer in Fesseln“ (Siegfried Westphal) oder „Verratene Schlachten“ (Untertitel: „Die Tragödie der deutschen Wehrmacht in Rumänien und Ungarn“ – Hans Friessner) eine Rechtfertigungspolitik eigenen Handelns betrieben, indem sie die Verantwortung für den Kriegsverlauf und die Niederlage im Großen oder en détail auf Hitler oder die in Prozessen verurteilten Militärs schob. Zwischen diesen drei Quellengruppen – nicht bei jedem Autor gleich – galt es, den Kurs nüchterner Faktenrecherche durch Quellenarbeit einzuschlagen.
15 Hans-Adolf Jacobsen, Fall Gelb. Der Kampf um den deutschen Operationsplan zur Westoffensive 1940, Wiesbaden 1957; ders., Dokumente zum Westfeldzug, Göttingen 1956, 2. Aufl. 1960, Vorwort, o. S.
I Die „45er“, ihre Lehrer und frühe Netzwerke
Das Themenfeld allerdings bedarf der Erläuterung: Nationalsozialistische Verbrechen und Völkermord waren durch alliierte Dokumente bekannt, und es besteht kein Anlass zu glauben, dass die ca. dreißigjährigen Historiker daran zweifelten. Aber sie stürzten sich auf militärische Operationen und Diplomatie, was durchaus einen weiteren Blickwinkel über eine positivistische Quellenreihung hinaus erlaubte. Hans-Adolf Jacobsen wies im Interview auf die Bedeutung des Staatlichen Archivlagers Göttingen mit einer Sammlung der hektographierten Dokumente des Nürnberger Prozesses hin, die dort von dem ebenfalls jungen Völkerrechtler HansGünther Seraphim verwaltet wurden. Viele Themen entwickelten sich auch daraus, dass Schramm den Völkerrechtler zuvor ob der Ergiebigkeit dieser Materialien konsultierte.16 Geschichte als Erinnerung, so wird man sagen können, wurde hier gegenüber der wissenschaftlich und damit angeblich distanziert geschriebenen Forschung zurückgedrängt. Das dürfte weitgehend insgesamt für die entstehende Zeitgeschichte so gegolten haben, auch wenn daraus kein Vorwurf erhoben werden sollte. Im Kontext der frühen bundesrepublikanischen, ja auch weltweiten Erinnerungskultur war das gängig.17 Einen zweiten wichtigen Orientierungspunkt für einige der Genannten bildeten der „Arbeitskreis für Wehrforschung“ (AfW) und die mit ihm verbundenen Publikationsorgane. Ihm voraus ging die Selbstdarstellung der deutschen Generalität noch in Kriegsgefangenschaft.18 Die USA begannen nach 1945 bald als Vorbereitung für ihre eigene offiziöse Geschichtsschreibung, ihre deutschen Gegenparts zu interviewen. Das wuchs sich in Kriegsgefangenenlagern wie Allendorf und Königstein ab 1946 zu einer „Historical Division“ aus, in der ca. 300 hohe bis höchste Offiziere die Chance witterten, sich selbst fachlich zu rehabilitieren und zugleich den Westalliierten zunehmend mit ihrer Expertise auch im Ostkrieg im Zuge des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts anzudienen. Bis 1948 wurden ca. 1000
16 Archiv Schramm L 142: Dissertationsgutachten, in denen sich Schramm mehrfach darauf bezog. Sebastian Conrad, Auf der Suche nach der verlorenen Nation. Geschichtsschreibung in Westdeutschland und Japan 1945–1960, Göttingen 1999, 186–192, hier 188. 17 Aus der uferlosen Literatur pointiert: Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003; Peter Novick, The Holocaust in American Life. Boston 1999; vgl. das Diskussionsforum Astrid M. Eckert, Forum: Editorial zu: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker, in: H-Soz-u-Kult:http://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-415 (22.11.2022) 18 Bernd Wegner, Erschriebene Siege. Franz Halder, die „Historical Division“ und die Rekonstruktion des Zweiten Weltkriegs im Geiste des deutschen Generalstabes, in: Ernst Willi Hansen/Gerhard Schreiber/Bernd Wegner (Hg.), Politischer Wandel, organisierte Gewalt und nationale Sicherheit, München 1995, 288–302; Charles Burdick, Vom Schwert zur Feder. Deutsche Kriegsgefangene im Dienste der Vorbereitung der amerikanischen Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg. Die organisatorische Entwicklung der Operational History (German Section), in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 10, 1971, 69–80 [umfassend: Jens Brüggemann, Anm. 5].
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Studien mit ca. 34.000 Seiten verfasst. Mit Zustimmung der Amerikaner übernahm der ehemalige Generalstabschef Franz Halder, als NS-Gegner ausgewiesen und im Geiste des Antibolschewismus denkend, 1947 die Leitung, die er für mindestens ein Jahrzehnt beibehielt. In einer von ihm geleiteten control group wurden die einzelnen Studien geprüft. Das Hauptkriterium war zwar eine wahrheitsgetreue Geschichtsschreibung im Sinne des angeblich so neutralen Reichsarchivwerks der Zwanzigerjahre. Aber es ging auch darum, keine deutschen Soldaten zu „belasten“. Die Generalsperspektive auf die Operationsgeschichte lag auch hier nahe und damit ein implizites Anschreiben gegen Kriegsverbrecherprozesse in den Westzonen. Während die „Historical Division“ mit einem Büro seit etwa 1950 in Karlsruhe residierte, wurde (wohl nur in loser Verbindung damit) im Frühjahr 1951 eine Zeitschrift gegründet, die seit dem Herbst Wehrwissenschaftliche Rundschau. Zeitschrift für Europäische Sicherheit hieß. Halder steuerte ein Geleitwort bei. Schriftleiter wurden nacheinander die ehemaligen Generale Alfred Toppe, Georg von Sodenstern und Alfred Philippi. Ihre Verbindung mit der Remilitarisierung war bereits im Untertitel deutlich, auch wenn sie schon mit ihrem Titel an die angebliche Tradition der von der kriegsgeschichtlichen Abteilung des Generalstabs betriebenen Militärwissenschaftlichen Rundschau anzuknüpfen trachtete.19 Als Leitungsgremium hierfür gründete sich 1954 der AfW, zunächst in Frankfurt, dann ab 1960 in Stuttgart.20 Auch hier suchte man die Anknüpfung an vermeintlich unbelastete historische Traditionen, nämlich die der Scharnhorstschen Militärischen Gesellschaft, aber auch an die bis in die NS-Zeit wirkende Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaften. Präsides dieses Arbeitskreises waren gleichfalls ehemalige Generale beziehungsweise Admirale, von denen einige bereits nach kurzer Amtszeit starben. Ihr erster Geschäftsführer wurde Jürgen Rohwer, der ab 1971 selbst erster „ziviler“ Präses wurde. Die ehemaligen Militärs wurden bei der Gründung des AfW unterstützt durch das Amt Blank, doch lief die volle Finanzierung von Beginn an über das Bundespresseamt, das die Geschäftsstelle bezahlte, für die Sitzungen des Präsidiums aufkam und dann nach einigen Anlaufschwierigkeiten auch die Jahrestagungen finanzierte.21 Zu der WWR kamen einige weitere Zeitschriften hinzu (Marine-Rundschau, Wehrtechnische Monatshefte) sowie Buchreihen als Beihefte einer Zeitschrift oder in anderer Form. Die Autoren waren in den Zeitschriften wie den gesonderten Bänden ehemalige Generale oder hohe Offiziere, aber gerade der AfW trat an, nicht
19 Broschüre: 15 Jahre Arbeitskreis für Wehrforschung 1954–1969, o. O., o. J., hier l; vgl. 25 Jahre Arbeitskreis für Wehrforschung 1954–1979, zusammengestellt von Gerhard Hümmelchen, beide im Besitz des Verfassers. 20 Rohwer übernahm dort die Bibliothek für Zeitgeschichte nach einer mehrjährigen Vakanz. 21 Angaben nach 25 Jahre Arbeitskreis, l; zur Finanzierung des AfW: Bundesarchiv Koblenz B 153/3527 (Bundespresseamt).
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nur interdisziplinär zwischen den einzelnen Wissenschaften zu wirken, sondern auch und gerade jüngere Wissenschaftler an sich zu binden.22 Genau das taten Personen wie Hillgruber, Jacobsen, Müller und später auch Deist. Jäckel und Messerschmidt finden sich nicht unter den Autoren oder Geförderten. Gerade die ersten beiden schrieben von der Dissertation an eine ganze Reihe von Artikeln und publizierten dazu eine Fülle an Rezensionen, die sich gelegentlich zu Diskussionsforen ausweiteten. Andere etablierte Universitätswissenschaftler kamen ebenso hinzu wie jüngere, etwa aus den Schulen von Ritter, Schramm und Zechlin. Hier bildete sich ein Netzwerk zwischen den Generationen von Militärhistorikern. Neben historischen Fragen der jüngsten Vergangenheit kamen auch ältere Geschichtsperioden etwa in der WWR nicht zu kurz, aber gerade die Orientierung über Fragen der neuen Bundeswehr und kommunistischer Geschichtsschreibung und Politik traten langsam stärker in den Vordergrund. Hillgruber, Jacobsen und einige andere Ehemalige der Schramm-Schule publizierten ihre ersten Bücher jedoch nicht in der Reihe des AfW, sondern in der des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz. Wohl erleichtert durch persönliche Kontakte Schramms (aber auch Hermann Heimpels) zu dem Direktor des Instituts, Martin Göhring, hatten die beiden Genannten die Muße, hier als Stipendiaten (Hillgruber 1952/53) oder wissenschaftliche Mitarbeiter (Jacobsen 1956) an ihrer Dissertation zu arbeiten beziehungsweise diese zum Druck fertig zu machen. Gerade Mainz entwickelte sich in dieser Zeit auch zu einem internationalen Netzwerk jüngerer Historiker und anderer Fächer – hier zunächst aus Westeuropa und auch schon aus den USA.23
II Ausweitung der Themen, Erweiterung der Methoden Die Internationalisierung der Kontakte bildete also eine der wichtigen Erfahrungen dieser Historiker, die sich etwa in der Bildung von vielfältigen Verbindungen mit Ausländern niederschlug. In den Papieren Jacobsens lassen sich enge Beziehungen zu Charles Burdick in Stanford feststellen oder zu Harold Gordon, Jan Vanwelckenhuysen in Belgien, aber auch mit zahlreichen Franzosen um Henri Michel und das Comité d’Histoire de la Deuxième Guerre Mondiale, das direkt dem französischen Ministerpräsidenten unterstand und seit 1950 eine wichtige Zeitschrift herausgab.
22 Die Drucklegung der Dissertation des Vf. wurde 1972 gleichfalls vom AfW unterstützt, im Vorfeld dessen trat er daraufhin ohne weitere Verpflichtungen dem AfW bei. 23 Claus Scharf, Das Institut für Europäische Geschichte. Abteilung Universalgeschichte, in: Institut für Europäische Geschichte 1950–2000. Eine Dokumentation, Mainz 2000, 23–34; Korrespondenzen des Instituts für Europäische Geschichte, 1953–1960, mehrere Bände im Institut für Europäische Geschichte Mainz eingesehen.
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Jacobsen begleitete etwa auf einer Deutschlandreise den bekannten britischen Militärschriftsteller Basil Henry Liddell Hart, der bereits 1948 ein einflussreiches Buch über die deutschen Generale veröffentlicht hatte.24 Was jedoch noch wichtiger war: Sie teilten weitgehend die Perspektiven der deutschen Forscher, hatten Verständnis für die militärische Professionalität der Wehrmachtgenerale und -admirale. So bestärkte man sich auch international in der Perspektive und näherte sich einer gemeinsamen Kriegsstrategiegeschichte beider Seiten der Fronten an. In diesem internationalen Netz kommunizierte man gleichfalls über neue und entstehende Arbeiten, tauschte Exemplare und gab sich gegenseitig Hinweise auf neue Akten. So erstaunt es auch nicht, dass die Weltkriegshistoriker postdoktoral eine Flut an Quelleneditionen vorlegten. Einige können hier nur pauschal genannt werden. Jacobsen gab schon 1956 Dokumente zur Vorgeschichte des „Westfeldzugs“ heraus, 1960 unterstützte ihn Klaus-Jürgen Müller bei Dokumenten eben zu diesem „Westfeldzug“. Das Kriegstagebuch Halders war ursprünglich eines der großen Editionsprojekte des AfW. Jacobsen setzte jedoch durch, dass er dies eigenständig verantworten konnte: Natürlich mit Unterstützung auch des vormaligen Generalobersten erschienen 1962/63 drei umfängliche Bände, bei denen der Schriftleiter der WWR half. Das größte Unternehmen war die Edition des Kriegstagebuchs OKW, die Schramm selbst in die Hand nahm. Die von ihm im Krieg bearbeiteten Jahre edierte er, die mehr oder weniger umfangreichen vorangegangenen Fragmente von 1939 an übernahmen Hillgruber, Jacobsen und der ältere Göttinger Historiker Walther Hubatsch. Fünf umfangreiche Bände erschienen von 1961 bis 1967. Der Plan, aus dem Archiv des Auswärtigen Amtes die Aufzeichnungen von Diplomatenbesuchen bei Hitler herauszugeben, wurde von Hillgruber und Jacobsen gemeinsam Anfang der Sechzigerjahre entwickelt. Die beiden Bände „Staatsmänner und Diplomaten bei Hitler“ verantwortete dann schließlich allein Hillgruber (1967/70). Nach der problematischen ersten Edition der Tischgespräche Hitlers von Gerhard Ritter 1951 gab Schramm diese schließlich unter Mitwirkung Hillgrubers und seines letzten Assistenten Martin Vogt 1963 neu heraus.25 Der Blick weitete sich auch auf die sowjetische Geschichtsschreibung. Hier machten sich Hillgruber und Jacobsen für den AfW daran, eine der maßgeblichen Geschichten des Zweiten Weltkriegs von Boris S. Telpuchowski zu edieren und zu kommentieren. Der Band erschien 1961 und Jacobsen erwog zu dieser Zeit, sich über kommunistische Geschichtsschreibung im Allgemeinen zu habilitieren. Ein weiteres Resultat der intensiven Quellensichtung war eine Chronik des weltweiten Zweiten Weltkriegs, die ab 1959 in der WWR von Andreas Hillgruber zwanzig
24 Basil H. Liddell Hart, The Other Side of the Hill; Germany’s Generals, Their Rise and Fall, with Their Own Account of Military Events, 1939–1945, London 1948. 25 Conrad, Auf der Suche, 247–250.
II Ausweitung der Themen, Erweiterung der Methoden
Jahre nach den Ereignissen monatlich erarbeitet wurde. Bei den Einträgen für die letzten Kriegsjahre war auch Gerhard Hümmelchen, der Geschäftsführer des AfW, beteiligt. Eine erweiterte Buchpublikation lag 1966 vor. Schon Schramm hatte 1960 im Rahmen des Nachschlagewerks „Ploetz“ den Zweiten Weltkrieg bearbeitet, bediente sich dabei schon der Unterstützung von Hillgruber, der diesen Part später ganz übernahm.26 Die einzelnen Stationen der Karrieren, des wissenschaftlichen und öffentlichen Lebens dieser Weltkriegshistoriker kann hier nicht verfolgt werden. Nur Jäckel konnte unmittelbar eine Universitätslaufbahn einschlagen: Er habilitierte sich bereits 1961 in Kiel und wurde 1967 Professor in Stuttgart. Hillgruber gelang eine steile Karriere als Lehrer (Direktor eines Gymnasiums in Marburg), er habilitierte sich 1965 in Marburg und wurde 1968 Professor an der Universität Freiburg (1968/ 69 auch Leitender Historiker am MGFA). Jacobsen, der nach eigener Auskunft nach der Dissertation die Militärgeschichte als Sackgasse ansah, war von 1956–1961 erster Dozent an der Bundeswehrschule für Innere Führung, dann bis 1964 Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Seine Habilitation erfolgte 1966 bei Karl-Dietrich Bracher in Bonn, Professor für Politikwissenschaft wurde er dort 1969. Müller wie Deist gingen zunächst an die Schule, wo sie sich jedoch nicht wohlfühlten. Ersterer trat 1959 ins MGFA ein, war anschließend an der Stabsakademie der Bundeswehr in Hamburg tätig und lehrte kurzzeitig an der PH Ludwigsburg. An der neu gegründeten Universität der Bundeswehr in Hamburg übernahm er 1973 die Professur für Neuere Geschichte. Deist schließlich wurde 1961 wissenschaftlicher Mitarbeiter im MGFA, blieb dort ebenso seine ganze Berufszeit. Er – wie auch Messerschmidt vor ihm – stieg dort später zum Leitenden Historiker auf. In der wissenschaftlichen Entwicklung legten die hier behandelten Wissenschaftler zumeist wenig Wert auf methodische oder theoretische Überlegungen, sie strebten vielmehr nach einem hohen Erklärungswert für politisch bedeutsame und umstrittene Vorgänge. Zugleich suchten sie mit ihren Veröffentlichungen eine breitere Öffentlichkeit im Sinne der politischen Bildung. So war der Widerstand im Gefolge der bekannten Arbeiten von Rothfels und Ritter ein Thema, dem sich mehrere von ihnen widmeten. Für Müller wurde der militärische Widerstand zum beherrschenden Thema. 1964 gab er eine populäre Aufsatzsammlung „Schicksalsjahre deutscher Geschichte. 1914/1939/1945“ heraus,27 in der zu 1914 etwa Hubatsch trotz der intensiv laufenden Fischer-Kontroverse die traditionellen Thesen vertrat. Müller selbst wandte sich
26 Auf diesem Gerüst aufbauend, aber angereichert durch sektorale Essays sehr viel später: Andreas Hillgruber, Jost Dülffer (Hg.), Ploetz-Geschichte der Weltkriege. Freiburg u. a. 1981. 27 Klaus-Jürgen Müller, Schicksalsjahre deutscher Geschichte. 1914/1929/1945, Boppard 1964.
