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German Pages 574 Year 2017
Veronika Österbauer Freiheit und Nation
Lettre
Veronika Österbauer (Dr. phil.), geb. 1987, lehrt und forscht im Bereich der iberoromanischen Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Salzburg, wo sie Politikwissenschaft und Romanistik studierte. Neben dem literarischen Nation Building beschäftigt sie sich vor allem mit dem Verhältnis von literarischem, religiösem und wissenschaftlichem Schreiben im 17. Jahrhundert in Neuspanien.
Veronika Österbauer
Freiheit und Nation Die generación de 1837 und die narrative Konstruktion Argentiniens
Dieser Band wurde mit Unterstützung der Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg und des Fachbereichs Romanistik der Universität Salzburg gedruckt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort | 7 Einleitung | 9 Freiheit – Staat – Nation | 37
Freiheit – Staat – Nation | 37 Freiheit – Staat – Nation | 45 Freiheit – Staat – Nation | 64 Konklusion und Systematisierung: Freiheit – Staat – Nation | 76 Freiheit – Staat – Nation in Argentinien (1810-1880) | 81 Nation – Identität – Erzählung | 97 Nation – Identität – Erzählung | 97 Nation – Identität – Erzählung | 110 Nation – Identität – Erzählung | 129 Konklusion: Nation – Identität – Erzählung | 181 Liberalismus, Nation(alismus) und literarische Erzählung | 187 Liberalismus und Nation(alismus) – Ein Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft? | 187 Freiheitsdimensionen und ihr Verhältnis zu Staat und Nation – Eine Systematisierung | 193 Liberalismus, Nation(alismus) und politische Legitimität | 201 Die Erzählung liberaler Subjektivität | 203 Herausbildung des liberalen Subjekts und literarische Öffentlichkeit | 205 (Literarische) Öffentlichkeit in Hispanoamerika | 209 Öffentlichkeit am Río de la Plata als Bedingung für Liberalismus und Nation(alismus) | 213 Liberalismus, Nation(alismus) und Roman | 223 Analyse ausgewählter politischer Texte der generación del 37 | 235
Esteban Echeverría | 235 Juan Bautista Alberdi | 265 Bartolomé Mitre | 290 Domingo Faustino Sarmiento | 303 José Mármol | 324 Freiheit und Nation: Gegenüberstellung und Systematisierung der analysierten Texte | 331
Analyse ausgewählter literarischer Texte der generación del 37 | 341
Esteban Echeverría | 341 Domingo Faustino Sarmiento | 364 Bartolomé Mitre | 409 José Mármol | 430 Juan Bautista Alberdi | 471 Konklusion | 505 Konklusion | 511 Interpretation und theoretische Einbettung der Ergebnisse | 511 Fazit | 536 Anhang | 541
Analyseschema 1 (politische Texte) | 541 Analyseschema 2 (literarische Erzählungen) | 542 Literatur | 547 Primärliteratur | 547 Sekundärliteratur | 548
Vorwort
Dieses Buch ist eine überarbeitete und gekürzte Fassung meiner Dissertation, die im August 2016 an der Universität Salzburg approbiert wurde. Ihre Entstehung und Drucklegung wurden mit großem Engagement von mehreren Personen begleitet und unterstützt, von denen ich einigen persönlich danken möchte. Meinen aufrichtigen Dank möchte ich zunächst der Universität Salzburg und dem Fachbereich Romanistik an dieser Universität aussprechen: nicht nur für die finanzielle Unterstützung vonseiten der AG Literarische Moderne des Fachbereichs Romanistik und der Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Universität Salzburg, die gemeinsam die Drucklegung dieser Dissertation maßgeblich gefördert haben, sondern auch für ein bereicherndes, unterstützendes und inspirierendes institutionelles Umfeld. Für jede erdenkliche Unterstützung in den unterschiedlichen Phasen von der Themenfindung bis zur Drucklegung danke ich herzlich Christopher F. Laferl, der dieses Projekt mit viel Zeit und Engagement betreut hat und sehr viel zum Gelingen und zur Freude an dieser Arbeit beigetragen hat. Vielmals danken möchte ich auch meinem Zweitbetreuer Stephan Kirste für die von Beginn an anregenden Gespräche und seine Offenheit für ein romanistisches Thema aus interdisziplinärer Sicht. Für wertvolle Gespräche, fachlichen Rat und kritische Anregungen zu unterschiedlichen Phasen des Arbeitsprozesses möchte ich mich außerdem herzlich bei Arno Strohmeyer, Álvaro Kaempfer, Graciela Batticuore, Nicolas Shumway, Susanne Klengel, Susanne Winter und Michael Rössner bedanken. Marietta Calderón Tichy danke ich sehr für ihre Hilfsbereitschaft. Für ihre Unterstützung und ihr Vertrauen danke ich ganz besonders meinen Eltern, meiner Schwester Maria und meinen Großeltern. Mit vielen lieben Worten unterstützt und mit Verständnis und Wertschätzung begleitet haben mich Anne Wolfsgruber und Stefanie Guserl sowie Angelika Schnellberger, Alexander Engelsberger, Christiana Hug, Birgit Füreder, Mariya Donska, Christoph Hülsmann, Susanne Behensky, Kathrin Gärtig und Karl Hochradl. Ihnen sei von Herzen gedankt. Danken möchte ich auch Birgit Wimplinger-Vocht, die mit Umsicht und Professionalität die äußeren Rahmenbedingungen für die Fertigstellung der Dissertation im Frühjahr 2016 geschaffen hat. Dem transcript Verlag und besonders Annika Linnemann danke ich sehr für die freundliche und kompetente Betreuung während der Manuskripterstellung.
Einleitung
Als sich Argentinien mit der Mairevolution (1810) und der in ihrer Folge erreichten Unabhängigkeit vom Mutterland Spanien1 im Jahre 1816 löste, erfolgte im Zuge der Staaten- und Nationenbildung eine Neuordnung der Beziehung zwischen Individuum und Kollektiv und deren Position in der gesellschaftlichen, rechtlichen und politischen Ordnung. Die Identität des/der Einzelnen und auch seine/ihre Beziehung zum Anderen wurden mit dem Übergang von der Kolonie zur eigenständigen Republik, vom Untertan zum Staatsbürger, neu bestimmt. Vor Erlangung der Unabhängigkeit existierte Argentinien weder als Land, noch als Idee und selbst gut 20 Jahre später kann noch nicht von ‚nationaler‘ Identität die Rede sein. Die junge Republik stand vor offenen Fragen der Staatenbildung auf allen drei wesentlichen Ebenen (Staatsvolk, Staatsgebiet, Staatsgewalt), die in der Forschungsliteratur erst mit dem Jahr 1880, der Konsolidierung des Nationalstaates, als gelöst angesehen werden. Entstehungskontext Nicolas Shumway (1991) beschreibt die Bevölkerungsstruktur des Gebiets des heutigen Argentiniens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – gewissermaßen die Ausgangslage für das unabhängige Argentinien – mit folgenden Worten: „[…] a land of isolated settlements, autonomist townsmen, nomad gauchos, relatively docile employees and estancieros, unconquered Indians, minimal economic and political development – and no sense of national destiny.“ (Shumway 1991: 12). Am Ende der Kolonialzeit unterstand Argentinien zwar der spanischen Krone, doch hatte es wenig Kontakt mit der weit entfernt gelegenen Metropole (Shumway 1991: 9). Auch wenn das Verhältnis zwischen Krone, Vizekönig, audiencias und cabildos rechtlich genau definiert war, so entsprach die Realität im Gebiet des Río de la Plata kaum der Komplexität der Theorie. In entlegeneren Gebieten waren die cabildos die eigentlichen Regierungsorgane, bestehend aus Mitgliedern der Oberschicht und lokalen Eliten. Als diese nach erreichter Unabhängigkeit aufgelöst wurden, verblieb die Herrschaft
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Zu den vielfältigen Gründen für die zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzenden Unabhängigkeitsbewegungen in Hispanoamerika, im Verlauf derer Spanien den überwiegenden Großteil der Überseegebiete in Amerika verlor – nur Kuba und Puerto Rico verblieben vorerst bei Spanien (König 2012: 577) – vgl. Rinke/Schulze 2012, Rinke 2010, König 2012, Davies et al. 2006, Halperín Donghi 2003, Breña 2003, Centeno 2002, Lynch 2001, Jumar 2006, Brading 1991.
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bei der lokalen Elite, meist nun bei den caudillos2. (Shumway 1991: 9-11) Die bereits zuvor bestehenden Souveränitätskonflikte brachen auf neue Art und Weise auf. Revolutionäre wie loyale Verwaltungseinheiten versuchten ihrerseits Kontrolle über einzelne Regionen zu erlangen. Jegliche Zentralisierungsbestrebungen trafen auf den Widerstand lokaler Eliten, die um ihre Autonomie besorgt waren. „This resulted in a disastrous combination of a supra-national military with regional political authority.“ (Centeno 2002: 66). Die Befreiungsheere waren keine staatliche Armeen, die für nationale Einheit kämpften, sondern überregionale Truppen, die einem individuellen Anführer folgten und sich gegen jegliche staatliche Macht richteten. Die argentinischen Provinzen unterhielten ihrerseits reguläre Heere (Deas 2002: 82). Noch 50 Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung hatten regionale, bürgerkriegsartige Konflikte Bestand. Die internen Konflikte des unabhängigen Argentiniens hatten auch eine wirtschaftliche Dimension. Buenos Aires kann als Handels- und Verteilungszentrum angesehen werden, das aber lokale Eliten nicht zu kontrollieren im Stande war. Erschwerend kommt hinzu, dass die Transportwege teuer und beschwerlich waren – der Transport erfolgte über von Mulis gezogene Karren oder Segelschiffen auf den Flüssen und die Kommunikation zwischen den Städten war nur mithilfe von Boten, den chaquis, möglich (López Göttig 2006: 7, 8). Die Küstenprovinzen (Santa Fe, Entre Ríos, Corrientes) und die Provinzen des Landesinneren waren von den Kriegen stärker geschwächt worden und standen nun der Dominanz Buenos Aires’ gegenüber, das ein Schifffahrts- und Handelsmonopol mit entsprechenden Zollauflagen durchzusetzen gedachte. Zwischen den einzelnen Provinzen bestanden hohe Binnenzölle (López Göttig 2006: 8). 1830 forderte daher die Provinz Corrientes die Nationalisierung der Zolleinnahmen, die Liberalisierung der Flussschifffahrt und die Öffnung anderer Häfen als Buenos Aires für den Außenhandel sowie protektionistische Maßnahmen für die heimische Industrie, was Buenos Aires ausschlug. (Martínez Díaz 1998: 227, 228) Darüber hinaus können ethnische Spannungen als Faktoren für die anarchischen Zustände nach erreichter Unabhängigkeit in Argentinien genannt werden. Im 19. Jahrhundert existierten sogenannte repúblicas indias – Gebiete, in denen indigene Gruppen autonom und ohne Einbindung in die staatliche Struktur lebten. Diese galten vielen Liberalen in Hispanoamerika als Hindernis zur Nationenbildung: „The idea of two (if not more) nations haunted the nineteenth century.“ (Centeno 2002: 69). Der Gedanke sollte zum gewaltsamen Vorgehen gegen indigene Siedlungen3 le2
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Die Zentralisierung und Befriedung Argentiniens sieht Centeno (2002) erst mit den Jahren 1880/1881 erreicht. (Centeno 2002: 57, 61-67) „For much of the first 75 years of Independence, Latin America’s critical political actor was not the institutionalised authority of the state, but the much more personalised rule of the caudillo.“ (Centeno 2002: 73). Auch Sarmiento plädierte ab 1860 für eine Auslöschung aller ‚barbarischen Elemente‘ in Argentinien und nahm eine rassistische Haltung gegenüber den gauchos und der indigenen Bevölkerung ein, tolerierte aber ‚zivilisierte‘ caudillos. Ahrensdorf (2004) meint, Sarmiento habe den Liberalismus als Kunst verstanden, die erlernt werden könne und nicht biologisch oder kulturell determiniert sei. Aus diesem Grund sei ihm die liberale Bildung ein so großes Anliegen gewesen. Jede Nation könne zivilisiert werden, aber auch dem Barbarismus zum Opfer fallen. (Ahrensdorf 2004: 35, 36) Die unterschiedliche Sichtweise könnte
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gitimieren (Centeno 2002: 67-69). Nach erreichter Unabhängigkeit war mehr als die Hälfte des Gebietes des heutigen Argentiniens außerhalb der Reichweite staatlicher Kontrolle, wenn man von den Enklaven an der patagonischen Küste absieht. Zu den unkontrollierten Gebieten zählte weitgehend alles, was südlich von Buenos Aires liegt4 und die territorios chaqueños5 im Norden. Die innere Grenze wurde auch institutionell als solche gehandelt: So war für die indígenas de frontera das Außenministerium zuständig. Da die Bevölkerungsgruppen der unkontrollierten Gebiete nicht als politische Subjekte anerkannt wurden, sah man die entsprechenden Regionen als Niemandsland6 an. (Quijada Mauriño 2005b: 834, 835) Schon im Jahre 1833 hatte Juan Manuel de Rosas in der Campaña del Desierto Gebiete der indigenen Bevölkerung erobert (Martínez Díaz 1998: 229). Infolge des Wüstenkriegs (1879) schrumpfte die geschätzte Zahl an Indigenen schließlich von 5% der Gesamtbevölkerung im Jahre 1869 auf 0,7% im Jahre 1895 (Miller 1999: 163). Die zu dieser Zeit bestehenden Loyalitätsbeziehungen innerhalb des Staates lassen keinen Schluss auf ein wie auch immer geartetes Gefühl von Zusammengehörigkeit ‚der Argentinier/innen‘ zu – eine Bezeichnung, die erst ab 1830 für die Bevölkerung des gesamten Territoriums üblich wurde7: Die Unabhängigkeitsbewegung hatte
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auch mit der Veränderung der Ansichten Sarmientos im Laufe seines Lebens zu tun haben. Denn wie Katra (1996) zeigt, lassen sich v.a. in den Briefen Sarmientos während Mitres Präsidentschaft rassistische Ideen belegen. Patagonien, die heutige Provinz La Pampa und ein großer Teil der heutigen Provinz Buenos Aires (López Göttig 2006: 7). Formosa, Chaco und der Norden von Santa Fe (López Göttig 2006: 7). Der in Argentinien übliche, metaphorische Begriff für die ‚leeren‘ Gebiete ist jener der ‚Wüste‘ (desierto). Rosenblat (1964) zufolge leitet sich der Begriff ‚Argentina‘ etymologisch aus dem lateinischen ARGENTUM (‚Silber‘) ab, das sich auf den Fluss Río de la Plata bezog, der seinen Namen erst nach mehrmalig wechselnder Bezeichnung erhalten sollte (Rosenblat 1964: 918). Bis 1602 war der Begriff ‚Argentina‘ lediglich im Titel eines Gedichts von Martín del Barco Centenera in Verwendung, der anstatt ‚rioplatense‘ den latinisierenden Terminus ‚argentino‘ benutzte (Rosenblat 1964: 19, 20). Später sollte er v.a. in der Dichtung, nicht aber in der Allgemeinsprache in Gebrauch sein und bezeichnete selbst zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch die spanische Bevölkerung, die in diesem Gebiet lebte (Chiaramonte 1989: 85, 86; Chiaramonte 2008: 70). Als Landesbezeichnung war ‚Argentina‘ auch 1776, als das Vizekönigreich gegründet wurde, noch nicht üblich, wie die Benennung ‚Virreinato del Río de la Plata‘ oder auch ‚Virreinato de Buenos Aires‘ zeigt (Rosenblat 1964: 36). Unter der Präsidentschaft Rivadavias waren ab 1826 neben anderen Bezeichnungen auch ‚Nación Argentina‘ und ‚República Argentina‘ in Gebrauch (Rosenblat 1964: 65). Die Verfassung von 1853 ist mit ‚Constitución de la Confederación Argentina‘ betitelt (Rosenblat 1964: 75). Aber noch 1860 wird die Rückkehr zu ‚Provincias Unidas del Río de la Plata‘, nicht zuletzt in Abgrenzung zum Regime unter Rosas, das die Bezeichnung ‚Confederación Argentina‘ benutzte, diskutiert. Was die Einwohner Argentiniens betrifft, so existierte vor 1810 kein spezifischer Begriff zur Benennung der Bewohner des Vizekönigreiches. Vielmehr differenzierte man diese nach ihrer ethnischen Herkunft (Rosenblat 1964: 50). Wollte man Kreolen von Spaniern unterscheiden, so griff man auf das Adjektiv ‚americano‘, nicht ‚argentino‘, zurück (Chiaramonte 1989: 86). In den Truppen der Unabhängigkeitsbewe-
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keine nationale, sondern eine hispanoamerikanische Dimension. Nachdem die Kreolen – jene Nachfahren von Spanier/innen, die in der ‚Neuen Welt‘ geboren worden waren – zunächst ihre Loyalität Ferdinand VII. gegenüber bekundeten, formierten sich 1810 in Buenos Aires, Caracas, Bogotá und Santiago de Chile eigene Juntas (Brading 1991: 541). Auch sie bekannten sich anfangs noch zum spanischen König Fernando VII. Am 14. März 1816 schrieb die bonaerenische Zeitung El Censor, dass „[…] man auch sechs Jahre nach der Revolution noch immer nicht wisse, ‚wer und was‘ man sei, daß es noch keine Verfassung gäbe, von der her man das politische und soziale Dasein bestimmen könne, und daß man nach wie vor, auch wenn das Gegenteil behauptet würde, das eigene ‚Land‘ nicht kennen würde. [Anführungszeichen im Original]“ (Riekenberg 1995: 29)
Neben dem Fortbestand der Identifikation mit der spanischen Krone waren panamerikanische, vorwiegend aber lokale Identitätsmodelle dominant (Wasserman C. 2011: 100, Wink 2009: 81, Halperín Donghi 2003: 38, Chiaramonte 1989: 72). Auch die argentinische Staatenbildung war nicht von einem Nationalbewusstsein getragen. Der Versuch, eine Verfassung zu erlassen, scheiterte mehrmals vor dem Kontext der lokalen Machtkämpfe und Bürgerkriege sowie der strittigen Frage, wer Souverän sein sollte. Sollte Argentinien eine zentralistische oder eine föderale8 Republik werden? Sollte sie gar konföderal organisiert sein, um die Souveränität der Provinzen zu wahren? Im Wesentlichen9 lassen sich die divergierenden Vorstellungen zur politischen Organisation des Staats auf die Positionen der Unitarier und Föderalen, der beiden einander gegenüberstehenden ‚Parteien‘, zurückführen: Versuchten letztere die Souveränität der ‚Völker‘ (pueblos) im neu entstandenen Staat zu schützen und bevorzugten sie daher aufgrund des höheren Autonomiegrades eine Konföderation, so ver-
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gung sollte sich die Bezeichnung ‚argentino‘ selbst bis Junín und Ayacucho erstrecken (Chiaramonte 1989: 87, 88). Im Anschluss und jedenfalls bis 1817 spiegelten sich die Rivalitäten zwischen den Provinzen auch in der Bezeichnung ihrer Einwohner. ‚Argentino/a‘ sollte dementsprechend bis 1830 ausschließlich für die Einwohner/innen von Buenos Aires verwendet werden. Es ist hinzuzufügen, dass die Begriffe ‚federación‘ und ‚confederación‘ teilweise anders verwendet wurden als dies heute geläufig ist: Bis zum Erscheinen der Federalist Papers 1787/1788 war in den Vereinigten Staaten der synonyme Gebrauch von Föderation und Konföderation vorherrschend. In den Federalist Papers bedeutete schließlich ‚föderal‘ eher konföderal, während ‚national‘ den Föderalstaat bezeichnete. Diese Bedeutungen sollten auch in Argentinien üblich werden. (Chiaramonte 2004: 70) Chiaramonte und Souto (2005) teilen die Entwicklung der Opposition unitario vs. federal zwischen der Mairevolution und der Verabschiedung der Verfassung von 1853 in zwei Phasen. Erstere erstreckt sich bis 1830 und ist durch den Konflikt zwischen Zentralisten und Autonomisten gekennzeichnet. Dieser geht ab 1820 über in die Konfrontation zwischen Unitarier und Föderale. Auch Ferrero (2004: 19) unterscheidet zwischen dem Zentralismus von Moreno (einem revolutionären Zentralismus) und jenem von Rivadavia (einem unitarischen Zentralismus). Während sich ersterer gegen die spanische Kontrarevolution durchzusetzen hatte, so versuchte Rivadavia vor dem Kontext der bereits erreichten Unabhängigkeit die ländliche Bevölkerung der Provinzen der städtischen aufgeklärten Minderheit zu ‚unterwerfen‘.
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traten die Unitarier die Lehre von der Unteilbarkeit der Souveränität, da sie befürchteten, ein hoher Grad an Fragmentierung führe zu anarchischen Zuständen. (Chiaramonte 2004: 13) Im Jahre 1820 eskalierten die internen Konflikte und Argentinien geriet in einen Zustand der Anarchie. Mehrere Provinzen schlossen untereinander pactos. Es bildeten sich unabhängige Republiken mit ländlichen Bürgerwehren unter der Führung regionaler caudillos, die selbst Buenos Aires bedrohten. (Martínez Díaz 1998: 230) Ab 1831 ist Argentinien mit dem Pacto Federal de 1831 ‚föderal‘ dominiert und wird zur Konföderation, nachdem 1828 der vierte Versuch10, eine gemeinsame Verfassung für alle argentinischen Provinzen zu erlassen, gescheitert war und man dazu überging, diese als souveräne Staaten anzuerkennen und deren Beziehungen durch das internationale Recht zu ordnen. Der Provinz entsprach dabei eine unabhängige, souveräne Einheit. (Chiaramonte/Souto 2005: 322, 325; Marquardt 2008: 106, 107). Am 6. Dezember 1829 wurde Juan Manuel de Rosas zum Gouverneur von Buenos Aires bestellt, mit umfangreicher (diktatorialer) Macht und dem Auftrag, die Ordnung wiederherzustellen, ausgestattet. Rosas stützte sich auf die Gruppe der estancieros, der er selbst angehörte und die nicht nur im Besitz wichtiger Ressourcen des Landes, sondern auch paramilitärischer Truppen waren. Anders als dies von einem estanciero zu erwarten gewesen wäre, regierte er zentralistisch mit Hegemonieanspruch von Buenos Aires, obwohl er offiziell die Ideale der Föderalen vertrat11 (Ribas 2000: 135). Nichtsdestotrotz mussten die Provinzen schon allein aus ökonomischen Gründen Souveränität an die Regierung von Buenos Aires abgeben. Rosas gelang es mittels Zwang und Diplomatie das Zusammenspiel der Provinzen zwischen 1831 und 1841 zu stabilisieren, mit Ausnahme der Küstenprovinzen, die einen Teil der Zolleinnahmen, Handelsrechte und Autonomie einforderten. Kulturell repräsentierte Rosas u.a. die gauchos, denen er aber keine politische Macht und Mitsprache zuerkannte. Wenn er auch die Kräfte des Volkes beschwor, so ruhte seine Machtbasis auf der Kontrolle über Verwaltung, Polizei und Militär und der Loyalität anderer estancieros, die wiederum ihre eigenen Truppen kontrollierten. Von 1829 bis 1832 verfügte Rosas über absolute Macht12, die nach einem Interregnum wiederum in eine unlimitierte, totale Herrschaft ab 1835 münden sollte, die er bis 1852 verteidigen konnte. Zur gesellschaftlichen Kontrolle wurde die Sociedad Popular Restauradora, eine paramilitärische Organisation, eingesetzt, deren bewaffneter Teil die mazorca war. Die bürgerlichen Freiheiten wurden abgeschafft, die Opposition wurde durch Einschüchterung, Zensur und Terror zum Schweigen gebracht. Neben den Unitariern, von denen viele bereits in den 20er Jahren geflohen waren, musste auch die Opposition innerhalb der Föderalen, v.a. die federales doctrinarios, die für die Verabschiedung einer Verfas10 Vgl. dazu Ferrero 2004, Ribas 2000. 11 Die 13 Provinzen Argentiniens wurden zwar Teil der Confederación de las Provincias Unidas del Río de la Plata, verfügten aber über unabhängige Regierungen und waren weder durch eine Verfassung noch einen formellen Zusammenschluss vereint. 12 Zwar wurde formell ein Repräsentantenhaus mit 44 Abgeordneten gewählt, deren Hälfte jährlich neu bestellt wurde. Die Gruppe der Wähler war jedoch verschwindend gering und die Funktionen des Repräsentantenhauses, das über keine legislativen Instrumente noch über finanzielle Kontrolle verfügte, äußerst beschränkt. (Martínez Díaz 1998: 230-234, 297)
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sung und individuelle Freiheit eintraten, ins Exil gehen. (Feinmann 2010: 87) Trotz Repression formierten sich oppositionelle Gruppen, wie etwa 1839 bei einer von Montevideo aus organisierten Verschwörung gegen Rosas deutlich wurde. Auch die Großgrundbesitzer des Südens, deren Exportwege abgeschnitten waren, können als Gegner des Regimes genannt werden. Als zwischen 1839 und 1842 Frankreich intervenierte und die unitarische Revolte unterstützte, wurde der Höhepunkt des Terrors gegen politische Gegner erreicht. (Martínez Díaz 1998: 230-234, 297) Die generación del 37 Die generación del 37 war eine Gruppe an Schriftstellern, die sich während der Rosas-Diktatur zunächst im Salón Literario und bald darauf im Geheimbund Joven Argentina versammelte und ein politisches Programm im Widerstand gegen Rosas entwickelte. Laut Shumway (1991) bezieht sich der Name generación del 37 auf den im Jahre 1837 eröffneten Salón Literario, der junge Menschen versammelte, die die Liebe zur Schönheit und zur Freiheit miteinander verband; sie trafen sich zunächst, um zu lesen und zu diskutieren, wie Juan María Gutiérrez in seinen Noticias biográficas schreibt (Shumway 1991: 126). Ab 1835 versammelten sich die Studierenden im Gabinete de lecturas der Buchhandlung von Marcos Sastre, der als eine Art öffentliche Bibliothek für Werke und Zeitschriften v.a. auf Spanisch, Französisch, Englisch und Italienisch, die ansonsten schwer erhältlich waren, diente (Weinberg 1977: 61). Am 23. Juni 1837 eröffnete Marcos Sastre schließlich den Salón Literario13, der ein gemischtes Publikum aufwies, das sich mindestens zweimal wöchentlich traf (Weinberg 1977: 61). Neben den jungen, liberalen Romantikern nahmen auch ältere Intellektuelle teil, die mitunter andere ästhetische und politische Überzeugungen vertraten, etwa der neoklassische Dichter der argentinischen Nationalhymne Vicente López y Planes oder Pedro de Angelis, der als offizieller Schriftsteller der Föderation galt. Neben literarischen und philosophischen Fragen wurden auch Themen aus Wirtschaft, Politik und Sozialem diskutiert (Katra 1996: 48). Die Treffen des Salón Literario wurden im Jänner 1838 aufgrund des politischen Klimas eingestellt. Sastres Unterstützung für Rosas, die eine Schließung des salón nicht abwenden konnte, hatte zudem zu einem Bruch mit Echeverría, Alberdi und Gutiérrez geführt (Katra 1996: 49). Echeverría, Alberdi, Mármol, aber auch Miguel Cané, Frías und Fidel López hielten daraufhin am 23. Juni 1838 ein geheimes Treffen ab. Daraus ging am 9. Juli 1838 die von Echeverría gegründete Joven Generación Argentina (kurz Joven Argentina) hervor, die sich an den Vorbildern des Jungen Italien und Jungen Europa von Joseph Mazzini und des Jungen Spanien (Weinberg 1977: 69; Wasserman F. 1998: 34) orientierte 13 Weitere Mitglieder waren Juan María Gutiérrez, Manuel José Quiroga Rosas, Juan Thompson, Félix Frías, Miguel Irigoyen, Demetrio und Jacinto Rodríguez Peña, Avelino Balcarce, Gervasio Antonio Posadas, Carlos Tejedor, Pastor Obligado, José Mármol, Jose Pedro Esnaola und Santiago Viola, um nur einige zu nennen. Darüber hinaus gab es Mitglieder, die zwar nicht anwesend, aber Teil der Bewegung waren, etwa Marco Avellaneda in Tucumán, Pío Tedín in Salta, Miguel Cané, Bartolomé Mitre und Andrés Lamas in Montevideo und Florencio Balcarce in Paris. U.a. Domingo Faustino Sarmiento, Benjamín Villafañe und Santiago Cortínez fanden sich zu Teilgruppen im Landesinneren ein. (Mercado 1996: 53, 54; Weinberg 1977: 51)
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und acht Jahre später (Katra 1996: 57) in Asociación de Mayo umbenannt wurde. Diese war nun im Gegensatz zum Salón Literario weniger akademisch geprägt als vielmehr einem kulturellen und politischen Aktionismus14 verpflichtet (Katra 1996: 62). Insgesamt waren 35 Personen Mitglied des Geheimbundes (Mercado 1996: 71). In der Asociación verlas man den Código o declaración de principios que constituyen la creencia social de la República Argentina (ein Kommentar zu den 15 palabras simbólicas15, die Echeverría im Juni präsentierte), der von Echeverría, Alberdi und Gutiérrez verfasst und 1846 ergänzt um die Ojeada Retrospectiva von Echeverría als Dogma Socialista veröffentlicht wurde. Doch schon bald wurde das Leben für die Regimegegner in Buenos Aires zu gefährlich und viele der Mitglieder gingen ins Exil nach Montevideo, wo der Código in der letzten Nummer der Zeitung El Iniciador am 1. Jänner 1839 abgedruckt wurde. (Fleming 2011: 39, 43-46) Carlos Pescader (1996) schreibt der generación del 37 einen eklektischen Charakter zu, der sich auch im Versuch zeige, philosophische und ideologische Strömungen unterschiedlicher Richtungen miteinander zu versöhnen, etwa den neokatholischen Liberalismus von Lamennais mit dem utopischen Sozialismus von Henri de Saint Simon und dem französischen Rationalismus, aber auch dem deutschen Historismus. So finden sich u.a. Bezüge zu Victor Cousin, Roger Collard, Edgar Quinet, Guizot, Leroux, Louis de Bonald, Herder, Hegel, Friedrich Carl von Savigny, August Wilhelm Schlegel, Alexis de Tocqueville, Giuseppe Mazzini, Adam Smith, François Quesnay. (Pescader 1996: 11-13, 21; Janik 2008: 247, 248; Shumway 1991: 15, 16) Was die literarischen Vorbilder der Gruppe betrifft, so ist ganz allgemein zu sagen, dass man sich an Hugo, Lamartine und der französischen sozialen Romantik, aber auch an Herder, Schlegel, Goethe und Schiller orientierte, die meist in französischer Übersetzung gelesen wurden (Schmidt-Welle 2003: 318, 324). Eine der zentralen Fragen der dem Liberalismus verpflichteten generación del 37 war es, wie vor dem Kontext der gesellschaftlichen Spaltung die Garantie von Freiheitsrechten gelingen konnte. Die Konstruktion einer nationalen Gemeinschaft, die eine Glättung der Antagonismen in der Bevölkerung durch eine gemeinsame Identität versprach, schien dazu geeignet. Sie versprach den nötigen Konsens, damit die Verabschiedung einer Verfassung gelingen konnte. Hatten sich die SchriftstellerPolitiker während der Rosas-Herrschaft dem Kampf gegen das Regime mit militäri14 Waren manche der Mitglieder zunächst Rosas freundlich oder zumindest dialogbereit gegenüber eingestellt und hatten sie gehofft, ihre politischen Ideen einbringen zu können, so bedeutete das Vorgehen Rosas’ gegen die Joven Argentina im Anschluss an die Rebellion von 1839 den endgültigen Bruch der generación del 37 mit dem Rosas-Regime. (Katra 1996: 26, 33, 53, 55, 62, 64; Ortiz 2007: 148) 15 Die 15 Begriffe lauteten: Verein, Fortschritt, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Gott, Ehre und Opfer, Aufgreifen der legitimen – individuellen wie kollektiven – Erfolge der Revolution, Fortführung der progressiven Mayo-Tradition, Unabhängigkeit von reaktionären Traditionen des Kolonialregimes, Emanzipation des amerikanischen Geistes, Organisation der Patria auf Grundlage der Demokratie, Zusammenschluss der Prinzipien, Zusammenführung aller progressiven Doktrinen zu einem gemeinsamen Zentrum, Verweigerung jeglicher Sympathien einer der zwei entgegengesetzten Fraktionen der Unabhängigkeitsbewegungen gegenüber. Bis auf die letzte palabra simbólica, die von Alberdi formuliert wurde, stammen die Begriffe von Echeverría. (Mercado 1996: 71; Zuccherino 2001: 154-156)
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schen Mittel sowie mithilfe des gedruckten Worts verschrieben und versuchten sie vorwiegend aus dem Exil, ihre Vorstellungen von Freiheit und Nation über das Zeitungswesen sowie über literarische Schriften zu verbreiten und einen politischen Wechsel vorzubereiten, so hatten sie nach dem Fall Rosas’ hohe politische Ämter inne und die Macht, ihre Ideen zur praktischen Umsetzung zu bringen. (Katra 1996: 9, 10, 151, 154-157, 176, 180) Die fünf Autoren und Mitglieder der generación del 37, die im Zentrum dieser Arbeit stehen, seien in der Folge kurz vorgestellt. Esteban Echeverría16 (1805, Buenos Aires – 1851, Montevideo) wurde, nicht zuletzt aufgrund der literarischen Innovationen, die er bei einem Aufenthalt in Paris (1825-1830) kennenlernte17 und mit nach Buenos Aires nahm, mit dem 1832 verfassten narrativen Gedicht18 Elvira o la novia del Plata oftmals als Begründer der Romantik in Argentinien (Varela Jácome 1993: 92), in Hispanoamerika oder sogar generell in spanischer Sprache (Aira 2001: 191; Reichardt 1992: 42) angesehen. Echeverría war eines jener Mitglieder des Salón Literario, die dessen Grundsätze und Aktivitäten maßgeblich prägten. Juan Bautista Alberdi19 (1810, Tucumán – 1884, Paris) ist Dieter Reichardt (1992: 6) zufolge der wichtigste Theoretiker des Liberalismus in Argentinien. Alberdis Werk20 ist, ebenso wie jenes Sarmientos, äußerst umfangreich und umfasst ideo-
16 Zu Leben und Werk vgl. etwa Fleming 2011, Franco 2009, Aira 2001, Oviedo 2001, Pescader 1996, Reichardt 1992.
17 Er las v.a. Victor Hugo, Lord Byron, Alphonse de Lamartine, Saint-Simon, Pierre Leroux und Félicité de Lamennais (Rössner 2002: 176) sowie Montesquieu, François Guizot, François-René de Chateaubriand, William Shakespeare, Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe (Fleming 2011: 26). 18 1834 veröffentlichte er eine Gedichtsammlung mit dem Titel Los consuelos, die ihm im Gegensatz zu Elvira viel Beachtung und Bewunderung einbrachte. Ein weiterer Gedichtband, Rimas, sollte 1837 erscheinen, darunter eines seiner bekanntesten, narrativen Gedichte La cautiva. Er verfasste neben der Erzählung El matadero zudem das pädagogische Handbuch Manual de enseñanza pública (1844) sowie literaturtheoretische Schriften, z.B. Fondo y forma en las obras de imaginación. (Aira 2001: 190, 191) 19 Zu Leben und Werk vgl. etwa Oviedo 2001, Aira 2001, Reichardt 1992, Lizondo Borda 1960. 20 In El crimen de la guerra kritisiert Alberdi den Krieg der Triple Alianza gegen Paraguay und damit Mitres Präsidentschaft. Er bringt darin seine Bekümmerung darüber zum Ausdruck, dass die liberalen Ideale in Vergessenheit geraten seien (Oviedo 2001: 45). Auch seine polemischen Schriften geben Auskunft über den Streit, den er v.a. mit Sarmiento und Mitre führte, darunter etwa Grandes y pequeños hombres del Plata, die erst in der Ausgabe 1913 mit diesem Titel erschienen. In der Zeit des Exils begannen die Differenzen zwischen den einzelnen Mitgliedern der generación del 37 anzuwachsen. Zudem lassen sich bedeutende Unterschiede zwischen dem politischen Projekt der generación, das im Widerstand gegen Rosas formuliert wurde und der praktischen Umsetzung der politischen Ideen nach 1852 feststellen (Lettieri 2005: 540). Wasserman F. (1998: 37) meint, die Differenzen seien so groß geworden, dass ab 1848 nicht mehr von einer Gruppe gesprochen werden kann. Vgl. dazu auch López Göttig 2006, Ahrensdorf 2004 und Katra (1996: 120-170). Für Differenzen zwischen Alberdi und Sarmiento in der Bildungsfrage vgl. Miller 2007.
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logisch-historische, polemische ebenso wie literarische Schriften21. Seine Bases y puntos de partida para la organización política de la República Argentina – laut Terán (2005: XX) das berühmteste Werk Alberdis – gelten als jene Schrift, die die erste ratifizierte Verfassung Argentiniens (1853), die bis 1949 in Kraft war, im Wesentlichen vorbereitet hat. (Araya Leüpin 2008: 86; Shumway 1991: 129) Bartolomé Mitre22 (1821, Buenos Aires – 1906, Buenos Aires) ist im Gegensatz zu Echeverría weniger für sein literarisches Werk als vielmehr für sein politisches Wirken bekannt und wird von César Aira (2001: 370) als die herausragendste politische Figur Argentiniens der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bezeichnet, nicht zuletzt aufgrund seiner Präsidentschaft von 1862 bis 1868 und seiner militärischen Führerschaft im Krieg der Triple Alianza gegen Paraguay. Für die Nationenbildung ist u.a. sein historiographisches Werk bedeutend geworden, etwa die Páginas de historia (1864), in der neun Biographien enthalten sind, die Galería de celebridades argentinas. Belgrano y Güemes (1857), aus der die Biographie Belgranos 1887 mit dem Titel Historia de Belgrano y de la independencia argentina erschienen ist sowie die Historia del general San Martín y de la emancipación sudamericana (1887-1888). Er gründete die Zeitung La Nación (1869) und war am Entstehen der Zeitschriften La Revista de Buenos Aires (1863-1871) und La Revista Argentina (1868-1872, 18791882) beteiligt (Oviedo 2001: 47). Neben Übersetzungen von u.a. Victor Hugo, Henry Wadsworth Longfellow, Byron, Pierre-Jean de Béranger, Horaz und Dante Alighieri sind seine poetischen Werke Ecos de mi lira und Rimas (1854) sowie der Roman Soledad (1847) und die romantische Erzählung Memorias de un botón de rosa (1848) zu erwähnen. (Aira 2001: 370, 371) Domingo Faustino Sarmiento23 (1811, San Juan – 1888, Asunción) war während der Präsidentschaft Mitres Gouverneur der Provinz San Juan, 1864 wurde er zum Botschafter in den USA ernannt und 1868 wurde Sarmiento zum Präsidenten Argentiniens gewählt. Er blieb bis 1874 im Amt. Politik, Journalismus und Bildung waren drei seiner Kernanliegen, denen er zeit seines Lebens nachging. Er hat u.a. mehrere Autobiographien verfasst (z.B. Mi defensa, Recuerdos de provincia). 1853 erschienen die Comentarios de la Constitución, bevor sich Sarmiento 1855 der Politik widmete, wenn er auch weiterhin Briefe, Zeitungsartikel und Biographien verfasste. (Aira 2001: 509, 510) Sarmientos politische Wirkung ist umstritten, wenn auch kaum geleugnet werden kann, dass er bis heute eine bekannte und wichtige Figur Argentiniens ist und sich im kollektiven Gedächtnis verankern konnte: „Wie keine andere 21 Darunter das gegen Rosas gerichtete Theaterstück El gigante Amapolas y sus formidables enemigos, o sea fastos dramáticos de una guerra memorable (~ 1840) und das Drama Crónica dramática de la Revolución de Mayo (1842) (Reichardt 1992: 7), die beiden Prosagedichte El Edén und Tobías o la Cárcel de la Vela sowie der allegorische Roman Peregrinación de luz del día, o Viaje y aventuras de la verdad en el Nuevo Mundo (1874). Zudem sind zwei Biographien, eine über den chilenischen Präsidenten Manuel Bulnes und eine weitere über den Eisenbahnunternehmer William Wheelwright sowie die Reflexionen in Palabras de un ausente zu nennen (1874). (Aira 2001: 19, 20) 22 Zu Leben und Werk vgl. etwa Aira 2001, Oviedo 2001, González Bernaldo de Quirós 1999a. 23 Zu Leben und Werk vgl. etwa Oviedo 2001, Aira 2001, Dill 1999, González Bernaldo de Quirós 1999a, Hozven 1993, Reichardt 1992.
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Persönlichkeit hat S. [Sarmiento] das politische und geistige Leben Argentiniens noch über seinen Tod hinaus beeinflußt. So berufen sich bürgerliche Liberale, Sozialisten und Kommunisten auf seine Ideen und Aktivitäten.“ (Reichardt 1992: 113). Zu seinen politischen Errungenschaften zählen u.a. die Erfolge, die er in der Bildungspolitik verzeichnen konnte: Die Provinz Buenos Aires wies eine Zahl an Bildungseinrichtungen auf, die mit den fortschrittlichsten Regionen Europas vergleichbar war. Dasselbe lässt sich über die Alphabetisierungsrate der Provinz sagen, in der es kaum Analphabeten, auch nicht in benachteiligten Gruppen wie den Sklaven oder den gauchos, gab. (Katra 1996: 297; Ahrensdorf 2004: 33) Aber dieser politische Erfolg ist nicht zuletzt Teil der Mythenbildung der liberalen Geschichtsschreibung geworden, die ihre langen Nachwirkungen zeigen sollte. 1943 wurde er als educador gewürdigt, indem man den día del maestro auf seinen Todestag, den 11. September legte. (Alam 2007: 394, 396-398) José Mármol24 (1817, Buenos Aires – 1871, Buenos Aires) war im Gegensatz zu den anderen Autoren weder Mitglied des Salón Literario noch der Asociación de Mayo25 (Oviedo 2001: 40; Fernández 1993: 156), er wird aber der generación del 37 zugeordnet (Civantos 2002: 56). Als er 1852 nach dem Fall Rosas’ nach Argentinien zurückkehrte, war sein Hauptmotiv für das literarische Wirken entfallen und er übernahm Funktionen im öffentlichen Dienst, der Politik (als Senator der Provinz Buenos Aires und Mitglied des Consejo Municipal sowie später als Abgeordneter zum Nationalkongress (Reichardt 1992: 83; Fernández 1993: 158)) und der Diplomatie. Mármol war ab 1858 Direktor der Biblioteca Pública, die später zur Biblioteca Nacional umbenannt wurde. Von seinen literarischen Werken seien die zwei Versdramen El poeta und El cruzado, die Dichtung Cantos del peregrino (1846, 1847), der Gedichtband Armonías (1854) sowie der Roman Amalia (1855) genannt. Er hat außerdem einige politische Schriften verfasst, schrieb für mehrere Zeitungen in Montevideo, etwa El Nacional, El Comercio del Plata, Muera Rosas oder El Guerrillero und gründete selbst die Zeitungen El Álbum (1844), El Conservador (1847) und La Semana (1851-1852). In der Zeit des Exils wurden nicht nur im Diskurs der Gruppe Begriff und Konzept der nationalen argentinischen Identität präsent, sondern auch deren bedeutendsten literarischen Texte verfasst. Was die Kunstauffassung der Gruppe betrifft, so sollte v.a. nach 1841 das literarische Schreiben den liberalen Fortschritt kulturell und ideologisch vorbereiten26 (Moyano 2008: s.p.¸ Poblete 2008: 322, 323). Dieses Ziel 24 Zu Leben und Werk vgl. etwa Aira 2001, Oviedo 2001, Fernández 1993, Reichardt 1992, 25 Es soll nicht verschwiegen werden, dass Dill (1999: 127) schreibt, Mármol sei Mitglied des Vereins gewesen.
26 Der erzieherische Anspruch der argentinischen Liberalen zeigte sich schon in den Jahren nach erlangter Unabhängigkeit – hier politisch v.a. vonseiten der Unitarier – und fand seinen Niederschlag in den literarischen Texten des Neoklassizismus. Von einer nationbuilding-Literatur zeugen bereits die Texte der literatura gauchesca, etwa die cielitos von Bartolomé Hidalgo, die ebenfalls im Widerstand gegen Rosas eine literarische Identität und von der Stadt ausgehende Kunstform des gaucho kreieren (so etwa bei Hilario Ascasubi) (Rössner 1992: 44; Franco 2009: 45; Dill 1999: 111, 112). Gemeinsam mit dem ästhetischen Programm der Romantik erfuhr der sich in Hispanoamerika spät durchsetzende Roman seinen Aufschwung (Benito Varela Jácome 1993).
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wurde von der generación del 37 als ‚Emanzipation des amerikanischen Geistes’ bezeichnet, das es u.a. mithilfe der Schaffung einer Nationalkultur und -literatur zu erreichen galt. Die Gruppe, besonders Echeverría, setzte auf die Macht des geschriebenen Wortes und v.a. der Literatur für politischen Wandel. (Katra 1996: 9, 66, 79, 8588) Noch deutlicher und als erster formulierte Mitre 1847 in seinem Vorwort zu Soledad die Überzeugung, dass fiktionale Erzähltexte ein Medium zur Vermittlung nationaler Eigenheiten seien (vgl. Kapitel ‚Analyse literarischer Texte‘). Er richtete einen Appell an die gebildete Elite, nation-building-Literatur, wozu er auch sein Werk Soledad (1847) zählte, zu schreiben. (Wink 2009: 104) Über Literatur sollte definiert werden, wer und was Teil der Nation sein sollte (Moyano 2008: s.p.). Ob diese Werke, dem Wunsch und der Überzeugung ihrer Autoren entsprechend, tatsächlich Einfluss auf das Zugehörigkeitsgefühl der Leser/innen im 19. Jahrhundert entwickeln konnten, ist eine schwer zu beantwortende Frage. Fest steht, dass die für diese Arbeit gewählten Mitglieder der generación del 37 spätestens ab 1852 über hohe Präsenz in der Öffentlichkeit verfügten und ihre Werke breit rezipiert wurden. Der Facundo und Amalia waren zwei der meist gelesenen Bücher im 19. Jahrhundert in Argentinien (Lichtblau 1959: 39, 44; Sorensen Goodrich 1991). Amalia wurde ab 1855 mit großer öffentlicher Zustimmung27 vom argentinischen Publikum aufgenommen, da es – wie Lichtblau (1959: 44) meint – dem Wunsch nach einem argentinischen Nationalroman mit argentinischen Elementen entsprach. „For the first time Argentines read and discussed a novel which centered around their country and which they could proudly designate as their own. In view of the preceding considerations, we state that Amalia stands as the first full-fledged novel of Argentine setting that reached the vast public. [Kursivierung im Original]“ (Lichtblau 1959: 44)
Amalia schien zum Modell für weitere Romane, die die Rosas-Diktatur zum Thema hatten, zu werden, darunter etwa La huérfana de Pago Largo (1856) von Francisco López Torres, El prisionero de Santos Lugares (1857) von Federico Barbará oder Aurora y Enrique, o sea la Guerra Civil (1858) von Toribio Arauz (Lichtblau 1959: 52-54). Die Reichweite Amalias (1855) konkurriere nur mit jener des Facundo (1845), so Katra (1996: 187). Aus heutiger Sicht wird in der generacion del 37 jene treibende Kraft, die die Hindernisse zur Nationenbildung beseitigt hätte, erblickt: „La importancia histórica de esta generación fue la de poner todo el vigor de sus inteligencias en función de eliminar los obstáculos que impedían la formación de un estado nacional que diera al país la fisonomía de una nación moderna y pujante.“ (Pescader 1996: 7). Katra (1996) meint, die generación del 37 habe langwährende Maßstäbe für die argentinische Kultur und Gesellschaft gesetzt: „[T]he ideological issues set forth by the 1837 generation in their writings and defended by their actions came to define lasting parameters for Argentine culture and society.“ (Katra 1996: 7). Shumway (1991: 27 Dem hohen Bekanntheitsgrad des Autors aufgrund der Beliebtheit seines Romans ist es nach Katra (1996: 187) auch zu verdanken, dass Mármol für höhere politische Ämter gewählt wurde (etwa zum Vizepräsidenten des Senats), obwohl er politisch umstritten war. Von Sarmiento wurde ihm etwa völlige Inkompetenz und Unverantwortlichkeit als Provinzsenator vorgeworfen (Katra 1996: 187).
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112) bezeichnet die generación del 37 als Gruppe, die vermutlich einige der beständigsten guiding fictions Argentiniens hervorgebracht hat. Zwar hätten die meisten Mitglieder der Gruppe die praktische Umsetzung ihrer politischen Ideen nicht miterlebt, doch seien diese ab 1860 und vor allem in den Jahren des Aufschwungs zwischen 1880 und 1915 zur Anwendung gebracht worden (Shumway 1991: 164). „[T]heir understanding of their country’s problems and their proposals to solve those problems became and remain guiding fictions of Argentine liberalism.“ (Shumway 1991: 164). Nach Wasserman F. (1998: 10, 12, 40) ist der Aufbau einer nationalen Organisation Argentiniens in entscheidendem Maße auf die politischen Ansätze der generación del 37, deren gemeinsames Ziel die Konstruktion einer Nation sowie die Herstellung sozialen Zusammenhalts war, zurückzuführen. Ihr Verdienst sei darin zu sehen, die Grundlagen für die Bildung und Konsolidierung des argentinischen Nationalstaates gelegt zu haben (Pescader 1996: 19; Reta/Pescader 1996: 40; Claudio Laguado 2007: 297; Fleming 2011: 46). Und Rössner (2005: 201) sieht in den Werken der generación del 37 erstmals konkret die Frage nach der kollektiven Identität Argentiniens formuliert. Ein Blick in hispanoamerikanische Literaturgeschichten genügt, um zu erkennen, dass u.a. die literarischen Werke El matadero (1839), Facundo (1845), Amalia (1855), aber auch – wenn auch nicht in vergleichbarem Maße – Soledad (1847) und Peregrinación de Luz del Día28 (1874) – fest zum literarischen Kanon zählen. El matadero (1839) gilt vielen Kritiker/innen als „texto fundacional de la literatura argentina“ (Fontana/Roman 2009: 127). Und Dill (1994: 62) zufolge sind mit Facundo (1845), El matadero (1839) und Amalia (1855) die wichtigsten Beiträge der argentinischen Romantik zur Aneignung der amerikanischen Realität benannt. Zur Bedeutung dieser Texte für deren anhaltende Rezeption ist ein wichtiger Faktor die Listung einiger Werke der generación del 37 als Pflichtlektüre an argentinischen Schulen, wodurch sie für Generationen als guiding fictions wirken konnten29 (Sommer 1991: 4; Civantos 2002: 75). Doch diese Anliegen waren nicht nur in der generación del 37 verbreitet. Vielmehr war die Herstellung politischer Autorität und eines sozialen Konsenses laut Lettieri (2005: 539) Kern der Beschäftigung der gesamten argentinischen politischen und intellektuellen Elite dieser Zeit. Es ist zwischen dem in den Texten formulierten politischen Programm, das auf die Konstruktion der Nation gerichtet ist – der „voluntad de nación“ (Wasserman F. 1998: 10) – und der politischen Praxis30 der generación del 37 nach dem Ende des Rosas-Regimes zu differenzieren, wenn auch die Wirkung von Literatur und Politik der Dichtergeneration aus heutiger Sicht nicht immer klar unterscheidbar ist. Von diesen beiden Dimensionen ist wiederum die spätere Rezeption zu differenzieren, die nicht zuletzt davon bestimmt ist, dass einige der Mitglieder der generación del 37 bedeutenden Einfluss auf das mächtige Organ der Presse und die frühe Historiogra28 Das Werk wird im Zusammenhang mit Alberdi und der generación del 37 in hispanoamerikanischen Literaturgeschichten meist angeführt.
29 Leider liegen uns keine genauen Daten zu den Lektürelisten vor. 30 Obwohl die proeuropäische, liberale Gruppe ein Bild der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Rückständigkeit für die Zeit von 1829 bis 1852 zeichnete, die nun überwunden schien, so hielten die zuvor bestehenden Probleme, allen voran der caudillismo mit seiner klientelistischen Struktur, an (Martínez Díaz 1998: 385, 386).
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phie hatten, mithilfe derer ihre Ideen und ihr Geschichtsbild retrospektiv zu guiding fictions werden konnten. Neben dem literarischen Schaffen, der publizistischen Tätigkeit und den politischen Reformen unter Mitre und Sarmiento, stellte die liberale Geschichtsschreibung31 in Lehrbüchern sicher, dass das von der generación del 37 geprägte Bild der Nation für Generationen bestimmend werden konnte. Wie anhaltend die Vorstellung davon ist, dass die generación del 37 die Grundlagen für das heutige Argentinien gelegt habe, zeigt die folgende Passage aus dem Vorwort von Ricardo Manuel Rojas zu einer geschichtlichen Abhandlung von Ricardo López Göttig über die generación del 37 aus dem Jahre 2006: „[…] la batalla de Caseros [in der Rosas gestürzt wurde] inició este proceso que medio siglo más tarde convertirá a la República Argentina en uno de los diez países más prósperos del mundo, imán para inmigrantes que desde todos los rincones del planeta llegaron buscando un ambiente de libertad, paz y posibilidades de progreso personal. Si bien ciertas costumbres sociales, económicas, jurídicas y políticas desarrolladas durante siglos no podían ser modificadas en pocos años, las ideas y acciones de un reducido grupo de personas produjo este notable crecimiento.“ (Rojas 2006: 5)
Und Armando P. Ribas (2000) schreibt in seiner Geschichte Argentiniens von 1810 bis 1880: „A nuestro juicio, cuatro hombres, en muchos casos enemistados entre sí, produjeron lo que se podría considerar el milagro de la segunda mitad del siglo XIX. Esos cuatro personajes fueron Juan Bautista Alberdi, Justo José de Urquiza, Bartolomé Mitre y Domingo Faustino Sarmiento.“ (Ribas 2000: 21, 22)
Dabei ist der Erfolg der Nation als Identitätskategorie nach wie vor nicht restlos geklärt und die Wirkungsweise des Konzepts, die mehrere Disziplinen beschäftigt, in der Forschung umstritten (vgl. Kapitel ‚Nation – Identität – Erzählung‘). Der Forschungsüberblick zur Nationentheorie lässt erahnen, dass eine einzelne Disziplin die komplexen Prozesse der Nationenbildung nicht erfassen kann. Nicht die Entstehung der argentinischen Nation, auch nicht die Konstruktion einer nationalen, argentini31 Die liberale Historiographie, v.a. jene Mitres, dem eine Pionierfunktion in der argentinischen Geschichtsschreibung zugeschrieben wird (Freitas Neto 2011: 79), sollte bis ins 20. Jahrhundert (Freitas Neto 2011: 80) jene Version von nationaler Geschichte werden, die in argentinischen Schulen gelehrt wurde. Bis in die 1930er Jahre galt es als unbestritten, dass die Mitglieder der generación del 37 Nationalhelden waren, bis sich die revisionistische Geschichtsschreibung – selbst wieder politischen Zielen verpflichtet (Miller 1999: 224) – gegen die Gruppe und besonders gegen Sarmiento wandte. (Shumway 1991: 164) 1951 wurde von liberal-demokratischen, sozialistischen und kommunistischen Intellektuellen das Denken Echeverrías als ‚demokratisch‘ wiederbelebt und als Protest gegen den autoritären Juan Domingo Perón stark gemacht (Miller 1999: 228). Miller (1999: 223) kommt zu dem Schluss, dass in Argentinien der Einfluss der liberalen Historiographie stärker als in anderen hispanoamerikanischen Ländern ausgeprägt war. Zu historiographischen Gegenentwürfen aus den Provinzen Argentiniens vgl. Shumway (1991: 188, 214-216, 248, 249) sowie Rössner (2002: 183, 186, 187).
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schen Identität sollen Gegenstand dieser Arbeit sein. Denn der Mythos der Nation, der von der generación del 37 geschaffen wurde, ist nicht nur ihrer politischen Arbeit zuzuschreiben: Ihre literarischen Werke sollten ein zentrales Medium zur Konstruktion der Nation werden und sein. Der Facundo (1845) von Domingo Faustino Sarmiento wurde z.B. zur Grundlage für Passagen schulischer Geschichtsbücher während der Militärdiktatur 1976-198332. Aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Sicht muss es daher interessieren, welchen Beitrag literarische Erzähltexte zur Konstruktion der Nation und nationaler Identität leisten können. Es ist eine strittige Frage in der Forschung, ob Literatur überhaupt Einfluss auf die Konstruktion nationaler Identität übt (Miller 1999) und wenn ja, auf welche Faktoren dies zurückzuführen ist. Ist dieser mit dem Medium ihrer Verbreitung im 19. Jahrhundert, der Zeitung, zu erklären oder ist sie mit textimmanenten Aspekten verbunden? Ist es die inhaltliche Darstellung oder vielmehr die Form, die auf die Vorstellung der Nation des impliziten Lesers33 wirkt? Ermöglicht sie einem ‚allwissenden‘ Leser, die Verbundenheit der Figuren in deren nationaler, vorgestellter Gemeinschaft nachzuvollziehen? Erlaubt die Identifikation mit einzelnen Figuren, besonders, wenn diese Teil eines Liebesplots sind, die Einbeziehung des Lesers/der Leserin in das Nationenprojekt? Vermögen es auch Plots ohne Liebesthematik, Begehren für die Nation beim Leser hervorzurufen? Oder sind es vielmehr andere rezeptionslenkende Faktoren, die diese Texte für das literarische nationbuilding interessant machen, etwa das beim Leser/der Leserin provozierte Streben nach ‚Insiderinformationen‘ und damit nach Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Nation? Die vorliegende Untersuchung geht der Frage nach, welche textinternen Charakteristika die Inszenierung von Freiheit und Nation in fünf literarischen Erzähltexten der generación del 37 im Vergleich mit ausgewählten politischen Schriften der Gruppe erkennen lässt. Konkret wird zum einen gefragt, welches Verhältnis von Freiheit und Nation die liberalen Autoren der generación del 37 in ihren jeweiligen politischen und literarischen Texten etablierten. Zum anderen interessiert in dieser Studie, wie dieses literarisch inszeniert wird. Damit soll das im Text angelegte nation-building-Potenzial der literarischen Erzähltexte der generación del 37 erfasst werden.
32 Sarmientos Konzept der Zivilisation vs. Barbarei, das er im Facundo (1845) entwickelte, fand in den Schulbüchen einen prominenten Platz. Während der Militärdiktatur von 19761983 sollte das Konzept in seiner ethnischen, gegen die indigene Bevölkerung gerichteten, Ausprägung wiederbelebt werden. Es gab aber auch Gegenstimmen wie am Verbot der Lektüre Sarmientos an öffentlichen Schulen 1978 in Neuquén erkennbar ist (Shumway 1991: 164). Selbst für die Schulbücher der darauffolgenden Phase der Demokratie stellte Florencia Alam (2007) für die Jahre 1983-1995 zwar eine Distanzierung vom Konzept der Barbarei fest, doch wird Sarmiento als heroische Figur des Konstrukteurs des Nationalstaates dargestellt, ohne die ‚Nebenwirkungen‘ und Grundlagen des erzielten Fortschritts zu thematisieren. (Alam 2007: 394, 396-398) 33 Der Fachbegriff des ‚impliziten Lesers‘ wird in dieser Arbeit nicht gegendert, zumal es sich um ein fiktives Konstrukt handelt – um eine Leserhaltung im Text –, nicht um konkrete Personen. Dies gilt auch für den ‚allwissenden‘ Leser.
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Die meisten Studien zum literarischen nation-building verorten die Spezifika literarischer Texte bei der Konstruktion der Nation, wie die oben gestellten Fragen zeigen, im Bereich der Rezeption. Es finden sich aber kaum Untersuchungen, die die interne Inszenierung der Nation im Hinblick auf den impliziten Leser in den Erzähltexten in den Blick nehmen. Des Weiteren haben sich Studien zu den Texten, Ideen und zur Wirkung der generación del 37, deren Mitglieder gerade die Figur des Schriftstellers mit jener des liberalen Denkers und Politikers in sich vereinen, je nach Disziplin entweder mit dem Thema der Freiheit oder mit jenem des Projekts der Nationenbildung, das die Gruppe verfolgt hat, beschäftigt. Auch in der Theoriebildung an sich wurden entweder Nation oder Liberalismus mit literarischen Erzähltexten, nicht aber Liberalismus, Nation und literarische Erzähltexte in ihrem Verhältnis zueinander untersucht. Der Fokus dieser Dissertation liegt demgegenüber auf der Frage, wie in den Texten der generación del 37 das mitunter paradoxe Spannungsverhältnis zwischen liberaler, vom Individuum ausgehender Freiheit und nationaler Identität, die auf kollektiv geteilten politischen Vorstellungen beruht, inszeniert wird. Forschungsstand Die Forschungsliteratur zur generación del 37, ihrem Werk und Leben, ihren Vorbildern, dem historischen und philosophischen Kontext, vor dem sie ihre Schriften verfasste, ihren politischen Ideen, literarischen Texten sowie ihrer politischen Tätigkeiten ist äußerst umfangreich, selbst wenn diese auf die fünf ausgewählten Autoren Esteban Echeverría, Juan Bautista Alberdi, Domingo Faustino Sarmiento, Bartolomé Mitre und José Mármol eingschränkt wird. Auch zur Rezeption der Werke der generación del 37 wurden, wie oben erwähnt, wenn auch in bedeutend geringerem Ausmaß, Untersuchungen angestellt. Angesichts der kaum überschaubaren Anzahl an Publikationen aus unterschiedlichen Disziplinen erstaunt es, dass trotz gründlicher Recherche kaum Studien zu den folgenden zwei Aspekten gefunden werden konnten: 1. dem Verhältnis von Freiheit und Nation sowie dem Spannungsverhältnis zwischen Liberalismus und Nation in den politischen wie literarischen Werken der generación del 37 und 2. einer systematischen textzentrierten, narratologischen Untersuchung des nation-building in den literarischen Erzähltexten der Autorengruppe, wenngleich die Studien zu den literarischen Texten34 insgesamt umfangreich sind, handelt es sich doch um kanonische Texte, die bis heute in keiner Literaturgeschichte Hispanoamerikas fehlen. Neben den Grundlagenwerken zur generación del 37 allgemein, wie etwa Félix Weinbergs (1977) El salón literario de 1837, Nicolas Shumways (1991) The Invention of Argentina, William H. Katras (1996) The Argentine Generation of 1837, Olsen A. Ghirardis (2004) La generación del ’37 en el Río de la Plata, Natalio R. Botanas (201335) La tradición republicana oder den zahlreichen Werken von Tulio Halperín Donghi wurden seit den 1950er Jahren unzählige Studien zu Einzelaspekten, die das politische Denken der Gruppe betreffen, verfasst. Zur Frage der Nationenbildung seien u.a. die Werke von José Carlos Chiaramonte (z.B. sein 2004 erschienenes Nación y estado en Iberoamérica), Fabio Wasser34 Diese werden, so sie das Thema der Nation betreffen, in das Kapitel ‚Analyse der literarischen Texte‘ einbezogen.
35 Die erste Auflage stammt aus dem Jahre 1983.
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mans (1998) Studie zur Bedeutung u.a. von ‚patria‘ und ‚nación‘ bei der generación del 37 mit dem Titel Formas de identidad política y representaciones de la nación en el discurso de la generación de 1837, Halperín Donghis (2004) Alberdi, Sarmiento y Mitre, tres proyectos de futuro para la era constitucional, Juan Carlos Mercados (1996) auf Echeverría fokussiertes Werk Building a nation, der von Halperín Donghi et al. (1994) herausgegebene Sammelband Sarmiento. Author of a Nation oder die allgemein auf Hispanoamerika bezogenen Sammelbände von Hans-Joachim König und Marianne Wiesebron (1998) Nation Building in Nineteenth Century Latin America, Friedhelm Schmidt-Welle (2003) Ficciones y silencios fundamentales und Francisco Colom González (2005) Relatos de nación erwähnt. Am meisten wurde zu Alberdi36, Sarmiento37 und Echeverría38 publiziert, etwas weniger zu Mitre, dessen Historiographie39 und Präsidentschaft im Zentrum der Untersuchungen stehen und am wenigsten zu Mármol. Der Großteil der Studien gibt einen Überblick über das politische Denken einer oder mehrerer der Autoren, so z.B. Eduardo Araya Leüpins (2008) La Formación del Estado y de la Nación en América Latina. Estudio de caso sobre Argentina. Zur Frage des Liberalismus und der Freiheitsrechte im Denken der generación del 37 ist zunächst der allgemeine Überblick über den Liberalismus in Hispanoamerika von Edberto Oscar Acevedo (2010) Ilustración y liberalismo en Hispanoamérica zu nennen. Darüber hinaus ist eine Vielzahl an Einzelstudien40 erschienen, darunter Daniel Schwartz’ (2009) Juan Bautista Alberdi and the mutation of french doctrinaire liberalism in Argentina oder Peter J. Ahrensdorfs (2004) Civilization and Barbarism41: The Somber Liberalism of Domingo Sarmiento. Nur Arturo Claudio Laguado bietet in seinem Aufsatz El pensamiento liberal en la construcción del Estado nacional argentino von 2007 einen gemeinsamen Überblick von Liberalismus und Nationenbildung in Argentinien. Aber auch er diskutiert die Begriffe ‚Freiheit‘ und ‚Nation‘ nicht in ihrem Verhältnis. 36 Darunter z.B. Jorge M. Mayers (1948) Alberdi y la constitución nacional, Sam Schulmans
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(1948) Juan Bautista Alberdi and His Influence on Immigration Policy in the Argentine Constitution of 1853, Miguel Angel Asensios (2011) Alberdi y el federalismo oder Alejandra Salinas (2012) La presencia civilizadora de Juan Bautista Alberdi. Vgl. etwa Pablo A. Ramellas (1949) La presidencia de Sarmiento. Vgl. zur Polemik zwischen Alberdi und Sarmiento neben zahlreichen nachfolgenden Studien die Dissertation von Adolfo Gandulfo de la Serna (1917) La oposición doctrinaria entre Sarmiento y Alberdi. Vgl. etwa Plácido Alberto Horas’ (1950) Esteban Echeverría y la Filosofía Política de la Generación de 1837 oder Aída Conils (1996) Esteban Echeverría: Utopía y realidad. Vgl. etwa José Alves de Freitas Netos (2011) Mitre e a edificação de um patrimônio historiográfico argentino. Weitere Beispiele wären: Arnoldo Canclinis (2002) Juan B. Alberdi y la libertad de cultos, Jonathan C. Browns (1993) Juan Bautista Alberdi y la doctrina del capitalismo liberal en la Argentina, José María Díaz Couselos (1990) La noción de derecho en Alberdi oder Ramón Pedro Yanzi Ferreiras (2004) Alberdi y el diseño de la emergencia constitucional. Zu den Begriffen ‚Zivilisation‘ und ‚Barbarei‘ ist eine große Zahl an Studien entstanden darunter z.B. Carlos T. Alonsos (1989) Civilización y barbarie oder Susana Villavicencios (2003) Ciudadanos, bárbaros y extranjeros: figuras del Otro y estrategias de exclusión en la construcción de la ciudadanía en Argentina.
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Es konnten keine Untersuchungen gefunden werden, die ein Korpus an politischen und literarischen Texten der generación del 37 systematisch analysierten. Stierle (2012) formuliert demgegenüber als generelles Forschungsdesiderat der Literaturwissenschaft, gerade die Relationen literarischer Texte zu nicht-literarischen, ähnlichen Textsorten zu berücksichtigen. „Die Vorstellung von der Autonomie des Poetischen hat die Literaturwissenschaft lange, sieht man von Ausnahmen ab, daran gehindert, poetische Formen auf die ihnen zu Grunde liegenden pragmatischen Formen zu befragen und das Verhältnis der poetischen Formen zu ihren pragmatischen Korrelaten zu bestimmen.“ (Stierle 2012: 185)
Zum Thema der Freiheit in den literarischen Erzähltexten des Korpus’ konnten keine Studien gefunden werden. Die Nationenbildung über42 Literatur in Hispanoamerika ist hingegen der Gegenstand zahlreicher Untersuchungen, so zum Beispiel in Dieter Janiks (2008) Aufsatz ‚Nationbildung‘ in Spanischamerika nach der Independencia (1824). Die politische und kulturelle Funktion von Literatur oder in Eva Findeneggs (2002) Geschichte, Gedächtnis und Nation. Nationenentwürfe im hispanoamerikanischen historischen Roman des 19. Jahrhunderts. Es entstand zudem eine Reihe an Studien zu Zeitung43, Roman und Nation Hispanoamerika, etwa Janiks (2000) Periodismo y literatura: su alianza en la época de la Independencia bajo el signo de la Ilustración (Argentina, Chile, Colombia) oder Juan Pobletes (2000) Lectura de la sociabilidad y sociabilidad de la lectura: La novela y las costumbres nacionales en el siglo XIX. Daneben haben mehrere Autoren Benedict Andersons Nationstheorie aufgenommen und an Hispanoamerika angewandt, so etwa Francisco Villenas (2006) La nación soñada. Historia y ficción de los romances nacionales latinoamericanos, das auch auf den Facundo (1845) und Soledad (1847) Bezug nimmt oder der von Sara Castro-Klarén und John Charles Chasteen herausgegebene Sammelband (2003) Beyond Imagined Communities. Reading and Writing the Nation in Nineteenth-Century Latin America. Darin findet sich u.a. ein Artikel von Fernando Unzueta, der Anderson (2005) und Sommer (1991) an Mitres Soledad (1847) erprobt. Finden die literarischen Erzähltexte der generación del 37 im Zusammenhang mit Nation, Roman und Romantik44 immer wieder Erwähnung, so unterscheidet sich Unzuetas Ansatz darin, einen textzentrierten Zugang zum literarischen nation-building zu wählen. Unzuetas Studien, die von den Erzähltexten des Korpus’ nur Soledad (1847) behandeln, sind für diese Arbeit daher besonders relevant. Insgesamt finden sich jedoch kaum Stu42 Sehr viel dünner gesät sind hingegen die Studien zur Konstruktion der Nation in literarischen Erzähltexten, darunter Fernando Unzuetas (2003) Aufsatz Scenes of Reading: Imagining Nations/Romancing History in Spanish America oder Aníbal González’ (2006) Aufsatz Periodismo y novela en Hispanoamérica: La ley del disimulo en Amalia de José Mármol y Tomochic de Heriberto Frías. 43 Manche Studien nehmen diesbezüglich auch einen einzelnen Autor in den Blick, so etwa Armando Alonso Piñeiros (2001) Sarmiento y el periodismo. 44 Vgl. dazu etwa Eva Valcárcels (1996) El Romanticismo y la teoría de la novela en Hispanoamérica, Marisa Moyanos (2008) Literatura, Estado y Nación en el siglo XIX argentino: el poder instituyente del discurso y la configuración de los mitos fundacionales de la identidad.