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den Gewissenskonflikten von Offizieren des 20. Juli 1944 zu. Fünf Jahre später hatte er sein Hauptthema gefunden: Mit der im dienstlichen Auftrag erstellten Arbeit „Das Heer und Hitler 1933–1940“ erfasste er die Rüstungspolitik jener Jahre und das gleichsam militärfachliche Denken der Generale.28 Insbesondere für Ludwig Beck stellte er die Bedeutung eines moralisch-ethischen Widerstandes schon für 1938 infrage und arbeitete Gründe heraus, die sich gegen die politisch-strategischen Risiken einer aggressiven Großmachtpolitik richteten. An der NS-Herrschaft als solcher übte der General demnach zunächst noch keine Kritik. Das war aufklärend und blieb auch international kontrovers, so dass der Autor seither bis in die Gegenwart [2010] dieses Thema in immer wieder neuen Anläufen vertiefte. Anders Messerschmidt. Der ins MGFA als Jurist gelangte Historiker bearbeitete dort eine Reihe von Gutachten, auch für die Gegenwart der Bundeswehr wie etwa die Militärseelsorge oder das Bild des Offiziers in den letzten Jahrhunderten. Ohne dienstlichen Auftrag, in seiner Freizeit, aber schließlich mit einem Vorwort des Generals a. D. Johann von Kielmansegg versehen, stellte seine „Wehrmacht im NS-Staat“ 1969 eine bahnbrechende Darlegung der größtenteils freiwilligen Indoktrinierung mit nationalsozialistischem Denken bei allen Wehrmachtteilen und über die gesamte NS-Zeit heraus.29 Das hatte nichts mehr mit Strategien oder Operationen zu tun. Wer Messerschmidts Buch gelesen hatte, konnte sich über die erstaunte Öffentlichkeit angesichts der Ausstellungen „Verbrechen der Wehrmacht“ ab 1995 nur wundern. Für Rohwer, der seine dienstliche Arbeitskraft dem AfW widmete, für diesen auch die gegenwartspolitisch relevanten Jahrestagungen organisierte und darüber hinaus die Marine-Rundschau redigierte, stand die operative und strategische Seekriegsgeschichte ganz im Vordergrund der Publikationen. Mit seinen transatlantischen Kontakten zur US Navy, unter anderem zur Rekonstruktion der Atlantikschlacht und des U-Bootkriegs und – später – auch zur sowjetischen Marine, wurde er zum „Papst“ der bundesdeutschen Marinegeschichte, [später auch der Geheimdienstgeschichte]. Aus diesem Interesse erwuchs aber auch die minutiöse Rekonstruktion der Versenkung zweier von der Jewish Agency gecharterter Flüchtlingstransporter auf dem Weg von der neutralen Türkei nach Palästina.30 Im gleichen Sinne edierte er mit Jacobsen die bis dahin wichtigste Publikation des AfW über weltweite Entscheidungsschlachten des Zweiten Weltkriegs.31
28 Ders., Das Heer und Hitler. Armee und nationalsozialistisches Regime 1933–1940, Stuttgart 1969, 2. Aufl. Stuttgart 1989. 29 Manfred Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der Indoktrination, Hamburg 1969. 30 Jürgen Rohwer, Die Versenkung der jüdischen Flüchtlingstransporter Struma und Mefkure im Schwarzen Meer (Februar 1942, August 1944), Frankfurt am Main 1965. 31 Ders./Hans-Adolf Jacobsen (Hg.), Entscheidungsschlachten des Zweiten Weltkriegs. Frankfurt am Main 1960.
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Jacobsen schickte sich um 1960 an, eine umfassende Geschichte des Zweiten Weltkriegs zu schreiben. Bereits 1959 publizierte er eine fast 800 Seiten starke Chronik und Dokumentensammlung.32 „Wider die Tradition“ hieß ein Kapitel, das verbrecherische Befehle und Handlungen dokumentierte. In zahlreichen Vorträgen stellte er sein Konzept vor, veröffentlichte dazu auch ein Buch und schließlich eine umfangreiche Quellenauswahl.33 Hier ging es, die Vorgeschichte eingeschlossen, zunächst um Strategien und die qualitativ verschiedenen Konzeptionen der Großmächte – und zwar aller; dem Autor kam es darauf an herauszuarbeiten, dass dieser Krieg vom Deutschen Reich von Anfang an nicht zu gewinnen war, dass „Verlorene Siege“ keine sinnvolle Perspektive darstellten. Jacobsen hatte nun auch den rassenideologischen Charakter der NS-Herrschaft im Blick. In einer anderen Dokumentation zur politischen Bildung über die NS-Zeit, die er 1966 mit Werner Jochmann veröffentlichte, hieß ein Kapitel „Hitlers Kampf um die rassische Neugestaltung Europas (1941–1943)“.34 Bereits zuvor hatte er, der – wie aus seinen Papieren hervorgeht – engen Kontakt zum Institut für Zeitgeschichte hielt, im Auschwitz-Prozess ein Gutachten zum Kommissarbefehl an die Wehrmacht vom Frühjahr 1941 abgegeben, das die verbrecherischen Planungen für den Krieg unterstrich. Seine Habilitationsschrift in Bonn erschien 1968 als „Nationalsozialistische Außenpolitik 1933–1938“.35 Das bedeutete einen Themenwechsel zu einem Strukturaufriss der einzelnen traditionellen und spezifisch nationalsozialistischen Ämter auf diesem Sektor und stellte somit eine Einbettung der Rolle des Diktators in das Gesamtsystem dar. Im Übrigen entwickelte Jacobsen aus seiner neuen Tätigkeit in den 1960er Jahren und vor allem aufgrund seiner Professur für Politische Wissenschaft in Bonn eine rege Reisetätigkeit und ganz neue Forschungsfelder. Die Reisen führten ihn zunächst nach ganz Westeuropa und vor allem in die USA, dann aber auch 1965 (mit Helmut Krausnick) erstmals nach Moskau, wo sich für ihn nach heftigen Streitgesprächen seit den 1970er Jahren vermittelnde Kontakte und das Bestreben nach Aussöhnung auch in Richtung auf das sozialistische Lager ergaben. Neben der jüngeren Geschichte nach 1945 und den internationalen Beziehungen des 20. Jahrhunderts insgesamt blieb die NS-Zeit, jetzt aber mit allen verbrecherischen Dimensionen, ein Forschungsfeld des Bonner Professors.
32 Hans-Adolf Jacobsen, 1939–1945. Der zweite Weltkrieg in Chronik und Dokumenten. Percy Ernst Schramm zum 65. Geburtstag. Darmstadt 1959, hier 5., vollst. überarb. u. wesentl. erw. Aufl., Darmstadt 1961. 33 Ders., Zur Konzeption einer Geschichte des Zweiten Weltkriegs 1939–1945, in: Wehrwissenschaftliche Rundschau 12, 1962, 487–500, hier 492; ders., Zur Konzeption einer Geschichte des zweiten Weltkriegs, Frankfurt am Main 1964; ders., Der Weg zur Teilung der Welt, Koblenz 1977. 34 Ders., Werner Jochmann, Ausgewählte Dokumente zur Geschichte des Nationalsozialismus 1933–1945. Kommentar, Bielefeld 1966, 122–127. 35 Hans-Adolf Jacobsen, Nationalsozialistische Außenpolitik. 1933–1938, Frankfurt am Main 1968.
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Der Protagonist einer gegenteiligen Sicht zur Quelleneditierung wurde Eberhard Jäckel, indem er die Rolle Hitlers analytisch thematisierte. In einer auch heute noch lesenswerten, überaus kritischen Rezension der zahlreichen hier genannten Dokumentationen sah er 1964 das „traumatische Spannungsverhältnis von Anklage und Verteidigung“ endlich aufgelöst36 und folgerte: So steht nun endlich die Gestalt Hitlers in dem ihr zukommenden Mittelpunkt der Beachtung [...]. Jene Epoche der deutschen Geschichte [müsse] nicht eigentlich Nationalsozialismus, sondern genauer Hitlerismus genannt werden
– und zwar als Ausgangspunkt, um ihn dann in die deutsche Geschichte einzuordnen „und seine Verbindung mit den sozialökonomischen Voraussetzungen“ zu beschreiben. Dass eine solche Hitler-Zentrik zugleich den Rest der deutschen Gesellschaft von Verantwortung entlastete, stellte den Ausgangspunkt für die gegenteilige Ansicht anderer Historiker dar, die sich um das Institut für Zeitgeschichte konzentrierten und die mit Martin Broszat und Hans Mommsen bedeutende Vertreter aufwiesen.37 Hier taten sich unterschiedliche Sichtweisen von Persönlichkeit und Struktur auf, die jedoch erst seit den Siebzigerjahren zu nachhaltigen Kontroversen führten.38 Zuvor war die Kommunikation dieser beiden Richtungen wohl eher schwach ausgeprägt – man behandelte je nach Ansatz zumeist auch andere Themen. Dennoch verfolgten auch die Protagonisten der Hitler-Zentrik, vor allem Jäckel selbst, ihren Ansatz in der Praxis nicht so einseitig, wie man ihnen unterstellte. Mit „Hitlers Weltanschauung“ entwickelte Jäckel 1969 das Panorama von dessen „Programm“ als zentraler handlungsleitender Kategorie. Aber bereits in seiner Habilitationsarbeit gab es einen reflektierten Aufriss über die vielfältigen deutschen und französischen Interaktionen der Besatzungspolitik, welche auch Strukturen erkennen ließen. Er sei „der Ansicht, dass die Historie leicht in die Irre geht, wenn sie den handelnden Personen mehr Aufmerksamkeit schenkt als den hinter ihnen stehenden Strukturen“39 , hieß es im Vorwort.
36 Eberhard Jäckel, Dokumentationen zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs, in: Neue Politische Literatur 9, 1964, 555–597, hier 556 f. 37 Vgl. Berg, Holocaust; Conrad, Auf der Suche, bes. 255–267. 38 Michael Bosch (Hg.), Persönlichkeit und Struktur in der Geschichte. Historische Bestandsaufnahme und didaktische Implikationen, Düsseldorf 1977 (die zugrunde liegende Loccumer Tagung bezeichnete Hans Mommsen als wichtigen Referenzpunkt); Gerhard Hirschfeld, Lothar Kettenacker (Hg.), Der „Führerstaat“. Mythos und Realität. Studien zur Struktur und Politik des Dritten Reiches, Stuttgart 1981. 39 Eberhard Jäckel, Frankreich in Hitlers Europa. Die deutsche Frankreichpolitik im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 1966, 11 (Die Rezension von Hans Mommsen, in: HZ 207, 1968, 408–412 betonte
II Ausweitung der Themen, Erweiterung der Methoden
Nur scheinbar der Hitler-Zentrik zuzuordnen war Hillgrubers Opus magnum von 1965, „Hitlers Strategie“.40 Dieser Verlegertitel seiner Habilitationsschrift ließ zwar gleichfalls keinen Zweifel, dass der „Führer“ die zentrale Rolle im NS-System spielte. Auch hier war bereits von dessen radikalem rassenpolitischen Programm die Rede. Aber wichtiger war, dass er – mit deutlich anderen Nuancen – Jacobsens Konzeption einer Gesamtdarstellung des Zweiten Weltkriegs für knapp zwei Jahre mit Quellenkenntnis und einem Schwerpunkt auf konzeptuelle Interaktionen in über 700 Seiten umsetzte. Das war eine innovative Internationale Geschichte von Großmächten und kleineren Staaten unter besonderer Berücksichtigung der u. a. durch Kriegsentwicklungen schnell wechselnden Konstellationen, welche die „Feldzugsgeschichte“, die Hillgruber nie als Selbstzweck betrieb, deutlich hinter sich ließ. Das dürfte einer der Gründe dafür gewesen sein, dass er 1968 zum Leitenden Historiker des MGFA in Freiburg avancierte. Bereits 1960 war er der Ansicht, mit der „Zeitgeschichte, zumal wenn man sie im umfassenden Sinne, nicht nur als politische Geschichte, sondern als Gesamtschau unter Berücksichtigung soziologischer, wirtschaftlicher, geistesgeschichtlicher und – zumindest für die Weltkriege selbst – der militärischstrategischen Faktoren auffaßt, ist ein einzelner Historiker überfordert [...].“41 Daher forderte er ein interdisziplinäres Team.42 Was bei Hillgruber in den Sechzigerjahren immer stärker in den Vordergrund trat, war der genozidale Charakter der NS-Politik insgesamt. Hillgruber wie auch Jäckel und viele andere Personen der scientific community stellten Hitlers entscheidende Rolle hierfür in den Vordergrund, suchten nach der Entscheidungsbildung für den Mord an den europäischen Juden, fahndeten nach einem gegebenenfalls nur mündlich gegebenen Befehl zur „Endlösung“. Man konnte den militärischen Krieg nicht von dem ideologischen trennen. Ein Vortrag im vollbesetzten Audimax an der Universität Freiburg von 1971 machte dies grundsätzlich klar:43 Die „Endlösung“ und das Ostimperium waren gleichermaßen die Kernstücke des rassenideologischen Programms – nicht allein Hitlers. Je länger, desto intensiver bezog auch Hillgruber Teile der deutschen
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die „typische Unentschlossenheit in der deutschen Führung“, ging in ihrer Kritik aber nicht ins Grundsätzliche.). Andreas Hillgruber, Hitlers Strategie. Politik und Kriegführung 1940–1941, Frankfurt am Main 1965. In einer Replik auf Karl Dietrich Erdmanns Antwort auf eine kritische Rezension zu dessen „Die Zeit der Weltkriege“ (Gebhardt, Bd. 4). Stuttgart 1959, in: Wehrwissenschaftliche Rundschau 10, 1960, 53–55, Antworten 284–287, hier 286. Der Nachlass Hillgrubers befindet sich seit 2019 noch unerschlossen im Bundesarchiv Koblenz, vgl. zum Leitenden Historiker im MGFA: Reiner Pommerin, Der erste Leitende Historiker des MGFA. Zur Erinnerung an Andreas Hillgruber, in: MGM 64, 2005, H. 1, 210–216. Andreas Hillgruber, Die „Endlösung“ und das deutsche Ostimperium als Kernstück des rassenideologischen Programms des Nationalsozialismus, in: VfZ 20, 1972, 133–153.
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Führungsschichten und der Gesellschaft insgesamt in diesen Befund ein. Der sozialdemokratische Jäckel und der eher konservative Hillgruber ergänzten sich auch im öffentlichen Wirken für diese Erkenntnis zunehmend, aber auch der liberale Jacobsen verbreitete derartige Einsichten in breiter Öffentlichkeit.
III Politikgeschichte und Sozialgeschichte: Möglichkeiten der Kooperation? Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs bildete den Ausgangspunkt dieses Beitrags. Einige Autoren widmeten sich früh auch der Vorgeschichte des Krieges, dann auch der Zeitgeschichte nach 1945. Hillgruber weitete diesen Horizont am stärksten. Die Kontroverse um die deutschen Kriegsziele und die Kriegsschuld am Ersten Weltkrieg wurde seit 1960 die entscheidende Zäsur.44 Hillgruber weitete seine bisherigen Forschungen zum Zweiten Weltkrieg zu einem differenzierten Vergleich der deutschen Rolle in der Vorgeschichte der beiden Weltkriege aus,45 indem er Fischer zum Teil folgte und sich damit von Teilen seines bisherigen Umfelds distanzierte. Generell weitete dieser Historiker sein Forschungsfeld über die NS-Zeit zeitlich nach hinten wie vorn aus. Bismarck und seine Zeit waren das einerseits, die Geschichte der Bundesrepublik andererseits. Unter den hier behandelten Forschern hatte nur Wilhelm Deist seine Forschungsschwerpunkte vor der jüngeren Zeitgeschichte gewählt: eine grundlegende Quellensammlung zur politischen, sozialen und kulturellen Geschichte des Ersten Weltkriegs in Deutschland war der eine Schwerpunkt, die Geschichte der Flottenpropaganda der wilhelminischen Ära und dann ein innovativer Kongress zur gesamten Tirpitzschen Flottenpolitik bilden seine wichtigsten Verdienste dieser Zeit.46 1970 gab Michael Stürmer einen Sammelband „Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870–1918“ heraus.47 Dieser war ein programmatischer Aufbruch einer ganzen Generation von damals jüngeren Historikern (von Fritz Stern, 1924–2016, bis zu Klaus Hildebrand,1941–) gegenüber den etablierten Sichtweisen auf diese Epoche. Unter den sechzehn Autoren waren vertreten etwa Jürgen 44 Zusammenfassend die beiden Beiträge von Konrad Jarausch und Imanuel Geiss in: Martin Sabrow, Ralph Jessen, Klaus Große Kracht (Hg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, München 2003, 20–57. 45 Andreas Hillgruber, Deutschlands Rolle in der Vorgeschichte der beiden Weltkriege, Göttingen 1967. 46 Wilhelm Deist (Hg.), Militär und Innenpolitik im Ersten Weltkrieg, 2 Bde. Düsseldorf 1970; Herbert Schottelius, Wilhelm Deist (Hg.), Marine und Marinepolitik im kaiserlichen Deutschland 1871–1914, Düsseldorf 1972; ders., Flottenpolitik und Flottenpropaganda: Das Nachrichtenbureau des Reichsmarineamtes 1897–1914, Düsseldorf 1976. 47 Michael Stürmer, Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870–1918, Düsseldorf 1970.
III Politikgeschichte und Sozialgeschichte: Möglichkeiten der Kooperation?
Kocka und Hans-Ulrich Wehler, Volker Berghahn und Hartmut Böhme. Von den hier benannten Historikern waren es Deist, Hillgruber und Messerschmidt. Es schien sich eine pluralistische, aber doch konsensuale Reformbewegung zu formieren. In eine ähnliche Richtung wiesen die von der Organisationskraft Wehlers getragenen unterschiedlichen Reihen „Deutsche Historiker“, bei den ein damals jüngerer Historiker einen ihm affinen bedeutenden verstorbenen Protagonisten bearbeitete oder die von ihm für die Geschichtswissenschaft herausgegebene, für die BRD innovative Readerreihe in der Neuen Wissenschaftlichen Bibliothek.48 Vermutlich auch in diesem Sinne wurde Hillgruber eingeladen, auf dem Regensburger Historikertag 1972 einen der wenigen öffentlichen Vorträge über seine Konzeption einer modernen politischen Geschichte zu halten. Die erwartete große Diskussion blieb aus, nur Jürgen Kocka meldete sich differenziert zu Wort. Als Hillgruber seine Ansichten dann in der Historischen Zeitschrift publizierte, kam nach einiger Zeit die polarisierende Antwort von Hans-Ulrich Wehler: das sei doch gar keine moderne Politikgeschichte, sondern nur ein Aufguss der „großen Politik der Kabinette“. Wie immer berechtigt die Kritik auch sein mochte, sie bedeutete einen Einschnitt. In dem folgenden Aufbruch zu einer Gesellschaftsgeschichte wurde zunächst nicht mehr Kooperation, sondern eher Konfrontation, Polemik und Ausgrenzung praktiziert, zunehmend von beiden Seiten.49 Fortschritt wurde mit Sozial- oder Gesellschaftsgeschichte identifiziert, politische Geschichte galt als rückständig. Wie gezeigt entwickelten sich einige Züge der letzteren Richtung aus einer recht interessengebundenen und traditionellen Militärgeschichte der 1950er Jahre. Sie erweiterte Blickwinkel, Horizont und methodischen Ansatz im folgenden Jahrzehnt und formulierte dadurch Kernfragen der historischpolitischen Orientierung für die damalige Bundesrepublik.50
48 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Historiker, Göttingen 1971–1972, zunächst 5 Bde; in der „Neue Wissenschaftliche Bibliothek“, Köln 1966–1976, wurden von Wehler für das Fach Geschichte insgesamt 39 Bände herausgegeben. 49 Andreas Hillgruber, Politische Geschichte in moderner Sicht, in: HZ 216, 1973, 529–552; HansUlrich Wehler, Moderne Politikgeschichte oder „Große Politik der Kabinette“? in: GG 1, 1975, 344–369 (mit Danksagung an sieben Kollegen für kritische Ratschläge); ausführlicher als hier: Jost Dülffer, Andreas Hillgruber – Deutsche Großmacht, NS-Verbrechen und Staatensystem, in: Hans Ehlert (Hg.), Deutsche Militärhistoriker von Hans Delbrück bis Andreas Hillgruber, Potsdam 2010, 69–84 (auch in diesem Band). 50 [Zu einzelnen Themenkomplexen vertiefend: Frank Reichherzer, „Alles ist Front“. Wehrwissenschaften und die Bellifizierung der Gesellschaft vom Ersten Weltkrieg bis in den Kalten Krieg, Paderborn 2011. Paul Fröhlich, Der Generaloberst und die Historiker. Franz Halders Kriegstagebuch zwischen Apologie und Wissenschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 68, 2020, 25–61.]
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Andreas Hillgruber – Politische Geschichte, deutsche Frage und NS-Verbrechen
Andreas Hillgruber (1925–1989) war ein Historiker mit welthistorischem Blick, aber er dachte doch immer von der deutschen Nationalgeschichte her und blieb hierin vor allem seiner ostpreußischen Herkunft verpflichtet.1 Sein zentrales wissenschaftliches wie öffentliches Interesse wurden die Verbrechen der NS-Zeit, aber auch die Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Nationalgeschichte und dies in einem globalen Rahmen. Hillgruber wurde in Angerburg, Ostpreußen geboren. Sein Vater war dort Prorektor gewesen, wurde 1937 vorzeitig pensioniert, weil er sich – so Hillgruber – nicht mit den braunen Machthabern einlassen wollte. Er machte 1943 am HufenGymnasium in Königsberg Abitur und diente die letzten Kriegsjahre als Soldat. Mit Kriegsende geriet er in Kriegsgefangenschaft und zwar zunächst in einem der berüchtigten Rheinwiesenlager der USA bei Remagen und Sinzig, wurde dann bis 1948 in französische Kriegsgefangenschaft überstellt, Erfahrungen von denen er immer wieder erzählte. Anschließend studierte er in Göttingen Geschichte, Germanistik und Pädagogik, wurde 1953 bei Percy Ernst Schramm mit einer Arbeit über die deutschrumänischen Beziehungen im Zweiten Weltkrieg promoviert. Er arbeitete danach als Gymnasiallehrer, zunächst in Darmstadt, dann in Marburg, wo er 1962 im damals „roten Hessen“ mit 37 Jahren zum Oberstudiendirektor und Schulleiter des Elisabeth-Gymnasiums aufstieg. Doch die Geschichte als Wissenschaft war ihm wichtiger. Während der Schulzeit arbeitete er historisch weiter, von einigen Stipendien unterstützt. Er eignete sich in dieser Zeit ein geradezu enzyklopädisches Wissen über den Zweiten Weltkrieg – und weit darüber hinaus – an und publizierte viel.2
1 Dieser Beitrag übernimmt Teile meines Beitrages: Andreas Hillgruber – Deutsche Großmacht, NSVerbrechen und Staatensystem, in: Hans Ehlert (Hg.), Deutsche Militärhistoriker von Hans Delbrück bis Andreas Hillgruber. Potsdam 2010, 69–84 und wird ergänzt durch einen Vortrag im GerhartHauptmann-Haus Düsseldorf 2014; zu einem Aspekt habe ich mich geäußert in: Genozid und Deutsches Reich. Was bleibt von Hillgrubers Rolle im Historikerstreit?, in: 50 Klassiker der Zeitgeschichte, hg. von Jürgen Danyel u. a., Göttingen 2007, 187–201. – Dieser Beitrag beruht auch auf mündlicher Überlieferung, bedingt dadurch, dass ich von 1968–1979 Mitarbeiter und bis zu seinem Tod wie er am Historischen Seminar der Universität Köln tätig war. 2 Klaus-Peter Friedrich, Der junge Andreas Hillgruber und die Last der (aller)jüngsten deutschen Vergangenheit, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 67, 2019, 697–719.
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Seine Habilitationsschrift in Marburg wurde vom Osteuropahistoriker Peter Scheibert betreut, aber Hillgruber hielt auch Lehrveranstaltungen mit einem der damals wenigen Marxisten an bundesdeutschen Universitäten, Wolfgang Abendroth, ab, von dem er wissenschaftlich viel lernte. Auf den ersehnten „Ruf “ an eine Universität musste Hillgruber drei Jahre warten. Das Militärgeschichtliche Forschungsamt der Bundeswehr in Freiburg wollte eine den wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Geschichte des Zweiten Weltkriegs schreiben lassen und verpflichtete Hillgruber 1968 als Leitenden Historiker und Professor. Abgesichert wurde dies durch eine neu geschaffene, zunächst von der Bundeswehr bezahlte Universitätsprofessur an der Albert-Ludwigs-Universität. Nach 10 Monaten jedoch kündigte er, da er sich mit seiner Konzeption personell und sachlich nicht durchsetzen konnte.3 Es blieb ihm der „normale“ Lehrstuhl an der Universität, den er bis 1972 bekleidete. Schon in dieser Zeit übernahm es Hillgruber, in der Attaché-Ausbildung des Auswärtigen Amtes, eine der anspruchsvollsten Lehrgänge im öffentlichen Dienst, regelmäßig mehrwöchige Seminare über deutsche Außenpolitik im 19. und 20. Jahrhundert zu halten, eine Tätigkeit, die er bis in seine letzten Lebensjahre mit Freude ausfüllte. Generationen von bundesdeutschen Diplomaten sind so durch diese Hillgruber-Schule gegangen. Einen Ruf an die Universität zu Köln erhielt er 1971 und trat die dortige Professur im folgenden Jahr an, die er bis zu seinem Tod bekleidete. Wichtig dafür war wohl Theodor Schieder, ein in Ostpreußen, ja in Königsberg verwurzelter Historiker wie er, und der damals wohl mächtigste Mann der Historikerzunft und darüber hinaus.4 Schieder konnte ihm nun weitgehend die Lehre zum 20. Jahrhundert und zumal zur NS-Zeit und zur jüngsten Zeitgeschichte überlassen. Bis der Historiker aber so richtig zu lehren anfangen konnte, brauchte es ein halbes Jahr. Wie zuvor schon in Freiburg gab es heftige Studentenproteste gegen diesen angeblich so reaktionären Militärhistoriker. In seinen 17 Kölner Jahren war Hillgruber international viel unterwegs, nicht nur in Westeuropa, sondern auch in den ersten nur offiziös möglichen Historikerkontakten mit der Sowjetunion und mit der DDR. Insgesamt wurde er nicht müde, die Herausforderung einer seriösen marxistischen Geschichtswissenschaft zu betonen und warnte davor, dass westliche Projekte etwa zum Zweiten Weltkrieg dadurch ins Hintertreffen geraten könnten. Auch in der Bundesrepublik hielt er auf wissenschaftlichen Tagungen und bei öffentlichen Auftritten viele Leitvorträge. Sein Bekanntheitsgrad und seine Urteilskraft führten zu öffentlichen Diskussionsrunden oder Interviews etwa mit Franz-Josef Strauß5 oder Helmut Kohl. Damals populäre
3 Dazu Reiner Pommerin, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 64, 2005, 210–216. 4 Christoph Nonn, Theodor Schieder. Ein bürgerlicher Historiker im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2013. 5 Die Welt, 4.9.1985.
I Politische Geschichte und internationale Beziehungen
Fernsehdiskussionen von Historikern sahen ihn auch diesem Medium gewachsen, zumal zu den gefälschten Hitler-Tagebüchern, die Der Stern mit erheblichem Aufwand propagiert und lanciert hatte.
I Politische Geschichte und internationale Beziehungen Hillgruber kam aus der Militärgeschichte, sah dies aber wohl nur zu Anfang als sein eigentliches Thema an. Über die Erfahrungen in amerikanischer Kriegsgefangenschaft im Rheinwiesenlager verfasste er 1961 einen nüchternen Zeitzeugenbericht, der als Musterbeispiel über dieses Genre hinweg gelten kann. Er wurde dadurch kein vom Militär begeisterter Mensch, wohl aber gehörte er in Göttingen im Umfeld seines akademischen Lehrers Percy Ernst Schramm zur ersten Generation damals junger Historiker, die den Zweiten Weltkrieg mit wissenschaftlichem Anspruch und im internationalen Austausch erforschten.6 In seiner Dissertation zu den deutsch-rumänischen Beziehungen im Zweiten Weltkrieg räumte er mit dem bislang erhobenen Vorwurf vom Vasallen auf und arbeitete unterschiedliche Phasen der Abhängigkeit und Selbständigkeit des Staates heraus. Aus dieser Arbeit erwuchs auch eine Kontroverse mit Gerhard Weinberg in den neuen Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte 1954.7 Hatte ersterer einen „Entschluss“ Hitlers zum Angriff auf die Sowjetunion recht genau auf den 31. Juli 1940 datiert, so betonte Hillgruber (zusammen mit Hans-Günther Seraphim), dass es keinen einmaligen militärischen Entschluss des deutschen Diktators gegeben habe. Vielmehr hätten in diesen Tagen und danach in der deutschen Führung politische Optionen für Koalitionen und Vorgehensweisen gegenüber Moskau, London u. a. vorgelegen, die mit unterschiedlichen Prioritäten in den nächsten Monaten verfolgt worden seien. Das bildete nur in nuce eine Militärgeschichte, welche sich der politischen und auch militärischen Optionen in einer gegebenen Zeit widmete und damit die angebliche Autonomie militärischer Zwänge und Entscheidungen zurücknahm: Welche Rolle spielte der militärische Faktor in der Politik? Es folgten Editionen und Dokumentationen zum Weltkrieg, aber die Leitung der Edition der Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik (ADAP) in Bonn, wo er für die Serie E, 1941–1945 verantwortlich war, deutete in die Richtung der internationalen Geschichte.
6 Siehe dazu ausführlicher in diesem Band meinen Beitrag „Politische Geschichtsschreibung der 1945er Generation“; in meinem Aufsatz von 2010 (Anm. 1) wird der Militärhistoriker genauer vorgestellt, als es hier geschieht. 7 Auf einen Nachweis aller Einzeltitel wird verzichtet; eine Bibliographie in: Jost Dülffer, Bernd Martin, Günter Wollstein (Hg.), Deutschland in Europa. Gedenkschrift für Andreas Hillgruber, Berlin 1990, 389–415.
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Die genannten Werke deuten an, dass sich Hillgruber stark auf die zentralen Akteure und deren Interaktionen konzentrierte. „Deutschlands Rolle in der Vorgeschichte der beiden Weltkriege“ von 1967 versuchte in diesem Sinn eine Synthese, in der er die Ansätze Fritz Fischers zur Kontinuität der deutschen Politik vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg weitgehend zustimmend aufgriff, aber dies distanzierter tat, als es der Hamburger Gelehrte unternommen hatte. Seine Freiburger Antrittsvorlesung von 1969 über „Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Außenpolitik von Bismarck bis Hitler“ erweiterte und differenzierte das Thema zugleich. In seiner Marburger Zeit war schon zuvor sein wohl bedeutendstes Werk entstanden, „Hitlers Strategie. Politik und Kriegführung 1940–1941“ (1965). Dieser Titel war unglücklich, wie es auch Hillgruber später nochmals mit einem Titel unterlief: er schien zu signalisieren, dass Adolf Hitler gleichsam auf dem Feldherrnhügel das Thema war. So verstand es lange nach Erscheinen des Buches sogar die Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (29.3.1969) durch Wilhelm Ritter von Schramm, der einen Daten sammelnden Wälzer beklagte. Dagegen entfaltete der Historiker tatsächlich auf über 700 Seiten ein Panorama weltweiter internationaler Politik im Kriege – mit den militärischen Vorgängen, Ressourcen und Intentionen im Hintergrund, gleichsam als Basis für daraus erwachsende politische Optionen. Das galt für die Großmächte, aber auch für die kleineren Staaten, die Neutralen etc. Dieses Meisterstück an Rekonstruktion eines oder mehrerer multipolarer globaler Netzwerke in zeitlich schnell wechselnder Interaktion findet in anderen Werken zur internationalen Politik und zumal im Weltkrieg kaum Parallelen. Erst viel später gelang anderen Autoren eine ähnliche Dichte und Tiefe zugleich. Unverwechselbar blieb jedoch die Kombination von Adlerblick auf die großen Konzeptionen und die Detailkenntnis von möglichen und realen Optionen, von Chancen und Versäumnissen. Programmatisch hat Hillgruber diese Kategorien von Handlungsspielräumen und Optionen in seiner Rede auf dem Regensburger Historikertag von 1972 über „Politische Geschichte in moderner Sicht“ aufgegriffen.8 Er hob gegenüber der sich damals gleichfalls programmatisch erneuernden Sozial- und Wirtschaftsgeschichte – hier mit hohem Methoden- und Theorieanspruch – eine Eigenständigkeit der politischen Geschichte hervor. Es ging ihm um die Geschichte der „praktizierten Politik“, um politische Entscheidungen. Politische Geschichte kann Innen- wie Außenpolitik umfassen. ‚Politisch‘ ist sie deshalb, weil sie das Moment der Entscheidungen gegenüber der Vorstellung vom Prozesscharakter der Geschichte betont. Dabei kommt der internationalen Politik im Rahmen des
8 Politische Geschichte in moderner Sicht, in: Historische Zeitschrift 216, 1973, 529–552.
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Großmacht- und Weltmachtsystems, wie es sich in der europäischen Neuzeit herausgebildet hat, auch und gerade heute besondere Bedeutung zu.