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dien, die das literarische nation-building eingehend an einem oder mehreren der literarischen Erzähltexte des Korpus’ untersuchten. Grundlegend ist Doris Sommers (1991) Foundational Fictions, die Plot, Leseridentifikation und Nationenbildung im Roman in ihren Analysen zusammenbringt. Schließlich sind unterschiedliche leserbezogene Ansätze, die auf Andersons Ansatz aufbauen, zur Analyse des literarischen nation-building vorgeschlagen worden (darunter neben Sommer 1991, Unzueta 2005 und Culler 2007). Zwar nicht auf die generación del 37 bezogen, doch aufgrund seines kulturwissenschaftlichen Zugangs zur Nationenbildung relevant ist auch Georg Winks (2009) Dissertation Die Idee von Brasilien, die Andersons Ideen auf ein Korpus unterschiedlicher Textsorten anwendet, um die Erzählung Brasiliens im Vergleich zu Hispanoamerika zu untersuchen. Was fehlt, sind einerseits Studien, die eine vergleichende und systematische textbezogene Analyse narrativer Kategorien im Hinblick auf das literarische nation-building allgemein sowie in Bezug auf die literarischen Erzähltexte der generación del 37 vornehmen oder diese mit leserbezogenen Ansätzen verbinden. Es ist mit Jost Schneider (2010) ein Desiderat der Erzähltextanalyse, das Identifikationspotenzial und die Wirkungsästhetik der Texte systematisch beschreiben zu können. „Demzufolge gehört zu einer vollständigen Theorie des Erzählens auch ein Kategoriensystem, mit dessen Hilfe die gestalterischen Voraussetzungen einer identifikatorischen Lektüre beschrieben werden können. Dazu rechne ich hauptsächlich eine Typologie möglicher Sympathielenkungstechniken, eine nicht auf den Spannungsaspekt reduzierte Theorie der Emotionalisierung und der Emotionsregulation, eine Typologie gängiger identifikationsfördernder Konfliktthemen und eine allgemeine Theorie des Involvement, also der ‚inneren Beteiligung‘ des Lesers, die in der Identifikation ja nur ihren Höhepunkt erreicht, ohne deckungsgleich damit zu sein. Erst wenn diese Forderungen erfüllt sind, kann die Narrativik zu einer wissenschaftlichen, deskriptiven Theorie des Erzählens werden. [Anführungszeichen im Original]“ (Schneider J. 2010: 69)
Für die Frage, ob und wie es literarische Erzähltexte vermögen, ein Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit – bei den Leser/innen – herzustellen, gilt dies umso mehr. So meint auch Unzueta (2005): „Si bien existe un considerable número de trabajos sobre cómo la nación fue escrita, desafortunadamente la bibliografía del modo de lectura de la literatura de ese periodo (o del presente) es extremamente limitada, y hasta inexistente cuando se trata de la lectura de la nación en las novelas.“ (Unzueta 2005: s.p.)
Untersuchungszeitraum und Auswahl der Autoren und Texte Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich von 1837 bis 1880. 1837, weil dies das Gründungsjahr des Joven Argentina war und ihm die meisten der Mitglieder der generación del 37 angehörten. Das Jahr lässt sich als Beginn der politisch-literarischen Tätigkeit der Gruppe betrachten. Das Ende mit 1880 erklärt sich in Bezug auf die Autorengruppe damit, dass sowohl die literarische Schaffenszeit als auch der Höhepunkt der politischen Karriere der einzelnen Mitglieder vorüber sind. Hinsichtlich des Entstehungskontextes lässt sich mit 1880 die Konsolidierung der argentinischen Nationalstaates anführen. Wenngleich erst ab diesem Zeitpunkt der Aufschwung des
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Landes begann, so wurde laut Shumway (1991) der Mythos der Nation in den Jahren zuvor grundgelegt: „While it is undeniable that the economic, social, and political achievements of Argentina after 1880 dwarf those of any previous period, I nonetheless believe that the country’s guiding fictions and rhetorical paradigms were founded well before 1880, and that these fictions continue to shape and inform the country’s actions and concept of self.“ (Shumway 1991: xii)
Aus der Gruppe der generación del 37 wurden jene Mitglieder ausgewählt, deren politisches und/oder literarisches Schaffen bis heute einen hohen Bekanntheitsgrad aufweist. Laguado (2007) führt als solche an: „Juan Bautista Alberdi, Domingo Faustino Sarmiento, Esteban Echeverría (prematuramente muerto) y Barolomé Mitre, son, sin lugar, a dudas, los más importantes.“ (Laguado: 2007: 302). José Mármol ist heute zwar weniger für seine politische Tätigkeit bekannt, sein Roman Amalia (1855) war aber, wie oben ausgeführt, gemeinsam mit dem Facundo (1845) eines der meist gelesenen Bücher des 19. Jahrhunderts. Die Auswahl der politischen Texte bestimmt sich neben dem Gründungsmanifest der Gruppe, dem Dogma Socialista (1837) sowie seiner erweiterten Neuauflage in Form der Ojeada Retrospectiva (1846) ausgehend von Alberdis Bases (in der Ausgabe von 1852 und 1858). Die Bases (1852) entstanden kurz nach der Schlacht von Caseros (1852) und sollten nach dem Ende des Rosas-Regimes rasch eine konstitutionelle Basis für die Republik schaffen, was mit der Verabschiedung der Verfassung 1853 geschah. Gerade die Verfassungsfrage ist für das Thema der Freiheit, aber auch der Nation und der nationalen Organisation von grundlegender Bedeutung. Aufgrund dessen sowie der herausragenden Bedeutung dieses Textes für den argentinischen Liberalismus und Konstitutionalismus – laut Adelman (2007: 98) das wahrscheinlich bekannteste liberale Manifest des 19. Jahrhunderts in Lateinamerika – wurden von Domingo Faustino Sarmiento, Bartolomé Mitre und José Mármol jene politische Schriften ausgewählt, die sich mit derselben Frage beschäftigen oder sogar auf die Bases (1852) Bezug nehmen und hauptsächlich aus den Jahren 1852 bis 1854, die der politischen und rechtlichen Umsetzung des zuvor ersehnten Neuaufbaus der Republik gewidmet waren, stammen. Die politische Zukunft Argentiniens war nach dem Sturz Rosas ungewiss, versprach aber neue Perspektiven – mit 1852 ist eine Art Wendepunkt in der generación del 37 zu verzeichnen. Die ausgewählten Werke sind daher vor der politischen Amtszeit der Autoren anzusiedeln und werden um die Analyse einer späten Schrift Alberdis aus dem Jahre 188045 ergänzt: • •
Dogma Socialista de la Asociación de Mayo (1837) von Esteban Echeverría, kurz Dogma Socialista Ojeada Retrospectiva sobre el movimiento intelectual en el Plata desde el año 37 (1846) von Esteban Echeverría, kurz Ojeada Retrospectiva
45 Diese wird nicht zuletzt in das Korpus aufgenommen, um den Vergleich mit Alberdis Roman Peregrinación de Luz del Día, der 1874 veröffentlicht wurde, herstellen zu können. Im Gegensatz zu den anderen Autoren schreibt Alberdi in den Jahren zwischen 1837 und 1855 keinen nation-building-Roman.
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Bases y puntos de partida para la organización política de la República Argentina, derivados de la ley que preside al desarrollo de la civilización en la América del Sud (1852 und 1858) von Juan Bautista Alberdi, kurz Bases La omnipotencia del Estado es la negación de la libertad individual (1880) von Juan Baustista Alberdi Comentarios de la Constitución de la Confederación Argentina (1853a) von Domingo Faustino Sarmiento, kurz Comentarios de la Constitución Examen crítico de un proyecto de Constitución de la Confederación Argentina por Juan B. Alberdi (1853b) von Domingo Faustino Sarmiento, kurz Examen crítico Profesión de fe y otros escritos (1852) von Bartolomé Mitre La Constitución debe examinarse y reformarse (1860) von Bartolomé Mitre Consideraciones Políticas (1854) von José Mármol
Zur Auswahl der literarischen Erzähltexte ist zunächst zu sagen, dass die Autoren der generación del 37 auch lyrische und dramatische Texte verfassten. Dadurch müssen Texte der Autorengruppe außen vor gelassen werden, die ohne Zweifel ebenfalls Relevanz für das nation-building entwickelten, so etwa Echeverrías La cautiva. Um die literarischen Texte gemeinsam mit den politischen Texten analysieren zu können und diese einem plausiblen Vergleich zuführen zu können, wurde der Untersuchungsrahmen jedoch auf narrative Texte in Prosa beschränkt. Diese Einschränkung scheint mit Blick auf die kulturwissenschaftliche Forschung zu Identität, Erinnerung und Erzählung und der herausragenden Rolle der Erzählung bei der Herstellung von Identität gerechtfertigt. Sollen die Spezifika von Literatur beim nation-building untersucht werden, so liegt es nahe, als Analysegrundlage jene Werke auszuwählen, die besonders stark und lange für das Nationsverständnis Argentiniens prägend waren. Konkret handelt es sich um folgende Textauswahl (Korpus 2): • •
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El matadero (1839) von Esteban Echeverría Civilización y Barbarie. Vida de Juan Facundo Quiroga y aspecto físico, costumbres y hábitos de la República Argentina (1845) von Domingo Faustino Sarmiento, kurz Facundo Soledad (1847) von Bartolomé Mitre Amalia (1855) von José Mármol Peregrinación de Luz del Día o Viajes y aventuras de la Verdad en el Nuevo Mundo (1874) von Juan Bautista Alberdi, kurz Peregrinación del Luz del Día
Ansatz der Dissertation Zur Beantwortung der Forschungsfragen wurde ein interdisziplinärer, vergleichender Ansatz gewählt. ‚Freiheit‘ und ‚Nation‘ wurden mithilfe eines gemeinsamen Analyseschemas verglichen, das aus dem Theorieteil der Arbeit entwickelt wurde46. Dazu 46 Basierend auf Analyseschema 1 (vgl. Anhang) wurden die Texte nach ihren Freiheitsdimensionen und Nationskonzepten hin untersucht und systematisierte Datensätze nach den jeweiligen Kategorien angelegt. Die Suche umfasst die Begriffe ‚libertad‘, ‚patria‘ und ‚nación‘ sowie all jene Textstellen, die das semantische Feld der Begriffe betreffen, ohne dass diese verwendet würden. Im Analysekapitel werden die Ergebnisse zunächst hinsichtlich
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wurde der komplexe Begriff der ‚Freiheit‘ in sechs Dimensionen unterteilt, die ihrerseits im Verhältnis zur Nation, die auf einem Kontinuum zwischen Staats- und Kulturnation angelegt ist, untersucht wurden. Es ist nicht Anspruch dieser Arbeit die Nationenbildung an sich zu erforschen, sondern speziell die Konstruktion der Nation im und über den literarischen Erzähltext. Dennoch ist es geboten, Literatur im Prozess der Identitätsbildung zu verorten, bevor etwas über ihre interne Funktionsweise gesagt wird. Daher wurde in Kapitel ‚Nation – Identität – Erzählung‘ aufbauend auf dem historisch-strukturellen Ansatz zur Konstruktion nationaler Identität von Jorge Larrain (2000) ein eigenes Modell aus der Kombination von Birgit Neumann (2003) und Paul Ricœur (1988), die sich u.a. mit der Frage beschäftigt haben, wie literarische Texte generell auf die extraliterarische Welt Bezug nehmen und wieder auf sie zurückwirken, kreiert. Neben der Anschlussfähigkeit für weitere Studien besteht ein Vorteil in der Heranziehung dieses Modells darin, die Nahaufnahme des hier fokussierten Teilprozesses in der Forschung verorten zu können und politische mit literarischen Texten vergleichen zu können. Dieser Zugang wurde nicht zuletzt gewählt, um den entstehungsgeschichtlichen Bedingungen der Texte aus dem Korpus gerecht zu werden, da die Autoren der generación del 37 mehrfach – als Dichter/Schriftsteller und Politiker/Juristen – als Akteure bei der Konstruktion der argentinischen Nation auftreten. Was die Ebene der realen Rezeption und die Identitätsbildung realer Leser/innen betrifft, kann ein ausschließlich textzentrierter Ansatz keine Antworten liefern. Wenn in dieser Arbeit also die Ideen der generación del 37 zur Konstruktion der argentinischen Nation untersucht werden, so kann und soll nicht analysiert werden, inwieweit diese Ideen tatsächlich Teil der Identität47 der argentinischen Bevölkerung wurden. Und auch ob und wie sich die Nationsentwürfe der generación del 37 in den offiziellen Nationsentwürfen verorten lassen, muss hier außen vor gelassen werden. Was eine textzentrierte Analyse aber leisten kann, ist, nach der im Text angelegten Rezeptionshaltung zu fragen, gewissermaßen nach der Rezeption, die dem realen Leser/der realen Leserin aufgrund der Textstruktur nahelegt wird. Im Zentrum des Interesses dieser Arbeit steht also, welche Textstrukturen darauf schließen lassen, das nationbuilding bei den Leser/innen zu aktivieren. Der Fokus eines solchen Ansatzes liegt – obwohl leserzentriert – eher bei der Produktions- als der Rezeptionsseite. Es ist aber nicht das Ziel, nach den Absichten der Autoren zu fragen, denn diese könnten nur mithilfe von Dokumenten erschlossen werden, in denen sie diese kundtun. Der Text der Freiheitsdimensionen, dann nach den enthaltenen Nationsbegriffen und schließlich deren Verhältnis zueinander gegliedert. Die Anordnung der Analyseergebnisse wurde nicht bei jedem Autor chronologisch nach dem Analyseschema vorgenommen, wenn eine andere Darstellungsweise inhaltlich sinnvoller erschien. Sie sind aber stets mit einem Hinweis auf die entsprechende Kategorie versehen. Wenn vorhanden, so werden auch jene Textstellen angeführt, die auf das Verständnis der Autoren zu Literatur/Kunst, Zeitung und Nation schließen lassen oder explizite Verweise auf andere Texte des Korpus enthalten. 47 Ausgeklammert muss aus dieser textbasierten Untersuchung mit Fokus auf der Artikulation von Identität (noch dazu, da die argentinische Identität nicht als solche Gegenstand der Untersuchung ist) werden, inwieweit psychische Komponenten an der Bildung von Identität beteiligt sind. Johnson (1993) hat diesbezüglich etwa auf den Begriff der ‚Anerkennung‘ und seine Verbundenheit mit Macht und Begehren hingewiesen.
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und seine Struktur sind es, die selbst über die (bewusste) Absicht des Autors hinaus, Effekte erzeugen, die die Rezeption lenken48. Dementsprechend können nur identifikationsfördernde Strukturen erfasst werden, nicht aber die tatsächliche Leseridentifikation. Untersuchungsgegenstand und Reichweite der Aussagen sind jeweils der konkrete Text49. Viele Studien ziehen politische wie literarische Texte als Informationsquelle zur Untersuchung des nation-building heran, ohne deren Spezifika (und deren spezifische Kommunikationssituation) zu berücksichtigen. Laguado (2007: 312, 313) etwa bezieht sich zur Beantwortung der Frage, welche Bevölkerungsgruppen Teil der argentinischen Nation sein sollten auf Sarmientos Facundo (1845). Dabei erfahren bestimmte Bevölkerungsgruppen in literarischen Texten oftmals eine Idealisierung, obwohl sie in der sozio-politischen Welt diskriminiert wurden (vgl. etwa die Darstellung von Indigenen in der hispanoamerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts). Wählt Wink (2009), seinem Forschungsinteresse entsprechend, einen kulturwissenschaftlichen Zugang zur Analyse der Konstruktion von ‚Brasilien‘, der einzelne Textsorten des Korpus’ nicht primär nach pragmatischen und literarischen Texten differenziert, sondern diese gemeinsam analysiert, so ist es für die Beantwortung der Fragestellung dieser Arbeit unerlässlich, politische und literarische Texte getrennt zu analysieren, sollen doch die Spezifika von Literatur beim nation-building untersucht werden. Doch auch zur Erfassung der Konstruktion der Nation in den Texten der beiden Korpora wird kein gemeinsamer, sondern ein getrennter Analysevorgang durchgeführt, wenngleich die Dimensionen aus Analyseschema 1 auch für die Analyse der literarischen Texte Anwendung finden, um diese anschließend miteinander konfrontieren zu können. Dementsprechend wurde darauf geachtet, Leerstellen in den literarischen Texten nicht mit Informationen aus den politischen Texten zu füllen, wie dies zur Interpretation literarischer Texte bisweilen vorkommt50. Es wird auf diese Weise ersichtlich, ob die literarischen Texte die Nation anders konstruieren als
48 Andere wirkungsästhetische Aspekte werden in dieser Analyse nicht berücksichtigt. 49 Da nicht angenommen werden kann, dass die Autoren unbeabsichtigterweise nationbuilding-Texte hervorgebracht haben, soll parallel zur Textanalyse nach deren Auffassungen zum Verhältnis von Literatur und Nation gefragt werden. Dabei wird dem Vorschlag von Birgit Kaute (2001) gefolgt: „Den jeweiligen Formationssystemen kann man sich auf eine zunächst paradox erscheinende Weise nähern. Einerseits wird ihre Beschreibung nur gelingen, wenn die zeitgenössischen Definitionen der Funktion und Wirkungsweise der betreffenden Werke einbezogen werden. Es spielt durchaus eine Rolle, auf welche Weise die Existenz eines Werkes als Dichtung oder Literatur legitimiert wird. Andererseits liefert die Beschreibung einer solchen Legitimationsweise nicht die Beschreibung des Formationssystems, das die Werke reguliert. Die Werke selbst dürfen gerade nicht als Ausführungen solcher normativer und deskriptiver Aussagen gelten, die sich zugleich als Reglementierungen und als beschreibende Reflexionen geben. […] Das scheint paradox, ergibt jedoch Sinn, wenn man das Verhältnis zwischen einem Legitimationsdiskurs und einer Werkformation als Korrelationsverhältnis begreift und nicht als Determinationsbeziehung.“ (Kaute 2001: 142). 50 Vgl. die Diskussion dazu im Abschnitt zu El matadero (1839) (Kapitel ‚Analyse der literarischen Texte‘).
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die politischen oder ob es sich vielmehr um einen gemeinsamen Diskurs handelt, an dem beide Textsorten partizipieren. Schließlich soll angemerkt werden, dass eine Einordnung der literarischen Erzähltexte als Thesenromane möglich wäre. Sie alle legen dem impliziten Leser die Übernahme einer ideologischen Sicht nahe, sie alle sind einem gesellschaftlichpolitischen Anliegen unterstellt. Wenn die Klassifikation als Thesenroman nicht in den Vordergrund gestellt werden soll, so deshalb, weil dieser Begriff einerseits häufig negativ konnotiert ist und andererseits infolgedessen oftmals eine genaue Analyse der Perspektivenstruktur als überflüssig erscheint: Der Roman ziele ohnehin auf die politische persuasio ab. Gerade die jeweiligen Formen, wie eine kohärente Perspektivenstruktur in den Romanen etabliert wird, sind in dieser Arbeit aber von Interesse, in der es darum geht zu zeigen, wie der Roman in seiner Thesenhaftigkeit wirkt und wie er sein politisches Programm auf die narrativen Instanzen auffächert. Es gilt nach eben jenen Techniken zu fragen, die die einzelnen literarischen Erzähltexte für das nation-building relevant erscheinen lassen, so wie dies Klaus-Dieter Ertler (2000) generell als Desiderat zum Thesenroman formuliert: „Eine Studie über die literarische Beobachtung ideologischer Phänomene sollte sich im Sinne der vorliegenden Arbeit daher nicht auf das was beschränken, sondern auch untersuchen, in welcher Form Thesenhaftes – von ideologischen Kompaktkonstruktionen bis zu feinsten Spurenelementen an Ideologismen reichend – durch die Erzählmechanismen einer Behandlung unterzogen wird. Dazu gehört die Darstellung der Standpunktproblematik von abstraktem Autor, Erzähler und Figuren ebensogut wie die narratologische Untersuchung der Ebenenunterscheidung oder der Systembezogenheit fest umrissener métarécits. Wer oder vielmehr welche Instanz urteilt wie über welche ideologischen Fokalisierungen anderer? Aus welchem Kontext heraus geschieht dies? Steht der abstrakte Autor oder der allwissende Erzähler auch den ideologischen Zusammenhängen so erhaben gegenüber wie seiner Erzählung? Erst eine umfassende Betrachtung solcher Faktoren kann einen Einblick in die dem literarischen Text mehr oder minder sichtbar eingewobenen Spruchbänder vermitteln. [Kursivierungen im Original]“ (Ertler 2000: 65)
Definitionen Die genannten Begriffe ‚Freiheit‘, ‚Staat‘, ‚Nation‘, ‚Identität‘ und ‚Erzählung‘ werden im Theorieteil in ihrem Kontext definiert. Bezüglich ‚Erzählung‘ sei ergänzend erwähnt, dass mit den Begriffen ‚Erzählung des Liberalismus‘ und ‚Erzählung der Nation‘ in den Kulturwissenschaften keine literarische, künstlerische Textgattung im engeren, literaturwissenschaftlichen Sinne verstanden wird, so etwa bei Homi Bhabhas Nation and narration (1990), sondern der narrative Charakter nationaler Identitätsbildungsprozesse, d.h. eine besondere Form der (nicht zwingendermaßen literarischen) Narration. Terminologisch wird daher in dieser Arbeit zwischen dem allgemeineren Begriff der Erzählung (im kulturwissenschaftlichen Sinne) und dem spezifischere Begriff des ‚literarischen Erzähltexts‘ (bezogen auf die literarische Gattung) differenziert. Plot Angesichts der uneinheitlichen Terminologie (vgl. etwa die Systematik bei Lahn/Meister 2013: 215) soll hier kurz skizziert werden, was in dieser Arbeit unter
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‚Plot‘, was unter ‚Handlung‘51 verstanden wird und welche Aspekte dieser Kategorien für die Analyse der Texte aus dem Korpus als relevant erscheinen. Unter ‚Plot‘ wird laut Platas Tasende (2004: 640) sowohl die logisch-kausale Verknüpfung einzelner Handlungselemente, d.h. die Ordnung der Ereignisse nach ihrer kausalen Verknüpfung als auch ganz allgemein ‚Handlung‘ verstanden. Hier werden die Begriffe folgendermaßen unterschieden: ‚Plot‘ ist für die Kausalitätskette, die sich aus einzelnen Ereignissen zusammensetzt, reserviert, ‚Handlung‘, verstanden als Textkonstrukt52 (Lahn/Meister 2013: 218), hingegen umfasst sämtliche im Diskurs präsente Ereignisse, d.h. die „Gesamtheit des Geschehens in literarischen Texten“ (Friedrich 2011: 118). Während die Handlung anhand einzelner Stellen konkret im Text auffindbar und verortbar ist, ist der Plot „[…] eine Abstraktion aus den verschiedenen Handlungselementen der Geschichte: Seine einzelnen Handlungsphasen kommen auf der konkreten Ebene der in Sprache umgesetzten Handlungen und Geschehnisse oft noch gar nicht vor.“ (Busse 2004: 32), da er stark resümierend ist und häufig auch psychologische Abläufe und Entwicklungen von Figuren umfasst, die im Text nicht immer explizit benannt sein müssen (Busse 2004: 33). Sind Elemente der erzählten Welt nicht nur Teil der Handlung, sondern auch des Plots, so kann davon ausgegangen werden, dass sie höhere Relevanz erlangen als solche Handlungselemente, die nicht Teil der logisch-kausalen Handlungskette sind. Aber auch jene Handlungsverläufe, die nur von den Figuren angedacht, erträumt, etc. werden, aber in der Geschichte nicht vollzogen werden, sind grundsätzlich für die Analyse relevant. Sie können als formulierte Alternativen verstanden werden, ihre Nicht-Erfüllung kann sich als genauso bedeutsam wie der eingetretene Handlungsverlauf erweisen (Busse 2004: 33, 34). Das Identifizieren solch alternativer Handlungsverläufe, die schließlich nicht Teil des konkreten Plots wurden, kann mitunter ein subjektives Unterfangen sein, das vom Lesersubjekt abhängig ist. Es sollen in dieser Arbeit daher nur jene objektiv im Text identifizierbaren Alternativen berücksichtigt werden, die konkret durch Erzähler- oder Figurenkommentare im Text präsent sind. Zugleich rückt damit die Art der Vermittlung (durch die Erzählinstanz bzw. als Intentionen der Figuren) der alternativen Handlungsverläufe, die für die Bewertung derselben relevant sind, in den Blickpunkt. (Busse 2004: 35, 37, 48) Subjektivität Bedingt durch die Fragestellung dieser Arbeit mit Blick auf Freiheit und Nation liegt der Fokus hier auf politischer agency, weniger auf sozialer oder ökonomischer Handlungsfähigkeit. Damit werden aus Gründen der Operationalisierbarkeit, die ja v.a. Inund Exklusionsmechanismen, die mit Freiheit und Nation verbunden sind, abdecken soll, andere Dimensionen von Subjektivität, etwa philosophische, existenzielle oder emotionale Bewusstwerdung ausgeklammert. Als mit Subjektivität ausgestattete Figuren gelten demnach all jene, die in der erzählten Welt in wie auch immer gearteter Form mit Freiheit und Nation verbunden werden. Vor dem Kontext des Liberalismus 51 Für eine Definition der Begriffe ‚Geschehen‘, ‚Geschichte‘ und ‚Diskurs‘ vgl. Kapitel ‚Nation – Identität – Erzählung‘.
52 Die erzählte Handlung kann mit Lahn/Meister (2013: 217) auch aus Sicht der Rezeption untersucht werden und ist dann jene Kette an Ereignissen, aus der die Leser/innen eine kohärente Version im Rezeptionsvorgang konstruieren.
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interessiert hier besonders das rational-autonom handelnde Subjekt. Es stellt sich in der Analyse die Frage, ob die aktiv handelnde Figur als rationales, als „freies und unabhängiges Wesen“ (Aczel 2008: 691) inszeniert wird. Liberale Subjektivität wird in den literarischen Texten in Abhängigkeit vom Handlungsraum der Figur und deren rational-autonomen Handlungsfähigkeit betrachtet. Werte und Normen Grundsätzlich sind die Normen des Textes von den Normen der außertextuellen Welt zu unterscheiden – sie sollen nicht automatisch gleichgesetzt werden. „Zwischen dem Text (als Artefakt wie als ästhetisches Objekt) und dem sozialen Handeln besteht eine erst im Rezeptionsprozeß erfahr- und veränderbare Relation.“ (Kanzog 1976: 109). Die Aussagen, die in dieser Arbeit über Normen getroffen werden, beschränken sich stets auf die erzählte Welt. Durch diese Bezogenheit auf die fiktive Welt „[…] rücken [sie] in einen neuen Kontext ein, der insofern ihre Funktion verändert, als sie nun nicht mehr – wie im gesellschaftlichen Zusammenhang – als Regulative wirken, sondern selbst thematisch werden.“ (Kanzog 1976: 109). Dadurch kann ihre Wirkung erst zur Diskussion stehen. Unter Norm wird mit Kanzog (1976) ein „Maßstab bei der Beurteilung und Bewertung von Handlungen, zugleich Postulat oder Imperativ“ (Kanzog 1976: 110) verstanden. Auf Normen lässt sich aufgrund der an der Oberflächenstruktur des Textes präsenten Werte schließen, wobei in der Analyse nicht zwischen Werten und Normen differenziert wird. Der Norm- und Wertbegriff ist für diese Analyse insofern relevant als die Bewertung von Freiheit und Nation im Verhältnis zur Meinung, zum Handeln und der Charakterisierung der Figuren betrachtet werden. Diese wiederum lässt im Verhältnis zur Meinung und impliziten wie expliziten Bewertung durch die Erzählinstanz Schlüsse bezüglich des Norm- und Wertesystems der erzählten Welt zu. Vorbemerkungen zur Diskussion von ‚Freiheit‘, ‚Staat‘, ‚Nation‘ Wenn im folgenden Kapitel die Begriffe ‚Staat‘, ‚Freiheit‘ und ‚Nation‘ diskutiert werden, so kann es sich dabei nicht um einen umfassenden (begriffs-)geschichtlichen Überblick handeln53. Auch können die vielfältigen Bedeutungen und Konzeptualisierungen von ‚Staat‘, ‚Freiheit‘ und ‚Nation‘ weder im europäischen noch im hispanoamerikanischen Kontext in ihrer Tiefe behandelt werden, die ja geradezu von Autor/in zu Autor/in andere Schwerpunktsetzungen und Nuancen erfahren. Wenn hier dennoch einzelne Momente und Details aus der Geschichte des Verhältnisses zwischen den genannten Begriffen von den frühneuzeitlichen Begriffen bis ins 19. Jahrhundert diskutiert werden, so nicht mit dem Anspruch, eine umfassende Geschichte derselben nachzuzeichnen, sondern vielmehr, um allgemeine Tendenzen und Leitlinien zu skizzieren, die sicherlich ergänzt werden könnten. Der interdisziplinäre Zugang zu den ausgewählten Texten macht die Wahl eines theoretischen Ansatzes zu den sich wandelnden Beziehungen zwischen Staat, Freiheit und Nation schwierig. Denkbar wären Ansätze u.a. aus den Disziplinen Ideengeschichte, Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft, Rechtsphilosophie. Das Erkenntnisinteresse bestimmt sich dabei auch durch den Zugang der einzelnen Disziplin, das – um nur einen Aspekt zu nennen – stärker philosophisch/ideengeschicht53 Siehe dazu Brunner et al. 1975/1990/1992.
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lich oder historisch ausgeprägt sein kann. Für die gewählte Fragestellung an die Texte aus dem Korpus, die politischen und/oder literarischen Anspruch erheben, geht es jedoch nur bedingt um die historische ‚Wirklichkeit‘ – auf die sich aber alle ausgewählten Texte beziehen. Das Korpus stellt ein Forum der Diskussion zeitgenössischer (‚historischer‘) Fragestellungen und Anliegen dar, das stärkere philosophische und/oder politische und/oder literarische Ansprüche erkennen lässt. Gegenstand ist also der Diskurs über Freiheit und Nation in Texten unterschiedlicher Art, deren Anliegen es meist nicht ist, den status quo der bereits verwirklichten Freiheit in der argentinischen Republik zu beschreiben bzw. konkrete Reformvorschläge zu unterbreiten. In vielen der Texte geht es gerade darum, mithilfe des Textes eine argentinische Nation und ein Zugehörigkeitsgefühl zu ihr zu schaffen, die mitunter auf dem Bekenntnis zu (wie auch immer gearteter) Freiheit beruht. Diese wird in den Texten aber häufig in ihrer Abstraktheit und idealtypischen Form evoziert. Wäre eine detaillierte Untersuchung der Entwicklung des argentinischen Freiheitsbegriffes in den Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit aus einer geschichtswissenschaftlichen, aber auch ideengeschichtlichen und rechtsphilosophischen Sicht wichtig und legitim, so diente sie doch nicht der Untersuchung jener Mechanismen und Verfahren, die in der Literatur der generación del 37 eingesetzt wurden, um mit Bezug auf Freiheit ein Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit zu schaffen: Es ließen sich kaum Belegstellen für detaillierte Freiheitsbegriffe der Epoche in den literarischen Texten finden. Dass hier eine überblicksartige Darstellung gewählt wurde, die sich aus allen genannten Disziplinen bedient, führt mitunter dazu, dass sowohl historische Formen von Freiheit als auch philosophische Freiheitskonzepte einzelner Theoretiker, die sich in dieser Form nicht unbedingt in der Empirie wiederfinden, berücksichtigt werden. Beides scheint für die Entwicklung eines Begriffsrasters wichtig, vermengen sich doch auch in den Texten des Korpus Bezüge zu historischen Formen von Freiheit mit jenen zu philosophischen Vorbildern. Die zu untersuchenden Texte weisen zahlreiche Anspielungen und Bezüge zu europäischen und nordamerikanischen Staats- und Freiheitstheorien auf – nicht selten werden Frankreich und die USA explizit als Vorbilder genannt, ja es sollten ‚europäische Verhältnisse‘ in Argentinien geschaffen werden. Dies ist auch der Grund, weshalb in diesem Überblickskapitel der Fokus auf Europa54 54 Und hier v.a. Frankreich und ‚Deutschland‘. [Da in der Sekundärliteratur meist generell von ‚Deutschland‘ die Rede ist und selten expliziert wird, um welche historische Konstellation es sich handelt, wird der Begriff – allerdings unter Anführungszeichen – übernommen.] Die Verweise auf die ‚deutsche‘ Entwicklung und „das vorrevolutionäre und frühkonstitutionelle Deutschland“ (Schulze W. 2010: 157), das Schulze W. (2010) als „ein vielfältig differenziertes politisches System“ (Schulze W. 2010: 157) bezeichnet, sollen eine zu lineare ‚Erzählung‘ des Verhältnisses zwischen Freiheit, Staat und Nation verhindern und immer wieder auf historische Interpretationen und Umsetzungen der idealtypischen Konzepte sowie ihrer Bruchlinien verweisen. Gerade Beispiele zur ‚deutschen‘ Staatlichkeit scheinen hierzu geeignet: „Staat stellt sich in Deutschland immer als ein doppeltes System dar. Da ist einmal der Territorialstaat, der Mitgliedsstaat des Deutschen Bundes, der Gliedstaat des Reiches, das Land der Weimarer Republik, da ist aber außerdem das Reich als wichtiges Element des äußeren Schutzes, der Rechtssicherheit, das Kaisersymbol, der Rheinbund mit seinem Protektor Napoleon, der Deutsche Bund mit seinen Hegemonialmächten Österreich und Preußen, das Zweite Kaiserreich mit dem preußischen König und
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und Nordamerika liegt. Der argentinische Diskurs entsteht vor der Hintergrundfolie der europäischen und nordamerikanischen Diskussion und ihrer Geschichte und kann so erst in Ablehnung, Abgrenzung, Bewunderung und Erneuerung zu dieser erfasst werden. Es scheint daher auch nicht vermessen – und auch nicht einer eurozentrischen Perspektive geschuldet – zunächst jene zu diskutieren, um im Anschluss den konkreten Entstehungskontext in Argentinien selbst zu behandeln. Generell stellt sich jedoch die Frage, ob sich etwa die für die Entwicklung des Freiheitsbegriffes in Europa und den USA so zentralen Menschenrechte ohne (geistigen) Imperialismus überhaupt für andere Regionen anwenden lässt. Schließlich „steckt als Vorannahme ein gewisser westlicher Individualismus“ (Horn 2012: 87) in diesem Konzept. Dem könnte entgegengehalten werden, dass bei den meisten Autoren der generación del 37 gerade ein ausdrückliches Anknüpfen an dieses Konzept als Ziel erkennbar wird, allerdings – und das wird in den Texten besonders betont – angepasst an die (strukturellen, geographischen, sozialen, politischen, etc.) Gegebenheiten, den Spezifika der argentinischen Nation und Nationsangehörigen. Um genau die jenen Spezifika geschuldeten Veränderungen und Neukonzeptionen der europäischen Ideen untersuchen zu können, müssen aber auch diese selbst in den Blick genommen werden. Die Frage nach der Anwendbarkeit der in Europa und den USA entwickelten Konzepte55 wird so stets mitgedacht. Besonders deutlich zeigen sich jene Neuinterpretationen, folgt man den Überlegungen Hofmanns (2011), bei der Positivierung menschenrechtlicher Prinzipien in Form der Verfassung des jeweiligen Staates. „Notwendig ist dies [die juristisch-rechtsphilosophische Reflexion unter Berücksichtigung der Rechtsethik] freilich auch und besonders deswegen, weil jene universellen menschenrechtlichen Grundsätze bei der verfassungsrechtlichen Umsetzung eben allemal in die Gründung partikulärer Rechtsgemeinschaften eingehen und sich so unvermeidlich mit je besonderen ethischen und rechtlichen Traditionen verbinden.“ (Hofmann 2011: 43)
Für den gewählten Fokus dieser Arbeit kann ein streiflichtartiger Überblick Wertvolles leisten: Zum einen kann die Definition der verwendeten Begriffe56 differenzierter und pointierter erfolgen als dies in Kurzdefinitionen möglich ist. Gerade zu den genannten Begriffen lässt sich bis dato kein Konsens zu ihrer Definition in der Forschungsliteratur finden – vom semantischen und konzeptuellen Wandel der Begriffe im historischen Vergleich ganz abgesehen. Zum zweiten lenken die hier angestellten Grundsatzüberlegungen sowie die Synopse bestehender Forschungsliteratur zu den relevanten Begriffen den Blick auf jene Schnittstellen zwischen eben diesen, die für die Erstellung eines Rasters zur Analyse des Korpus unerlässlich sind. Der Fokus auf Kaiser. [Fettdruck im Original]“ (Schulze W. 2010: 176), wobei hier v.a. die Entwicklung bis 1870 relevant ist. (Schulze W. 2010: 156, 157) 55 Zwischen zwei der Autoren der generación del 37, Alberdi und Sarmiento, ist diesbezüglich eine Meinungsverschiedenheit entstanden: Während Alberdi eine Anpassung der argentinischen Verfassung an die necesidades del país fordert, spricht sich Sarmiento für die Anlehnung an das US-Modell aus (vgl. dazu die Ausführungen im Analyseteil der politischen Texte. 56 Der Begriff ‚Moderne‘ etwa hat je nach Bezug auf ‚Staat‘, ‚Freiheit‘, ‚Nation‘, ‚Verfassung‘, etc. eine andere Datierung erfahren.
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den Beziehungen zwischen Staat, Freiheit und Nation deutet von sich aus bereits auf eine Einschränkung des semantisch so umfangreichen und disziplinenübergreifenden Begriffs der ‚Freiheit‘ hin. ‚Äußere Freiheit‘ wird so in dieser Arbeit im Zentrum stehen57. Besondere Aufmerksamkeit soll dem Verhältnis von Staat, Freiheit und Nation begrifflich wie konzeptuell in seiner modernen Ausprägung zuteilwerden. Dieser Fokus ergibt sich aus Gründen des behandelten Gegenstandes dieser Arbeit: dem literarischen nation-building im 19. Jahrhundert, einer Epoche, in der sowohl in Europa als auch in Hispanoamerika eben jenes Verhältnis neu strukturiert wird. Zum dritten schließlich soll anhand der folgenden Ausführungen die Relevanz der Untersuchung des Verhältnisses von Freiheit und Nation überhaupt deutlich werden.
57 Der Bereich der ‚inneren Freiheit‘ kann für das Verhältnis von Freiheit zu Staat und Nation weitgehend ausgeklammert werden, sodass rechtliche und politische Freiheit im Vordergrund stehen, selbst wenn die Willensfreiheit mit der äußeren Freiheit in Verbindung stehen mag.
Freiheit – Staat – Nation
F REIHEIT – S TAAT – N ATION Die Diskussion des Freiheitsbegriffes setzt mit der für diese Arbeit relevanten Frage nach den ständischen Freiheiten (iura et libertates1) ein, ohne verschweigen zu wollen, dass die Erörterung des Begriffs der ‚Freiheit‘ im 16. und 17. Jahrhundert vorwiegend aus theologischer Sicht diskutiert wurde und weniger um das Thema der politischen als jenes der Willensfreiheit zentriert war (Krawietz 1972: 1089). Bereits vor 1650 umfasste der Freiheitsbegriff nebst den iura et liberates „[…] die libertas christiana, die libertas der antiken Republik2, die persönliche Freiheit im Gegensatz zur Sklaverei, die libertas naturalis und die Willens- und Handlungsfreiheit […; Kursivierungen im Original]“ (Klippel 1975: 469, 470). Im Unterschied zu den gesetzlich verankerten ‚Freiheiten‘ der Stände, den „positiv-rechtlichen Privilegien“ (Dipper 1975a: 450)3, ließen die anderen libertates keine konkrete politische und/oder rechtliche Definition und Einlösbarkeit zu: Sie bestanden in „[…] mannigfaltigen Formen jeweils als abstrakte Kategorie in der Theologie und der Philosophie, ohne sich im allgemeinen in konkrete Freiheiten umsetzen und dadurch im rechtlich faßbaren politischen Raum artikulieren zu können.“ (Klippel 1975: 470). Die christ1
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Die iura et libertates wurden z.B. in der englischen Magna Charta 1215 verbrieft. In ihr wurden dem Adel und der Kirche Freiheiten gegenüber der Krone gesichert (Wintersteiger 2012: 83). Bedeutend ist dies in diesem Kontext auch deshalb, da dieses Rechtsdokument zu einer zentralen Quelle für das Verfassungsrecht Englands werden sollte. Die antiken Freiheitsbegriffe wurden z.T. bereits mit der Idee der Demokratie verknüpft – eine Verbindung, die erst viele Jahrhunderte später wieder relevant werden sollte. In den griechischen Poleis und im römischen Staat ist ‚Freiheit‘ noch kein selbstständiger und auch kein zentraler Begriff. ‚Freiheit‘ ist vorrangig mit der Statusunterscheidung zwischen ‚Freien‘ und ‚Sklaven‘ verbunden. Die athenische Freiheit wurde als Freiheit der Polis an sich und als Freiheit im Staat gedacht, d.h. als Teilhabe der Bürger (des männlichen ‚Freien‘) an der Polis; eine Freiheit vom Staat (d.h. eine Unabhängigkeit des Bürgers von der Polis) gab es in der weiter unten näher erläuterten Form nicht. Persönliche Freiheitsrechte sollten auch in Rom nicht existieren. (Kreinecker 2012: 109; Böckenförde 2006: 29, 30; Bleicken 1975: 430- 435) Ein Beispiel für jene Rechte, die sich einzelne Teilregionen der Monarchien im Absolutismus aufgrund ihrer historischen Rechtsgrundlagen stets vom neuen Monarchen bestätigen ließen wären die fueros, die gegenüber den spanischen Königen eingefordert wurden (Scheuner 1974: 16).
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lich begründete Freiheit, die eschatologischen Charakter hatte, konnte dennoch politische Relevanz erlangen, wenn sie in sozialen Unruhen zur Grundlage für den Ruf nach Freiheit wurde (Dipper 1975a: 448). Anders als die iura et libertates war die christlich oder naturrechtlich begründete Freiheit nicht an den Stand gebunden und eine prinzipiell für alle gültige „persönliche[…] Freiheit“4. In der Praxis stieß aber auch sie schnell an ihre Grenzen, da der Freiheitsbegriff insgesamt „als Korrelat zu ‚Herrschaft‘ Ausdruck der Verortung innerhalb der sozialen Pyramide [Anführungszeichen im Original]“ (Dipper 1975a: 448) war. Politisch und rechtlich gesicherte Freiheit ergab sich in den iura et libertates also aus der Unterstellung unter den Schutz eines Herrn oder der Zugehörigkeit zu jener Minderheit, die über die Macht verfügte, ihre Freiheit absichern zu können. Freiheit war aufgrund dieses sozialen Kriteriums eng an den Begriff des Eigentums gekoppelt. Die für die Neuzeit charakteristische Rivalität zwischen dem Staat und den Ständen, die sich für den Erhalt ihrer Freiheiten (Privilegien) auf ihrem Gebiet und ihre politische Einflussnahme (u.a. zur Sicherung derselben) einsetzten, sollte zu einem „dreiseitige[n] Verhältnis zwischen Freiheiten, Schutz und Herrschaft“ (Dipper 1975a: 451) beitragen. Dennoch war der Staat seit dem 16., v.a. aber im 17. Jahrhundert bestrebt, seine absolute Macht durchzusetzen und daher die ständischen Privilegien (‚Freiheiten‘) abzubauen5. (Dipper 1975a: 447-455) „Der Staat, der die ‚Freiheiten‘ im 17. Jahrhundert durch Staatsräson eingeschränkt hatte, wies nun die Richtung zur ‚Freiheiten‘ aufhebenden ‚Freiheit‘, unbeschadet der Tatsache, daß die Wirklichkeit dieser Tendenz noch kaum entsprach. Daß die Freiheiten inhaltlich nicht dem Naturrecht zugerechnet werden dürfen, verstand sich für die Publizisten von selbst. Strittig hingegen war die Frage, ob sie es durch ihre bloße Existenz verletzten und darum in einer Zeit, die dem Naturrecht zur direkten Geltung verhelfen wollte, suspekt erscheinen mußten. [Anführungszeichen im Original]“ (Dipper 1975a: 455)
Die Beziehung zwischen den ständischen Freiheiten und dem Staat wurde erst im 18. Jahrhundert rechtlich systematisiert (Dipper 1975a: 447), zu eben jener Zeit, als die bis dahin als natürlich angesehene Ungleichheit der Menschen, auf der die ständische Freiheit gründet, nachhaltig hinterfragt wurde. Dipper (1975a) schätzt die Idee der natürlichen Gleichheit als ‚bedrohlicher‘ für den ständischen Freiheitsbegriff ein als die Entwicklung des sich zunehmend zentralisierenden und die Staatsgewalt bündelnden neuzeitlichen Staates. Der naturrechtlich begründete Freiheitsbegriff, so er auf der Gleichheit der Rechte beruhte, musste in Widerspruch zu den ständischen Privilegien stehen. Der Antagonismus dieser beiden Freiheitsbegriffe sollte bis zum Ende des 18. Jahrhundert schließlich zugunsten der naturrechtlichen Freiheit aufgehoben werden. Voltaires Auffassung, dass gewährte Freiheiten (Privilegien) unvereinbar mit Freiheit sind, sollte laut Günther (1975: 463) bis 1840 immer wieder ins Treffen geführt werden. (Dipper 1975a: 454-456) 4
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Vgl. etwa die Gewissensfreiheit, „[…] ein[…] Privileg […], das – innerhalb gewisser Grenzen – sämtlichen Reichsbewohnern [des Heiligen Römischen Reichs], auch den ständischen Unterschichten zugebilligt wurde.“ (Dipper 1975a: 452). Für eine Diskussion des Freiheitsbegriffes bis zum 18. Jahrhundert vgl. Brunner et al. (1975: 425-542).
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Die aufklärerische Freiheitsdebatte charakterisiert sich durch die Ablehnung der iura et libertates, denn der Begriff der ständischen Freiheit war zu stark mit dem politischen System verzahnt, als dass er sich als anschlussfähig für die Ziele der Aufklärung erweisen hätte können. Im 18. Jahrhundert werden daher gerade die libertates6, die im Gegensatz zu den iura et liberates grundsätzlich nicht an „ständisch qualifizierte Gruppen, also meist adelige Privilegieninhaber“ (Schulze W. 2010: 213) gebunden sind, zur Argumentation eines neuen Freiheitsbegriffes herangezogen (Klippel 1975: 469-471). Zugleich reduziert sich im Sprachgebrauch der Plural der ‚Freiheiten‘ zunehmend auf den Gebrauch des Singulars, der ‚Freiheit‘ – laut Wintersteiger (2012: 78) ein möglicher Aspekt zur Unterscheidung zwischen vormodernen Freiheiten und moderner Freiheit. Im Konzept der modernen Freiheit sei das semantische Element der ständischen Freiheiten nicht mehr enthalten. (Wintersteiger 2012: 78, 79) Welche Freiheitsbegriffe waren nun im Zeitalter der Aufklärung bestimmend und wie veränderten sie das Verhältnis zwischen Individuum und politischer Herrschaft? „Die Basis für die Debatten um Freiheit und Gleichheit im 17. und 18. Jahrhundert sind Naturrechtskonzepte, von denen aus die neue Idee subjektiver Rechte, die jedem Individuum zustehen, entwickelt wird. Kritische Potenz erwächst auch aus dem postulierten Widerstandsrecht, das bei Verletzung natürlicher Rechte aktuell wird.“ (Bluhm 2007: 388)
Waren die ständischen Freiheiten Privilegien, die eine Gruppe aufgrund ihrer Stellung in der sozialen Hierarchie für sich in Anspruch nehmen konnte, so verstand sich der naturrechtliche Freiheitsbegriff nicht länger als exklusives Recht, das an soziale Faktoren gebunden ist, sondern basierend auf dem für alle Menschen gleichermaßen gültigen Gleichheitsgrundsatz. Es handelt sich nicht mehr um ein an ein Kollektiv gebundenes, sondern als im Individuum begründetes Recht. Und dennoch werden auch naturrechtliche Freiheitsbegriffe formuliert, die den Gleichheitsbegriff nicht implizieren und die nicht im Widerspruch zu den ständischen Freiheiten stehen, etwa wenn natürliche Freiheit ausschließlich als Vertragsfreiheit gefasst wird. (Dipper 1975a: 486) Das Konzept der natürlichen Freiheit, insbesondere wenn es mit dem Begriff der rechtlichen Gleichheit verbunden wird, befördert insgesamt nicht nur eine Individualisierung, da es die (gleiche) persönliche Freiheit des/der Einzelnen in den Blick nimmt, sondern es zielt zugleich auf die Neubestimmung seines Verhältnisses zu politischer Herrschaft ab: „Das in der sozialen Wirklichkeit doch allenthalben festzustellende dominium an Menschen und die nicht minder reale iurisdictio politica werfen die Frage auf, wie diese mit der Freiheit des Menschen vereinbar sind.“ (Klippel 1975: 471).
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Nicht alle liberates wurden wiederbelebt: So blieb etwa die libertas christiana weitgehend unberücksichtigt. (Klippel 1975: 469-471)
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Exkurs: Gesellschaftsvertrag Die neuzeitliche Diskussion zur natürlichen Freiheit kommt nicht ohne den Begriff des Gesellschaftsvertrags7 aus, der mit Thomas Hobbes „eine einheitliche individualistische Verwurzelung und naturrechtliche Fundierung“ (Kersting 1990: 901) erfährt. In Form der Idee eines Übergangs vom Naturzustand zum Herrschaftsverband über den Gesellschaftsvertrag ist dieser prägend für die politische Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts geworden8. (Kersting 1990: 901) In Richtung einer Gesellschaftstheorie geht bereits die spanische Spätscholastik (z.B. bei Luis de Molina und Francisco Suárez) mit den Annahmen, dass Menschen aufgrund ihrer Natur gleich sind, einer Gemeinschaft bedürfen und sich zu einer ebensolchen zusammenfinden. Das Recht auf Herrschaft liegt hier ursprünglich bei der Gemeinschaft. Doch die erstaunliche Formulierung der naturrechtlichen Gleichheit von Individuen war weniger zur inhaltlichen und rechtlichen Legitimation der Herrschaft eines Gemeinwesens, sondern vielmehr zur Ablehnung der gottesrechtlich begründeten Herrschergewalt eingebracht worden. (Kersting 1990: 915, 916) In der neuzeitlichen, auf dem Naturrecht gründenden Vertragsidee steht das Individuum im Zentrum. Sie ist nicht länger von formelhaftem und/oder herrschaftsabsicherndem Charakter, sondern vom Gedanken der Auflösung der ständischen Hierarchie und ihrer Gesellschaftsordnung getragen und soll nun eine ‚neue‘ Ordnung begründen. In Thomas Hobbes’ Leviathan (1651) wird methodisch-argumentativ die Fiktion9 des Naturzustandes (status naturalis) eingesetzt, um Herrschaft und Gewaltsamkeit im status civilis zu rechtfertigen. Natürliche Freiheit kann jedoch selbst im Naturzustand nicht voll zur Geltung kommen, ja sie und die Sicherheit des/der Einzelnen sind aufgrund des drohenden Kriegs jedes gegen jeden gefährdet, der durch das Fehlen von Staatsgewalt und Rechtsstaatlichkeit unvermeidbar scheint (Kersting 1990: 918). Zugunsten der individuellen Sicherheit treten die Vertragsparteien daher in den status civilis ein, indem sie ihre Freiheit an den Staat abgeben10, die dafür durch den Staat als unbeteiligte Partei gesichert wird (Kersting 1990: 919). Der Gesellschaftsvertrag ist gepaart mit der Staatsgewalt Bedingung für gesicherte individuelle Freiheit. Bemerkenswert ist dabei die Betonung eines Konzepts der Freiheit, das 7
Laut Kersting (1990) etabliert sich mit der naturrechtlichen Vertragslehre der Begriff des ‚Gesellschaftsvertrages‘, der jenen des ‚pactum‘ ablöst. Später sollte der Verfassungsvertrag den Gesellschaftsvertrag ablösen, der im jüngeren deutschen Naturrecht auch als Staatsvertrag bezeichnet wird. (Kersting 1990: 903) 8 Für einen vergleichenden Überblick zum Konzept des Vertrags in der Antike vgl. Kersting (1990: 903-906). Im Gegensatz zum neuzeitlichen Vertragsgedanken weist der mittelalterliche Herrschaftsvertrag keinen „normativ-konstruktiven Charakter“ (Kersting 1990: 910) auf. Der pactum wird vorwiegend als „Deutungs- und Darstellungselement“ (Kersting 1990: 910) verstanden, nicht als Grundlage und Legitimation des Verhältnisses zwischen Herrscher und Volk verwendet und regelt auch nicht den Ursprung der Staatsgewalt. (Kersting 1990: 909, 910, 914) 9 Um eine Fiktion handelt es sich, da natürliche Freiheit im sogenannten Naturzustand des Menschen entweder lediglich theoretisch postuliert wird oder sich ausschließlich auf Vergangenes bezieht – schließlich leben die Menschen bereits in einem Staatsverband. 10 Ausgenommen hiervon ist das Recht auf Notwehr (Kersting 1990: 919).
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vorwiegend als individuelle Handlungsfreiheit gedacht wird11. Denn die Legitimität des Staates erwächst aus dem Souveränitätsverzicht des/der Einzelnen und dem Verzicht auf deren natürliche Freiheit. Erst in der Summe der individuellen Rechtsverzichte ergibt sich der Staat. Hobbes’ Staat basiert auf allgemeinverbindlichen Regeln einer Rechtsordnung und rechtfertigt sich nicht länger aus theologischen oder philosophisch-moralischen Gründen. (Hofmann 2011: 127; Kersting 1990: 921; Klippel 1975: 472, 473; Krawietz 1972: 1090) Wie Klippel (1975: 473) anmerkt, ist es für das Naturrecht des 18. Jahrhundert charakteristisch, in das Konzept der natürlichen Freiheit jenes der Vertragsfreiheit zu integrieren. Dadurch kann einerseits die Unterwerfung unter den absolutistischen Staat, dem die Vertragsidee grundgelegt wird, gerechtfertigt werden, andererseits aber auch Sklaverei: Dem/der Einzelnen steht es frei, sich in Unfreiheit zu begeben. Im status civilis geht indes die Freiheit des/der Einzelnen von der Herrschaftsmacht aus12. Für dieses „Freiheitsresiduum im Staat“ (Klippel 1975: 474)13 gibt es zunächst keinen Begriff; ab der Mitte des 18. Jahrhunderts wird sie bisweilen als libertas civilis begrifflich gefasst. Der Staat ist dabei eine am Vertrag unbeteiligte Instanz und rechtlich nicht gebunden: Aus dem Vertrag leiten sich die Legitimität der Herrschaft, nicht aber die Grenzen der Herrschaft ab (Kersting 1990: 921, 922). Freiheit als Aufgabe des Staates – und nicht etwa Freiheit vom Staate – erscheint so als Grundlage des aufgeklärten Absolutismus14. (Klippel 1975: 474-477) Daher muss es als bedeutende Neuerung im Verhältnis von Staat und Freiheit gewertet werden, dass bürgerliche Freiheit durch das Gesetz (und nicht den Willen des Herrschers) definiert wird. Der Bereich, in dem bürgerliche Freiheit wirken soll, wird durch einen rechtssicheren Raum abgesichert – ein Gedanke, den bereits John Locke formuliert hat. Ähnlich wie Hobbes, gründet Locke den Gesellschaftsvertrag in seinem Essay Concerning The True Original, Extent, and End of Civil Government (1690) zunächst auf das theoretische Konzept des Naturzustandes, das hier aber als historisch vorfindbare Form des Zusammenlebens verstanden wird (Kersting 1990: 917, 918). Im Naturzustand verfügen alle über das natürliche Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum. Die Gefahr, die einem friedlichem Zusammenleben im Naturzustand droht, wächst mit der Komplexität der Gesellschaft und der ansteigenden 11 Vgl. für die moderne Diskussion um den Stellenwert von Freiheit Axel Honneths (2011) drei Modelle von Freiheit: das negative, reflexive und soziale Freiheitsmodell.
12 Diese Interpretation ist v.a. im ‚deutschen‘ Naturrecht des 18. Jahrhunderts geläufig (Klippel 2000: 159, 160).
13 „[I]n dieser Phase des Denkens über das Verhältnis von Staat und Individuum [kann] kein Freiraum für individuelle Rechte gegenüber dem Staat entstehen […], denn individuelle Rechte waren eigentlich ein Zeichen von Nichtexistenz eines Staates.“ (Schulze W. 2010: 214). 14 Ähnliches wie hier für ‚Deutschland‘, lässt sich für Frankreich im 17. Jahrhundert feststellen, als die Monarchie unter anderem ihre Legitimation daraus bezog, die Sicherheit des/der Einzelnen durch ihre Autorität zu gewährleisten, was einem Verzicht auf politische Freiheit entsprach. Sicherheit und Freiheit wurden in diesem Kontext miteinander verschmolzen. Dies stieß auf den Widerstand jener, die ständische Privilegien genossen und ihre sogenannte liberté publique wiederherzustellen versuchten. (Van den Heuvel 1996: 88)
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wirtschaftlichen Ungleichverteilung mit der Einführung des Geldes, da sie sich nicht länger an der naturgegebenen Verteilung von Gütern15 orientiert. Als Lösung wird die Unterstellung unter den Staat mittels Gesellschaftsvertrag präsentiert, da der Staat in der Lage sei, Recht durchzusetzen16. Es handelt sich um einen Staat mit Gewaltmonopol, der mit dem (nicht verpflichtenden) Eintritt in den Gesellschaftsverband und dem Verzicht auf das „Recht auf private Naturrechtsvollstreckung“ (Kersting 1990: 928) entsteht. Zur effektiven Beschränkung der ausführenden Gewalt durch das Gesetz sieht Locke zudem Gewaltenteilung vor. (Hofmann 2011: 157, 158; Kersting 1990: 927, 928) Staatliche Herrschaft ist nun an „die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Gesetzesstaatlichkeit“ (Kersting 1990: 929) gebunden – ihr werden per Gesetz Grenzen gesteckt, wodurch staatliches Handeln vorhersehbar wird. Anders als bei Hobbes unterwerfen sich die Individuen nicht einem Souverän, sondern den zur Sicherung ihres Rechts nötigen Institutionen. Der Vertrag ist nicht nur Quelle der Legitimität für staatliche Herrschaft, sondern zugleich Begrenzung derselben. Die Grenzen sind v.a. dort gezogen, wo die Individuen auf ihre natürlichen Rechte verzichtet haben, also im Bereich ihrer Freiheitsrechte (und insbesondere des Rechts auf Leben, Freiheit und Eigentum). (Kersting 1990: 929) Die Idee, dass das Individuum dem Staatszwecke nicht unbeschränkt ausgesetzt ist, sondern Bereiche festgelegt werden, in denen staatliche Herrschaft an ihre Grenzen stößt17, bildet die Grundlage für eine „Freiheitssphäre der Individuen und der Gesellschaft“ (Böckenförde 1976: 189), die später in Form der individuellen Freiheitsrechte Eingang in die Erklärung der Menschenund Bürgerrechte fand. An der Vertragskonzeption Lockes hat Rousseau nicht nur die Festschreibung ökonomischer Ungleichheit kritisiert. Für diese Arbeit ist v.a. ein Vorwurf interessant, der auf das Recht auf politische Mitbestimmung zielt. Wenn auch bei Locke die Beschränkung von Herrschaft durch das Recht vorgesehen ist, so gilt Rousseau das Individuum nach wie vor als fremdbestimmt. Der bürgerliche Zustand habe zur Selbstentfremdung des Individuums geführt (Hofmann 2011: 162, 163). Rousseau schlägt daher eine Variante des Gesellschaftsvertrages vor, in der Herrschaft nur durch den Willen der Allgemeinheit, d.h. durch die Beteiligung des/der Einzelnen an der Gesetzgebung, möglich ist18. Das Konzept der politischen Freiheit kündigt sich bei Rousseau also an. Wie bei Hobbes aber „[…] verpflichtet sich [jeder] gegenüber jedermann zur Entäußerung seiner Freiheit und Rechtsmacht zugunsten einer vertragsunbeteiligten dritten Instanz.“ (Kersting 1990: 931). Insofern wird hier Freiheit 15 Locke meint, mit der Einführung des Geldes könne sich „das durch das Gebot bedarfsorientierter Eigennutzung eingegrenzte Appropriationsrecht“ (Kersting 1990: 928) zu einem uneingeschränkten Appropriationsrecht entwickeln. 16 Die Abgabe von Freiheitsrechten an den Staat geschieht hier aber mit dem Vorbehalt eines Widerstandsrechts bei Machtmissbrauch (Hofmann 2011: 161). Zudem bestehen die natürlichen Rechte nach Zusammenschluss im Staat bei Locke weiterhin (Horn 2012: 30). 17 Bei Locke erfolgt damit zugleich eine Trennung in privat (Eigentum) und öffentlich (Herrschaft) (Reinhard 2007: 46). 18 Während die meisten Aufklärer das Begriffspaar ‚Freiheit und Gleichheit‘ auf Gleichheit vor dem Gesetz beziehen, so formulieren Rousseau und Abbé Mably einen Gleichheitsbegriff, der bereits eine soziale Komponente aufweist (Dipper 1975b: 531).
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nicht im Verhältnis zwischen Individuum und Staat angesiedelt, „[…] sondern […; sie] geht als Konstitutionsbedingung eines gerechten Gemeinwesens und eines gerechten Rechtserzeugungsprozesses in diesen ein und in ihm auf.“ (Kersting 1990: 932). Es handelt sich bei der volonté générale nicht um eine Summe an individuellen Entscheidungen und Interessen, sondern um eine Ausrichtung am Gemeinwillen (Horn 2012: 67). Eine Trennung zwischen Staat und Gesellschaft ist in diesem Modell daher nicht erkennbar. (Kersting 1990: 931, 932) Gemeinsam ist den skizzierten Ansätzen zum Gesellschaftsvertrag der Grundgedanke, dass sich abgesicherte Freiheit für jedes Individuum nur als (wie auch immer begrenzte) Freiheit denken lässt. Dazu bedarf es einer Instanz, die gesicherte und begrenzte Freiheit durchzusetzen vermag. (Böckenförde 1973: 45) Wie die Absicherung und Begrenzung von Freiheit erfolgt und welche institutionelle Ausgestaltung die absichernde Instanz (in der Regel der Staat) aufweist sowie in welchem Verhältnis Staat, Individuum und Recht stehen, um Freiheit zu gewährleisten, darüber besteht in den skizzierten Ansätzen Uneinigkeit. Gesondert hervorgehoben werden muss die Position Rousseaus zur natürlichen Freiheit, die ihm primär nicht als unsichere, zu vermeidende, sondern aufgrund ihrer Ungebundenheit vielmehr als die eigentliche, faszinierende und ideale Freiheit gilt. Sie sei allerdings in der zivilisierten Welt nicht mehr vorzufinden – die fortschreitende Zivilisierung bedeute eine zunehmende Freiheitseinschränkung. Die ungezähmte, wilde Freiheit sei nur im ‚barbarischen‘ Menschen verwirklicht, der sich der staatlichen Herrschaft nicht unterwerfen müsse und frei von Fremdbestimmung sei. (Wintersteiger 2012: 80-82, 87) Hingewiesen sei zum Abschluss dieses kurzen Exkurses und in Vorausschau auf einen weiteren kleinen Exkurs zur Verfassung auf die aus der Vernunft erklärbare Pflicht bei Kant, sich aus dem Naturzustand in einen gesellschaftlichen, durch das Recht bestimmten Zustand zu begeben19, womit die Idee des (freiwilligen) Vertrages hinfällig wird. Der Staat wird hier als Gesetz mit Notwendigkeit verstanden (Kersting 1990: 935-937). Der Unterwerfungspakt unter den Staat im Sinne des Wohlfahrtsabsolutismus ist laut Kant unvereinbar mit dem vernunftbegründeten Menschenrecht und dem jedem Menschen angeborenen und unveräußerlichen Recht auf Freiheit (Kersting 1990: 932, 933). Die Bürger müssen das Verfassungs-, Völkerund Weltbürgerrecht notwendigerweise moralisch und politisch als legitim anerkennen (Kemper 2015: 102). Der Staat ist bei Kant eine Vereinigung von Individuen, die sich Recht und Gesetz20 unterwerfen und so ein durch das Gesetz in Form gebrachtes Ganzes, das Volk, bilden. Die Sicherung von Freiheit erfordert zum einen die Selbstdisziplinierung des Individuums, das die Freiheitsvorstellungen der anderen Individuen vorweg berücksichtigen muss. In Kants Konzept der Selbstbestimmung werden 19 D’Iribarne (2003) verweist darauf, dass die natürliche Freiheit vor dem Gesellschaftsvertrag bei Kant (im Gegensatz zu Locke) eine ‚wilde‘, rechtslose Freiheit und die bürgerliche Freiheit nach Abschluss des Gesellschaftsvertrages eine zivilisierte ist, bei der das Individuum in Abhängigkeit vom Gemeinwesen steht. Es handelt sich um eine kollektive Souveränität (des Volkes als Ganzheit, aber repräsentiert durch den König), die sich aus den einzelnen zivilisierten Individuen zusammensetzt, indem diese ins Gemeinwesen eingebunden werden. (D’Iribarne 2003: 961-963) 20 Das Volk wirkt bei Kant an der Gesetzgebung mit. Stimmberechtigt ist aber nur, wer ‚selbstständig‘ ist, d.h. sich selbst erhalten kann. (Grawert 2012: 513, 515)
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also individuelle und kollektive Freiheit miteinander in Abstimmung gebracht, indem das Individuum sein Handeln auf den vernünftigen, freien Willen gründet – d.h. sich an einem selbst gegebenen moralischen Gesetz ausrichtet, das zugleich die Pflicht einschließt, „alle anderen Subjekte in derselben Weise als autonom zu behandeln, wie ich es von ihnen mir selbst gegenüber erwarte.“ (Honneth 2011: 65). Freiheit lässt sich dann auf eine „Selbstgesetzgebung“ (Honneth 2011: 62) zurückführen. Führen die Entscheidungen der Individuen, die sich auf moralische Autonomie gründen, zur gesellschaftlichen Kooperation, so bleibt inhaltlich offen, worin diese besteht, „[…] weil die Theorie aus konzeptuellen Gründen nicht die Entscheidungen vorwegnehmen darf, die die autonomen Subjekte nur aus sich heraus fällen dürfen.“ (Honneth 2011: 74). Aufgrund der Natur des Menschen, die nach Kant weder rein vernünftig, noch rein instinktgeleitet ist, bedarf es zur Sicherung von Freiheit zum anderen des Mittels des Zwanges. Anstatt menschlicher Willkür solle das Gesetz herrschen. Ohne Bildung der Bürger und deren moralischer Gesinnung kommt Kants Modell nicht aus. (Grawert 2012: 498, 499, 511, 522) Die englische Philosophie (v.a. David Hume, Adam Smith, Jeremy Bentham, etc.) hat den Vertragsgedanken indes für obsolet erklärt und auf die empirische Gestalt von Staaten verwiesen. Sie sollte nicht zuletzt Hegels Kritik an der Vertragstheorie beeinflussen. Gegen die Theoretiker des Gesellschaftsvertrages und zugleich gegen die englischen Philosophen wendet Hegel ein, dass der Staat keine Summe, kein Geflecht von (privaten) Beziehungen zwischen Individuen sei. Das Verhältnis von Staat und Individuen sei eben kein zufälliges, aus der Willkür und dem Bedürfnis weder des Staates noch des Individuums, erklärbares Konstrukt, wie dies der Vertragsgedanke nahelege. Nicht aus Willkür, sondern aus Notwendigkeit21 eines jeden/jeder Einzelnen lebten die Individuen im Staat, so Hegel. (Kersting 1990: 940, 941) Der Gesellschaftsvertrag sei wie jeder Vertrag durch die Willkür seiner Vertragspartner gekennzeichnet. Gerade diese erlaube die nötige, über der Gesellschaft stehende Allgemeinheit nicht, sondern verharre im Besonderen. Den Gedanken des Gesellschaftsvertrages lehnt Hegel auch deshalb ab, weil sich die Staatsangehörigen nicht für den Zusammenschluss im Staat entscheiden können, sondern in den Staat ‚hineingeboren‘ werden. Im Gegensatz zu Kant fragt Hegel nach der konkreten Ausgestaltung von Institutionen22. Wie Kant begreift aber auch Hegel subjektive Freiheit als den Ausgangspunkt des Staates. Die Verwirklichung von Freiheit sei erst durch das Eigentum möglich, da dieses als Voraussetzung für freien Willen gelten könne. Der Zweck der Gesellschaft bestimmt sich laut Hegel nach dem allgemeinen Rechtsschutz, den sie bietet und der die friedliche Interaktion von Eigentümern erlaubt. Die Willkür des/der Einzelnen wird durch den Markt (aber nicht ausschließlich durch ihn) beschränkt. Hegel kennt und besteht auf der Trennung zwischen Gesellschaft
21 Dieser Gedanke klingt auch bei Hobbes und Locke an, unterscheidet sich aber von Kant, der den Staat als durch die Natur und das Moralgesetz als Form der Beziehung zwischen vernünftigen Wesen begründet sieht (Kersting 1990: 941). 22 Dies bedeutet aber nicht, dass er sich dem Staat empirisch genähert hätte. Es geht ihm um die Entwicklung aus dem Begriff, wobei er über das bloß Prinzipielle, wie er Kant vorwirft, hinauszugehen versucht. (Koslowski 2008: 99, 106)
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und Staat (dem ‚Politischen‘)23 sowie auf einer Differenzierung zwischen wirtschaftlichem und Privatbereich. (Koslowski 2008: 98-100, 104)
F REIHEIT – S TAAT – N ATION „Es gehört für unsere Generation zum gesicherten Bestand des wissenschaftlichen Bewußtseins, daß der Begriff Staat kein Allgemeinbegriff ist, sondern zur Bezeichnung und Beschreibung einer politischen Ordnungsform dient, die in Europa vom 13. bis zum Ende des 18., teils Anfang des 19. Jahrhunderts aus spezifischen Voraussetzungen und Antrieben der europäischen Geschichte entstanden ist und sich seither, gewissermaßen abgelöst von ihren konkreten Entstehungsbedingungen, über die gesamte zivilisierte Welt verbreitet.“ (Böckenförde 1976: 42)
Zwei Elemente gilt es aus dem Zitat von Ernst-Wolfgang Böckenförde (1976) gesondert hervorzuheben. Zum einen ist für Böckenförde (1976) der Staat ein europäisches ‚Produkt‘: Idee und Konzept des Staates seien von Europa aus in die Welt ‚exportiert‘ worden. Zum anderen umfasst seine Herausbildung, beginnend im Mittelalter, mehrere Jahrhunderte und gilt erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts als abgeschlossen. Es lässt sich laut Böckenförde (1976) demnach im Falle der politischen Organisationsform der südamerikanischen Inkas nicht von ‚Staat‘ sprechen, ebenso wenig im Falle der antiken Formen der Polis24. Conze (1990) meint dazu: 23 Hegel konzentriert sich hier allerdings weniger auf die Sicherung der individuellen Freiheit als vielmehr auf jene der Sphäre des Staates, die er vor dem Privatbereich geschützt wissen will (Kervégan 1993: 454-456). 24 Böckenförde (1976: 42) merkt an, dass diese ‚irreführende‘ Annahme besonders unter Gelehrten im 19. Jahrhundert sehr geläufig war. Wolfgang Reinhard (2007) ist wie Böckenförde (1976) der Auffassung, dass der moderne Staat europäischer Herkunft sei und hebt hervor, dass dieser Umstand ein „quasi zufällig[er]“ (Reinhard 2007: 8) ist. Seine Entstehungsgeschichte ist demnach keiner Notwendigkeit geschuldet, ihr Verlauf ist alles andere als linear, aber konnte doch „nicht ohne weiteres hinter den erreichten Stand zurückfallen“ (Reinhard 2007: 8). Seinen Ursprung sieht Reinhard (2007: 9, 10) in der natürlichen Ungleichheit der Menschen und deren stetigem Streben nach Macht und Machtgewinn. Der Staat entsteht so aus Notwendigkeit. Die Ursache für die Bildung des Staates liegt letztlich im Kriegszustand und dem Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz vor Gewalt, „die sie [die Machthaber] selbst durch ihre Rivalität untereinander erzeugt hatten.“ (Reinhard 2007: 9). (Bei Hobbes ist es hingegen das Menschenbild, ein allgemein anthropologisches Kriterium, das die bürgerkriegsartigen Zustände im Naturzustand erklärt.) Dass der Staat in Europa entstand, liege an der geographischen wie machtpolitischen Struktur, die durch Pluralität und Konkurrenz geprägt ist. Ein weiterer Grund ist laut Reinhard (2007: 11) in der politischen Kultur Europas und ihrer „Verbindung des antiken und des christlichen Erbes mit demjenigen der ‚ jungen‘ Völker des Nordens und Ostens [Anführungszeichen im Original]“ (Reinhard 2007: 11) zu suchen, als deren Vermittlerin ihm die Kirche (vgl. dazu Reinhard 2007: 35, 36) gilt. (Reinhard 2007: 9-11) Breuer (2014) nimmt eine Vermittlungsposition zwischen jenen ein, die den Staatsbegriff für Frühformen wie dem neuzeitlichen Staat gleichermaßen anwenden und jenen, die den Staatsbegriff an Europa und die
46 | F REIHEIT UND N ATION „Zweifellos haben im Hochmittelalter, von dem die konkrete europäische Begriffsgeschichte für ‚Staat‘ ausgehen muß, politische Gemeinwesen, Verbände, Herrschaftsorganisationen bestanden, auf die das Wort ‚Staat‘ angewandt werden kann, obwohl es nicht gebraucht wurde oder weit vom Begriff ‚moderner Staat‘ entfernt gewesen ist. [Anführungszeichen im Original]“ (Conze 1990: 6)
Ein kurzer Blick in die Begriffsgeschichte25 stützt diese Auffassung: Der Begriff ‚Staat‘ geht auf das lateinische STATUS zurück, das den Rechtsstatus der Person in der römischen Antike bezeichnete und im Mittelalter begrifflich auf Körperschaften ausgedehnt wurde (Dusza 1989: 78). In Spätmittelalter und Früher Neuzeit wurde der Begriff ‚Staat‘ gar für ‚Regierungsform‘ oder ‚Verfassung‘26 gebraucht. Erst im 19. Jahrhundert bezeichnete der Begriff „a supreme political authority within a precisely defined territory“ (Dusza 1989: 78)27.