Hillgrubers Version der Politikgeschichte sollte erstens in enger Verbindung mit der „Sozial- und Strukturgeschichte“ stehen, zu der sich als zweites Wirtschaftsgeschichte sowie (drittens) „Ideen, Ideologien und politische Doktrinen“ gesellten. Das bildete für ihn gleichsam eine Triade von Koordinaten, auf der „Politik“ aufruhte. Zugleich bedeutete dies, dass er die Resultate und Ansätze dieser drei geschichtsmächtigen Kräfte und Forschungsrichtungen sehr wohl aufnehmen und integrieren wollte. Zunehmend wandte sich Hillgruber auch der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu, eben dem geteilten Deutschland und dessen Rolle in der neuen weltpolitischen Situation des Ost-West-Konflikts. Gustav Heinemann mit seinem gesamtdeutschen Ansatz imponierte ihm wohl schon in den frühen fünfziger Jahren– er widmete ihm einen Aufsatz – und es spricht einiges dafür, dass er dessen gesamtdeutschen Ansatz zeitgenössisch teilte, später aber die Realisierungschancen von dessen vormaligen Deutschlandvorstellungen kritischer sah.9 Genau darin bestand ja sein Ansatz internationaler Politik. Hillgruber „berechnete“ aus der Perspektive der einzelnen Großmächte deren Interessen, Wahrnehmungen, kurz- und langfristige Kalküle, innenpolitische Absicherung und Rücksichten, ja auch mentalen Prägungen. Er beobachtete das Führungspersonal zumal der großen Mächte im Zeitverlauf und gelangte so zu einem hoch komplexen Interaktionsgeflecht, das er selbst zu entwirren suchte. Er konnte dies für seine Zuhörer oder Leser ordnen – freilich in einem Schreibstil, der seinerseits im komplexen Satzperiodenbau dem Nutzer alles abverlangte. Dieses europäische oder auch weltweite Großmachtsystem, in dem selbstverständlich auch die „kleineren“ Staaten ihren Platz fanden, war weit mehr als der Rahmen, in den er die nationale Außenpolitik einbettete. Zahlreiche Aufsätze oder kleinere Monografien zu bilateralen Aspekten zeigen, dass er die britische, französische oder österreichische Seite ebenso nicht nur im Blick, sondern ganz im Griff hatte. Ein ganz besonders Interesse behielt Hillgruber für Osteuropa, insbesondere die Sowjetunion bei. Sein „Europa in der Weltpolitik der Nachkriegszeit 1945–1963“ machte den multilateralen Ansatz in einem viel benutzten Lehrbuch deutlich, dem Oldenbourg Grundriss Geschichte. Das tendierte in manchem zu einem Netzwerk der Interaktionen, freilich spielte in der Gesamtbewertung der prägenden Probleme erneut die
9 Heinemanns evangelisch-christlich begründete Opposition gegen Adenauers Politik 1950–1952, in: Dieter Albrecht (Hg.), Politik und Konfession. Festschrift für Konrad Repgen zum 60. Geburtstag, Berlin 1983, 503–517.
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deutsche Frage eine zentrale Rolle. Für ihn stellte das Berlin-Problem mit seiner Viermächteverwaltung einen Nukleus für den Gesamtkonflikt dar, eine Puppe in der Puppe, deren nächstgrößere die beiden deutschen Staaten bildeten und dem sich das europäische und transatlantische System als weitere Ringe anlagerten. Das mag sehr deutsch-zentriert erscheinen, aber auch spätere Darstellungen wie etwa von Marc Trachtenberg und John Lewis Gaddis, ganz anders auf Akten gestützt, sahen das noch in letzter Zeit ähnlich.10 Die Diskussion über Hillgrubers Ansatz einer modernen politischen Geschichte war gedacht als fruchtbarer Einstieg in eine Diskussion mit der damaligen Sozialhistorie auch und gerade Bielefelder Prägung, die sich um 1970 in einem gemeinsamen Aufbruch einer jüngeren Generation zu einer Neuinterpretation des deutschen Kaiserreichs aufmachte. Jürgen Kocka und Hans-Ulrich Wehler, Klaus Hildebrand und Andreas Hillgruber, Volker Berghahn und Hans-Jürgen Puhle waren u. a. in diesem von Michael Stürmer herausgegebenen Band vertreten.11 Er selbst hatte vor, eine „Geschichte der deutschen Großmacht von 1866/71 bis 1945“ zu schreiben, was ihm durch vielfältige Belastungen, Krankheit und Tod letztlich nicht gelang. „Die gescheiterte Großmacht“ lautete der Titel eines 1980 selbständig publizierten Großessays, der seine Freiburger Antrittsvorlesung von 1969, „Kontinuität und Diskontinuität von Bismarck bis Hitler“, konkretisierte.12 Die Diskussion über Hillgrubers Konzept einer „politischen Geschichte“ kam jedoch nicht in Gang bzw. artete von Beginn an in Polemik aus, wenn Hans-Ulrich Wehler mit einem Beitrag konterte „Moderne politische Geschichte oder ‚Große Politik der Kabinette‘?“13 Aus dieser Sicht war Hillgruber aus der Zeit gefallen, eine Deutung, die dieser seinerseits mit heftiger Ablehnung konterte. Damit war ein Grundstein zur Polarisierung gelegt, der sich im Historikerstreit der achtziger Jahre voll entfaltete. Hillgruber blieb insgesamt bei einer vielfältigen empirischen Ausfaltung seines Ansatzes. Auch wenn das europäische Mächtesystem und damit Europa einen starken Fokus für ihn bildete, so behielt er immer einen wachen Blick auch auf die außereuropäische Welt. Für die USA versteht sich das von selbst, für das Zeitalter
10 Marc Trachtenberg, A Constructed Peace. The Making of the European Settlement 1945–1963, Princeton, NJ 1999; John Lewis Gaddis, The Cold War. A New History, New York 2005; dt.: Der Kalte Krieg, München 2007. 11 Michael Stürmer (Hg.), Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870–1918 Düsseldorf 1970. 12 Andreas Hillgruber, Die gescheiterte Großmacht. Eine Skizze des Deutschen Reiches 1871–1945, Düsseldorf 1980 bzw. ders., Hillgruber, Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, Düsseldorf 1969. 13 Hans-Ulrich Wehler, Moderne Politikgeschichte oder „Große Politik der Kabinette?“, in: Geschichte und Gesellschaft, 1 (1975), 344–359.
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des Hochimperialismus aber auch. Aber – je nach Gelegenheit unterschiedlich – konnte er seine Kenntnisse auch über andere Weltgegenden fruchtbringend darlegen. Die Vernichtungspraktiken deutscher Kolonialherrschaft vor 1914 und damit Kontinuitäts- und Vergleichsfragen zur folgenden NS-Epoche bildeten das Thema eines seiner ersten Freiburger Seminare. Die aktuelle Diskussion über das Verhältnis von deutscher oder europäischer kolonialer Herrschaft auf der einen Seite zum genozidal geführten deutschen Weltkrieg auf der anderen Seite hatte Hillgruber schon vor einem halben Jahrhundert bewegt – freilich ohne dass er sich selbst an eine entsprechende Synthese gemacht hätte. Eine thematische Erweiterung des enzyklopädischen Ansatzes von „Hitlers Strategie“ stellte sein „Zweiter Weltkrieg“ dar, zugleich im Umfang eine Verknappung auf ein 200 Seiten starkes Paperback. „Kriegsziele und Strategien der großen Mächte“ im Untertitel meinte die angelsächsische (politische) „Grand Strategy“, nicht die militärische als solche.14 Was 1982 hinzukam, war ein Zwischenkapitel über die politisch-gesellschaftliche Ordnung des japanischen wie des deutschen Eroberungsraumes: ein funkelnder Essay über die Unmenschlichkeit rassischer Neuordnungsversuche. Das waren Dimensionen, an die sich Hillgruber seit der Habilitation herangetastet hatte: die Ungeheuerlichkeit der deutschen Rassenpolitik, des genozidalen Charakters der deutschen Politik. Weit entfernt, dies allein auf Hitler und die führenden Nationalsozialisten oder die SS abzuladen, setzte er hiermit zu einer Diagnose der ganzen deutschen Kriegführung und weiter Teile der deutschen Gesellschaft, die Militärs, eingeschlossen an. „Die ‚Endlösung‘ und das deutsche Ostimperium als Kernstück des rassenideologischen Programms des Nationalsozialismus“ lautete der Titel eines Vortrages im vollbesetzten Freiburger Audimax, der 1972 in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte erschien:15 Hierin wurden für die damalige Zeit bahnbrechend der Krieg gegen den europäischen Osten und der Völkermord als ein unauflöslicher Zusammenhang erkannt und auf den Punkt gebracht. Diese Einsicht befruchtete nicht nur die deutsche Geschichtswissenschaft. So wurde Hillgruber zum Protagonisten einer kritischen Geschichte des Deutschen Reiches von 1871–1945, der von daher auch aufmerksam gegenüber der nur rudimentären Vergangenheitspolitik der frühen Bundesrepublik wurde, ja zu dieser dann wichtige Beiträge leistete. Als Eberhard Jäckel und Jürgen Rohwer 1981 eine Stuttgarter Tagung zum Zweiten Weltkrieg über die Kriegswende 1941 auf den Hauptkriegsschauplätzen veranstalteten, da war es Hillgruber, der nicht bereit war, die geografischen Sektoren: Atlantik, Mittelmeer, Pazifik, Ostfront, Westeuropa als alleinige Ansätze zu akzeptieren. Er fügte die rassenideologische Dimension, den Entschluss zum Genozid als quer dazu liegende
14 Der Zweite Weltkrieg 1939–1945. Kriegsziele und Strategie der Großen Mächte, Stuttgart 1982. 15 VfZG, 20, 1972, 133–153.
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Dimension hinzu: auch das war ein „Kriegsschauplatz“ sui generis, konstitutiv für den Charakter des Zweiten Weltkrieges. Eine andere seiner prägenden Deutungen ging nicht von den gesellschaftlichen Bedingungen für politisches Handeln aus, sondern hob die zentrale Rolle Hitlers für die NS-Politik und zuvörderst für die Vernichtungsqualität hervor. Mit dieser Hitler-Zentrik war keine explizite Apologie oder Entlastung der deutschen Gesellschaft verbunden, sie konnte jedoch von Anderen so gelesen werden. Aber was von Hillgruber und einigen seiner Schüler und Kollegen entwickelt wurde, bildete den Kern zumindest für eine der damaligen genuin wissenschaftlichen Kontroversen. War der NS-Diktator auf Lebensraum im Osten fixiert oder hatte er nicht nur einen weiter reichenden Horizont, sondern sogar konkrete Pläne für darüber hinausreichende Eroberungsziele und Kriege in Richtung Weltvorherrschaft oder gar Weltherrschaft, eine Niederringung nicht nur der Sowjetunion, sondern auch Beerbung Großbritanniens und letztlich auch eine Konfrontation mit den USA? Gab es dazu bereits konkrete Maßnahmen in der deutschen Politik? Dissertationen (wie meine eigene) suchten diese Sicht voranzutreiben. Im Rückblick scheint mir diese Hitler-Exegese vielleicht ein wenig weit getrieben worden zu sein. Als Hillgruber das jahrzehntelang behandelte Thema des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion gegen allerlei Apologeten und deren Beharren darauf, dass die deutsche Aggression nur einer sowjetischen zuvorgekommen sei, letztmals 1982 aufgriff, titelte er: „Noch einmal: Hitlers Wendung gegen die Sowjetunion 1940. Nicht ‚Militärstrategie‘ oder ‚Ideologie‘, sondern ‚Programm‘ und ‚Weltkriegsstrategie‘“16 : Das waren nun seine Catchwords geworden, von deren wissenschaftlichem Ertrag er überzeugt war. Es spricht einiges dafür, dass diese Suche und Elaborierung gerade von Hitlers politischem „Programm“ auf die Nürnberger Prozesse 1945/46 zurückging. Planung eines Angriffskrieges, Verbrechen gegen die Menschlichkeit (humanity) und Kriegsverbrechen waren hier die Hauptanklagepunkte. Sie suchten jeweils den Nachweis der Absichten, Intentionen zu solchen vielgestaltigen Verbrechen bei den einzelnen Angeklagten zu erbringen und dazu eben ein von Beginn an intendiertes Vorgehen juristisch zu beweisen, die sich in Hillgrubers späterem wissenschaftlichen Oeuvre als Leitlinie der NS-Politik vor und in den Krieg und Völkermord manifestierte.17 Der von ihm entwickelte „Stufenplan“ Hitlerscher Welteroberungspläne und -durchführung erscheint in diesem Licht als eine wissenschaftlich elaborierte Ausfaltung der dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess zugrunde liegenden Anklage.
16 Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 33, 182, 214–226. 17 Hillgrubers Doktorvater Schramm war in den Nachfolgeprozessen als Zeuge und Sachverständiger involviert; eine Sammlung der hektographierten Dokumente fand sich in den fünfziger Jahren im Staatlichen Archivlager Göttingen, seinem Studienort.
II „Zweierlei Untergang“ im Kontext – Der Genozid an den europäischen Juden
II „Zweierlei Untergang“ im Kontext – Der Genozid an den europäischen Juden Seit diesem und den folgenden Nürnberger Prozessen 1945–1949 waren die Grundzüge der „Endlösung der Judenfrage“ bekannt, aber erst seit den frühen fünfziger Jahren erschienen zumeist von Überlebenden und Nicht-Deutschen differenzierte Monographien, so etwa von Gerhard Reitlinger, Leon Poliakov, Raul Hilberg, Bruno Blau, Hans-Günther Adler und Joseph Wulf. Die deutsche akademische Forschung kam erst in den frühen sechziger Jahren stärker hinzu, nicht zuletzt durch den Auschwitz-Prozess und entsprechende Gutachten motiviert.18 In seiner Habilitationsarbeit von 1965 arbeitete Hillgruber den Charakter des Ostkrieges als „rassenideologischen Vernichtungskrieg“ deutlich heraus und plädierte dafür, Hitlers Formel vom „jüdisch-bolschewistischen Todfeind“ gerade in seinen mörderischen Konsequenzen ernst zu nehmen (518), ohne damit jedoch die „Endlösung“ als solche zu verbinden. Auf den Punkt gebracht hat Hillgruber dies wie erwähnt in einem Aufsatz über den unauflöslichen Zusammenhang von deutschem Annexionskrieg und Genozid an den europäischen Juden.19 Dabei ließ er keinen Zweifel an der zentralen Rolle Hitlers in diesem Prozess, aber er suchte dies breiter aus der europäischen Geschichte herzuleiten. Er nannte ein „sozialpsychologisches Argument“ der Kontinuität imperialistischer Traditionen „mit der Ausbildung von Praktiken der Massenvernichtung von Kolonialvölkern sowie einer Radikalisierung der Bürgerkriegführung seit der Französischen Revolution“ – und dabei die Mitwirkung auch der alten Führungsschichten. Die zweite Überlegung ging in Richtung Wertverlust und moralische Katastrophe. Das meinte im Gefolge des Ersten Weltkrieges die „Herauslösung traditioneller Werte wie Gehorsam, Pflichterfüllung, Opferbereitschaft und Treue aus einem größeren Wertezusammenhang und ihrer daraus folgende Verabsolutierung“. Dies habe es der NS-Bewegung möglich gemacht, die traditionellen Eliten in ihren Dienst zu nehmen (alle Zitate 275). Das reichte tief in die deutsche Gesellschaft hinein, ohne dass er – wie es Fritz Fischer in seinem Spätwerk tat – explizit von einem „Bündnis der Eliten“ sprach.20 So weit war Hillgrubers Gedankenbildung über die unauflösliche Verschränkung von Weltkrieg und Genozid, von Eroberungs- und Rassenkrieg, von nationalsozialistischer Bewegung und traditionellen Eliten gediehen, dass es sich für Jäckel und Rohwer für eine weitere Stuttgarter Tagung anbot, dass Hillgruber einen zu18 Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 3. Aufl. 2004. 19 VfZG wie Anm. 15. 20 Fritz Fischer, Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871–1945, Düsseldorf 1979.
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sammenfassenden Schlusskommentar lieferte. Es war eine der ersten deutschen Holocaustkonferenzen überhaupt.21 Das bildete schließlich den einen Pol von der späteren Buchbindersynthese des Siedler-Verlages: „Zweierlei Untergang“.22 Hier referierte Hillgruber breit jüngere Forschungen zum deutschen Antisemitismus im Kaiserreich, reflektierte die Entstehung eines neuen rassisch bedingten Antisemitismus und dessen Rolle als Staatsideologie seit 1933. Es ging etwa mit Heinrich August Winkler oder Christof Dipper um die Rolle des Antisemitismus als Integrationsideologie, sodann um die Frage ideologischer Basis oder situativer Elemente (Hans Mommsen) beim Beginn systematischen Mordens, worin u. a. auch die Euthanasie einbezogen wurde. Schließlich diskutierte Hillgruber, ob nicht nach Scheitern der deutschen Eroberungspläne der Genozid zum vorrangigen Ziel deutscher Politik ab 1942 wurde. „Die offenkundige Leichtigkeit, unter den zivilisatorischen Bedingungen des 20. Jahrhunderts Menschen dafür gewinnen zu können, andere Menschen nahezu teilnahmslos umzubringen […] ist dabei das Beunruhigendste, der hohe Anteil von Akademikern daran das am meisten Erschreckende.“ Hillgruber schloss seine Ausführungen:23 Das sind Dimensionen, die ins Anthropologische, ins Sozialpsychologische und ins Individualpsychologische gehen und die Frage einer Wiederholung unter anderen ideologischen Vorzeichen in vermeintlich oder tatsächlich wiederum extremen Situationen und Konstellationen aufwerfen. Das geht über jedes Wachhalten der Erinnerung an die Millionen Opfer hinaus, das dem Historiker aufgegeben ist. Denn hier wird ein zentrales Problem der Gegenwart und der Zukunft berührt und die Aufgabe des Historikers transzendiert. Hier geht es um eine fundamentale Herausforderung an jedermann.
Man kann darüber streiten, ob die moralisch-transzendenten Kategorien des konservativen Historikers hier weiterhelfen, auch darüber, ob schon Mitte der achtziger 21 Der geschichtliche Ort der Judenvernichtung, in: Eberhard Jäckel, Jürgen Rohwer (Hg.), Der Mord an den Juden im Zweiten Weltkrieg. Entschlussbildung und Verwirklichung, Stuttgart 1985, 213–224; englische bzw. hebräische Version in Yad Vashem Studies 17, 1986, 1–13 bzw. 18, 1987, 171–184. 22 Corso bei Siedler, Berlin 1986, das folgende Zitat dort 98 f. 23 In der späteren Version im Siedler-Verlag; in Stuttgart hatte er sprachlich leicht komplexer gesagt, was im Siedler-Band überarbeitet war: „Es stellt sich die ins Anthropologische, ins Sozialpsychologische wie ins Individualpsychologische reichende Frage möglicher Wiederholungen unter anderen ideologischen Rahmenbedingungen in tatsächlich oder vermeintlich wiederum extremen Situationen und Konstellationen. Über das Wachhalten der Erinnerung an die Millionen Opfer hinaus, das dem Historiker aufgegeben ist, stellt sich diese Frage, die auf ein zentrales Problem der Gegenwart und der Zukunft verweist und somit die Aufgabe des Historikers transzendiert, eine fundamentale Herausforderung an uns alle dar.“ (223) In der Schlussdiskussion kamen zu Wort: Otto Dov Kulka, Seev Goshen, Saul Friedländer, Yehuda Wallach (alle Israel), Kurt Pätzold (DDR), Wolfgang Scheffler, Jürgen Förster, Hans-Heinrich Wilhelm, Martin Broszat, Eberhard Jäckel (BRD) – je zur NS-Herrschaft im Allgemeinen; Hillgrubers Bilanz blieb unkommentiert.
III „Zweierlei Untergang“ – Der Verlust der deutschen Ostgebiete
Jahre nicht andere und überzeugendere Ansätze in der damals aufkommenden und heute breiten Genozidforschung existierten. Nicht zu verkennen ist auch die europäische Sichtweise, die sich an dieser Stelle weitgehend auf die deutsche Nationalgeschichte als Referenzrahmen bezog. Aber auch im Rückblick ist zu konstatieren: In diesen Ausführungen steckte tiefes Erschrecken über den Zivilisationsbruch (Dan Diner), ein Erschrecken, das Erinnerung und eine entsprechende Geschichtspolitik einforderte. Sie zeugten zugleich von einem wachen Blick in die fortbestehenden Gefährdungen der Gegenwart und Zukunft. Eine Apologie der NS-Zeit oder des Genozids war dies sicherlich nicht.
III „Zweierlei Untergang“ – Der Verlust der deutschen Ostgebiete Kommen wir zum zweiten Thema: der Verlust des deutschen Ostens. Hier vermag ich in Hillgrubers frühen Forschungen weniger direkte Anknüpfungspunkte, keine langsame Entwicklung zu diesem Thema hin zu erkennen. Er beschäftigte sich immer mit der deutschen Frage – mit der Spaltung in zwei deutsche Staaten, mit den Möglichkeiten, Chancen und Grenzen einer Wiedervereinigung, die er prüfte, aber doch weitgehend für in nächster Zeit unwahrscheinlich hielt. Der Kern der „deutschen Frage“ war immer, wie sich die Deutschen in Europa eingliedern würden, wie sie von außen wahrgenommen wurden. Er verfolgte gerade die Ursprünge der deutschen Frage im europäischen Kontext bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein, schrieb 1969 für das verbreitete „Rassow-Handbuch zur deutschen Geschichte“ eine der ersten Darstellungen zur deutschen Frage nach dem Zweiten Weltkrieg – eingebettet in den Rahmen der damaligen Weltpolitik. Das wurde zum viel gelesenen, mehrfach aufgelegten Taschenbuch, zeitlich aktualisiert bis 1986. Zwei weitere Essaytitel deuten seinen Umgang mit dem Thema an: „Die Last der Nation“ (1984) und „Die gescheiterte Großmacht“ (1980). Eines der Kernargumente lautete: die Deutschen in der „Mittellage“ Europas hatten grundsätzliche Schwierigkeiten, angemessen Politik zu betreiben. Sie konnten aufgrund ihrer Zahl und ihres politisch-ökonomischen Gewichts immer sehr leicht zu viel für den Rest Europas werden, der sich gerade dadurch bedroht fühlen musste. Und sie konnten meinen, gerade wegen ihrer numerischen Größe oder wirtschaftlichen Potenz die Nachbarn, Europa und schließlich den Rest der Welt auch militärisch herauszufordern zu sollen – mit den bekannten Folgen fürs 20. Jahrhundert. Es gab das Bedauern über den Verlust der Großmachtstellung, aber es gab die – an Ludwig Dehio anknüpfende Einsicht24 – dass die Deutschen
24 Ludwig Dehio, Deutschland und die Weltpolitik im 20. Jahrhundert, München 1955, vgl. den Beitrag German Research in diesem Band.
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als potenzielle Hegemonialmacht genau dies nie voll erreichen konnten. Auch eine liberal-demokratische Ordnung wie sie in der Revolution von 1848 angestrebt wurde, stand demnach in der Gefahr, die Nachbarn von vornherein herauszufordern. In der Bismarck-Zeit wurde das neue Reich hinreichend eingebunden, im nachfolgenden Wilhelminismus gingen diese Einsichten in der Weltpolitik und im Ersten Weltkrieg verloren. In der Weimarer Republik gab es nur eine zu kurze Chance unter Stresemann zu einer gebändigten neuen Großmacht. Gerade dieser, ambivalente Folgen zeitigende Begriff der Halbhegemonie wird für die deutsche Geschichte seit der Reichsgründung, aber auch für die gegenwärtige europäische Lage bis heute erneut bzw. weiter herangezogen.25 Von der Heimat seiner Familie in Ostpreußen war in diesen Arbeiten kaum die Rede; das hielt Hillgruber lange Zeit – so vermute ich – für eine zu subjektive Herangehensweise. Bemerkenswert war aber doch, was er 1971 für den ersten Katalog und eine gleichnamige Ausstellung „Fragen an die deutsche Geschichte“ im Berliner Reichstag abschließend zu der Epoche des deutschen Nationalstaates zum Schluss schrieb: „Die Vertreibung der Deutschen aus den Reichsgebieten jenseits der Oder und Neiße, aus der wiederhergestellten Tschechoslowakei und Ungarn aber war die härteste Konsequenz aus Hitlers nunmehr auf Deutschland zurückschlagenden rassenideologischen Krieg im Osten und der totalen Niederlage.“ (203, auch das folgende Zitat). Im Begriff der „härtesten Konsequenz“ wird die massive Zäsur formuliert, aber eine eigene Emotion durch die gleichsam logische, da historische Folge bestenfalls angedeutet. Bemerkenswert war es aber auch, wie Hillgruber an gleicher Stelle fortfuhr: die totale Niederlage, „die doch zugleich auch eine Befreiung der Deutschen von der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus darstellte, der ihren Nationalstaat zerstört, die Nation in den Dienst verbrecherischer Ziele gestellt hatte und, um seinen Untergang hinauszuzögern, vollständig zu opfern entschlossen gewesen war“. Das wurde 15 Jahre vor Richard von Weizsäckers Rede zum Kriegsende 1985 geschrieben. „Verblieben waren seit 1945 nach dem Scheitern aller Hoffnungen, doch noch eine Mittlerrolle zwischen Ost und West in veränderter Form weiterführen zu können, zwei Möglichkeiten – die liberal-demokratische im Bund mit dem Westen oder die sozialistisch-kommunistische in Anlehnung an die Sowjetunion.“ Natürlich ließ Hillgruber in diesem an prominenter Stelle publizierten Beitrag keinen Zweifel daran, auf welcher Seite er sich in dieser Dichotomie befand. Nach meinem Eindruck entschloss Hillgruber sich erst durch Reisen mit seiner Familie in den frühen achtziger Jahren in das vormalige Ostpreußen zu einer verstärkten Beschäftigung mit dem Thema, was auf bei aller Nüchternheit doch
25 Z. B. Tilman Mayer (Hg.), 150 Jahre Nationalstaatlichkeit in Deutschland. Essays, Reflexionen, Kontroversen, Baden-Baden 2020.
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zentralen Zusammenhang von „erfahrener und erforschter Geschichte“ hindeutet oder anders gesagt: das kulturelle Gedächtnis durch das kommunikative Erleben herausgefordert sah.26 Das wollte er künftig stärker erforschen und in seine Kategorien einbetten. Spuren einer Beschäftigung mit Ostpreußen finden sich in der Zeitung der Landsmannschaft, dem Ostpreußenblatt bis dahin nur wenige. Er galt dort wohl kaum als „einer von uns“. Natürlich repräsentierten die Landsmannschaften und ihr Mitteilungsblatt zu dieser Zeit längst nicht mehr alle ehemaligen Flüchtlinge, Heimatvertriebene und deren Nachkommen.27 Aber Hillgrubers öffentliche Wirksamkeit geriet ins Visier des Blattes. Im Bonner Presseclub diskutierte man aus Anlass der Neuauflage einer Schrift von Sebastian Haffner über die sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg. Das Ostpreußenblatt (Hans Krump, 12.9.1981) mokierte sich bereits über die Zusammensetzung des Podiums. Neben Haffner saßen dort Wolfgang Seiffert, ein aus der DDR in den Westen übergesiedelter Ökonom, Franz Herre, ein konservativer Journalist des Deutschlandfunks und Biograph vieler Preußen, aber auch Hillgruber. Er nahm aus dieser Sicht eine mittlere Position zur deutschen Vergangenheit ein und warnte, die „Akte Deutschland zu schließen“. Er meinte an anderer Stelle deutlicher, man müsse auf die „volle Realisierung der Menschenrechte in der DDR […]“ drängen, aber dennoch in einer Art „Doppelstrategie“ die Wiedervereinigung nicht aus dem Blick verlieren.28 Die Ostgebiete seien dagegen dauerhaft verloren. 1983 wurde der Journalist Krump im Ostpreußenblatt in einem ganzseitigen Beitrag „Gleichgewicht contra Deutsche Einheit?“ deutlicher (29.10.1983). Gegenüber der seit Napoleon schwebenden Frage, ob die Einheit und Freiheit der deutschen Nation gegenüber einem Gleichgewicht infrage zu stellen sei, nehme der Kölner Historiker folgende Haltung ein. „Da gibt es räsonierende Pessimisten mit Realitätspose, der in letzter Zeit verstärkt die These von der deutschen Hegemonialstellung im Falle der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts für alle Deutschen vertritt.“ Darüber hinaus gebe es Historiker wie Hans-Ulrich Wehler und Michael Stürmer – zu der Zeit bereits eine denkwürdig konstruierte Ideologiegemeinschaft! –, die wegen der Ängste vor einer Zerstörung des gegenwärtigen Gleichgewichts eine Zementierung des Status quo von Jalta 1945 verträten. Ein Jahr später legte ein Journalist, Jörg Bernhard Bilke, in demselben Blatt unter dem Titel nach: „Soll Ostdeutschland vergessen werden? Tendenzen in Politik
26 Klaus Hildebrand in seinem Nachruf auf Hillgruber, in: Historische Zeitschrift, 1990, 190–197 (196) bzw. in Anlehnung an: Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999. 27 Pertti Ahonen, After the Expulsion. West Germany and Eastern Europe 1945–1990, Oxford 2003. 28 Diese Formulierungen in: Andreas Hillgruber, Die Last der Nation. Fünf Beiträge über Deutschland und die Deutschen, Düsseldorf 1984, 31 (Vortrag vor dem Kuratorium Unteilbares Deutschland); dieser Passus wurde von H. im Ostpreußenblatt (21.6.1986 – siehe unten) wieder aufgenommen.
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und Kultur laufen auf ein verstümmeltes Deutschland hinaus“ (26.5.1984). Demnach trage auch Hillgruber mit seinen Reden für die Bundeszentrale für Politische Bildung dazu bei, wenn er die Grenzen von 1937 nicht mehr als sinnvollen Ausgangspunkt von Politik ansehe und meine, mit der Eingliederung von 12 Millionen Deutschen aus Polen und der Tschechoslowakei „sei dieser Aspekt der ‚deutschen Frage‘ zur Zufriedenheit der Nachbarstaaten, vornehmlich Polens, und der Deutschen selbst gelöst“. Es geht hier um eine Perspektive, die mit dem Etikett einer „Verzichtpolitik“ jahrzehntelang die deutsche Politik über die Ostverträge hinaus zumindest rhetorisch bestimmt hatte; bei dieser Landsmannschaft wurde sie noch ernst genommen. Den entscheidenden Schritt in der Auseinandersetzung mit der Frage des Verlustes der deutschen Ostgebiete ging Hillgruber in seinem ersten Vortrag nach seiner zwei Jahre zuvor erfolgten Aufnahme in die Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften in Düsseldorf 1985. „Der Zusammenbruch im Osten 1944/45 als Problem der deutschen Nationalgeschichte und der europäischen Geschichte“ war von dem 60-jährigen daher sicher programmatisch gewählt und sollte ein Thema seiner künftigen Forschungen bilden – mit Skepsis, ob sich eine historische Mitte Europas jemals wieder herstellen ließ.29 Dieser – ein wenig erweiterte – Vortrag bildete den ersten Teil des zwei Jahre später im Siedler-Verlag erscheinenden Bändchens. Den Kern bildete eine Analyse der alliierten Kriegsplanungen im Zweiten Weltkrieg, so vor allem der Westmächte hinsichtlich einer Rekonstruktion der ostmitteleuropäischen Nationalstaaten, die sowjetischen Ziele einer Westverschiebung Polens, die schon seit 1943/44 einen damals in Deutschland nicht bekannten Grad der Beschlussbildung erreicht hatten. Daraus leitete sich die Frage ab, warum die nationalsozialistischen, ja deutschen Verbrechen zwar mit Verlusten aller Art bezahlt worden waren, aber ausgerechnet die Ostdeutschen mit Flucht und Vertreibung und dem Verlust ihrer Heimat bezahlen mussten – und was dies für die „deutsche Nation“ künftig bedeute. Schließlich kam ja auch das Saargebiet 1957 wieder an die Bundesrepublik zurück; aber der Osten war für ihn irreversibel „verloren“. Hier war mit einem Male in den wissenschaftlichen Diskurs, auf dessen Distanz von direkten Interessen Hillgruber in seiner Karriere bislang so überzeugend gedrängt hatte, ein neuer, subjektiver Zug geraten. Seit der Ostdokumentation der Bundesregierung der fünfziger Jahre und einigen kleineren Studien in den sechziger Jahren habe es eine Fülle wenig reflektierter detaillierter Erinnerungen und militärische Operationsgeschichte gegeben. 29 Der Zusammenbruch im Osten 1944/45 als Problem der deutschen Nationalgeschichte und der europäischen Geschichte, Opladen 1985 (Vortrag vom 17.4.1985); zum internationalen Kontext legte Hillgruber an gleicher Stelle zwei Jahre später nochmals nach: Alliierte Pläne für eine „Neutralisierung“ Deutschlands, Opladen 1987.