Moderne gekoppelt wissen möchten. Auch der ‚moderne‘ Staat erfülle nicht alle bei Weber idealtypisch genannten Charakteristika. „[D]urch eine methodische Reduktion und Spezifizierung der Merkmale“ (Breuer 2014: 12) des Weberschen ‚modernen‘ Staates ließen sich auch frühe, (vormoderne) Formen von Staatlichkeit mithilfe der bei Weber diskutierten Charakteristika analysieren, vorausgesetzt es handle sich um einen politischen Verband mit einem mehr oder weniger fixem Gebietsbezug und der Tendenz zu einem Gewaltmonopol. Zu denken sei hier etwa an den „Vorderen Orient seit den Akkadern, […] Indien seit den Mauryas, […] China seit der Reichseinigung durch die Qin und [… die] antike Mittelmeerwelt mit dem Imperium Romanum“ (Breuer 2014: 15). Die genannten Beispiele hatten zudem „[…] stehende Heere beträchtlichen Umfangs, patrimonialbürokratische Verwaltungen und Formen der staatlichen Bedarfsdeckung, welche zwar z.T. auf ‚oikenmäßiger‘ Eigenwirtschaft und Leistungen der Bürger bzw. Untertanen (‚Leiturgien‘) beruhten, daneben aber bereits in erheblichem Maße Abgaben in Geldform bezogen, was auf eine fortgeschrittene Kommerzialisierung und soziale Stratifikation verweist. [Anführungszeichen im Original]“ (Breuer 2014: 15). Diese und andere Beispiele, die Breuer (2014) eingehend untersucht hat, würden darauf schließen lassen, dass der Staatsbegriff nicht nur auf die Neuzeit angewendet und auch nicht ausschließlich auf Europa bezogen werden dürfe. (Breuer 2014: 9-15) 25 Bezüglich der Begriffsgeschichte zum Terminus ‚Staat‘ herrscht allerdings keine Einigkeit in der Forschung (vgl. auch Dusza 1989: 78). 26 Die beiden Begriffe ‚Staat‘ und ‚Verfassung‘ sind begriffsgeschichtlich bis in die Moderne eng miteinander verknüpft, bedeutete ‚Verfassung‘ – durchaus im medizinischen Sinne bis heute – doch auch ‚Zustand und Beschaffenheit‘ (neben ‚Ordnung‘ und „Errichtung bzw. Abfassung schriftlicher Form und Inbegriff des Verfaßten“) (Mohnhaupt 1990: 832), ähnlich wie das oben besprochene ‚status‘ im Falle des Staatsbegriffs. Der Staat wurde metaphorisch häufig als dem menschlichen Körper und Organismus ähnlich gedacht. (Mohnhaupt 1990: 832) ‚Staat‘ hingegen wurde bei Jean Bodin mit res publica und bei Thomas Hobbes mit civitas bezeichnet (Dusza 1989: 78). 27 Für den deutschen Sprachraum nennt Koselleck (1990b) die Französische Revolution als Wendepunkt. Waren zuvor unterschiedlichste Bedeutungen mit dem Staatsbegriff verknüpft (etwa ‚Amt‘, ‚Aufwand‘), so wird ab ca. 1800 ‚Staat‘ im modernen Sinne verstanden. (Koselleck 1990b: 2)
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Was macht den modernen Staat28 also aus, welche Elemente dienen zu seiner Definition? „ S t a a t soll ein politischer A n s t a l t s b e t r i e b 29 heißen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das M o n o p o l l e g i t i m e n physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt. […] Den S t a a t s begriff empfiehlt es sich, da er in seiner Vollentwicklung durchaus modern ist, auch seinem modernen Typus entsprechend […] zu definieren. Dem heutigen Staat formal charakteristisch ist: eine Verwaltungs- und Rechtsordnung, welche durch Satzungen abänderbar ist, an der der Betrieb des Verbandshandelns des (gleichfalls durch Satzung geordneten) Verwaltungsstabes sich orientiert und welche Geltung beansprucht nicht nur für die – im wesentlichen durch Geburt in den Verband hineingelangenden – Verbandsgenossen, sondern in weitem Umfang für alles auf dem beherrschten Gebiet stattfindende Handeln (also: gebietsanstaltsmäßig). Ferner aber: daß es ‚legitime‘ Gewaltsamkeit heute nur noch insoweit gibt, als die staatliche Ordnung sie zuläßt oder vorschreibt […]. [Hervorhebungen und Anführungszeichen im Original]“ (Weber 1980: 29, 30)
Dass Max Weber an den ‚modernen‘ Staat denkt – und nicht generell an Staat –, wenn er die ihn charakterisierenden Elemente erläutert, findet nicht nur explizit im obigen Zitat Erwähnung, sondern ist auch an der Konzeption des Staates, die er vornimmt, erkennbar. Dusza (1989: 75) geht davon aus, dass Weber den liberaldemokratischen Nationalstaat für seine Ausführungen vor Augen hatte. Webers Kriterien sind in ihrer Fülle historisch erst mit der Moderne in Erscheinung getreten, wenn auch einzelne der beschriebenen Merkmale bereits in früheren Epochen auftreten konnten (Dusza 1989: 79). Den Begriff des ‚Staates‘ also erst für die Moderne anzuwenden, hat laut Dusza (1989: 79) den Vorteil, keine erst später belegten Charakteristika fälschlicherweise auf frühere Stadien zu übertragen30 oder umgekehrt den Staat so weitgefasst zu definieren, dass er an analytischer Schärfe verliert, indem Unterschiede zwischen einzelnen Formen des Staates eingeebnet werden. Ohne zwischen den beiden Forschungsmeinungen, ob der Begriff des ‚Staates‘ bereits vor seiner modernen Ausprägung angebracht sei oder nicht, entscheiden zu wollen, werden im Folgenden jene Elemente Erwähnung finden, die zum Konsens der Definition des
28 Der Begriff ‚moderner Staat‘ ist laut Conze (1990: 6) seit dem 19. Jahrhundert in Verwendung und wurde von Jacob Burckhardt zur Disambiguierung des vieldeutigen Begriffs ‚Staat‘ in die Geschichtswissenschaft eingeführt. Die Terminologie wird in dieser Arbeit übernommen, um den ‚modernen Staat‘ von vormodernen staatsartigen Gebilden unterscheiden zu können. 29 Die Terminologie (‚Anstalt‘, ‚Betrieb‘) verweist laut Dusza (1989: 76) im Falle von ‚Anstalt‘ auf eine „quasi-corporative compulsory institution“ (Dusza 1989: 76), d.h. auf die Loslösung politischer Herrschaft vom Persönlichkeitsprinzip (der Fokus liegt auf der Institution), die Festsetzung von auf unpersönlichen Normen basierenden Regeln in Form von Beschlüssen, ihren verbindlichen Gültigkeitsanspruch, der vernunftmäßigen Verteilung von Befehlsgewalt und deren Struktur in Form eines funktionalen, nach Aufgaben getrenntes System; im Falle von ‚Betrieb‘ ist bei Weber die routinierte, an die Herausforderungen des Alltags angepasste Ausübung von Befehlsgewalt gemeint. (Dusza 1989: 76) 30 Vgl. dazu auch Conze (1990: 6).
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modernen Staates31 und Basis zur Definition des Staates im Völkerrecht geworden sind: Staatsgewalt, Staatsgebiet, Staatsvolk32. Das legitime Gewaltmonopol ist auf ein definiertes Territorium beschränkt, innerhalb dessen es Geltung hat, so Weber. Ihre Geltung hat es – dies erwähnt Weber in obigem Zitat – nicht nur für Staatsangehörige und Staatsbürger/innen, sondern für alle sich auf dem Staatsgebiet befindlichen Personen und deren Handlungen. Bei Weber tritt das Monopol legitimer Staatsgewalt als eines jener Charakteristika des modernen Staates auf, das dessen Differenz zu vormodernen Formen politischer Organisation besonders deutlich macht (Dusza 1989: 87). Weder das Gewaltmonopol, noch klar definierte Territorialgrenzen waren auch laut Böckenförde (1976: 42) vor der Moderne in Europa gegeben: „Wir wissen, vor allem seit dem epochemachenden Buch ‚Land und Herrschaft‘ von Otto Brunner, wie sich der Staat langsam aus den ganz un-staatlich strukturierten Herrschaftsbeziehungen und -ordnungen des Mittelalters herausgebildet hat; wie über die Stufen der Landesherrschaft, einem im Landesherrn zusammenlaufenden, territorial noch unabgeschlossenen Gefüge verschiedener Herrschaftssphären, dann der Landeshoheit als der wesentlich territorial bestimmten, die verschiedenen Herrschaftstitel zusammenfassenden und überhöhenden hoheitlichen Herrschaftsgewalt des Fürsten im Lande (jus territorii), schließlich – im aufgeklärten Absolutismus, in der Französischen Revolution und danach – die einheitliche, nach außen souveräne, nach innen höchste und dem hergebrachten Rechtszustand überlegene, in ihrer Zuständigkeit potentiell allumfassende Staatsgewalt entstand und ihr gegenüber die herrschaftlichpolitisch eingeebnete Gesellschaft der (rechtsgleichen) Untertanen bzw. Staatsbürger. [Anführungszeichen im Original]“ (Böckenförde 1976: 42)
Eng verbunden mit dem Gewaltmonopol des modernen Staates ist also das Bestehen genau definierter Gebietsgrenzen, die den Raum festlegen, in dem die staatliche Gewaltsamkeit legitim zur Wirkung gelangt. Dass diese den modernen Staat charakterisierenden Bedingungen in der Vormoderne nicht Bestand hatten, liegt zum einen an der Schwierigkeit, Räume ohne die Möglichkeit einer ausgeprägten Kommunikations- und Verkehrsinfrastruktur einer effektiven Kontrolle durch die Staatsgewalt zu unterstellen. Lokale Herrschaftsstrukturen konnten Kontrolle und Steuereintreibung zwar übernehmen, hatten sich im Gegenzug jedoch ihrerseits Autonomierechte ausbedungen. „Vormoderne Reiche waren fast immer ‚zusammengesetzte‘ Gebilde aus Ländern von unterschiedlichem Status, die auf unterschiedliche Weise zu einem Ganzen verklammert waren. [Anführungszeichen im Original]“ (Reinhard 2007: 17). Selbst einzelne Grafschaften bestanden ihrerseits häufig aus autonomen Substrukturen (z.B. sich selbst verwaltende Städte, Klöster, etc.), während die Herrschaftsgebiete des Adels oft ein von der Zentralgewalt unabhängiges Recht kannten (Reinhard 2007: 54). „Nicht zuletzt in der Durchsetzung der unmittelbaren Kontrolle der Zen-
31 Böckenförde (1976: 42, 43) verweist darauf, dass die Säkularisation, d.h. die funktionale Entzweiung von politischer Ordnung und religiöser Sphäre und damit auch der Abkoppelung politischer Legitimität von Religion, historisch ebenso bedeutsam für die Entstehung des modernen Staates in Europa wie seine verfassungsgeschichtliche Entwicklung ist. 32 Vgl. auch den Begriff der Drei-Elemente-Lehre von Georg Jellinek (1929: 394-434).
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tralgewalt über jeden einzelnen Untertanen besteht die Vollendung des modernen Staates im 18./19. Jahrhundert.“ (Reinhard 2007: 53). Des Weiteren ist bei Weber jene Form der Staatsgewalt kennzeichnend für den modernen Staat, die Legitimität genießt (wobei deren Quellen unterschiedlicher Natur sein können) und das Gewaltmonopol innehat, d.h. dass legitime Gewalt gebündelt vom Staat ausgeht und/oder von ihm delegiert wird, ohne dass weitere Institutionen und Instanzen von sich aus und unabhängig über Gewaltsamkeit verfügen, ein Anspruch, der im vormodernen Staat nicht erfüllt war – weder von oben (Papst, Kaiser) noch von unten (Recht von Untertanen, gegen die Zentralmacht Gewalt anzuwenden) (Reinhard 2007: 13). Deutlich wird außerdem, dass Weber den Staat als regelgebundene, unpersönliche Form politischer Herrschaft konzipiert (vgl. auch Dusza 1989: 76). Für die zeitliche Anbindung des Staatsbegriffes an die Moderne spricht also zudem der Umstand, dass weder die mittelalterliche Theoriebildung noch das Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts den Staat als eine abstrakte juristische Person fassten, die dem Prinzip der Unpersönlichkeit folgt33, von der politischen Gemeinschaft getrennt und den Angehörigen dieser Gemeinschaft übergeordnet ist. Damit eben dies gewährleistet ist, bedarf es eines objektivierten Systems, das die Machtbeziehungen zwischen Gesellschaft und Staat festlegt. Erhält der Staat das Monopol zur Gewaltsamkeit, so wird seine Handlungsfähigkeit „im Regelfall an schriftlich festgelegte, nachprüfbare und einklagbare Vorschriften gebunden.“ (Reinhard 2007: 13). Eine Trennung von Staat und Person des Herrschers sowie die Unterwerfung von Herrschaft unter eine rechtlich-normative Ordnung, die den Staat als „a system of legal relations“ (Dusza 1989: 84) begreifbar macht, sollte erst im 19. Jahrhundert konzipiert werden. Der Staat wird nun basierend auf der deutschen Staatslehre von der Persönlichkeit des Herrschers losgelöst und als abstrakte juristische Person gedacht34 (Dusza 1989: 84). Von nun an können die Untertanen bzw. Untertaninnen oder Bürger/innen ihr Recht nicht gegenüber der Person des Herrschers geltend machen, der seinerseits nur ein Amt ausübt, sondern gegenüber dem Staat als Rechtsperson (Haverkate 1990: 71). Die Machtbeziehungen und Kompetenzen zur Machtausübung sind also klar und abstrakt definiert (Dusza 1989: 91) und daher vorhersehbar. Neben der Definition von Kompetenzen werden also auch deren Träger/innen genau definiert und eine Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre eingeführt. Bei Weber ist die Verwaltungs- und Rechtsordnung daher ein weiteres Kriterium für moderne Staatlichkeit – ohne sie kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Delegierung und Anwendung legitimer Gewaltsamkeit dauerhaft festgelegt und gesichert sind. Änderungen der Verwaltungs- und Rechtsordnun33 Zu bemerken ist, dass das ‚vormoderne‘ Staatgebiet eine weit weniger bedeutsame Rolle für den Begriff der Herrschaft gespielt hat, als dies im modernen Staat der Fall ist. Vielmehr wurde Herrschaft stärker personenbezogen verstanden (Personenverbandsstaat vs. Flächenstaat) (Reinhard 2007: 32). So entsprechen sich etwa bei Johannes Althusius, Hugo Grotius oder Locke Staat und politische Gemeinschaft. Bei Hobbes wird die einheitliche politische Gemeinschaft über die Herrschergestalt symbolisiert. (Dusza 1989: 84) 34 Diese Überlegungen sind unabhängig von der Staatsform und dem Regierungstyp. Die beschriebenen Charakteristika sind sowohl in der konstitutionellen Monarchie als auch der Republik zu finden und unabhängig vom demokratiepolitischen Arrangement des Staates (Dusza 1989: 84, 85).
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gen sind nur in Form von Gesetzgebung (‚Satzung‘) legitim (vgl. auch Dusza 1989: 76). Die Einhaltung und Umsetzung der Rechtsordnung wird durch einen Verwaltungsapparat gesichert, der ebenfalls der Ordnung unterliegt (Dusza 1989: 76). Neben dem Gewaltmonopol könnte man so mit Reinhard (2007: 22) auch ein ‚Rechtsmonopol‘ als charakteristisch für den modernen Staat ansehen: „Recht ist daher grundsätzlich Recht des einzelnen Staates. Recht anderer Organisationen ist entweder vom staatlichen abgeleitet wie eine Vereinssatzung oder kann nur kraft staatlicher Anerkennung oder Duldung angewandt werden wie das Recht der Kirchen.“ (Reinhard 2007: 22)35
Zugleich unterwirft sich der moderne Staat idealtypischerweise einer Selbstbeschränkung (beispielsweise im Bereich der Grund- und Menschenrechte36) – auch er steht im Recht (Reinhard 2007: 24, 25). Rechts- und Gewaltmonopol bedingen sich so gesehen gegenseitig: Staatliche Gewaltsamkeit kann effektiver wirksam werden, wenn der Staat alleinige Rechtssetzungsinstanz ist; zur effektiven Rechtsumsetzung und -durchsetzung bedarf es eines staatlichen Gewaltmonopols, wenn auch nicht ausschließlich37. Die „Verrechtlichung staatlicher Herrschaft“ (Grimm 1990: 863) schreitet laut Grimm (1990) ab 1750 mit großen Schritten voran. Während die drei Elemente moderner Staatlichkeit laut Reinhard (2007) bereits im Ancien Régime infolge der Zielsetzungen des Absolutismus38 in den europäischen Monarchien als mehr oder weniger fortgeschritten gelten können, insbesondere im Bereich der Zentralisierung und Bündelung der Staatsgewalt und der Durchsetzung des Gewaltmonopols innerhalb eines bestimmten Territoriums39, so sind es, wenn wir der These Reinhards (2007: 86) folgen, vorwiegend Bewegungen gegen die staatliche Macht, die paradoxerweise zu einem Aufschwung der Staatsgewalt, aber auch zur weiteren Verrechtlichung von Herrschaft führen. Gemeint sind die Revolutionen des 18. Jahrhundert, insbesondere die Französische Revolution mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte.
35 Inwieweit dieses Rechtsmonopol durch internationales Recht und seine Institutionen im
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20./21. Jahrhundert abgewandelt wird, ist eine diskussionswürdige Frage, die allerdings außerhalb des Rahmens dieser Arbeit liegt. Die Grund- und Menschenrechte haben ihren Ursprung nicht in der Entwicklung und im Aufstreben des modernen Staates, sondern in der antagonistischen Haltung gegenüber dem modernen Staat. Sie sind aus Formen des ‚legitimen‘ Widerstandes (vgl. Amerikanische und Französische Revolution) hervorgegangen. (Reinhard 2007: 59, 60) Das Verhältnis von Recht und Staat ist mit dem staatlichen Rechtsmonopol und der Durchsetzung von Recht durch staatliche Gewaltsamkeit alleine noch nicht hinreichend problematisiert. Rechtsdurchsetzung hängt von vielen weiteren Variablen, etwa der politischen Kultur, ab. (Reinhard 2007: 26, 27) Zu den durchgeführten Reformen zählen etwa die Zentralisierungsmaßnahmen, die Modernisierung in Ausbildung (Offiziere, Techniker) und Bürokratie sowie die Unterstellung der Kirche unter die Kontrolle des Staates (Reinhard 2007: 86). Im Zuge dessen lassen sich auch Bestrebungen zur „Vereinheitlichung des Rechts und […] Verstaatlichung der Justiz“ (Reinhard 2007: 86) bereits deutlich erkennen.
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Rechtlich drückt sich diese Entwicklung im Konzept der Verfassung aus40: Ab Mitte des 18. Jahrhunderts und besonders im 19. Jahrhundert werden in vielen europäischen (aber nicht nur europäischen) Staaten Verfassungen erlassen41. „Anfänglich ein Erfahrungsbegriff, der den politischen Zustand eines Staates umfassend wiedergibt, stößt ‚Verfassung‘ ihre nicht-juristischen Bestandteile zunehmend ab, verengt sich zum rechtlich geprägten Zustand eines Staates und fällt nach dem Übergang zum modernen Konstitutionalismus schließlich mit dem Gesetz in eins, das Einrichtung und Ausübung der staatlichen Herrschaft regelt, damit selbst vom deskriptiven zum präskriptiven Begriff werdend. [Anführungszeichen im Original]“ (Grimm 1990: 863)
Exkurs: Verfassung Im Kontext der aufklärerischen Bemühungen um die Absicherung bürgerlicher Freiheit durch die Überwindung des Naturzustandes setzte sich bald die Forderung nach einer (bürgerlichen) Staatsverfassung durch, die dies gewährleisten sollte (Mohnhaupt 1990: 861, 862). Mit der Glorious Revolution 1688 in England sollte sich die Verwendung des Begriffs ‚constitution‘42 für „die grundlegenden Regeln der Staatsorganisation“ (Grimm 1990: 866), deren Missachtung stärkere Folgen als jene eines einfachen Gesetzes nach sich zog, etablieren: Wird die Auflösung der Verfassung angestrebt, so erwächst dem Volk ein Widerstandsrecht gegen Herrschaft. Dies sollte ein wichtiger Teil der Argumentation43 in den Emanzipationsbestrebungen Nordamerikas werden. In den amerikanischen Bills of Rights, die ihre Vorläufer in einzelnen Bestimmungen des 17. Jahrhunderts in Nordamerika haben (Klippel 2000: 156), erfolgt schließlich auch die Zuspitzung des Konzepts auf seinen Ausgang vom Volk (genauer: von der Souveränität des Volkes) bei gleichzeitiger Unverfügbarkeit der Verfassung für die
40 Verfassung wird hier nach Aschl (1985: 432, 433) im formellen und materiellen Sinne verstanden.
41 Eine Übersicht über sämtliche Verfassungstexte aus den Jahren 1776-1849 bietet die Homepage des internationalen Forschungsprojekts The Rise of Modern Constitutionalism, 1776 – 1849 unter der Leitung von Horst Dippel (s.a.). 42 Zunächst hatte man unter Verfassung noch „förmlich erlassenes Einzelgesetz“ (Grimm 1990: 865) verstanden. Locke verwendet im Verfassungsentwurf für North Carolina (1669) den Begriff sowohl für die Regierungsform als auch für Verfassung im eigentlichen Sinne (Grimm 1990: 865). 43 Im Falle Nordamerikas trägt die Nichtanerkennung des Verfassungsverständnisses vonseiten Großbritanniens maßgeblich zur Entscheidung bei, eine eigene Staatsgewalt zu etablieren, d.h. die Unabhängigkeit vom Mutterland anzustreben (Grimm 1990: 866). Obwohl in England die ständischen Privilegien (Freiheiten) vergleichsweise früh abgebaut wurden, kam es „[…] trotz der Fundamentalisierung bestimmter Individualrechte bekanntlich bis heute nicht zu einer Verankerung der Freiheitsrechte in einer Verfassungsurkunde in der Weise, daß sie der Aufhebung und Einschränkung durch das Parlament entzogen wären.“ (Klippel 2000: 156).
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Staatsgewalt, die darüber hinaus an die Menschenrechte44 gebunden wird: „Gerade aus deren Schutz [gemeint sind die Menschenrechte] bezieht die Verfassung nun ihren eigentlichen Sinn.“ (Grimm 1990: 867)45. Das skizzierte Konzept kennt in Frankreich keine direkten Vorläufer46, wird dort aber im Kontext der Französischen Revolution rezipiert47. Die Verfassung wird hier erst von der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte48 abgeleitet. (Bluhm 2007: 388; Grimm 1990: 865-868; Klippel 2000: 154, 155) Worin liegt nun die Bedeutung der modernen Verfassung in ihrem Verhältnis zur Freiheit und wodurch unterscheidet sie sich vom Gesellschaftsvertrag? Zum einen wurde die Verfassung, so etwa Ende des 18. Jahrhunderts in ‚Deutschland‘, als Form zur Umsetzung der Vertragsidee gesehen49. Die Verfassung kommt aus dieser Sicht durch den Gesellschaftsvertrag zustande und schreibt dessen Normen (ausdrücklich und schriftlich) fest. Gleichzeitig geht die Verfassung vom Volk aus – der Gesellschaftsvertrag kann so nicht mehr stillschweigend zustande kommen, wie das Locke noch als Möglichkeit ausgeführt hatte. Dieser Auffassung nach ist die Verfassung dazu bestimmt, die individuelle Freiheit, die ja durch den Gesellschaftsvertrag abgesichert werden soll, zu fördern und wird zur Bedingung von Freiheit. In der Erklä44 Beispielhaft sei hier auf das „Recht auf Leben, Selbstbestimmung und Eigentum, […] freie
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Meinungsäußerung, Religions-, Presse- und Versammlungsfreiheit […]“ (Horn 2012: 84) oder die Gleichheit vor dem Gesetz verwiesen. Die Menschenrechte gehen mithilfe der Verfassung (oder auch in anderen Gesetzesformen) vom Naturrecht, das allgemein gültig ist (überpositiv), in Form der Grundrechte in positives Recht über (Horn 2012: 84). Diese Auffassung war zu Beginn des 20. Jahrhunderts Thema einer Kontroverse zwischen Georg Jellinek und Emile Boutmy, der ihm in dieser Hinsicht widersprach und die Philosophie des 18. Jahrhunderts in Frankreich als Voraussetzung für die französische Verfassungsentwicklung ansah. Laut Klippel gilt es mittlerweile in der Forschung als gesichert, dass die Ursprünge der verfassungsrechtlichen Absicherung von Freiheitsrechten in England und Nordamerika zu suchen sind (Klippel 2000: 154, 155). Wie Grimm (1990: 863) anmerkt, wird in ‚Deutschland‘ zu dieser Zeit mit dem Begriff der ‚Konstitution‘ noch „ein vom Kaiser erlassenes Gesetz, ohne daß es auf Bedeutung oder Gegenstand ankäme“ (Grimm 1990: 863, 864) bezeichnet. Der Begriff meint den Zustand eines Staates (Empirie) und hat keine normative Bedeutung. Er findet im Zusammenhang mit dem Begriff des ‚Vertrages‘ Anwendung (gemäß der Vertragslehre des Naturrechts). In ‚Deutschland‘ entsteht der Vertrag in einem Vorgang aus drei Teilen: „[…] Übereinkunft, den Naturzustand zu verlassen und sich zum Staat zusammenzuschließen (pactum unionis), […] Festlegung der Regierungsform (pactum ordinationis), […] Erklärung, sich dem Herrscher zu unterwerfen (pactum subiectionis) […]“ (Grimm 1990: 864). Dieser Vorgang wird schließlich als ‚Verfassungsvertrag‘ betitelt, sein Ergebnis allerdings als ‚Grundgesetz‘. (Grimm 1990: 864) Winfried Schulze (2010) macht darauf aufmerksam, dass die Entwicklung der Menschenund Bürgerrechte nicht ohne die Geschichte des wirtschaftlichen Handlungsraums des Individuums verstanden werden kann und plädiert für eine Untersuchung wirtschaftlicher und sozialer Kontextfaktoren neben der Begriffs- und Geistesgeschichte (Schulze W. 2010: 217, 220). Vgl. z.B. Georg Wedekind oder Karl Heinrich Heydenreich (Grimm 1990: 871, 872).
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rung der Menschen- und Bürgerrechte ist auch das Prinzip der Volkssouveränität enthalten, womit sich die Frage nach politischer Freiheit stellt. (Grimm 1990: 871, 872) Nicht Freiwilligkeit (wie beim Vertrag) steht hier im Zentrum. Die Notwendigkeit der Verfassung und zu ihrer Zustimmung, will man Teil der Gesellschaft sein, ist nun das bestimmende Prinzip, denn die Verfassung galt als Bedingung für Freiheit schlechthin. Damit setzte sich die Auffassung durch, dass Freiheit nur dort Bestand haben kann, wo sie durch eine Verfassung gesichert ist. Der (freiwillige und meist ideell, nicht real vorhandene) Gesellschaftsvertrag wird hiermit obsolet. Er leitet sich aus dem Naturrecht ab; die Verfassung ist nun eine Positivierung des Naturrechts50. Hier wird deutlich, dass die Betonung der Individualrechte zunehmend gegen den Staat gerichtet ist. Nicht der Staat sollte Freiheit gewährleisten, sondern Freiheit muss nun gegenüber dem Staat abgesichert werden51. Das Naturrecht sollte jetzt innerhalb des Staates, nicht in einem vorstaatlichen Zustand, Geltung haben, womit die Grundlagen für das „antiabsolutistische, ja liberale Staatsdenken“ (Schulze W. 2010: 216) gelegt sind. (Grimm 1990: 874, 875, 879) Die verfassungsmäßige Absicherung von Freiheit unterscheidet sich von der gesellschaftsvertraglichen u.a. darin, dass auch der Staat an die Verfassung gebunden und nicht länger Partei des Gesellschaftsvertrages ist. Die Kodifikation der modernen Verfassung als Verfassungsgesetz steht über der allgemeinen Rechtsordnung und unterliegt daher erschwerten Auflagen zu ihrer Änderung52. (Klippel 2000: 151) Dadurch entstehe laut Klippel (2000) eine „neue Qualität von Freiheit“ (Klippel 2000: 154), denn die „förmliche Verfassung […; wird zur] Bedingung von Freiheit“ (Grimm 1990: 871) und zum „Mittel der Freiheitssicherung“ (Grimm 1990: 878). Laut Klippel (2000: 152) besteht ein Konsens darüber, dass das Wesentliche der modernen Verfassung in den folgenden drei Aspekten zu finden ist: Garantie von Freiheitsrechten, Volkssouveränität und Gewaltenteilung nach Funktionen.53 50 Von einer Positivierung des Naturrechts spricht man bereits im Zusammenhang mit den Bills of Rights (Klippel 2000: 157).
51 „Die Tatsache, dass es schon in den prozessrechtlichen Bestimmungen des 16. Jahrhunderts völlig außer Frage steht, dass jedem Menschen bestimmte rechtliche Möglichkeiten zu Gebote stehen, die sein Leben, seinen Besitz, seine Ehre ohne Rücksicht auf seinen gesellschaftlichen Stand gerichtlich schützen, taucht in keiner Geschichte der Menschenrechte auf, ist aber eine ganz entscheidende Voraussetzung für die Entwicklung des […] neuen Bewusstseins für die mögliche ‚Gefährdung‘ von Rechten durch den Staat. [Anführungszeichen im Original]“ (Schulze W. 2010: 217). 52 Ein weiteres Charakteristikum moderner Verfassungen sind die in ihr enthaltenen Bestimmungen darüber, wie die Gewaltenteilung nach Funktionen ausgestaltet ist (KIippel 2000: 151). 53 Problematisch stellt sich dagegen, so Böckenförde (1976), die Absicherung der Freiheit des und der Einzelnen gegenüber der Gesellschaft dar. Er denkt dabei nicht an die formale Freiheit und Entfaltungsmöglichkeit, sondern vielmehr an die realen Chancen, diese zu verwirklichen und bezieht sich so auf die soziale Freiheit, die erst gewährleistet ist, wenn die realen Umsetzungsmöglichkeiten der Freiheit des und der Einzelnen verwirklicht sind. (Böckenförde 1976: 336-342) „Die wichtigste dieser Rahmenbedingungen ist die ständige Relativierung der gesellschaftlichen Ungleichheit, die aus der Betätigung der Freiheit immer wieder neu entsteht. Darin liegt zugleich auch der Ansatzpunkt für die notwendige
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Zum Verhältnis von Freiheit und Staat Im 19. Jahrhundert wird bürgerliche Freiheit zunehmend als Freiheit vom Staat gedacht. „‚Freiheit‘ umschreibt dann einen ‚gesetzesfreien Raum‘ [Anführungszeichen im Original]“ (Klippel 1975: 477), einen Bereich, der vor staatlichem Zugriff geschützt ist. Darüber hinaus sollte der Geltungsbereich des Gesetzes (also jener über deren Zugriff der Staat verfügt) durch Rechtssicherheit54 geschützt und die Staatsgewalt selbst dem Gesetz unterstellt sein55. Die Grundidee einer Differenzierung zwischen Individuum und Staat, die eine Freiheit vom Staat erst vorstellbar macht, sieht Böckenförde (1973) schon in der Idee des Gesellschaftsvertrages und ihrem Ausgangspunkt vom Individuum, das der Gemeinschaft vorausgeht, angelegt, da Staat und Gesellschaft als Summe von sich zusammenschließenden Individuen gefasst werden. Staat und Gesellschaft sind in ihrer Zielsetzung dabei auf das Individuum ausgerichtet (Böckenförde 1973: 17, 18). Trotz Verwirklichung von bürgerlicher Freiheit durch die beginnende Trennung von Staat und Gesellschaft sowie der Absicherung bürgerlicher Freiheit durch Gleichheit vor dem Recht und die Rechtsordnung, so die Kritik, die oben bereits mit Rousseau ausgeführt wurde, reduziere sich Freiheit auf den Bereich des Privaten und des Erwerbes. Was fehle, sei das Recht auf politische Partizipation und Teilhabe an politischen Entscheidungen – das Recht auf politische Freiheit oder Freiheit im Staat. (Böckenförde 1973: 18, 19) Dieses sollte in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte seine Beachtung finden. Was also wurde unter bürgerlicher und politischer Freiheit (noch) verstanden? Der Begriff der bürgerlichen Freiheit kann unabhängig von den Partizipationsbestrebungen und den Forderungen nach politischer Freiheit bestehen. Er ist darüber hinaus auch als Freiheitsbegriff in Opposition zur Französischen Revolution einsetzbar gewesen. Bürgerliche Freiheit versteht sich dann unter Bezugnahme auf den Freiheitsbegriff des aufgeklärten Absolutismus als „Gegenleistung des Staats für die Pflichterfüllung des Bürgers“ (Klippel 1975: 484) und ist dadurch mit Herrschaft und gerade nicht mit einem Bereich, der vor Eingriffen des Staates geschützt ist, verknüpft. (Klippel 1975: 480-485)
Freiheitssicherung gegenüber Trägern gesellschaftlicher Macht.“ (Böckenförde 1976: 342). In ‚Deutschland‘ wird um 1830 die Frage diskutiert, ob politische Freiheit und soziale Gleichheit verfassungsrechtlich garantiert werden können, ähnlich wie das in den ersten modernen Verfassung in Bezug auf Freiheit und Gleichheit geschah (Dipper 1975b: 534). Das Problem der sozialen Freiheit stellt sich jedoch für die hier zu analysierenden Texte noch nicht. 54 Dass dieser Prozess nicht zwingendermaßen mit einer Aufwertung von Freiheit verknüpft sein muss, zeigt das Beispiel ‚Deutschland‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als zwar Rechtssicherheit gewährleistet werden sollte, sich das Gesetz jedoch nach wie vor nach dem Staatszweck ausrichtete (Klippel 1975: 477, 478). 55 In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, dass etwa bei Montesquieu zur gesetzlich gesicherten Freiheit (in gemäßigten Regierungen) die Gewaltenteilung hinzukommt und mit ihr die Garantie von Sicherheit und Freiheit durch den absoluten Herrscher ersetzt. In ‚Deutschland‘ sollte diese Kombination mit dem Liberalismus des 19. Jahrhundert umgesetzt werden. (Klippel 1975: 479; Van den Heuvel 1996: 92)
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Der Begriff der politischen Freiheit kann mehrerlei Bedeutung erfahren. Mit politischer Freiheit kann in ‚Deutschland‘ in etwa bis zur ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Freiheit des Staates in seinem Verhältnis zu anderen Staaten gemeint sein, also seine Unabhängigkeit56. Ab 1750 wird politische Freiheit schließlich auch für die Befürwortung der Republik gegenüber anderen Staats- und Regierungsformen verwendet. Der Begriff kann aber auch „Teilnehmung an der Souveränität“ (Klippel 1975: 479) bzw. an der Gesetzgebung bezeichnen, wie bei Rousseau bereits angeklungen. Wie Günther (1975: 456) bemerkt, sind es die Begründungen von Freiheit, die sich im Laufe der Neuzeit grundlegend verändern und weitreichende Änderungen in der Begrifflichkeit bewirken. Ob besser von ständischem oder politischem Freiheitsbegriff gesprochen werden sollte, sei so nicht immer offensichtlich und liege an der Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Freiheit und Gleichheit. „Wird unter ‚Freiheit im Staat‘ die Herstellung von Rechtssicherheit durch Gesetze verstanden, die auch der Herrscher befolgen muß, und erlangt die natürliche Gleichheit ähnlich wie die natürliche Freiheit absolute Geltung, so kann sich der Gesetzesbegriff mit dem Gleichheitsbegriff verbinden zu dem Gedanken der gleichen Gesetze für alle Bürger oder der Gleichheit vor dem Gesetz. […] Sobald Freiheit im Staat nicht mehr ohne Gleichheit gedacht werden kann, trennen sich ständischer und politischer Freiheitsbegriff. [Anführungszeichen im Original]“ (Klippel 1975: 487)
Wenngleich die Standeszugehörigkeit als Bedingung von Freiheit hinterfragt und rechtliche Gleichheit zur Grundlage des Begriffs erklärt wird, so tritt als Voraussetzung für die Verwirklichung von Freiheit immer stärker der Begriff des Eigentums57 auf (Günther 1975: 463). Auch hier zeigt sich, dass sich die Trennung zwischen ständischem und politischem Freiheitsbegriff, so wie er in der Theorie entwickelt worden ist, in einzelnen historischen Konstellationen nicht immer klar nachvollziehen lässt. Wird politische Freiheit implizit für und vom Bürgertum ausgehend konzipiert58, so scheint selbst die politische Freiheit von ‚ständischen‘ Elementen durchsetzt. (Klippel 1975: 480, 487) Gemäß der Auffassung der Französischen Revolution wird aber Eigentum im Sinne des durch Arbeit und Leistung erworbenen Eigentums und nicht aufgrund einer privilegierten sozialen Stellung und Erbschaft – gewissermaßen als vorstaatliches, unantastbares Recht (Dipper 1975b: 521) – verstanden. „Die ökonomische Ungleichheit sollte durch die Chancengleichheit des Eigentumserwerbs zugleich legitimiert und durch Leistung überwindbar gemacht werden.“ (Dipper 1975b: 520). Der Eigentumsbegriff geht nun also vom Individuum und dessen Freiheit aus. (Dipper 1975b: 519-521)
56 Klippel (1975: 479) weist darauf hin, dass dem die völkerrechtliche libertas naturalis von Staaten entsprochen hat.
57 Vgl. hierzu auch die Theorien der économistes in Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die Freiheit besonders stark an den Begriff des Eigentums koppelten (Van den Heuvel 1996: 95). 58 Neben dem Eigentum spielt hier insbesondere der Bildungsbegriff als Voraussetzung für den Erhalt bestimmter Freiheiten eine Rolle (Klippel 1975: 488).
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Eine qualitative Veränderung der Freiheitsbegriffe ist laut Günther (1975: 463) ab 1750 nicht mehr gegeben. Die Stellung von Freiheit im und vom Staat ändert sich mit der Absolutsetzung der Menschenrechte, d.h. in der durch keinen Vertrag auflösbaren, dem Menschen angeborenen Rechte und deren Integration in den Gesellschaftsvertrag59 (innerhalb dessen sie allerdings eingeschränkt werden können) (Klippel 1975: 481)60. Ihren politischen, realhistorischen Ausdruck fanden diese schließlich in der verfassungsgesetzlich gesicherten Freiheit61. (Klippel 1975: 481, 482) Zum Vergleich lässt sich in einem im Juli 1837 in The Huntress erschienenen Artikel zur Freiheit folgender Freiheitsbegriff aus den USA nachlesen. „[…] it signifies the absence of all constraint upon the mind in regard to morals, religion and government—the freedom of elections and the freedom of press. This privilege is guaranteed to the citizens of these United States by a constitution defining those rights or privileges on the one hand, and on the other, annexing penalities to each violation thereof. This constitution is allowed to approach nearer to rational liberty than any that has ever been formed by man; and hence it takes the name of republic because it is a government without a king, and the power delegated to certain men for certain purposes, reverting back into the hands of the people, when the time for which they have been elected expires. In a republic the supreme power is placed in the hands of the people. The people are, therefore the sovereigns. In monarchies the supreme power is vested in a king. There is no privilege necessary to the happiness of man that is not secured to him by our constitution […]‟ (The Huntress 1837: 2)
Der Freiheitsbegriff wird hier also ausschließlich als vernünftige, republikanische Freiheit verstanden, die durch die Verfassung garantiert ist und vom Prinzip der Volkssouveränität mit repräsentativem System getragen ist. Sie lässt keine anderen Ausprägungen – etwa der konstitutionellen Monarchie – zu. Einzelne Dimensionen des Freiheitsbegriffes wie die natürliche Freiheit werden hier nicht explizit angeführt. Die Freiheit des Staates, Freiheit vom Staat sowie die Freiheit im Staat werden zur Freiheit (in der Republik) schlechthin verdichtet. Dieser Freiheitsbegriff wird ausschließlich über die Verfassung definiert. In weiterer Folge heißt es, dass diese Art der Freiheit nur mithilfe der entsprechenden aufklärerischen Erziehung garantiert werden kann: „[...] mental instruction is indispensable to the maintenance of a free and independent government; for though there is not an official duty for every man to 59 Konsequenterweise beginnt im Anschluss daran – v.a. im 19. Jahrhundert – der Begriff der ‚natürlichen Freiheit‘ obsolet zu werden (Klippel 1975: 482).
60 Im 18. Jahrhundert werden in diesem Zusammenhang besonders häufig Presse- und Meinungsfreiheit sowie Handels- und Gewerbefreiheit eingefordert. Gerade in der Presse- und Meinungsfreiheit ist wiederum das Entstehen eines öffentlichen Bereiches erkennbar, der sich des Einflusses des Staates zu entziehen versucht, d.h. die Trennung der Bereiche Gesellschaft und Staat. (Klippel 1975: 481, 482) 61 „Die tragenden Elemente sind die Herstellung und Gewährleistung der (bürgerlichen) Rechtsgleichheit, der allgemeinen Erwerbs- und Vertragsfreiheit, der Freizügigkeit und der Garantie des erworbenen Eigentums.“ (Böckenförde 1976: 189, 190). Neben diesen bürgerlichen Freiheiten geht die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte aber auch von der politischen Teilhabe am Gesetzgebungsprozess, d.h. der Idee der politischen Freiheit (in all ihren Einschränkungen), aus (Böckenförde 1976: 191).
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perform—every man is the guardian of his common rights; but he cannot guard those rights if his mind be not enlighted.‟ (The Huntress 1837: 2). Denn ohne Aufklärung ist es dem Menschen nicht möglich, eine eigene Meinung auszubilden, so die Argumentation. Insofern kann Bildung als Voraussetzung für Staatsbürgerschaft gelten. (The Huntress 1837: 2) ‚Freiheit‘, so muss hinzugefügt werden, bedeutet in diesem Zusammenhang nicht notwendigerweise demokratische Freiheit. Zusammenfassend wird mit politischer Freiheit (Freiheit im Staat) meist die politische Partizipation des/der Einzelnen, v.a. im Bereich der Gesetzgebung begrifflich gefasst, wobei hier keine gleichberechtigte Partizipation aller gemeint sein muss. „[…] Freiheit im Staat bedeutet nicht notwendig die Errichtung oder den Übergang zur politischen Demokratie. Diese beruht auf dem Prinzip abstrakter Mitwirkung der einzelnen, ausgedrückt im allgemeinen und gleichen Wahlrecht […], ohne Anknüpfung an Erfahrung, Befähigung, erworbene Eignung zur Erledigung politischer Aufgaben.“ (Böckenförde 1995: 711)
Bürgerliche Freiheit bezeichnet meist die Freiheit vom Staat als jenen Bereich, in dem erlaubt ist, das zu tun, was nicht durch Gesetz (an dem der/die politisch Freie mitwirkt) verboten wird. Freiheit wird nun nicht länger – wie zuvor im Zusammenhang mit dem aufgeklärten Absolutismus erwähnt – als Aufgabe des Staates verstanden, sondern generell als Zweck für die Vereinigung von Individuen im Staat – eine Auffassung, die schon bei Spinoza und Locke zu finden ist (Klippel 1975: 480). Damit vollzieht sich zunehmend eine Trennung von öffentlich und privat, von Staat und Gesellschaft. Der Bereich des Öffentlichen wurde immer stärker institutionalisiert und bürokratisiert (Schaffung von Ämtern, Parlamenten, etc.), jener des Privaten blieb in bestimmten Teilbereichen wie dem Unternehmertum, der Familie, etc. aufrecht (Breuilly 1999: 260). „The perception of this has given rise to the idea that a boundary line between the sphere of the state and of the individual must be drawn, a boundary line which the state cannot overstep, and behind which the individual is protected from any intervention by public authority (Loewenstein, 1958, p. 315). The inviolability of this area is given legal expression by the incorporation into the positive legal order of certain ‚fundamental liberties‛ and ‚rights of man‛ as personal rights, that is, as claim norms of the members of the state over against the state as a whole (Jellinek, 1901; Jellinek, 1905, p. 398). [Anführungszeichen im Original]“ (Dusza 1989: 95)
Böckenförde (1976) weist darauf hin, dass eine Differenzierung zwischen Staat und Gesellschaft mit der Entwicklungsgeschichte der Verfassung verknüpft, ja durch sie bedingt ist. Ihre Wurzeln hat diese Differenzierung in der absolutistischen Zentralisierung der Staatsgewalt und einer ihr gegenübergestellten Gesellschaft62. An dieser Tendenz ändert auch die Französische Revolution nichts – nicht die zentrale Staatsgewalt an sich wurde in Zweifel gezogen, sondern ihre Trägerschaft. (Böckenförde 1976: 186, 187) 62 In der politischen Ordnungsform des Mittelalters und der Frühen Neuzeit kann eine solche Gegenüberstellung schon alleine aufgrund der dezentralen, sich überlappenden und vielschichtigen Herrschaftsverhältnisse nicht vorgefunden werden (Böckenförde 1976: 186, 187).
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Böckenförde (1973) vertritt die Idee, dass bürgerliche Freiheit – Grundrechte als Freiheitsrechte – der Einflusssphäre des Staates entzogen sein muss. Im Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft ist demnach der Staat nicht per se auf die Gesellschaft als Ganzes bezogen, sondern nur in per Gesetz definierten Bereichen. Wird in diesem Zusammenhang auch häufig von der ‚Trennung‘ zwischen Staat und Gesellschaft gesprochen, so kann es sich nur um eine konzeptuelle Differenzierung handeln, stammen doch die den Staat repräsentierenden Personen zugleich aus der Gesellschaft63. (Böckenförde 1973: 18) Staat und Gesellschaft stehen in einer Wechselbeziehung zueinander, denn der Staat ist „[…] als organisierte politische Entscheidungseinheit, in seiner Tätigkeit funktional auf die Gesellschaft bezogen.“ (Böckenförde 1976: 193). Diese wechselseitige Bezogenheit aufeinander beschreibt Böckenförde (1976) wie folgt: „Der Staat (als organisierte Wirk- und Entscheidungseinheit) gibt und erhält der Gesellschaft ihre (Rechts-)Ordnung, wirkt in sie hinein und erbringt Leistungen für die Gesellschaft. Die Gesellschaft, d.h. die Individuen als einzelne und in ihre Gruppierungen, ist daher notwendigerweise an der Art der Festlegung und dem Inhalt staatlicher Entscheidungen interessiert.“ (Böckenförde 1976: 195)
Gerade aber mithilfe der konzeptuellen Trennung kann, laut Böckenförde (1976), so etwas wie individuelle Freiheit erst Bestand haben. Fallen Staat und Gesellschaft in eins, hat also der Staat unmittelbaren Zugriff auf das Handeln der Individuen, so erlischt der Bereich der individuellen Freiheit, weil sich die Freiheitssphäre des Individuums nicht mehr definieren lässt. (Böckenförde 1976: 192, 193) „Der Zweck des Staates ist die Sicherung und Erhaltung der unveräußerlichen Menschenrechte des Individuums. […] Der dahinterstehende Gedanke ist der folgende: Die eine Gesellschaft der Freien und Gleichen konstituiert um ihrer Erhaltung willen eine einheitliche Herrschaftsund Ordnungsgewalt über sich, den Staat. Der Staat wird Staat der staatsbürgerlichen Gesellschaft, in der das Individuum Subjekt des Soziallebens ist und die als Basis dem Staat vorausliegt. Daraus wird eine verbindliche Begrenzung der Reichweite staatlicher Tätigkeit gewonnen; sie findet ihren Niederschlag in den Freiheitsrechten des Individuums, den Menschen- und Bürgerrechten, die zugleich auch Freiheitsrechte der Gesellschaft als der Individuen in ihrem sozialen Zusammenhang sind. Die Unterscheidung und Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft wird hier verfestigt und verformt als Mittel individueller Freiheitssicherung.“ (Böckenförde 1973: 17)
Das 19. Jahrhundert ist in vielen Staaten von einer (weiteren) rechtlichen Absicherung von Freiheit bestimmt64. Nach Einschätzung von Dipper (1975b) hat sich der 63 Der Staat, wenn auch aus dem Bereich der individuellen Freiheit ausgeschlossen, wird dabei als der Gesellschaft übergeordnet, d.h. als „übergreifende[…], entscheidungsbefugte[…] Organisation“ (Böckenförde 1973: 27), die Interessensgegensätze ordnet und zu einem Ausgleich bringt, verstanden (Böckenförde 1973: 27). 64 Pedro José Chacón Delgado (2011) hat die Freiheitsbegriffe Spaniens zwischen 1770 und 1870 untersucht. In der Verfassungsdebatte in Cádiz bedeutete ‚libertad civil‘ (‚bürgerliche
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Freiheitsbegriff selbst nach 1789 nicht wesentlich verändert, er wurde aber „[…] in einem solchen Maße zum Legitimationsbegriff jeder Herrschaft, daß fortan kein Regime mehr darauf verzichten mochte und konnte, sich als freiheitlich zu bezeichnen.“ (Dipper 1975b: 489). In Frankreich hatte sich gezeigt, dass in den Jahren nach der Französischen Revolution (1789-1794) auch die Royalisten den Begriff der Freiheit für sich in Anspruch nahmen (Van den Heuvel 1996: 99). Zugleich ist eine Verschiebung von der verfassungsrechtlichen Diskussion von Freiheit hin zu einem moralisch-normativen Freiheitsdiskurs erkennbar. Freiheit wird nun verstanden als Gegenbegriff zu Despotismus, wurde dabei in seiner moralischen Begründung selbst zu einem Schlagwort, mit dem sich politisch vieles motivieren und legitimieren ließ65 und das gleichzeitig (moralisch) abweichendes Verhalten nicht zuließ. Es trug so selbst das Potenzial zum Despotismus in sich. (Van den Heuvel 1996: 102) Beobachten lassen sich zu dieser Zeit die symbolische und allegorische Darstellung von ‚Freiheit‘ – etwa die Personifikation in Form einer weiblichen (Herrscher-) Gestalt –, die laut Van den Heuvel (1996) folgende Funktionen erfüllen sollte: „Sie unterstützte die gefühlsmäßige Hinwendung zur Revolution und ihren Werten, sie ersetzte die Symbole der Monarchie und sie institutionalisierte anstelle des katholischen Glaubens und seiner Heiligen neue moralische Leitfiguren und trug damit dem sozialpsychischen Bedürfnis nach neuen Identifikationsgestalten und Insignien Rechnung.“ (Van den Heuvel 1996: 105)
Die damit einsetzende „quasi-religiöse Verehrung ursprünglich politischer Grundwerte“ (Van den Heuvel 1996: 111) verschob das Problem der verfassungsmäßigen Absicherung politischer und bürgerlicher Freiheit sowie die dazu bestehenden Meinungsverschiedenheiten in den Hintergrund. Selbst ab 1795, als Stimmen laut wurden, man möge zu einer tatsächlichen Freiheit zurückkehren und über das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit nachdenken, blieb der Begriff „unentbehrlicher Bestandteil jedweder politischer Wortergreifung, die nicht die bloße Rückkehr zum Ancien Régime proklamierte“ (Van den Heuvel 1996: 112, 113)66. (Van den Heuvel 1996: 110-113) Freiheit‘) eine durch das Gesetz begrenzte Freiheit im Gegensatz zur libertad natural. Neben der Begrenzung durch das Gesetz ist der Zusatz der buenas costumbres zu finden, worin sich laut Chacón Delgado (2011) die katholische Prägung des spanischen Liberalismus ablesen lässt. ‚Freiheit‘ und insbesondere die ‚wahre Freiheit‘ (‚verdadera libertad‘) ist in Spanien während des 19. Jahrhunderts nicht nur der meistverwendete Begriff der politischen Sprache, sondern auch ein höchst umstrittener Begriff, den sämtliche im Widerstreit stehende Gruppen in jeweils anderer semantischer Aufladung für sich in Anspruch nahmen, Vertreter der traditionellen Ordnung ebenso wie Konstitutionalisten. Darunter finden sich u.a. Positionen, die die Französische Revolution stark ablehnen. Für die katholische Freiheit (libertad católica) bedürfe es keiner Gesetze, Verfassungen und ausländischer Modelle. (Chacón Delgado 2011: 48-50, 58, 61, 65) 65 ‚Freiheit‘ drohte zu „einer beliebig verwendbaren Leerformel zur Legitimation des jeweiligen Status quo“ (Van den Heuvel 1996: 116) zu werden. 66 Als Ausnahme erwähnt Van den Heuvel (1996) die äußerste Linke unter Babeuf, die sich Gleichheit und Demokratie auf die Fahnen heftete und den Freiheitsbegriff den genannten Begriffen nachreihte (Van den Heuvel 1996: 113, 114).
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Zwei Tendenzen zeichnen sich nach Dipper (1975b) im ‚deutschen‘ Kontext67 ab: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmt die metaphorische Verwendung des Begriffs, weniger in Politik als vielmehr in Dichtung und Kunst, den Freiheitsdiskurs68, um in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts hinter den politischen Gebrauch wieder zurückzutreten. Dann jedoch sind es v.a. einzelne Parteien innerhalb des sich herausbildenden Parteiensystems, die sich das Schlagwort der ‚Freiheit‘ auf ihre Fahnen heften. (Dipper 1975b: 489) In der metaphorischen und allegorischen Darstellung des Freiheitsbegriffes vermutet Dipper (1975b) eine Strategie, mit der mangelnden Konkretheit moderner Freiheit umzugehen: „Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft und Wirkungsweise erfüllten sie [die Metaphern] doch alle zu gegebener Zeit ihre Aufgabe, die Ziele aller unter ‚Freiheit‛ subsumierbaren politischen Vorstellungen darzustellen und damit zugleich einen Beitrag zum Selbstverständnis der Sprecher zu leisten. [Anführungszeichen im Original]“ (Dipper 1975b: 493)
Die Abnahme des metaphorischen Freiheitsbegriffs in ‚Deutschland‘ nach der erfolglosen Revolution von 1848 erklärt Dipper (1975b: 496, 497) zum einen mit dem nun entstehenden Realismus in Politik und Literatur, zum anderen aber mit der Konkretisierung der politischen Konzepte, die mit dem Freiheitsbegriff angesprochen werden sollten: „Auf die sich komplizierenden politischen Vorgänge paßte das grobkörnige Metaphernraster nicht mehr, an seine Stelle rückte der Begriff.“ (Dipper 1975b: 497)69. Der nun etablierte Freiheitsbegriff wurde, so Dipper (1975b) für den deutschen Kontext diskursiv in die Vergangenheit und in die Zukunft verlängert, um ihm, wie Dipper (1975b) meint, mehr Gewicht zu verleihen und ihn zur Legitimierung politischer Ordnungsvorstellungen zu nutzen. Er unterscheidet grob zwei Varianten, nämlich zum einen die Etablierung einer Kontinuität von der „germanischen Volksfreiheit“ (Dipper 1975b: 497) bis zur modernen Freiheit und zum anderen die Darstel67 Das Grimmsche Wörterbuch (1878) enthält zehn verschiedene Bedeutungen des Freiheitsbegriffes, darunter „freiheit im gegensatz zu knechtschaft und unterwürfigkeit [Kursivierungen im Original]“ (Grimm J. u. W. 1878: 111), „freiheit gegenüber dem kerker, dem käfich [Kursivierungen im Original]“ (Grimm J. u. W. 1878: 112), Willensfreiheit (Grimm J. u. W. 1878: 113) sowie Freiheit als „ein zustehendes oder ertheiltes recht [Kursivierung im Original]“ (Grimm J. u. W. 1878: 112), ohne auf die Art des Freiheitsrechts näher einzugehen. 68 In ‚Deutschland‘ sollte bis 1848 auch der Begriff der ständischen Freiheit im Widerstreit mit der verfassungsrechtlichen Freiheit stehen, wobei beide Freiheitsbegriffe mit ‚Freiheit‘ bezeichnet wurden, was ihre Unterscheidung schwierig macht. Nach 1848 wird das Konzept der ständischen Freiheit aber rasch obsolet. (Dipper 1975b: 490) 69 Gegen einen rein metaphorischen Gebrauch von ‚Freiheit‘ vor 1848 sprechen jedoch liberale Entwürfe eines Rechtsstaats als Sicherungsanstalt für Freiheit oder die Forderungen nach sozialer Freiheit und Gleichheit vonseiten der Linken. Auch die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den deutschen Staaten durchgesetzte Bauernbefreiung spricht gegen einen bloß metaphorischen Freiheitsbegriff zu dieser Zeit (Schulze W. 2010: 218-220). Für den Hinweis danke ich Stephan Kirste.
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lung moderner Freiheit als logische Konsequenz der Geschichtsphilosophie, die weiter bis zur „absoluten Freiheit“ voranschreite70. (Dipper 1975b: 497) Analytische Freiheitsbegriffe und ihre Systematisierung Wirft man neben der (europäischen und nordamerikanischen) historischen und ideengeschichtlichen Entwicklung einen Blick auf neuere Kategoriensysteme zum Freiheitsbegriff, so muss zunächst die grundsätzliche Frage gestellt werden, wer überhaupt im Recht als Subjekt anerkannt ist. Stephan Kirste (2013) hat diesen Aspekt mit Bezug auf Georg Jellinek als status subjectionis bezeichnet als das Recht „im Recht als Subjekt anerkannt und nicht als Objekt unterworfen zu sein“ (Kirste 2013: 245). Bezüglich einzelner Freiheitsdimensionen ist die berühmt gewordene Einteilung von Isaiah Berlin71 (1909-1997) und seiner Unterscheidung von negativer und positiver Freiheit72 zu nennen. Negative Freiheit ist die Beantwortung der Frage „Wie weit engen Staat oder Regierung mich ein?“ (Berlin 2006: 210), während positive Freiheit auf die Frage zielt: „Wer regiert mich?“ (Berlin 2006: 210). Aus diesen beiden Fragen ist ersichtlich, dass Berlin (2006) mit negativer Freiheit die Freiheit vom Staat, also Abwehrrechte vom Staat, meint. Die zweite Frage scheint darauf gerichtet zu sein, ob das Individuum an der Gesetzgebung partizipiert, also auf den Begriff der politischen Freiheit oder der Freiheit im Staat. Dass beide Fragen grundverschieden sind und auf jeweils andere Bereiche von Freiheit abzielen, betont Berlin (2006) mehrmals. Negative Freiheit ist „[…] nicht oder zumindest nicht logisch mit Demokratie oder Selbstverwaltung verknüpft. Selbstverwaltung bietet im allgemeinen vielleicht eine bessere Garantie der bürgerlichen Freiheiten als andere Herrschaftsformen und ist auch aus diesem Grunde von libertären Denkern verteidigt worden. Aber zwischen individueller Freiheit und demokratischer Herrschaft besteht kein notwendiger Zusammenhang.“ (Berlin 2006: 210)
Der Schutz der Abwehrrechte des Individuums gegenüber dem Staat (d.h. der Grundrechte) verweist noch nicht auf politische Partizipation. Zwar können beide Freiheiten miteinander verbunden sein, sie sind es jedoch nicht zwingend. Stephan Kirste (2010) unterscheidet in seiner Systematisierung der Dimensionen rechtlicher Freiheit zwischen einer negativen und positiven Freiheit einerseits sowie einer subjektiven und objektiven Freiheit andererseits. Subjektive Freiheit bezieht 70 Diese Vorstellung steht ganz im Einklang mit dem aufklärerischen Fortschrittsgedanken. Hegel sieht die Weltgeschichte, hier wird es explizit gemacht, als notwendigen „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit [Kursivierung im Original]“ (Dipper 1975b: 499). 71 Zum ersten Mal legte Berlin die Two Concepts of Liberty in seiner Antrittsvorlesung des Chichele Chair of Social and Political Theory at Oxford am 31. Oktober 1958 vor (McBride 1990: 297). Hier wird die überarbeitete Fassung des Begriffspaars der 1969 erstmals erschienen Sammlung Four Essays on Liberty in der deutschen Ausgabe von 2006 zitiert. 72 Entgegen einer verbreiteten Auffassung geht die Unterscheidung aber nicht auf Berlin zurück – sie lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen (etwa Augustinus’ liberum arbitrium als negative Freiheit, der Freiheitsbegriff der Aristoteliker als positive Freiheit, etc.). Auch diesen Hinweis verdanke ich Stephan Kirste.
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sich auf das Individuum, objektive hingegen auf das Gemeinwesen. Mit negativer Freiheit sind jene Bereiche von Freiheit gemeint, die vor Freiheitsbeschränkungen durch andere oder den Staat geschützt sind. Sie gehen vom Individuum aus und sind daher auch dem Begriff der subjektiven Freiheit zuzuordnen. (Kirste 2010: 133) Dieser subjektive negative Freiheitsbegriff umfasst in Bezug auf den Staat, was unter Freiheit vom Staat diskutiert wurde, also jene Rechte, die verfassungsmäßig in Form der Grundrechte gesichert sind. Als Menschenrechte sind sie überpositiv angelegt und auf alle Personen bezogen; als Grundrechte sind sie positives Recht und auf jene Personengruppe bezogen, die in der Verfassung adressiert wird (Horn 2012: 84). Die subjektive negative Freiheit entspricht laut Kirste (2010: 133) der „klassisch liberale[n] Freiheit“. Sie wurde weiter oben auch als staatsfreier Bereich innerhalb des Staates bezeichnet, dessen Grenzen per Gesetz festgelegt werden. In der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 wird sie als jene Freiheit gefasst, „[…] alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet.“ (zit. nach Kirste 2010: 134). Positive Freiheit hingegen ist keine Freiheit von, sondern Freiheit zu etwas. Denn „[…] der Inhalt der F. [Freiheit] bleibt [im Falle der negativen Freiheit] dem Recht vorausliegend, ist der Autonomie der einzelnen überantwortet.“ (Böckenförde 1995: 705). Es geht bei der positiven Freiheit, im Unterschied dazu, um die tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten, Freiheit realisieren zu können, basierend auf Selbstbestimmung und/oder -verwirklichung. „Hier wird die Freiheit betrachtet in bezug auf das Ziel, das der Handelnde erreichen will. Sie kann sowohl die Wahl des Ziels als auch die Freiheit des Willens bei der Verwirklichung des Ziels betreffen.“ (Kirste 2010: 134). Das Recht soll nun auch Ziele und Inhalte von Freiheit festschreiben (Böckenförde 1995: 706). Dominierend war von Aristoteles bis in die Moderne ein Verständnis von positiver Freiheit, das sich auf objektive Freiheit und demnach auf gemeinschaftliche Ziele bezog. Gerät jedoch die subjektive ‚Freiheit zu‘ aus dem Blick, so wird das Gemeinschaftsinteresse rasch mit dem Individualinteresse in eins gesetzt. Andererseits stellt sich bei subjektiver ‚Freiheit zu‘ stets die Frage, wie Partikularinteressen mit dem Gemeinwohl, wie subjektive und objektive Freiheit, miteinander versöhnt werden können. Bei Rousseau wurde das Konzept des Gemeinwillens eingeführt, der über den Einzelinteressen steht und sich nicht bloß aus der Summe individueller Interessen zusammensetzt. Bei Hegel hingegen wird positive Freiheit als subjektive Freiheit verstanden, die sich in der Summe der verwirklichten Einzelinteressen indirekt positiv für die Gemeinschaft auswirken soll, wobei die subjektive Freiheit an die objektive Freiheit der Rechtsordnung gebunden ist. Der Staat bzw. das Beamtentum soll die so entstehende objektive Freiheit ordnen. (Kirste 2010: 134) Jedoch: „Eine derartige Vermittlung von subjektiver Freiheit und objektiver Freiheit widerspricht der freien Selbstbestimmung.“ (Kirste 2010: 134). Eine Möglichkeit, subjektive und objektive Freiheit aufeinander abzustimmen, ohne die freie Selbstbestimmung des Individuums oder die Gesellschaft in ihrem Zusammenhalt zu gefährden, sieht Böckenförde (1995) in der allgemeinen Bestimmung der Gesetze, d.h. der Gesetzgebung als öffentlichem und politischem Prozess mit Partizipation der Allgemeinheit (politische Freiheit)73. (Böckenförde 1995: 708) 73 Das Recht alleine kann das Gelingen der Vermittlung von subjektiver und objektiver Freiheit aber nicht leisten. Böckenförde (1995) meint dazu: „Voraussetzung für das Gelingen einer solchen Vermittlung ist freilich, daß im Bewußtsein der F. [Freiheit] die Inhalte der
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Damit ist klar geworden, dass Berlin (2006) unter positiver Freiheit primär etwas anderes versteht als das, was aktuell mit dem Begriff bezeichnet wird. Denn während die Freiheit zu etwas als Spielart von Freiheit vom Staat diskutiert wird, spricht Berlin (2006) mit positiver Freiheit die Freiheit im Staat an. Wir haben heute also eine Unterscheidung der Freiheit vom Staat in eine negative und positive Ausprägung, die von der Freiheit im Staat abzugrenzen ist, wenn auch in der Praxis beide Freiheitsbegriffe und ihre Varianten häufig, wenn auch nicht notwendigerweise, miteinander verbunden sind. Wie Kirste (2010) und Horn (2012) zeigen, lassen sich die einzelnen Freiheitsdimensionen mit der Rechtsstatuslehre Georg Jellineks verbinden, wenn sie dieser auch nicht genau zuordenbar sind (Kirste 2010: 135). „Das gilt notwendig für den Status der Rechtsperson als Rechtssubjekt. Solange dem Einzelnen nur überhaupt ein subjektives Recht zusteht, das seine Freiheit oder Gleichheit schützt, wird er als Rechtsperson rechtlich anerkannt.“ (Kirste 2010: 135)74. Jellinek unterscheidet zwischen einem status negativus, status positivus und status activus. Der status negativus betrifft jene Freiheitsrechte, die als Freiheit vom Staat konzipiert sind, aber auch solche, die vor Freiheitseingriffen durch andere schützen, also die subjektive negative Freiheit bzw. liberale Freiheitsrechte. „Was der Bürger jedoch positiv mit seiner Freiheit anfängt, entzieht sich der rechtlichen Bestimmung.“ (Kirste 2010: 135). Vielmehr zeichnet sich der Staat im status negativus durch ein Unterlassen von Handeln aus (Horn 2012: 85). Der status positivus bezeichnet Ansprüche des/der Einzelnen gegenüber dem Staat, die die Verwirklichung positiver Freiheit gewährleisten75 (Kirste 2010: 135). Dass hierbei zwischen subjektiver und objektiver Freiheit vermittelt werden muss, wurde bereits oben angesprochen. „Ein Handeln des Staates, das nur auf den Schutz des Einzelnen zielt, aber gegen dessen Willen erfolgt, ist danach nicht zu rechtfertigen. Entsprechende Leistungen des Staates müssen jedenfalls auch einem Gemeinwohlziel dienen. […] Der status positivus ist also sozusagen von innen her beschränkt auf Leistungen, die der Einzelne nicht selbst erbringen kann. Geht er darüber hinaus, ist er nicht mehr freiheitsförderlich, sondern – ohne daß dies zu rechtfertigen wäre – freiheitsbeschränkend.“ (Kirste 2010: 135)
F.sverwirklichung, deren Annahme das Bei-sich-selbst-sein in F. herbeiführt, gegenwärtig sind und auch gegenwärtig gehalten werden. […] [Dies; …] ist abhängig von Kräften, die dem Recht vorausliegen. Von Bedeutung sind vor allem die Religion als eine auch die Sitten prägende Kraft, Bildung und Erziehung sowie die Präsentation der in einem Volk als sein Geist lebendigen Kultur- und Vernunfttradition in und durch öffentliche Institutionen. […] [Es stellt sich] die Frage, wie weit auch der Staat Träger dieser Vermittlung sein kann und müßte […].“ (Böckenförde 1995: 708). 74 Siehe dazu den oben erwähnten Begriff des ‚status subjectionis‘. 75 Hierzu können auch Sozialrechte gezählt werden, „[…] etwa das Recht auf staatliche Gesundheitsversorgung, kostenlose Schulbildung, auf Krankengeld, Arbeitslosen-, Rentenund Pflegeversicherung […]“ (Horn 2012: 85).
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Mit dem status activus ist die politische Partizipation des/der Einzelnen, d.h. die Entfaltung der politischen Freiheit, oder Freiheit im Staat, gesichert (Kirste 2010: 135, 136). Besonders hier stellt sich die Frage, wem Rechte zur politischen Partizipation zugestanden werden und welche Voraussetzungen für ihren Erhalt bestehen (Horn 2012: 86).
F REIHEIT – S TAAT – N ATION Wie im Zusammenhang mit den Kennzeichen des modernen Staates erörtert, unterscheidet Max Weber zwischen Staatsangehörigen, Staatsbürger/innen und all jenen, die sich auf einem bestimmten Staatsgebiet aufhalten. Das staatliche Gewaltmonopol gilt dabei für alle drei genannten Kollektive. Ein kurzer Blick auf die Begriffsgeschichte des Terminus ‚Volk‘ soll diese näher charakterisieren und Klärung in das Verhältnis zwischen Freiheit und Staatsvolk sowie Nation und Staatsvolk bringen. Koselleck (1992a) fasst in aller Kürze wichtige Etappen in der Begriffsgeschichte zusammen und zeigt gleichzeitig, dass mit dem Begriff des ‚Volkes‘ politisch gegensätzliche Programme gemeint sein können. „‚Demos‘ meint die politisch und rechtlich qualifizierte Bürgergemeinschaft einer Polis, die über sich selbst und zugleich über die nicht-qualifizierten Unterschichten (Sklaven, Metöken, Fremde) herrscht76. Analog ist der römische ‚populus‘ (auch ‚gens‘, ‚natio‘, vor allem ‚civitas‘ genannt) ‚souverän‘ nach unten und nach außen. Ähnliches wiederholt sich im sogenannten Mittelalter und in der sogenannten Frühen Neuzeit. Die durch Geburts- und Landesrechte qualifizierten ‚Adelsnationen‘ beherrschen – modern gesprochen – ethnisch völlig heterogene Schichten oder Bevölkerungen. Infolgedessen wird in der sich ‚demokratisch‘ legitimierenden Neuzeit der Volksbegriff verdoppelt zu ‚Herrenvolk‘ (Max Weber), womit jedenfalls ein Herrschaftsanspruch gegenüber innerstaatlichen Minoritäten oder gegenüber außerstaatlich weniger zur Herrschaft qualifizierten Völkern angemeldet wurde. Aber die Oben-unten-Abgrenzung konnte mit denselben Worten auch seitenverkehrt von unten nach oben festgeschrieben werden. ‚Demos‘, ‚populus‘ oder ‚Volk‘ meinten dann gerade nicht die rechtlich und politisch ausgewiesenen Herrschenden, sondern die Menge der Regierten oder Beherrschten. ‚Volk‘ konvergierte dann leicht mit ‚multitudo‘, ‚vulgus‘, ‚Bevölkerung‘, ‚Menge‘, ‚Masse‘ oder ‚Pöbel‘. Dann stand ‚demos‘ = ‚plethos‘ gegen die Bürger, ‚populus‘, vor allem ‚plebs‘, gegen die ‚patres‘ oder das Kirchenvolk (‚plebs‘) gegen die kirchlichen Amtsträger. Oder ‚Volk‘ hieß, vor allem im Zeitalter absoluter Fürstenherrschaft – unbeschadet ihrer rechtlichen und sozialen Differenzierungen – die Summe der ‚Subjekte‘, der ‚Untertanen‘. [Anführungszeichen im Original]“ (Koselleck 1992a: 145)
76 Die antiken Bezeichnungen ‚populus‘, ‚gens‘ und ‚natio‘ bezeichnen vielmehr Staaten als das, was mit dem heutigen Begriff ‚Volk‘ (in dem sich politische, geschichtliche und ethnisch-kulturelle Elemente vermengen können) gemeint ist. Sie werden aber auch für ‚Volksversammlung‘, ‚Gesamtheit der Bürger‘ oder ‚staatstragendes, souveränes Volk‘ verwendet (Gschnitzer 1992: 151, 156). Daneben existiert die unpolitische Bedeutung als „Gruppen von Menschen, die durch Abstammung, Sprachen, Sitten, Eigenart […] als mehr oder weniger zusammengehörig erwiesen werden, unabhängig davon, ob sie auch politisch verbunden und gegen die Umwelt abgegrenzt sind.“ (Gschnitzer 1992: 164).
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Entscheidend für die Themenstellung dieser Arbeit ist, dass sich im Naturrecht der Aufklärung und mit der Französischen Revolution ein tiefgreifender begrifflicher Wandel vollzieht, der sämtliche Nebenbedeutungen in sich aufnimmt und sich auf alle Mitglieder des Volkes im Sinne des Staatsvolkes erstreckt (im Französischen meist mit ‚nation‘, bei den Jakobinern mit ‚peuple‘ benannt) (Koselleck 1992a: 147). Unterschieden wird der Begriff des Staatsvolkes von jenem des Staatsbürgers/der Staatsbürgerin (‚citoyen‘), der den Begriff des ‚Untertans‘ ablöst und den Begriff des ‚Bürgers‘ und der ‚Bürgerin‘, der zuvor auf die Stadt bezogen war, nun auf den Staat erweitert77 (Werner 1992: 174). Exkurs: Souveränität Der moderne Staatsbegriff und insbesondere der Begriff des Staatsvolkes ist bis zur Verschmelzung mit dem Begriff der Souveränität verbunden (Klippel 1990: 98). Dieser soll daher kurz in seinen Grundzügen skizziert werden. Im Französischen bezog sich der Begriff souverain78 ab dem 13. Jahrhundert auf die Stellung des Königs, die aber nicht von Ausschließlichkeit geprägt war, sondern daneben andere Souveräne, wie Grafen, Herzöge, etc., zuließ. Er diente zur Bezeichnung einzelner Kompetenzen, über die ‚Souveränität‘ ausgeübt wurde, nicht zur Benennung einer umfassenden Gewalt, worin er sich vom Souveränitätsbegriff der Neuzeit unterscheidet. Es ist in der Forschung umstritten, ob das Konzept der Souveränität Eingang in die mittelalterliche Theoriebildung über die höchste Gewalt im Staat gefunden hat. Genau festmachen lässt sich aber der Beginn der modernen Souveränität in der Neuzeit, die auf Jean Bodins Les six livres de la république (1576) zurückgeht. Da sich die Souveränitätsbegriffe des Mittelalters, anders als jene der Neuzeit, ausschließlich auf die Temporalien beziehen, wird weltliche Gewalt vom Volk her und nicht von Gott bezogen und legitimiert. (Klippel 1990: 100-107) Dass dies aber nicht als Souveränität des Volkes verstanden werden kann, erläutert Klippel (1990) mit folgenden Worten: „Entsprechende Konstruktionen des Mittelalters und des 16. Jahrhunderts hat die Literatur immer wieder als Propagierung von ‚Volkssouveränität‘ mißverstanden. […] Die souveraineté du Peuple dient […] der Legitimation anderer Herrschaftsträger, vornehmlich der Stände als Repräsentanten des Volkes; nur durch sie existiert das Volk rechtlich und handelt es. Von ‚Volks-
77 Eine neue Bedeutungskomponente von ‚Volk‘ brachte Herder in den deutschen Sprachgebrauch ein, indem er Volk und Nation miteinander gleichsetzte, sodass „[…] Volk zu einer kollektiven, mit Sprache, Seele und Charakter begabten Individualität“ (Schönemann 1992: 283) wurde. 78 Etymologisch lässt sich der Begriff ‚Souveränität‘ aus dem Französischen souverain herleiten, der wiederum aus dem Lateinischen SUPER stammt, vermittelt über das frühromanische *superanus (Seebold 2011: 860), auf das auch der spanische Begriff ‚soberano‘ zurückgeht (García de Diego 1985: 374). Die Bezeichnung des Konzeptes selbst variiert und ist nicht ausschließlich auf den Begriff ‚Souveränität‘ zentriert. In ‚Deutschland‘ sollte es bis zum Ende des 18. Jahrhunderts dauern, bis das Konzept mit ‚Souveränität‘ bezeichnet wird. (Klippel 1990: 99, 102)
66 | F REIHEIT UND N ATION souveränität‘ im modernen Sinn kann daher keine Rede sein. [Anführungszeichen und Kursivierung im Original]“ (Klippel 1990: 106, 107)79
Zentral ist, dass Bodin eine Verbindung zwischen Staat und Souveränität etablierte, wobei die Souveränität des Staates in seiner absoluten Macht liegt oder anders gewendet: „[A]lle Staatsgewalt konzentriert sich im Souverän“ (Klippel 1990: 108). Dies bedeutet, dass Souveränität unteilbar wird und nicht länger auf unterschiedlich legitimierte Trägerschaften wie v.a. die Stände aufgeteilt werden kann. Die Exklusion der Stände vom politischen Entscheidungsprozess ist daraus die Folge, denn bei Bodin drückt sich Souveränität vor allem in der Kompetenz der Gesetzgebung aus. Das so verfasste Souveränitätskonzept bereitete gleichzeitig den Weg für den absoluten Staat mit zentralisierter Herrschaftsgewalt, die innerhalb des Staates keine andere autonome Gewalt vorsieht80. Auch eine Teilung von Souveränität zwischen Herrscher und Volk wird dadurch – im Gegensatz zur mittelalterlichen Vorstellung – undenkbar81. Bodin versteht Souveränität sowohl nach außen82 als auch nach innen gerichtet. ‚Souveränität‘ kann so auch die Bedeutung von Unabhängigkeit bzw. unabhängigem Gebiet erfahren. (Klippel 1990: 107-110, 120) Was den inneren Souveränitätsbegriff betrifft, und dies ist für die Fragestellung dieser Arbeit besonders relevant, setzt im Zuge der Französischen Revolution ein Bedeutungswandel ein, der sich gegen die absolutistische Komponente des Souveränitätsanspruchs wendet und die Begrenzung staatlicher Gewalt betont. Es handelt sich dabei um einen Wechsel in der Trägerschaft von Souveränität. Konnte bis Ende des 18. Jahrhunderts angenommen werden, dass die Souveränität zwar vom Volk ausgehe, diese aber beim Eintritt in den Staatsvertrag abgegeben werde, so wurde nun ein demokratischer Souveränitätsbegriff entwickelt – ein Konzept der Volkssou-
79 War die Staatsgewalt auch im Königtum absetzbar, so nicht weil Adel, Kirche oder Volk aus Souveränitätsgründen dazu in der Lage gewesen wären. Souveränität konnte nur vom Herrscher ausgehen, denn mit der höchsten Gewalt, die von Gott abgeleitet war, konnte nur der Herrscher betraut sein. (Werner 1992: 184) „Erst seit der Französischen Revolution wird ‚im Namen des Volkes‘ in bewußtem Gegensatz zu ‚im Namen Gottes‘ gebraucht (nun als Legitimation der einstigen Herrschaft der Fürsten und Priester abgelehnt). [Anführungszeichen im Original]“ (Werner 1992: 204). Siehe dazu auch Wink (2009: 44-46). 80 Bei Bodin sind der Staatsgewalt nur in Form des „göttlichen und natürlichen Recht[s] und den Grundgesetzen des Reiches“ (Reinhard 2007: 45) Grenzen gesetzt. 81 Eben jenes Souveränitätskonzept zeigt sich auch im Staatsbegriff von Hobbes, bei dem mit der Schaffung des Staates Souveränität entsteht, die unteilbar, unübertragbar und „einzige legitime Quelle von Herrschaft“ (Klippel 1990: 110) ist. Dass Locke auch die Staatsgewalt rechtlich bindet und sie nicht als unparteiische Instanz über dem Vertrag stehen lässt, wird ihm im älteren deutschen Naturrecht als Angriff auf die (vollkommen uneingeschränkte) Souveränität ausgelegt, so etwa bei Heinrich Gottfried Scheidemantel (1775) (Klippel 1990: 112). 82 In der Politikwissenschaft wird der Beginn des (nach außen) souveränen Staates aufgrund des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung zwischen Staaten mit dem Westfälischen Frieden von 1648 angesetzt (vgl. z.B. Calhoun 2006: 20).
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veränität83, das auch nach dem Zusammenschluss im Staat aufrecht blieb. Dieses Konzept von Volkssouveränität ging maßgeblich von Rousseau aus. (Klippel 1990: 122, 125) „Rousseau formuliert die Antithese zur Fürsten- und Ständesouveränität ebenso wie zu dualistischen Souveränitätskonzepten, da die Souveränität inaliénable und indivisible ist und auf der durch den Staatsvertrag erworbenen politischen und rechtlichen Gleichheit aller Menschen beruht. Der Souveränitätsbegriff schließt jede Form von Repräsentation aus und bezieht sich daher ausschließlich auf das Volk. [Kursivierungen im Original]“ (Klippel 1990: 126)
Volkssouveränität wurde als Begriff sowohl in der Französischen Revolution als auch in den amerikanischen Bills of Rights verwendet84, hier durchaus mit der Möglichkeit der Repräsentation des Volkes. Das Volk wird so zur Kontrollinstanz über die legitime Gewaltanwendung des Staates, dem es seine Souveränität mit dem Vorbehalt der Rückgängigmachung bei Missbrauch, überträgt. (Klippel 1990: 126, 127) Bei Georg Wedekind wird „Freiheit als Folge der Souveränität des Volkes [Kursivierungen im Original]“ (Klippel 1990: 127) begriffen85. Die Beschränkung der Staatsgewalt durch Verrechtlichung von Freiheit zeigt sich also auch anhand des Souveränitätsbegriffes86. Neben dieser Tendenz zur Verrechtlichung ist ein zweites Charakteristikum der nunmehrig vom Volk ausgehenden, wenn auch durch Repräsentanten ausgeübten, Souveränität zu beobachten: Die Legitimität der Staatsgewalt und der 83 In einer erweiterten Form muss der Begriff der Volkssouveränität in der Demokratie verstanden werden. Freiheit und Gleichheit müssen dann in einem erweiterten Sinn verstanden werden, der über rechtliche Gleichheit hinausgeht und politische Freiheit für alle Staatsbürger/innen vorsieht. (Dipper 1975b: 531, 532) 84 Das zeigt sich nicht zuletzt in der Idee, dass die Verfassung vom Volk ausgehen müsse (Boldt 1990: 130). 85 Dass der Wandel des Konzepts der Volkssouveränität sehr viele Zwischenschritte kennt und nicht so linear verläuft, wie dies in dieser knappen Darstellung erscheinen muss, lässt sich alleine an der Diskussion des Begriffes in ‚Deutschland‘ nachvollziehen, ganz zu schweigen von der historischen Umsetzung der Konzepte, vgl. dazu etwa Klippel (1990: 98-128) sowie Boldt (1990: 129-154). 86 Im 19. Jahrhundert hat man in ‚Deutschland‘ daher auch von der beschränkten Souveränität im Verfassungsstaat gesprochen. Manche Autoren bevorzugten angesichts der verfassungsmäßig definierten Gewaltenteilung auch den Begriff der geteilten Souveränität. Dieser Begriff wurde wiederum aufgrund der Doppeldeutigkeit hinsichtlich der Trägerschaft von Souveränität abgelehnt, die aber eindeutig vom Volk ausgehend verstanden werden sollte. Feststeht, dass sich der Begriff dahingehend gewandelt hatte, nicht länger einzig staatliche Entscheidungsmacht bezeichnen zu können. Verschiedene neue Konzeptionen sind daraufhin entstanden. So gehen u.a. Victor Cousin und François Guizot dazu über, nicht mehr die Trägerschaft von Souveränität als souverän zu bezeichnen, sondern die Rechtsordnung an sich – schließlich werde die Staatsgewalt und auch die Trägerschaft von Souveränität verfassungsrechtlich definiert und begrenzt. Das Recht wiederum könne man auf Vernunft und Gerechtigkeit zurückführen. Interessant erscheint die Verbindung zum Freiheitsbegriff, die hier zu bemerken ist, denn Vernunft und Gerechtigkeit könnten nur in ‚freien‘ Regierungen zur Verwirklichung gelangen. (Boldt 1990: 139, 141)
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politischen Ordnung wird zunehmend mit der Volkssouveränität in Übereinstimmung gebracht, sodass der Begriff „zum Synonym für legitime politische Ordnung überhaupt“ (Boldt 1990: 131) wird. In der Encyclopédie méthodique. Économie, politique et diplomatique von Denis Diderot (1786) heißt es: „Toute société qui se gouverne elle-même, sous quelque forme que ce soit, est un état souverain. [Kursivierung im Original]“ (Diderot 1786: 337). Mit dem Übergang der Souveränität auf den Staat bzw. das Volk wandelt sich auch die Quelle legitimer Herrschaft, die vom Gottesgnadentum auf die sich zivilisierende Gesellschaft, wie Koselleck (1990a: 56) schreibt, übergeht. Diskutiert man den modernen Souveränitätsbegriff mit Staat und Freiheit in Verbindung, so scheint sich alles in der Frage zu konzentrieren, wer Träger von Souveränität sein sollte: das Staatsvolk, die Staatsbürger/innen, die Nation? Noch ein Begriff – jener der Nation – muss dazu begriffsgeschichtlich charakterisiert werden. „Der anfangs auf Geburt und Herkunft bezogene Begriff ‚natio‘ erfährt […] langsam und langfristig, im Deutschen erst seit der Lehnwortbildung im 15. Jahrhundert, eine Aufwertung und Ausweitung, so daß er heute eine in fast allen Sprachen unaustauschbare politische Schlüsselposition einnimmt, in der Herkunft oder Geburt nur noch eine mögliche Nebenbedeutung mitmeinen. [Anführungszeichen im Original]“ (Koselleck 1992a: 143)
‚Natio‘87 ist im Mittelalter nicht unbedingt als Kollektiv zu verstehen als vielmehr durch die Angehörigkeit eines Individuums zu einem Stand oder Land durch Geburt bestimmt. Insofern können sich nationes nach ihrem rechtlichen Stand (jede natio verfügt über ihre lex), aber auch nach Sprache und Sitten unterscheiden lassen. Die räumliche Herkunft wurde im Mittelalter neben ‚natio‘ meist mit ‚patria‘, verstanden als Geburtsort, bezeichnet. Schon bei den Westgoten konnte ‚patria‘ aber auch das gesamte Territorium, das ‚Vaterland‘, meinen und daher die gesamte Bevölkerung eines Gebiets einschließen, was eine Territorialisierung des Rechts bedeutete, den Begriff der ‚natio‘ aber rechtlich nicht obsolet machte88. Neben dem in der Forschung des 19. Jahrhunderts geprägten Fokus auf den Personenverband trat hier also bereits im Mittelalter ein territoriales Prinzip von Zugehörigkeit. (Werner 1992: 214-218) Ein weiterer Gebrauch des Wortes ‚natio‘ ab dem 13./14. Jahrhundert ist die Bezeichnung und Einteilung von Studenten nach ihrer Herkunft, wobei es sich um eine pragmatische Ordnung der Zusammensetzung der Studentenschaft an den europäischen Universitäten ohne politische Konnotation handelte, die sich je nach räumlicher Distanz zur Universität auf kleinere Regionen oder größere Gebiete bezog: „Nation galt ‚in der Fremde‘ als Organisationsprinzip, aber nicht ‚zu Hause‘. [Anführungszeichen im Original]“ (Heckmann 1991: 59). Allerdings schien nun der Fokus auf der Sprache anstatt der Herkunftsregion zu liegen. (Werner 1992: 231-233)
87 Der Begriff stammt aus der römischen Antike und bezeichnete Geburt und Abstammung, die sich aber auf ganz unterschiedliche Gruppen beziehen konnte (z.B. die Aristokraten oder die Philosophenschule) (Schulze H. 1996: 66, 67). Des Weiteren wird er in Opposition zu ‚civitas‘ verwendet und bedeutet dann „unzivilisierte Völkerschaft, die keine gemeinsame [sic] Institutionen kennt“ (Schulze H. 1996: 67). 88 Siehe dazu auch Hobsbawm (2005: 27, 28).
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Mitte des 18. Jahrhunderts konnten sich in ‚Deutschland‘ auch Definitionen des Nationsbegriffs finden lassen, etwa bei dem Schriftsteller, Philosophen und Mathematiker Thomas Abbt (1738-1766)89, die territorialstaatlich definiert waren und die Zugehörigkeit zur Nation als individuelle Entscheidung „nach Maßgabe der Qualität der Gesetze und der ihm im Gesetzesstaate verbleibenden individuellen Freiheit“ (Schönemann 1992: 312) fassten. Die Rechte und Pflichten eines Staatsbürgers/einer Staatsbürgerin – oder in der Terminologie der Zeit auch ‚Patrioten‘ – anzunehmen oder nicht, schien in diesem Beispiel u.a. vom Grad der gewährten Freiheit abzuhängen. Nicht Abstammung und/oder Sprache wurden etwa auch bei Christoph Martin Wieland (1733-1813) als relevante Kriterien zur Definition der Nation genannt, sondern die ‚Liebe‘ zur staatlichen Verfasstheit, die zugleich zu einem hohen Grad an Freiheit führen sollte (Schönemann 1992: 313, 314). Koselleck (1992b: 380) meint jedoch, dass ‚Volk‘ zwischen 1750 und 1850 vorwiegend auf den Staat bezogen blieb – und hier im Sinne von Staatsvolk die Bevölkerung eines bestimmten Territoriums meinte, während Nation ein eher vorpolitischer Begriff war (Herkunft, Sitten, Bräuche, Sprache, etc.), der sich aber mit dem Volksbegriff bis zur Deckungsgleichheit verbinden konnte90. (Koselleck 1992b: 380-389) „‚Volk‘ war seit der Politisierung des Begriffs um 1800 zur Dublette von ‚Nation‘ geworden und gewann den Vorrang, da einerseits die ältere ‚Nation‛ aus lateinischer Wurzel (d. h. der vorrevolutionäre Nationsbegriff, der für die Adelsnation stand) in Vergessenheit geriet, andererseits ‚nation‛ aus französischer Wurzel sogar pejorative Verwendung erfuhr. Im wissenschaftlichen Gebrauch war man bestrebt, ‚Nation‛ auf die vom souveränen Volk getragene moderne Staatsnation zu begrenzen, im Unterschied zu ‚Volk‛, das, jetzt im politischen Sinn (!), als auf die deutsche Gesamtgeschichte anwendbar gesehen wurde. [Anführungszeichen im Original]“ (Werner 1992: 239)
Um auf Max Weber zurückzukommen, unterliegen all jene Personen der Staatsgewalt, die sich auf einem bestimmten, staatlich begrenzten Territorium aufhalten. Zu unterscheiden ist von diesem Personenkreis jener des Staatsvolkes, dem dritten Kriterium zur Definition moderner Staaten nach Jellinek. Schließlich umfasst ersterer auch jene Personen, die sich auf dem Staatsgebiet aufhalten, aber eine andere Staatsangehörigkeit aufweisen. Staatsvolk bedeutet in diesem Zusammenhang Staatsangehörige ohne die ethnischen Konnotationen des Begriffs ‚Volk‘ (Salzborn 2011: 154). Noch einmal unterschieden davon ist der engere Kreis der Staatsbürger/innen, die mit einem „Bündel von Rechten und Pflichten“ (Mackert 1999: 11), etwa bürgerlichen, 89 Abbt hat sich auch mit der Vaterlandsliebe beschäftigt und die Literatur – aufgrund ihrer teils parodistischen Absichten – als wenig geeignet zur Bildung derselben befunden, ebenso wie die kirchliche Predigt. Gegen Ende seines Lebens war er unter Fürst Graf Wilhelm von Schaumburg-Lippe für das Schulwesen zuständig, wobei ihn u.a. wiederum Erziehungsfragen in Verbindung mit patriotischer Haltung und Handlungsweise interessierten. (Federlin 2008: 2-5) 90 Im Grimmschen Wörterbuch (1889) wird unter ‚Nation‘ „das (eingeborne) volk eines landes, einer groszen staatsgesamtheit [Kursivierung im Original]“, „auch von einem bestimmten stande oder geschlechte, die leute desselben [Kursivierung im Original]“ (Grimm J. u. W. 1889: 425) verstanden.
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politischen, sozialen Rechten, ausgestattet sind, die im Regelfall über die Rechte des Staatsvolkes hinausgehen (meist im Bereich der politischen Freiheit – dem aktiven und passiven Wahlrecht). Das moderne Konzept der Staatsbürgerschaft bezieht sich auf das Individuum91, das mit der Verleihung der Staatsbürgerschaft „eine formale, legale Identität“ (Mackert 1999: 11) erhält. Zuvor war das Volk, etwa im 18. Jahrhundert im deutschen Fürstenstaat, nicht als „[…] verfassungsrechtlich[e] Summe gleichberechtigter Individuen oder gar [als] eine erst später so genannte ‚Staatsbürgergesellschaft‘ [Anführungszeichen im Original]” (Conze 1990: 18) verstanden worden, sondern als eine „[…] in ihren Rechten und Freiheiten vielfältig in sich unterschiedene, adelig-bürgerlich-bäuerliche Gesellschaft von Familien, die in ihrer Gesamtheit als ‚societas civilis‘ […] [Anführungszeichen im Original]“ (Conze 1990: 18) bezeichnet wurde. Das Verhältnis zwischen Bürger/innen und Staat sowie zwischen den einzelnen Staatsbürger/innen, die als formal gleichberechtigt gelten, wird erst mit der modernen Staatsbürgerschaft geregelt. Wenn das Konzept der Staatsbürgerschaft auch auf antike Vorstellungen, so bereits bei Aristoteles, zurückgeht, so erfährt es mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte ihre moderne, universalistische Gestalt. (Mackert 1999: 11, 12) Obwohl aber in der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte das Konzept des (gleichen) Staatsbürgers, das alle Standesunterschiede nivellieren sollte, Grundlage für politische Freiheit sein sollte, war die Staatsbürgerschaft bekanntlich Männern vorbehalten, die ihrerseits in aktive und passive Bürger aufgetrennt wurden (Nippel 2008: 176). „Aktivbürger mussten über 25 Jahre sein und Steuern (im Gegenwert von mindestens drei Tageslöhnen) zahlen; zudem durften sie nicht in einem abhängigen Dienstbotenverhältnis stehen. Sie waren (mit erheblichen Abstufungen, da für das passive Wahlrecht ein viel höherer Zensus gefordert wurde) zur politischen Partizipation berechtigt, während die Passivbürger sich nur des Rechtsschutzes erfreuen durften.“ (Nippel 2008: 176)
Nun tritt jedoch bereits mit der Französischen Revolution in der Frage der Trägerschaft von Souveränität der Begriff der Nation anstelle jenes des Staatsvolkes. „Im Artikel 3 der ihr [der Verfassung vom 03.09.1791] vorangestellten Menschen- und Bürgerrechtserklärung vom 26. August 1789 heißt es: Le principe de toute souveraineté réside essentiellement dans la Nation. Nul corps, nul individu ne peut exercer d’autorité qui n’en émane expressément. Als Trägerin der Souveränität figurierte also die Nation, nicht das Volk.92 [Kursivierungen im Original]“ (Schönemann 1992: 323)
91 „The breakdown of corporate ties meant that both within state and civil society there was a new emphasis upon people as individuals rather than members of groups. […] A society of individuals was simultaneously defined as a polity of citizens. […] This idea of nationality was what underlay the programmes of the 18th century patriots.“ (Breuilly 1994: 32). 92 In der Verfassung vom 24. Juni 1793 scheint das französische Volk als Trägerin der Souveränität auf (Schönemann 1992: 323).
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Anstatt des Volkes wird in der französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 die Nation als Trägerin von Souveränität definiert93. Auch in ‚Deutschland‘ heißt es 1848 in der konstituierenden Nationalversammlung, die Ermächtigung zur Schaffung einer Verfassung gehe von der Souveränität der Nation aus (Grimm 1990: 888). Welche Konsequenzen sind mit dem Wechsel von Staatsvolk zu Nation verbunden? „Im Gegensatz zur ‚souveraineté du peuple‛, die immer wieder Assoziationen an die Herrschaft einer Vielzahl von Individuen, der ‚Menge‛, hervorruft, ist mit der ‚Souveränität der Nation‛ von vornherein der Gedanke einer über den einzelnen stehenden, sie umfassenden Einheit verbunden. [Anführungszeichen im Original]“ (Boldt 1990: 132)
Anders als im Konzept der Staatsbürgerschaft, das auf das Individuum und dessen Rechte fokussiert ist, wird das Individuum nun dem Kollektiv (der Nation) untergeordnet. Nur Autorität, die der Nation entspringt, ermächtigt das Individuum zu legitimer Gewaltanwendung. Die Nation – per se nicht mit Freiheitsrechten verbunden – erhält nun eine grundlegende politische Dimension: Anstatt des Staatsvolkes ist nun sie die Trägerin von Souveränität. „Im Laufe des 19. Jahrhunderts erwies sich, daß auf die Dauer keine staatliche Ordnung bestehen konnte, die nicht fähig war, diese Vielzahl [von konkurrierenden Ordnungs- und Legitimationsideen] auch gegensätzlicher gesellschaftlicher Kräfte einzubinden. Die große Integrationsideologie, die den Bürgerkrieg verhinderte und über die Grenzen der auseinanderstrebenden Interessen hinweg Einheit stiftete, war die Idee der Nation.“ (Schulze H. 1996: 70)
Es ist aber nicht die Nation als solche, der Legitimität ‚innewohnt‘ – sie gewinnt ihre Legitimität durch ihre Bezogenheit auf andere Loyalitätsformen, die sehr unterschiedlicher Natur sein können, etwa Religionen, Regionen, Traditionen, Sprache, Geschichte, Ideensysteme, Ethnizität, etc. Gerade darin sieht Wehler (2007) die Anziehungskraft und ungebrochene Beständigkeit der Nation: „Zum Teil bezieht er [der Nationalismus] auch aus eben diesen Allianzen seine Dynamik und erstaunliche Langlebigkeit.“ (Wehler 2007: 11). Trotzdem wird die Nation diskursiv selbst zur höchstrangigen Legitimationsebene erklärt, was Wehler (2007) als „Legitimationsfiktion“ (Wehler 2007: 11) bezeichnet. Die Nation ist, wie Calhoun (2006: 27) meint, nicht nur eine objektive Größe, d.h. eine Gruppierung von Menschen, sondern auch eine subjektive, d.h. eine Gruppe, die sich durch das Selbstverständnis ihrer Mitglieder und deren Vorstellung von Zusammengehörigkeit konstituiert. Trifft dies auch auf viele Arten der sozialen Gruppierung zu, so scheint das subjektive Zusammengehörigkeitsgefühl für die Nation zentraler zu sein als etwa für das Staatsvolk, das objektiv durch die Staatsangehörigkeit seiner Mitglieder bestimmt ist: „[…] nationalism usually refers not just to using the category of nation to conceptualize social groups but also to holding that national identities and groups are of basic importance (and often that loyalty to one’s own nation should be a commanding value).“ (Calhoun 2006: 27). Dadurch beinhalte 93 Siehe dazu auch Hagen Schulze (1996: 70, 71).
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die Nation auch einen normativen Anspruch, eine moralische Verpflichtung der Nationsangehörigen ihrer Nation gegenüber. Die Nation fordere starke Loyalitätsbindungen und Solidarität unter ihren Mitgliedern ein. (Calhoun 2006: 27, 28) Mit der ‚Politisierung‘ des Begriffes ‚Nation‘ kann eine zunehmende Ununterscheidbarkeit von Staat und Nation – sowie von Staatsvolk und Nation – beobachtet werden94. So wurde der Staatsbürger, wie Nippel (2008) schreibt, in der Frühphase der Französischen Revolution als „freies und gleiches Mitglied der Nation“ (Nippel 2008: 176) betrachtet, während „die Ausübung des Wahlrechts mehr eine symbolische Bestätigung […; der] Zugehörigkeit zur Nation als eine Teilhabe an der politischen Willensbildung“ (Nippel 2008: 176) zu sein schien. „Die Formel ‚Staat = Nation = Volk‘ galt für beide [die revolutionär-demokratische wie die nationalistische Auffassung], doch für Nationalisten leiteten sich die zukünftigen politischen Einheiten aus der vorausgehenden Existenz einer Gemeinschaft ab, die sich von Fremden abgrenzte, während für die revolutionären Demokraten der Zentralbegriff das souveräne Volk von Staatsbürgern gleich dem Staat war, das im Verhältnis zur übrigen Menschheit eine ‚Nation‘ bildete. [Anführungszeichen im Original]“ (Hobsbawm 2005: 34)
Dass die ‚revolutionären Demokraten‘ Staatsvolk oder Staat gerne synonym mit ‚Nation‘ verwendeten, deutet auf eine Ausprägung der Nation hin, die als ‚Staatsnation‘ bezeichnet worden ist. Sie hat mit der zunehmend drängenden Frage zu tun, wie die Interessen der einzelnen Individuen im modernen Staat miteinander versöhnt werden können, sodass gesellschaftlicher Zusammenhang entstehen kann. „So stellt sich die Frage nach den bindenden Kräften […] und in ihrem eigentlichen Kern: Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen95 herausgeführt hat.“ (Böckenförde 1976: 60)
94 Miroslav Hroch (1994) vertritt die Meinung, dass die Forderung nach politischer Selbstständigkeit von Nationen erst mit dem ersten Weltkrieg auftrat. „Aus elementaren Beschreibungen können wir erfahren, daß die meisten Nationalbewegungen jahrzehntelang keine politischen Ziele verfolgten. […] Die Forderung nach Eigenstaatlichkeit kam in der Regel erst in der Extremsituation des Ersten Weltkrieges auf. Für die darauffolgende Zeit trifft dann durchaus zu, daß die meisten Nationalbewegungen um Autonomie oder Eigenstaatlichkeit kämpften.“ (Hroch 1994: 49). Andere Nationalismustheoretiker wie Ernest Gellner, John Breuilly oder Eric Hobsbawm postulieren diese Verbindung schon für das 19. Jahrhundert. 95 Welche Bedeutung den konfessionellen Bürgerkriegen in Europa bei der Herausbildung des souveränen Territorialstaates beizumessen ist, ist in der Forschung umstritten (vgl. dazu Nexon 2009).
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Die einheitsbildende Funktion der Nation hat Böckenförde (1976) mehrfach betont. Er hat sie u.a. im Zusammenhang mit der Säkularisierung erklärt: „Der Vorgang der Säkularisation war zugleich ein großer Prozeß der Emanzipation, der Emanzipation der weltlichen Ordnung von überkommenen religiösen Autoritäten und Bindungen. Seine Vollendung fand er in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Sie stellte den einzelnen auf sich selbst und seine Freiheit. Damit aber mußte sich, prinzipiell gesehen, das Problem der neuen Integration stellen: Die emanzipierten einzelnen mußten zu einer neuen Gemeinsamkeit und Homogenität zusammenfinden, sollte der Staat nicht der inneren Auflösung anheimfallen, die dann eine totale sog. Außenlenkung heraufführt. Dieses Problem blieb zunächst verdeckt, weil im 19. Jahrhundert eine neue einheitsbildende Kraft an die Stelle der alten trat: die Idee der Nation. […] Diese nationale Homogenität96 suchte und fand ihren Ausdruck im Nationalstaat.“ (Böckenförde 1976: 59, 60)
Denn seit dem 19. Jahrhundert, so Breuilly (1999), haben Nationalbewegungen „[…] für die Durchsetzung der vorherrschenden politischen Idee der Moderne gesorgt, derzufolge die Welt weitgehend in eine Reihe von Staaten aufgeteilt ist, die jeweils eine Nation repräsentieren, und daß sich in jenen Teilen der Welt, wo dies nicht der Fall ist, bdieses [sic] Prinzip baldmöglichst durchsetzen sollte.“ (Breuilly 1999: 241). Die Vermengung von Staat und Nation hat sich in Form des Nationalstaates institutionalisiert, wobei ethnische oder staatsbürgerliche Elemente mehr oder weniger stark betont sein können. Sie bedeutet mehr als nur die Deckungsgleichheit von Staat(sgebiet) und Nation, weil sich die Begründungen und Inhalte von Staatsvolk, Legitimität und Souveränität vermischt haben. Der Nationalstaat sei diejenige politische Organisationsform, die am meisten Legitimität genieße und am effizientesten sei: „And let us also remember that the nation-state is, for better or worse, the political institution which has most efficacy and legitimacy in the world as it is.“ (During 1990: 139). „Insofern schafft der Nationalismus als Integrationsideologie das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit, verknüpft mit der Erkenntnis, über eine gemeinsame Vergangenheit zu verfügen, gemeinsame Gegner wie auch gemeinsame Ziele für die Zukunft zu haben. Die Nation firmiert dabei sittlich, politisch, sozial und historisch als ‚Letztwert‛ (Dieter Langewiesche) bzw. ‚Letztinstanz‛ (Reinhart Koselleck) und damit als oberste Legitimationsquelle, hinter die es kein Zurück gibt und die durch keine andere Instanz in ihrer Wirkungsmächtigkeit zu überbieten ist. [Anführungszeichen im Original]“ (Salzborn 2011: 9)97
Theoretisch lassen sich Staat und Nation differenzieren – in der Praxis sind sie im Nationalstaat miteinander verschmolzen. Diese Verschmelzung trat erst mit der Fran96 Wie homogen eine Gesellschaft sein kann und sein muss, um friedliches Zusammenleben gewährleisten zu können, ist eine Frage, die hier nicht beantwortet werden kann und soll. Dass aber die mit dem Nationalgedanken behauptete Homogenität nicht der Realität entsprach und entspricht, kann historisch nachvollzogen werden. 97 Dass der Nationalstaat ein Zugehörigkeitsangebot bietet, das Sicherheit, Identität und eine Einbindung des Individuums in die Gesellschaft verspricht, hat auch bereits Karl Deutsch betont (Mohr 2011: 22).
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zösischen Revolution ein, als Staatsbürgerschaft zugleich die französische Nationalität implizierte und umgekehrt. Zu dieser Zeit allerdings spielten Kriterien wie „ethnische Zugehörigkeit, eine gemeinsame Sprache, Religion, gemeinsames Territorium und eine gemeinsame geschichtliche Erinnerung“ (Stich 2011: 37) noch keine Rolle zur Definition der Nation. So meint auch Stich (2011), dass die Idee der Deckungsgleichheit von Staat und Nation erst nach der (‚modernen‘) Nationsidee entstand. Staat und Nation bedingen sich in diesem Entwurf gegenseitig, sie gehen, wie dies Stich (2011) formuliert, eine dialektische Beziehung ein98. Die Nation eignet sich bestens, um das Problem der staatlichen Legitimität zu lösen und ein gesellschaftliches Zusammengehörigkeitsgefühl zu erzeugen, v.a. wenn sie sich mit dem Konzept der Ethnizität verbindet (Salzborn 2011: 149). Die Verbindung der beiden Konzepte ist bis heute so stark ausgeprägt, dass selbst Staaten als Nationen bezeichnet werden, für die der Begriff nicht zutreffend ist, was alleine an der Bezeichnung ‚Vereinte Nationen‘ für eine Organisation, die sich aus Staaten (teils aus mehreren Nationen bestehend) zusammensetzt, ablesbar ist (Stich 2011: 36-38). Henning (2011) bringt die „schicksalshafte Natur“ der Nation als weitere Komponente zur Erklärung ein, weshalb die Verbindung von Staat und Nation eine so wirkmächtige ist. „Da die Bejahung der nationalen Zugehörigkeit stets eine Loyalität nach sich zieht, ist sie für das Staatsgebilde als ideologischer und nationaler Klammerhaken so lukrativ. Im Gegensatz zur Loyalität zum Staat, die immer wieder brüchig werden kann, weil das Subjekt seine Bedürfnisse gegen die Interessen des Staates behaupten muss, ist die Loyalität zur Nation moralischer und schicksalhafter Natur. Indem der Staat schließlich sich selbst zur unauflöslichen Bedingung des nationalen Schicksals erklärt, werden die mystische Loyalität, die schicksalshafte Verbindung und die quasi familiäre Dankbarkeit auf den Staat übertragen. […] Für die Akzeptanz jener Durchdringung der Staatlichkeit aller Lebensbereiche der Bevölkerung spielt die Politik des Sozialen eine wesentliche Rolle. Denn die Einheit von privatem mit einem nationalstaatlichen Interesse bleibt wirkungslos, wenn sie nicht mit der konkreten sozialen Erfahrung der Angesprochenen übereinstimmt.“ (Henning 2011: 173)
Breuilly (1994) unterscheidet zwei Varianten, wie das Problem des Zusammenhalts zwischen Staat und Gesellschaft gelöst und die Interessen der einzelnen Individuen mit dem öffentlichen Interesse versöhnt werden konnten. In beiden Ansätzen ist das Konzept der Nation zentral, es werden aber unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt: „[…] one imposing citizenship ideals upon society; the other imposing interests (individual or class) within civil society upon the state.“ (Breuilly 1994: 32). Die erste Variante definiert eine aus Individuen zusammengesetzte Gesellschaft als Staatsbürgergesellschaft, die mit dem Staat durch politische Teilhabe verbunden ist. Der Fokus liegt hier also auf den individuellen Rechten der Staatsbürger/innen99 und insbesondere der Freiheit im Staat. Breuilly (1994) findet diesen Typ beispielsweise in den
98 Kommen Staat und Nation nicht zur Deckung, so bietet gerade die Idee von ‚Staat = Nation‘ eine Grundlage für separatistische Bewegungen von Nationen im Staat (Stich 2011: 37). 99 Vgl. auch den Begriff des ‚Verfassungspatriotismus‘ bei Jürgen Habermas (1996).
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patriotischen Programmen des 18. Jahrhunderts vor100. Die zweite Variante setzt ihren Fokus auf die Kollektivität von Gesellschaft und die Herstellung von Konsens und verbindet die Frage nach der Legitimationsquelle von Herrschaft noch stärker mit jener nach gesellschaftlichem Einvernehmen als die erste. In diesem Modell spielt das Konzept der kulturellen Identität der Gesellschaft101 die zentrale Rolle – es soll unter den Mitgliedern der Gesellschaft einheitsstiftend wirken. (Breuilly 1994: 32, 33) Eine Spielart der zweiten Variante stellen jene „auf das Theorem des ethnos aufbauenden Einstellungen, Konzeptionen und politischen Bewegungen [Kursivierung im Original]“ (Salzborn 2011: 11) dar, die die Frage nach der Definitionsgrundlage und Zugehörigkeit zur Nation mit der ethnischen Gruppe beantworten. Aufgrund ihrer tatsächlichen oder postulierten ethnischen und kulturellen (auch sprachlichen und/oder historischen) Gemeinsamkeiten wird ein eigener Staat angestrebt, dessen Legitimität auf der ethnischen Gruppe, der Nation, beruht. Besonders in dieser Konzeption liegt die Souveränität beim (als homogen betrachteten) Kollektiv des Nationalvolks, sie leitet sich nicht in erster Linie vom Individuum ab. Wer Teil der Nation ist, entscheidet sich also, je nach Variante, nach anderen Voraussetzungen und Kriterien. In- und Exklusion basieren in der ersten Variante auf der Staatsbürgerschaft, der „freien Selbstbestimmung des Individuums“ und dessen Freiheitsrechte, dem „politischen Bekenntnis“ zu einer Gemeinschaft102, die sich als souverän betrachtet, in der zweiten hingegen basiert sie auf kulturellen und/oder ethnischen Merkmalen, die die Zugehörigkeit zur Nation (und in weiterer Folge zum Staat) stiften. (Salzborn 2011: 10, 11) Dass In- und Exklusionsmechanismen in beiden Varianten wirksam sind, soll damit nicht verschleiert werden, sie sind nicht zuletzt an die Voraussetzungen zum Erhalt der Staatsbürgerschaft und an Geburtsort (Territorium) und/oder ‚Abstammung‘ gebunden. Analytisch mag diese Unterscheidung hilfreich sein, um die Neubestimmung der genannten Konzepte und Begriffe nachvollziehbar und aufeinander beziehbar zu machen. Diese idealtypische Differenzierung wurde in der Forschung oft in der, u.a. bei Anthony Smith formulierten, Gegenüberstellung des civic model of the nation (Staatsnation) und der ethnic conception of the nation (Kulturnation) ausgedrückt (Salzborn 2011: 10)103. Diese Unterscheidung kann aber nur eine idealtypische sein. Schulze H. (1996: 74) begegnet dem Problem, zwar analytisch zwischen den beiden Idealtypen trennen zu müssen, gleichzeitig aber der empirischen Tatsache gerecht zu
100 Eine Extremform dieser Variante wurde im Zusammenhang mit Rousseaus Gesellschaftsvertrag diskutiert, der die Freiheitsrechte über den Staat stellt und die Trennung zwischen Gesellschaft und Staat aufhebt, sodass Freiheit sich nur noch in der Umsetzung der volonté générale ausdrückt (Breuilly 1994: 32). 101 Die analytische Trennung zwischen der politischen und der kulturellen Grenze erlaubt es Grimson (2000), das Verhältnis zwischen kulturellen und politischen Räumen in Nationalstaaten zu untersuchen. 102 Auch Schulze H. (1996) betont, dass in der französischen Nationsidee Ende des 18. Jahrhunderts zu ihr gehörte, „wer sich zu ihr bekannte“ (Schulze H. 1996: 71). 103 Siehe dazu auch Quijada Mauriño (2005b: 821-825).
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werden, dass Nationalstaaten eine Mischung aus beiden darstellen104, damit, Staatsund Kulturnation als jeweilige Extreme eines Kontinuums anzunehmen, auf dem sich eine Einordnung von Nationalstaaten in ihrer Unterscheidung nach Graden vornehmen lässt. Schließlich, so gibt Hobsbawm (2005) zu bedenken, „[…] gab es keinen schlüssigen Zusammenhang zwischen dem Verband der Staatsbürger eines Territoriums auf der einen Seite und der Identifikation einer ‚Nation‛ anhand ethnischer, sprachlicher oder anderer Kriterien oder von anderen Merkmalen auf der anderen, die eine kollektive Anerkennung der Gruppenzugehörigkeit ermöglichten. [Anführungszeichen im Original]“ (Hobsbawm 2005: 31)
Eine analytische Trennung von Nation und Staat ist schon alleine deswegen angebracht, da auch Nationen ohne Nationalstaat existieren105. Ulrich Scheuner (1974) meint, dass eine Gleichsetzung der Begriffe des ‚Staatsvolks‘ und der ‚Nation‘ (da sie im Nationalstaat ja verschmelzen können) zentrale Charakteristika des Nationalstaates verschleiern würde und eine unzulässige Verkürzung darstelle (Scheuner 1974: 9). Dass es trotz der kaum zu unterscheidenden, weil miteinander verschmelzenden Konzepte des Staates und der Nation im Nationalstaat sinnvoll und relevant ist, analytisch zwischen den beiden Konzepten zu unterscheiden, betont Smith mit dem Hinweis auf über lange Zeit „staatenlose[…] Nationen, wie etwa Polen, Tschechen, Ungarn“ (Kahlweiß 2011: 80).
K ONKLUSION UND S YSTEMATISIERUNG : F REIHEIT – S TAAT – N ATION Die ständischen iura et libertates waren rechtlich abgesicherte Privilegien, die an die soziale Hierarchie der Stände gebunden waren und ausschließlich jenen zuteilwurden, die die Macht besaßen, ihre Freiheit zu schützen, also vorwiegend dem Adel. Alle anderen – sozial breiter gestreuten und theologisch-philosophisch fundierten – Freiheitsbegriffe waren rechtlich nicht einlösbar. Gegen die ständischen Privilegien wandte sich zum einen der nach Zentralisierung und Machtkonzentration strebende absolutistische Staat. Zu deren Abbau, der sich bis Ende des 18. Jahrhunderts erstreckte, trug zum anderen die Idee der natürlichen Gleichheit und des naturrechtlich begründeten Freiheitsbegriffes – vorausgesetzt jene Freiheit verband sich mit dem Konzept der rechtlichen Gleichheit – bei. Denn der naturrechtliche Freiheitsbegriff, der auf dem für alle Menschen gültigen Gleichheitsbegriff fußt, verstand sich nicht länger als exklusives Recht und stand dadurch dem Konzept der ständischen Freihei-
104 War auch die Meinung in der Forschungsliteratur weit verbreitet, in Frankreich ein Beispiel für eine Staatsnation gefunden zu haben, so geht man in der aktuellen Forschung davon aus, dass selbst in Frankreich Standardsprache und Kultur einen wesentlichen Teil des Nationenbildungsprozesses einnahmen und nach wie vor im Selbstverständnis der Nation enthalten sind (Schulze H. 1996: 74; Jurt 2003: 41). 105 Siehe etwa Langewiesche (2004: 186).
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ten entgegen. Dieses v.a. in der Aufklärung entwickelte Freiheitsverständnis ging vom Individuum und der Freiheit des/der Einzelnen aus, begründete zunächst aber noch keinen Herrschaftsanspruch der aus Individuen zusammengesetzten Gemeinschaft. Auch die Idee des vom Einzelnen ausgehend legitimierten Gesellschaftsvertrages garantierte keinen solchen. Dieser sollte nach Thomas Hobbes vielmehr die absolutistische Staatsgewalt stärken, bei John Locke aber auch zu einer zunehmenden Absicherung von Freiheit innerhalb des Staates führen. Über das Konzept der natürlichen, ungebundenen und frei von Fremdherrschaft verstandenen Freiheit, das allerdings keine Sicherheit des Lebens und des Eigentums gewährleisten konnte, wurde der (freiwillige) Zusammenschluss von Individuen im Staat gerechtfertigt. Dies erforderte die Souveränitätsabgabe der sich der Staatsgewalt unterwerfenden Individuen – oder anders gewendet: Der Staat sollte aus der Summe an individuellen Rechtsverzichten entstehen. Er wurde als Instanz verstanden, die aufgrund ihres Gewaltmonopols gesicherte und begrenzte Freiheit zu gewährleisten in der Lage ist. Zunehmend wurde jedoch auch der Staat selbst als Bedrohung für individuelle Freiheit betrachtet, sodass konzeptuell die Bindung der Staatsgewalt an das Prinzip der Rechts- und Gesetzesstaatlichkeit als Sicherheitsmechanismus eingeführt wurde. Der Gesellschaftsvertrag war dann, neben ihrer Legitimierung, eine Form der Begrenzung von staatlicher Herrschaft. Die Verrechtlichung von Freiheit sollte ihren Bestand sichern – dennoch handelte es sich nach wie vor um (gesicherte) Freiheit ohne Freiheit vom Staat. Die Freiheit des/der Einzelnen (oder die dem Individuum nach Eintritt in den Gesellschaftsvertrag verbleibende Freiheit) ging zunächst von der Staatsgewalt aus, sie wurde als Aufgabe des Staates definiert. Die Idee einer Differenzierung zwischen Individuum und Staat, die eine Freiheit vom Staat ermöglicht, ist jedoch im Konzept des Gesellschaftsvertrages insofern bereits angelegt, als es seinen Ausgangspunkt beim Individuum, das der Gemeinschaft vorausgeht, ansiedelt. Freiheit verstanden als Freiheit im Staat ist schließlich in Jean-Jacques Rousseaus Gesellschaftsvertrag enthalten: Politische Herrschaft gründet sich hier auf den Allgemeinwillen, das Gemeinwesen. Das Individuum erhält dadurch das Recht auf politische Teilhabe. Freiheit vom Staat ist hier, in der Verschmelzung von Individuum und Gemeinwesen, allerdings nicht verwirklicht. Wichtig erscheint es, die beiden Freiheitsbegriffe – Freiheit vom Staat und Freiheit im Staat – nicht nur konzeptuell voneinander zu trennen, sondern ihre unterschiedliche Zielrichtung zu beachten. Während die Freiheit vom Staat auf eine Begrenzung der Staatsgewalt zugunsten der individuellen Freiheit zielt („Jene wollen die Staatsgewalt als solche eindämmen.“ (Berlin 2006: 249)), so geht es der Freiheit im Staat um eine Beteiligung an der Staatsgewalt („Diese wollen die Staatsgewalt selbst in die Hand bekommen.“ (Berlin 2006: 249)). Nicht zuletzt deshalb geraten die beiden so eng zusammenhängenden Begriffe mitunter in Konflikt miteinander. Freiheit im Staat macht die Demokratiebewegung im engeren Sinne aus – ihr geht es um das Prinzip der Volkssouveränität und der Gesetzgebung auf Basis von Mehrheitsentscheiden (durch das Volk oder deren Repräsentanten), während Freiheit vom Staat nicht unmittelbar mit Demokratie in Verbindung steht106. 106 Während eine Einschränkung der Freiheit im Staat, die das Recht auf politische Partizipation umfasst, nicht zwingendermaßen individuelle und gesellschaftliche Freiheit im Sinne der Freiheit vom Staat schmälert, so wirken sich umgekehrt Beschränkungen der
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Die Revolutionen des 18. Jahrhundert hatten eine weitere rechtliche Absicherung von Freiheit zur Folge und verhalfen indirekt zugleich der Staatsgewalt (mit Gewaltmonopol) zu weiterem Aufschwung. Mit dem Konzept der (modernen) Verfassung wurde die Absicherung von individuellen Freiheitsrechten verstärkt (ihre Änderung ist nur unter verschärften Auflagen möglich) – ja sie bezieht geradezu ihren Sinn aus dem Schutz der Menschen- und Bürgerrechte. Die Verfassung erscheint nun einerseits als Bedingung für Freiheit, die nur Bestand haben kann, wo sie verfassungsgesetzlich abgesichert ist. Dadurch wird der auf Freiwilligkeit basierende Gesellschaftsvertrag obsolet – das Naturrecht erfährt eine Positivierung. Andererseits wird die Verfassung als Mittel zur Freiheitssicherung betrachtet – auch der Staat muss sich ihr unterwerfen. Mit der Verfassung ist eine Differenzierung zwischen (zentraler) Staat(-sgewalt) und der ihm gegenübergestellten Gesellschaft verbunden, wenn auch beide funktional aufeinander bezogen sind. Denn Freiheit vom Staat ist nun weitgehend außerhalb des staatlichen Einflusses, der fortan nur in gesetzlich definierten Bereichen legitim ist, angesiedelt. Freiheit erscheint so nicht mehr als Aufgabe des Staates, sondern der Zweck des Staates selbst besteht in der Absicherung der individuellen Freiheitsrechte107. Die Individuen vereinigen sich im Staat, weil sie – und das mag paradox anmuten – gesicherte Freiheit in einer staatsfreien Sphäre innerhalb des Staates genießen. Zugleich verfügen sie nicht nur über Freiheit vom Staat. Denn in diesem Konzept der Verfassung ist das Prinzip der Volkssouveränität enthalten, das die politische Partizipation des Individuums an der Gesetzgebung vorsieht. Der Einflussbereich des Staates, d.h. der Geltungsbereich des Gesetzes, soll durch Rechtssicherheit geschützt sein, wobei die Staatsgewalt selbst dem Gesetz, an dem das politisch freie Individuum mitwirkt, unterstellt ist. Die „Gewährleistung von Freiheitsrechten zusammen mit der Volkssouveränität und der Gewaltenteilung nach Funktionen“ (Klippel 2000: 152) kann so als grundlegend für die moderne Verfassung betrachtet werden. Nach der Französischen Revolution erfährt der Freiheitsbegriff keine wesentlichen Veränderungen mehr. Er wird zur zentralen Größe für die Legitimation politischer Herrschaft an sich, sodass keine Regierung ohne Bezugnahme auf Freiheit auskommen konnte bzw. wollte. Im 19. Jahrhundert kommt es zunächst zu einer Metaphorisierung und Moralisierung des Freiheitsbegriffes: Freiheit bildet u.a. das Gegenstück zu Despotismus und wird in ihren Inhalten zunehmend unkonkreter. Zur Legitimierung politischer Ordnung wird sie im Diskurs sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft projiziert. Um das Vorangegangene zu systematisieren, kann als erste Dimension108 eine Freiheit des Staates postuliert werden, mit der die äußere Souveränität oder Unab-
Freiheit vom Staat auch einschränkend auf die Freiheit im Staat aus (Neumann F. 1953: 40). 107 Der Staatszweck wird nun verglichen mit dem auf Perfektibilität ausgerichteten, absolutistischen Wohlfahrtsstaat zugunsten der Freiheit vom Staat eingeschränkt. Für den Hinweis danke ich Stephan Kirste. 108 Nicht in das Schema integriert werden die iura et libertates (ständische Freiheiten), die aufgrund ihrer historischen Ausprägung für den Kontext des 19. Jahrhunderts vernachlässigt werden können. Die Frage nach der Bindung von Freiheit an soziale Faktoren wird aber in der Dimension der Freiheit vom Staat berücksichtigt. Ebenfalls verzichtet wird in
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hängigkeit des Staates gemeint ist. Des Weiteren wurde eine natürliche, ungebundene, keiner (Staats-)Gewalt unterworfene Freiheit (im Naturzustand) diskutiert, die ihren Gegenpart in der beschränkten, gesicherten bürgerlichen Freiheit nach Abschluss des Gesellschaftsvertrags findet. Dieses Begriffspaar bildet die zweite Dimension von Freiheit, wobei hier mit bürgerlicher Freiheit noch nicht notwendigerweise eine Bindung der Staatsgewalt an den Vertrag impliziert ist. Als dritte Dimension soll die Freiheit vom Staat genannt werden, jene bürgerliche Freiheit, die in Form des Grundgesetzes verfassungsrechtlich gesichert ist und eine Freiheitssphäre innerhalb des Staates als Abwehrrecht gegen den Staat mit Fokus auf dem Individuum bildet. Viertens, wurde eine Freiheit im Staat diskutiert, die der politischen Freiheit, d.h. v.a. der Partizipation an der Gesetzgebung, entspricht. Und schließlich wurde im Kontext des 19. Jahrhunderts ein Freiheitsbegriff erörtert, der zunehmend unkonkreter wird, was seinen Bezug auf den Staat betrifft, und der häufig metaphorisch verwendet wird. Diese Dimension soll moralisch-metaphorische Freiheit genannt werden. Innerhalb der Freiheit vom Staat kann wiederum eine Differenzierung zwischen negativer und positiver Freiheit vorgenommen werden, die ihrerseits in eine subjektive und eine objektive Ausprägung eingeteilt werden können. Die subjektive negative Freiheit vom Staat soll nach Kirste (2010) als individuelle Rechte gegen Eingriffe des Staates (oder durch andere) verstanden werden, die gewissermaßen die Grenze zwischen öffentlich und privat markieren. Wo diese gezogen wird, ist Gegenstand einer stetigen Debatte, die je nach Ideologie oder politischer Theorie mit anderen Argumenten und Gewichtungen ausgestattet ist. In der Variante des klassischen Liberalismus wird die individuelle Freiheit ausschließlich dort eingeschränkt, wo dies zugunsten der friedlichen Koexistenz aller notwendig ist. Zudem wird subjektive negative Freiheit (vom Staat) meist in der Variante nach Hobbes verstanden, d.h. als äußerlich ungehinderte Freiheit, die die Ziele von Handlungen und den freien Willen des Individuums unberücksichtigt lässt. Positive Freiheit vom Staat muss sich hingegen mit Fragen der Selbstbestimmung und -verwirklichung beschäftigen, denn sie fragt, in welchen Fällen es gerechtfertigt ist, dass der Staat (oder auch andere Individuen) den/die Einzelnen an der Erreichung seines/ihres Ziels, das er/sie aufgrund seines/ihres freien Willens verfolgt, zugunsten des Gemeinwohls (objektive positive Freiheit vom Staat) hindert. Die Willensfreiheit ist Gegenstand der subjektiven positiven Freiheit (vom Staat). Sie ist von der Frage abhängig, inwieweit Individuen überhaupt frei sein können oder durch Faktoren determiniert sind, auf die sie keinen Einfluss haben. Wo muss der Staat Individuen auch gegen ihren eigenen Willen schützen? Welche Ansprüche kann das Individuum gegenüber dem Staat stellen, d.h. wo muss der Staat zugunsten der Freiheit des Individuums und der Gemeinschaft eingreifen (und dabei die Freiheit Einzelner beschränken)? Die unterschiedlichen Antworten Rousseaus, Kants und Hegels auf diese Frage wurden oben dargestellt. Die Hintergrundfolie für die einzelnen Varianten bildet die Frage danach, ob und wann es gerechtfertigt ist, dass sich Individuen dem Willen anderer beugen. Im Bereich der positiven Freiheit vom Staat stellt sich stets die Frage nach der Vermittlung zwischen subjektiver (positiver) und objektiver (positiver) Freiheit vom Staat. dieser Systematisierung auf den Begriff der sozialen Freiheit nach Honneth (2011), da er in seiner vollen Ausprägung erst im 20. Jahrhundert zu finden ist.
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Im Hinblick auf den Begriff der ‚Nation‘ wurde ersichtlich, dass dessen Bedeutungsdimensionen breit gestreut sind. Um die Variationsbreite etwas zu systematisieren, lässt sich zunächst verallgemeinernd von einem ‚vorpolitischen‘ Nationsbegriff sprechen. Gemeint sind die mittelalterlichen Bedeutungen ‚Geburt‘ oder ‚Herkunft‘, die sowohl auf soziale und sprachliche wie räumliche Faktoren bezogen sein können. Diese waren allesamt auf den Einzelnen und die Einzelne fokussiert, nicht auf ein Kollektiv, wofür als Beispiel die Einteilung von Studierenden nach nationes an den europäischen Universitäten des 13. und 14. Jahrhunderts basierend auf sprachlich und räumlich variierenden Gebieten, genannt wurde. Eine Deckungsgleichheit von Sprachgrenzen mit politischen Grenzen bestand dabei nicht. Dieser ‚vorpolitische‘ Nationsbegriff konnte sich auch auf kulturelle Aspekte wie Sitten und Sprache beziehen. Daneben wurde der Geburtsort mit ‚patria‘ bezeichnet. Ab wann die Politisierung des Begriffs ‚Nation‘ einsetzte, ist in der Forschungsliteratur umstritten. Wird bei Thomas Abbt und Christoph Martin Wieland Mitte des 18. Jahrhunderts Nation bereits mit Bezug auf den ‚Gesetzesstaate‘ verstanden, dem sich das Individuum aufgrund des gewährten Freiheitsgrades anschließt, so meint Koselleck (1992b), dass in ‚Deutschland‘ zwischen 1750 und 1850 vorwiegend der politische Ausdruck ‚Staatsvolk‘ im Gegensatz zur vorpolitischen ‚Nation‘ verwendet wurde. Ab 1800 sei eine Auswechselbarkeit der Begriffe ‚Volk‘ und ‚Nation‘ zu beobachten, so Werner (1992). Dass bezüglich der Datierung des politischen Nationsbegriffes die Forschungsmeinungen auseinandergehen, mag nicht zuletzt mit den konkurrierenden Paradigmen der Nationenforschung zu tun haben. Als bedeutende Veränderung im Gebrauch des Begriffes ist jedenfalls die Französische Revolution – und besonders die Verfassung von 1791 – hervorzuheben, wird hier doch die Nation als Trägerin von Souveränität gesetzlich definiert. Sie sollte sich in dieser Phase aber noch nicht über Ethnie, Sprache, Religion oder Geschichte definieren, sondern synonym zu Staat bzw. Staatsvolk oder – im Falle Frankreichs – zur Gruppe der Staatsbürger/innen verwendet werden109. Die terminologische Unterscheidung zwischen ‚Staatsnation‘ und ‚Kulturnation‘ begegnet dem Problem der Vieldeutigkeit der Nation mit ihren ganz verschiedenartigen Beziehungen zu anderen politischen Konzepten (wie der Freiheit) damit, die beiden Begriffe als Extreme eines Kontinuums anzunehmen. Im Zusammenfließen von Staat und Nation in Form der ‚Staatsnation‘ entsteht idealtypisch eine aus Individuen bestehende Staatsbürgergesellschaft, während sich in Form der ‚Kulturnation‘ eine auf kultureller Identität basierende Gesellschaft bildet. Für beide Extreme und die dazwischenliegenden Abstufungen in Graden kann gelten, dass im Zuge der Politisierung des Nationsbegriffs eine zunehmende Austauchbarkeit der Begriffe ‚Staat‘ und ‚Nation‘, die im Nationalstaat ihren Ausdruck findet, zu beobachten ist. Wenn aber Nation gleichbedeutend mit Staat, Staatsvolk oder sogar der Staatsbürger/innen wird, so ist zu fragen, in welchem Verhältnis dann die einzelnen Dimensionen von Freiheit mit der Nation stehen, gilt es doch zu bedenken, dass die Nation, zumindest in ihrer Ausprägung als ‚Kulturnation‘, zunächst nicht logisch ableitbar mit dem Freiheitsgedanken verknüpft ist und sie dem Kollektiv den Vorrang vor dem Individuum einräumt.
109 Staatsbürgerschaft sollte in der Französischen Revolution die französische Nationalität implizieren und umgekehrt.
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F REIHEIT – S TAAT – N ATION IN ARGENTINIEN (1810-1880) Freiheit – Staat – Nation in Argentinien Andreas Timmermann (2010) stellt in seiner Untersuchung des argentinischen Freiheitsbegriffs von 1750 bis 1850 fest, dass die semantischen Dimensionen des Konzepts vielfältig und instabil waren. Bis ins 20. Jahrhundert hinein waren mit dem Begriff der ‚Freiheit‘ mitunter die aus dem spanischen Mittelalter stammenden Sonderrechte, die fueros, gemeint. Eben jene dominierten den Sprachgebrauch im 18. Jahrhundert und bezogen sich auf Vorrechte auf kommunaler, v.a. aber städtischer Ebene, die vom König gewährt wurden und beispielsweise die Befreiung von öffentlichen Abgaben beinhalteten110. Die ständischen Freiheiten (libertades) betrafen im Gebiet des Río de la Plata u.a. die Armee (fuero militar), die Kirche sowie die kreolische Oligarchie. (Timmermann 2010: 47, 49, 51-53) In scholastischer, moraltheologischer und christlich-naturrechtlicher Tradition aus Spanien kannte man am Río de la Plata zudem den Begriff der ‚natürlichen Freiheit‘ (libertad natural), der einerseits gegen Sklaverei und andererseits gegen politische Herrschaft gerichtet war. Was im Unterschied zu Nordamerika in den spanischen Kolonien selbst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fehlte, war ein Begriff von ‚bürgerlicher Freiheit‘. Innerhalb der Aufklärungsdebatten im Vizekönigreich Río de la Plata dominierten Wirtschaftskonzepte die Freiheitsdiskussion (etwa Handelsfreiheit, Eigentumsfreiheit, Gewerbefreiheit, Berufsfreiheit, etc.), die spätestens im Rahmen der Mairevolution zum Ruf gegen die fueros verwendet wurden. ‚Freiheit‘, gedacht als Freiheit des/der Einzelnen (libertad) in sämtlichen Bereichen, sollte erst in den auf die Mairevolution folgenden Dokumenten präsent sein. (Timmermann 2010: 53-57) ‚Freiheit‘ im Singular (libertad) wurde von da an zum häufig verwendeten Begriff. Zunächst bezog er sich laut Timmermann (2010: 59) auf die Freiheit von Spanien, d.h. die politische Unabhängigkeit sowie auf eine vor angeblichen inneren Feinden, die gegen eine Zentralregierung in Buenos Aires protestierten, zu verteidigende Freiheit. Dabei wurde, wie Vicente Oieni (2004: 319) festhält, nicht immer klar zwischen ‚libertad‘ und ‚liberación‘ unterschieden. ‚Libertad‘ wurde vorwiegend mit Bezug auf eine neue, unabhängige politische Ordnung verwendet, während ‚liberación‘ auch die Ausweitung von Freiheitsrechten innerhalb der spanischen Monarchie bezeichnete (Oieni 2004: 319). Zugleich wurde ein republikanischer Tugendbegriff stark gemacht, der als zentral sowohl für individuelle als auch staatliche Freiheit erachtet wurde und von Frankreich und den USA beeinflusst war (Timmermann 2010: 59). Dieser Tugendbegriff stellte sich gegen den christlichen Freiheitsbegriff im Sinne des libre albedrío (freier Wille) und verstand sich im Gegensatz zu zweiterem als rechtlich abgesichert (Oieni 2004: 319, 320). Unmittelbar nach der Mairevolution fand sich darüber hinaus bereits eine Idee von Freiheit, die verfassungsmäßig abgesichert werden musste, um Despotie und Tyrannei entgegenzuwirken. Die Wurzeln dieses Freiheitsbegriffes lagen zwar noch im christlich-naturrechtlichen Widerstandsrecht, doch war der Weg zur bürgerlichen Freiheit als Freiheit vom Staat bereits gezeichnet. Der Begriff der ‚bür-
110 Sie waren allerdings nicht mit dem Freiheitsgrad der fueros des freien Städtetums, dessen Blütezeit zur Zeit der Kolonisation bereits vorüber war, vergleichbar.