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Sammlungen von Zeitzeugenberichten machten zumeist „nicht den Versuch zu umfassenderen historischen Analysen und zu grundsätzlichen Überlegungen über die Ursachen und die Folgen jenes Geschehens im Winter 1944/45 vorzudringen – geschweige denn zu einem Versuch, deren Bedeutung für die deutsche und europäische Geschichte zu erfassen“. Das war ein wichtiges Thema, das andere Autoren schon zuvor aufgeworfen hatten30 ; es ist seither im Rahmen der Migrationsgeschichte auch innerhalb Europas zu einem zentralen Objekt der Forschung geworden und hat für den deutschen Fall in der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung und einer großen Dauerausstellung in Berlin einen öffentlichkeitswirksamen Ort gefunden. Die Zusammenführung der Haltung des Widerstandes gegen die NS-Herrschaft und von Opfern durch Vertreibung bildete sodann einen Kern des Beitrages. Die Personen des 20. Juli 1944 wussten von der geforderten bedingungslosen Kapitulation und damit der Vergeblichkeit ihrer geplanten Aktion zu einem Verhandlungsfrieden und handelten dennoch – aus ethischen Gründen. Ähnliches galt für Hillgruber für die Verteidiger Ostpreußens, die den Verlust dieser deutschen Gebiete befürchteten – wie Hillgruber in den achtziger Jahren erfuhr: zu Recht – und auch daher gegen die Rote Armee kämpften. „Auch der Betrachter steht vor dem Dilemma der damals Handelnden. Auf der einen Seite die gesinnungsethische Handlung der Männer des 20. Juli […], auf der anderen Seite die verantwortungsethische Haltung der Befehlshaber, Landräte und Bürgermeister, aus deren Sicht alles darauf ankam, wenigstens einen schwachen Schleier von Sicherungen an der ostpreußischen Grenze aufzubauen, um das schlimmste zu verhindern“ (20 f.). Das war nicht der drohende dauernde Verlust des Territoriums, von dem erst die Nachgeborenen wussten, sondern „die Racheaktionen der Roten Armee an der deutschen Bevölkerung“ für die Verbrechen, welche die Deutschen zuvor begangen hatten. „Hoffnungslose Gesamtsituation“, „schauerliches Dilemma“, „heillose Situation“, „bedrohter Osten“, „Schreckensfanal im Osten“, „Racheorgien“ traten bei Hillgruber an die Stelle analytischer Kategorien, ja: sie wurden als solche ausgeschmückt. Wenn man aus diesem Blickwinkel auf das Kriegsende sehe, dann treffe „Befreiung“ als Kategorie zwar die Einschätzung der NS-Verfolgten, aber „auf das Schicksal der deutschen Nation als Ganzes bezogen, ist er unangebracht. ‚Befreiung‘ umschreibt nicht die Realität des Frühjahrs 1945.“ Vergleicht man das mit Hillgrubers Ausführungen von 1971, so ist eine mentale Verengung und ein moralisches Leiden am Schicksal Ostpreußens und der Ostpreußen nicht zu verkennen. Für ihn als Historiker kam in den 1980er Jahren ein weiteres Postulat hinzu: „Er muss sich mit dem konkreten Schicksal und der Bevölkerung im Osten und den verzweifelten und opferreichen Anstrengungen des deutschen Ostheeres …“
30 Genannt seien früh Edward Kulischer und Joseph B. Schechtman.
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und anderer „identifizieren“. Dazu gehörte letztlich auch: „Von den Hoheitsträgern der NSDAP bewährten sich manche in der Not von letzter, verzweifelter Verteidigung […], andere versagten […].“ Das klang manchen nach Ehrenrettung von Nazis, aber worauf Hillgruber wohl hinauswollte, dass dies ein seltenes Beispiel für eine patriotische Leistung von eingefleischten Nazis gab, die im Osten bei der Flucht Menschen halfen und so vor Gefangenschaft retteten. Hillgruber schilderte die militärischen Kämpfe um Ostpreußen ausführlich, die Wechselwirkung vom Halten der Front und Möglichkeiten zur Flucht. Letztlich folgerte er für künftige Aufgaben: „Das ungeheure Geschehen zwischen dem Herbst 1944 und Frühjahr 1945 verlangt noch nach einer Darstellung, einer Behandlung, die den weltgeschichtlichen Vorgang vor Augen hat und doch das Einzelschicksal sieht, wo es im Leiden und Tun, im Handeln und Versagen repräsentativ ist.“ Das waren Imperative, die mit Pathos vorgetragen wurden und damit die eigene Unentschiedenheit erkennen ließen, wie eine solche Aufgabe anzugehen sei. Das hatte er zuvor noch nie gemacht – zumindest nicht explizit. Der national denkende Historiker hatte sich zuvor jedem nationalen Handlungsimperativ entzogen, war kritisch mit allen aggressiven und expansiblen Aspekten der deutschen Geschichte im europäischen Kontext umgegangen, hatte deutlich Ross und Reiter genannt, Verbrechen zumal der NS-Zeit aufgeklärt und öffentlich gemacht. Eine Identifizierung mit dem Leiden von einzelnen Bevölkerungsteilen – so schrecklich sie waren – als Ausgangspunkt für ernsthafte weitere analytische Geschichtsschreibung war neu; auch seine Sprache war eine andere geworden. Karl Schlögel schrieb darüber später von einem „nachdenklichen und sorgfältig formulierten Text“, der nichts Anderes gewollt habe als Günter Grass in demselben Jahr 1986 mit „Im Krebsgang“, nämlich „die Tragödie der deutschen Vertriebenen zur Sprache zu bringen“.31 Auf die Sprache des Historikers kommt aber vieles an.
IV Historikerstreit und geschichtspolitische Auseinandersetzungen An dieser Stelle brach das aus, was man bald den „Historikerstreit“ nannte und in den Hillgruber mit seinem „Zweierlei Untergang“ einbezogen wurde. Gerade die geforderte nationale Identifizierung mit dem ostpreußischen Endkampf, für den Hillgruber Begriffe suchte, kontrastierte mit seiner Darstellung des Genozids. In dieser war von einem moralischen Zwang zur Identifizierung mit Juden als Opfern nicht die Rede gewesen. Das war sonst nicht Hillgrubers analytischer Stil gewesen und wurde kontrastierend von seinen Kritikern gegenübergestellt. Wäre dieser Gegensatz nicht in der Buchbindersynthese zweier Aufsätze geschehen, wäre dies
31 Karl Schlögel, Die Sprache des Krebses, in: Frankfurter Rundschau 12.2.2002.
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wohl übersehen worden. Aber schon die – aus dem sehr unterschiedlichen Kontext der Entstehung zu erklärenden und – beibehaltenen Titelbegriffe der Aufsätze „Zerschlagung“ des deutschen Ostens und „Ende“ des europäischen Judentums enthielten tatsächlich unterschiedliche emotionale und analytische Konnotation. Sie hingen zusammen – das führte Hillgruber in einer knappen Einleitung vor und der Rückentext raunte dazu etwas von „düsterer Verflechtung“ – und genau die wurde hier nicht aufgezeigt. Vermutlich war Hillgruber mit dem Titel dem Vorschlag seines Verlegers aufgesessen.32 Gerade weil seine Vorträge oft brillant waren, hatte es bereits mehr als ein halbes Dutzend scheinbar ähnlicher Essaybände gegeben, die thematisch bisweilen nur vage zusammengehalten wurden. Die beiden Vorträge hatten von Entstehung und damit auch Diktion wenig miteinander zu tun, forderten nun aber offensichtlich ein dialektisches Zusammendenken, eine Synthese, die Hillgruber selbst nicht geleistet hatte. Man sollte meinen, dass die Vertriebenenverbände Hillgrubers Plädoyer begrüßten. Das Gegenteil war jedoch der Fall: er wurde weiter scharf angegriffen.33 Diesmal reagierte Hillgruber deutlich im Ostpreußenblatt (21.6.1986): der Vertriebenenfunktionär und Bundestagsabgeordnete Herbert Hupka habe offenbar seinen (Hillgrubers) Akademievortrag zum Verlust des Ostens nicht gründlich gelesen und habe ein anderes Demokratieverständnis, wenn er meine, Politik sei eine Sache von Berufspolitikern und Geschichtsprofessoren sollten lieber in ihrer Studierstube bleiben. Zwar sei er der Ansicht, die nationale Frage zwischen BRD und DDR sei mit langem Atem schon noch zu lösen. „Ein politisches Pochen auf historisch noch so gerechtfertigte Grenzen führt unweigerlich zu Konflikten zwischen den europäischen Nationen, die dem ohnehin nur unter äußerster Anstrengung zu erreichenden Ziel der Selbstbestimmung und Freiheit für alle europäischen Völker abträglich“ sind.“ „Nichts ist verloren, es sei denn, wir geben es selbst auf und sind
32 Er selbst insistierte mündlich wiederholt, dass er hinter dem Titel stand. 33 Ein ganzseitiges Referat des Akademievortrages von Hillgruber durch Wolfram von Wolmar (5.10.1985) fand diesen zunächst recht wohlwollend interessant und ehrlich. „Die Katastrophe des deutschen Ostens ist nicht nur eine unübersehbare Katastrophe der deutschen Nachkriegsgeschichte, sie ist auch ein Menetekel für ganz Europa“, hieß es dort. Mitte 1986 feuerte das Blatt aber eine Breitseite los. Am 7. Juni 1986 beklagte Herbert Hupka, Schlesier und MdB der CDU auf der ersten Seite unter dem Titel: „Ist die Wiedervereinigung ein Ärgernis?“ eine Nummer der Zeitschrift für politische Bildung, Aus Politik und Zeitgeschichte – ausgerechnet mit Beiträgen von Wehler und Hillgruber. Darin hieß es, auch Hillgruber könne sich ein vereintes Deutschland nur im Modus „Es war einmal“ vorstellen – gemeint waren die Gebiete östlich von Oder und Neiße. „Man ist gezwungen, an der Klugheit dieses Historikers zu zweifeln“, dass es ein solches Ende der Geschichte gebe, und schloss: „Es wäre gut, wenn diese Historiker begriffen, dass der Wille und das Recht stärker sind als der von ihnen heilig gesprochene Status quo.“
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bereit, uns der fremden Macht zu beugen“, insistierte Hupka nochmals in einer ausführlichen Gegenpolemik gegen den Historiker (19.7.86). Hillgruber schrieb sein „Schlusswort“ (26.7.1986): „Eine weitere Auseinandersetzung mit Herrn Dr. Hupka ist sinnlos“, dieser habe keine genaue Sachkenntnis der Vorgänge der Nachkriegszeit, habe kein historisches Urteil, „sein ständiges Verwechseln von politischer und rechtlicher Ebene, sind evident […]. Alle seine Aussagen sind auch rechtlich nur die halbe Wahrheit.“ Hier ging es um den Gegensatz zwischen Real- oder Machtpolitik und dem Pochen auf angeblich verbrieften Rechtsgrundsätzen – ein Gegensatz, der auch in den gegenwärtigen Krisen eine Rolle spielt. Diese Abgrenzung von einer nationalen Rechten ist bisher nicht bekannt gewesen. Ausgiebig benannt ist jedoch seine Rolle, die er im Historikerstreit der Jahre 1986–1988 aktiv bzw. passiv spielte und zu spielen hatte.34 Das kann hier nur knapp angesprochen werden. Es war die Fragwürdigkeit einer vom ihm geforderten ethischen und zugleich nationalen Identifizierung, die irritierte. Jürgen Habermas’ Polemik in Die Zeit vom 11. Juli 1986 gegen die Entsorgung der deutschen Geschichte bildete den Auftakt, mit dem ein Verbund konservativ-liberaler Historiker, nämlich neben ihm Ernst Nolte, Klaus Hildebrand und Michael Stürmer, verdächtigt wurden, die deutsche Geschichte der NS-Zeit auch öffentlichkeitswirksam wie z. B. in dem damals bereits geplanten Bonner Haus der Geschichte abwickeln zu wollen. Rückblickend spielte Wehler die Bedeutung des Streites herunter, wenn er 2006 als einer der Protagonisten der damaligen Auseinandersetzung sprach, man habe die „Befürchtung [gehabt], es könne einer mächtigen Koalition von Konservativen gelingen, unterstützt von einigen Helfern in der Publizistik und der Wissenschaft, den Nationalsozialismus zu relativieren. Das ist damals sicher eine Überdramatisierung gewesen.“35 Letztlich sei es auch kein wissenschaftlicher Streit gewesen. Rudolf Augsteins Kommentar im Spiegel von Hillgruber als „konstitutionellem Nazi“ bildete nur eine der medialen Höhepunkte, auf die Hillgruber ebenso empört und hilflos reagierte wie zuvor auf go-ins und sit-ins von Studierenden in Freiburg oder Köln. Er suchte in einem Zeitschriftenaufsatz einige seiner Positionen bzw. Formulierungen zu präsentieren, betonte seinerseits auch, dass es sich gar nicht eigentlich um eine wissenschaftliche Kontroverse handele. Aber das spielte in der
34 Quellensammlung der Texte dazu: „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987; nüchterner Überblick: Klaus Große Kracht, Debatte: der Historikerstreit, in: docupedia https://docupedia.de/zg/Historikerstreit (Text von 2010; [7.11.2022]); das einseitige Gegenbild einer eher linken Verschwörung präsentiert wenig überzeugend: Gerrit Dworok, „Historikerstreit“ und Nationswerdung. Ursprünge und Deutung eines bundesrepublikanischen Konflikts, Köln u.a. 2015. 35 Hans-Ulrich Wehler, Eine lebhafte Kampfsituation. Ein Gespräch mit Manfred Hettling und Cornelius Torp, München 2006, 202.
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hitzigen Diskussion zunächst keine Rolle. Hillgruber sah sich in dieser Kontroverse zum Teil falsch und aus dem Zusammenhang gerissen zitiert, er fühlte sich missverstanden – und nur das suchte er auch hier in einem „Mein ,Schlußwort‘ zum sogenannten Historikerstreit“, datiert auf den 12. Mai 1987, zu widerlegen: es handele sich anders als bei der Fischer-Kontroverse zuvor nicht um einen wissenschaftlichen Diskurs. Wie es ihm auch sonst zu eigen war, forderte er klare Bekenntnisse mit einem Ja oder Nein ein – und die fiel hier in diesem öffentlichen Raum zu seiner eigenen vollen Identifizierung mit „Zweierlei Untergang“ aus – und dies in allen ihren Nuancen und Begleiterscheinungen. Die schwere Krankheit setzte ihm zu und er verweigerte jede weitere öffentliche Äußerung dazu bis zum Tod.
V Bilanz Der Historikerstreit verdeckt bis in die Gegenwart hinein Hillgrubers Leistung und Bedeutung für die Geschichtswissenschaft, für ihre Inhalte wie auch ihre Methodik. Was er zur Methodologie politischer Geschichte prominent ausführte, ist heute alles sehr viel stärker kulturell überformt, diskursanalytisch geprägt. Schon zeitgenössisch erkannte er die Herausforderung, welche die aktuellen Sozialwissenschaften für künftige Zeithistoriker spielen mussten36 ; er selbst eignete sich diese Erkenntnis wenig an. Das gleiche gilt für seinen Beitrag zur Theorie internationaler Beziehungen, die er auf einer deutsch-sowjetischen Historikertagung vortrug.37 Er hat sich nach meiner heutigen Einschätzung mit seinen beiden pointierten Essays in „Zweierlei Untergang“ letztlich selbst einen Bärendienst erwiesen. Dieser kann seinen bedeutenden wissenschaftlichen Leistungen zuvor nicht gerecht werden. Eng mit diesen zusammen hängt sein öffentliches Wirken als akademischer Lehrer, in politischer Bildung und Medien. Sein Hauptverdienst scheint mir aber darin zu liegen, zunehmend mit Erkenntnissen aus den Quellen und als einer der ersten deutschen Historiker die langfristig angelegte Fragilität des Deutschen Reiches erkannt zu haben und dabei die Verbrechen der NS-Zeit als deren konstitutiven Teil bis in die unmittelbare eigene Gegenwart begriffen zu haben. Das suchte er vehement und differenziert in der deutschen Öffentlichkeit zu verankern. Eberhard Jäckel, bekennender Sozialdemokrat und kritischer Weggefährte im Schreiben der NS-Geschichte, fasste diesen Blick in der Gedenkschrift für Andre36 Z. B.: Rüdiger Graf, Kim Christian Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59, 2011, 1–30. 37 Methodologie und Theorie der Geschichte der internationalen Beziehungen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 27, 1976, 193–210.
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as Hillgruber im Jahr 199038 unter dem Titel „Der Kampf des Urteils gegen das Vorurteil“ zusammen. Für ihn hatte der konservative Hillgruber die Chance wahrgenommen, durch forschenden Erkenntnisgewinn die eigene soziale Verwurzelung zu überschreiten. Für Jäckel hätte es ja auch nach dem Zweiten Weltkrieg ebenso wie nach dem Ersten ein Aufbäumen gegen die Last der Geschichte geben können: Dass sie letzten Endes abgewehrt werden konnte, auch dass die deutsche Forschung wieder Anschluss an die internationale fand, das ist wahrscheinlich weniger das Verdienst der bußfertigen Selbstankläger als jener konservativen Historiker, die ihr Urteil gegen ihr Vorurteil durchsetzten und damit der anfangs widerstrebenden öffentlichen Meinung zu einem unverstellten Blick auf die Wirklichkeit verhalfen. Gerade sie, von denen man es nicht erwartete, haben mehr dazu beigetragen als andere. Der erste und bedeutendste unter ihnen war Andreas Hillgruber, und das wird [auch wenn es nicht allenthalben anerkannt wurde] seine Ehre sein.
Traditionelle Dichotomien wie links oder rechts, wie methodisch fortschrittlich oder rückwärts gewandt, könnten gerade bei Andreas Hillgruber weniger erklären, als vermutet wird. Eine differenzierte wie distanzierte Herangehensweise könnte da noch manch Interessantes zutage fördern.39
38 Dülffer u. a., Gedenkschrift, hier 17. 39 Es versteht sich, dass ein Zeitzeuge dies bestenfalls in Ansätzen leisten kann.
Schriftenverzeichnis
(Nachtrag zu Dülffer, Frieden stiften, Köln 2008, 384–399)
Monographien, Herausgeberschaften Peace, War and Gender from Antiquity to the Present. Cross-Cultural Perspectives (Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung, Bd. 14), Essen: Klartext Verlag 2009, 282 S., (Hg. zusammen mit Robert Frank). Schlagschatten auf das „braune Köln“. Die NS-Zeit und danach (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins, Bd. 49), Köln: SH Verlag 2010, 333 S., (Hg. zusammen mit Margit Szöllösi-Janze). Elites and Decolonization in the Twentieth Century (Cambridge Imperial and Post-Colonial Studies Series), London u. a.: Palgrave MacMillan 2011, V, 296 S.,(Hg. zusammen mit Marc Frey). Frieden durch Demokratie? Genese, Wirkung und Kritik eines Deutungsmusters (Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung, Bd. 15), Essen: Klartext Verlag 2011, 300 S.,(Hg. zusammen mit Gottfried Niedhart). Dimensionen Internationaler Geschichte (Studien zur Internationalen Geschichte, Bd. 30), München: Oldenbourg Verlag 2012, 432 S.,(Hg. zusammen mit Wilfried Loth). Pullach intern. Innenpolitischer Umbruch, Geschichtspolitik des BND und Der Spiegel, 1969–1972, Marburg: Unabhängige Historikerkommission BND 2015, 92 S., online: http:// www.uhk-bnd.de/?page_id=340 (7.11.2022). Geheimdienst in der Krise. Der BND in den 1960-er Jahren (Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission zur BND-Geschichte, Bd. 8), Berlin: Christoph Links Verlag 2018, 672 S.
Aufsätze und Beiträge zu Sammelbänden „Auferstanden aus Ruinen“ – und wie weiter? Die SPD in Köln 1945–2008. In: Jochen Ott, Thomas Deres, Wolfgang Uellenberg-van Daven (Hg.), Köln Rot. Sozialdemokratische Politik von 1945 bis heute. Köln: Greven Verlag 2008, S. 320–340. International Relations History in Germany, in: http://www.polestra.com/public/files/papers/ International%20Relations%20History%20in%20Germany%20D%C3%BClffer.pdf (Madrid 2009) (12.12.2009).
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Schriftenverzeichnis
Wege aus dem Krieg. Historische Perspektiven [auf das 19. und 20. Jahrhundert]. In: Institut für Entwicklung und Frieden (u. vier andere Institute) (Hg.), Friedensgutachten 2009, Münster: Lit 2009, S. 45–57. Im Schatten des Zweiten Weltkrieges. Der Soldatentod in deutscher und internationaler Erinnerungskultur, in: Corinna Hauswedell (Hg.), Soldatentod in heutigen Kriegen. Herausforderungen für politische Normbildung und Erinnerungskultur (Loccumer Protokolle 25/08), Loccum: Ev. Akademie 2009, S. 71–95. Im Schatten des Zweiten Weltkrieges. Soldatentod und Erinnerungskultur, in: Forum Wissenschaft, 27, Nr. 3, Oktober 2010, S. 8–12 (Auszug des vorangegangenen Artikels). Von der Geschichte der europäischen Integration zur Gesellschaftsgeschichte Europas, in: Archiv für Sozialgeschichte 49, 2009, S. 3–24 (mit Anja Kruke) [Einführung zum Rahmenthema: „Gesellschaftsgeschichte Europas als europäische Zeitgeschichte“]. The History of European Integration: From Integration History to the History of Integrated Europe, in: Wilfried Loth (Hg.), Experiencing Europe. 50 Years of European Construction 1957–2007 (Veröffentlichungen der Historikergruppe bei den Europäischen Gemeinschaften, Bd. 12), Baden Baden: Nomos 2009, S. 17–32. De l’histoire de l’intégration à l’histoire intégrée de l’Europe, in: Gérard Bossuat, Eric Bussière, Robert Frank, Wilfried Loth, Antonio Varsori (Hg.), L’Expérience Européenne. 50 ans de construction de l’Europe : 1957–2007. Des historiens en dialogue. Actes du colloque international de Rome 2007 (Groupe de Liaison des Professeurs d’Histoire Contemporaine auprès de la Commission Européenne, Vol. 12), Brüssel: Bruylant; Paris: L. G. D. J; BadenBaden: Nomos 2010, S. 11–35. Conditions of Just War and Lasting Peace. An Introduction, in: Peace, War and Gender from Antiquity to the Present. Cross-Cultural Perspektives (Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung, Bd. 14), Klartext Verlag Essen 2009, hg. Jost Dülffer/ Robert Frank, S. 15–24 (dort auch: General Introduction, S. 9–12 – zusammen mit Joan Beaumont, Robert Frank). Völkerrecht im Ost-West-Konflikt. Die Sicht eines Historikers, in: Ulrich Lappenküper, Reiner Marcowitz (Hg.), Macht und Recht. Völkerrecht in den internationalen Beziehungen (Otto von Bismarck Stiftung, Wissenschaftliche Reihe, Bd. 13), Paderborn 2010, S. 251–269 (auch in diesem Band). Andreas Hillgruber – Deutsche Großmacht, NS-Verbrechen und Staatensystem, in: Hans Ehlert (Hg.), Deutsche Militärhistoriker von Hans Delbrück bis Andreas Hillgruber. Mit Beiträgen von Jost Dülffer, Michael Epkenhans, Sven Lange, Markus Pöhlmann und Rainer Wohlfeil, Potsdam: Militärgeschichtliches Forschungsamt 2010 (= Potsdamer Schriften zur Militärgeschichte, 9), S. 69–84 (erweitert auch in diesem Band). Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg in Köln – zur Einführung, in: Jost Dülffer/Margit Szöllösi-Janze (Hg.), Schlagschatten auf das „braune Köln“. Die NS-Zeit und danach. (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins, Bd. 49), Köln: SH Verlag 2010, S. 7–24 (zusammen mit Margit Szöllösi-Janze).
Aufsätze und Beiträge zu Sammelbänden
Die Erschließung von Vogelsang. Wissenschaftlicher Stand, sprachlicher Umgang und historischer Rahmen, in: vogelsang ip (Hg.), „Fackelträger der Nation“. Elitebildung in den NS-Ordensburgen. Köln u. a.: Böhlau Verlag 2010, S. 9–19. The United Nations and the Origins of the Genocide Convention 1946–1948. In: Christoph Safferling/Eckart Conze (Hg.), The Genocide Convention: 60 Years after its Adoption, Den Haag: T. M. C. Asser Press 2010, S. 55–68 (auch in diesem Band). Politische Geschichtsschreibung der „45er-Generation“. Von der Militärgeschichte des Zweiten Weltkriegs zur kritischen Zeitgeschichte (1950–1970). In: Christoph Cornelißen (Hg.), Geschichtswissenschaft in der Demokratie. Wolfgang J. Mommsen und seine Generation. Berlin: Akademie-Verlag 2010, S. 45–60 (auch in diesem Band). Prevention or Regulation of War? The Hague Peace Conferences as a Limited Tool to Reform the International System before 1914. In: Lothar Kettenacker/Torsten Riotte (Hg.), War and Society in Western Europe: ‘Old Europe’ and the Legacy of two World Wars, New York – Oxford: Berghahn Books 2011, Paperback 2014, S. 19–37. Die Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht und die Friedensregelungen nach den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, in: Jörg Fisch (unter Mitarbeit von Elisabeth MüllerLuckner) (Hg.), Die Verteilung der Welt. Selbstbestimmung und Selbstbestimmungsrecht der Völker. The World Divided. Self-Determination and the Right of Peoples to Self-Determination (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, 79). München: Oldenbourg 2011, S. 113–139 (auch in diesem Band). Gustav Stresemann, in: Hans Kloft (Hg.), Friedenspolitik und Friedensforschung. Die Friedensnobelpreisträger aus Deutschland. Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag 2011, S. 17–27 (dort auch: Karl Holl und die Historische Friedensforschung, S. 13–16). German Strategy in the Tripartite Pact during the Second World War, in: National Institute for Defense Studies (Hg.), International Forum on War History: Proceedings. The Strategy of the Axis Powers in the Pacific War. Sept. 29, 2010. Tokyo: NIDS, March 2011, S. 93–104. 事同盟, Ebda. (戦争史研究国際; 平成22年度戦争史研究国際報告書), S. 83–94. Recht, Normen und Macht, in: Jost Dülffer, Wilfried Loth (Hg.), Dimensionen Internationaler Geschichte (Studien zur Internationalen Geschichte, Bd. 30), München: Oldenbourg Verlag 2012, S. 169–187 (darin auch – zusammen mit Wilfried Loth – Einleitung, S. 1–8) (auch in diesem Band). Der Bundesnachrichtendienst in der Spiegel-Affäre, in: Martin Doerry/Hauke Janssen (Hg.), „Die SPIEGEL-Affäre“. Ein Skandal und seine Folgen. Ein Spiegel-Buch, München: Deutsche Verlagsanstalt 2013, S. 112–129. Die Reichsautobahnen: „Straßen des Führers“ oder Modernisierung des Straßenverkehrs? In: Thomas Fischer, Heinz-Günter Horn (Hgg.), Straßen von der Frühgeschichte bis in die Moderne. Verkehrswege – Kulturträger – Lebensraum. Akten des Interdisziplinären Kolloquiums Köln, Februar 2011 (= Schriften des Lehr- und Forschungszentrums für die antiken Kulturen des Mittelmeerraums (…), Bd. 10), Wiesbaden: Reichert Verlag 2013, S. 77–94.
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Schriftenverzeichnis
Internationale Strafgerichtsbarkeit und die Friedensordnung nach dem Ersten Weltkrieg, in: Michaela Bachem-Rehm, Claudia Hiepel, Henning Türk (Hg.), Teilungen überwinden. Europäische und Internationale Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilfried Loth, München: Oldenbourg 2014, S. 293–303. Humanitäre Intervention, Menschenrechte und die Legitimation von Gewalt. Der deutsche Weg in den Zweiten Weltkrieg 1937/1939. In: José Brunner, Doron Avraham, Marianne Zepp (Hgg.), Politische Gewalt in Deutschland. Ursprünge – Ausprägungen – Konsequenzen (Tel Aviver Jahrbuch für Deutsche Geschichte 42 [2014]), Göttingen: Wallstein 2014, S. 91–110 (auch in diesem Band). Humanitarian intervention as legitimation of violence – the German case 1937–1939. In: Fabian Klose (Hg.), The Emergence of Humanitarian Intervention. Ideas and Practice for the Nineteenth Century to the Present. Cambridge: Cambridge UP 2016, S. 208–228 (andere Version des vorangegangenen Aufsatzes). Global Governance und Weltregierung seit dem 19. Jahrhundert. Ein Aufriss, in: Stephan Stetter (Hg.), Leben in der Weltgesellschaft – Regieren im Weltstaat. To Live in World Society – To Govern in the World State (Schriftenreihe der Universität der Bundeswehr München, Bd. 07), München: Universität der Bundeswehr 2014, S. 62–69; http://www. unibw.de/praes/service/presse/publikationen/schriftenreihe-der-universitaet (auch in diesem Band). „Balance of Power“ im Nuklearzeitalter? In: Michael Jonas, Ulrich Lappenküper, Bernd Wegner (Hg.), Stabilität durch Gleichgewicht? Balance of Power im internationalen System der Neuzeit. Paderborn: Schöningh 2015, S. 159–179 (Schriften der Otto-von-BismarckStiftung, Bd. 21). Deutsche Außenpolitik im 20. Jahrhundert von Theobald von Bethmann Hollweg bis Joschka Fischer, in: Michael Jonas, Ulrich Lappenküper, Oliver von Wrochem (Hg.), Dynamiken der Gewalt. Krieg im Spannungsfeld von Politik, Ideologie und Gesellschaft, Festschrift für Bernd Wegner, Paderborn 2015, S. 311–328. Deutschlands zweiter Griff nach der Seemacht. Das Scheitern eines nationalsozialistischen Konzepts, in: Stefan Huck (Hg.), Die Kriegsmarine – Eine Bestandsaufnahme (Kleine Schriftenreihe zur Militär- und Marinegeschichte, Bd. 25), S. 19–30, Bochum: Winkler 2016. Das Jahr 1945 und das Kriegsende in Europa 1945. Chaos, Gewalt und Wiederaufbau, in: Hans-Peter Killgus/Martin Lengebach (Hg.), „Opa war in Ordnung!“ Erinnerungspolitik der extremen Rechten (Beiträge und Materialien. Info- und Bildungsstätte gegen Rechtsradikalismus im NS-Dok der Stadt Köln), Köln: NS-Dokumentationszentrum 2016, S. 38–51. Das Jahr 1945 und das Kriegsende in Europa 1945. Chaos, Gewalt und Wiederaufbau, in: Julia Landau/Enrico Heitzer (Hg.), Zwischen Entnazifizierung und Besatzungspolitik. Die sowjetischen Speziallager 1945–1950 im Kontext. Göttingen: Wallstein Verlag 2022, S. 29–42.
Größere publizistische Beiträge
Alte und neue Kriege. Gewaltkonflikte und Völkerrecht seit dem 20. Jahrhundert, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 35/36, 2016, S. 4–10. Online: http://www.bpb.de/apuz/ 232960/alte-und-neue-kriege (wieder abgedruckt in: Universitas Nr. 844, Jg. 71, 2016, Heft 10, S. 76–94; [7.11.2022]). Perspektiven auf Wahrheit. Deutsche Debatten über internationale Kriegsverbrechen nach dem Ersten Weltkrieg, in: José Brunner/Daniel Stahl (Hg.)., Recht auf Wahrheit. Zur Genese eines neuen Menschenrechts (Schriftenreihe Arbeitskreis Menschenrechte im 20. Jahrhundert, hrsg. von Norbert Frei), Göttingen: Wallstein 2016, S. 38–51. Ein „Recht auf Wahrheit“ in der Friedensregelung nach dem Ersten Weltkrieg? In: Christian Bremen (Hg.), Amerika, Deutschland und Europa von 1917 bis heute. Festschrift zum 90. Geburtstag von Klaus Schwabe, Aachen 2022, Bd. 1, S. 207–225 (ausführlichere Fassung des vorangegangenen Aufsatzes). German research on the First World War in a centenary perspective, in: Ventunesimo Secolo 41/2017, S. 38–57. DOI: 10.3280/XXI2017-041004 (7.11.2022) (auch in diesem Band) Der Untergang (2004): Die Fiktion des authentischen Spielfilms, in: Nikolai Hannig, Annette Schlimm. Kim Wünschmann (Hg.), Deutsche Filmgeschichte. Historische Portaits [Festschrift Margit Szöllösi-Janze], Göttingen: Wallstein 2023, S. 228–235.
Größere publizistische Beiträge Die Illusion der betonierten Sicherheit. Prof. Dr. Jost Dülffer im Interview zum neuen Buch über eines der größten Staatsgeheimnisse der Bundesrepublik: den Regierungsbunker an der Ahr (Rüdiger Gottschalk). In: Deutsches Handwerksblatt, Nr. 10, 22. Mai 2008, S. 4. Europas nationale Erinnerungen. Der Opfer und Helden wird nicht gemeinsam gedacht, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 4. Juli 2008, S. 21. Eine erste Fahne für die Vereinten Nationen? Die Geschichte der „Four Freedoms Flag“. In: Vereinte Nationen, 56, Heft 6/2008. S. 263–268 (zusammen mit Sönke Kunkel). https://zeitschrift-vereinte-nationen.de/publications/PDFs/Zeitschrift_VN/VN_ 2008/Heft_6_2008/duelffer_kunkel_beitrag_6-08.pdf (16.11.2022). Ein Museum des Kalten Krieges – oder eine Dokumentation von Teilung und Verflechtung? In: Zeithistorische Forschungen 2/2008, S. 275–283 (Debatte: „Teilung und Befreiung Europas“. Ideen für ein Museum des Kalten Krieges (Juli 2009), http://www.zeithistorischeforschungen.de/16126041-Duelffer-2-2008 (7.11.2022). Mit Stumpf und Stiel. Die Führung der Wehrmacht (...). In: Freitag, 14. Mai 2009 (Auch in: Friedhelm Greis [Hg.], Angriff auf den Frieden. 1939 und der Beginn des Zweiten Weltkriegs, Berlin, Edition Der Freitag 2009, S. 56–63[zur Rolle der Wehrmacht 1939] Westlich und friedlich. (…). In: Aachener Zeitung 20. Mai 2009, Beilage 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland, S. 2 [Interview zur Geschichte der Bundesrepublik, 60 Jahre Grundgesetz].