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gerlichen Freiheit‘ (libertad civil) ist ebenfalls in den ersten Dokumenten nach der Mairevolution präsent. Er wurde zumeist noch im Gegensatz zur natürlichen Freiheit verstanden, wobei der Aspekt der Sicherheit des/der Einzelnen Vorrang vor der individuellen Freiheit hatte. Bürgerliche Freiheit im Sinne der Freiheit vom Staat findet sich schließlich in den Verfassungsdebatten der 1820er Jahre. (Timmermann 2010: 60-62) Als Juan Manuel de Rosas 1835 zum zweiten Mal als Gouverneur der Provinz Buenos Aires an die Macht kam, wurden ihm von der Legislative Ausnahmekompetenzen in hohem Umfang übertragen und in einem in Buenos Aires abgehaltenen Plebiszit bestätigt, sodass López Göttig (2006: 11) zu dem Urteil kommt, die gesamte öffentliche Macht habe sich in der Person Rosas konzentriert. Im Namen der sogenannten Wiederherstellung der Ordnung seien sämtliche bürgerliche Freiheiten zunichte gemacht worden und dem Terror gewichen: „En el altar del orden se sacrificaron los últimos restos de la libertad, y se inició un período signado por el terror, la persecución, la censura y la obsecuencia.“ (López Göttig 2006: 11). Wie Marcela Ternavasio (1999: 119) anmerkt, tendieren manche historiographischen Abhandlungen dazu, das System unter Rosas vorbehaltlos dem für Hispanoamerika als typisch angesehenen Phänomen des caudillismo zuzuordnen. Dabei wird bisweilen die Tatsache vergessen, dass Rosas ein autoritäres, aber von liberalen Institutionen und Normen sowie Wahlen getragenes Regime etablierte. Verfassung Die in Hispanoamerika vorherrschende Vertragstheorie speiste sich v.a. aus zwei naturrechtlichen Strömungen: dem christlichen Naturrecht, wie es in der Schule von Salamanca entwickelt worden war sowie dem säkularen Naturrecht der englischen Aufklärung, allen voran John Lockes. Aus Sicht des Paktes geht „die vernünftige Übereinkunft, sich zusammenzuschließen, sich einer übergeordneten Instanz und Gesetzen zu unterwerfen“ (Timmermann 2007: 151) mit der Notwendigkeit der Einschränkung natürlicher Freiheit einher. (Timmermann 2007: 151, 152, 154, 155) Dass Libertad in Hispanoamerika schon während und nach den Unabhängigkeitsbewegungen auch das Ziel der liberalen Verfassung verfolgte und nicht nur, wie im Rahmen der Aufklärung, Unabhängigkeit vom Mutterland bezeichnete, betont auch Lynch (2001: 100). Die Unabhängigkeitsbewegungen können insofern als revolutionär gelten als sie dem Liberalismus als Prinzip folgen (Davies et al. 2006: 14). „The major effect of the liberal revolutions was to privilege the rational individual above group identities.“ (Davies et al. 2006: 19). Es ist zunächst festzuhalten, dass in Spanischamerika die Bezugnahme zum Republikanismus weniger ausgeprägt ist als im US-amerikanischen Kontext. Laut Gabriel Paquette (2014) waren zwar auch in Hispanoamerika republikanische und liberale Rhetorik eng miteinander verbunden, doch erlaubte die emphatische Bezugnahme auf den Liberalismus eine explizitere Differenzierung von der gewaltsamen Französischen Republik als der Republikanismus. (Paquette 2014: 8) Bestehen hier auch, gerade, was den Republikanismus betrifft, größere Unterschiede zwischen dem 19. Jahrhundert in Spanien und in Hispanoamerika, so lässt sich laut Roberto Breña (2003: 257) die Bedeutung des frühen spanischen Liberalismus (1808-1814) für die Unabhängigkeitsbewegungen in Hispanoamerika kaum überschätzen – ein jedoch in der Forschung wenig beachteter Aspekt, so der Autor. Ausdruck dessen sei der äußerst große Einfluss der Verfassung von Cádiz auf die hispa-
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noamerikanischen Verfassungstexte (Breña 2003: 273). Selbst die Argumentation zur Autonomie der Überseeprovinzen sowie später ihrer Unabhängigkeit lehnte sich an die Argumente der spanischen Liberalen gegen die napoleonische Invasion an (Breña 2003: 276). Der frühe spanische Liberalismus war in einigen Aspekten weniger revolutionär als dies zunächst schien. Gerade im Bereich der Religionsfreiheit und der Handelsfreiheit unterschied er sich beispielsweise nicht grundsätzlich vom Antiguo Régimen (Breña 2003: 277). Breña (2003: 283) verortet das Ende der starken Beeinflussung mit dem Jahr 1810, als die hispanoamerikanischen Staaten mit der Wahl des Republikanismus Abstand vom Mutterland nahmen. Was Republikanismus sowie Föderalismus betrifft, sei der Einfluss der Vereinigten Staaten bedeutend gewesen, wenngleich von den hispanoamerikanischen Eliten häufig Zweifel darüber geäußert wurden, ob die Anpassung des US-Regierungssystems an die Gegebenheiten in Hispanoamerika überhaupt möglich sei (Breña 2003: 285). Edberto Oscar Acevedo (2010) greift zur Frage, welche Einflüsse nun in den liberalen Strömungen Hispanoamerikas zum Tragen kamen, den Terminus Guerras der „hibridación de ideas“ (Acevedo 2010: 127) auf, der den Umstand anspricht, dass spanische Denker wie Francisco de Vitoria und Francisco Suárez111 ebenso zu den Einflüssen zu zählen sind wie das moderne Naturrecht und die Vertragstheorien von Locke und Rousseau. Dies sollte jedoch nach Breña (2003: 257) nicht dazu verleiten, die liberalen Strömungen Hispanoamerikas als bloße Nachahmung der US-amerikanischen und europäischen Vorbilder anzusehen. Laut Pérez Rivera (2007) importierten die neu entstandenen Staaten Hispanoamerikas das Staatenmodell Westeuropas und der USA, was sich v.a. in den Verfassungen des 19. Jahrhunderts zeige. Im Gegensatz dazu betont Janik (2008), dass sich die republikanischen Verfassungen der jungen hispanoamerikanischen Staaten zwar am US-amerikanischen Modell orientierten, jedoch „zu jenem Zeitpunkt viel fortschrittlicher als die Staaten Europas“ (Janik 2008: 246) waren. Timmermann (2007: 214) weist indes darauf hin, dass der Einfluss Europas auf die Verfassungstexte und vorwiegend jener der spanischen Rechts- und Glaubenstradition deutlich am größten ist, wenngleich Bezüge zu den nordamerikanischen Verfassungsvätern erkennbar sind (Timmermann 2007: 289). So dürfe der Begriff der ‚felicidad‘ nicht mit jenem der nordamerikanischen ‚happiness‘ verwechselt werden, da sich ersterer auf die gute Regierung in christlich-scholastischer Tradition bzw. auf ein „gutes, nämlich tugendhaftes Leben“ (Timmermann 2007: 215) bezog. Die Verfassung von Cádiz (1812) habe v.a. die spät zur Unabhängigkeit gelangenden Gebiete Hispanoamerikas beeinflusst. In Gebieten wie jenem des Río de la Plata sei die Orientierung an der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika (1787) und den französischen Verfassungen von 1791 und 1793 stärker ausgeprägt. (Timmermann 2007: 369, 370) Was den Stellenwert der hispanoamerikanischen Verfassungen des 19. Jahrhunderts im internationalen Vergleich betrifft, spricht Bernd Marquardt (2011) von der 111 Gerade der Einfluss von Suárez und seines pacto social auf die Unabhängigkeitsbewegung ist aber ein in der Forschung umstrittener Aspekt. Chiaramonte (1962) etwa weist auf die Überbetonung seines Einflusses hin und interpretiert die häufige Bezugnahme der kreolischen Eliten und der hombres de mayo auf Suárez als politische Strategie. Tatsächlich hätten sich viele aber von den Ideen Rousseaus leiten lassen. (Chiaramonte 1962: 7678)
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Notwendigkeit, diesen neu zu bewerten. Dass es sich bei den Verfassungstexten um Kopien handelte, diese nicht an die Bedürfnisse der jeweiligen Kultur angepasst worden seien und dass sie ohne bedeutende reale Umsetzung blieben, seien häufig in der Forschungsliteratur anzutreffende Einschätzungen. In internationalen Abhandlungen zum modernen Konstitutionalismus fände sich dementsprechend kaum ein Wort über Hispanoamerika, so Marquardt (2011). Dabei, so ruft er in Erinnerung, war Hispanoamerika gemeinsam mit den USA 1776 und Frankreich ab 1789 im Gegensatz zu Deutschland, Spanien, Großbritannien und Teilen Nordamerikas Ort der aufgeklärten revolutionären Bewegungen zwischen 1776 und 1825. Anders als in vielen europäischen Staaten ist es in Hispanoamerika zu keiner Restauration gekommen. Vielmehr sei ab 1848 eine Festigung der Reformen im politischen System zu beobachten. Hispanoamerika stellte ab 1820 zwei Drittel aller global bestehenden republikanischen Verfassungsstaaten. Dem Vorwurf der Kopie oder des Imports von Verfassungstexten begegnet Marquardt (2011) mit dem Einwand, dass die transnationale Rezeption von Recht stets zu gegenseitiger Beeinflussung führte und dieser Umstand schon im römischen Recht beobachtet werden könne. Nur wenige moderne Verfassungen seien so als originell anzusehen. (Marquardt 2011: 75-77) Pérez Rivera (2007) begründet die oben dargestellte Einschätzung damit, dass zwar Staatlichkeit rechtlich definiert, jedoch in der Praxis nicht durchsetzbar gewesen sei. Die territoriale Fragmentierung Argentiniens und die fehlende staatliche Kontrolle über weite Teile des Staatsvolks vor 1880 seien dafür beispielhaft. (Pérez Rivera 2007: 17) Dennoch sollte die politische sowie die Verfassungsentwicklung in Argentinien an den von Marquardt (2011) geforderten objektiven Kriterien im internationalen Vergleich gemessen werden. Die konstituierende Versammlung verabschiedete bereits im Jahre 1817 den Reglamento provisorio para la Dirección y la Administración del Estado und 1819 die erste Verfassung, die Constitución de las Provincias Unidas en Sud-América. Doch die Provinzen lehnten diese aufgrund ihres zu unitarischen Charakters ab, weshalb sie nicht in Kraft trat. Dem zweiten Versuch, in Argentinien eine Verfassung zu verabschieden – 1826 mit der Constitución de la República Argentina – war ein ähnliches Schicksal beschert. Dennoch können diese beiden Versuche laut Marquardt (2011) als Formulierung liberaler Prinzipien und so als Zwischenschritt in der Ablösung des Rechtssystems des Antiguo Régimen angesehen werden. (Marquardt 2011: 160) In der Regierungszeit von Rosas wurde kein Verfassungsentwurf ausgearbeitet (Araya Leüpin 2008: 81, 82), wenn man von Verfassungen einzelner Provinzen absieht (z.B. Santa Fe 1819 und 1829 oder Corrientes 1824 und 1838) (Marquardt 2011: 163). Die Verfassung von 1853 definierte sowohl einen Grundrechtekatalog112 (Art. 14113 20 ) – womit die Verfassung Abwehrrechte des Individuums gegen den Staat (Frei112 Anders als in anderen Verfassungen Hispanoamerikas dieser Zeit sahen die argentinischen Verfassungen von 1853 und 1860 im Rahmen der Grundrechte auch die Förderung der Immigration aus Europa vor. Zwischen 1860 und 1914 wanderten etwa sechs Millionen Menschen ein. 1914 war so die Hälfte der Einwohner Argentiniens im Ausland geboren worden. (Marquardt 2011: 229) 113 Die betreffenden Artikel sehen das Recht auf Arbeit und Handel, auf Petitionen, Ein- und Ausreise- sowie Niederlassungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit, Schutz des Eigen-
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heit vom Staat) vorsah – als auch die Abschaffung der Todesstrafe bei politischen Tatbeständen (Art. 18) und die Abschaffung der Sklaverei114 (Art. 15). Sie etablierte das allgemeine männliche Wahlrecht, die föderale Organisation des Staates und sah Geschworenengerichte vor. Die Verfassung formulierte keine ausdrücklichen Kontrollmechanismen, ließ jedoch der Judikative genügend Spielraum, um diese festzulegen. Der oberste Gerichtshof (Corte Suprema de Justicia) übernahm diese Funktion und verteidigte wiederholt die verfassungsmäßig definierten Grundrechte einzelner Individuen gegen die Exekutivgewalt, etwa bei den Aufständen in den Provinzen zwischen 1860 und 1880. Die Unabhängigkeit der Justiz war in Artikel 92 ausdrücklich festgelegt worden. Im Gegensatz zu anderen hispanoamerikanischen Staaten, z.B. Kolumbien, definierte sie den Katholizismus als offizielle Religion (Art. 2), wenngleich unter Garantie der Religionsfreiheit (Art. 14). Die Erwähnung von politischen Parteien sucht man in der Verfassung vergeblich. Politische Partizipation (Freiheit im Staat) war vielmehr individuell angelegt. Die republikanischen Eliten, bestehend aus Rechtsanwälten, Großgrundbesitzern, Unternehmern, Universitätsprofessoren, Lehrern, Ärzten, hohen Militärs, etc. hätten sich, so Marquardt (2011), selbst in Vereinen organisiert und eine Selektionsinstanz zwischen Gesellschaft und Staat dargestellt, die die Nominierung von Kandidaten vornahm. (Marquardt 2011: 213, 214, 249, 250, 271, 292, 355) In seinem Vergleich der Verfassungsentwicklung um 1860 auf internationaler Ebene kann Marquard (2011) nur einen europäischen Staat unter den ersten fünf Plätzen ausmachen: die Schweiz mit ihrer liberalen Verfassung von 1848. Argentinien belegt in dieser Liste nach Kolumbien und Mexiko den dritten Rang. (Marquardt 2011: 355) Marquardt (2008), der auch einen Vergleich der jeweiligen Phase der republikanisch-demokratischen Transformation Mitte des 19. Jahrhunderts unternommen hat, reiht Argentinien an dritter Stelle nach Kolumbien und Venezuela ein.
tums, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit sowie das Recht auf Bildung (Art. 14); das Verbot der Sklaverei (Art. 15); die Abschaffung von Adelstiteln und fueros personales, d.h. Gleichheit vor dem Recht und bei der Besetzung von öffentlichen Stellen (Art. 16); den Schutz von privatem und geistigem Eigentum (Enteignung nur zum Schutz des öffentlichen Interesse und per Gesetz) (Art. 17); das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren, Schutz des Privatraums und der Privatkorrespondenz, die Abschaffung der Todesstrafe bei politischen Delikten (Art. 18); die Freiheit der privaten Handlungen, so sie nicht gegen die Ordnung und öffentliche Moral verstoßen, wobei kein Einwohner der Konföderation zu Handlungen gezwungen werden kann, die nicht per Gesetz vorgeschrieben sind und für keine Handlungen, die nicht per Gesetz verboten sind, belangt werden kann (Art. 19) sowie die Geltung aller bürgerlichen Rechte für Nicht-Staatsbürger auf argentinischem Territorium, wobei diese nicht zur Annahme der Staatsbürgerschaft oder zu Sonderzahlungen verpflichtet werden dürfen und nach zwei Jahren zum Erhalt der Staatsbürgerschaft berechtigt sind (auf Antrag auch früher) (Art. 20), vor. (Constitución de la Confederación Argentina 1853) 114 1813 war die libertad de vientres ausgerufen worden. Rosas hatte die Sklaverei 1831 wieder eingeführt, um sie im Jahre 1839 wieder abzuschaffen, doch erst die Verfassung von 1853 führte zur definitiven Abschaffung der Sklaverei (Ortemberg 2004: 708, 709), die mit der nationalen Vereinigung 1860 im gesamten Argentinien Geltung erlangte.
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Unter den fünf ersten Plätzen finden sich des Weiteren Mexiko und das Deutsche Reich. (Marquardt 2008: 314) Freiheit – Staat – Nation in Argentinien Das spanische Kolonialreich im 18. Jahrhundert kannte weder eine Trennung zwischen ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ noch eine Differenzierung zwischen Staat und Gesellschaft und ist nach Beunza (1998, in: Jumar 2006: 396, 397) nicht mit den Kategorien des modernen Staates beschreibbar. Mit Beunza (1998) handelte es sich vielmehr um eine plurale politische Ordnung, in der eine Vielzahl an dezentralen Instanzen und Mächten koexistierte. Die Untertanen und Untertaninnen waren durch Zugehörigkeit zu Haus, Dorf, Stadt, Provinz und Reich sowie durch religiöse Gemeinschaften wie die parroquia, cofradías und religiöse Orden in eine Gemeinschaft eingebunden. (Beunza 1998, in: Jumar 2006: 396, 397) Wie Chiaramonte (1989: 79) herausfand, wurden die Begriffe ‚estado‘ und ‚nación‘ in den frühen argentinischen Verfassungstexten ohne präzise Unterscheidung verwendet. Seit dem 18. Jahrhundert ist der Begriff ‚estado‘ jedenfalls in Verwendung, wenngleich er mehrere Bedeutungen aufwies. Im Zeitraum zwischen 1810 und 1820 bezeichnete er in den Kongressdebatten ‚Zentralregierung‘, durchaus auch in Bezug auf die Provinzen. Aufgrund der fehlenden Einheit, die die Voraussetzung für eine Zentralregierung war, sprach man fortan eher von ‚pacto‘ als jener Form, die die einzelnen souveränen Provinzen zusammenhalten sollte. Der ‚pacto‘ bezeichnete also keine aus Individuen zusammengesetzte Gesellschaft, die dem Staat gegenüberstand, sondern eine Vereinbarung zwischen souveränen Einheiten bzw. Personen. In den Kongressdebatten der 20er Jahre verwendete der Abgeordnete Lucio Mansilla ‚estado‘ im Sinne der Zentralregierung, ‚nación‘ hingegen als Bezeichnung des Zusammenschlusses der Provinzen nach 1820, der sich gerade durch das Fehlen einer Zentralgewalt charakterisiert. ‚Nación‘ bezeichnet dann eine Gemeinschaft ohne einheitliche politische Ordnung. Der Abgeordnete Juan Ignacio Gorriti hingegen verstand den Begriff im juridischen und administrativen Sinne als politische Einheit. In der Verfassungsdiskussion von 1826 war im Begriff ‚estado‘ zugleich ein politisches, freiheitssicherndes System enthalten, das auf einem definierten Territorium Geltung haben sollte. Strittig war die Frage, ob auch Provinzen Staaten sein konnten. (Aramburo 2012: 109, 111-113, 120, 121, 126, 131) Bis heute besteht kein Konsens darüber, ab wann von konsolidierten Staaten und hispanoamerikanischen Nationen gesprochen werden kann. Die meisten Studien betonen, dass nach erlangter Unabhängigkeit zunächst eine Phase der Staatenbildung begann, der das nation-building erst nachfolgte. Centeno (2002: 75) zeigt sich auch gegenüber der Staatenbildung nach erreichter Unabhängigkeit skeptisch und betont, dass ökonomische Interessen und die Kontrolle der Wirtschaft als prioritär gegenüber der Konstruktion des Staates gesehen wurden. Dieter Janik (2008: 245, 246) fasst die Entstehung des Staates im Gebiet des Río de la Plata mit dem Zeitraum von 1810 bis 1830 und nennt mehrere Phasen, die im Zuge des Unabhängigkeitsprozesses durchlaufen wurden: Zunächst die Unabhängigkeit von Spanien in Form der Unabhängigkeitserklärung, gefolgt von der Staatengründung und der Verabschiedung von Verfassungen, womit die Abkehr von der Monarchie und dem Feudalsystem erfolgte sowie schließlich die Entstehung „nationaler Gesellschaften aus Staatsbürgern“ (Ja-
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nik 2008: 246). Marquardt (2011) setzt die Entstehung des aufgeklärten, republikanischen Staates in Hispanoamerika im Zeitraum von 1810 bis 1847 an, gefolgt von einer Phase des Konstitutionalismus und der Blütezeit des Liberalismus (etwa 1848 bis 1880). Die Phase der nationalen Konsolidierung des Verfassungsstaates (etwa 1880-1916) liegt, ebenso wie die drei weiteren Phasen115, bereits außerhalb des für diese Arbeit gewählten Zeitraums. (Marquardt 2011: 95) Für Argentinien werden als zentrale Momente der Staatenbildung im 19. Jahrhundert stets die folgenden beiden Ereignisse erwähnt: die Verabschiedung der Verfassung von 1853, die mit der Eingliederung von Buenos Aires 1862116 Geltung über das gesamte argentinische Territorium erlangte sowie die Föderalisierung von Buenos Aires Stadt im Jahre 1880. (Lewis 2002: 161) Aus der Sicht Eduardo Araya Leüpins (2008: 86, 87) war das Problem der politischen Ordnung jedoch auch nach 1862 nicht vollständig gelöst. Zwar war mit der neuen Verfassung das Gewaltmonopol einer einzigen Instanz – des Staates – geschaffen und so die Konkurrenz zwischen Buenos Aires und den Provinzen einer gemeinsamen föderalen Ordnung unterworfen worden, die den Provinzen umfassende Rechte einräumte117, doch kann von einem geregelten politischen Machtwechsel auf institutionellem Wege erst nach der Regierungszeit von Bartolomé Mitre, d.h. ab 1868, gesprochen werden. In der Praxis dauerte es bis zum Jahre 1880, bis man von einem tatsächlichen Gewaltmonopol des Staates ausgehen kann. Araya Leüpin (2008: 88) nennt hier beispielhaft die Verwaltung der Steuereinnahmen, die sich als schwierig gestaltete. So wurden in den 1860er Jahren Dreiviertel des gesamten Steueraufkommens für die Personalkosten des Militärs aufgewandt. 1870 floss hingegen die Hälfte der Steuereinnahmen in die öffentliche Bildung. Seit dem Jahre 1828 war die (äußere) Souveränität Argentiniens international anerkannt (Marquardt 2011: 162). Souveränität, Staatsvolk und ciudadanía Oieni (2004: 311) weist darauf hin, dass in den Jahren zwischen 1806 und 1815 und darüber hinaus parallel zu den politischen Neuerungen Prozesse der Spracherneuerung und des Bedeutungswandels zu beobachten sind, etwa, was die Begriffe ‚ciudadano‘118, ‚patria‘, ‚pueblo‘, ‚nación‘ oder ‚república‘ betrifft. Der Begriff ‚ciudadano‘ wurde bereits kurz vor der Mairevolution verwendet, als die britische Invasion abgewehrt wurde und meinte in diesem Falle die Verteidigung der Patria. Der Begriff 115 Marquardt (2011: 95) nennt hier die Phase des sozio-ökonomischen Konstitutionalismus (1917-1949), die Krise der industriellen Transformation und des diktatorischen AntiKonstitutionalismus (etwa 1950 bis 1980) sowie die Wiederherstellung des hispanoamerikanischen Verfassungsstaates und die Entstehung des pluralistischen Konstitutionalismus seit 1985. 116 Damit sind der von Weber angesprochene Aspekt der Trennung von Staat und Person des Herrschers und die Unterwerfung von politischer Herrschaft unter eine rechtlichnormative Ordnung sowie die staatliche Selbstbeschränkung zumindest auf dem Papier erfüllt. 117 Den Provinzen war eine Interventionsklausel zugestanden worden, damit sie sich der gemeinsamen Regierung in Buenos Aires unterwarfen (Araya Leüpin 2008: 87). 118 ‚Ciudadano‘ leitet sich von ciudad < lat. CIVITAS, -ATIS ab und ist um 1220-50 belegt (Coromines 2010: 132).
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war nicht neu, aber kaum Teil der Alltagssprache (Oieni 2004: 215). Dennoch verwendete man ihn auch als Synonym zu ‚vecino‘ (Chiaramonte 1999: 96). Als Staatsbürger/innen verstanden, wurde der Begriff laut Oieni (2004: 326) von den Eliten, d.h. ‚von oben‘, eingeführt. Allerdings führte diese Begriffseinführung nicht zum Ersatz des älteren Begriffs der ‚vecindad‘, sondern zu einer Koexistenz der Begriffe über einen langen Zeitraum hinweg (Oieni 2004: 326). Der Begriff und das Konzept des ‚vecino‘ waren bereits mit der spanischen Eroberung in der ‚Neuen Welt‘ eingeführt worden. Zurückgehend auf seine mittelalterliche Wurzel bezog er sich auf die Ebene des cabildo und bezeichnete einen Rechtsstatus auf lokaler Ebene: Die vecinos – zunächst encomenderos und ihre Nachfahren – waren zur Wahl der Mitglieder des cabildo berechtigt. Der vecino war typischerweise Spanier, männlich, und erfüllte die pureza de sangre, er durfte also keine maurischen oder jüdischen Vorfahren haben. Er war Christ und sollte Patriot sowie ein ehrenvoller, guter Vater und Ehemann sein. Zudem musste er Besitz vorzuweisen haben, durfte keine manuelle Tätigkeit zu seinem Lebenserhalt ausführen, musste in einer Stadt leben und seine Steuern bezahlen. Der vecino entsprach also einer streng begrenzten Position in der christlich-sozialen Hierarchie. (Oieni 2004: 313, 314) Im Gegensatz dazu betonte nun das neue Konzept des ciudadano die Freiwilligkeit des Zusammenschlusses unabhängiger und freier Individuen. Es löste sich konzeptuell betont aus der von Gott vorgegebenen Gesellschaftsordnung. Die ciudadanía fungierte als Legitimationsinstrument der neuen politischen Ordnung – allerdings nicht als Motor der Unabhängigkeitsbewegung, sondern als nachträgliche Legitimation der Geschehnisse. Obwohl er in den frühen Dokumenten nach der Mairevolution noch in wechselnder Bedeutung verwendet wurde119, war dem Begriff doch die Idee der scharfen Abgrenzung zu Loyalitätsformen mit dem Mutterland eingeschrieben. (Oieni 2004: 315) Es handelt sich also nicht nur um ein rechtliches Konzept, sondern auch um eine Form der Loyalität und der kollektiven Identität. Dem religiösen Bezug sollte nun der Bezug auf die Vernunft weichen. Dementsprechend änderten sich auch die mit dem jeweiligen Konzept verbundenen Tugenden: Anstatt christlicher Tugenden sollte der Staatsbürger bürgerliche Tugenden vorweisen und dazu gehörte als wesentliche Voraussetzung seine Freiheit120 (Oieni 2004: 318). Der ciudadano wurde dadurch zum Synonym für ‚hombre libre‘ und stand in Abgrenzung zum zuvor üblichen Begriff des ‚Untertans‘ (súbdito) sowie des ‚Sklaven‘ (esclavo, siervo). Ab 1811 schließlich war dem Begriff bei den hombres de mayo die Überzeugung eingeschrieben, dass sich die ciudadanos als freie, vernünftige Individuen ihre politische Ordnung selbst geben würden. Freiheit im Staat klingt hier bereits an. Die Grundlage des Konzepts wurde zunehmend zu einer rechtlich definierten, wodurch der ciudadano als Träger von bürgerlichen und politischen Rechten erscheint. Daneben war er stets Grundlage zur Definition eines Kollektivs und dessen Loyalitätsvorstellungen. Denn das Konzept des ciudadano stand in enger Verbindung mit jenem des souveränen Volkes (pueblo soberano). (Oieni 2004: 316, 317, 323, 324) 119 Der Begriff wurde sowohl mit der Idee des Paktes, als auch der Republik, der Demokratie und des Liberalismus verbunden und erfuhr so je verschiedene Akzente (Oieni 2004: 326). 120 Damit ist zunächst noch nicht unbedingt die Freiheit vom Staat gemeint, sondern einzelne Freiheiten wie die Meinungsfreiheit (Oieni 2004: 321).
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Festzuhalten ist mit Oieni (2004: 317), dass in der Argumentation der frühen Dokumente zwar immer wieder auf die vacatio regis als Legitimationsgrundlage Bezug genommen wird, doch bei den kreolischen Eliten Rousseaus Idee des Sozialvertrags und der volonté générale dominant war. Auf eben diese sollte sich die neue Vorstellung von Souveränität gründen. Auch wenn diese Auffassung umstritten war und in den Folgejahren an Relevanz verlor, schien sie doch eine Antwort auf die offene Frage nach der Legitimität der politischen Ordnung nach dem Wegfall der durch persönliche Beziehung geprägten Loyalität dem König gegenüber zu bieten (Ternavasio 1999: 120; König/Wiesebron 1998: 8). Demgegenüber galt es nun, anonyme Loyalitätsbeziehungen zu abstrakten Konzepten wie jenem des Staates, der Nation und dem Volk herzustellen, die durch das Recht geregelt waren (König/Wiesebron 1998: 8). Allerdings rief die Frage nach der konkreten Ausgestaltung politischer Repräsentation und Staatsbürgerschaft zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Uneinigkeit hervor (Ternavasio 1999: 122). Der Estatuto de 1815 legte fest, dass allen hombres libres, die in Argentinien geboren wurden und dort ihren Wohnsitz hatten sowie älter als 25 Jahre waren, die Staatsbürgerschaft zuerkannt wird. Ausgeschlossen waren die domésticos asalariados sowie all jene, die kein Eigentum oder keine lukrative und dem Land nützende Beschäftigung121 vorweisen konnten. (Quijada 2005a: 152) Der territoriale Zerfall in autonome Einzelprovinzen mit eigener Gesetzgebung in den 1820er Jahren sollte die Konsensfindung erschweren. Buenos Aires etablierte 1821 ein repräsentatives System. Die Provinz war die erste Region Hispanoamerikas, die das allgemeine und direkte Männerwahlrecht122 garantierte (González Bernaldo 1999b: 142), das jedem „hombre libre“ (Ternavasio 1999: 122) zustand und mithilfe dessen die Bestellung des 1820 gegründeten Repräsentantenhauses (Sala de Representantes) erfolgte, das wiederum den Gouverneur ernannte. Eigentum, oficio útil etc., die noch 1815 als Voraussetzungen für das Wahlrecht galten, entfielen mit dem neuen Gesetz (Quijada 2005a: 154); das Wahlalter wurde auf 20 Jahre gesenkt (González Bernaldo de Quirós 1999a: 113). Dieses System bestand auch ab 1835 unter Rosas weiter. Wie Ternavasio (1999) ausführt, war die Abhaltung von Wahlen unter Rosas ein höchst formalisierter Vorgang, worin sich zeige, dass die Wahl auch unter Rosas als höchstes Mittel zur Legitimierung von Macht galt, selbst wenn es sich um ein antiliberales, hierarchisches und organisch gegliedertes Einheitssystem handelte. (Ternavasio 1999: 121, 122, 126-133, 140, 141) „En este contexto, el fenómeno del caudillismo en el Río de la Plata —estigmatizado en la persona de Rosas— [...] muestra una tendencia de absorber la legalidad liberal heredada del espacio urbano, para institucionalizarse con el signo inverso: una representación invertida que prefigura la noción de un gobierno elector –tal como dejó señalado Natalio Botana– en vez de la noción de un pueblo elector.‟ (Ternavasio 1999: 141)
121 Im Estatuto de 1815 ist dieser Ausschlussgrund aus dem Wahlrecht folgendermaßen formuliert: „no tener propiedad u oficio lucrativo y útil al país.“ (zit. nach Quijada 2005a: 152). 122 Das rationale Individuum wurde implizit als männlich definiert. Frauen hingegen galten als von Vater oder Ehemann abhängige Familienmitglieder. Ihnen waren Staatsbürgerschaft und politische Partizipation verwehrt; Gender war vor 1870 laut Davies et al. (2006) in Hispanoamerika kein politisches Thema. (Davies et al. 2006: 19, 20)
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Das repräsentative, durch Wahlen legitimierte System wurde zu einem Prinzip, das seit erreichter Unabhängigkeit am Río de la Plata von sämtlichen politischen Gruppen hochgehalten wurde, auch, wie das Beispiel Rosas zeigt, von antiliberalen. Die Wahldaten zeigen, dass in Hispanoamerika etwa zwischen zwei und fünf Prozent der Bevölkerung wahlberechtigt waren. Selbst von den Wahlberechtigten gaben nur in etwa 50% tatsächlich ihre Stimme ab. In Argentinien schwankten die Wählerzahlen sehr stark. Nach 1853 erschienen kaum mehr als 20% der Wahlberechtigten zur Wahl. (Sabato 2001: 1302, 1303) Laut González Bernaldo de Quirós (1999a: 112) standen systematischer Wahlbetrug sowie die Einschüchterung von Oppositionellen an der Tagesordnung. Chiaramonte (1999) weist darauf hin, dass bei all den zahlreichen Belegen des frühen Gebrauchs des Begriffes ‚ciudadanía‘ und der deutlichen Bemühungen, diesen politisch umzusetzen, Vorsicht geboten ist, was den Gültigkeitsbereich und die praktische Anwendung des Konzeptes betrifft. Diese gestalten sich zumindest während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als äußerst schwierig. (Chiaramonte 1999: 95, 96) Insbesondere die unterschiedlichen Auffassungen von Souveränität und der Frage ihrer Teilbarkeit123 schienen sowohl die Verabschiedung einer gemeinsamen Verfassung als auch die territoriale Einigung Argentiniens bis in die 1860er schwer umsetzbar zu machen. Dabei war eine entscheidende Frage, wer Träger von Souveränität sein sollte: die pueblos der Provinzen oder das Staatsvolk (pueblo im Singular) (Goldman 2007: s.p.)? Eine weitere umstrittene und ebenfalls bis mindestens 1880 offene Frage ist in Argentinien die Definition dessen, wer zur Gemeinschaft der ciudadanos gehören sollte. Sie ist verbunden mit der Frage nach der Definition des Staatsvolkes sowie der Mitglieder der Nation. Die demographische Zusammensetzung war in Hispanoamerika im 19. Jahrhundert von Heterogenität geprägt (Quijada Mauriño 2005b: 825). Basierend auf dieser Beobachtung stellt Mónica Quijada Mauriño (2005b) die These auf, dass die Definition dessen, wer zum souveränen Volk gehört, in Argentinien auf dem Territorialprinzip basierte: „Si la aplicación de ese principio –común a la mayoría de los países occidentales– no fue específica de la Argentina, sí lo fueron el carácter hegemónico que asumió, los contenidos simbólicos que se le asignaron y la forma de articulación de la diversidad étnica y fenotípica con la definición de los límites del pueblo soberano que resultó de esas especificidades.‟ (Quijada Mauriño 2005b: 825)
Das Staatsgebiet als ausschlaggebendes Kriterium zur Bestimmung des souveränen Volkes, so die Autorin, hätte eine integrative Wirkung betreffend der ethnischen Diversität des Landes entfaltet. Denn mit der Bezeichnung „hombre libre, nativo y residente“ (Quijada Mauriño 2005b: 830) im Estatuto Provisional von 1815 war die indigene Bevölkerung, die im Text nicht explizit erwähnt wird, automatisch eingeschlossen. Diese Bestimmungen mögen erstaunen, bedeuten sie doch, dass sowohl in Argentinien geborene Nachfahren von Sklaven und Sklavinnen als auch die indigene Bevölkerung als politische Subjekte – als ciudadanos – anerkannt waren. Die damit 123 Die teilbare Souveränität stützte sich auf die Rechte der Völker (pueblos) aus dem Antíguo Régimen, darunter die fueros (Goldman 2007: s.p.).
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verbundenen Rechte, darunter das Wahlrecht, beruhten auf dem Kriterium, auf argentinischem Territorium geboren worden zu sein. Im Wahlgesetz von 1821 entfällt dementsprechend die explizite Erwähnung von ehemaligen Sklaven und Sklavinnen aus Afrika. Die skizzierten Bestimmungen wurden, im Gegensatz zu anderen hispanoamerikanischen Ländern, während des gesamten 19. Jahrhundert weder eingeschränkt noch rückgängig gemacht. (Quijada Mauriño 2005b: 831) Die rasche Inklusion der auf dem argentinischen Staatsgebiet lebenden ethnischen Gruppen in das Staatsbürgerschaftsrecht lässt jedoch keine direkten Rückschlüsse auf die Definition des Nationalvolkes zu. Es lässt zudem keine Aussagen über die politische Praxis zu, die wie Lettieri (2005) meint, nicht unbedingt von der praktischen Umsetzung des Prinzips zeugt. Während die Unitarier zu exklusiveren Konzepten neigten, kam es bei den Föderalen zu Exklusionsmechanismen aufgrund autoritärer Patronagebeziehungen (Lettieri 2005: 536). Das Territorialprinzip entfaltete trotz seiner integrativen Wirkung einen mächtigen Exklusionsmechanismus, der sich auch aus der Tatsache ergibt, dass weite Teile des heutigen Argentinien im 19. Jahrhundert nicht der Kontrolle des Staates unterlagen und (noch) nicht zum Staatsgebiet zählten. Da die indigene Bevölkerung dieser nicht dem argentinischen Staat unterstehenden Gebiete als außerterritorial angesehen wurde, kamen ihr auch nicht die oben angeführten Rechte aller nacidos en el país zu. Mehr noch, wurden diese Bevölkerungsgruppen als vorstaatliches Volk betrachtet. Dabei bestand innerhalb der politischen Elite schon vor der tatsächlichen Kontrolle dieser Gebiete kein Zweifel darüber, dass sie zur Souveränität Argentiniens zu zählen hatten (Quijada Mauriño 2005b: 836). Die Verfassung von 1853 enthielt das Ziel, die Grenzstreitigkeiten mit der indigenen Bevölkerung beizulegen und diese zur Konversion zum Katholizismus zu bewegen (Art. 64, No. 15). Ihre Gebiete wurden schließlich vorwiegend im Zeitraum zwischen 1861 und 1884 erobert – das Recht der Indigenen auf den Besitz von Boden wurde nicht anerkannt. (Marquardt 2011: 257) Freiheit – Staat – Nation in Argentinien Die rechtliche Definition des Staatsbürgers und der Staatsbürgerin kann, muss jedoch nicht mit der Definition dessen, wer der Nation angehören soll, übereinstimmen. Die zeitliche Bestimmung des Beginns der Nationenbildung und der Herstellung nationaler Identität in Argentinien ist in der Forschung von Divergenzen geprägt. Die Ergebnisse reichen von 1810 bis 1880, also den gesamten Untersuchungszeitraum umfassende Zeitpunkte. Marichal Salinas et al. (2008: 8) meinen, dass nach erlangter Unabhängigkeit zwei sich ergänzende Prozesse in Gang waren: der politischadministrative Aufbau des Staates und die Konstruktion einer nationalen Identität. Manche Forscher, so etwa Carlos Floria (2005: 1076), setzen den Beginn des argentinischen Nationalismus mit 1810 an. Es stellt sich hier allerdings die Frage, ob nicht vom Prozess des nation-buildings im Sinne des Aufbaus eines Nationalstaates die Rede ist. Den liberalen Nationalismus lässt Floria (2005: 1078) mit der Verfassung von 1853 beginnen. Fernando Devoto hingegen meint, die Frage nach der nationalen Identität sowie nach einer gewissen Homogenität an Vorstellungen habe sich erst ab 1880 für die argentinischen Eliten gestellt (Pérez Rivera 2007: 25). Allgemein für Hispanoamerika nimmt Arthur Whitaker, wie Miller (1999) schreibt, folgende Einteilung vor: Zunächst sei eine Phase des liberalen, politischen Nationalismus von der
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Unabhängigkeit bis ins späte 19. Jahrhundert zu beobachten, wobei kultureller Nationalismus kaum vorhanden war, sieht man von literarischen Entwürfen ab. Ihr folgte eine Phase des ökonomischen Nationalismus ab den 1890ern. Alle weiteren Formen sind bereits dem 20. Jahrhundert zuzuordnen. Hobsbawm hingegen hat drei Phasen des hispanoamerikanischen Nationalismus unterschieden. Die erste reicht bei ihm von der Unabhängigkeit bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und meint mit Nationalvolk einen Zusammenschluss von Individuen auf einem gemeinsamen Territorium mit einem geteilten Rechts- und politischen System. Die zweite Phase, jene der liberalen Zentralregierungen, setzte ‚Nation‘ mit Fortschritt und Modernisierung gleich, wobei Exklusionsmechanismen dahingehend verschärft wurden als jene, die dem Fortschritt dienten, als wahre Nationsmitglieder anzusehen waren. Die dritte Phase – jene des Volksnationalismus – siedelt er bereits im 20. Jahrhundert an. (Miller 1999: 33-35) Für González Bernaldo (1999b: 142) ist die Konstruktion der Nation mit der Schwierigkeit, politische Repräsentation am Río de la Plata zu etablieren verbunden. Aus ihrer Sicht ging es in Argentinien darum, Legitimität für das neue System der politischen Repräsentation mithilfe der Nation zu schaffen, die als Subjekt für Souveränität dienen konnte. Denn obwohl bereits 1821 die Grundlagen für ein demokratisches System der Repräsentation gelegt wurden und fortan keine Regierung ohne Legitimierung durch Wahlen bestehen konnte, so blieb die Frage ungelöst, wer das Subjekt der Repräsentation sein sollte. Die Provinzen? Die pueblos? Der pueblo soberano im Singular, verstanden als die Gesamtheit der ciudadanos, also jener, die mindestens die Voraussetzung erfüllten, auf argentinischem Staatsgebiet geboren worden zu sein? Oder die Nation? Zunächst soll zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen geklärt werden, von welchem Nationsbegriff in Argentinien Gebrauch gemacht wurde und ob dieser eine politische und/oder kulturelle Komponente aufwies. In seiner politischen Verwendung enthielt der Begriff ‚nación‘ im 18. Jahrhundert und während der Unabhängigkeitsbewegungen keinerlei ethnische Dimension (Chiaramonte 2004: 25). Im 18. Jahrhundert dominierte die naturrechtliche Verwendung des Begriffs (Chiaramonte 2004: 27). Neben der politischen Verwendung bezog sich ‚nación‘ auf eine Gruppe an Menschen, die am selben Ort geboren wurden. Weist ‚nación‘ hier eine ethnische Komponente auf, so ist sie in diesem Fall nicht auf eine politische Gemeinschaft bezogen. (Chiaramonte 2004: 37) ‚Patria‘ bezeichnete neben der Herkunft auch die Loyalität zu einer politischen Gemeinschaft (Chiaramonte 2004: 101). Keiner der Begriffe war aber im Sinne des souveränen Subjekts und der Quelle politischer Legitimität verstanden worden (Chiaramonte/Souto 2005: 313). Chiaramonte (1989: 89) fand heraus, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert sowohl ‚país‘ als auch ‚patria‘ die Provinz bezeichnete, in der man geboren wurde. ‚Patria‘ wurde zudem bereits von den Spanischamerikanern im 18. Jahrhundert als Bezeichnung für ganz Amerika verwendet, um eine Abgrenzung zur nación española zu etablieren, von der sie sich benachteiligt sahen (Chiaramonte 1989: 90). Um 1810124 wurden die Begriffe ‚nación‘ und ‚estado‘ am Río de la Plata meist synonym verwendet. Sie bezogen sich darauf, dass eine bestimmte Gruppe an Men124 Zum Vergleich bedeutete der Begriff ‚Nation‘ in Spanien zu Beginn des 19. Jahrhundert Folgendes: Zum einen bezog er sich auf das spanische Territorium und die darauf lebende
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schen sowohl Territorium, bestimmte Gesetze als auch eine gemeinsame Regierung teilten und weisen so keine ethnische oder kulturelle Komponente auf. (Chiaramonte 2004: 60, 61) Im Jahre 1825 wurde in den Verfassungsdebatten darüber diskutiert, ob es eine Nation vor dem Inkrafttreten einer Verfassung geben könne (Chiaramonte 1989: 91). Auch hier wird deutlich, dass mit ‚nación‘ kein kulturelles oder ethnisches Konzept gemeint ist, sondern vielmehr eine Art Verfassungsgemeinschaft. ‚Nación‘ wurde hierbei als Synonym für eine staatliche Organisation mit Zentralregierung verwendet, die ihre Legitimität aus dem souveränen Volk (pueblo) bezieht. Der Begriff stand so zugleich in Opposition zur Konföderation125, bestehend aus den (einzelstaatlichen) Provinzen, deren Legitimität auf den souveränen Völkern (pueblos) fußt. (Goldman 2007: s.p.) Es sollte bis zum Jahre 1830 dauern, bis ‚nación‘ am Río de la Plata im Sinne des Nationalitätenprinzips verwendet und die Organisation des Staates mit der Nationalität in Verbindung gebracht wurden. Hierbei wies der Begriff schließlich durchaus eine kulturelle Komponente auf. Ethnische und politische Bedeutungsebenen von ‚nación‘ wurden nun in einem Konzept zusammengebracht. Dadurch konnte Ethnizität zur politischen Legitimationsgrundlage werden. Dies drückt sich für Chiaramonte/Souto (2005: 311) im Terminus ‚nacionalidad‘ aus. (Chiaramonte 2004: 50, 85) Es bleibt die Annäherung an die Frage, welche Elemente die Vorstellung von der im 19. Jahrhundert im Entstehen begriffenen Nation prägen sollten und wer infolgedessen in diese ein- und ausgeschlossen wurde. Ist sie eher der civic oder ethnic nation zuzuordnen? Und wer konnte dementsprechend zur Gruppe der Nationsangehörigen gezählt werden? Ohne die tatsächliche soziale Situation einzelner ethnischer Gruppen darstellen zu können, sollen im Folgenden einige relevante Aspekte bezüglich des Verhältnisses von Staatsbürgerschaft und Nation im Hinblick auf Ethnizität thematisiert werden. Wie oben bereits angesprochen, waren die Nachfahren afrikanischer Sklaven und Sklavinnen Teil der ciudadanía. Ihnen war dadurch der Weg in alle Ebenen der militärischen Hierarchie geebnet, schrittweise begann auch die Integration dieser Bevölkerungsgruppe ins Bildungssystem. Ab den 1850er Jahren wurde der Zugang zur Universität für ‚Schwarze‘ und ‚Mulatten‘ geöffnet. Zudem wurden eigene Presseorgane etabliert, die zahlreiche Druckerzeugnisse hervorbrachten und die Meinungsäußerung und -bildung dieser Gruppe unterstützten. Eine hohe Zahl an asociaciones africanas126 wurde gegründet. Dennoch blieb die Auffassung der ethnischen Unterlegenheit bestehen, wenn diese Vorurteile sich auch vorwiegend sozial und nicht rechtlich niederschlagen sollten. Juan Manuel de Rosas begünstigte diese Bevölkerungsgruppe, was ihm einerseits zur Absicherung seiner Macht diente, andeSumme spanischer Bürger/innen, die alle derselben Rechtsordnung unterworfen waren und wies so eine politisch-verfassungsrechtliche Bedeutung auf. Zum anderen jedoch wurde er auch im unpolitischen, kulturellen Sinne verwendet und bezog sich dann auf eine patriotische Grundhaltung. (Timmermann 2007: 175) 125 Nicht unterwähnt bleiben soll, dass Rosas unter ‚nación‘ Bräuche, Traditionen und Religion verstand. Die Bezeichnung ‚restaurador de las leyes‘, die für Rosas üblich war, bezog sich nicht auf das geschriebene Gesetz, sondern die ‚nación‘ und konnte als Wiederbelebung der kolonialen Tradition verstanden werden, zu der das Regime kulturell den Bogen zu spannen gedachte. (Feinmann 2010: 87). 126 ‚Asociación‘ wird hier im Sinne von ‚Verein‘ verwendet.
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rerseits aber auch den Staatsbürgerstatus dieser Gruppe stärkte. Ortemberg (2004: 709) meint hingegen, dass die „naciones negras“ (Ortemberg 2004: 709) unter Rosas nicht als individuelle Staatsbürger, sondern vielmehr als ethnische Gemeinschaft in das Regime einbezogen wurden. Der Begriff ‚nación‘ diente in den afrikanischen Vereinen bis zur Mitte des Jahrhunderts zur Bezeichnung der eigenen ethnischen Herkunft, nicht eines politisch-kulturellen, auf Argentinien bezogenen Konzeptes. Ab der Jahrhundertmitte nahm die Zahl afrikanische Vereine zugunsten universellerer Formen des Austausches ab. (Quijada Mauriño 2005b: 838, 839) Im Gegensatz dazu gestaltete sich der Umgang mit der indigenen Bevölkerung als konfliktreicher, was sich auch im gängigen Ausdruck des „problema del indio [Kursivierung im Original]“ (Quijada Mauriño 2005b: 840) niederschlägt. Er bezieht sich weniger auf jene Indigenen, die ohnehin in die ciudadanía aufgenommen waren, da sie auf argentinischem Territorium geboren wurden und dort lebten, sondern auf jene indigenas de frontera, die die angrenzenden Gebiete autonom bewohnten. In dieser Frage zeigt sich besonders deutlich, dass zwischen dem Rechtsstatus (insbesondere der ciudadanía) und der Vorstellung von kollektiver Identität zu differenzieren ist. Diese Bevölkerungsgruppe wurde in der kollektiven Vorstellung als wild und barbarisch gezeichnet, was Zweifel über deren Eignung für die Staatsbürgerschaft nach erfolgter Eroberung und Enteignung der indigenen Gebiete und Bevölkerungsgruppen aufkommen ließ. Zwar gestand man ihr nach ihrer Eroberung die ciudadanía zu – immerhin waren sie nun naturales des argentinischen Territoriums –, doch sollten all jene Aspekte beseitigt werden, die von einer eigenen Identität zeugten, insbesondere die Organisationsform des Stammes, Sprachen, Riten, Glaubensvorstellungen, etc. (Quijada Mauriño 2005b: 840, 842) Eine dritte für die Konstruktion nationaler Identität relevante Gruppe ist die der Zuwanderer. Global gesehen nahm Argentinien nach den USA die zweitmeisten Migranten und Migrantinnen im Zeitraum zwischen 1875 und 1930 auf. Die dünn besiedelten Gebiete des Landes sollten durch gezielte Förderung der Einwanderung ‚gefüllt‘ werden. Dahinter verbarg sich nicht nur die Idee des Bevölkerungswachstums, sondern der Präferenz europäischer Einwanderer gegenüber der ‚barbarischen‘ indigenen Bevölkerung. Diese Diskussion wies also eine markante ethnische Komponente auf. Die gezielte Einwanderung wurde einerseits in der Verfassung von 1853 rechtlich verankert und andererseits als Mittel zur Konstruktion der Nation verstanden – Argentinien präsentierte sich als Einwanderungsland, obgleich auch Ressentiments gegen Einwanderer dokumentiert sind und Bedenken über eine zunehmend heterogene Gesellschaft geäußert wurden. Schon 1815 hatten sie das aktive Wahlrecht erhalten, wenn sie vier Jahre lang in Argentinien gelebt hatten, Eigentum oder alternativ eine ‚nützliche‘ Arbeit vorweisen konnten und alphabetisiert waren. Das passive Wahlrecht war bei der Voraussetzung des zehnjährigen Aufenthalts auf die Gemeindeebene beschränkt, wenn die bestehende Staatsbürgerschaft nicht abgegeben wurde. Diese Bestimmungen wurden während des 19. Jahrhunderts zusätzlich verschärft und vorwiegend auf Gemeindeebene beschränkt. Die nachfolgende Generation sollte gemäß des Territorialprinzips volle Staatsbürgerschaftsrechte erhalten. (Quijada Mauriño 2005b: 843-845) Die Aufhellung (blanqueamiento) des argentinischen (National-)Volkes steht programmatisch hinter dem Umgang mit allen drei beschriebenen Gruppen. Dies zeigt sich auch in der Kategorisierung von ‚Schwarzen‘ im Zensus von 1895. Der
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Anteil der ‚schwarzen‘ Bevölkerung nahm nicht zuletzt aufgrund des Kategoriensystems ab. Die Existenz indigener Gruppen mit Stammesorganisation wurde rechtlich bis 1994 nicht anerkannt. Dahinter stand die Idee, dass es in Argentinien keine Indigenen gäbe. (Quijada Mauriño 2005b: 845; 846) Diese Aspekte der Konstruktion einer kollektiven Identität werden trotz des Territorialprinzips im Staatsbürgerschaftskonzept wirksam. Sind im Bereich der Freiheitsrechte Charakteristika der civic nation dominant, so scheint Ethnizität ein leitendes Prinzip der Konstruktion der argentinischen nationalen Identität im 19. Jahrhundert gewesen zu sein. Bestimmt sich das souveräne Volk durch das inklusiv angelegte Territorialprinzip, während sich die Nation aufgrund eines ethnischen Prinzips legitimiert? Kann Quijada Mauriño (2005b: 847) darin zugestimmt werden, dass das Territorialprinzip, als Grundlage der Konstruktion der Nation, Nation und souveränes Volk zur Übereinstimmung gebracht hätte? Welche Antworten fand die generación del 37 auf diese Fragen? Wie verband sie ihren Liberalismus mit dem Ziel der Konstruktion der Nation? Konklusion Als sich die generación del 37 bildete, war bereits seit 1810 der Begriff ‚Freiheit‘ als Freiheit des und der Einzelnen etabliert. Er bedeutete sowohl politische Unabhängigkeit des neuen Staates als auch bürgerliche Freiheit, allerdings zumeist in Abgrenzung zu unlimitierter natürlicher Freiheit. Eine verfassungsmäßige Absicherung der Freiheit vom Staat sowie der Freiheit im Staat sollte zu dieser Zeit noch nicht bestehen. Sie wurden erst mit der Verfassung von 1853 etabliert. 1860 nahm Argentinien in der internationalen Verfassungsentwicklung den dritten Platz ein. Zum Zeitpunkt der Konstituierung der Gruppe waren schon mehrere Verfassungsentwürfe vorgelegt worden, doch konnte keiner von ihnen aufgrund der unterschiedlichen Vorstellungen von Souveränität und deren Träger (die pueblos der Provinzen, der pueblo soberano als Summe der ciudadanos oder die nación?) ratifiziert werden. Dennoch wurden Einzelfreiheiten wie die Presse- und Meinungsfreiheit in den 1820er Jahren rechtlich garantiert sowie in der Provinz Buenos Aires als erster Region Hispanoamerikas das allgemeine Männerwahlrecht eingeführt, wenn auch nur wenige Wahlberechtigte von ihrem Stimmrecht Gebrauch machten und systematischer Wahlbetrug üblich war. Die Frage nach der Staatsbürgerschaft und nach politischer Repräsentation war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine offene und umstrittene, auch wenn in Buenos Aires mit dem Territorialprinzip ein umfassendes Konzept von Staatsbürgerschaft etabliert worden war, das keine Eigentums- und Bildungsvoraussetzungen vorsah. Nicht als Wahlberechtigte vorgesehen waren alle unter 20Jährigen, alle Sklaven, alle, die nicht als hombres libres gelten konnten (etwa domésticos), alle, die nicht auf argentinischem Staatsgebiet geboren wurden (etwa die indígenas de frontera) sowie alle Frauen, die keine explizite Erwähnung im Text fanden, sondern ‚naturgemäß‘ ausgeschlossen wurden (Sabato 2001: 1297). Unter Rosas, der ein autoritäres, doch von liberalen Institutionen und Normen getragenes Regime etabliert hatte, waren sämtliche dieser Freiheiten explizit oder implizit (im Bereich des Wahlrechts, das offiziell erhalten blieb) außer Kraft gesetzt. Nach Ende der Diktatur unter Rosas wurde 1853 eine Verfassung verabschiedet, die 1862 Geltung für das gesamte Territorium erlangen sollte, als Buenos Aires nach fast zehn Jahren Autonomie in die Föderation eingegliedert wurde. Sie definierte im
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Grundrechtekatalog die Abwehrrechte des Individuums gegen den Staat (Freiheit vom Staat) und wird als zentraler Moment der argentinischen Staatenbildung betrachtet. In der Forschungsliteratur wird meist davon ausgegangen, dass zunächst der argentinische Staat und im Anschluss die Nation aufgebaut wurden. Gerade aber zur Frage, ab wann man von einer argentinischen Nation sprechen kann, sind sehr unterschiedliche Antworten, die von 1810 bis 1880 reichen, formuliert worden. Bis zur Verfassung von 1853 und der Etablierung der Volkssouveränität blieb zudem unklar, wer Souverän sein sollte. ‚Estado‘ und ‚nación‘ wurden zunächst synonym gebraucht und wiesen keine kulturelle oder ethnische Komponente auf. Ab 1830 lässt sich eine Verwendung des Begriffs ‚nación‘ belegen, in der ethnische und politische Bedeutungsebenen in einem Konzept zusammengebracht werden. In der Verfassung von 1860 wurde ‚Confederación‘ durch ‚Nación‘ ersetzt – ‚nación argentina‘ hatte sich nun als Bezeichnung in Gesetzestexten etablieren können. Der Beginn des argentinischen Nationalismus wird meist mit Mitte des 19. Jahrhunderts angesetzt, wenn diese Frage auch umstritten ist (vgl. die Diskussion um die Entstehung nationaler Identität bereits vor der Unabhängigkeitsbewegung). Im Bereich der nationalen Identität dominiert ab der Jahrhundertmitte eine ethnische Komponente, die dem Prinzip der ‚Aufhellung‘ der Bevölkerung folgt und indigene Gruppen als ‚barbarisch‘ und weiße Immigranten als willkommen zeichnet. Es kommt zu einem Widerspruch zwischen den ab 1860 im gesamten argentinischen Territorium geltenden Freiheitsrechten, die einen vergleichsweise weit gefassten Begriff des Staatsvolkes und der Staatsbürgerschaft kennen, der allerdings in der Praxis nicht durchsetzungsfähig war, und dem Prinzip der Ethnizität im Bereich der Konstruktion nationaler Identität. Während der literarischen Hauptschaffenszeit der generación del 37 und dem Untersuchungszeitraum dieser Arbeit (1837-1880) müssen demnach sowohl die Konstruktion des Staates und seiner Freiheitsrechte als auch die Frage nach der Nation und dem Verhältnis zwischen Staatsvolk und Nationalvolk als ungelöst gelten.
Nation – Identität – Erzählung
N ATION – I DENTITÄT – E RZÄHLUNG Abriss zu den Theorien der Nationalismusforschung Wurden die Begriffe und Konzepte ‚Freiheit‘, ‚Staat‘ und ‚Nation‘ bereits diskutiert, so gilt es nun, das Phänomen der Nation in seiner kulturellen Ausprägung näher zu charakterisieren, um zu verdeutlichen, welche Funktionen der Literatur bei der Konstruktion eines nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls zukommen kann. Ein kurzer Blick in die Studien zur Nationalismusforschung zeigt, dass sich seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts eine Polemik entwickelt hat, die im Wesentlichen1 in Form einer Spaltung des Forschungsgebiets in zwei Paradigmen zu Tage tritt2. Jene Zugänge, die als Definitionsmerkmale der Nation Elemente wie die gemeinsame Sprache, Geschichte und Tradition sowie eine gemeinsame Herkunft (Ethnie) nennen und davon ausgehen, dass diese in einer historischen Kontinuität nachvollzogen werden können und insofern natürlich, wesenhaft und immer schon vorhanden (‚ursprünglich‘) sind, werden meist als ‚primordialistisch‘ bzw. ‚essentialistisch‘ etikettiert. In Abgrenzung dazu entstanden sogenannte ‚konstruktivistische‘3 Zugänge (u.a. Ernest Gellner
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2
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Miroslav Hroch etwa wäre als einer jener Autoren zu nennen, die weder dem einen, noch dem anderen Forschungsparadigma zugeordnet werden können (vgl. Eser 2011: 64). Breuilly (1994: 17, 22-25) unterscheidet vier theoretische Zugänge zum Nationalismus: einen primordialistischen, einen funktionalen (z.B. psychologische Funktionen, Interessen einer sozialen Klasse, etc.), einen narrativen (das Phänomen der Nation nicht hinterfragenden und erzählenden Ansatz, der von einer traditionellen, vornationalen Situation ausgeht und das Ende der Nation in der Zukunft verortet) und einen modernen. Für ihn selbst ist nur der moderne Zugang gerechtfertigt, der sich wiederum in verschiedene Spielarten aufgliedern lässt. Schon Ernest Renan hatte 1882 in der berühmten Rede ‚Qu’est-ce qu’une nation?‘ an der Sorbonne festgehalten, dass die Nation ein „principe spirituel“ (Renan 1882: 50) sei, das sich aus Vergangenheit und Gegenwart speise, d.h. aus gemeinsamen Erinnerungen und einer gegenwärtigen Anerkennung, dem Willen zu Solidarität und zur Bildung einer Gemeinschaft. Kritisiert und entkräftet wird bei ihm die Auffassung, die Nation lasse sich durch gemeinsame Charakteristika wie ‚Rasse‘, Sprache, Geographie, Dynastie, gemeinsame Interessen bestimmen. (Renan 1882: 50-52)
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(19834), Benedict Anderson (1983), Eric Hobsbawm (19835)), die die Existenz einer Nation mit wesenhaftem Kern bestreiten und Nationen vielmehr als kulturelle Konstruktionen verstehen. Das Entstehen von Nationen wird in diesem Sinne meist mit dem Begriff des nation-building bezeichnet. Die genannten Elemente und deren Verortung in Vergangenheit und Zukunft werden als Projektion enttarnt: Für die Einzelnen entstehe der Eindruck, die Nation und deren Traditionen seien bereits Jahrhunderte alt, obwohl sie eine Erfindung des 19. Jahrhunderts sind. Ob die Konstruktion der Nation von einer kulturellen Elite ausgehe oder auf eine Volksbewegung zurückzuführen sei, ob sich die Nation auf vormoderne (ethnische) Bindungen gründe oder ob sie ein kulturelles Produkt der Moderne6 sei sowie ob die Nation eine ‚Fiktion‘ sei oder ob es einen wesenhaften Kern von nationaler Identität gebe – an diesen Fragen entzündet sich die Debatte zwischen ‚Primordialisten‘ und ‚Konstruktivisten‘7. Dass diese Polemik bis heute anhält, ist an der Bewertung des 4 5 6
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Hier in der Ausgabe von 2008 zitiert. Anderson und Hobsbawm werden hauptsächlich in der jeweiligen Ausgabe von 2005 zitiert. Vgl. dazu Breuilly (1994: 17, 22), Calhoun (2006: 20), Hobsbawm (2005), Stich (2011: 40), Ionescu (2011: 45). Selbst unter den Vertretern der modernistischen Auffassung der Nation lässt sich kein Konsens darüber herstellen, wann genau der Beginn des Nationalismus anzusetzen ist, wenngleich Chiaramonte (2004: 23) davon ausgeht, dass die Mehrheit der modernistischen Historiker und Sozialwissenschaftler das ausgehende 18. Jahrhundert als Beginn ansetzen. Greenfeld, etwa, nennt den englischen Bürgerkrieg als Beginn, Anderson die amerikanischen Unabhängigkeitsbewegungen, Alter die Französische Revolution, Breuilly und Kendourie die deutsche Romantik. Calhoun (2006) schlägt daher vor, als Beginn die frühe Moderne anzunehmen und die volle Entfaltung der nationalen Bewegungen in die Zeit Napoleons einzuordnen. (Calhoun 2006: 35) Wann das Einsetzen der Moderne zu datieren sei, ist unter Historikern ein stark umstrittene Frage. Dies nicht nur aufgrund der epochenabhängigen Sicht auf den Begriff, sondern auch aufgrund der Vielfalt an thematischen und gesellschaftlichen Bereichen (Wirtschaft, Politik, Technik, Ästhetik, etc.), für die der Begriff verwendet wird. Hinzu kommt die diatopische Variation. Osterhammel (2010) meint dazu: „Strittig sind alle Versuche, eine spontane Entstehung der Moderne erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, gar an seinem Ende anzunehmen. Die intellektuellen Grundlagen der Moderne wurden bereits während der Frühen Neuzeit in Europa gelegt, frühestens im Zeitalter Montaignes, spätestens in der Aufklärung.“ (Osterhammel 2010: 1282). Da es im Zusammenhang mit der Nation sinnvoll erscheint, den Fokus auf zwei von Osterhammel (2010) genannte Bereiche, nämlich der „Ausweitung politischer Partizipation“ (Osterhammel 2010: 1282) und der „Verrechtlichung von Herrschaftsverhältnissen“ (Osterhammel 2010: 1282), d.h. v.a. politische Modernität, zu legen, wird hier die Moderne in groben Zügen ab der Aufklärung und v.a. der Französischen Revolution angesetzt. Davon abweichende Verwendungen des Begriffs werden in der Folge explizit gemacht. Anthony Smith, der den sogenannten ‚Ethno-Symbolismus‘ geprägt hat, geht etwa davon aus, dass die in die Vergangenheit zurückreichende ethnische Zugehörigkeit einer in einer Nation lebenden Gruppe prägend für das Selbstverständnis der nationalen Gemeinschaft sei. Die Nation zeichne sich durch vormoderne ethnische Bindungen aus (vgl. dazu Kahlweiß 2011: 79-81; Eser 2011: 64).
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konstruktivistischen Ansatzes von Benedict Anderson (1983), die in den einzelnen Disziplinen (aber auch innerhalb derselben) unterschiedlich ausfällt, ablesbar. Eindrucksvoll vor Augen führt dies der von Castro-Klarén und Chasteen herausgegebene Sammelband mit dem Titel Beyond Imagined Communities (2003)8: Während die Geschichtswissenschaft wichtige Einwände gegen die nation-building-Theorie Andersons – v.a. im Hinblick auf die Nationenbildungsprozesse in Hispanoamerika – formuliert hat (vgl. die Beiträge von Guerra und Halperín Donghi), hat die Kulturund Literaturwissenschaft einige der Thesen Andersons aufgenommen und für das Analyseinstrumentarium der eigenen Disziplin weiterentwickelt (vgl. etwa den Beitrag von Unzueta). Nimmt man die vielzitierten und einflussreichen konstruktivistischen Arbeiten zur Nationenbildung seit den 1980er Jahren zur Hand, so kann – bei allen Unterschieden – als Konsens gelten, dass die Nation nicht länger als essentielles, natürliches Phänomen (Hroch 1994), als kein „natürlich gewachsener Organismus“ (Mohr 2011: 20), wie Mohr dies unter Bezugnahme auf Karl Deutschs Nationenbildungstheorie formuliert, verstanden wird9. „Moderne Nationen und ihr Anhang behaupten im allgemeinen, das Gegenteil von neu zu sein, nämlich in einer möglichst weit entfernten Vergangenheit zu wurzeln, und das Gegenteil von konstruiert, vielmehr menschlichen Gemeinschaften zu entstammen, die so ‚natürlich‘ sind, daß sie zu ihrer Definition nur ihrer Selbstbehauptung bedürfen. [Anführungszeichen im Original]“ (Hobsbawm 1998: 115)
Unter Nation wird bei Hobsbawm „[…] jede ausreichend große Gemeinschaft von Menschen verstanden, deren Mitglieder sich als Angehörige einer ‚Nation‘ betrachten. [Anführungszeichen im Original]“ (Hobsbawm 2005: 19). Er sieht sie „[…] nicht als eine ursprüngliche oder unveränderliche soziale Einheit“ (Hobsbawm 2005: 20) an, sondern als historisches Phänomen einer bestimmten Epoche, weshalb in die Untersuchung der Nation sämtliche politische, technische, administrative, wirtschaftliche etc. Bedingungen miteinzubeziehen seien. Es bedürfe nicht nur der Idee der Nation einer (kulturellen, politischen) Elite, um ein nationales Zugehörigkeitsgefühl hervorzubringen. Vielmehr müsse ein Nationalismus ‚von unten‘ Berücksichtigung in der Analyse finden, um erklären zu können, wie sich die Idee der Nation als Identitätskategorie in breiten Bevölkerungsteilen verankern kann10. Während primordialistische Zugänge den Ursprung der Nation, bedingt durch ihre Prämissen, in den Traditionen des Volkes verorten müssen, schließen sich auch einige konstruktivistische Vertreter der Idee an, dass Nationalismus und nationales Bewusstsein in einer breiten Bevölkerungsschicht, die mit der Nation gleichgesetzt wird, entstehen. Nationalismus wird dann als Konsequenz eines wachsenden Nationalbewusstseins in der Bevölkerung verstanden. Dagegen spricht 8 9
Vgl. dazu auch Wink (2009: 79-112). Vgl. dazu auch Gellner (Ionescu 2011: 52). 10 In diesem Punkt trifft er sich mit Smith, der ebenfalls bezweifelt, dass die Idee einer Elite die emotionale Bindung des ‚Volkes‘ an die Nation erklären kann – die intellektuelle Elite könne aber durch ihre Partizipation den Prozess der Nationenbildung antreiben (Kahlweiß 2011: 81).
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hingegen das Entstehen von Nationen in Gebieten, in denen so etwas wie nationale Identität zuvor nicht vorhanden war (vgl. Hispanoamerika). Andererseits scheint es auch Fälle zu geben, in denen nationale Gefühle nicht zur Herausbildung politischer nationalistischer Bewegungen geführt haben. (Calhoun 2006: 34; Breuilly 1994: 15, 16, 27-29; Breuilly 1985: 75) Hobsbawm (2005) nimmt in dieser Debatte insofern eine Vermittlungsfunktion ein als er davon ausgeht, dass es zwei Arten des Nationalismus in Form eines Doppelphänomens gebe. In vielen Fällen hätten Eliten die Idee der Nation konstruiert, diese verband sich aber häufig mit dem (im Entstehen begriffenen oder bereits bestehenden) Nationalbewusstsein der Bevölkerung. Ob es einen wesenhaften Kern von nationaler Identität gebe oder die Nation eine ‚Fiktion‘ sei, wird vorwiegend mit Bezug auf Anderson (2005) diskutiert. Nationen, Nationalität und Nationalismus sind bei Anderson (2005) als „kulturelle Produkte einer besonderen Art“ (Anderson 2005: 14) zu verstehen. Anderson wird vielfach dafür zitiert, die Nation als eine „vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän“11 (Anderson 2005: 15) gefasst zu haben. Dass die Nation ein Produkt der Vorstellungskraft ist, sieht er in der Tatsache belegt, dass sich die einzelnen Angehörigen der Nation nicht persönlich kennen (können) und sich dennoch in ihrer Vorstellung als Gemeinschaft, als mit anderen Menschen über die Nation verbunden entwerfen. Ihren Konstruktcharakter teilt die Nation mit allen Gemeinschaften, die über jene Größe hinausgehen, die einen persönlichen Kontakt unter ihren Mitgliedern erlaubt. Sie ist demnach kein hinreichendes Definitionsmerkmal für die Nation. Anders als andere vorgestellte Gemeinschaften (etwa Berufsgruppen) zeichnet sich die Vorstellung von der Nation aber dadurch aus, dass sie eine besonders starke Identifikation unter ihren Mitgliedern bewirkt, die so weit geht, dass ihre Mitglieder dazu bereit sind, für die Nation ihr Leben zu lassen. Im Gegensatz zu anderen vorgestellten Gemeinschaften, bei denen eine ähnlich starke Identifikation denkbar wäre (etwa die Religion), wird sie als begrenzte Gemeinschaft gedacht. Obwohl sie ein Produkt der Vorstellung ist, sind ihre Grenzen strikt gezogen und vom Gedanken der Abgrenzung von anderen Nationen begleitet12. (Anderson 2005: 16, 17, 27-30) Ausgehend davon, dass die Nation vorgestellt ist, ein kulturelles Produkt darstellt, sucht Anderson (2005) Gründe für die Herausbildung der Nation nicht etwa in einem gemeinsamen historischen Ursprung der Gemeinschaft, sondern in kulturellen Entwicklungen und technischen Innovationen, die die Vorstellung von der gemeinsamen Nation ermöglichen bzw. begünstigen. Allen voran nennt er die Standardisierung der Landessprachen und die Dynamik, die vom kapitalistischen Druckwesen ausgeht13 (Vgl. dazu Anderson 2005). 11 ‚Materiell‘ wird in Folge als Gegensatz zu ‚vorgestellt‘ verstanden. Der Begriff ‚real‘ eignet sich zur Gegenüberstellung nicht, da vorgestellte Konzepte reale Wirkmächtigkeit erlangen können, wie Anderson (2005) anhand der Nation zeigt. 12 Der Exklusionsmechanismus, der die Nation charakterisiert, ist durch die Vorstellung von staatlicher Souveränität geprägt (Anderson 2005: 17). 13 Daneben ist die Transformation in der Einstellung zur Zeit ein Erklärungsfaktor bei Anderson (2005). In der erweiterten Ausgabe seines einflussreichen Buches erläutert Anderson (2005: 163-187) zudem die Wirkung von Zensus, Landkarte und Museum für die Vorstellung von der nationalen Gemeinschaft in den ehemaligen Kolonialgebieten Afrikas und Asiens im 20. Jahrhundert.
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Andersons Ansatz (2005) zählt zu den wenigen international rezipierten Nationenbildungstheorien, die neben den europäischen Nationen die Nationenbildung in der ‚Neuen Welt‘ in den Blick nehmen, ja er stellt sogar die Entstehung der Nation in den amerikanischen Gebieten jener in Europa zeitlich voran14. Ihre Herausbildung sieht er z.T. anderen Bedingungen unterworfen als dem europäischen nationbuilding, etwa dadurch, dass die amerikanischen Kolonien mit ihren Mutterländern durch die gemeinsame Sprache verbunden waren. Sprache, oder besser „nationale Schriftsprachen“ (Anderson 2005: 72), konnten in der ‚nationalen‘ Befreiungsbewegung daher nicht zum bestimmenden Element der Nationenbildung werden. Anderson (2005) bezeichnet die Unabhängigkeitskriege in Hispanoamerika als „Kriege unter Verwandten“ (Anderson 2005: 192), die überdies nicht das Ziel hatten, das Herrscherzentrum (in Europa) einzunehmen. Verbunden waren die Kreolen mit Spanien – neben Kultur und Religion – auch durch ihre Rolle als Vermittler, z.B. in Wirtschaftsbeziehungen. Auch institutionell waren sie schon alleine der Sprache wegen an europäische Modelle gebunden (Schulwesen, Printmedien, Verwaltung, etc.). (Anderson 2005: 55, 57, 192, 198) Dennoch wurden laut Anderson (2005) sowohl die amerikanische Unabhängigkeitserklärung 1776 als auch die Unabhängigkeitsbewegungen Hispanoamerikas als etwas Neuartiges, als Bruch mit der Vergangenheit inszeniert. „[…Die] altmodischentehrenden Bezeichnungen [z.B. Indianer15] werden für abgeschafft erklärt, und es wird eine völlig neue Epoche eingeläutet.“ (Anderson 2005: 194). Es werde „auf rhetorische Weise [ein] tiefreichende[r] Bruch mit der bislang existierenden Welt“ (Anderson 2005: 194) vollzogen. So liest man 1821 bei San Martín, dass fortan alle Menschen in Peru als Peruaner (und nicht länger als Indigene, etc.) bezeichnet werden sollen. Es finden sich im Unabhängigkeitsdiskurs auch keine historischen Argumente („[…] in dem Sinne, daß man das Alter des amerikanischen Volkes besonders hervorgehoben hätte.“ (Anderson 2005: 194)). Im Gegensatz dazu hätte das nationbuilding in Europa, das er zwischen 1815 und 1850 ansiedelt, das Neuartige, gewissermaßen als Nachfolger der amerikanischen Bewegungen, nicht mehr für sich in Anspruch nehmen können und seinen Nationalismus vielmehr „als Ausdruck einer historischen Tradition von serieller Kontinuität“ (Anderson 2005: 195) dargestellt16. Rhetorisch hätte dieses Selbstverständnis im Bild des Erwachens der Nationen aus einem tiefen Schlaf seinen Ausdruck gefunden. Erwachen zum einen, weil die nationalistischen Bewegungen in Europa nach jenen in Amerika einsetzen – d.h. erst ihrem ‚tiefen Schlaf‘ entrissen werden mussten. Zum anderen, weil die Trägerschicht der Bewegung – die gebildete Oberschicht – meist nicht die jeweilige Landessprache verwendete, sondern die Kultursprachen des 18. Jahrhunderts (wie Französisch, Deutsch, etc.) pflegte und das neue Prinzip der Deckungsgleichheit von Nationalgebiet und Nationalsprache nun als etwas, das sie zwar tief in sich trug, das aber erst wiederentdeckt bzw. geweckt werden musste, inszenierte. Dieses Prinzip wurde als 14 Im Gegensatz dazu steht die Auffassung Hobsbawms, dass die Nation in Europa entstanden sei (Hobsbawm 2005: x).