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Breite gesellschaftliche Diskussion, in: Paul Bauwens Adenauer, Ulrich S. Soénius (Hg.), Der Masterplan für Köln. Albert Speers Vision für die Innenstadt von Köln. Köln 2009, Greven Verlag, S. 191 f. (Sektion: Kommentare). Um des Friedens willen. Vor siebzig Jahren begann mit dem deutschen Einmarsch in Polen der „Schießkrieg“. In: Frankfurter Rundschau, 1. September 2009, S. 35/6, anders gekürzt auch: Sterben für Danzig? Heute vor 70 Jahren begann der Zweite Weltkrieg, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 1. September 2009, S. 23. Der Überfall auf Polen – 70 Jahre danach, in: Wissenschaft und Frieden 27, Heft 4, 2009, S. 5, Online: https://www.wissenschaft-und-frieden.de/seite.php?artikelID=1568 (Gastkommentar) (7.11.2022). Der schwierige Umgang mit der deutschen Vergangenheit, in: Frieden stiften weltweit. Versöhnung und Verantwortung. Dokumentation der Podiumsdiskussion zum Internationalen Friedenstag 2009. Bonn, Altes Rathaus der Stadt Bonn, 20. September 2009, mit Prof. Dr. Jost Dülffer, Marcus Lenzen, Prof. Dr. Christian Schwarz-Schilling, Moderation Dr. Corinna Hauswedell, Bonn 2010, S. 6–9 (und Diskussionsbeitrag zusammengefasst). . Der Einsturz: Folgen und Zukunftserwartungen, in: Bettina Schmidt-Czaia/Ulrich S. Soénius (Hg.), Gedächtnisort. Das Historische Archiv der Stadt Köln. Böhlau Verlag Köln u. a. 2010, S. 128–131. Interview mit dem Kölner Historiker Jost Dülffer, in: Themenheft Propaganda im Nationalsozialismus, in: Geschichte betrifft uns 1/2011, S. 5 f., auch als Video beigefügt. Deutsche Weltpolitik zwischen machtpolitischer Eroberung und kultureller Durchdringung, in: Nadja Cholidis/Lutz Martin (Hg.), Die geretteten Götter aus dem Palast von Tell Halaf. Begleitbuch zur Sonderausstellung des Vorderasiatischen Museums [...] Berlin 2011, Regensburg: Schnell+Steiner 2011, S. 61–66. Im Einsatz für den BND. Der SS-Standartenführer und „Gaswagen“-Massenmörder Walter Rauff wurde der Pullacher Zentrale wärmstens empfohlen: „Ohne Zweifel auch heute noch voller innerer und äußerer Einsatzbereitschaft“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Seite: Ereignisse und Gestalten, 27. September 2011, S. 8. Das Deutsche Reich und der Versailler Vertrag, in: Christoph Brüll (Hg.), Zoom 1920–2010. Nachbarschaften neun Jahrzehnte nach Versailles. Eupen: Grenzecho Verlag 2012, S. 53–71. Ouvertüre zu einer Katastrophe. Vor 70 Jahren befahl Adolf Hitler die endgültige Zerschlagung der Sowjetunion. Ein halbes Jahr später verblutete die 6. Armee bei Stalingrad, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 28. Juni 2012, S. 4. Dreizehn gefährliche Fragen an Oberst Adolf Wicht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Beilage: Bilder und Zeiten, 6. Oktober 2012, S. Z 1 und Z 2 (zu Bundesnachrichtendienst und Spiegel-Affäre 1962). Der Kniefall Willy Brandts, in: Erinnerungsorte der deutschen Sozialdemokratie, onlinePortal: http://erinnerungsorte.fes.de/der-kniefall-willy-brandts/ (November 2012).
Größere publizistische Beiträge
„Die Verluste der Sowjets waren höher“. Historiker Jost Dülffer über die Schlacht von Stalingrad, die vor 70 Jahren mit der deutschen Niederlage zu Ende ging. Kölner StadtAnzeiger, 29. Januar 2013, S. 22 (Interview). Die Anfänge des Arbeitskreises Historische Friedensforschung vor 30 Jahren, in: Arbeitskreis Historische Friedensforschung Rundbrief 1/2014, S. 3–6. Weltblick und Wahrnehmung. Von globaler Vernetzung im Frieden zu regionaler Verengung im Krieg, in: Petra Hesse, Mario Kramp, Ulrich Soénius (Hg.), Köln 1914. Metropole im Westen, Köln: J. P. Bachem Verlag 2014, S. 27–33. Personen der Menschenrechtsgeschichte: Gerhart Baum. Interview zusammen mit Peter Ridder, Daniel Stahl 2014. In: http://www.geschichte-menschenrechte.de/personen/gerhartbaum/ (7.11.2022). Abgedruckt in: Daniel Stahl (Hg.), Quellen zur Geschichte der Menschenrechte. Lebensgeschichtliche Interviews, Göttingen 2022, S. 71–109. Rückfall in den Kalten Krieg? Interview Historiker Jost Dülffer zur Vergleichbarkeit historischer Ereignisse, in: Rheinzeitung (Koblenz), 9. März 2016, S. 20. Online: http://www. ausweichsitz.de/pdf-artikel/2016-03-30.pdf (7.11.2022). Zur öffentlichen Anhörung des Bundestagsausschusses für Kultur und Medien zur Einsetzung einer Unabhängigen Historikerkommission zur Geschichte des Bundeskanzleramtes am 1. Juni 2016, http://www.bundestag.de/blob/426324/ 783b7fe42a42656a8bf876698708fe45/duelffer-data.pdf (7.11.2022). Weltordnungskriege im Ost-West-Konflikt? In: Wissenschaft & Frieden, Heft 4, Jg. 34, 2016, S. 15–18 (Themenheft Weltordnungskonzepte). Das maritime Europa 1918–1945. Zur Einführung, in: Jürgen Elvert/Lutz Feldt/Ingo Löppenberg/Jens Ruppenthal (Hg.), Das maritime Europa. Werte – Wissen – Wirtschaft. Stuttgart: Steiner 2016, S. 179–183. Sozialdemokratische Außenpolitik in der Zeit der Weltkriege. Zur Einführung, in: Bernd Faulenbach/Bernd Rother (Hg.), Außenpolitik zur Eindämmung entgrenzter Gewalt. Historische Erfahrungen der Sozialdemokratien und gegenwärtige Herausforderungen. Essen: Klartext 2016, S. 27–31. Frieden nach dem Ersten Weltkrieg. Chancen und Grenzen, in: Wissenschaft und Frieden, Heft 4, Jg. 36, 2018, S. 39–42. Aktenzeichen BND. Zu Gast bei L. I. S. A. mit Jost Dülffer und Klaus-Dietmar Henke, in: L. I. S. A. – Wissenschaftsportal der Gerda-Henkel-Stiftung. https://lisa.gerda-henkelstiftung.de/aktenzeichen_bnd (Video-Interview vom 14.1.2019; [7.11.2022]). Ambivalenzen der Modernisierung. Köln in den 1960er Jahren, in: Michaela Keim/Stefan Lewejohann (Hg.), Köln 68. Protest, Pop, Provokation. Begleitband zur Ausstellung des Kölnischen Stadtmuseums und der Universität zu Köln. Mainz: Nünnerich & Asmus 2018, S. 38–45. Schuld und Siege. Paris im Vergleich mit anderen großen Friedensschlüssen, in: 1919. Der Vertrag von Versailles und warum er keinen Frieden brachte. ZEIT-Geschichte 1/2019, S. 96–99.
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Schriftenverzeichnis
Auf dem Weg zur bipolaren Welt. Am 4. Februar 1945 trafen sich die „Grossen Drei“ in Jalta – dass dabei die Welt geteilt wurde, ist eine Legende, in: Neue Zürcher Zeitung, 4. Februar 2020, S. 7. „Geschichte als Magd gegenwärtiger Geschichtspolitik“. Interview mit Jost Dülffer über Geschichte und Erinnerung zum Zweiten Weltkrieg, in: L. I. S. A. – Wissenschaftsportal der Gerda-Henkel-Stiftung, https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/zweiterweltkrieg_ jostduelffer (18.2.2020). „Die Kölner hatten allen Grund, Angst zu haben“. Historiker Jost Dülffer über den Terror des Regimes gegen seine Bürger, den Kampf bis zuletzt und die schweren Nachkriegsjahre, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 13.2.2020, S. 12 (Interview). Die Prüfung der Wahrheit [über Holodomor und deutsche Geschichtswissenschaft]. In: https://day.kyiv.ua/ru/article/tema-dnya-podrobnosti/golodomor-ispytanie-pravdoy (russisch), https://day.kyiv.ua/uk/article/tema-dnya-podrobyci/golodomor-vyprobuvan nya-pravdoyu (ukrainisch), 7.5.2020. „Es war ein mutiger Anfang“. Vor 75 Jahren gründete sich die Kölner CDU – Ein Rückblick, in: Kölnische Rundschau 15.6.2020, S. 21 (Interview). Zum Stand der Rezensionen in den Geschichtswissenschaften. Einige Beobachtungen als Teilnehmer, in: Forum H Soz Kult Buchrezensionen in den Geschichtswissenschaften: http://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-5205 (3.7.2021). Ein deutsch-russischer Sonderweg? 100 Jahre Vertrag von Rapallo zwischen dem Deutschen Reich und Sowjetrussland, in: Konrad-Adenauer-Stiftung, Publikationen: https://www. kas.de/de/einzeltitel/-/content/ein-deutsch-russischer-sonderweg (15.4.2022). Friedensbaustein oder Teufelspakt? In: Kölner Stadt-Anzeiger 13.4.2022, S. 4 (Meinung) (Kurzfassung des vorherigen Artikels).
Literaturberichte und größere Rezensionen Rez. zu Helmut Volger, Geschichte der Vereinten Nationen, 2. Aufl., in: Vereinte Nationen. Zeitschrift für die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen. Heft 4, Jg. 56, 2008, S. 183/4. „Komfortabel in der NS-Zeit eingerichtet“. Kölner Historiker zum neuen Band der Stadtgeschichte über die Jahre 1933 bis 1945. In: Kölnische Rundschau, 14. November 2009, S. 40 (zu Matzerath, Köln in der Zeit des Nationalsozialismus) (erweitert in: Geschichte in Köln 57, 2010, S. 268–271). Rez. zu Mark Mazower, No Enchanted Palace. The End of Empire and the Ideological Origins of the United Nations, in: Vereinte Nationen. Zeitschrift für die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen. Heft 1, Jg. 59, 2011, S. 36/37. Rez. zu Thomas Giegerich, Hg., A Wiser Century? Judicial Dispute Settlement. Disarmament and the Laws of War 100 Years after the Second Hague Peace Conference, in: Die Friedenswarte, 86, 2011, S. 274–277.
Literaturberichte und größere Rezensionen
Rez. zu Timothy Snyder, Bloodlands und weitere Arbeiten zum deutschen Ostkrieg, in: Osteuropa 61, Heft 8./9. September 2011, S. 365–369. Rez. zu Marc Trachtenberg, The Cold War and After: History, Theory, and the Logic of International Politics, Princeton 2012, Roundtable von H-Diplo, zusammen mit Robert Jervis, Richard K. Betts, Stephen A. Schuker: http://www.h-net.org/ diplo/ISSF/PDF/ISSFRoundtables-4-1.pdf, hier S. 9–12 (7.11.2022). Ost-West-Konflikt und Globalisierung. Neue Forschungen zum Kalten Krieg, in: Mittelweg 36, Nr. 4, August/September 2013, S. 57–76 (Literaturbeilage). Die geplante Erinnerung. Der Historikerboom um den Ersten Weltkrieg, in: Totentanz. Der Erste Weltkrieg im Osten Europas, in: Osteuropa 64, Heft 2–4, 2014, S. 351–367.https:// www.zeitschrift-osteuropa.de/hefte/2014/2-4/die-geplante-erinnerung/ (7.11.2022). 100 Jahre Erster Weltkrieg. Eine Bilanz des Jahres 2014. In: Osteuropa 64, Heft 11/12, 2014, S. 45–58 (erschienen Februar 2015). https://www.zeitschrift-osteuropa.de/hefte/2014/1112/100-jahre-erster-weltkrieg/ (7.11.2022). Die letzten Jahre der Außenpolitik de Gaulles, in: Francia 42, 2015, S. 387–395. Rez. zu Plesch/Weiß, Wartime Origins and the Future of the United Nations, in: Vereinte Nationen, Heft 5, 61 (2015), S. 231 f. Rez. zu Peter Brandt, „Freiheit und Einheit“. In: Jahrbuch Extremismus und Demokratie 30, 2018, S. 335–338. Ein überforderter Frieden. Der Versailler Vertrag nach hundert Jahren. Fehlerhaft, aber besser als sein Ruf, in: Kölner Stadt-Anzeiger 12. April 2019, S. 20. Erster Weltkrieg und prekärer Frieden. Neue Bücher zum Jahrestag der Friedensschlüsse, in: Osteuropa 1/2, 2019, S. 177–194.
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Verzeichnis der ursprünglichen Druckorte
Der Erstdruck erfolgte in nachstehenden Publikationen. Die Herausgeber danken den Verlagen für die freundliche Genehmigung zum Wiederabdruck der Beiträge.
Völkerrecht und Internationale Geschichte Recht, Normen und Macht. In: Jost Dülffer, Wilfried Loth (Hg.), Dimensionen Internationaler Geschichte, München: Oldenbourg Verlag 2012 (Studien zur Internationalen Geschichte, 30), S. 169–187. Die Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht und die Friedensregelungen nach den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. In: Jörg Fisch (unter Mitarbeit von Elisabeth MüllerLuckner) (Hg.), Die Verteilung der Welt. Selbstbestimmung und Selbstbestimmungsrecht der Völker. The World Divided. Self-Determination and the Right of Peoples to SelfDetermination, München 2011 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, 79), S. 113–139. Humanitäre Intervention, Menschenrechte und die Legitimation von Gewalt. Der deutsche Weg in den Zweiten Weltkrieg 1937/1939. In: José Brunner, Doron Avraham, Marianne Zepp (Hg.), Politische Gewalt in Deutschland. Ursprünge – Ausprägungen – Konsequenzen, Göttingen 2014 (Tel Aviver Jahrbuch für Deutsche Geschichte, 42), S. 91–109. The United Nations and the Origins of the Genocide Convention 1946–1948. In: Christoph Safferling/Eckart Conze (Hg.), The Genocide Convention: 60 Years after its Adoption, Den Haag 2010, S. 55–68. Menschenrechte in den Außenbeziehungen der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989. Ein Aufriss. In: Stefanie Coché/Hedwig Richter (Hg.), Legitimierung staatlicher Herrschaft in Demokratien und Diktaturen. Festschrift für Ralph Jessen, Bonn 2020 (Politik und Gesellschaftsgeschichte, 110), S. 115–137. Völkerrecht im Ost-West-Konflikt 1945–1991 Die Sicht eines Historikers. In: Ulrich Lappenküper, Reiner Marcowitz (Hg.), Macht und Recht. Völkerrecht in den internationalen Beziehungen, Paderborn 2010 (Otto von Bismarck Stiftung, Wissenschaftliche Reihe, 13), S. 251–269.
Friedensbewegungen und Friedensbedingungen Global Governance und Weltregierung seit dem 19. Jahrhundert. Ein Aufriss. In: Stephan Stetter (Hg.), Leben in der Weltgesellschaft – Regieren im Weltstaat. To Live in World
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Verzeichnis der ursprünglichen Druckorte
Society – To Govern in the World State, München: Universität der Bundeswehr 2014 (Schriftenreihe der Universität der Bundeswehr München, 07), S. 62–69. Friedensschlüsse und Friedlosigkeit 1945–1990. In: Gerd Althoff, Eva-Bettina Krems, Christel Meier, Hans-Ulrich Thamer (Hg.), Frieden. Theorie, Bilder, Strategien. Von der Antike bis zur Gegenwart, Dresden 2019, S. 330–345, hier unter: Friedensschlüsse, Friedlosigkeit und Friedensrituale 1945–1990. Friedensbewegungen in der Bundesrepublik Deutschland 1945–2005. Ein knapper Versuch. In: Detlef Bald (Hg.), Schwellen überschreiten. Friedensarbeit und Friedensforschung. Festschrift für Dirk Heinrichs, Essen 2005 (Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensarbeit und Friedensforschung, 4), S. 117–126 (stark erweitert). The Democratic Peace Controversy in Retrospect as a „Civilizing Mission“? A Theory Revisited. In: Boris Barth, Rolf Hobson (Hg.), Civilizing Missions in the 20th Century, Leiden 2020 (Studies in Global Social History, 40), S. 142–176. Krieg, Frieden und Umwelt. Staat und soziale Bewegungen in Deutschland seit 1945. Vortrag Berlin 2019, unveröffentlicht.
Geschichte und Geschichtsschreibung „Pax Optima Rerum“: Friedenswahrung als Thema der Geschichtswissenschaft. Vortrag Kiel 2015, unveröffentlicht. German research on the First World War in a centenary perspective. In: Ventunesimo Secolo 41 (2017), S. 38–57. Politische Geschichtsschreibung der „45er- Generation“. Von der Militärgeschichte des Zweiten Weltkriegs zur kritischen Zeitgeschichte (1950–1970). In: Christoph Cornelißen (Hg.), Geschichtswissenschaft in der Demokratie. Wolfgang J. Mommsen und seine Generation. Berlin 2010, S. 45–60. Andreas Hillgruber – Deutsche Großmacht, deutsche Frage und NS-Verbrechen. In: Hans Ehlert (Hg.), Deutsche Militärhistoriker von Hans Delbrück bis Andreas Hillgruber, Potsdam 2010 (Potsdamer Schriften zur Militärgeschichte, 9), S. 69–84, hier erweitert als: Politische Geschichte, deutsche Frage und NS-Verbrechen.