15 ‚Indianer‘ ist der Begriff, der in der deutschen Übersetzung von Anderson (2005) verwendet wird.
16 Wie Wink (2009: 50) anmerkt, hat Anderson hier keine kausale Abfolge der Nationenbildung (Amerika → Europa → Amerika) im Sinne, sondern eine rein zeitliche Abfolge.
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weit in die Vergangenheit zurückreichende Kontinuität verstanden. Im Gegensatz dazu trug in Amerika zwar die kulturelle und linguistische Verbundenheit mit den Mutterländern zum Wunsch nach Unabhängigkeit (etwa aufgrund der Benachteiligung von Kreolen in Beamtenpositionen) bei; Sprache an sich konnte jedoch nicht als Basis für die Vorstellung von der Nation dienen. Denn das ‚Erwachen‘ der amerikanischen Sprachen sowie das Postulieren einer Kontinuität bis weit in die Vergangenheit zurück hätte bedeutet, dass indigene Sprachen zur Sprache der Nation werden hätten müssen. Gerade dies stand jedoch im Falle Hispanoamerikas den Interessen der kreolischen Oberschicht entgegen, die kulturell an Europa gebunden war17. Anders verhält sich der Fall, eine gemeinsame Geschichte in die Vergangenheit zurück zu verlängern, sodass sie als Nationalgeschichte verstehbar wird. In Europa wie in Amerika (nach 1830, d.h. nach erlangter Unabhängigkeit18) wird der Versuch unternommen, sich als Nation an bestimmte als Gemeinschaft geteilte Erfahrungen zu erinnern, wobei zum einen bestimmte historische Figuren zu Nationalfiguren/-helden werden, auch wenn diese in ganz anderem Interesse gewirkt hatten, und zum anderen bestimmte Ereignisse ausgeblendet (‚vergessen‘) werden müssen (z.B. Bürgerkriege), damit die Nation als Gemeinschaft zeitlich zurück projiziert werden kann. (Anderson 2005: 196-200) Kritik/Einwände Einwände und Kritik am konstruktivistischen Ansatz zur Nationenbildung wurden von vielen Seiten geäußert. Vor allem die sogenannten ‚ethno-symbolists‘ äußerten Zweifel daran, dass das Phänomen des Nationalismus ausschließlich ein Phänomen der Moderne sei, da sie von einer Kontinuität von Zugehörigkeitsgefühlen, unabhängig von der Staatsform ausgehen. Smith19 ist es auch, der den Konstruktivisten entgegnet, dass die Nation kein beliebiges kreatives Konstrukt, keine bloße Erfindung sein könne. Gegen diese Annahme spreche das ‚reale‘, stark ausgeprägte Gefühl der Zugehörigkeit Einzelner zur Nation und deren im Alltag verwurzelte nationale Identität – ohne, dass diese zwingendermaßen nationalistisch gesinnt wären. Auch hätte die Nation20 unmöglich historisch und international dermaßen erfolgreich und wirkmäch17 Anderson (2005: 198) nennt einige wenige amerikanische Beispiele für eine sprachliche Abgrenzung zu den Mutterländern (z.B. den Versuch Paraguays, Guaraní als Nationalsprache zu etablieren). 18 Diese Charakteristika können in den Unabhängigkeitsbewegungen nicht belegt werden. 19 An Smiths Ansatz ist wiederum kritisiert worden, dass Gefühle der Zusammengehörigkeit nur schwer bis in die weit zurückreichende Vergangenheit nachgeprüft werden können. Smith zeigt in seinen Werken Verbindungslinien von der modernen Nation bis in die Antike. Wie Kahlweiß (2011) mit Bezug auf Markus Banks erläutert, kann nur schwer abgeschätzt werden, welche Art des Zugehörigkeitsgefühls historisch vorhanden war und ob und inwieweit sich Zugehörigkeit und Identität gewandelt haben, selbst wenn von der Antike an stets dieselbe Selbstbezeichnung eines Volkes vorhanden war. Schließlich erlaube die Datenlage an Überlieferungen zu Zugehörigkeitsgefühlen keine historisch nachprüfbaren Belege, um die postulierte Kontinuität von nationaler Identität eines Volkes nachzuprüfen. (Kahlweiß 2011: 82, 83) 20 Ein ähnlicher Einwand wurde gegen die zumindest teils als ‚erfunden‘ bezeichneten Traditionen bei Hobsbawm (2005) vorgebracht.
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tig sein können, wäre sie eine bloße Erfindung. Hatten sich konstruktivistische Theoretiker, so etwa Gellner21 oder Hobsbawm (2005) darauf konzentriert zu zeigen, dass nationalistische Ideologien konstruiert sind (im Wesentlichen bestehend aus der Prämisse, dass politische und nationale/ethnische Einheiten zusammenfallen müssten), so ging Anderson (2005) mit der Annahme, die Nation als Konzept und Gebilde sei an sich konstruiert und entspringe der Vorstellungskraft ihrer Mitglieder, einen deutlichen Schritt weiter. (Vgl. Kiani 2011: 88) Nicht zuletzt die imagined community hat Andersons Konzept der Nation stärker als andere konstruktivistische Ansätze in die Nähe der Beliebigkeit gerückt, was ihm den Vorwurf eingebracht hat, die Nation mitsamt all ihren realpolitischen Auswirkungen könne keinesfalls ein Produkt freier, beliebiger Vorstellungskraft der Nationsangehörigen, d.h. frei erfunden, sein. Die Kriege, die im Namen der Nation geführt wurden und deren Opfer seien viel zu real, um von der Nation als etwas beliebig Erfindbarem sprechen zu können22. (Kahlweiß 2011: 80-82) Breuilly (1985) gibt zu bedenken, dass Andersons Erklärungen auf der Ebene des sozialen Bewusstseins angesiedelt sind. Sein Ansatz beschränke sich zu sehr auf die kulturellen Prozesse der Nationenbildung und blende politische Fragen geradezu aus: „[…] Anderson conflates the conditions for the development of a cultural sense of nationality (mainly at an elite level) with those for the emergence of an effective nationalist politics.“ (Breuilly 1985: 75). Ohne das Streben nach Macht sowie ohne Fragen nach politischer Herrschaft, sei Nationalismus nicht zu erklären. Kulturelle Faktoren, die nicht mit diesen Fragen verbunden werden, greifen aus Breuillys Sicht zu kurz. (Mergel 2005: 293) Die Frage nach dem Faktor Macht führt zu einem weiteren Kritikpunkt an Andersons Arbeiten: der Vernachlässigung des Faktors Gewalt, der mithilfe des kapitalistischen Druckwesens und der Sprache alleine nicht zu erfassen sei. Indem sich Anderson auf das Innere der Nation konzentriere, blende er Fragen der Abgrenzung, der Exklusion, die Identitätsbildungsprozessen innewohnt, ja des damit verbundenen Gewaltpotenzials, aus. Anderson habe sich fast ausschließlich mit der Konstruktion nationaler Identität innerhalb der Nation befasst und so die Konstruktion des Anderen, des Außen, der feindseligen Abgrenzung von anderen Nationen und dadurch das 21 Gellner kritisiert die Auffassung, dass es in der Vormoderne bereits Nationen gegeben habe, die eine unabhängige, als national zu verstehende Kultur aufgewiesen hätten – dazu sei die kulturelle Diversität zu stark ausgeprägt gewesen bzw. hätten die verschiedenen Formen der Volkskultur in Agrargesellschaften die Verbindung von Politik und (homogener) Kultur verhindert. Aus Kulturen seien vielmehr erst Nationen gemacht worden, indem ein Prozess der Homogenisierung, der in Industriegesellschaften zu beobachten sei, bestimmte kulturelle Bereiche verdrängt habe und zugleich politisch bedeutsam geworden sei. Erst mit der Zuschreibung von politischer Relevanz konnten homogenisierte Kulturen das kulturell-politische Gebilde der Nation erzeugen. (Ionescu 2011: 49, 51) 22 Selbst Gellner, der sich zu den modernistischen Nationalismustheoretikern zählen lässt, kritisiert an Anderson, die Nation könne nicht als etwas Erfundenes, etwas Falsches, Künstliches konzipiert werden (Kiani 2011: 88). Gellner vertritt seinerseits die These, dass an der ‚Erfindung‘ und Verbreitung der Nation maßgeblich Intellektuelle beteiligt waren, was ihm Kritik von Hobsbawm und Anderson einbrachte, die einen Volksnationalismus in ihren Ansätzen berücksichtigen (Mergel 2005: 285, 287).
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Gewaltpotenzial bei der Entstehung von Nationen vernachlässigt. Aber auch die Unterdrückung von sozialen Gruppen innerhalb der Nation, die im Zuge der Konstruktion eines nationalen ‚Wir‘ erfolgen kann, fand kaum Eingang in Andersons Ansatz. (Mergel 2005: 292-295) Die Nation sei nicht nur Produkt kultureller Prozesse, sondern auch von Kriegen (Kiani 2011: 94, 95). Wehler (2007) kommt zu dem Urteil, dass konstruktivistische Ansätze zwar Fragen nach der Legitimität der Nation gut erfassen können, nicht-sprachliche Faktoren der Nationenbildung (‚realhistorische‘ Bedingungen), wie Kriege und Revolutionen, jedoch zur Gänze außen vor lassen (Wehler 2007: 10). So stellt auch Mergel (2005) die provokante Frage: „Sind es diese Phantasien, die Nationen schaffen, oder ist es die Gewalt, die die Menschen in politische Verbände hineinzwingt?“ (Mergel: 2005: 294). Ähnlich verhalte es sich mit wirtschaftspolitischen Fragen23 und der wirtschaftlichen Konkurrenz zwischen Nationen – auch diese Faktoren (die z.T. wiederum von Macht und Gewalt bestimmt sind) bleiben in Andersons Ansatz unberücksichtigt, auch wenn eine der wichtigsten Bedingungen für das Entstehen von Nationen bei Anderson – der Printkapitalismus – ein Argument ökonomischer Prägung ist. Selbst hier aber beschränkt sich Anderson auf den Buchmarkt, während Gellner Nationalismus als eine Folge des Übergangs von Agrar- zu Industriegesellschaften24 insgesamt bewertet. (Ionescu 2011: 45, 49; Mergel 2005: 294) Auch Hroch weist mit seiner Kritik an Andersons Ansatz in eine ähnliche Richtung. Eine erhöhte Dichte an Kommunikation alleine hätte in seinem Ansatz noch keine eindeutige Verbindung zur Nationenbildung erkennen lassen. Erst wenn diese mit ‚national relevanten Interessenskonflikten‘ einherging, also anfänglich ökonomi23 Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang das in der von Hobsbawm als ‚klassische Periode des liberalen Nationalismus‘ bezeichnete Gebot des ‚Nationalitätenprinzips‘, d.h. der z.T. bis heute vertretenen Ansicht (vgl. etwa die Debatte um die Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien), dass die Bildung von Nationen nur ab einer bestimmten Größe des Territoriums, der Bevölkerung, aber v.a. auch der wirtschaftlichen Macht gelinge. (Vgl. Hobsbawm 2005: 43, 44) 24 Bei Gellner charakterisiert sich die Industriegesellschaft (die er ab Ende des 18. Jahrhunderts im Entstehen begriffen sieht) durch den Wachstums- und Fortschrittsgedanken als bestimmende Größe und Legitimationsfaktor von Herrschaft an sich. Ähnlich wie später bei Anderson, sind die Kenntnis von Schrift sowie die beschleunigte, gleichzeitige Kommunikation über große Regionen hinweg Bedingungen für das Entstehen von Industriegesellschaften und schließlich von Nationen. Besonders zentral ist bei Gellner daher die allgemeine Schulbildung. Gellner versteht die Transformation der Ökonomie und der Wirtschaftsbeziehungen als Auslöser für eine Neuordnung der Beziehung zwischen Staat und Kultur: Beide müssen zentralisiert und homogenisiert werden, um den Anforderungen der modernen Ökonomie gerecht zu werden. Kulturelle Homogenität wird in weiterer Folge zum Nährboden für die Entstehung der Nation. Für diesen eindeutig postulierten Zusammenhang zwischen Industrialisierung und Nationenbildung ist Gellner stark kritisiert worden: Gellner vernachlässige damit nicht nur andere relevante Entstehungsfaktoren, sondern auch empirische Gegenbeispiele, in denen Nationalismus vor Einsetzen der Industrialisierung (Italien, Mexiko, Japan, etc.) bzw. eine die Industrialisierung ablehnende Form des Nationalismus (Indien, Russland, etc.) zu beobachten seien. (Gellner 2008; Ionescu 2011: 49-52, 56; Breuilly 1994: 29, 30)
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sche, soziale oder sonstige Konflikte unter nationalen Vorzeichen diskutiert wurden, war die Kommunikationsdichte in Hrochs Studie signifikant. (Eser 2011: 68) Des Weiteren kritisiert auch er, dass die Nation mehr als nur ‚Mythos‘ sei (Ionescu 2011: 57). Er plädiert dafür, den historischen Kontext der Nationenwerdung zu berücksichtigen, die historisch ‚real existierenden‘ Ereignisse und Elemente als Grundbestandteile der Nationenbildung zu verstehen, auf die schließlich selbst bei der Erfindung von Traditionen zurückgegriffen werde: „Intellectuals can ‚invent‘ national communities only if certain objective preconditions for the formation of a nation already exist.“ (Hroch 1993: 4). Als sogenannte ‚objective preconditions‘ gelten für ihn sämtliche wirtschaftliche, politische, sprachliche, kulturelle, religiöse, geographische und historische Beziehungen in einer sozialen Gruppe. Nationale Identität sei also nicht frei erfunden, sondern knüpfe an bestehende Identitäten an. (Eser 2011: 67, 69) Selbst wenn die Bedeutung, Geschichte und Form von Traditionen erfunden sei bzw. eine Selektion, Umdeutung, Umwertung, Verfälschung von Traditionen erfolge, so müsse man doch auf Bestehendes zur Konstruktion derselben zurückgreifen. Aus dieser Sicht komme die Nation schließlich nicht ohne ‚real existierende‘ Ereignisse und Elemente aus, selbst wenn man ihren konstruktiven Charakter akzeptieren möchte. (Mergel 2005: 294) Demgegenüber meinen Befürworter/innen des Ansatzes von Anderson, die Nation sei auch bei Anderson nicht als etwas Falsches, rein Erfundenes oder beliebig Konstruierbares gefasst worden. Wenn er die Nation als ‚vorgestellt‘ bezeichnet, bezweifle er vielmehr den Status aller Gemeinschaften, die über Face-to-face-Kontakte hinausgehen. Da sich die Mitglieder dieser Gemeinschaften nicht persönlich kennen (können), sei die Art der Zusammengehörigkeit stets vorgestellt, sie entstehe in den Köpfen ihrer Mitglieder. Die Nation sei deswegen aber weder täglich neu erfindbar noch beliebig wandelbar, sie sei eine spezielle Form der Vergesellschaftung, die sich unter spezifischen historischen Bedingungen herausgebildet habe, aber nicht auf ‚realen‘ Gemeinschaften aufbaue, sondern auf der Vorstellung von ihrer Gemeinschaft. (Kiani 2011: 88) Die Vorstellungen von der Nation bleiben dabei keineswegs auf das Gebiet der Phantasie beschränkt: Sie wurden zum prägenden Faktor für die Wirklichkeit, ja haben diese geradezu (ideologisch und handlungsanleitend) bestimmt25 (Mergel 2005: 289). Ideen können unabhängig von ihrem (historischen) Wahrheitsgehalt zu ‚realer‘ politischer Macht werden, wenn sie auf entsprechende Unterstützung und/oder Verbreitung stoßen, wie Wehler (2007: 45) mit Bezug auf Ludwig August von Rochau formuliert. Gerade die Frage, wie sich ein Konzept, das der (bloßen) Vorstellung von einer Gemeinschaft entspringt, materiell verankern und in der Realität als derart wirkmächtig erweisen konnte, stehe im Zentrum seines Ansatzes (Kiani 2011: 85). Zu Andersons These (2005: 55-58), die Unabhängigkeitsbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts in Spanischamerika seien bereits als Erhebungen unter nationalen Vorzeichen zu sehen, ist folgende Kritik geäußert worden: Bei Anderson (2005: 59) steht die Beobachtung im Zentrum, dass die neu entstandenen Republiken Hispa-
25 Dass Gellners Ansatz trotz konstruktivistischer Perspektive der Annahme, es gäbe ‚reale‘ Gemeinschaften verpflichtet bleibt, ist wiederum Teil der Kritik Andersons an Gellner (Ionescu 2011: 57).
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noamerikas weitgehend den kolonialen Verwaltungseinheiten der audiencias26 entsprechen. Wenngleich Anderson (2005: 71) einräumt, dass die freiheitlichen Ideen der Aufklärung und ökonomische Faktoren für das Entstehen der Unabhängigkeitsbewegungen ausschlaggebend waren, so können sie alleine noch nicht erklären, warum sie ausgerechnet die Grenzen der heutigen Nationalstaaten sowie eine national definierte mexikanische, peruanische, argentinische etc. kollektive Identität hervorrufen sollten, die sich auch in Abgrenzung zu den Nachbarländern versteht. Zwar, so Anderson (2005: 60), bringen wirtschaftliche oder administrative Einheiten per se kein Gefühl der Zusammengehörigkeit hervor. Dennoch glaubt er nicht an eine zufällige, grobe Deckungsgleichheit zwischen den kolonialen audiencias und den heutigen Nationalstaaten. Die Verwaltungsräume sind für die Herausbildung eines Gemeinschaftsgefühls insofern von Bedeutung als die durch verschiedene Gebiete des Herrschaftsraums reisenden Funktionäre27 ein Wir-Gefühl auszubilden vermochten. Für die Kreolen Hispanoamerikas kommt hinzu, dass ihr Betätigungsfeld in der Administration auf die Ebene der audiencia beschränkt war. So mussten sie erfahren, dass „[…] ihre Gemeinschaft nicht nur aus besonderen beruflichen Grenzen resultierte, sondern auch aus dem gemeinsamen Schicksal einer transatlantischen Herkunft.“ (Anderson 2005: 64), waren sie in kultureller, religiöser Hinsicht doch kaum von den auf der Iberischen Halbinsel geborenen Untertanen und Funktionären unterschieden. Gerade der für die späteren Republiken relevante Raum der audiencia entsprach also jenem Territorium, in dem die Funktionäre der Kolonialverwaltung, die in Amerika geboren wurden wirken durften – bis zu den Bourbonischen Reformen, muss dem hinzugefügt werden. (Anderson 2005: 60-67) Andersons (2005) These von der frühen Entstehung der Nation schon im 18. Jahrhundert wird allerdings nur von wenigen Forschern28 geteilt. Es besteht in der Forschung keine Einigkeit darüber, ab wann im Gebiet des Río de la Plata von nationaler Identität gesprochen werden kann. In der überwiegenden Mehrzahl der Studien zur Konstruktion der Nation am Río de la Plata wird diese These, die ihren Fokus auf den Printkapitalismus und die kreolischen Funktionäre29 als treibende Faktoren der Nationenbildung legt, angezweifelt. Dies vor allem aus den folgenden Gründen: Sie erklärt nicht, weshalb die Unabhängigkeitsbewegung gerade zu jenem Zeitpunkt in Gang gesetzt wurde, als Napoleon 1808 den spanischen König entthronte, wenn bereits zuvor Bestrebungen nationaler Gemeinschaften, sich zu emanzipieren, bestanden hätten, wie dies Anderson (2005) annimmt. Sie kann auch die Loyalität zu Ferdi-
26 Die audiencias waren Verwaltungsorgane zur politischen Kontrolle und zur Erfüllung administrativer Aufgaben in Form von Appellationsgerichtshöfen, die hierarchisch unter den Vizekönigen standen und für die Krone bedeutsame Instanzen zur Zentralisierung und Kontrolle in den Kolonien darstellten (Rinke 2010: 29, 30). 27 Aufgrund der bourbonischen Reformen traten den Beamten der audiencias (von denen bis zu einem Drittel Kreolen waren) die iberischen Beamten der ab 1782 gegründeten intendencias als Konkurrenz entgegen (Wink 2009: 80, 81). 28 Auch bei Lynch (2001: 104-106) findet sich die Annahme, dass es bereits im 18. Jahrhundert zur Ausbildung eines kreolischen Nationalismus kam. 29 Laut Guerra (2003: 5) ist das Argument unhaltbar, da deren Einflussbereich territorial nicht wie bei Anderson beschrieben begrenzt war.
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nand VII. sowie die Bezüge zu América30 der ersten Jahre der Unabhängigkeitsbewegungen, vielmehr als zu einer bestimmten Nation, nicht erklären. Und sie liefert keine Erklärung dafür, weshalb die Nationenbildung eine der größten Schwierigkeiten nach erlangter Unabhängigkeit in Hispanoamerika war, die sich über weite Teile des 19. Jahrhunderts erstrecken sollte. (Guerra 2003: 4) Wie Halperín Donghi (2003) festhält, waren die territorialen Einheiten, die sich in der argentinischen Unabhängigkeitsbewegung isolieren lassen, auf die Provinz zugeschnitten, nicht auf die heutige Nation. Die Provinzen wurden zu diesem Zeitpunkt häufig als ‚patria‘ bezeichnet. (Halperín Donghi 2003: 38) Wink (2009) meint hingegen, dass die audiencias „[…] möglicherweise als zentrale Ordnungsstelle aller gesellschaftlichen Belange die Umrisse der vorgestellten Gemeinschaft mitgeformt haben – auch wenn dieser Rahmen nicht undurchlässig war.“ (Wink 2009: 81). Wie weiter oben dargestellt, war dies zumindest bis zu den Bourbonischen Reformen jene Verwaltungsebene, in der ein hoher Kreolenanteil zu verzeichnen war. Im Unabhängigkeitsprozess selbst war jedoch die Stadtebene (cabildo), auf die die Kreolen nach den Bourbonischen Reformen beschränkt worden waren, Ausgangspunkt der Erhebung. (Wink 2009: 81) Chiaramonte (1989) weist demgegenüber darauf hin, dass um 1810 über die Provinzebene hinaus weder von einer Gesellschaft, einer Wirtschaft noch einem Markt auf ‚nationaler‘ Ebene gesprochen werden kann. Es gab keine soziale Schicht – auch kein kapitalistisches Bürgertum –, die räumlich über das gesamte heutige Staatsgebiet miteinander verbunden gewesen wäre. (Chiaramonte 1989: 72) Dass die Unabhängigkeitsbewegungen mehrheitlich nicht als nationale Emanzipationsbewegungen betrachtet werden, soll aber nicht mit dem Fehlen jeglicher kollektiver Identität gleichgesetzt werden, wie Miller (2007) zu bedenken gibt. Die bestehenden Loyalitätsbeziehungen und politische Gemeinschaften implizierten allerdings keine Forderung nach politischer Selbstbestimmung und Unabhängigkeit (Freiheit der Nation). Neuere Beiträge zur Nationalismusforschung im Überblick In den letzten Jahren ist aus der Kritik an einem rein konstruktivistischen Ansatz zur Nationalismusforschung ein neuer Forschungsstrang entstanden, sodass wir heute im Wesentlichen von drei Paradigmen sprechen können, wenn diese auch intern nicht auf einen Nenner gebracht werden können und keine in sich homogenen Forschungsstränge bilden. Zugänge, die sich als Mittelweg zwischen Essentialismus und Konstruktivismus präsentieren, unterstreichen meist, dass nationale Identität sowohl auf realen wie auch fiktiven Gemeinsamkeiten einer Gruppe beruht (Salzborn 2011: 11; Bergem 2011: 177; Larrain 2000: 37-39; Calhoun 2006: 16). So geht Calhoun (2006: 16) zwar davon aus, dass Nationalismus und Nationen solange nicht bestehen als sie nicht diskursiv erzeugt werde. Doch „[…] nations conjured out of talk and sentiment are also ‚real‘ material structures of solidarity and recognition. To say that nationalism is part of a social imaginary is not to say that nations are mere figments of the imagination to be dispensed with in more hardheaded analyses. [Anführungszeichen im Original]“ (Calhoun 2006: 16)
30 Die Unabhängigkeitskämpfer hatten zudem oftmals in mehreren heutigen Nationen für deren Emanzipation gewirkt (Wasserman C. 2011: 100).
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Außerdem erleichtern Gemeinsamkeiten in Sprache und Kultur die diskursive Konstruktion einer Nation, wenn sie auch nicht hinreichend als Erklärung für die Entstehung von Nationalismus ins Treffen geführt werden können, so Calhoun (2006). Denn Gesellschaften als begrenzte, homogene Ganzheiten mit jeweils unverwechselbaren nationalen Identitäten, Kulturen und Institutionen aufzufassen, sei problematisch – Nationalismus sei zumindest teilweise immer auch Produkt einer Konstruktion, die der Nation erst zu ihrer nationalen Geschichte verhelfe. (Calhoun 2006: 28, 32) Dem scheint auch Wehler (2007) beizupflichten, wenn er feststellt, dass die Nation ein flexibles Konstrukt sei, das „immer wieder neu definiert und mit neuem Inhalt aufgeladen werden kann.“ (Wehler 2007: 10). Aber auch Wehler (2007) kritisiert an konstruktivistischen Ansätzen, dass sie dazu tendieren, sogenannte ‚realhistorische‘ Begebenheiten zu vernachlässigen. (Wehler 2007: 10) Bergem (2011: 177) betont, dass auf Fiktion beruhende nationale Gemeinschaften eine reale Wirkungskraft entfalten. „Die wie auch immer zugeschriebenen, produzierten, konstruierten oder inszenierten nationalen Identitäten beginnen als soziale und politische Tatsachen – wie alle sozialen Phänomene, die stets als Produkte einer gesellschaftlichen Konstruktionen [sic] von Wirklichkeit ausgewiesen werden können – konkrete Wirkungen zu zeitigen, sobald sie von gesellschaftlichen und politischen Akteuren als authentisch perzipiert und internalisiert werden und es damit auch aktuell sind.“ (Bergem 2011: 177)
‚Reale‘ Relevanz erfährt die Idee der Nation daher grundsätzlich erst, wenn sie gesellschaftlich vermittelt wird. (Bergem 2011: 177) Die handelnden Akteur/innen dürfen in der Analyse der gesellschaftlichen Vermittlung dabei nicht hinter die Idee der Nation zurücktreten, denn „[…d]er kulturelle Prozess der Identitätsbildung politisch verfasster oder auf politische Verfasstheit zielender Kollektive ist stets Gegenstand des politischen Konflikts um Deutungsmacht und Legitimation politischer Akteure oder Ordnungsformen.“ (Bergem 2011: 178). Salzborn (2011) meint, dass die Grundlage der Nation zwar fiktiv bzw. vorgestellt sein kann, die Gemeinschaft jedoch real in Erscheinung tritt und Handlungen und Entscheidungen auf dieser Basis trifft. In Anlehnung an Fromm (1989) argumentiert er, dass der Eindruck einer real erfahrbaren Nation dadurch verstärkt werde, dass das nationale Selbstverständnis auf einem gesellschaftlichen Konsens beruht. Gemeinschaftlich geteilte, mehrheitliche Anschauungen können Konstruiertes und Ideen als Wirklichkeit erlebbar machen, weil konsensuelle Meinungen häufig als Wahrheit perzipiert werden. (Salzborn 2011: 160) Kündigt sich der Mittelweg in der Replik Andersons auf seine Kritiker bereits an, so benennt Larrain (2000: 37) einen dritten Zugang zur Nationalismusforschung: den historisch-strukturellen Ansatz. Larrain (2000) hegt keinen Zweifel daran, dass Identitäten konstruiert sind, nennt aber neben dem Diskurs als konstruktives Element „the solidified practices of a people“ (Larrain 2000: 37). Wandel von Identitäten ist so zwar möglich, aber nur auf Basis von historisch-strukturellen Gegebenheiten, d.h. auf Basis ‚materieller‘ Gründe. Der historisch-strukturelle Ansatz bezweifelt, dass soziale Akteur/innen und politische Bewegungen nur durch den Diskurs hervorgebracht werden, geht aber nicht so weit wie der essentialistische Zugang anzunehmen, Nationen und nationale Identitäten seien (natürlich) gegeben. Er vermittelt dadurch zu-
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gleich zwischen den beiden Extremen eines Eliten- und Volksnationalismus. Während die meisten konstruktivistischen Zugänge davon ausgehen, dass nationale Identität von oben konstruiert wird (Tendenz zu Elitennationalismus), so wird nationale Identität im Essentialismus als bereits vorhanden, als Bündel gemeinsamer Werte, die aus der Vergangenheit stammen, verstanden (Tendenz, die Volksformen von Nationalismus überzubewerten) (Larrain 2000: 37; Johnson 1993: 183-185). Der historisch-strukturelle Ansatz geht, ähnlich wie Hobsbawm (2005) von einer Wechselbeziehung zwischen den elitären Nationsentwürfen und der nationalen Identität, die in den Traditionen, Sinnzuschreibungen und Mythen des Alltags breiter Bevölkerungsteile zu finden ist, aus. (Larrain 2000: 37-39) Dahinter steht die Überzeugung, die bei Richard Johnson (1993: 171) formuliert wird und auf die sich Larrain (2000) stützt, dass die Nation als Ideologie und damit als kritisierbare Anschauung und Gesinnung aufgefasst, nicht zulänglich erklärt werden kann, sie aber auch nicht mit dem Vorhandensein einer authentischen Volkskultur oder ‚Realität‘ allein verstanden werden kann. Diesen Aspekt kritisiert auch der vielzitierte Postkolonialismustheoretiker Homi Bhabha (1990) in seinen Ausführungen zum Zusammenhang von Nation und Narration: „[T]here is a tendency to read the Nation rather restrictively; either, as the ideological apparatus of state power, somewhat redefined by a hasty, functionalist reading of Foucault or Bakhtin; or in a more utopian inversion, as the incipient or emergent expression of a ‚national-popular‘ sentiment preserved in a radical memory. [Anführungszeichen im Original]“ (Bhabha 1990: 3)
Das Konzept der Nation scheint komplexer zu sein, es scheint von politischen Parteien genauso wie von alltäglichen kulturellen Praktiken der Nationsangehörigen, um nur zwei Elemente anzuführen, gespeist zu werden. Johnson (1993) geht davon aus, dass sich diese Elemente in ihrer Art und Beschaffenheit31 ähneln. Dass Elemente des Alltags authentischer (‚realer‘) seien als Elitenentwürfe der Nation, glaubt Johnson (1993) nicht: „There is no way either that popular, communal or private forms are closer to some authentic expression than are public representations, or any less a matter of representation itself. Each is equally conventional: structured by language and generic rules, whether of journalism, political rhetoric, letter-writing, or the conversational rules of particular social milieu or group. […] In public representations and in everyday lived culture, we find a mix of ‚realist‘ and fantasy elements, of discursive construction and emotional investment, of ‚interest‘ and imagination, of plan and wish. [Kursivierungen und Anführungszeichen im Original]“ (Johnson 1993: 171, 172)
Laut Johnson (1993) ist es aber nicht die Summe aller nationalen Elemente (von ‚unten‘ wie von ‚oben‘), die gemeinsam das Bild der Nation prägen (Johnson 1993:179). Die Komplexität nationaler Identität besteht darin, dass Identitäten in einem kompetitiven Prozess gebildet werden, der von Verfahren der Selektion, der 31 Dies soll aber nicht bestehende Machtbeziehungen verschleiern oder darüber hinweg täuschen, dass nicht alle Elemente dieselben Chancen auf Durchsetzung und Zugang zum öffentlichen Raum haben (Johnson 1993: 173).
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Bewertung und der Naturalisierung begleitet wird, die weiter unten näher erläutert werden (Johnson 1993: 195-217). Anders als bei Hobsbawm postuliert Johnson (1993: 171) keine Zweiteilung eines Nationalismus von ‚unten‘ und eines Nationalismus von ‚oben‘ (d.h. eines Volks- und eines Elitennationalismus), sondern begreift die Bildung von nationaler Identität als einen (idealtypischen) Kreislauf. Wie könnte dann nach diesen Erkenntnissen neuerer Theorien zu Entstehung und ‚Wesen‘ der Nation die Herausbildung und Aktualisierung nationaler Identität konkret vonstattengehen, wenn nicht davon ausgegangen werden soll, dass diese entweder ohnehin im Volk verwurzelt ist oder von einer Elite geschaffen und anschließend von den Nationsangehörigen aufgenommen wird?
N ATION – I DENTITÄT – E RZÄHLUNG Ohne hier einen Überblick über Entwicklung und unterschiedliche Bedeutungen des Identitätsbegriffes (schon gar nicht in den einzelnen Disziplinen) liefern zu können, sollen doch zunächst einige Aspekte zur Begrifflichkeit selbst angesprochen werden. Larrain (2000: 24) macht darauf aufmerksam, dass im Zusammenhang mit Nationenbildungsprozessen v.a. der Begriff der qualitativen Identität32 von Relevanz ist. Er bezeichnet eine Eigenschaft oder ein Bündel an Eigenschaften, mit denen sich ein Individuum oder eine Gruppe eng verbunden fühlt. Wie schon anhand des Konzepts der Nation diskutiert, besteht auch hier Uneinigkeit darüber, ob diese Eigenschaften angeboren (natürlich) sind oder von der sozialen Umgebung mitbestimmt werden, wobei laut Larrain (2000: 24) seit den Schriften von Karl Marx sowohl in der Soziologie als auch in der Sozialpsychologie die sozialen Erwartungen anderer bei Identifikationsprozessen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt sind. Larrain (2000) selbst geht davon aus, dass es vor allem drei Elemente sind, die den sozialen Prozess der Identitätskonstruktion bestimmen: 1. gemeinsame soziale Kategorien, 2. materielle Elemente und 3. die Existenz anderer. Mit gemeinsamen sozialen Kategorien sind jene Bereiche angesprochen, die auch bei der Nationenbildung immer wieder ins Treffen geführt werden: Ethnizität, Nationalität, aber auch Religion, Beruf, Gender, Klasse oder Affektivität. Im Gegensatz zum Essentialismus werden diese Kategorien bei Larrain (2000: 24) aber als kulturell bestimmt gefasst: „In this sense it can be affirmed that culture is one of the determinants of personal identity.“ (Larrain 2000: 24)33. Mit materiellen Elementen sind sowohl der Körper als auch all jene Besitztü-
32 Larrain bezieht sich hier auf den Begriff, so wie ihn E. Tugenhat (1996) geprägt hat (Larrain 2000: 211).
33 Einen etwas anderen Ansatz hat Wilhelm Dilthey schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts formuliert. Darin denkt er die Einheit des Individuums (‚Selbigkeit‘) in Relation zur „äußere[n] Wirklichkeit des Geistes“ (Dilthey 1981: 304), darunter vom „flüchtigen Wort“ (Dilthey 1981: 304) bis hin zu „Rechtsordnungen und Verfassungen“ (Dilthey 1981: 304) sämtliche Zusammenhänge zwischen dem Einzelleben und etwa „Religion, Kunst, Staat, politische und religiöse Organisationen“ (Dilthey 1981: 304). Geschichte erscheint so als aus Wirkungszusammenhängen zwischen Individuum und historischer Welt bestehend. (Dilthey 1981: 304) Für den Hinweis danke ich Christopher F. Laferl.
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mer gemeint, die das Possessivpronomen ‚mein‘ zulassen und so im Bereich der Selbstbestätigung angesiedelt sind. Persönliche Identitäten können zudem nicht ohne die Anerkennung von anderen bestehen und werden von den Erwartungen anderer beeinflusst, die in die Eigenerwartung intergriert werden, sofern es sich um für das Individuum bedeutsame andere (etwa Eltern, Freunde, Autoritäten, etc.) handelt. (Larrain 2000: 25-27 Dieser Aspekt führt zur Frage, inwiefern persönliche Identitäten mit nationaler Identität als Form kollektiver Identität in Verbindung stehen. Wenngleich Individuen über kollektive Identitäten mit einer Gruppe verbunden sind, ja ihre persönliche Identität nicht ohne Referenz auf ihre soziale Umgebung denkbar ist, so wirken sie individuell an der Konstruktion des Kollektivs mit. Trotz ihrer gegenseitigen Bedingtheit, so warnt Larrain (2000: 31), ist es nicht zulässig, von psychologischen Eigenschaften des Individuums auf das Kollektiv zu schließen, d.h. Charakterzüge auf kulturelle Identitäten zu übertragen, so wie das etwa in Studien zum Nationalcharakter (z.B. bei Margaret Mead, Ruth Benedict, Ralph Linton, etc.) geschehen ist. Nicht nur, dass es sich hierbei um Übergeneralisierungen handelt, die keineswegs für alle Nationsangehörigen zutreffen (können), ist laut Larrain (2000: 32) zu kritisieren. Auch, dass es damit unmöglich wird, kulturelle Unterschiede zu fassen, sei ein großer Nachteil dieser theoretischen Annahme: „What does it mean to say that courage belongs to the Chilean national character, when exactly the same is said of the Venezuelan character, the British character, the North American character, the German character, and so on? […] Optimism, sadness, sensitiveness, courage, indolence, sensuality and so on cannot be essential characteristics of the ‚psychic structure‘ of any one people. It is a mistake to ontologize for a collective what are individual psychological traits. [Anführungszeichen im Original]“ (Larrain 2000: 32)
Wie lässt sich nun nationale Identität als Form kollektiver/kultureller Identität genauer bestimmen? „Cultural identities work by producing meanings and stories with which individuals can identify. The more important the role of a collective identity for the construction of personal identities, the greater the appeal of meanings and narratives which are created to interpelate individuals so that they identify with them. The nation is a very special case in this respect because it has demanded and achieved a degree of commitment on the part of its members which is unparalleled by other cultural identities.“ (Larrain 2000: 33, 34)
Ähnlich wie Anderson vertritt Larrain (2000) die Auffassung, dass nationale Identität eine stärkere Solidarisierung34 von dem ihr zugehörigen Kollektiv verlangt, die bis zum Tod des Individuums für die Nation reicht und in diesem Ausmaß für andere kollektive Identitätskategorien wie Gender, Alter, Klasse, etc. nicht zutrifft35. Zudem
34 In Bezug auf Fundamentalismus und der politischen Instrumentalisierung von Religion wäre dies eventuell neu zu überdenken.
35 Vgl. dazu auch Johnson (1993): „Versions of the nation have a key role, indeed, in helping to transform and reproduce these differences and inequalities […] National identity is a
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scheint sie – ob explizit oder implizit – mit anderen Identitätskategorien eng verbunden zu sein36. Larrain (2000: 33) weist darauf hin, dass Gruppenidentitäten weder statisch, noch miteinander unvereinbar sind, sondern sich die Zugehörigkeiten zu den verschiedenen Identitätskategorien überlappen. Nicht alle erfordern dabei eine klare Zuordnung. Während sich das Individuum Nation und Gender nur schwer entziehen kann, so können andere Identitätskategorien wie Religion für das einzelne Individuum irrelevant oder zumindest zweitrangig sein. (Larrain 2000: 33) Um das Konzept der nationalen Identität noch etwas zu präzisieren, seien die Ausführungen Larrains (2000) durch Bergems (2011) Bemerkungen zur nationalen Identität ergänzt. Bei Bergem (2011) bezeichnet nationale Identität die verbindenden Elemente der Nationsangehörigen, die gleichzeitig als Differenzmerkmale zu anderen Nationen gelten. Er verweist ebenfalls auf den engen Zusammenhalt zwischen persönlicher und kollektiver Identität, merkt jedoch an, dass nationale Identität in den Beziehungen zwischen den Nationsangehörigen besteht und nicht als (persönliche) Identität einer Entität – der Nation als personenähnlichem Wesen – gefasst werden kann. Damit nationale Identität wirkmächtig wird, muss sie gesellschaftlich vermittelt werden: „Daher kann von der Nation als einer bloßen Idee zunächst kaum Prägewirksamkeit für individuelle Identitäten ausgehen; sie wird erst identitiv relevant in ihrer gesellschaftlich vermittelten Präsenz.“ (Bergem 2011: 177). Gerade dem Aspekt der gesellschaftlichen Vermittlung von Identität versucht Richard Johnson (1993) in seiner Kulturtheorie der Nation Rechnung zu tragen. Einzelne Identitätselemente werden bei Johnson (1993: 173) theoretisch als Artikulationen37 („the making explicit of an idea or experience“ (Johnson 1993: 173)) gefasst. Es handelt sich dabei um Bestandteile nationaler Identität, die in irgendeiner Form (ob im privaten oder öffentlichen Raum) kommuniziert, also artikuliert werden. Nicht alle Elemente erfahren dabei einen „highly-articulated“ (Johnson 1993: 173) Status. Diesen erreichen vorwiegend Elemente, die eine große soziale Reichweite aufweisen, also meist Artikulationen, die von Institutionen oder Organisationen (Gerichtshöfen, Parlamenten, Universitäten, v.a. naturwissenschaftlichen Forschungszentren, Massenmedien, Schulsystemen, Museen, etc.) ausgehen oder aufgegriffen werden (Johnson 1993: 174). Neben diesen öffentlichen Elementen mit großer Reichweite nennt Johnson (1993: 174, 175) implizitere, aber meist konkrete Elemente nationaler Identität, die näher am Alltag der Nationsangehörigen angesiedelt sind, etwa in Gesprächen im Supermarkt, in Bars, etc. Um die Verbundenheit von Eliten- und Volksnationalismus sowie die gesellschaftliche Vermittlung von Identität in einem theoretischen Modell zu konzipieren und so ein Analyseschema zu gewinnen, das den Erkenntnissen der jüngeren Natiometa-discourse or grand narrative that regulates or polices other identifications.“ (Johnson 1993: 179, 208). 36 Zur Frage, wie einzelne Identitätskategorien miteinander verbunden sein können, vgl. Bergem (2011: 179). 37 Neben der Artikulation spielt in Johnsons Kulturtheorie der Nation der Begriff der Anerkennung (‚recognition‘) eine zentrale Rolle, da er zugleich die Beziehung zu Macht und Begehren miteinschließt. „Indeed misrecognition seems a built-in probability of recognition processes since they are never simply communicative but are always crossed with power and desire.“ (Johnson 1993: 208).
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nentheorie gerecht wird, bildet Larrain (2000) Johnsons (1993) Kulturtheorie der Nation graphisch ab. Graphik 1: Kreislauf der Identitätsbildung
Quelle: Larrain 2000: 36
Das Modell unterscheidet zwischen einer öffentlicher Sphäre (der offiziellen Version nationaler Identität) und sozialer Basis (den Alltagsformen nationaler Identität) und möchte zeigen, über welche Mechanismen der Prozess von den sogenannten ‚ways of life‘ zu ‚public versions‘ von nationaler Identität (und wieder zurück) verläuft, wie also das Sammelbecken heterogener und diversifizierter kultureller Elemente, Lebensstile und Identitätsentwürfe einer komplexen Gesellschaft und öffentliche Versionen einer scheinbar homogenen nationalen Identität miteinander in Verbindung stehen (Larrain 2000: 35, 36). Alltagsformen nationaler Identität stellen hier sowohl die Basis für spezialisierte, öffentliche Identitätsentwürfe als auch das Produkt eines Aushandlungsprozesses dar, der darüber entscheidet, was in öffentlichen Identitätsentwürfen enthalten sein wird (Johnson 1993: 192). Wie oben bereits angesprochen, ist nationale Identität keine Summe von Einzelelementen. Sie wird über einen Prozess konstruiert, der zunächst von Selektion38 geprägt ist, mit deren Hilfe bestimmte Symbole, Eigenschaften, kulturelle Elemente und Traditionen aus den ‚ways of life‘ der Nationsangehörigen herausgefiltert werden. Die Selektion erfolgt über kulturelle Produktionen, Akteur/innen und Institutionen (Kirchen, Medien, Bildungsinstitutionen, Museen, politische Institutionen, Parteien, aber auch sportliche Großereignisse, Kochbücher zur Nationalküche, etc.) (Johnson 1993: 193), die gleichzeitig eine Aggregationsinstanz für die unübersichtlichen und heterogenen ‚ways of life‘ sind, die ausgewählten Elemente also bündeln und in den öffentlichen Diskurs einspeisen. Die Auswahl an Elementen ist mit ihrer Bewertung verbunden: Die selektierten Elemente werden mit den Werten bestimmter Klassen, Gruppen oder Institutionen abgestimmt, 38 Johnson bringt hier als Beispiel, dass ‚britisches Essen‘ nicht gleichzusetzen ist mit dem, was die Briten tatsächlich essen (Summe an Einzelelementen). Erstere, national behaftete Kategorie ist daher bereits eine Selektion. (Johnson 1993: 194)
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als nationale Werte deklariert und so zu normativen Kategorien. Diese beiden Stufen sind mit einer unwillkürlichen Abgrenzung von sämtlichen nicht ausgewählten Werten, Symbolen, Lebensstilen, Eigenschaften etc. verknüpft, die aus der nationalen Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Die daraus resultierenden Unterschiede zwischen den ausgewählten und den ausgeschlossenen Elementen werden nicht selten (bewusst) überzeichnet. Es entsteht dabei sozialer Druck für Gruppen und Individuen, sich in die offiziellen Entwürfe einzufügen (Johnson 1993: 204). Als letzte Stufe nennt Larrain (2000), ebenfalls mit Bezug auf Johnson (1993), die ‚Naturalisierung‘ der nationalen Identität: die Präsentation der nationalen Identität als angeborene, ursprüngliche Form des Zusammenhalts, ganz so, als stammten offizielle Identitätsentwürfe auf direktem Wege aus den ‚ways of life‘. (Larrain 2000: 35-39) Johnson (1993: 188) bringt eine Passage aus einem Interview mit Margaret Thatcher zur Illustration dessen, was mit Naturalisierung gemeint ist. „The culture of courtesy could be reintroduced, and it should begin in the homes and go on through the schools and into university life and then business. It could become ingrained and there are still plenty of societies in the world where it was. And, she repeated, it was natural to the British.“ (The Daily Mail, 29.04.1988, zit. nach: Johnson 1993: 188)
Zum einen werden in dieser Aussage durch Passiv-Formulierungen wie „could be reintroduced“ sämtliche Akteur/innen aus der Rede ausgeklammert. Am Ende der zitierten Passage findet sich eine Naturalisierungsstrategie, die laut Johnson (1993: 188) zentral für die Konstruktion von nationaler Identität ist: „[…] the fact that she is strenuously prescribing, even to the point of indoctrination, what is supposed to come naturally anyway.“ (Johnson 1993: 188). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im historisch-strukturellen Ansatz Larrains (2000) und der Kulturtheorie der Nation von Johnson (1993) sowohl Elitenentwürfe (‚public versions‘) als auch Formen des Volksnationalismus (‚ways of life‘) berücksichtigt und miteinander in eine Beziehung gebracht werden. Über kulturelle Produktionen (‚cultural productions‘) und die Rezeption der Elitenentwürfe (‚readings‘) stehen sie in gegenseitiger Abhängigkeit. Öffentliche Versionen von nationaler Identität und die soziale Basis (d.h. die zwei Pole von Kultur)39 sind hier nicht als voneinander getrennte Sphären zu betrachten, denn zum einen sind die öffentlichen Identitätsentwürfe teilweise der sozialen Basis entnommen (wobei sich bestimmte Gruppen in den öffentlichen Versionen nicht repräsentiert sehen), zum anderen rezipiert die soziale Basis die offizielle Version nationaler Identität, die so auf die Lebensentwürfe der Einzelnen zurückwirkt und ohne deren Rezeption offizielle Entwürfe wohl wirkungslos blieben (Johnson 1993: 192). Der idealtypisch skizzierte Prozess verläuft in der Praxis als vielfach gebrochener Kreislauf, der (u.a. bei der Rezeption von offiziellen Identitätsversionen durch die Nationsangehörigen) von Änderung, Ablehnung, Reinterpretation der Entwürfe geprägt ist. Die einzelnen Schritte lassen sich als solche nicht immer in aller Deutlichkeit voneinander isoliert erkennen. 39 Eine ähnliche Diskrepanz zwischen diversen, in alltäglichen Lebensentwürfen enthaltenen Formen nationaler Identität („transitional social reality“ (Bhabha 1990: 1) und der Sprache jener, die über die Nation schreiben (v.a. bezogen auf Historiker), sieht auch Bhabha (1990) als charakteristisch für die Idee der Nation im Allgemeinen an (Bhabha 1990: 1).
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Nationen können gemäß dem Modell ihre Identität nicht beliebig neu entwerfen. Aufgrund der beschriebenen Auswahl-, Bewertungs-, Abgrenzungs- und Naturalisierungsmechanismen muss sie dennoch als konstruiert bezeichnet werden. Das Modell zeigt, dass nationale Identitäten sowohl auf materiellen, historischen und gesellschaftlichen ‚Realitäten‘ fußen, als auch konstruierte Entwürfe darstellen und begegnet so dem Vorwurf der beliebigen Erfindbarkeit der Nation, der dem Konstruktivismus gemacht wurde. Nicht alle ‚ways of life‘ schaffen es, im offiziellen Bild der Nation (also in der ‚public version‘) vertreten zu sein. Sie sind einer Selektion unterworfen, die bereits auf den konstruierten Charakter nationaler Identität verweist. Dieser wird noch verstärkt, wenn die selektierten Elemente bewertet werden und über kulturelle Produktionen weiter zugespitzt, abgeändert oder überformt werden. Als ‚public version‘ erhält der nationale Identitätsentwurf nicht selten einen ‚natürlichen‘ Anstrich, so, als ob dieses nationale Eigenverständnis schon immer vorhanden wäre. Aufgrund ihrer Basis in den materiellen, historischen Bedingungen und dem Alltag der Nationsangehörigen (‚ways of life‘) können diese großen, offiziellen Erzählungen nationaler Identität nicht als beliebig erfunden betrachtet werden. Ihr konstruierter Charakter wird dadurch verdeckt, dass sich konkrete Elemente des kulturellen Alltags in ihr wiederfinden lassen, wodurch sie sich der Bestätigung durch die Mitglieder der Nation versichern können. Obwohl die Nation (auch) eine Konstruktion darstellt, ist sie in ihrer (politischen, historischen) Wirkmächtigkeit genauso ‚real‘ wie etwa ökonomische Faktoren (Johnson 1993: 172). Nicht vergessen werden sollte laut Larrain (2000), dass die Nationenbildung auch eine Frage der Macht ist und dass konkret handelnde Akteur/innen mit ihren jeweiligen Interessen involviert sind. Erkennbar ist dies in der oben dargestellten Graphik daran, wenn auch nicht explizit benannt, dass Institutionen und Akteur/innen die Auswahl und Bewertung der ‚ways of life‘ steuern und sowohl ‚cultural productions‘ als auch ‚public versions‘ hervorbringen, wenn auch nicht letztgültig bestimmen: Die ‚readings‘ der Nationsangehörigen formen und verändern ihrerseits den ihnen präsentierten Elitenentwurf; das Nationalvolk erscheint so als weiterer kollektiver Akteur. Es muss davon ausgegangen werden, dass nicht alle Akteur/innen und Institutionen des Kreislaufes gleichberechtigt mit Macht und Einfluss ausgestattet sind. Der Staat stellt wohl die bedeutendste Selektions-, Bewertungs- und Naturalisierungsinstitution dar (man denke an die staatlichen Kultur- und Bildungsinstitute, das Militär, (politiknahe) Medien, aber auch an nationale Gedenktage, Zeremonien und Festlichkeiten, die staatlich organisiert werden sowie die Nationalhymne und -fahne als staatliche Symbole). (Larrain 2000: 35-37, 39) Einwände/Kritik am Modell von Larrain (2000) und Johnson (1993) Offen bleibt in Larrains (2000) Modell, an welche Epoche, Gesellschaften und Kulturkreise es gebunden ist bzw. ob es sich um ein Modell handelt, das in seinem Grad der Abstraktion als allgemeingültig verstanden sein will. Dies ist insofern von Relevanz als etwa Gellner einen ausgeprägten Zusammenhang zwischen Kultur und Staat – die Bedingung für das Funktionieren von Nation und Nationalismus überhaupt – erst mit der Entstehung von Industriegesellschaften erkennen kann, während dieses
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enge Verhältnis von Kultur und Staat in Agrargesellschaften nicht zu finden sei40 (Ionescu 2011: 48-50). Es geht aber aus den Texten Larrains (2000) und Johnsons (1993) hervor, dass sie einen Zusammenhang zwischen Kultur und Nation annehmen und nationale Identität als ein Phänomen der Moderne verstehen, wenn sie auch keine zeitliche Präzision vornehmen. Unberücksichtigt bleibt jedoch die Frage, wie breit der Zugang der Bevölkerung zu (Hoch-)Kultur und Schriftkultur ist, welche Medien und Institutionen zur Selektion, aber auch zur Verbreitung von Nationsentwürfen vorhanden sind und welche Reichweite diese aufweisen. Je nach Ausprägung dieser Faktoren, so könnte man einwenden, kann die tatsächliche Beteiligung am Kreislauf eingeschränkt sein. Manche soziale Gruppen können teilweise oder zur Gänze ausgeschlossen sein. Auch zu fragen wäre, inwieweit sich der Kommunikationskreislauf abhängig vom politischen System und dem Rechtssystem (etwa: welche Freiheiten sind garantiert, z.B. Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, etc.) einengt bzw. erweitert. Diese Variablen können im Modell von Johnson (1993) und Larrain (2000) nicht abgebildet werden, sollten jedoch in konkreten Studien Berücksichtigung finden. Geulen (1999) gibt ganz allgemein zu bedenken – und sein Einwand lässt sich auch hier anführen –, dass in jüngeren Modellen zur Erklärung der Nation und nationaler Identität der Zeithorizont ausgeblendet wird. „Angesichts der offenkundigen ‚Langlebigkeit‘ der Nation als politische, ideologische, soziale und kulturelle, Sinn und Macht stiftende Instanz hat sich die Forschung von zeitlichen Entwicklungsmodellen ab- und Fragen zugewandt, die überzeitliche Grundstrukturen und -inhalte von Nation, Nationalismus und vor allem nationaler Identität betreffen. […] Je statischer der Kulturbegriff ist, mit dem man die Erfindung und Konstruktion der nationalen Mythen lokalisieren will, desto eher besteht die Gefahr, dem seinerseits mythischen Erscheinungsbild der Nation als eines überhistorischen Kontinuums aufzusitzen. Demgegenüber wäre zu fragen, ob einem kulturgeschichtlichen Ansatz nicht auch andere Wege offenstehen, die es ermöglichen, nicht nur die räumliche, sondern auch die zeitliche Dynamik der Nation zu berücksichtigen. [Anführungszeichen und Kursivierung im Original]“ (Geulen 1999: 348, 356)
Indem die Entstehung und Aktualisierung nationaler Identität in einem Kreislauf dargestellt wird, entstehe der Eindruck, dass die Nation, ist sie einmal konstruiert, ein dauerhaftes Gebilde, ja geradezu ein naturgegebenes Gebilde, sei. Fragen zum Ende der Nation und ihrer Substitution durch andere politische Organisationsformen und Identitätsarten werden in diesen Modellen nicht mitgedacht. Unter welchen Bedin40 Als Grund dafür führt er an, dass die kulturellen und politischen Hierarchien keinem gemeinsamen Schema folgten und (volks-)kulturelle Gruppen (bzw. die Stände) keine Zugehörigkeit als Mitglieder ein und desselben Konzeptes, in dem sich kulturelle und politische Grenzen deckten, ausbildeten. Hochkultur war exklusiv einer gebildeten Elite vorbehalten – wobei man hier Gellner durch die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs über die Kirche ergänzen könnte. Die Exklusivität von Hochkultur, so Gellner weiter, änderte sich mit dem Übergang zur Industriegesellschaft, in der es Schulbildung und Alphabetisierung ermöglichten, dass die Hochkultur alle, auch zuvor ausschließlich volkskulturell geprägten Gruppen, erreichen konnte. Es war nun nicht mehr undenkbar, politische und kulturelle Grenzen zur Deckungsgleichheit zu bringen. (Ionescu 2011: 49, 50)
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gungen konnte das Konzept der Nation entstehen und wie und wodurch könnte es abgelöst werden? Wo würde man die Veränderung einzelner Variablen im Modell verorten? Dass die Frage nach der „Langlebigkeit“ (Geulen 1999: 348) der Nation einem Kreislaufmodell wie dem von Larrain (2000) und Johnson (1993) nicht gestellt werden kann, hat auch mit dem Problem der Prognosefähigkeit der involvierten Disziplinen zu tun. Es lässt sich aber aus diesem Einwand der Schluss ziehen, dass das skizzierte Modell vorrangig für synchrone Studien geeignet ist und weder die Entstehung, Entwicklung noch die eventuelle Abkehr von der Nation erfassen kann. Bhabha (1990) hat bereits Anfang der 1990er Jahre darauf hingewiesen, dass der Fokus auf den historischen, ‚materiellen‘ Voraussetzungen und auf den offiziellen Nationaldiskurs, selbst wenn beide zugleich in den Blick genommen werden, eine Verkürzung darstellt. Wie Larrain (2000) und Johnson (1993) untersucht Bhabha (1990) die Nation als Prozess, in dem eine Vielzahl an Elementen artikuliert wird. Er sieht im Diskurs die gestalterische Kraft, die die Nation als solche erst vorstellbar macht, weist aber zugleich darauf hin, dass dieser Prozess als nie abgeschlossen betrachtet werden kann: „[M]eanings may be partial because they are in medias res; and history may be half-made because it is in the process of being made; and the image of cultural authority may be ambivalent because it is caught, uncertainly, in the act of ‚composing‘ its powerful image. [Anführungszeichen und Kursivierung im Original]“ (Bhabha 1990: 3)
Die Geschichte der Nation, ja selbst die offizielle Version von nationaler Identität sind ambivalente Teilkonstruktionen, weil sie durch neue Artikulationen unterschiedlicher Akteur/innen in einem fort weiterkonstruiert werden, sich also, mit dem Bild Larrains (2000) und Johnsons (1993) gesprochen, der Kreislauf der Identitätsbildung nicht aufhört, zu drehen. Ein Grund dafür liegt in der Beschaffenheit von Sprache selbst, in deren System die einzelnen Diskurselemente angelegt sind. Sie gibt nicht nur wieder, sie prägt das Konzept der Nation selbst, was Bhabha (1990) als „the performativity of language in the narratives of the nation“ (Bhabha 1990: 3) bezeichnet hat. Bhabha (1990: 4) geht davon aus, dass offizielle Versionen nationaler Identität die kulturellen Grenzen der Nation aufzeigen. Was außerhalb und innerhalb derselben liege, sei einem politischen Prozess, einem Prozess der Hybridität, unterworfen, zum Beispiel wenn Migrant/innen in die Gruppe der Nationsangehörigen aufgenommen werden und das Außen und Innen neu verhandelt wird. Diese Grenzen sind für Bhabha (1990) von eigentlichem Interesse, denn „[…] they may be acknowledged as ‚containing‘ thresholds of meaning that must be crossed, erased, and translated in the process of cultural production. [Anführungszeichen im Original]“ (Bhabha 1990: 4). Die Ränder der Nation sind also der Ort, an dem nationale Identität verhandelt wird. Bhabha (1990) nimmt an, dass sich an den (hybriden) Grenzen oder Rändern von Nationen Ambivalenzen und Widersprüche der offiziellen Erzählung der Nation ablesen lassen, da in den sich an den Grenzen bildenden sogenannten In-between-spaces (Zwischenräumen41) immerfort einzelne kulturelle und politische Entwürfe konkur-
41 Der Zwischenraum entsteht „[…] durch das Überlappen und Verschieben von Differenzbereichen, wie überhaupt Repräsentation von Differenz von Bhabha nicht als Widerspiege-
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rieren und verhandelt werden, bedingt schon alleine durch den Charakter der Unabgeschlossenheit von Identitätsbildungsprozessen (Bhabha 1990: 3, 4). Mit Grenze ist nicht unbedingt eine trennscharfe Linie zwischen innen und außen, zwischen Mitgliedern und Ausgeschlossenen aus der Nation gemeint. Die Zwischenräume, die Bhabha (1990: 4) postuliert, lassen sich vielmehr im kulturellen Diskurs selbst verorten. Sie können also, um das Modell von Larrain (2000) und Johnson (1993) zu ergänzen, innerhalb des Kreislaufs verortet werden, nämlich an jenen Stellen, an denen Artikulationen konkurrieren, ‚ways of life‘ ausgeschlossen oder aufgenommen und verändert werden, d.h. an sämtlichen Stationen innerhalb des Kreislaufes. Zu betonen gilt weiters, dass Bhabha (1990: 300) hier auch an Gegendiskurse denkt, die die offizielle Version nationaler Identität in Frage stellen: „Counter-narratives of the nation that continually evoke and erase its totalizing boundaries – both actual and conceptual – disturb those ideological manoeuvres through which ‚imagined communities‘ are given essentialist identities. [Anführungszeichen im Original]“ (Bhabha 1990: 300). Die gemäß dem von Larrain (2000) beschriebenen Mechanismus naturalisierte offizielle nationale Identität kann also laut Bhabha (1990) aus dem Zwischenraum in Form von Gegendiskursen in Frage gestellt werden. Könnte man zwar bei Larrain (2000) die Existenz von Gegendiskursen im Prozess der Rezeption (‚readings‘) ausmachen (der auch von Ablehnung geprägt sein kann), so wird bei Bhabha (1990) deutlich, dass die Artikulation von Gegendiskursen nicht nur als letzter Schritt in einem Kreislaufmodell gefasst werden muss, sondern an allen Momenten des Kreislaufes (innerhalb der Nation) erfolgen kann. Auch Janer (2005) meint, entgegen der häufig vertretenen Meinung, dass die Konstruktion nationaler Identität auf Mechanismen der Inklusion und Exklusion basiere, dass auch innerhalb der Nation Grenzen im Diskurs entstehen, die aber nicht nur Ausschlussverfahren markieren, sondern die Selektion kultureller Artikulationen offenbaren und so Hierarchien im Diskurs offenlegen. Im Unterschied zur Exklusion geht Janer (2005) also, ähnlich wie Bhabha (1990), davon aus, dass ausgeschlossene Elemente durchaus innerhalb der Nation präsent sind (bei Bhabha sind sie dies im Zwischenraum), trotz Selektion also nicht verschwinden, sondern eingegrenzt, kontrolliert, beschränkt, transformiert, jedoch nicht eliminiert werden. (Janer 2005: 7) Man könnte sie im Modell von Larrain (2000) weiterhin (unter Berücksichtigung sämtlicher möglicher Transformationen durch die Rezeption der offiziellen Entwürfe) in den ‚ways of life‘ enthalten sehen. Identität und Erinnerung Was bei Larrain (2000) und Johnson (1993) konkret unter ‚ways of life‘42 verstanden wird, kann nicht mit Präzision aus ihren Texten herausgelesen werden. Wie oben be-
lung vorgegebener ethnischer oder kultureller Merkmale, sondern als fortlaufendes Verhandeln gelesen wird.“ (Göhlich 2010: 317). 42 Johnson (1993: 159-163) bezieht sich auf ein Kulturkonzept, wie es im Center for Contemporary Cultural Studies (CCCS) an der Universität Birmingham seit den 1970/80er Jahren entwickelt wurde, d.h. in Zusammenarbeit mit etwa Raymond Williams oder E.P. Thompson. Kultur soll demnach nicht als bloße Repräsentation oder Spiegel vorgegebener Realitäten verstanden werden, sondern als (auch) durch Sprache, Diskurs und Bild hervorge-
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reits erkennbar wurde, sind wohl sämtliche kulturelle Ausdrucksformen und Lebensweisen der Mitglieder einer Gesellschaft damit angesprochen43. Wie entstehen aber gemeinschaftlich geteilte Lebensweisen, wenn man nicht von einem (natürlichen) Volkswesen ausgehen möchte? Wie bilden soziale Gruppen gemeinsame Identitäten aus? Um hierzu etwas mehr Klarheit zu erhalten, wird in der Folge das von Jan Assmann (2002: 22), gemeinsam mit Aleida Assmann, geprägte und vielbeachtete Konzept des kulturellen Gedächtnisses diskutiert. Wenn unter ‚ways of life‘ auch nicht nur tradierte, erinnerte Elemente, sondern aktuelle Lebensstile und (Sub-)Kulturen zu finden sind, so sind gerade in der Diskussion um nationale Identität primär gemeinsame Traditionen und Elemente aus der geteilten Vergangenheit (Geschichte, Sprache, Kultur) genannt worden. Wie diese zur Grundlage kollektiver Identität werden, kann mit J. Assmann (2002) gezeigt werden. Die Prämisse des kulturellen Gedächtnisses besteht darin, Erinnerungskultur als etwas dem Menschen Inhärenten zu begreifen: „[D]ie Erinnerungskultur [ist] ein universales Phänomen. Es läßt sich schlechterdings keine soziale Gruppierung denken, in der sich nicht – in wie abgeschwächter Form auch immer – Formen von Erinnerungskultur nachweisen ließen.“ (Assmann J. 2002: 30). Der Fokus bei der Konstituierung von Gruppenidentitäten liegt hier also auf der (geteilten) Vergangenheit, aus der bestimmte Erinnerungen selektiert werden und für das Kollektiv als relevant eingestuft werden. „Jede der kulturell koexistierenden Gruppen verfügt über einen spezifischen Fundus an konstitutiven Erfahrungen, der sie als eben diese Gruppe auszeichnet und der durch strategisches Einschwören auf die Kollektivvergangenheit präsent gehalten wird. Aus dem kulturellen Gesamtvorrat möglicher Vergangenheitsbezüge aktualisieren Erinnerungsgemeinschaften zum Zwecke ihrer Identitätskonstitution demnach nur partikulare Ausschnitte und legen diese nach Maßgabe gegenwärtiger Relevanzstrukturen aus.“ (Neumann B. 2003: 62)
Grundlage der Gruppenidentität ist die gemeinsame Konstruktion einer in sich stimmigen und kollektiv zustimmungsfähigen Version der Vergangenheit, die wiederum von Selektions- und Bewertungsmechanismen geprägt ist (Neumann B. 2003: 62, 63). Die Vergangenheit einer sozialen Gruppe wird, so könnte man im Umkehrschluss und mit Bezug auf J. Assmann (2002: 31) sagen, erst hergestellt, indem man brachte Realität. „Culture has a hardness and determinacy of its own; it is not secondary or derivative merely.“ (Johnson 1993: 161). 43 In den ‚ways of life‘ und ‚cultural productions‘ können daher sämtliche zivilstaatliche Akteur/innen beteiligt sein, neben kulturellen Akteur/innen z.B. auch gesellschaftliche Vereine und Verbindungen, religiöse Akteur/innen, Akteur/innen des Finanzsektors und der Unternehmerschaft, etc. Es sollte darüber hinaus nicht vergessen werden, dass die Herstellung von Öffentlichkeit nicht nur über das gedruckte Wort erfolgte, sondern – besonders im 19. Jahrhundert angesichts der hohen Analphabetenrate – über Mündlichkeit (z.B. in der Kirche, in literarischen Salons und Tertulias, öffentlichen Reden, etc.) erzeugt wurde. (Poblete 2008: 311, 315) Diese Arbeit kann sich ausschließlich politischen und literarischen Werken widmen, es sollen aber die Bedeutung anderer Medien und Formen der mündlichen und schriftlichen Kommunikation für die Herstellung liberaler Öffentlichkeit und die nationale Gemeinschaft nicht verschwiegen werden.
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sich auf sie in Form der Erinnerung bezieht: „Vergangenheit entsteht nicht von selbst, sondern ist das Ergebnis einer kulturellen Konstruktion und Repräsentation; sie wird immer von spezifischen Motiven, Erwartungen, Hoffnungen, Zielen geleitet und von den Bezugsrahmen einer Gegenwart geformt.“ (Assmann J. 2002: 88). Als Grundannahme für die formulierten Thesen dient die von J. Assmann (2002) geprägte Annahme, dass „[j]ede Kultur [etwas ausbildet; …], das man ihre konnektive Struktur nennen könnte. […] Sie bindet den Menschen an den Mitmenschen dadurch, daß sie als ‚symbolische Sinnwelt‘ (Berger/Luckmann) einen gemeinsamen Erfahrungs-, Erwartungs- und Handlungsraum bildet, der durch seine bindende und verbindliche Kraft Vertrauen und Orientierung stiftet. […] Sie bindet aber auch das Gestern ans Heute, indem sie die prägenden Erfahrungen und Erinnerungen formt und gegenwärtig hält, indem sie in einen fortschreitenden Gegenwartshorizont Bilder und Geschichten einer anderen Zeit einschließt und dadurch Hoffnung und Erinnerung stiftet. [Kursivierung und Anführungszeichen im Original]“ (Assmann J. 2002: 16)
Die sogenannte konnektive Struktur ist laut J. Assmann (2002) also das, was die einzelnen Individuen einer Kultur zusammenhält, was sie in ihrer kollektiven Identität und so in ihrem Selbstbild verbindet. Sie setzt sich aus einem Netz an Regeln und Werten, aber auch aus gemeinsam ausgewählten und aktualisierten Erinnerungen der Vergangenheit zusammen. (Assmann J. 2002: 16, 17) Das kulturelle Gedächtnis soll nun Aufschluss darüber geben, wie genau das Konstituieren und Aktualisieren von Erinnerungen – und in weiterer Folge von kollektiver Identität – funktioniert, wie also die sogenannten konnektiven Strukturen einer Kultur hergestellt werden44. Weshalb aber ist die Annahme einer Außendimension des Gedächtnisses überhaupt gerechtfertigt? J. Assmann (2002) stützt sich hier auf die Theorien des Soziologen Maurice Halbwachs, der meinte, dass es zwar das
44 Im Gegensatz zu den inneren Vorgängen des Gedächtnisses, ist das kulturelle Gedächtnis eine von vier Außendimensionen des Gedächtnisses, d.h. jenen Dimensionen, die sich auf die kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eines Individuums beziehen. Die vier Außendimensionen umfassen das mimetische Gedächtnis als den Bereich des Handelns durch Nachahmen (z.B. Kochbücher oder Gebrauchsanweisungen), das Gedächtnis der Dinge als den Bereich der Alltagsgegenstände, die von Erinnerungen durchsetzt sind und so gewissermaßen das Selbstbild des Individuums mitbestimmen, das kommunikative Gedächtnis als den Bereich der Sprache und Kommunikation, die interaktiv mit anderen erlernt und geprägt wird und schließlich das kulturelle Gedächtnis. (Assmann J. 2002: 19-21) Erfahren diese Dimensionen den Status eines Ritus, d.h. gehen sie über in eine „Überlieferungs- und Vergegenwärtigungsform“ (Assmann J. 2002: 21) kultureller Elemente und machen sie so „den impliziten Zeit- und Identitätskomplex explizit“ (Assmann J. 2002: 21), so reiht sie J. Assmann (2002) in die Dimension des kulturellen Gedächtnisses ein. Vom Begriff der Tradition unterscheidet sich das Konzept des kulturellen Gedächtnisses dadurch, dass es nicht bloßes Fortsetzen von Vergangenem bezeichnet, sondern das bewusste Auswählen und (affektive) Bewerten von Vergangenem in Form des Erinnerns, aber auch des Vergessens sowie die kulturelle Formung und/oder Inszenierung dieser Elemente aus der Vergangenheit (Assmann J. 2002: 34).
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Individuum ist, das über ein Gedächtnis verfügt, dieses aber von seiner Sozialisation und dem Kollektiv, in das es eingebettet ist, geprägt ist. Denn: „Erinnerungen auch persönlichster Art entstehen nur durch Kommunikation und Interaktion im Rahmen sozialer Gruppen. Wir erinnern nicht nur, was wir von anderen erfahren, sondern auch, was uns andere erzählen und was uns von anderen als bedeutsam bestätigt und zurückgespiegelt wird. Vor allem erleben wir bereits im Hinblick auf andere, im Kontext sozial vorgegebener Rahmen der Bedeutsamkeit.“ (Assmann J. 2002: 36)
Das Gedächtnis wird also über seine kollektive Bestimmtheit ‚aktiv‘. Selbst, wenn nicht davon auszugehen ist, dass das Kollektiv an sich über ein Gedächtnis verfügt, so konstituiert sich das Kollektiv gewissermaßen über die Gesamtheit der Gedächtnisse der Einzelnen. In einem wechselseitigen Prozess der Abhängigkeit stellt das Kollektiv den Rahmen bereit, innerhalb dessen das Individuum seine Erinnerungen strukturiert. Elemente aus der Vergangenheit, die nicht im Kollektiv verankert sind, laufen Gefahr, vergessen zu werden. (Assmann J. 2002: 35-37) Das kulturelle Gedächtnis besteht laut J. Assmann (2002) aus erinnerten Elementen aus der Vergangenheit, die meist symbolischen, mythenhaften und weniger historischen Charakter aufweisen. „Für das kulturelle Gedächtnis zählt nicht faktische, sondern nur erinnerte Geschichte.“ (Assmann J. 2002: 52). Mehr noch, scheinen im kulturellen Gedächtnis historische Fakten in Mythen überführt zu werden45. Während die Erinnerung der jüngeren Vergangenheit grundsätzlich nicht an bestimmte Personen(gruppen) gebunden ist (kommunikatives Gedächtnis), so kann im Falle des kulturellen Gedächtnisses nach verschiedenen Rollen differenziert werden. In mündlicher wie schriftlicher Form kommt hier etwa dem Dichter oder Spielmann die Aufgabe der Übertragung von Erinnerung zu. (Assmann J. 2002: 52-54) „Das kulturelle Gedächtnis hat immer seine speziellen Träger. Dazu gehören die Schamanen, Barden, Griots ebenso wie Priester, Lehrer, Künstler, Schreiber, Gelehrten, Mandarine und wie die Wissensbevollmächtigten alle heißen mögen.“ (Assmann J. 2002: 54). Im Unterschied zum kommunikativen Gedächtnis sind Zugang und Teilnahme an der
45 Eine ähnliche Auffassung zu Geschichte und Erinnerung lässt sich auch bei Hroch (1994) finden. Neben Geschichte als wissenschaftlicher Disziplin, hebt er die Bedeutung von gemeinsam erinnerter Geschichte hervor, die nicht unbedingt Faktizität als Kriterium ausweist. Hroch (1994) und J. Assmann (2002) stimmen darüber überein, dass nicht bereits Geschichte an sich relevant für die Herausbildung von nationaler Identität ist, sondern die gemeinsam erinnerte Geschichte. (Hroch 1994: 48) „Menschen und soziale Gruppen, die über Jahrhunderte hinweg das gleiche politische Schicksal teilten und unter ähnlichen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen lebten, standen sich natürlich näher, wiesen eine ähnliche Lebensweise auf, unterstanden ähnlichen oder gleichen Gesetzen, litten unter denselben Katastrophen u.s.w. Alle diese Gemeinsamkeiten wurden für die Beteiligung an der Nationalbewegung jedoch erst dann relevant, wenn sie zur ‚gemeinsamen Erinnerung‘ wurden, d.h., wenn sie in der Gruppe, die für sich nationale Existenz beanspruchte, gezielt erschlossen und bearbeitet wurden. Diese Entdeckung der eigenen Geschichte war oft mit Mythenbildung, Fälschungen und instrumentalisierender Auswahl historischer Ereignisse verbunden. [Anführungszeichen im Original]“ (Hroch 1994: 48).
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Erinnerung geregelt – schließlich müssen die ‚Wissensbevollmächtigten‘ als solche bestimmt werden. Möchte man nun die zuvor beschriebene Identitätstheorie Larrains (2000) mit der Gedächtnistheorie von J. Assmann (2002) zusammenbringen, so wird an dieser Stelle ein bedeutender Unterschied zwischen den beiden Ansätzen deutlich: Während Larrain (2000) die Entstehung von Identitäten in einem Kreislauf konzipiert, in dem sich Alltag und Allgemeinheit der Gruppe (‚ways of life‘) mit den offiziellen (festlichen) Identitätsentwürfen einer spezialisierten Elite (‚public versions‘) in wechselseitiger Abhängigkeit (v.a. über ‚cultural productions‘ und ‚readings‘) und einem dauerhaften Prozess konstituieren, so stehen sich bei J. Assmann (2002) diese beiden Gruppen und Entwürfe konzeptuell gegenüber. Aber auch J. Assmann (2002) räumt ein, dass die Relationen zwischen den beiden Polen je nach Kultur unterschiedlich ausfallen können: „Wie haben wir uns diese Polarität der Erinnerung vorzustellen? Als zwei selbstständige Systeme, die – nach dem Muster von Umgangssprache und Hochsprache – nebeneinander existieren und sich gegeneinander abgrenzen, oder, wie Wolfgang Raible vorgeschlagen hat, als Extrempole auf einer Skala mit fließenden Übergängen? Die Frage ist möglicherweise immer nur von Fall zu Fall zu entscheiden. So gibt es zweifellos Kulturen, in denen die kulturelle Erinnerung scharf gegen das kommunikative Gedächtnis abgehoben ist, so daß man geradezu von einer ‚Bikulturalität‘ sprechen kann. Das Alte Ägypten etwa würde in diesem Sinne einzustufen sein […; Anführungszeichen im Original]“ (Assmann J. 2002: 55)
Selbst wenn die beiden Pole als Extremfälle einer Skala verstanden werden, kommt bei Assmann J. (2002) keine explizite Verbundenheit im Entstehungsprozess von Erinnerung und Identität selbst – so wie sie Larrain (2000) dargestellt – zum Ausdruck. Das kulturelle Gedächtnis wird im Gegensatz zum kommunikativen Gedächtnis von den Alltagsformen (‚ways of life‘, Larrain 2000) getrennt: „Das kulturelle Gedächtnis ist ein Organ außeralltäglicher Erinnerung.“ (Assmann J. 2002: 58). Die entsprechende Verbindung im Modell von Larrain (2000) – nämlich jene der Verbundenheit der alltäglichen ‚ways of life‘ mit der ‚public version‘ durch ‚cultural productions‘ – sieht J. Assmann (2002) im Bereich des kulturellen Gedächtnisses nicht vor. Er geht in der Theorie von einem Elitenentwurf gemeinsamer Erinnerung aus, der prägend für die kollektive Identität wird, aber in seiner Entstehung nicht mit dem Alltag der Gruppenangehörigen relationiert ist46. Bei J. Assmann (2002) sind es vor allem drei Mechanismen, die in Gang gebracht werden müssen, damit den durch eine Elite übermittelten Erinnerungselementen eine identitätsstiftende Funktion zukommen kann: Speicherung, Abrufung und Mitteilung. Im dritten Mechanismus der Mitteilung erfolgt die Rezeption in Form von Partizipation der Gruppenangehörigen an der gemeinsamen Erinnerung, etwa durch das Abhalten von Ritus und Fest. Eine Möglichkeit, wie kollektive Alltagserinnerungen und das kulturelle Gedächtnis dennoch miteinander verbunden sein können, sieht J. Assmann (2002) in der Option, dass Erinnerungen des kommunikativen Gedächtnisses nach einem gewissen zeitlichen Abstand, nachdem ihnen droht, dass sie vergessen werden (da sie keine solch ausge46 Dies hat nicht zuletzt mit dem theoretischen Hintergrund des Konstruktivismus, den J. Assmann (2002) wählt, zu tun.
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prägte Fixierung erfahren wie objektivierte Formen der Erinnerung) von spezialisierten Träger/innen der Erinnerung aufgenommen werden. Diese vermögen es, die nicht mehr für alle zugänglichen Erinnerungen zu interpretieren und weiterzugeben und so in das kulturelle Gedächtnis zu überführen, indem sie zu fixierten Formen des Erinnerns geformt werden. (Assmann J. 2002: 55-58; 64, 65) J. Assmann (2002) scheint bei der Konstituierung von Erinnerungsgemeinschaften also v.a. an ‚top down‘-Prozesse zu denken, während das Kreislaufmodell von Larrain (2000) eine stetige Verbundenheit der ‚ways of life‘ mit offiziellen Identitätsentwürfen gerade über (Eliten-)Entwürfe (enthalten in den ‚cultural productions‘) vorsieht. Keiner der beiden Ansätze scheint die Möglichkeit eines ‚bottom up‘Prozesses (denkbar etwa in Form revolutionärer Volksbewegungen) vorzusehen47. Als Gemeinsamkeit zwischen den beiden Modellen darf schließlich hervorgehoben werden, dass beide Herrschaft und Staat als bedeutende Faktoren im Entstehungsprozess von geteilten Erinnerungen und kollektiven Identitäten betrachten. Bei J. Assmann (2002: 71) heißt es gar: „Ohne den Staat zerfallen die Rahmenbedingungen sozialer Erinnerung […]“, da Herrschaft zu ihrer Legitimation eine Herkunft brauche, die es ihr gleichzeitig erlaube, ihre Legitimität in die Zukunft zu verlängern. Mit der Erinnerung an bestimmte Elemente aus der Vergangenheit einher gehe das Vergessen48 anderer Elemente, um eine kohärente Herkunft von Herrschaft zu herzustellen49. (Assmann J. 2002: 71-73) Birgit Neumann (2003) macht schließlich darauf aufmerksam, dass es das kollektive Gedächtnis im Singular nicht gibt. „Mit Blick auf bestehende vertikale Grenzen zwischen kultureller Majorität und Minorität liegt es nahe, für heutige Gesellschaften eine Unterscheidung zwischen einem gesellschaftlich dominanten, nach Hegemonie strebenden Kollektivgedächtnis einerseits und den partikularen, (sub)kulturellen Gedächtnissen verschiedener Erinnerungsgemeinschaften andererseits zu treffen.“ (Neumann B. 2003: 65)
Sie nennt (sub)kulturelle Gedächtnisse, was bei Larrain (2000) ebenfalls unter den Begriff der ‚ways of life‘ fallen könnte. Denn auch im Konzept Neumanns B. (2003) müssen (sub)kulturelle Gedächtnisse den Relevanzkriterien und der Bewertung des öffentlichen Diskurses standhalten, um einerseits für ein größeres Kollektiv verfügbar zu werden und andererseits auf das dominante Kollektivgedächtnis (nach Larrain 2000 wohl im Bereich der ‚public version‘ von Identität anzusiedeln) einwirken zu können. Was bei Neumann B. (2003) Berücksichtigung findet und im Kreislaufmo47 Es bleibt, wie zuvor besprochen, offen, wie in Larrains (2000) Modell Veränderungen im politischen System wirken und abgebildet werden könnten.
48 Diese Idee wird auch bei Anderson (2005) formuliert. 49 In eben diesen vergessenen Elementen sieht J. Assmann (2002: 73) Potenzial für Widerstand gegen Herrschaft. Auch Neumann B. (2003: 65) hält fest, dass das Hinweisen auf Lücken im offiziellen Gedächtnis (die sich mit gruppenspezifischen Identitäten überschneiden können) sowie das Aufzeigen der Vereinheitlichungs- und Naturalisierungsmechanismen der offiziellen Version von kollektiver Identität als Instrumente des Widerstands eingesetzt werden können. Michel Foucault hat dafür laut Neumann B. (2003: 65) den Begriff des Gegengedächtnisses geprägt.
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dell von Larrain (2000) nur implizit enthalten ist, ist die Frage der Macht, ihrer Verteilung innerhalb der Gruppenangehörigen und den Instrumenten, nach denen sie wirksam eingesetzt werden kann. „Das kollektiv-semantische, zugleich ‚offizielle‘ Gedächtnis umfaßt die evaluative Erinnerungsversion eines dominanten Bevölkerungsteils, die mittels institutioneller, normativer Vergangenheitsbezüge, etwa in staatlicher Traditions- und Kanonbildung, in offiziellen Gedenkordnungen erzeugt und aufrechterhalten wird. [Anführungszeichen im Original]“ (Neumann B. 2003: 65)
In beiden Modellen wird deutlich, dass die ‚public version‘ notwendigerweise eine Auswahl darstellt – bestimmte Diskurse also ausgrenzt – und gleichzeitig homogenisierend wirkt. Die Auswahl und Homogenisierung ist dabei mit Fragen der Macht verbunden (Neumann B. 2003). Wie Larrain (2000) weist auch Neumann B. (2003: 65) darauf hin, dass das offizielle Gedächtnis (‚public version‘ von Identität) trotz seines konstruierten Charakters als natürlich erscheint („als quasi naturalisiertes und allgemeingültiges Wissen von der Vergangenheit“ (Neumann B. 2003: 65)). Nationale Identität und Narration Wie aber erfolgt konkret das Auswählen von Elementen aus der Vergangenheit und das Bewerten derselben? Und vor allem: Wie werden diese ‚cultural productions‘ vermittelt? Je nach Art der Erinnerung und daher nach Grad ihrer kulturellen Fixierung kann mit J. Assmann (20029 die mündliche sowie schriftliche Weitergabe von Erlebtem, das Errichten von Denkmälern, das Abhalten von Festen und Ritualen, das Erzeugen von Symbolen und Bildern, Musik, Tanz, die Semiotisierung von Alltagsgegenständen, etc. genannt werden. Wie jedoch erhalten diese die gemeinsame Erinnerung repräsentierenden Zeichen(systeme) ihre Bedeutung vor dem Kontext der gemeinsamen Vergangenheit? Wie werden sie ausgewählt und mit dieser Bedeutung versehen? J. Assmann (2002) beantwortet diese Fragen mit Bezug auf Aleida Assmann und verweist auf die grundlegende Bedeutung der Erzählung für das Entstehen von gemeinsamer Erinnerung, ein mittlerweile vielfach ausgeführter Zusammenhang, der für viele kulturwissenschaftliche Zugänge zum Konzept der Nation vorausgesetzt wird (z.B. Bhabha 1990, Johnson 1993, Larrain 2000, Calhoun 2006). „Verinnerlichte – und genau das heißt: erinnerte – Vergangenheit findet ihre Form in der Erzählung. Diese Erzählung hat eine Funktion. Entweder wird sie zum ‚Motor der Entwicklung‘, oder sie wird zum Fundament der Kontinuität. In keinem Fall aber wird die Vergangenheit ‚um ihrer selbst willen‘ erinnert50. [Anführungszeichen im Original]“ (Assmann J. 2002: 75)
Die Erzählung ermöglicht bei J. Assmann (2002) erst das Entstehen der verbindenden kulturellen Elemente zwischen den einzelnen Mitgliedern eines Kollektivs, ist also Mittel zur Konstituierung der konnektiven Strukturen der Gesellschaft: „Beide 50 Das unterscheidet laut J. Assmann (2002: 75, 76) den Mythos (die fundierende Geschichte und verinnerlichte Vergangenheit) von der (auf Objektivität bedachten) Geschichte, die sich nicht auf die mythische, sondern auf die historische Zeit bezieht.
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Aspekte: der normative und der narrative, der Aspekt der Weisung und der Aspekt der Erzählung, fundieren Zugehörigkeit oder Identität, ermöglichen dem Einzelnen, ‚wir‘ sagen zu können. [Anführungszeichen im Original]“ (Assmann 2002: 16). Paul Ricœur (1988) hat im ersten Band seines Werks Zeit und Erzählung dargelegt, weshalb wir bei der Vermittlung von Geschehenem und Vergangenem auf die Erzählung angewiesen sind: „Wenn es keine menschliche Erfahrung gibt, die nicht schon durch Symbolsysteme, unter anderem durch Erzählungen vermittelt wäre, erscheint es überflüssig zu sagen, […] die Handlung sei auf der Suche nach der Erzählung. Denn wie könnten wir von einem Menschenleben als einer Geschichte in statu nascendi sprechen, da wir doch keinen anderen Zugang zu den zeitlichen Dramen der Existenz als die Geschichte haben, die von anderen oder uns selbst über sie erzählt werden?“ (Ricœur 1988: 117)
Laut Bruner (1991) werden menschliche Erfahrung und Erinnerung hauptsächlich über die Erzählung strukturiert und geformt51 (Bruner 1991: 4, 5). Denn bei der Interpretation ihrer Vergangenheit sind soziokulturelle Gruppen laut König/Wiesebron (1998) notwendigerweise auf Sprache und Erzählung angewiesen. Auch König /Wiesebron (1998) betonen, dass dabei nicht nur (vergangene) Realität ‚nacherzählt‘, sondern (neue) Realität geschaffen wird. „[E]l saber y las pautas de conceptos expresados muy claramente en el lenguaje, en términos y en símbolos, tienen una doble función: Tanto abarcan la realidad social objetivada, como producen esta misma realidad. En consecuencia puede constatarse que las concepciones históricas no solamente contienen manifestaciones sobre una realidad social, sino que simultáneamente presentan acciones sociales [...]“ (König/Wiesebron 1998: 33)
Geschichte betrachten König/Wiesebron (1998) als rekonstruierte, subjektive Form der Vergangenheit. Zugleich weisen sie darauf hin, dass sie als solche der Interpretation bedarf, die ihrerseits von Auswahlprozessen gesteuert wird. Dementsprechend sehen sie soziokulturelle Gruppen – die bei J. Assmann (2002) als Erinnerungsgemeinschaften bezeichnet werden – als Interpretationsgemeinschaften an. (König/Wiesebron 1998: 32, 33) Und auch Neumann B. (2003) betont, dass die Erzählung von Elementen aus der Vergangenheit, aus der gemeinsame Erinnerungen entstehen, kein bloßes Wiedergeben dieser Elemente ist, sondern einen im Kollektiv durchgeführten Prozess der Konstruktion darstellt. Das bedeutet, dass die Vergangenheit über Narration geformt wird, sodass „[…] sich daraus eine kohärente, sozial geteilte und validierte Vergangenheitsversion ergibt.“ (Neumann B. 2003: 63). „Am Ende derartig koordinierter Akte des Erinnerns steht eine gemeinsam verfertigte Narration, die in verschiedener Hinsicht über die ursprünglichen Einzelerinnerungen hinausgeht und
51 Ohne tiefer in diese Diskussion einzusteigen, soll erwähnt werden, dass Bruner (1991: 3) in diesem Zusammenhang auf die prägende Wirkung kultureller Produkte, Sprache oder andere Zeichensysteme auf das menschliche Denken und dadurch auf die Darstellung von Wirklichkeit verweist. Vgl. dazu auch Müller-Funk (2008: 87-143 und 251-269).
126 | F REIHEIT UND N ATION mithin einen überindividuellen, kollektiven Erfahrungshorizont konstituiert.“ (Neumann B. 2003: 63)
Die Erzählung der Nation bringt also ihre eigene Geschichte hervor, „as a force for ‚subordination, fracturing, diffusing, reproducing as much as producing, creating, forcing, guiding‘ (Said 1983: 171) [Anführungszeichen im Original]“ (Bhabha 1990: 3, 4). Aus der Sicht von Stuart Hall (2003) wird die Nation durch wiederholtes Wiedergeben der nationalen Erzählung in Geschichtsbüchern, Literatur, Medien, Popularkultur, etc. geformt. Diese Narration stellt die Kontinuität der Geschichte der Nation bis in die Gegenwart her. (Larrain 2000: 34) Als Konsens und gleichzeitige Grundlage für die vorliegende Arbeit kann also gelten, dass die Analyse von Identität und Erinnerung nicht auskommt, ohne die sprachliche Vermittlung derselben zu berücksichtigen (vgl. auch Wink 2009: 70)52. Mittlerweile ist das Lesen der Nation als Erzählung zu einem konsensuellen Zugang zur literatur- und kulturwissenschaftlichen Nationenforschung geworden53 (Larsen 2001: 169). Hrochs (1994) Überlegungen zur Rolle von Sprache und Geschichte für die Herausbildung einer nationalen Identität können diesen Zusammenhang noch etwas verdeutlichen. Sprache ist bei Hroch (1994) nicht nur als Barriere zu Anderssprachigen, also als In- und Exklusionsinstrument, von Bedeutung. In Bezug auf nationale Identität kommt dem Aspekt der außerkommunikativen Funktion von Sprache hohe Bedeutung zu. Sprache wird dann an sich zum Symbol für die eigene Nation – ein Symbol, das zur politischen Mobilisierung unter nationalen Vorzeichen dienen kann. Neben der Sprache, die für sich genommen zum Symbol für nationale Identität werden kann, wurden bislang Denkmäler, Feste, Bilder, Musik, Tanz, Kleidung, Schmuck (Assmann J. 2002), nationale Gedenktage und Festlichkeiten, Nationalhymne und -flagge, aber auch Alltags- und Konsumgegenstände (Larrain 2000) genannt. Hugo Achugar (2009: 14) fügt dem noch Münzen und Geldscheine, Sehenswürdigkeiten, Architektur, aber auch nationale Briefmarken hinzu. J. Assmann (2000) hat darauf hingewiesen, dass Raum (z.B. Landschaften) und Zeit sowie grundsätzlich Zeichensysteme aller Art – sprachlicher wie nicht-sprachlicher – zum Symbol der Nation werden können. Stephan Leopold (2010) wendet sich explizit symbolischen, kulturellen Praktiken in seiner Untersuchung der Unabhängigkeitsepoche in Hispanoamerika zu, ohne die Bedeutung von politischem System, Rechtssystem, Bürokratie oder der Rolle des Heeres leugnen zu wollen.
52 Seit den 1980er Jahren ist laut Wink (2009: 27) ein dementsprechender Fokus auf dem Wort und dem Diskurs in der Lateinamerikaforschung zu beobachten (z.B. bei Angel Rama). 53 Wenn er auch noch nicht auf die sprachliche Struktur kollektiver Identität in Form der Erzählung aufmerksam macht, so hat bereits Deutsch (1979) den Zusammenhang zwischen Sprache und Nation betont, da ihm Kommunikation als Grundlage zur Erklärung von Nationalismus gilt: „It should be borne in mind […] that the other major elements of nationality [neben der Sprache] such as political and educational institutions, literature, territory, group loyalties, and nationalistic movements, and frequently even sovereign states and custom areas, are all closely interconnected with the language factor.“ (Deutsch 1979: 36).
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„Queremos, no obstante, hacer hincapié en la otra cara de la moneda: a saber, en el corpus symbolicum que se constituye mediante la performatividad de la cultura, es decir mediante unas prácticas semióticas tales como la lectura de un determinado periódico o la conmemoración de los mismos días de fiesta que posibilitan una naciente identidad nacional. [Kursivierung im Original]“ (Leopold 2010: 8)
Betrachtet man nun die obigen Ausführungen zur Erzählung der Nation gemeinsam mit den eben dargestellten Beobachtungen zu Nationalsymbolen, so spricht einiges für eine differenzierte Betrachtung der nationalen Erzählung (‚public version‘). Nicht-sprachliche Zeichen, Landschaften, Denkmäler etwa, die zum Nationalsymbol werden, erzählen selbst nichts über ihre Verbundenheit mit der Nation – sie sind nicht per se narrativ. Sie eignen sich daher auch nicht dazu, eine Erzählung der Nation hervorzubringen. Es liegt nahe, die nationale Bedeutung einzelner Zeichen nicht primär in ihrer Beschaffenheit, ihrer Art und auch nicht in ihrem Medium anzusiedeln. Töne, Bilder, Texte eignen sich ebenso für die Symbolik der Nation wie historische Persönlichkeiten, Ereignisse, Fabelwesen, Tiere, Landschaften, Architektur (die Liste könnte lange fortgesetzt werden). Dass eine Melodie zur Nationalhymne wird, scheint daher nicht an ihrer Tonfolge zu liegen; ja nicht einmal, ob sie einen Text aufweist oder nicht, scheint ausschlaggebend zu sein (vgl. die spanische Nationalhymne). Dass eben diese Melodie (und keine andere) als Nationalhymne erkennbar wird, liegt nicht in der Melodie selbst begründet, sondern in ihrer Einbettung in die nationale Erzählung, die ihr erst diese Bedeutung zuschreibt. „Erinnerung ist ein Akt der Semiotisierung.“ (Assmann J. 2002: 77), durch gemeinsames Erinnern und Verfertigen einer Erzählung werden Bedeutungen konstruiert und Zeichen unterschiedlicher Art über die Erzählung mit der Nation verbunden. Ricœur (1988) hat Symbole und ihre Funktionsweise ebenfalls auf der Ebene des Kollektivs angesetzt, wenn er schreibt: „[…] die Symbolik [ist] nicht im Geiste, kein psychologischer Vorgang, der die Handlung leiten soll, sondern eine Bedeutung, die der Handlung immanent ist und an ihr von den anderen Akteuren des gesellschaftlichen Spieles entschlüsselt werden kann.“ (Ricœur 1988: 95). Gerade damit sie jedoch von anderen Akteur/innen entschlüsselt werden kann, muss sie gesellschaftlich vermittelt werden. Ihre Relation zur Nation kann nur durch ihre Einbettung in die den Zusammenhang zur Nation etablierende nationale Erzählung erschlossen werden. Ähnlich formuliert dies auch Wink (2009) – allerdings liest er sämtliche der angeführten Symbole als Text, um sie als Teil des nationalen Diskurses analysieren zu können. „[D]ie meisten ‚nationalen‘ Symbole54 [entfalten] nur durch ihre Einbettung in vorgegebene zu assoziierende Diskurse ihr Identifikationspotential, zum Beispiel Powder Day, Monumento ai Partigiani, Bastille – und manche geraten auch schnell in Vergessenheit, wenn der Diskurs nicht mehr forciert wird, wie zum Beispiel der 17. Juni. […] Feiertage, Monumente und ‚Na-
54 Auf die Bedeutung von staatlichen Symbolen, Feiertagen, u.ä. hat bereits Rudolf Smend 1928 in Verfassung und Verfassungsrecht aufmerksam gemacht und dies als „sachliche Integration“ (neben den beiden weiteren Idealtypen der „persönlichen“ (durch Führung) und „funktionellen Integration“ (etwa durch Wahlen)) bezeichnet (Van Ooyen 2014: 31). Ich danke Stephan Kirste für den Hinweis.
128 | F REIHEIT UND N ATION tionaltypisches‘ sind nicht von sich aus Identifikationspunkte, sondern wurden über ritualisierte Inszenierungen eines ‚nationalen Repertoires‘ zu solchen gemacht; sie sprechen nicht per se für sich, sondern sind Teil eines erläuternden Nationaldiskurses. [Kursivierungen und Anführungszeichen im Original]“ (Wink 2009: 64)
Nationale Festlichkeiten, Nationalgerichte, Denkmäler, Landschaften, sogar Gemälde bedürfen also einer Erläuterung, der nationalen Erzählung, um als Nationalsymbole verstanden werden zu können, wobei die Narration der Nation sowohl schriftlich als auch mündlich erzählt und weitergegeben werden kann. Sind sie einmal in die nationale Symbolik eingegangen, so wird ihre Einbettung in die Erzählung bei den Nationsangehörigen und darüber hinaus als bekannt vorausgesetzt und ihre narrative Einbettung dadurch verschleiert (vgl. den Mechanismus der Naturalisierung). Dies führt zu folgender Anschlussfrage, die für die Untersuchung von nationbuilding-Literatur von großer Relevanz ist: In welcher Form erfolgt die Erzählung der gemeinsamen Erinnerung? „Es liegt auf der Hand, daß in der Geschichte der konnektiven Struktur von Gesellschaft die Erfindung der Schrift den tiefsten Einschnitt bedeutet. Durch die Schrift teilt sich diese Geschichte in zwei Phasen: die Phase ritengestützter Repetition und die Phase textgestützter Interpretation.“ (Assmann J. 2002: 96)
Bei der Verschriftlichung von Erinnerungen nimmt das Prinzip der Wiederholung laut J. Assmann (2002) an Bedeutung ab, da die Fixierung der Erinnerung nun in Form des Textes – mehr oder weniger dauerhaft55 – erfolgen kann und so die partizipative Vergegenwärtigung des Inhalts in mündlicher Form nicht mehr zentral für die Speicherung des Inhalts ist. Zugleich – indem das Prinzip der Wiederholung für die Wissensspeicherung an Bedeutung verliert – können die erinnerten Inhalte einer größeren Variation unterworfen werden, ohne vergessen zu werden. „Die vergegenwärtigte Erinnerung vollzieht sich in der Deutung der Überlieferung.“ (Assmann J. 2002: 17). Im Gegensatz zum Ritus ist der Text per se keine partizipative Form der Erinnerung. Der Text muss laut Assmann J. (2002) gedeutet und anschließend in Umlauf gebracht werden, damit die Gruppenangehörigen an der verschriftlichten, gemeinsamen Erinnerung partizipieren können56. (Assmann J. 2002: 91, 92) Laut J. Assmann 55 J. Assmann (2002) weist darauf hin, dass auch Texte vergessen werden, neue Texte entstehen, bestehende Texte verändert werden und manche Texte besonders große Relevanz erlangen (Assmann J. 2002: 92). 56 Daran schließt sich die Frage nach der sozialen Dimension der verschriftlichten Erinnerung, ihrer Akteur/innen und spezialisierten Rollen an: „Im Rahmen der Schriftkultur und der textuellen Kohärenz organisiert sich das kulturelle Gedächtnis vornehmlich als Umgang mit fundierenden Texten: auslegend, nachahmend, lernend und kritisierend.“ (Assmann 2002: 102) Wer hat Zugang zu den Texten? Wer kann ihren Sinn, der nun (statt Wiederholung) durch Interpretation und Kommentierung vermittelt werden muss, erschließen? Welche Institutionen sind mit der Verbreitung, Kopie, Archivierung der Texte verbunden? (Assmann J. 2002: 91, 92) Tatsächlich ist es laut J. Assmann (2002) aber nicht die Schrift an sich, die den Ritus als Erinnerungsform (teilweise) ablöst, sondern erst der kanonisierte Text (Assmann J. 2002: 93), der „[…] den Dritten, den Interpreten, der zwischen Text und
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(2002) kommen sämtliche Formen von Mündlich- und Schriftlichkeit für die Erzählung der Nation in Frage57. Mit Larrain (2000) kann präzisiert werden, dass v.a. jene Formen Eingang in die offizielle Erzählung der Nation finden, die artikuliert, selektiert, von bestimmten Akteur/innen und/oder Institutionen aggregiert werden, d.h. in den öffentlichen Diskurs eingebracht werden, bevor sie bewertet und ‚naturalisiert‘ werden. Ein Blick auf die Erzählung aus narratologischer Sicht vermag es indes, die (innertextuellen) Strukturen der Erzählung und deren Potenzial für die Konstruktion von (nationaler) Identität zu bestimmen.
N ATION – I DENTITÄT – E RZÄHLUNG Dass das Erzählen als eine, „wenn nicht die grundlegendste Kulturtechnik überhaupt“ (Schneider I. 2008: 58) gilt, da uns die Erzählung als Medium erlaubt, Sinn herzustellen, wird seit den 1960er Jahren und den Erkenntnissen des französischen Strukturalismus in Beiträgen unterschiedlicher Disziplinen, die mit dem Erzählen befasst sind (Anthropologie, Geschichte58, Philologie, Philosophie, Psychologie, etc.), immer wieder betont59 und ist auch als narrative turn bekannt geworden (Lahn/Meister
Adressaten tritt und die normativen und formativen Impulse freisetzt, die in der Textoberfläche eingeschlossen sind“ (Assmann J. 2002: 95) erforderlich macht, da der Text nicht verändert werden darf, Sprache und gesellschaftlich-kulturelles Umfeld jedoch einem Wandel unterliegen und so im Laufe der Zeit eine immer größer werdende Distanz zwischen Text und Rezipient/in entsteht (Assmann J. 2002: 96). „Kanonische Texte können nur in der Dreiecksbeziehung von Text, Deuter und Hörer ihren Sinn entfalten.“ (Assmann J. 2002: 95). Zugleich impliziert das Erfordernis, kanonisierte Texte zu deuten, eine intellektuelle Elite, die dies zu tun vermag. Da kanonische Texte keine Variation aufweisen (dürfen), basieren sie, wie Riten, auf dem Prinzip der Wiederholung. (Assmann 2002: 95, 101, 105) Er schließt daraus: „Das Grundprinzip jeder konnektiven Struktur ist die Wiederholung.“ (Assmann J. 2002: 17). 57 Ohne die Bedeutung mündlicher Überlieferung gemeinsamer und nationaler Erinnerung mindern zu wollen – die Nation kann in Ansprachen und Reden erzählt werden, ebenso wie die Einbettung in den nationalen Diskurs z.B. in einer Bildunterschrift zu einem Gemälde zu finden sein kann – wird im Folgenden der Fokus jedoch aus Gründen der Quellenlage und dem gewählten Fokus dieser Arbeit auf dem literarischen Schreiben der Nation auf der Schriftlichkeit liegen. Andere schriftliche Zeugnisse wären, um nur einige Beispiele zu nennen, die Historiographie (v.a. jene des 19. Jahrhunderts, vgl. dazu Wink 2009: 63), Zeitungen, Schulbücher, Literaturgeschichten, etc. 58 Schon Wilhelm Dilthey (1981) hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Zusammenhänge zwischen Biographie und historischer Forschung thematisiert. Dass sich selbst der historiographische Diskurs narrativer Muster bedient bzw. bedienen muss, ist in den 1970er Jahren von Hayden White argumentiert worden und bildet seither ein Forschungsthema für sich. Zum Verhältnis von Geschichts- und Literaturwissenschaft vgl. Laferl (2006). 59 Vgl. dazu etwa Wilhelm Schapp (1953), der dem Menschen eine narrative Existenz bescheinigt.
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2013: 1). Als „eine anthropologische Konstante“ (Sander 2006: 109) bezeichnet Gabriele Sander mündliches bzw. schriftliches Erzählen. „Das Erzählen ist also eine gängige und oft unbewusste Aktivität in der mündlichen Sprache und erstreckt sich von dieser über mehrere Gebrauchstextsorten (Journalismus, Unterricht) bis hin zu dem, was wir prototypisch als Erzählen auffassen, nämlich das literarische Erzählen als Kunstgattung.“ (Fludernik 2006: 9)
Den Grund für die Bedeutung der Erzählung als Technik und als Medium sehen die meisten mit der Narration Beschäftigten darin, dass das Erzählen „eine grundlegende Erkenntnisstruktur an[bietet], die uns hilft, die unübersichtliche Vielfalt der Ereignisse zu ordnen und Erklärungsmuster dafür zu liefern.“ (Fludernik 2006: 10). Erzählungen sind dazu in der Lage, weil sie aus einer prinzipiell unendlichen Menge an Ereignissen einzelne auswählen, sie in einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang bringen und dadurch eine Orientierungshilfe in einer Welt von Unübersichtlichkeit und Chaos sowie eine der Voraussetzungen zu ihrer kognitiven Verarbeitung bieten. Indem Erzählungen Ereignisse in einen kausalen-chronologischen Zusammenhang bringen, erlauben sie die Deutung des Geschehens und letztlich die Bildung von Sinn. Dies wiederum ermöglicht es dem Individuum, seine subjektive Position im und zum Geschehen zu bestimmen. (Lahn/Meister 2013: 6; Scheffel 2011: 84, 85) Nicht zuletzt aufgrund ihrer Eigenschaft, Ereignisse zu systematisieren und so ‚erinnerbar‘ zu machen, sind sie „das wohl älteste Speichermedium von menschlichem Wissen“ (Scheffel 2011: 85), was sie über das Individuum hinausgehend auch für Gesellschaften und deren „Modell der natürlichen und sozialen Welt“ (Lahn/Meister 2013: 6) relevant macht. Erzählungen bieten auch für Gesellschaften Orientierung und systematisieren „die Grundannahmen, Normen und Wertvorstellungen, die die Gesellschaft als verbindlich setzt“ (Lahn/Meister 2013: 6). Mit Michael Scheffel (2006a) lässt sich demzufolge eine Art Minimaldefinition anführen, die für die meisten Arten von Erzählungen zutreffend sein dürfte: „Unabhängig von der je nach Ansatz verschiedenen Begrifflichkeit ist wohl konsensfähig, daß einer Erzählung (im Gegensatz z.B. zur Beschreibung oder zur Abhandlung) mindestens ein Ereignis zugrunde liegen muß. Dieses wiederum setzt neben einem Gegenstand (belebt oder unbelebt) den Wandel einer Qualität dieses Gegenstandes in der Zeit voraus. [Kursivierung im Original]“ (Scheffel 2006a: 105)
Als ‚Bauformen des Narrativen‘ bezeichnet Karlheinz Stierle (2012) jene Elemente, die auch schon für die Struktur der Erzählung der Nation Erwähnung gefunden haben. Stierles Ansatz lässt sich so als Brücke zwischen der nation-building-Forschung und literaturwissenschaftlicher Erzählforschung verstehen. Es sind drei Bauformen, die Stierle (2012) in seinem Buch Text als Handlung postuliert und beschreibt: Geschehen, Geschichte und Text der Geschichte60. Die drei Bausteine Stierles (2012) 60 Hat Tzvetan Todorov (1966) zur Definition von ‚Erzählung‘ das Begriffspaar ‚histoire‘ und ‚discours‘ eingeführt, so versteht Stierle (2012) seinen Ansatz auch als Klärung und Ergänzung dieser Opposition, die für ihn die Struktur der Erzählung nicht hinreichend erklären kann, da ihm das Geschehen als Kategorie in der genannten Dichotomie fehlt.
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verstehen sich als aufeinander aufbauende Elemente: Die Geschichte baut auf dem Geschehen auf, der Text der Geschichte wiederum auf der Geschichte. Die Geschichte interpretiert das Geschehen und der Text der Geschichte wiederum die Geschichte. Darüber hinaus macht der Text der Geschichte erst die Geschichte und die Geschichte wiederum das Geschehen sichtbar. Das Geschehen ist eine prinzipiell unendliche Menge an Handlungen, die in kleinere Geschehensmomente (oder, um bei der oben eingeführten Terminologie zu bleiben, Ereignisse) unterteilt werden könnte. Diese Handlungen sind unverknüpft und ungeordnet, sie könnten also in dementsprechend zahlreichen, unterschiedlichen Arten zu einem Sinn verbunden werden. Die Geschichte ist nun – und damit lässt sich nahtlos an den von Larrain (2000) beschriebenen Selektionsmechanismus im Falle der Erzählung der Nation anschließen – eine Auswahl an Geschehensmomenten, die einem Sinn folgt. Die Auswahl und Verbindung der Geschehensmomente folgt der Art und Weise der Sinnkonstituierung. Der Text der Geschichte umfasst nun nicht bloß die sprachliche Ausgestaltung der Geschichte, sondern zugleich die „Permutation der Glieder der Geschichte zu einer subjektiven Variante“, d.h. die Textkonstitution61. (Stierle 2012: 169-173) Was aber unterscheidet literarische Erzähltexte von anderen Erzählungen, die für die Konstruktion der Nation relevant sind? Zeigt die historische Perspektive, was zum Konsens in der Literaturwissenschaft geworden ist, nämlich, dass literarische Erzähltexte nicht zwingend das Kriterium der Fiktionalität aufweisen müssen, so kann gerade die Unterscheidung zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen hilfreich zur Klärung der Frage nach den Spezifika literarischer Erzählungen im nationbuilding sein. Erzählen und die Unterscheidung zwischen faktualer und fiktionaler Erzählung Der aus dem Lateinischen FINGERE (‚erdichten‘, ‚bilden‘, ‚vortäuschen‘) stammende Begriff ‚Fiktion‘ bezeichnet eine Aussage, die „[…] ohne unmittelbaren Wirklichkeitsbezug auskommt, als sie erklärtermaßen keinen Wahrheits- oder Wahrscheinlichkeitsbeweis benötigt.“ (Scheffel 2006b: 120). Anders als im Falle der Lüge besteht in der fiktionalen Rede keine Täuschungsabsicht. Die grundlegende Unterscheidung zwischen dem, was sich tatsächlich zugetragen hat (Realität) und dem, was sich zugetragen haben könnte (Dichtung) geht bereits auf Aristoteles’ Ausführungen in seiner Poetik (ca. 335 v. Chr.) zurück (Sander 2006: 109, 110; Lahn/Meister 2013: 10). Die literarische Fiktion kennzeichnet nicht nur das Erfinden von Figuren, Ereignissen, Raum-Zeit-Bezügen, etc., d.h. des Erfindens von Erzählinhalten: Denn der Kommunikationszusammenhang selbst unterliegt auch den Gesetzen der Imagination. (Zipfel 2011: 93, 94; Scheffel 2006b: 120) Dennoch muss es auch in fiktionalen Erzähltexten62 stets eine gewisse Anbindung an die Realität ge61 Stierle (2012) hat erstere ‚Oberflächendiskurs‘, die Konstitution der Geschichte in ihrer subjektiven Textform ‚Tiefendiskurs‘ genannt. 62 Platas Tasende (2004) geht davon aus, dass der literarische Diskurs immer fiktiv ist, ungeachtet dessen, wie viele Übereinstimmungen der literarische Text mit der außertextuellen Realität aufweist. Sie begründet dies mit der Inkongruenz von realem Autor und den Artikulationsinstanzen im literarischen Text. (Plata Tasende 2004: 310) Was die Lyrik betrifft, gehen hier die Meinungen aber auseinander (vgl. dazu etwa Hamburger 1968). Anders als
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ben, damit die Texte rezipierbar sind. Der Unterschied zwischen der Vermittlung in faktualen und fiktionalen Erzähltexten lässt sich mit Matías Martínez und Scheffel (2012) folgendermaßen konkretisieren: „Faktuale Texte sind Teil einer realen Kommunikation, in der das reale Schreiben eines realen Autors einen Text produziert, der aus Sätzen besteht, die von einem realen Leser gelesen und als tatsächliche Behauptungen des Autors verstanden werden. Fiktionale Texte sind ebenfalls Teil einer realen Kommunikationssituation, in der ein realer Autor Sätze produziert, die von einem realen Leser gelesen werden. Fiktionale Texte sind jedoch komplexer als faktuale, weil sie außer der realen auch noch einer zweiten, imaginären Kommunikationssituation angehören.“ (Martínez/Scheffel 2012: 19)
In seinem Vergleich zwischen fiktionalen und faktualen Erzählungen räumt Gérard Genette (1990), der in seinem Artikel Fictional Narrative, Factual Narrative63 das Begriffspaar geprägt hat, dem Aspekt der Stimme am meisten Platz ein64. Er widmet sich dabei vorrangig dem Verhältnis zwischen Autor/Autorin und Erzählinstanz, wenn er auch insgesamt das Dreieck Autor/in–Erzählinstanz–Figur in den Blick nimmt. Genette (1990: 764) geht für die faktuale Erzählung von einer weitgehenden Deckungsgleichheit zwischen Autor/Autorin und Erzählinstanz aus, denn der Autor/die Autorin trägt die volle Verantwortung für seine/ihre Behauptungen, die er/sie in der Erzählung aufstellt, verfügt also nicht über den Freiraum, einer Erzählinstanz ‚autonome‘ Behauptungen in den Mund zu legen. Fiktionale Erzählungen charakterisiert nun das Gegenteil: die Inkongruenz von Autor/in und Erzählinstanz. Der Autor/die Autorin kann hier nicht für die Aussagen der ‚autonomen‘ Erzählinstanz zur Verantwortung gezogen werden und die Werte, Einstellungen und Meinungen, die von der Erzählinstanz artikuliert werden, lassen sich nicht mit jenen des Autors/der Autorin gleichsetzen. Ausschlaggebend scheint hier weniger die tatsächliche Identität zwischen Autor/in und Erzählinstanz zu sein als vielmehr die ernsthafte Absicht des Autors/der Autorin, Verantwortung für den Wahrheitsgehalt der Erzählung zu übernehmen65, was sowohl die Gesellschaft als auch das Rechtssystem von ihm verlandies bei Plata Tasende (2004) anklingt, soll hier Fiktionalität nicht als ausschließliches und auch nicht als das entscheidende Kriterium zur Definition von Literatur an sich herangezogen werden. 63 Der Artikel erschien in Poetics Today und wurde von Nitsa Ben-Ari und Brian McHale ins Englische übersetzt. 64 Genette (1990) hat die faktuale mit der fiktionalen Erzählung systematisch nach den Kategorien, die er im Nouveau discours du récit (1983) aufgestellt hat, verglichen. Für die Kategorien der Ordnung, der Frequenz sowie jener der Erzählgeschwindigkeit/Dauer und des Zeitpunkts der Erzählung (nachträgliche, gleichzeitige, vorausblickende Narration) kann er jedoch keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen faktualer und fiktionaler Erzählung feststellen. 65 Dies erlaubt es Genette (1990), die Inkongruenz von Autor/Autorin und Erzählinstanz auch für die Autofiktion anzunehmen, die auf dem paradoxalen Pakt zwischen Autor/Autorin und Leser/Leserin beruht, dass der Autor/die Autorin eine Geschichte erzählt, in der er/sie den Helden/die Heldin (Figur) spielt, die ihm/ihr aber nie widerfahren ist. (Genette 1990: 767-769)
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gen. Umgekehrt lässt die Kongruenz oder Inkongruenz von Autor/in und Erzählinstanz noch keine Aussage darüber zu, ob die Erzählung faktual oder fiktional ist. (Genette 1990: 763-765, 768, 770) Das folgende Schema66 soll – mit Ausnahme der Autofiktion – sämtliche Kombinationsmöglichkeiten der drei genannten Instanzen zur Anschauung bringen, wobei die ersten beiden Möglichkeiten der faktualen, die drei restlichen der fiktionalen Erzählung zuzurechnen sind. Graphik 2: Mögliche Kombinationen der Instanzen Autor/in (A), Erzählinstanz (N) und Figur (C)
Quelle: Genette (1990: 766)
Gerade die Mittelbarkeit – das Vorhandensein einer Erzählinstanz, die die Geschichte vermittelt – ist es, die Scheffel (2011: 84) zufolge auch als Differenzmerkmal zu anderen literarischen Gattungen wie dem Drama und der Lyrik angeführt werden kann67. Die Einteilung in realen/empirischen Autor/Autorin, impliziten Autor, Er66 Mit ‚homodiegetisch‘ meint Genette (2010) den Umstand, dass die Geschichte von einem Erzähler/einer Erzählerin erzählt wird, der/die selbst in ihr vorkommt, also Teil der erzählten Welt ist, mit ‚heterodiegetisch‘ hingegen, dass die Erzählinstanz in der erzählten Geschichte nicht vorkommt (Genette 2010: 158, 159). 67 Während das Drama durchaus eine Geschichte aufweist, die aber von den Figuren durch Figurenrede direkt ‚erzählt‘ wird, so fehlt in der Lyrik neben der Erzählinstanz oft die zeitliche und räumliche Verortung der sich artikulierenden Instanz sowie eine zielgerichtete Handlungsstruktur, was als grundlegend für die Narration angesehen wird (vgl. Fludernik 2006: 15).
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zählinstanz, impliziten Leser und realen/empirischen Leser/Leserin hat sich in den Literaturwissenschaften bewährt, um zwischen den einzelnen Ebenen der Vermittlung differenzieren zu können. (Scheffel 2006a: 105, 106) Der Begriff ‚impliziter Autor‘ wurde von Wayne C. Booth (1961) eingeführt und ermöglicht es, eine strukturierende Instanz anzunehmen, die sich nicht mit dem realen Autor/Autorin und seiner/ihrer Biographie deckt, sondern sich aus der Logik des Textes rekonstruieren lässt. Sie ermöglicht es z.B., Unzuverlässigkeit der Erzählerinstanz zu erklären, indem sie als eine der Erzählinstanz vorgeschaltete Instanz konzipiert ist und die Textstrategie insgesamt erfassen soll. Der implizite Autor lässt sich nicht stimmlich im Text identifizieren, ist also keine explizite Aussageinstanz, sondern Textstrategie, die vom impliziten Leser erschlossen werden kann. Weder impliziter Autor noch Leser sind konkrete, personalisierbare Sprechinstanzen. Aus diesem Grund ziehen manche Theoretiker den Begriff ‚Textintention‘ oder ‚Erzählstrategie‘ dem anthropomorphisierten Begriff des ‚impliziten Autors‘ vor. (Nünning 2008: 42, 43) Das Konzept des ‚impliziten Lesers‘ wurde von Wolfgang Iser als Pendant zum Begriff des ‚impliziten Autor‘ eingeführt und ist dementsprechend ebenfalls keine personalisierbare, sondern vielmehr eine theoretisch begründete Instanz und damit auf allgemeine, intersubjektiv nachvollziehbare Wirkungsstrukturen des Textes fokussiert, nicht auf die subjektive Rezeption eines literarischen Textes durch eine/n reale/n Leser/Leserin. Der implizite Leser ist so ebenfalls aus der Textstruktur rekonstruierbar. (Winkgens 2008: 419, 420) Man könnte den impliziten Leser auch als jene Instanz im Text betrachten, „die von der Autorinstanz indirekt angesprochen wird“ (Lahn/Meister 2013: 14). Demgegenüber meint Genette (2010: 261), dass in manchen Erzähltexten auch der implizite Leser zwar nicht als Stimme (wie die Erzählinstanz), aber doch als „Ohr, das manchmal mit großer Liebe und Genauigkeit skizziert wird“ (Genette 2010: 261) betrachtet werden kann, das dann doch auch anhand konkreter Indizien im Text aufzufinden ist. Ein fiktiver Adressat hingegen kann bei Genette (2010) nur ein ‚Leser‘/eine ‚Leserin‘ einer intradiegetischen Ebene sein. In diesem Falle fühle sich der implizite (extradiegetische) Leser nicht angesprochen, da ja eine Figur im Text vorhanden ist, die angesprochen wird. Schmid (2005) hingegen differenziert auch den impliziten Leser insofern als für ihn der Adressat der Erzählinstanz (= fiktiver Leser) nicht mit dem sogenannten abstrakten Leser deckungsgleich ist. Der fiktive Leser entspricht bei Schmid68 (2005) weitgehend dem fiktiven Adressaten bei Genette (2010), ist also eine „Projektion des jeweiligen Erzählers“ (Schmid 2005: 101). Diese kann explizit (Pronomina, grammatische Formen der zweiten Person, Anredeformeln, etc.) oder implizit durch die im Text entworfene Beziehung der Erzählinstanz zu dessen Adressaten69 dargestellt sein (Schmid 2005: 104, 105). Das Pendant zur Erzählinstanz ist folglich der fiktive Leser, der bei Schmid (2005) auch ohne Binnenerzählung realisiert sein kann. Schmid (2005) versteht unter ‚abstraktem Leser‘ das Bild des Rezipienten, das der Autor beim Verfassen des literarischen 68 Schmid (2005: 100) ist jedoch nicht der Meinung Genettes, dass dieser deckungsgleich mit einer Figur der Rahmenerzählung ist, da fiktiver Adressat und fiktiver Rezipient zwar material ineinsfallen, aber nicht funktional, „weil Adressat-Sein und Rezipient-Sein unterschiedliche Funktionen sind“ (Schmid 2005: 101). 69 Dazu gehören etwa Normen und sprachliche, epistemische, ethische oder soziale Kodes, die die Erzählinstanz beim fiktiven Leser vermutet (Schmid 2005: 106).
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Werks entwirft, also der „Vorstellung des Autors vom Empfänger“ (Schmid 2005: 68). Der abstrakte Leser ist folglich das Pendant zum abstrakten Autor. Er kann daher nicht aus dem Text rekonstruiert werden, sondern nur anhand von Aussagen des Autors oder anderen extraliterarischen Informationen erschlossen werden. Der abstrakte Leser nach Schmid (2005) kann für diese Arbeit vernachlässigt werden, die sich in ihrem Fokus auf den Text beschränkt. Relevant ist hingegen jener Teil des abstrakten Lesers, den Schmid ‚idealen Rezipienten‘ nennt und der eine im Werk angelegte Rezeptionshaltung meint. Diese kann stärker oder schwächer ausgeprägt sein, ist aber selten inhaltlich konkretisiert: „In der Regel bildet die ideale Rezeption ein mehr oder weniger breites Spektrum funktionaler Einstellungen, individueller Konkretisationen und subjektiver Sinnzuweisungen.“ (Schmid 2005: 71). Diese Rezeptionshaltung ist keinesfalls mit dem realen Leser/der realen Leserin zu verwechseln und impliziert dessen unhinterfragte Übernahme der idealen Lektüre nicht. (Schmid 2005: 69) „Für die so zu verstehende ideale Rezeption ist ein Subjekt zu hypostasieren, eben der abstrakte Leser als idealer Rezipient. Ihn als ein im Werk mehr oder weniger deutlich impliziertes Bild zu postulieren, heißt noch nicht, die Freiheit des konkreten Lesers einzuschränken oder irgendwelche Vorentscheidungen über die Legitimität seiner tatsächlichen Sinnzuweisungen zu treffen.“ (Schmid 2005: 71)
Für diese Arbeit folgt daher, dass zum einen die Erwartungshaltung der Erzählinstanz an den Adressaten (fiktiver Leser) zu berücksichtigen ist, zum anderen aber die im Gesamttext angelegte Rezeptionshaltung eines idealen Rezipienten, die jedoch nicht von der Erzählinstanz angelegt ist, sondern vom abstrakten Autor. Es ist also zwischen expliziten (Appellen, Anreden, etc.) und impliziten Darstellungen des fiktiven Lesers durch die Erzählinstanz und der im Werk erkennbaren idealen Rezeptionshaltung zu unterscheiden. Im Folgenden wird der Begriff des ‚impliziten Lesers‘ als Überbegriff für ‚fiktiven Leser‘ und ‚idealen Rezipienten‘ verwendet. Denn beide sind auf textueller Ebene anzusiedeln und implizieren weder Aussagen über den realen Autor noch den realen Leser. Es handelt sich vielmehr um Textstrategien zur Steuerung der Rezeption. Was den fiktiven Leser betrifft, so interessiert im Rahmen dieser Arbeit vorrangig, von welchem Vorwissen über ihn die Erzählinstanz ausgeht, da dies die Art und den Umfang der Informationsvergabe steuert (Lahn/Meister 2013: 97). Auch die Rezeptionsseite weist neben dem im Vergleich mit faktualen Erzählungen komplexeren Verhältnis von (realem und implizitem) Autor/in und Erzählinstanz spezifische Bedingungen auf. Dass auch der Rezeptionsinstanz eine zentrale Bedeutung für die Unterscheidung zwischen faktualen und fiktionalen Erzähltexten zukommt, betont insbesondere Stierle (2012), für den sich die Literarizität eines Textes (auch) aus der Konzeption des impliziten Lesers bestimmen lässt. „Die Interessenstruktur des impliziten Lesers, die Aufmerksamkeitsleistungen, die sie diesem Leser durch die Verlaufsgestalt des Textes und die semantisch-syntaktische Besetzung der großen narrativen Konzepte abnötigt, ist der Ausgangspunkt, von dem aus die Frage nach der Literarität des narrativen Textes stellbar wird.“ (Stierle 2012: 173)
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Was nun den realen Leser/die reale Leserin anbelangt, gestaltet sich die Kommunikationssituation bei fiktionalen Texten folgendermaßen: „Von der Seite des realen Rezipienten aus gesehen gehört zur Existenz der fiktionalen Rede schließlich wesentlich ein Paradox. Einerseits dürfen die ‚Pseudo-Sätze‘ der fiktionalen Rede nicht […] unmittelbar auf eine empirische Wirklichkeit bezogen werden, andererseits wird mit diesen ‚Pseudo-Sätzen‘ repräsentierte imaginäre Rede nur dann angemessen rezipiert, wenn sie als authentische und wirksame Rede aufgefaßt wird. Insofern wird das Phänomen der fiktionalen Rede gleichermaßen durch den Glauben an ihre Echtheit wie das Wissen um ihre Fiktivität ermöglicht, d.h., diese besondere Form der Rede verlangt von ihrem Rezipienten – so die berühmte Formulierung Samuel Taylor Coleridges – ‚a willing suspension of disbelief‘. [Anführungszeichen im Original]“ (Scheffel 2006b: 122)
Lässt sich der Rezipient/die Rezipientin auf den sogenannten Fiktionalitätsvertrag – dass der Autor/die Autorin des Textes im Modus des ‚Als-ob‘ operiert – ein, so wird der Text nicht länger an den Kategorien faktualer Texte gemessen (Wahrheit vs. Lüge) (Zipfel 2011: 95). Man könnte sagen, fiktionale Texte werden nach ihrer innertextuellen Logik, nicht nach der Richtigkeit ihrer außertextuellen Bezüge beurteilt. „Die Haltung des Lesers gegenüber fiktionalen Texten wird in der neueren angloamerikanischen Forschung (bes. Walton) auch als make-believe-Spiel beschrieben. Für die Zeit der Lektüre nimmt der Leser in einer gewissen Weise die erzählte Geschichte für wahr. Mit dieser Umschreibung der F. [Fiktion] als make-believe-Spiel versucht man die Verbindung zwischen Partizipation und Distanz fiktionaler Texte zu erläutern, das Phänomen also, dass Leser von Geschichten emotional berührt werden, dass sie emotional am Schicksal von Figuren teilnehmen, obwohl sie wissen, dass das dargestellte Geschehen nie passiert ist und es die Figuren so nie gegeben hat. [Kursivierungen im Original]“ (Zipfel 2011: 95)
Dies führt zu einem weiteren Unterschied zwischen fiktionaler und faktualer Erzählung, geht man davon aus, dass sich auch die Geschichtsschreibung der Erzählung bedient, wenn auch um Wissen zu vermitteln (vgl. White 1990, 1991). Der Autor/die Autorin einer fiktionalen Erzählung entwirft mit der Geschichte, dem Diskurs und dem Erzähltext eine fiktive Welt. Der geschichtswissenschaftliche Autor/Autorin hingegen ist an die Aussagen und Erzählungen der benutzten Quellen gebunden, d.h. das Zustandekommen der Geschichte ist – gemeinsam mit dem Kriterium der Wahrheit, an dem sie gemessen wird – anderen Entstehungs- und Konstruktionsbedingungen unterworfen, die sich folgendermaßen darstellen lassen:
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Graphik 3: Geschichte im faktualen (geschichtswissenschaftlichen) und fiktionalen (literarischen) Erzähltext
Quelle: Eigene Darstellung basierend auf Fludernik (2006: 12)
Autor/innen fiktionaler Erzählungen (er-)schaffen also die fiktive Welt – Historiker/innen untersuchen „kollektiv dieselbe reale Welt unter verschiedensten Perspektiven erzählend und erklärend“ (Fludernik 2006: 12). Fiktionale (literarische) Erzählungen erheben keinen Anspruch auf unmittelbare Bezugnahme auf die außertextuelle Welt, also das „empirisch-wirkliche Geschehen“ (Martínez/Scheffel 2012: 15) und die Überprüfbarkeit ihrer Aussagen auf Grundlage dieses Bezugsystems. Die faktuale Erzählung – und die wissenschaftliche im Besonderen – erhebt den Anspruch auf empirische Überprüfbarkeit und wird nach dem Kriterium der ‚Wahrheit‘ bzw. der ‚Realität‘70 bemessen. Dass selbst in der Historiographie die empirische Welt nicht vollkommen der Realität entsprechend wiedergegeben werden kann, ist auch in der Rezeption zu berücksichtigen, denn der Leser/die Leserin kann Geschichte wiederum nur aus der faktualen Erzählung rekonstruieren. (Fludernik 2006: 18) Im Gegensatz dazu bedeutet der Begriff ‚Fiktion‘, „[…] dass reale oder erfundene Sachverhalte nur im Sinne der dichterischen Wahrheit wirklich sind, dass jedoch keine feste Beziehung zur empirisch überprüfbaren Wirklichkeit besteht, wie z.B. in der Geschichtsschreibung.“ (Siebenmann 2003: 98). Wie oben erwähnt, kann aber auch die dichterische Wahrheit nicht völlig ohne Bezugnahme auf die außertextuelle Welt auskommen. Der literarischen Erzählung kommt aber keine Beurteilung nach der empiri-
70 Bisweilen und zurückgehend auf Aristoteles wird in Abgrenzung zur faktualen Erzählung auch das Kriterium der ‚Wahrscheinlichkeit‘ für die fiktionale Erzählung herangezogen. Es eignet sich als Differenzmerkmal allerdings nur bedingt, denn was als wahrscheinlich gilt, ist höchst epochenabhängig (z.B. die menschliche Fahrt zum Mond) und weniger durch den Status der Erzählung bedingt, weswegen vom Begriff der ‚Wahrscheinlichkeit‘ abgesehen wird. (Landwehr 1975: 157)
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schen Verbindlichkeit zu, sie erhebt einen anderen Anspruch, der in den bisherigen Definitionen noch nicht erwähnt wurde: den ästhetischen, künstlerischen Anspruch71. Es stellt sich nach neueren Theorieansätzen (aus der Kulturwissenschaft, aber auch der Philosophie, Psychologie, Anthropologie, etc.) außerdem die Frage, was Realität überhaupt ist und ob es ‚die Realität‘ in dieser festen Form gibt. ‚Wirklichkeit‘ existiert für A. Assmann (1980) etwa nicht einfach, sondern ist etwas (kollektiv) Konstruiertes, das dem Individuum die Möglichkeit einer unverstellten Sicht auf die Realität gar nicht erlaubt. „Wirklichkeit im Sinne des Resultats fortschreitender Auseinandersetzung zwischen Mensch und Mensch bzw. zwischen Mensch und Umwelt ist als ein kollektives Produkt zu verstehen, an dessen Gestaltung sämtliche Formen menschlicher Aktivität beteiligt sind: Dichtung ebenso wie Wissenschaft, Theorie wie Praxis, ideologische Normen wie sozialhistorische Erfahrungen. Folglich ist für den Einzelnen Wirklichkeit durch ein kollektives Kulturmodell strukturiert, das die Möglichkeiten der Wahrnehmung in bedeutungsvoller Weise einschränkt.“ (Assmann A. 1980: 7, 8)
Ohne in diese Diskussion tiefer einsteigen zu wollen, wird hier vor diesem Hintergrund für den Begriff der ‚außerliterarischen, empirischen Welt‘ im Gegensatz zur ‚innertextuellen, fiktiven Welt‘, also der Diegesis72 optiert. Der Befund, dass faktuale und fiktionale Erzählungen einen grundverschiedenen Anspruch erheben und dementsprechend nach unterschiedlichen Maßstäben beurteilt werden, bleibt trotz des schwer fassbaren Charakters der empirischen Welt aufrecht73. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht ist die Frage nach der Möglichkeit der objektiven Annäherung an die Realität hingegen zentral. „Aber auch im historischen Diskurs gibt es keine eindeutige Geschichte, weil jeder Historiker im Rahmen seiner speziellen Sicht auf die Dinge verschiedene Aspekte der beschriebenen Epoche und Ereignisse weglässt und verschiedene andere betont.“ (Fludernik 2006: 11) Die fak71 Die Gegenüberstellung von Wissen und Kunst als Anspruch findet sich schon in Hegels Ästhetik, wo er die These vertritt, dass die Aufhebung von Kunst in Wissen dem Ende von Kunst gleichkommt (Stierle 2012: 239). 72 Zudem scheint der als literarischer Realismus bezeichnete Umstand, dass sich Fiktion als Faktum ausgibt – man spricht auch von realistischen Erzählformen – terminologisch verwirrend, da es sich um Erzähltexte handelt, die nach den Regeln der Fiktion funktionieren und keinen Anspruch auf empirische, also an der Realität gemessene, Überprüfbarkeit erheben. Sie spielen damit, so zu tun, als sei die Geschichte tatsächlich passiert – und wurden teilweise auch so rezipiert. (Bode 2005: 43) Zu einer Diskussion von Realismus und Literatur und deren Interpretationen sowie zum Begriff ‚Realismus‘ als literarische Strömung vgl. Reinfandt (1997: 3-7). 73 Die Art und Weise, wie Wirklichkeit je nach philosophischer und wissenschaftlicher Strömung definiert worden ist, berührt auch jene literarischen Gattungen kaum, die so nah wie möglich an der Realität angesiedelt sind. Denn: „Nicht die Annäherung der Literatur an die unveränderlich gedachte Wirklichkeit steht zur Debatte – Realismus ist keine Eigenschaft irgendeines ‘Inhaltes’ eines Textes –, sondern die relative Nähe oder Entfernung, Differenz oder Deckungsgleichheit zu oder mit Auffassungen von Wirklichkeit. [Kursivierung und Anführungszeichen im Original]“ (Bode 2005: 58).
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tuale, geschichtswissenschaftliche Erzählung teilt als Konsequenz der Annahme der Unmöglichkeit einer vollständigen und durchwegs objektiven Reproduktion von Realität mit der fiktionalen Erzählung – und mit der Erzählung der Nation – das Erfordernis der Selektion aus Ereignissen der empirischen Welt und des Anordnens und Verdichtens der ausgewählten Ereignisse zu einer Geschichte74. Hinzu kommt, dass die ausgewählten Ereignisse in „einen prägnanten diachronischen Zusammenhang, der einen Anfang und ein Ende hat“ (Stierle 2012: 241) gestellt werden müssen, sodass „jedes der Geschehensmomente seinen Ort im Hinblick auf Anfang und Ende erhält“ (Stierle 2012: 241). Aus dieser Bezogenheit der Ereignisse auf Anfang und Ende der Geschichte sind die Relevanzkriterien erkennbar, nach denen die Ereignisse ausgewählt wurden und durch die die Geschichte erst ihre Bedeutung als Ganzes erhält (Stierle 2012: 241). Ebenso trifft auf jede Art von Erzählung ganz allgemein, selbst für die Geschichtsschreibung, zu, dass Erzählungen perspektivisch sind (Fludernik 2006: 11, 12). „Die Geschichte ordnet sich in einer Perspektive, die prinzipiell schon ihren Anfang und ihr Ende überschaut und beide in ihrer Relation zu erfassen mag. Der Ort dieser Wahrnehmung ist die Stelle des Erzählers und damit zugleich auch die Stelle dessen, der vermittels des Erzählers zum Teilhaber an der Geschichte gemacht wird.“ (Stierle 2012: 242)
Nicht nur was (Selektion / Geschichte), sondern v.a. wie (Diskurs) erzählt wird, gibt dem Text der Geschichte eine (mehr oder weniger stark ausgeprägte) subjektive Prägung. „Jeder narrative Text hat sein eigenes System von Konzepten, seine eigene ›Ideologie‹, eine unter dem Blickpunkt spezifischer Interessen konstruierte Totalität, die sich zur Totalität der Welt wie zur Totalität des sprachlichen Systems als artikulierte sekundäre Totalität verhält. [Anführungszeichen im Original]“ (Stierle 2012: 171)
Der fiktionalen Erzählung steht es aber frei, Elemente der empirischen Welt in die fiktive zu integrieren und ist nicht an die Ableitung derselben aus historischen Quellen gebunden. Auch was die Anordnung der fiktiven und/oder realen Ereignisse betrifft, steht der fiktiven Erzählung mehr Freiraum offen. Dem Tiefendiskurs wird in fiktiven Erzähltexten ein größerer „Spielraum für die Besetzung prinzipiell möglicher Positionen des Innehabens von Geschichten und der Weisen der Verfügung über sie“ (Stierle 2012: 172) zuteil. Fiktionale Erzähltexte verfügen nach Martínez/Scheffel (2012) durch den „Wegfall jeder unmittelbaren Einbindung in einen realen raumzeitlichen Zusammenhang“ (Martínez/Scheffel 2012: 21) über einen größeren Spielraum, „dessen Ausgestaltung im Wesentlichen der Imagination des Autors überlassen 74 Auch die Quellen, auf die sich die Narration des Historikers/der Historikerin stützt, stellen keine Reinform des Wissens dar, sondern können selbst als „vorgängige Geschichten“ (Stierle 2012: 246) bezeichnet werden. Diese haben „[…] das vergangene Geschehen immer schon ergriffen, gedeutet und im Hinblick auf eine die narrative Form leitende Anschauung stilisiert.“ (Stierle 2012: 246). Diese narrativen Zusammenhänge zu erkennen und kritisch mit ihnen umzugehen, kann so als Voraussetzung für den geschichtswissenschaftlichen Umgang mit Quellen betrachtet werden (Stierle 2012: 246).
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bleibt“ (Martínez/Scheffel 2012: 21) und der prinzipiell alle Kategorien der Erzähltextanalyse umfasst. Dadurch, dass die fiktive Welt nur aus dem Text heraus deutbar ist und nicht wie der faktuale Text durch eine eindeutige Referenz auf die außertextuelle Welt verstehbar ist, können fiktionale Erzähltexte als autoreferenziell bezeichnet werden (Bode 2005: 53). „Und obwohl das Ausgangsmaterial dieser Texte nichts anderes als unsere Sprache ist, passiert mit diesen Sprachzeichen genau das (nur in verstärktem Maße), was mit allen anderen Zeichen auch geschieht, wenn man sie kontextfrei stellt und damit für Selbstbezüglichkeit freigibt: sie werden mehrdeutig.“ (Bode 2005: 53)
Fiktionale Texte unterscheiden sich von faktualen durch ihre Polyfunktionalität und Polyvalenz, was für die Interpretation der Texte bedeutet, dass sie nicht auf einen Sinnzusammenhang alleine reduziert werden können (Assmann A. 1980: 12). Ob ein Text fiktional oder faktual ist, lässt sich nicht an und für sich bestimmen, da Fiktionalität an die historische Situation, Epoche sowie deren Rezipient/innen gebunden ist. Der Text weist meist bestimmte Fiktionalitätssignale75 auf, die auf seinen Charakter hinweisen – das können der Gattung eigene Aspekte sein (Incipit-Formeln, Textschlüsse, bestimmte Formen der Figurenrede, etc.), der Paratext (etwa im Untertitel), die Wahl der Verlagsreihe, aber auch die Selbstreflexion des fiktionalen Status im Werk. (Scheffel 2006b: 122, 123) Folgende weitere textinterne Charakteristika fiktionaler Erzählungen werden von Martínez/Scheffel (2012) genannt: „[…] die Anwendung von Verben innerer Vorgänge auf dritte Personen (‹sie fühlte, dass er kommen würde›) sowie eine Erweiterung des Tempussystems der Sprache, zu der z. B. die Kombination von Zeitadverbien, die auf die Zukunft verweisen, mit Verben in der Zeitform des Präteritums […] (‹morgen war Weihnachten, und sie hatte immer noch kein Geschenk›)76. [Anführungszeichen im Original]“ (Martínez/Scheffel 2012: 18, 19)
Diese sind aber selbst wieder kontext- und epochenabhängig, können also keine absolute Geltung beanspruchen (Lahn/Meister 2013: 8). So ist zwar die Differenzierung zwischen Autor/Autorin und Erzählinstanz eine analytisch notwendige, doch als Bestimmungskriterium für die Unterscheidung von fiktionalen und faktualen Texten eignet sie sich, wie oben bereits von Genette (1990) thematisiert, nicht. Denn die Differenzierung zwischen Autor/Autorin und Erzählinstanz ist meist eine Konsequenz daraus, dass der Text als fiktional gelesen wird (Hempfer 1990: 123). Zu analytischen Zwecken muss dennoch davon ausgegangen werden, dass der reale Autor/die reale Autorin und die Erzählinstanz zwei unterschiedliche, nicht identische Instanzen sind – „egal, wie zahlreich die Parallelen zwischen beiden auch sein mögen“ (Lahn/Meister 2013: 61) –, weshalb für die weitere Analyse der Begriff der Erzählinstanz verwendet wird. Die historische Perspektive macht aber deutlich, dass die 75 Zur Unterscheidung von Fiktionalitätsmerkmalen und Fiktionalitätssignalen vgl. Hempfer (1990: 120, 121).
76 Diese Verwendung lässt sich aber auch in faktualen Texten nachweisen, so Schneider J. (2010: 51, 52).
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Unterscheidung zwischen Autor/Autorin und Erzählinstanz erst im 20. Jahrhundert eingeführt wurde (Hempfer 1990: 123). Schon alleine aus diesem Grund kann für Leser/innen des 19. Jahrhunderts die diskutierte Doppelung der Instanzen kein Fiktionalitätssignal sein. Die Unterscheidung zwischen faktualen und fiktionalen Texten im Sinne eines willing suspension of disbelief finde sich hingegen bereits seit der italienischen Literatur des 16. Jahrhundert, so Hempfer (1990: 123). Wie aber ist vor diesen Überlegungen die Erzählung der Nation einzuordnen? Die Erzählung der Nation – faktuale oder fiktionale Erzählung? Betrachtet man die literarische Erzählung als Teilmenge dessen, was schließlich von der ‚cultural production‘ in eine offizielle Erzählung der Nation (‚public version‘ nationaler Identität) übergeht und ist Erzählen generell ein wichtiges Medium für die Konstruktion der Nation, so stellt sich die Frage nach der Beschaffenheit der Erzählung der Nation im Unterschied zur literarischen Erzählung, die gegebenenfalls als ‚cultural production‘ an dieser mitwirkt. Einige grundsätzliche Reflexionen, wenn auch keine umfassende Systematisierung, seien auf Basis des vorangegangenen Kapitels dazu angestellt. Mit Larrain (2000) konnte die ‚public version‘ nationaler Identität (= offizielle Erzählung der Nation) als jenes Bild der Nation verstanden werden, das im öffentlichen Diskurs und von öffentlichen Akteur/innen kommuniziert wird, d.h. das offizielle Selbstbild einer Nation. Diese Erzählung enthält eine Auswahl einzelner ‚ways of life‘ der Nationsangehörigen, die mithilfe von ‚cultural productions‘ (darunter Gewerkschaften, Interessensvertreter, Kulturinstitutionen, Literatur, Medien, Parteien, etc.) aggregiert und in den öffentlichen Diskurs eingebracht werden. Dabei werden die selektierten Elemente (implizit oder explizit) einer Bewertung unterworfen und weiter zugespitzt, abgeändert oder überformt. Jene Elemente, die daraus in die ‚public version‘ nationaler Identität eingehen – nicht zuletzt, weil sie von staatlichen Akteur/innen und Institutionen aufgenommen werden – erhalten schließlich häufig einen ‚natürlichen‘ Anstrich, so, als ob dieses nationale Eigenverständnis schon immer bestanden hätte. Aufgrund ihrer Basis in den materiellen, historischen Bedingungen und dem Alltag der Nationsangehörigen (‚ways of life‘) können diese großen, offiziellen Erzählungen nationaler Identität nicht als beliebig erfunden betrachtet werden. Ihr konstruierter Charakter wird jedoch zum einen durch den Mechanismus der Naturalisierung, zum anderen dadurch verdeckt, dass sich konkrete Elemente des kulturellen Alltags in ihr wiederfinden lassen, wodurch sie eine Bestätigung durch die Mitglieder der Nation erfahren. Die Konstruktion nationaler Identität muss so auch als eine Frage der Macht verstanden werden; es sind konkret handelnde Akteur/innen mit ihren jeweiligen Interessen an ihr beteiligt. Unterschiedliche Institutionen und Akteur/innen steuern die Auswahl und Bewertung der ‚ways of life‘ und partizipieren letztlich am Entstehen sowohl der ‚cultural productions‘ als auch der ‚public versions‘, wenn sie diese auch nicht letztgültig bestimmen: Denn die ‚readings‘, d.h. die Rezeption der offiziellen Erzählung der Nation durch die Nationsangehörigen, formen und verändern ihrerseits den im öffentlichen Diskurs präsenten Elitenentwurf, der die staatlichen Instanzen durchlaufen hat; das Nationalvolk erscheint so als weiterer kollektiver Akteur. Im Unterschied zur faktualen und zur fiktionalen Erzählung wird die offizielle Erzählung der Nation also von einem nicht genau bestimmbaren (anonymen?) Groß-
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Kollektiv hervorgebracht, innerhalb dessen eine ungleiche Machtverteilung der Akteur/innen und Institutionen besteht. Sie ist selten als Einzeltext verfügbar und setzt sich aus einer schwer definierbaren Menge an ‚cultural productions‘ zusammen, die nicht nur unterschiedliche Medien, Schriftlichkeit wie Mündlichkeit umfassen, sondern auch eine Vielzahl sowohl faktualer (z.B. Geschichtsbücher für Schulen) als auch fiktionaler Erzählungen (z.B. schulische Pflichtlektüre literarischer Texte), wenn auch teils in abgewandelter, bruchstückhafter Form, enthalten. Die offizielle Erzählung der Nation scheint zudem einem steten Wandel unterworfen. Wir haben mit Larrain (2000) festgestellt, dass sich der Kreislauf zur Konstruktion nationaler Identität in steter Bewegung befindet. Ständig kommen neue ‚cultural productions‘ hinzu, die zumindest über das Potenzial verfügen, das nationale Selbstbild mitzuprägen und abzuändern. Ist die offizielle Erzählung der Nation also in parlamentarischen Debatten, Festreden, Reden an die Nation, Schulbüchern, Zeitungsartikel, etc. noch am ehesten in schriftlich fixierter Form zu finden, so können wir nicht von einer fixierten und schriftlich niedergelegten, dauerhaften Version der Erzählung der Nation ausgehen. Sie scheint sich z.T. aus (historischen) Quellen zu speisen, aber einen anderen Umgang mit ihnen zu pflegen als der geschichtswissenschaftliche Text. Ist die Erzählung der Nation demnach eine faktuale oder eine fiktionale Erzählung? Martínez/Scheffel (2012) unterscheiden in ihrer Einführung in die Erzähltheorie zwischen ‚realen vs. fiktiven‘ und ‚dichterischen vs. nichtdichterischen‘ Erzählungen, d.h. zwischen vier möglichen Kombinationen. Die nichtdichterische Erzählung erscheint ihnen unproblematisch, da sie entweder „den Anspruch erhebt, von realen Vorgängen zu berichten“ (Martínez/Scheffel 2012: 12) – dem entspräche dann die faktuale Erzählung – oder als Lüge bzw. Täuschung in Erscheinung tritt, für die genannten Autoren Sonderfälle der faktualen Erzählung. (Martínez/Scheffel 2012: 12) Nun scheint gerade im Falle der Erzählung der Nation keine typisch faktuale Erzählung vorzuliegen: Sie erhebt weder den Anspruch auf realitätsgetreues Erzählen (wie in der Folge deutlich wird) noch will sie als Lüge oder Täuschung rezipiert werden. Hroch (1994) unterscheidet zwischen einer Geschichte als Wissenschaft (die sich der faktualen Erzählung bedient) und gemeinsam erinnerter Geschichte, die nicht Faktizität zu ihrem Anspruch erhebt. Für die Konstruktion nationaler Identität sei nun nicht Geschichte an sich relevant, sondern gemeinsam erinnerte Geschichte. Gerade jene Erzählungen, die ausgewählte und bewertete Elemente aus der Vergangenheit in eine gemeinsame Erinnerung überführen und so zur Identitätskonstruktion beitragen, gemeinsam erinnerte Geschichte also, bezeichnet J. Assmann (2002) als ‚Mythos‘77. Den Begriff des ‚Mythos‘ setzt er dabei weder mit Fiktion gleich, noch stellt er ihn dem der Wahrheit, der Geschichte, gegenüber. Vielmehr fließen in My77 Die Bedeutung des Mythos bei der Konstruktion nationaler Geschichte hat auch Hobsbawm (2005) hervorgehoben. Hobsbawm (2005) geht jedoch davon aus, dass offizielle Mythen tendenziell von einer kulturellen und/oder politischen Elite kreiert werden, da sie nicht von selbst den Alltagserfahrungen der Nationsangehörigen entspringen können. (Vgl. auch Stich 2011: 34) Bei Larrain (2000) kommt hingegen der politischen/kulturellen/ gesellschaftlichen Elite die Aufgabe zu, aus den Alltagsentwürfen nationaler Identität über kulturelle Produktionen offizielle Mythen zu kreieren. Die Elite (darunter Medien, Parteien, sämtliche kulturelle und politische Institutionen) übernimmt hier also eine Aggregationsfunktion (Bündelung von Interessen und Entwürfen).
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then sowohl fiktive als auch faktische Elemente ein. Sie beinhalten Geschichte, formen sie aber zugleich. Laut J. Assmann (2002) werden im kulturellen Gedächtnis historische Fakten zu Mythen transformiert (Assmann J. 2002: 75, 76), gerade weil sie der Funktionsweise von Erinnerungen folgen, nicht jener der Quellenanalyse der Geschichtswissenschaft. „Das, was hier als Formen erinnerter Vergangenheit untersucht werden soll, umfaßt ununterscheidbar Mythos und Geschichte. Vergangenheit, die zur fundierenden Geschichte verfestigt und verinnerlicht wird, ist Mythos, völlig unabhängig davon, ob sie fiktiv oder faktisch ist. […] Mythos ist eine Geschichte, die man sich erzählt, um sich über sich selbst und die Welt zu orientieren, eine Wahrheit höherer Ordnung, die nicht einfach nur stimmt, sondern darüber hinaus auch noch normative Ansprüche stellt und formative Kraft besitzt.“ (Assmann J. 2002: 76)
Demnach ist ihr vorderstes Prinzip nicht die Schaffung von Wissen bzw. das Informationsprinzip (wie bei der faktualen Erzählung), sondern die Herstellung von Normen und eines verbindlichen Nationenbildes samt dessen Geschichte, das die Nationsangehörigen in ihre Identität integrieren können. Dass sie ‚formative Kraft‘ besitzt, zeigt sich nicht nur darin, dass sie (gegenwärtig) die verbindenden Elemente einer Gruppe herstellt, sondern darüber hinaus eine „fundierende Verbindlichkeit [Kursivierung im Original]“ (Assmann J. 2002: 77) über Erinnerungen schafft, die (auch in Zukunft) nicht vergessen werden dürfen. So heißt es bei J. Assmann (2002): „Mythos ist der (vorzugsweise narrative) Bezug auf die Vergangenheit, der von dort Licht auf die Gegenwart und Zukunft fallen läßt.“ (Assmann J. 2002: 78). „Das Gedächtnis verfährt […] rekonstruktiv. Die Vergangenheit vermag sich in ihm nicht als solche zu bewahren. Sie wird fortwährend von den sich wandelnden Bezugsrahmen der fortschreitenden Gegenwart her reorganisiert. Auch das Neue kann immer nur in der Form rekonstruierter Vergangenheit auftreten. […] Das kollektive Gedächtnis operiert daher in beiden Richtungen: zurück und nach vorne. Das Gedächtnis rekonstruiert nicht nur Vergangenheit, es organisiert auch die Erfahrung der Gegenwart und Zukunft.“ (Assmann J. 2002: 41, 42)
Die Kontinuität der Geschichte der Nation bis in die Gegenwart (und in die Zukunft, so kann mit J. Assmann (2002) ergänzt werden) wird laut Stuart Hall (2003) und Larrain (2000) dadurch gesichert, dass die nationale Erzählung stetig wiederholt wird (z.B. in Geschichtsbüchern, Literatur, Medien, Popularkultur, etc.). Anders als faktuale Erzählungen sind Mythen zudem „[…] in einem zeitlosen Raum angesiedelt, weil das, was sie sagen wollen, nicht an konkrete Umstände gebunden ist.“ (Bode 2005: 44, 45). Kann also als Konsens der Erinnerungsforschung angenommen werden, dass sich „Erinnerung, Geschichte und Fiktion […] in Wahrheit nicht trennen [lassen]“ (Neuhaus 2009: 86), so sind für die Konstruktion von nationaler Identität immer auch ‚fiktive‘ Elemente relevant, auch wenn faktuale Texte Teil ihrer ‚cultural productions‘ sind. Wie ist es aber um den Status dieser ‚fiktiven‘ Elemente bestellt? Und in welchem Verhältnis stehen sie zur diskutierten literarischen Fiktion? Nicolas Shumway (1991) hat jene Elemente kollektiver Identität, die für die Konstruktion der Nation grundlegend sind, ‚guiding fictions‘ genannt und sie als Teil einer Exklusionsmythologie (mythology of exclusion) verstanden, da Nationen immer
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auch nach In- und Exklusionsprinzipien funktionieren. ‚Guiding fictions‘ heißen sie deshalb, weil sie ähnlich wie literarische Fiktionen konstruiert sind78 (Shumway 1991: xi). Shumway (1991) zitiert an dieser Stelle Edmund S. Morgan mit dem Hinweis, dass der Regierungserfolg sich maßgeblich auf die Akzeptanz solcher Fiktionen gründet: „[It] requires the willing suspension of disbelief, requires us to believe that the emperor is clothed even though we can see that he is not. Government requires make-believe.“ (Morgan, zit. nach Shumway 1991: xi). Die „willing suspension of disbelief“ greift hier wohl die für die literarische Fiktion angedachte Formulierung von Samuel Taylor Coleridge auf, die den Glauben an die Echtheit mit dem Wissen um die Fiktionalität des literarischen Erzähltextes verbindet. Ein Beispiel dafür wäre die Annahme eines homogenen Kollektivs der Nationsangehörigen, das als fiktional bezeichnet werden kann, wenn auch nicht als beliebig erfunden. Dass es im Falle der Erzählung der Nation allerdings zum Zustandekommen eines Fiktionalitätsvertrages zwischen Autor/Autorin und Leser/Leserin käme, darf bezweifelt werden. Die diskutierten Fiktionalitätsmarker, die dem Rezipienten/der Rezipientin signalisieren, dass es sich um literarische Fiktion handelt, dürften in der Erzählung der Nation kaum vorzufinden sein. Denn anders als der literarische Text wird die Erzählung der Nation nicht nur nach ihrer innertextuellen Logik bemessen, sondern maßgeblich im Hinblick auf ihren ‚Realitäts‘-Bezug. Sie charakterisiert sich durch die Referenz auf die ‚reale‘ Welt, ihre Gesetze und Funktionsweise, kann aber ‚fiktionale‘ Elemente in ihre Erzählung integrieren, wodurch ihre ‚Fiktionalität‘ über die unvermeidliche Perspektivität durch Selektion, Anordnung des Geschehens und Bewertung des Geschehenen hinausgeht79. Die Erzählung der Nation will gerade Aussagen über die Wirklichkeit der Nation treffen und erreichen, dass ihre Version des Nationenbildes für eine wahre, authentische gehalten wird, sodass sie als Teil der Identität der Nationsangehörigen aufgenommen werden kann. Die Erzählung der Nation scheint hier eine eigentümliche Mittelstellung zwischen faktualer und fiktionaler Erzählung zu beziehen, zielt sie doch ähnlich wie die literarische Fiktion auf ein make-believe-Spiel ihrer fiktionalen Elemente ab, möchte allerdings zugleich die Haltung der Rezipient/innen vermeiden, das Dargestellte als nie geschehen bzw. die involvierten Personen als inexistent aufzufassen. Im Gegenteil: Ist sie auch nicht faktual, so will sie doch zumindest als authentisch gelesen werden. Das führt zum Anspruch der Erzählung der Nation. Nach dem bisher Gesagten kann nicht von einem Wahrheits- bzw. Informationsanspruch der Erzählung der Nation, so wie dies bei der faktualen Erzählung der Fall ist, ausgegangen werden. Umgekehrt erhebt sie aber auch keinen künstlerischen Anspruch wie die literarische Erzählung. Der Umstand, dass die Erzählung der Nation fiktionale Elemente aufzuweisen scheint, darf nicht dazu verleiten, die Erzählung der Nation als ‚fiktional‘ zu bezeichnen, wenn Fiktion als Spielregel (vgl. historischer Roman) verstanden wird. Jene fiktiven Elemente, die in der Erzählung
78 „The guiding fictions of nations cannot be proven, and indeed are often fabrications as artificial as literary fictions.“ (Shumway 1991: xi).
79 Im Gegensatz dazu verfügt die literarische Erzählung über die Möglichkeit der Kreation einer fiktiven Welt mitsamt ihrer eigenen Gesetze und Funktionsweise (die Option außertextueller Referenzen eingeschlossen).
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der Nation präsent sind, sollen daher besser als ‚erfundene‘ Elemente80 bezeichnet werden. Damit wird ausgedrückt, dass die Erzählung der Nation gerade nicht den Spielregeln der Fiktion unterworfen ist, sie nicht als Fiktion gelesen werden will und ihr wichtige Charakteristika der literarischen Fiktion fehlen. Dennoch teilt sie mit der literarischen Fiktion das Vorhandensein erfundener Elemente (Personen, Orte, Ereignisse, etc.), die aber als authentisch rezipiert werden sollen und insofern durchaus eine make-believe-Strategie verfolgen. Während sich die literarische Erzählung neben den beiden auch mit der faktualen Erzählung gemeinsamen Mechanismen der Selektion und des Bewertens81, gerade durch Fiktionalisierung charakterisiert (im Unterschied zur faktualen Erzählung), so scheint für die Nation der bei Larrain (2000) genannte Mechanismus der Naturalisierung zentraler: das make-believe-Spiel, dass es die Charakteristika der Nation immer schon gegeben habe, dass sie gerade nicht erfunden, sondern natürlich seien und zwar sowohl, was die Vergangenheit als auch die Zukunft der Nation betrifft. Als Anspruch der Erzählung der Nation kann so die Identifikation82 genannt werden. Anders aber als bei den Identifikationsstrategien in literarischen Texten handelt es sich hierbei um kein ‚Als-ob‘, um keine ‚Probeerfahrungen‘, um kein ‚Sich-Hineinversetzen‘ in das Innenleben einer Figur, sondern um als authentisch präsentierte gemeinsame Erfahrungen und Erinnerungen83. Die Erzählung der Nation macht deutlich, dass die vier von Martínez/Scheffel (2012) genannten Kombinationsmöglichkeiten unterschiedlicher Arten der Erzählung erweitert werden müssen. Scheffel (2006a) selbst erwähnt an anderer Stelle eine Sonderform der Erzählung, die auf André Jolles zurückgeht und als ‚vorliterarisch‘ bezeichnet wird, da sich in diesen Formen der Erzählung kein Dichter ausmachen lässt. Genannt werden als Sonderform der Erzählung „Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen und Witz“ (Scheffel 2006a: 102). Und auch Sander (2006) weist auf Mischformen von faktualem und fiktionalem Erzählen hin, „[…] denn auch faktuale Erzählungen über historische Personen und Ereignisse weisen Fiktionalisierungstendenzen auf.“ (Sander 2006: 110). Es spricht somit einiges für die Annahme eines Erzähltext-Kontinuums mit den Polen ‚faktual‘ und ‚fiktional‘. Die Spezifika der auf dem Kontinuum anzusiedelnden Erzähltexte sind im Einzelfall genau zu bestimmen. Dies gilt umso mehr als die Unterscheidung von Erzähl80 Der Begriff ‚erfunden‘ bzw. ‚Erfindung‘ bietet sich in diesem Zusammenhang an, nennt doch auch Shumway (1991) seine Studie zu den ‚guiding fictions‘ im Argentinien des 19. Jahrhunderts The Invention of Argentina, während der Begriff der ‚Imagination‘ oder ‚Vorstellung‘ dem Vorwurf der beliebigen Erfindung ausgesetzt ist. 81 Im Gegensatz zur fiktionalen Erzählung und der Erzählung der Nation muss die faktuale Erzählung eine Begründung für die Auswahl ihrer Elemente liefern. Was den Mechanismus des Bewertens betrifft, so können auch historiographische Texte nie gänzlich wertfrei sein, sie stellen aber den Anspruch auf Intersubjektivität. 82 Ähnlich wie die literarische Erzählung spricht sie damit sowohl Verstand als auch Affekte an, während die Reinform der faktualen Erzählung auf intellektuelles Verstehen und Nachvollziehen ausgerichtet ist. 83 Da die Erzählung der Nation dem Wahrheitsanspruch der faktualen Erzählung nicht genügen muss, sie es andererseits aber auch nicht riskieren kann als Lüge oder Täuschung demaskiert zu werden, könnte eine Analyse der gegebenenfalls zum Einsatz kommenden Manipulationsstrategien erhellend sein.
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texten nach Faktizität oder Fiktionalität nicht für alle Epochen gleichermaßen anzunehmen ist. Wie Carillo Zeiter (2010) zeigt, sind gerade im 19. Jahrhundert in der Literaturgeschichtsschreibung zahlreiche fiktive Elemente zu finden. Wink (2009: 63) weist auf die Integration fiktionaler Elemente in der Historiographie der Zeit hin. Und auch im Medium der Zeitung sind literarische Texte in Form des Fortsetzungsromans sehr präsent. Selbst wenn literarische Erzählungen als ‚cultural productions‘ Teil der Erzählung der Nation sind, so ist die Erzählung der Nation doch selbst keine literarische Fiktion, obgleich sie einige Charakteristika mit ihr teilt. Und selbst wenn faktuale Erzählungen Teil der ‚cultural productions‘ der Erzählung der Nation sind, so weicht sie doch erheblich von den Charakteristika der faktualen Erzählung ab, obgleich auch sie Charakteristika mit ihr teilt. Ihren ‚Mischcharakter‘ scheint sie aber nicht daraus zu beziehen, dass sich sowohl faktuale als auch fiktionale Erzählungen unter den ‚cultural productions‘ finden. Wie bei J. Assmann (2002) beschrieben, scheinen es vielmehr die Strukturen des Mythos, des gemeinsamen Erinnerns und der Herstellung (kollektiver) Identität zu sein, die ihre Spezifika ausmachen. Beim Erzählen gemeinsamer Erinnerungen84 entsteht laut Neumann B. (2003) etwas Über-Individuelles, Kollektives, Neues als Teil des Prozesses der Identitätskonstruktion. Dass dieser Prozess notwendigerweise erfundene Elemente enthält, ist bei Hall (2003) nachzulesen85: „They [identities] arise from the narrativization of the self, but the necessarily fictional nature of this process in no way undermines its discursive, material or political effectivity, even if the belongingness, the ‚suturing into the story‘ through which identities arise is, partly, in the imaginary (as well as the symbolic) and therefore, always, partly constructed in fantasy, or at least within a fantasmatic field. [Anführungszeichen im Original]“ (Hall 2003: 4)
Hinzu kommen die oben diskutierten Unterschiede sowohl zur faktualen wie zur fiktionalen Erzählung, etwa die undefinierbare, kollektive Autorschaft, die ungleiche Machtverteilung zwischen den einzelnen beteiligten Akteur/innen und Institutionen sowie die Frage nach der Definitionsmacht, ihre nicht fixierte, ständigem Wandel unterworfene Form, die sich aus einer Vielzahl an schriftlichen und mündlichen Kommunikationsformen zusammensetzt, etc. Die Erzählung der Nation lässt sich nicht mit einem konkreten Text gleichsetzen; sie setzt sich vielmehr aus einer Sum84 Dies ergibt sich laut Neumann B. (2003: 63) schon alleine daraus, dass die Summe an Erinnerungen mit der Zahl der sich erinnernden Individuen steigt (auch, wenn es sich um dasselbe Ereignis handelt), da jeder Einzelne andere Details in Erinnerung behält. Zudem neigen Gruppen bei Erinnerungen dazu, das Erlebte mit Details aus dem Kontext der Erinnerung auszuschmücken. Wie Larrain (2000) erwähnt auch Neumann B. (2003) den Mechanismus des Bewertens, wenn sie darauf aufmerksam macht, dass die erinnerten Elemente im Hinblick „auf gruppenspezifische Relevanzkriterien und Wertehierarchien“ (Neumann B. 2003: 63) vereinheitlicht werden. 85 Inwieweit das unvermeidliche ‚Erfinden‘ von Elementen der Erzählung der Nation auf Mechanismen der Erinnerung und Identitätsbildung zurückzuführen ist, inwieweit jedoch bewusst ‚unwahre‘ Elemente in die Erzählung eingewebt werden, wäre eine untersuchenswerte, jedenfalls aber mitzudenkende Frage. Damit stellt sich die Frage nach Manipulation und Propaganda, jene nach der Definitionsmacht muss neu gestellt werden.
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me unterschiedlichster mündlicher und schriftlicher Formen von Diskursen und kulturellen Elementen zusammen. Zu nennen wäre weiters auch der der Erzählung der Nation eigentümliche Naturalisierungsmechanismus, mithilfe dessen Mechanismen der Auswahl, Bewertung und Erfindung von bestimmten Elementen verschleiert werden und die ‚public version‘, d.h. die öffentliche Narration der Nation, so präsentiert wird, als sei sie direkt der ‚realen‘ Welt und noch spezifischer, den ‚ways of life‘ der Nationsangehörigen, entnommen, bereits immer vorhanden und auch für die Zukunft der Nation gültig. Spezifika der literarischen Erzählung als ‚cultural production‘ Stierle (2012) sieht es als ein zentrales Charakteristikum der literarischen Erzählung an, dass sie an die eigene Erfahrung der Rezipient/innen appelliert: „Gerade dadurch, daß die Geschichte mehr ist als Funktion ihrer eigenen Struktur, daß sie diese Struktur notwendig überschreitet, kann sie zum Instrument der Artikulation von Erfahrung werden, die nicht in der Endgültigkeit und Abgeschlossenheit des Wissens verharrt, sondern sich als ein Kontinuum von Erfahrungsmomenten entfaltet. Dadurch aber ist sie auch in der Lage, im Hörer oder Leser eigene Erfahrung in Bewegung zu bringen. Der narrative Zusammenhang […] folgt einer Anschauungsform, die aus Erfahrung hervorgeht und an Erfahrung appelliert.“ (Stierle 2012: 243)
Die einzelnen Gattungen der Erzählung lassen sich laut Stierle (2012) nach ihren Anschauungsformen von Erfahrung unterscheiden (Stierle 2012: 243). Weiter oben wurde allgemein für Erzählungen die Sinnstiftung, verstanden als Ordnung und Herstellung sinnhafter Bezüge durch die Herstellung zeitlich-kausaler Relationen im narrativen Text gegenüber dem ungeordneten, unübersichtlichen Chaos der ‚Wirklichkeit‘, als eine ihrer Funktionen genannt. Stellt nun die literarische Erzählung die subjektive Sicht eines Individuums in ihr Zentrum, so vermag sie es aufgrund ihres autonomen Charakters der außertextuellen Welt gegenüber nicht nur allgemeine, auf die empirische Welt bezogene, sondern subjektive Sinnorientierung innerhalb der Diegese bereitzustellen. Gleichzeitig ist sie aber in der Lage, je nach Art und Umfang der außertextuellen Bezüge auch Sinnorientierungen für die empirische Welt bereitzustellen. Und noch eine dritte Sinnorientierung scheinen literarische Erzählungen zu ermöglichen, bedingt durch ihre Autoreferenzialität, nämlich die „Thematisierung von Sinnstiftungsmöglichkeiten durch Erzählen, das kreative Durchspielen von Verfahren der Sinnstiftung [Kursivierung im Original]“ (Bode 2005: 317) selbst. (Reinfandt 1997: 147-154) „[D]ie Position, die der Text dem Leser zuschreibt, die Aktivitäten, die er ihm abverlangt, die Verfahren, die er ihm nahelegt, sind exakt die, die im jeweiligen Roman selbst thematisiert bzw. entfaltet werden, so dass das Lesen dieser Texte zum aktiven, ‚allegorischen‘ Nachvollzug des nicht zu Ende kommenden Bemühens um Sinn schlechthin erscheint. [Anführungszeichen im Original]“ (Bode 2005: 321, 322)86
86 Diese Verfahren scheinen für den „postmimetischen Roman der Moderne und Postmoderne“ (Bode 2005: 322) noch zentraler zu sein als für den frühen Roman.
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Besonders hervorgehoben werden muss schließlich, dass eben jenes Verständnis fiktionalen Erzählens maßgeblich durch den Roman der Romantik und des Realismus geprägt und vorangetrieben wurde. Wie Christoph Reinfandt (1997) in seiner Dissertation zeigen kann, wurde das im Anschluss zu beschreibende Verhältnis von Realität und Text, von außerliterarischer und innertextueller Welt, und das Bewusstsein von deren Unterschiedlichkeit in den Romanen des 19. Jahrhunderts geprägt – im Roman des 18. Jahrhunderts hingegen wurde der Bezug zur außerliterarischen Welt noch nicht als literarischer Effekt verstanden, den es von der Mimesis der außertextuellen Realität zu unterscheiden gilt87. Laut Reinfandt (1997) zeigt sich im europäischen Überblick, dass mit der Romantik „mimetisch-pragmatische Legitimationsstrategien“ (Reinfandt 1997: 126) des Romans zurückgedrängt wurden. (Reinfandt 1997: 190193) Wie verhält es sich nun, wenn in fiktionale Erzählungen außerliterarische, ‚reale‘ Ereignisse, Personen, Orte, etc. integriert werden? In welchem Verhältnis stehen sie zum sogenannten Fiktionalitätsvertrag? Wie ordnet sich hier die Gattung des historischen Romans ein? Es ist naheliegend anzunehmen, dass gerade der Bezug literarischer Erzählungen zur außertextuellen Welt eine wichtige Fragestellung für jene Texte ist, die aufgrund ihrer internen Inszenierung der Nation für die Konstruktion nationaler Identität bedeutend geworden sind. Die meisten Autoren stimmen überdies darin überein, dass Fiktion nicht ohne jeglichen Wirklichkeitsbezug auskommt: „[…] das Problem der Fiktion läßt sich nicht denken, beschreiben oder werten ohne den Bezug auf ein noch so verhohlenes Wirklichkeitsbild.“ (Assmann A. 1980: 7). Durch den angesprochenen Modus des ‚Als-ob‘ kann Fiktion gestalterisch Formen der Realität entwerfen, die die außertextuelle Welt bestätigen oder verfremden. Sie können der Realität gegenüber aber auch reflexiv oder gar subversiv angelegt sein, sie also kritisch hinterfragen. (Assmann A. 1980: 14-17) Mit Stierle (2012) lässt sich davon ausgehen, dass auch der überwiegende Bezug zur außertextuellen Welt in literarischen Erzählungen wie dem historischen Roman grundsätzlich nichts am Status der Fiktion mit all seinen Implikationen – auch für den Rezeptionsvorgang – ändert. Fiktional bedeutet dann nicht, dass alles, was in die literarische Erzählung einfließt, erfunden sein müsste. Fiktion ließe sich hier vielmehr als „Spielregel“ (Stierle 2012: 244) bezeichnen, d.h. dass sowohl der Fiktionalitätsvertrag als auch alle anderen diskutierten Charakteristika der fiktionalen Erzählung aufrecht bleiben, selbst wenn es in der realen Rezeption vorkommen mag, das Dargestellte als Wirklichkeit zu interpretieren. (Stierle 2012: 244, 245) Beim Selektionsvorgang jener Ereignisse, die in die textuelle Welt einfließen sollen, verfügt der Autor/die Autorin fiktionaler Erzählungen über mehr Freiheiten als der Autor/die Autorin faktualer Erzählungen, da es ihm/ihr offensteht, Ereignisse zu erfinden und/oder Ereignisse der außertextuellen Wirklichkeit in den Text zu integrieren, sie zu formen, etc. In welcher genauen Wechselwirkung steht aber Fiktion mit der außertextuellen Welt und welche Verfahren und Abläufe können dabei analytisch unterschieden werden? Mit diesen Fragen hat sich u.a. Neumann B. (2003) intensiv auseinandergesetzt. Sie stützt sich in ihren Ausführungen auf das Mimesis87 Die konzeptuelle Unterscheidung zwischen Literatur und Geschichte sowie faktualer und fiktionaler Erzählung beginnt in England ab 1650, wie Reinfandt (1997: 10) mit Bezug auf McKeon erklärt.
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Modell von Ricœur (1988), das es erlaubt, das Verhältnis von innerliterarischer Welt und extraliterarischem Bezug genauer zu bestimmen. „Konzipiert man fiktionale Erzähltexte als produktive Ausdrucksform der übergeordneten Sinnstiftungsprozesse einer Kultur, die sich zum einen aus dem verfügbaren Wissen ihres Entstehungskontexts speisen, zum anderen auch produktiv auf ihn zurückwirken, so ergeben sich für die Konzeptualisierung des Verhältnisses von Literatur und Erinnerungskultur drei zentrale Fragestellungen (vgl. Erll 2003a): (1) Wie läßt sich das dialogische Verhältnis fiktionaler Texte zu ihrem geschichtlichen Entstehungskontext und zu dem kulturell zirkulierenden Wissen ihrer Zeit spezifizieren? (2) Mittels welcher Spezifika des Symbolsystems Literatur können literarische Texte überhaupt eigenständige Formen der kollektiven Erinnerungs- und Identitätsstiftung entwerfen? (3) Wie läßt sich der Beitrag, den literarische Texte zur extraliterarischen Erinnerungskultur leisten, ihre gesellschaftliche Wirksamkeit also, beschreiben?“ (Neumann B. 2003: 66)
Mit Mimesis I greift Neumann B. (2003) einen Begriff von Ricœur (1988) auf, der die Art und Weise, wie literarische Texte mit der ‚realen‘ Welt verknüpft sind, beschreibt. Literarische Texte weisen zumeist Bezüge zur extraliterarischen Welt auf, indem sie sich auf historische Personen, Ereignisse, Orte, etc. beziehen und diese in die fiktive Welt einweben. „Als imaginative Form der Welterschließung speisen sich […] auch literarische Werke aus den kulturell verfügbaren Begriffsnetzen der vorgängigen, extraliterarischen Realität.“ (Neumann B. 2003: 67). Denn: „Trotz des von ihr gesetzten Bruches wäre […] Literatur unrettbar unverständlich, wenn sie nicht etwas gestalte, was in der menschlichen Handlung bereits Gestalt hat.“ (Ricœur 1988: 104). Wie in jeder Art von Erzählung ist der Bezug zu ‚realen‘ Ereignissen, Personen und Orten zwingendermaßen von Selektion aus einem unüberschaubar großem Spektrum an Geschehnissen, Personen, Orten und den Erinnerungen an sie geprägt. „Durch bewußte Selektionsentscheidungen bringen literarische Texte konstitutive Erfahrungen und Identitätskonzepte bestimmter Erinnerungsgemeinschaften zur Anschauung, während sie Gedächtnisinhalte anderer Kollektive unterrepräsentiert oder völlig unberücksichtigt lassen.“ (Neumann B. 2003: 67)88
Ebenfalls trifft auf die literarische, wie allgemein auf die Erzählung, zu, dass mit dem Selektionsprozess eine Bewertung sowohl der ausgewählten (explizit) als auch der ausgeblendeten (implizit) Elemente erfolgt. Dies kann in mehr oder weniger subtiler Weise geschehen. Eine Bewertung erfolgt bereits bei der Anordnung der Elemente und ihrer logischen Verbindung, d.h. im Schreiben einer Geschichte. (Neumann B. 2003: 67). „Die Bedeutung der narrativen Anordnung besteht darin, daß sie die selegierten Segmente allererst in eine bedeutsame Beziehung treten läßt und so eine kohärente Sinnkonstitution ermöglicht. Die narrative Strukturierung ist mithin immer auch schon eine Interpretation des Erzähl-
88 Zugleich können literarische Texte auch vergessene Aspekte wiederaufgreifen (Neumann B. 2003: 67) und zu „alternative[n] Erinnerungswelten“ (Neumann B. 2003: 69) werden.
150 | F REIHEIT UND N ATION ten, durch die bestimmte Elemente aufgrund ihrer Relation zu anderen als bedeutungsvoll verstanden werden.“ (Neumann B. 2003: 68)
Literarische Texte teilen also mit anderen Formen des Erinnerns die Mechanismen der Selektion und der Bewertung von Vergangenem (bzw. Erfundenem), wobei die ausgewählten Elemente aus der Vergangenheit in Erinnerung gerufen werden. Es gilt also, dass „[…] auch die dichterischen Texte von der Welt sprechen, obwohl sie es nicht im Modus der Deskription tun. [Kursivierung im Original]“ (Ricœur 1988: 126). Anders aber als bei Erzählungen, die aus der gemeinsamen Erinnerung entstehen, erlaubt es literarischen Erzähltexten ihr fiktionaler Charakter, bestehende Grenzen von Erinnerungsgemeinschaften und sozialen Gruppen zu durchbrechen, abzuändern, zu überschreiten oder neu zu gestalten. Sie können zudem um fiktionale Elemente ergänzt und erweitert werden und haben so die Möglichkeit, neue Sichtweisen auf gemeinsame Erinnerungen und/oder die gemeinsame Vergangenheit zu werfen. Zu den bei Larrain (2000) beschriebenen Mechanismen der Selektion, Bewertung (und Naturalisierung) in Bezug auf die Konstruktion von nationaler Identität kann bei literarischen Erzählungen der Mechanismus der ‚Fiktionalisierung‘ hinzugefügt werden. Bezüglich der Mimesis II, der innerliterarischen Welt, lässt sich ein weiteres Privileg von fiktionalen Erzählungen gegenüber der Erzählung im Allgemeinen identifizieren: Die Wirkung literarischer Texte erwächst nicht nur aus ihrem (selektierten, bewerteten, um fiktionale Elemente erweiterten und in eine bedeutsame Reihenfolge und Zeitstruktur gebrachten89) Inhalt, sondern auch aus ihrer Form, d.h. der Art und Weise, wie erzählt wird. „Um diese formalen und strukturellen Aspekte, in und mit denen Gedächtnisprozesse narrativ textualisiert werden, in den Blick zu bringen, bietet sich der Rückgriff auf narratologische Analysekategorien an.“ (Neumann B. 2003: 69). Denn die narratologische Analyse offenbart, wie formale Elemente zu bedeutungsformenden Elementen werden können. „Letztlich können alle narrativen Gestaltungsmittel bei entsprechender Semantisierung dazu beitragen, bestimmte Vorstellungen von kollektiver Sinnstiftung zu vermitteln.“ (Neumann B. 2003: 70, 71). Mit Mimesis III schließlich ist die Rezeption gemeint, über die der literarische Text schließlich wieder mit der extraliterarischen Welt verbunden ist. Über den Vorgang der Rezeption kann der literarische Text mehr oder weniger stark formend auf die Realität einwirken, etwa indem er zu einer Neustrukturierung kollektiver Erinnerungen anregt. (Neumann B. 2003: 69) „Die Spezifik des Rezeptionsvorgangs besteht Ricœur zufolge darin, daß die interpretative Erschließung der im Text entworfenen Alternativwelten neue, bislang ungekannte Aspekte der extratextuellen Wirklichkeit zugänglich macht (ebd.: 126f).“ (Neumann B. 2003: 71).
89 Ricœur meint dazu: „[Der] Akt des Konfigurierens besteht darin, die Einzelhandlungen oder was wir die Vorfälle der Geschichte nannten, ‚zusammenzunehmen‘; aus dieser Vielfalt von Ereignissen macht er die Einheit einer zeitlichen Totalität. [Anführungszeichen im Original]“ (Ricœur 1988: 107).
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Graphik 4: Kreislaufmodell nationaler Identitätsbildung
A
Bewertung
Mimesis II Narrative Konfiguration (Inhalt und Form)
B
Literarische Erzähltexte Mimesis I Selektion, Bewertung, Fiktionalisierung
Mimesis III Readings
Quelle: Eigene Darstellung basierend auf Larrain (2000: 36), Johnson (1993), Ricœur (1988), Neumann B. (2003)
Larrains (2000) Modell zur Konstruktion nationaler Identität kann nun um eine detailliertere Abbildung der Rolle von literarischen Erzähltexten als eine der relevanten ‚cultural productions‘ ergänzt werden. Literarische Erzähltexte sind einerseits mit der extraliterarischen Realität (‚ways of life‘90) verbunden, indem sie über die Möglichkeit verfügen, sich auf sie zu beziehen, Elemente aus ihr auswählen, diese bewerten und gegebenenfalls fiktionalisieren (Mimesis I). Im Vorgang der Mimesis II werden sie in eine kausale Abfolge und Erzählung gebracht und mithilfe literarischer Verfahren inszeniert. Über Lektüre des literarischen Textes (‚readings‘) wirken sie auf den extraliterarischen Kontext und die ‚ways of life‘ (der Leser/innen) zurück (Kreislauf B). Der literarische Erzähltext kann aber als ‚cultural production‘ (vgl. Verbindungslinie in der Graphik) zugleich in den öffentlichen Diskurs der Nation eingehen und so Teil des Kreislaufes zur Konstruktion nationaler Identität werden (Kreislauf A). Neben der Selektion und Bewertung von Elementen aus den ‚ways of life‘ wird der literarische Erzähltext von Akteur/innen und/oder Institutionen in öffentliche Na-
90 Die ‚ways of life‘, also jene Alltagspraktiken, die als Teil der nationalen Identität begriffen werden, könnten auch als jene scheinbar überflüssigen Details (Barthes 1968: 84) der Erzählung Eingang in den fiktionalen Text finden, die nach Roland Barthes (1968) den effet de réel ausmachen. Für den Hinweis danke ich Christopher F. Laferl. Barthes hat hier darüber hinaus jene detailreichen Beschreibungen im Blick, die im Sinne der vraisemblance eine „illusion référentielle [Kursivierung im Original]“ (Barthes 1968: 88) erzeugen, während die ‚ways of life‘ in fiktionalen Texten als tatsächliche außerliterarische Referenzen gewertet werden müssen.
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tionsentwürfe integriert und mit diesen in Einklang gebracht. Die Erzählung der Nation speist sich so (auch) aus literarischen Erzähltexten. Das oben dargestellte Modell zeigt, dass literarische Texte, die dem Selektionsprozess der nationalen Identitätsbildung nicht standhalten, im Prozess der nationalen Identitätskonstruktion ein subversives, kritisches Potenzial entfalten können. Der innere Kreis ist so angelegt, dass literarische Texte über die Verfahren der Mimesis IIII auf die ‚ways of life‘ einwirken können, ohne von nationalrelevanten, öffentlichen Institutionen und Akteur/innen aufgenommen zu werden. Das Modell veranschaulicht zudem, dass literarische Erzähltexte (als Teil der ‚cultural productions‘) – trotz oder gerade wegen ihres fiktionalen Charakters – aktiv zur Konstruktion der Nation beitragen und diese nicht nur reproduzieren. Die Mehrdeutigkeit literarischer Texte erlaubt jedoch keine konkreten Aussagen darüber, wie diese rezipiert und interpretiert werden. „Die Frage, wie Texte im Rezeptionsakt refiguriert werden und welche gesellschaftlichen Funktionen sie erfüllen, läßt sich, so Ricœur, auf der Basis der textuellen Struktur allein nicht beantworten.“ (Neumann B. 2003: 72). Darauf weist auch Unzueta (2003) hin, wenn er betont, dass die Beliebtheit literarischer Texte und ihre breite Rezeption noch keine Rückschlüsse darauf erlauben, wie ihre nationale Dimension gelesen wurde (Unzueta 2003: 118)91. Da literarische Texte eine Bandbreite an potenzieller Wirkung und Interpretation bieten, kann sich die Rezeption zudem auch über die Zeit hinweg verändern, andere Aspekte stärker in den Mittelpunkt rücken oder eine subversive Lesart ausbilden. Literarische Erzähltexte scheinen in Graphik 4 also als eine mögliche Art der ‚cultural productions‘ auf, die die Erzählung der Nation hervorbringen. An der Erzählung der Nation wirken sämtliche kulturelle Elemente mit, wovon Literatur ein Teil ist. Larsen (2001) sieht als Konsens in der Literatur- und Kulturwissenschaft an, dass „[…] ‚literature‘ – as a subset of ‚narrative‘ – simultaneously ‚constructs‘ the ‚national‘ culture or tradition that it had formerly been assumed merely to embody and represent. [Anführungszeichen im Original]“ (Larsen 2001: 170). Wenn auch darüber Konsens besteht, dass Literatur konstruktiv auf die Erzählung der Nation einwirkt, so besteht über die Reichweite von Literatur beim Nationenbildungsprozess im 19. Jahrhundert keine Einigkeit. So finden sich sowohl Positionen, die die Rolle von Literatur stark hervorheben: „[E]l objeto de esta literatura, la realidad americana, no es un ente que se reproduce en la literatura, sino que se produce en gran medida a través de esta literatura.“ (Leopold 2010: 8)92, während andere Autoren betonen, dass 91 Nichtsdestotrotz versucht Unzueta (2003) über die bestehenden Konventionen, wie Literatur geschrieben und gelesen wurde (Lesepraktiken, Poetiken, „the literary historical tradition, and the readers‘ possibilities to establish comparisons between a ‚narrower horizon of literary expectations‘ and the ‚wider horizon of experience of life‘. [Anführungszeichen im Original]“ (Unzueta 2003: 119)) auf die gesellschaftliche Funktion literarischer Texte zu schließen. 92 Noch deutlicher wird dies bei Ainsa (1986), der meint: „Se puede decir sin exagerar que gran parte de la identidad cultural de Iberoamérica se ha definido gracias a su narrativa. […] Nada mejor que la ficción para explicar la realidad. […] La ficción literaria ha podido ir ‚más allá‘ que cualquier tratado de antropología o estudio sociológico en la percepción de la realidad. Los datos estadísticos y las informaciones objetivas resultan muchas veces secundarios frente al poder evocador de las imágenes y las sugerencias de una metáfora.
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zwar die Erzählung der Nation das Objekt ‚Nation‘ hervorbringt, diese Erzählung aber von einer Vielzahl an (narrativen) Medien konstituiert wird, wovon Literatur nur eines ist. So kritisiert Johnson (1993), dass der Fokus der Literaturwissenschaft auf hochelaborierte, ‚elitäre‘ und exemplarische Texte für die Untersuchung der Nation zwingendermaßen eine Reduktion bedeutet, die zum Beispiel populäre Formen und Texte ausschließt, wobei gerade die Rolle letzterer epochenspezifisch zu beantworten ist: „The reading of relatively abstracted discursive forms cannot be a sufficient method even for a cultural study. To retain something of older conceptions of culture – culture as meanings held or sedimented in whole ways of living – is to stay sensitive to such connections. From this point of view national identity cannot be reduced to discourse or narrative, especially not to a singular discourse or narration. Any cultural product only acquires weight and a long life by activating a complex moving web of discourses and narratives, already in process in many different public and private spaces.“ (Johnson 1993: 183)
Die Schwierigkeit der Frage danach, welche Rolle dem literarischen Erzähltext als ‚cultural production‘ bei der Konstruktion nationaler Identität zukommt, liegt darin begründet, dass Literatur93 sowohl zum Symbol für die Nation werden kann als auch Medium zur Konstruktion der Nation ist. Auch dass sie beides zugleich sind, ist denkbar. Im Folgenden werden also zwei Ebenen unterschieden: 1. Die symbolische Ebene, in die literarische Erzähltexte – ebenso wie Bilder, Musik, Tanz, Kleidung, Nationalgerichte, Gedenktage, Denkmäler, etc. – selbst als Symbol eingehen und (ganz abgesehen von ihrem Inhalt) über die nationale Erzählung zum Teil des nationalen Vorstellungsinventars werden und 2. die Ebene der nationalen Erzählung (= ‚public version‘), an der literarische Erzähltexte konstruktiv mitwirken können, inGracias al esfuerzo de comprensión imaginativa que ha propiciado la narrativa, se ha podido sintetizar la esencia de una cultura y ha sido posible la visión integral de la identidad americana. [Anführungszeichen im Original]“ (Ainsa 1986: 23, 24), wobei mit ‚narrativa‘ literarische Texte gemeint sind. Wink (2009) meint, dass in literarischen Texten verschiedene kulturelle Elemente durch ihre Auswahl und Kombination „zu typisierenden Bildern verdichtet [Kursivierung im Original]“ (Wink 2009: 62) werden können, „zum Beispiel in Form von ‚Nationalcharakteren‘, historischen Ereignissen und gesellschaftlichen Ritualen [Anführungszeichen im Original]“ (Wink 2009: 62). Kulturelle Elemente werden in literarischen Texten nicht abgebildet, sondern erst in dieser Verdichtung hervorgebracht. Zugleich wird verschleiert, dass hier etwas Neues kreiert wird: Der literarische Text stellt diese Elemente so dar, als wären sie bereits in der ‚realen‘, extraliterarischen Nation vorzufinden. (Wink 2009: 61, 62) 93 Dies ist kein Charakteristikum allein literarischer Texte. Selbst Bilder können sowohl zum Symbol der Nation werden als auch Darstellungen zeigen, die das nationale Projekt vorantreiben sollen (vgl. etwa El juramento de los Treinta y Tres Orientales von Juan Manuel Blanes (Uruguay), in dem die Darstellung der 33 Uruguayer nicht historischer Treue, sondern nationalen Zielen folgt, Achugar 2009: 13). Holm (2005: 145) analysiert überdies eine „den Bildern eingelagerte Geschichte“ und deren „Erzählweisen“ am Beispiel Pablo Picassos. Zu diskutieren, inwieweit andere Medien – neben Literatur – interne Narrative der Nation aufweisen (können), liegt jedoch außerhalb der Reichweite dieser Arbeit.
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dem sie als narratives Medium erzählen, worin die Nation besteht und was die Nation ausmacht94. Literarische Erzähltexte wirken dann an der Erzählung der Nation selbst mit. Auf der ersten Ebene wird also ein literarischer Text nachträglich in die offizielle Erzählung der Nation (‚public version‘) eingeschrieben, auf der zweiten Ebene schreibt Literatur aktiv die Erzählung der Nation (mit). Dass die beiden Ebenen analytisch getrennt werden sollten, obwohl es zahlreiche Beispiele für literarische Texte gibt, die beide Ebenen zugleich bedienen, kann an literarischen Texten beobachtet werden, die bereits lange vor dem Entstehen der Nation verfasst wurden und so nicht für die Konstruktion der Nation über Literatur in Frage kommen, trotzdem aber zum Nationalsymbol wurden (man denke z.B. an El Cid als nationales Symbol für Spanien). Dass gerade sie so eng mit der Nation verknüpft wurden (und nicht andere bedeutende Texte der Epoche), zeigt, dass sie im Zuge der Konstruktion der Nation ausgewählt wurden. Die Verbindung mit der spanischen Nation musste erst hergestellt werden, der literarische Text erst in eine nationale Erzählung eingebettet werden, aus der hervorgeht, weshalb der einige hundert Jahre vor Entstehen der spanischen Nation verfasste Cid symbolisch für ebendiese stehen kann. Die Symbolwerdung eines literarischen Textes ist so von außen bestimmt und auf der extraliterarischen Ebene anzusiedeln, während narrative Texte – im Unterschied zu manchen Nationalsymbolen – zugleich die Möglichkeit bieten, die Nation intern zu erzählen und zu inszenieren. Angedeutet wird diese Differenzierung zwischen den beiden Ebenen auch bei Leopold (2010), auch wenn hier die Begrifflichkeiten Nationalliteratur und nationbuilding Literatur synonym verwendet werden: „Para nuestro propósito, empero, hay que subrayar el momento simbólico de esta identificación, y sobre todo el momento literario que nos interesa aquí. Desde este punto de vista la literatura de la Independencia sería Nationalliteratur en el sentido enfático pues no sólo (d)escribe la nación, sino también desencadena una práctica de lectura perpetua que es parte vital de este nation-building literario. [Kursivierungen im Original]“ (Leopold 2010: 9, 10)
Eine begriffliche Trennung zwischen Nationalliteratur und nation-building-Literatur wäre jedoch möglich und scheint hinsichtlich der häufigen und variierenden Verwendung angebracht: Während unter Nationalliteratur meist der literarische Kanon eines bestimmten Nationalstaates verstanden wird, so rückt der Begriff nationbuilding-Literatur die aktive Rolle von Literatur bei der Konstruktion der Nation stärker in den Vordergrund. Man könnte differenzieren, dass bei der Kanonisierung von Nationalliteratur (je nach Epoche) vorwiegend Akteur/innen und Institutionen des Literaturbetriebes (Verlage, Zeitschriften, Bibliotheken, Literaturkritik, Schule, Universität, Kulturpolitik, Leserschaft95) involviert sind, während für die Symbolwerdung eines literarischen Textes politische und gesellschaftliche Institutionen im Allgemeinen eine größere Rolle spielen, ebenso wie hier (meist) ein größerer Rezipient/innenkreis angenommen werden kann (im ersten Falle vorwiegend die Ak-
94 Die beiden Ebenen sind im Modell nicht abgebildet. 95 Zu den Akteur/innen des Literaturbetriebes vgl. auch Gröne et al. (2009: 33).
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teur/innen des Literaturbetriebes, in zweitem alle Nationsangehörigen96). Literarische Texte als Nationalsymbole sind Teil des Kanons der Nationalliteratur (und der nationalen Literaturgeschichte97), umgekehrt wird jedoch nicht jeder kanonische Text zum Symbol für die Nation. Für literarische Texte, die zum Symbol für die Nation wurden (Ebene 1), wird hier daher der Begriff des Nationalsymbols (nicht der Nationalliteratur) verwendet. Der Begriff der nation-building-Literatur wird auf jene literarischen Texte angewandt, die die Nation intern inszenieren und so die offizielle Erzählung der Nation (‚public version‘) (mit)schreiben. Wie bereits angesprochen, kann davon ausgegangen werden, dass je nach Ebene unterschiedliche Akteur/innen beteiligt sind. Auf Ebene 2 treten zunächst der Dichter/innen bzw. Schriftsteller/innen als Akteur/innen in Erscheinung, indem sie die Nation literarisch konstruieren. Sollte der Entwurf auf Zustimmung und Unterstützung von öffentlichen Akteur/innen bzw. Institutionen treffen, so sind anschließend staatliche Akteur/innen98, die den Entwurf (abgewandelt?) aufnehmen und z.B. durch (kultur-)politische Maßnahmen (Schullektüre, Geschichtsschreibung in Schulbüchern, Aufnahme in die ideologische Ausrichtung von Parteien, Bezugnahme auf die im literarischen Text definierten Merkmale der Nation in politischen Reden, Festreden, etc.) sowie die Nationsangehörigen als Rezipient/innen (des literarischen Textes, aber auch der öffentlichen Version nationaler Identität, in der Elemente des literarischen Textes Eingang gefunden haben) als Akteur/innen beteiligt. Auf Ebene 1 jedoch treten Dichter/innen bzw. Schriftsteller/innen nicht notwendigerweise als Akteur/innen auf (etwa bei Texten, die lange vor der Entstehung der Nation verfasst wurden). Der literarische Text kann von gesellschaftlichen und staatlichen Akteur/innen ohne Zutun des Autors/der Autorin in die offizielle Erzählung der Nation aufgenommen werden. Folgende Aspekte sind in Bezug auf Graphik 4 einschränkend zu bemerken: Zunächst müssen auch hier die Einwände gegen Larrains (2000) Modell nochmals angeführt werden: die Eignung des Modells für eine synchrone (nicht aber für eine diachrone) Betrachtung der Identitätsbildung, die Beachtung des gesellschaftlichen und politischen-rechtlichen Kontextes (Freiheitsrechte, politisches System – Können Ideen und kulturelle Elemente frei im System zirkulieren? Liegen Einschränkungen und Ausschlussmechanismen von sozialen Akteur/innen und Gruppen vor?) sowie die Berücksichtigung des kulturellen Kontextes (Welche Medien zur Verbreitung von Ideen gibt es? Welche Akteur/innen und Institutionen sind an den ‚cultural producti96 Hier geht es nicht primär um die Lektüre des konkreten literarischen Textes als vielmehr um die Rezeption der erzählten ‚public version‘, in der ein literarischer Text zum Nationalsymbol erklärt wird. 97 Carillo Zeiter (2010) zeigt am Beispiel Argentiniens und Chiles, dass auch die Literaturgeschichtsschreibung, im Gegensatz zur wissenschaftlichen Analyse und Systematisierung der Literaturgeschichte, im Dienst der Konstruktion der Nation stehen kann. 98 Denkbar ist es auch, dass die Leserschaft über den Weg der Mimesis III bereits als Akteurin auftritt (vgl. die Ausführungen weiter unten). Die ‚ways of life‘ können durch Rezeption des literarischen Textes bereits beeinflusst sein oder ihrerseits neue ‚cultural productions‘ hervorbringen, die ebenfalls in den öffentlichen Diskurs eingehen. Diese ‚cultural productions‘ umfassen jegliche Form der Artikulation, die aggregiert wurde, also sowohl Zeitungsartikel, Parteiprogramme, Reden, Kunst, etc. als auch Literatur.
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ons‘ beteiligt?). Zudem muss hervorgehoben werden, dass über der Zirkulation kultureller Elemente die handelnden Akteur/innen und Institutionen nicht vernachlässigt werden sollten, auch wenn sie als solche nicht explizit angeführt sind, sondern implizit im Kreislaufmodell enthalten sind. Denn wie J. Assmann feststellt: „Kultureller Sinn zirkuliert und reproduziert sich nicht von selbst. Er muß zirkuliert und inszeniert werden.“ (Assmann J. 2002: 143). Aus diesem Grund wird dem Dichter/der Dichterin oder Schriftsteller/in als nationalem Akteur/nationaler Akteurin ein Exkurs gewidmet, bevor die Spezifika literarischer Erzähltexte bei der Konstruktion von nationaler Identität auf Ebene 2 – der textinternen Inszenierung der Nation – detaillierter betrachtet werden. Exkurs: Dichter/in99 und Nation Die Frage nach dem Verhältnis von Dichter/in und Gesellschaft bzw. auch dem Selbstverständnis und dem gesellschaftlichen Anspruch des Dichters/der Dichterin ist eine, die mannigfache Antworten hervorgebracht hat, die einerseits vom kulturellen und politischen System, andererseits von der Kunstauffassung des Künstlers/der Künstlerin und der Epoche beeinflusst sind. Ohne dieses umfangreiche Thema auch nur annähernd skizzieren zu können, seien hier zwei Bemerkungen angeführt, die mit dem Zeitraum der vorliegenden Untersuchung in Verbindung stehen – dem Schreiben zwischen Aufklärung und Romantik. Zum einen gilt es für den Kontext dieser Arbeit, das dichterische Selbstverständnis der (französischen) Aufklärung zu bedenken, wenn dieses auch von Autor/in zu Autor/in variiert. Grundsätzlich lässt sich eine Entwicklung zeichnen, die auch bedingt durch den Wandel vom auf Repräsentation fokussierten „klassischen Mäzenaten- und Pensionswesen“ (Opitz 1975: 255) zur zunehmenden finanziellen Unabhängigkeit des Schriftstellers/der Schriftstellerin (die für die Epoche der Aufklärung erst in Ansätzen erkennbar ist) einen vom Nützlichkeits- und Vernunftprinzip getragenen literarischen Anspruch, moralisch und erziehend auf die Gesellschaft, v.a. aber die sich ausbildende öffentlichen Meinung einzuwirken, erkennen lässt. Der Künstler/die Künstlerin versteht sich dann als Vermittler/in politischer und philosophischer Prinzipien und dient der öffentlichen Erziehung. Dies kann in Harmonie mit dem politischen Regime erfolgen (vgl. dazu Opitz 1975: 269), drückt sich aber gerade bei den französischen Enzyklopädisten auch in reformerischer, teils dem Regime gegenüber subversiv angelegter Absicht aus. In beiden Fällen kommt dem literarischen Wirken eine ausgeprägt politische Funktion zu. „Damit erweitert sich die Bedeutung der literarischen Arbeit, sie ist nicht mehr auf das elitäre Publikum einer Metropole beschränkt, ihr Anspruch ist universal, und der Schriftsteller tritt nun als nationales Gewissen und als Repräsentant der öffentlichen Meinung auf.“ (Opitz 1975: 274). Der Dichter/die Dichterin kann so zum aktiven Konstrukteur/zur aktiven Konstrukteurin von Nationsentwürfen werden. Zum anderen soll hier angemerkt werden, dass v.a. für die europäische Romantik in den Literaturgeschichten immer wieder der Topos des/der sich von der Gesellschaft unverstandenen und enttäuschten Dichters/Dichterin, der/die sich folglich in das Innenleben des Individuums zurückzieht (Hoffmeister 1990: 200, 201), genannt wird. Diese Gesellschaftskritik mündet aber zugleich in eine Rebellion gegen die etablierte 99 Angemerkt sei, dass die Dichterin in den relevanten Zeitabschnitten wohl als Ausnahme gelten kann.
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Ordnung und erfüllt so durchaus eine gesellschaftspolitisch relevante (Neuschäfer 2006: 252) oder „zivilisatorische Funktion“100 (Hoffmeister 1990: 201), die aber nunmehr im Vergleich mit der Aufklärungsliteratur das Element der Belehrung und der moralischen Erziehung zurücktreten lässt. Hoffmeister (1990) hat diese beiden grundsätzlichen Haltungen der romantischen Dichter/innen zur Gesellschaft folgendermaßen formuliert: „[E]rstens die Darstellung des Innenlebens, der Leidenschaften als Folge des Verlangens nach Echtheit in der Literatur, nach der Einheit von Literatur und Leben […] zweitens die Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit, wobei sich der Dichter entweder der Realität annähert (romantischer Realismus), die Welt verbessern möchte (Sozialutopismus […]) oder die Poesie als Mittel der Weltverwandlung betrachtet. [Kursivierung im Original]“ (Hoffmeister 1990: 117, 118)
Interessant erscheint im europäischen Vergleich und insbesondere vor dem thematischen Hintergrund dieser Arbeit das Beispiel Deutschland, wo diese reformerische Haltung des Dichters in der Frühromantik weniger ausgeprägt ist und sich im Gegenteil mitunter ein „reaktionärer Nationalismus“101 (Hoffmeister 1990: 203) beobachten lässt. Nach 1830 wenden sich viele gegen diese „reaktionäre Romantik“ (Hoffmeister 1990: 203), so etwa Heinrich Heine. Welche Rolle hat man den Dichter/innen bzw. Schriftsteller/innen nun als Akteur/innen bei der Konstruktion der Nation zugeschrieben? Einige Beispiele seien hier kurz angeführt. Bei Herder wird der Dichter erstmals als nationaler Akteur aufgewertet, wenn er Kultur als bedeutender als Verfassungstexte für die Herstellung von nationaler Einheit betrachtet. Der Dichter nimmt, so die Idee, die Volkskultur (z.B. Märchen, Lieder, etc.) auf, die durch die gemeinsame Sprache begründet ist. (Vgl. Schulze H. 1996: 72, 73) In Europa spielte Anfang des 19. Jahrhunderts die intellektuelle Elite tatsächlich eine tragende Rolle bei der Konstruktion der Nation, die sich als ‚Wiederentdecker‘ bzw. ‚Erwecker‘ der Nation verstand: „Es waren […] in erster Linie die Dichter, die Philosophen, die Historiker und Philologen, die die Nationen Europas aus der Taufe hoben.“ (Schulze H. 1996: 75). Hroch (1994) hat für die Entstehung von Nationen idealtypisch drei Phasen angenommen, wobei in Phase A eine intellektuelle Elite (bestehend aus Schriftsteller/innen, Künstler/innen, Historiker/innen, etc.) mit nationalen Themen befasst ist (z.B. mit der nationalen Vergangenheit, Kultur, Sprache, Kunst, …). In dieser Phase hat nur eine kleine Gruppe Zugang zu den entworfenen Ideen der Nation. In Phase B weitet sich die Beschäftigung mit der Nation zum Nationalismus der intellektuellen Elite aus, wobei sich auch die soziale Gruppe zu erweitern beginnt (z.B. das Bürgertum) und erste politische Aktivitäten gesetzt werden. Phase C ist von der Ausweitung der Gruppe dominiert, die bis zur Entstehung eines massenumspannenden Nationalismus reicht. Auch hier kann die intellektuelle Elite eine führende Rolle als Vorbild spielen. (Hroch 1985: 158; Wehler 2007: 41, 42) Im für diese Arbeit grundlegenden Modell können Dichter/innen 100 Hoffmeister (1990: 201) verwendet diesen Begriff in Bezug auf Victor Hugo. 101 Joseph Karl Benedikt Freiherr von Eichendorff fasste „die Poesie als Ausdruck ‚der inneren Geschichte der Nation‘“ (Hoffmeister 1990: 203), verstand sich jedoch als Kritiker des reaktionären Adels (Hoffmeister 1990: 203).
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bzw. Schriftsteller/innen als Selektionsinstanz kultureller Elemente sowie als an der Aggregation und Vermittlung beteiligte Akteur/innen betrachtet werden, indem sie nationale Elemente in ihre kulturelle Produktionen aufnehmen, bündeln und dem Lesepublikum zugänglich machen. Sie nehmen jedoch nicht nur vorhandene Element auf, sondern kreieren gegebenenfalls neue Nationsentwürfe in ihren Werken und bringen sie in den Kreislauf als ‚cultural production‘ ein. Die besondere Bedeutung der Dichter und Schriftsteller, die in dieser Arbeit untersucht werden, liegt darin, dass sie als Akteure eine Mehrfachfunktion im Kreislauf der Konstruktion nationaler Identität erfüllten: zunächst als Dichter/Schriftsteller, zugleich oder später aber auch als Juristen, Politiker, Staatspräsidenten. Sie sind somit sowohl im Bereich der ‚cultural productions‘ als auch im jenem der staatlichen Institutionen (‚public versions‘) anzusiedeln. Man kann davon ausgehen, dass sie besonders großen Einfluss auf die Konstruktion nationaler Identität hatten, da gerade staatliche Akteur/innen (zumindest theoretisch) über die wirksamsten Einflussinstrumente und Kommunikationskanäle verfügen (Schul-, Kulturpolitik, Militär, staatsnahe (Kultur-) Institutionen und Medien, etc.). Entstanden viele der hier zu untersuchenden Texte in einem politischen System der Diktatur, d.h. maximal beschränkt auf den inneren Kreis der Literatur und durchaus subversiv angelegt, so verfügten die Autoren der generación del 37 später selbst über die politischen und kulturellen Instrumente der ‚public version‘ nationaler Identität, d.h. der offiziellen Erzählung der Nation. Während Art, Beschaffenheit und Medium nicht entscheidend für die Symbolwerdung eines kulturellen Elementes (erste Ebene) sind, so ist das Medium auf der zweiten Ebene eine wichtige Variable102. In welchen Arten von Erzähltexten (mündlich wie schriftlich) die Narration intern inszeniert wird, entscheidet über Möglichkeiten, Grenzen und Art der Darstellung der Nation. Spezifika literarischer Erzähltexte bei der Konstruktion von (nationaler) Identität aus Sicht der Narratologie Im Vergleich unterschiedlicher Arten von Erzähltexten wurde deutlich, dass die literarische Erzählung über Mittel verfügt, die sie, bei allen Gemeinsamkeiten, von der faktualen Erzählung, aber auch von der offiziellen Erzählung der Nation unterscheidet. „Medien lassen sich als Formen begreifen, die eben nicht bloß den Inhalt von Narrativen wiedergeben und repräsentieren, sondern diesen auf unterschiedlichste Weise hervorbringen.“ (Müller-Funk 2008: 252), wie Müller-Funk betont. Kerkering (2003) kann in seiner Analyse nordamerikanischer Literatur des 19. Jahrhunderts (mit Bezug auf ethnische und nationale Identität) zeigen, dass gerade auch formale Elemente zur Konstruktion von nationaler Identität beitragen können: „During this period [the early nineteenth century] formal literary effects contributed to the efforts of many writers who sought to establish the collective identity of a people. […] like their present-day successors, nineteenth century writers use formal literary effects as a vehicle for establishing the existence of distinct peoples, first nations and then races.“ (Kerkering 2003: 4)
102 Zur Bedeutung des Mediums für die Gedächtnisinszenierung vgl. A. Assmann et al. (1998).
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Die (formalen) Spezifika der literarischen Erzählung erscheinen als Beitrag zur Konstruktion von nationaler Erzählung relevant, da sie mögliche Antworten auf die Frage liefern, weshalb die Konstruktion der Nation gerade (auch) mithilfe literarischer Texte erfolgen sollte, so wie sich dies auch die Autorengruppe der generación del 37 zum Ziel gemacht hatte. Bislang konnte ganz allgemein festgehalten werden, dass literarischen Erzähltexten aufgrund ihrer Fiktionalität ein größerer Spielraum103, etwa hinsichtlich der Verknüpfung der (fiktionalen wie faktualen) Ereignisse zu einer Geschichte, des Figureninventars, ihrer Konstellation, der Zeit- und Raumbezüge104 sowie ihres metaphorischen Gehalts zur Verfügung steht, da sie keinen unmittelbaren Bezug zur außertextuellen Welt herstellen (müssen) und keinen Wahrheitsanspruch stellen. „Ziel der Fiktion muß es sein, ihre eigenen Möglichkeiten auszuschöpfen, und das heißt, Anschauungsformen in einer Dichte und Prägnanz einzulösen, wie dies im außerfiktionalen Bereich nicht möglich sein kann.“ (Stierle 2012: 245) Dass der Autor/die Autorin eines literarischen Erzähltextes erklärtermaßen keine Verantwortung für den Wahrheitsgehalt des Textes übernimmt, führt zu zwei weiteren Spezifika der literarischen Erzählung, die ebenfalls mit dem Modus der Fiktion in Verbindung stehen. Zum einen setzt der literarische Autor/die literarische Autorin eine fiktive Erzählinstanz ein, die es ermöglicht, das Geschehen sowie die involvierten Figuren aus einer zusätzlichen Perspektive darzustellen, nämlich ausgehend von einer Erzählinstanz, die nicht der Autorinstanz entspricht. Für die Analyse werden daher das Wahrnehmungs- und Wissensverhältnis zwischen Erzählinstanz und Figur (in der Terminologie Genettes Fokalisierung), die von der Erzählinstanz ausgehende Sympathielenkung in Bezug auf die Figuren sowie das Verhältnis zwischen Erzählerund Figurenrede und deren Ausgestaltung relevant. Die aus Sicht des impliziten Lesers wahrnehmbare Wissens- und Informationsverteilung kann so als spezifisch literarische Strategie der Identifikation gedacht werden. Zielen faktuale Erzähltexte nicht primär auf Identifikation, sondern vielmehr auf Information ab, so teilen literarische Erzähltexte mit der offiziellen Erzählung der Nation das Ziel der Herstellung von Identität über Identifikationsmechanismen, verfügen aber über je eigene Mechanismen, diese zu konstruieren. Culler (2002) und Neuhaus (2009) sehen in der Identifikation der Rezipient/innen mit den Figuren einen wesentlichen Beitrag der literarischen Erzählung zur Identitätsbildung: „Literatur hat sich seit jeher mit Fragen der Identität beschäftigt, und literarische Werke entwerfen, explizit oder implizit, immer auch Antworten auf Fragen dieser Art. Gerade die Erzählliteratur spürt immer wieder den Schicksalen von Figuren nach, sei es hinsichtlich der Art, wie sie sich selbst entwerfen oder auch wie sie durch unterschiedliche, von ihrer jeweiligen Geschichte, ihren Entscheidungen und den sie beeinflussenden gesellschaftlichen Kräften geprägte Konstellationen bestimmt werden.“ (Culler 2002: 159)
103 Schließlich haben wir es, wie Jonathan Culler (2002) meint, „mit einer Institution zu tun, die auf der Möglichkeit basiert, alles das sagen zu können, was man sich nur vorstellen kann. […] Literatur [hat sich] immer als Möglichkeit erwiesen, über das bislang Gedachte und Geschriebene fiktional hinauszugehen.“ (Culler 2002: 61). 104 So besteht für literarische Texte nicht die Notwendigkeit, klare Bezüge zu ‚realen‘ Zeitund Raumbedingungen herzustellen.
160 | F REIHEIT UND N ATION „Literarische Texte leisten einen zentralen Beitrag zur Identitätsbildung, weil sie permanent Identitätsbildungsprozesse durchspielen. Man könnte sogar sagen, dass es ihre zentrale Aufgabe ist, beispielhaft (am Beispiel von Figuren) Angebote der Identitätskonstruktion zu machen oder zu verwerfen. Je komplexer die entsprechenden Verfahren eines Textes sind, desto größer ist seine potenzielle Leistung für die Identitätsbildung der Leserin oder des Lesers.“ (Neuhaus 2009: 90)
Laut Culler (2002) liegt das Spezifikum literarischer Erzähltexte bei der Identitätsbildung durch Identifikationsstrategien darin, das Singuläre mit dem Exemplarischen zu verbinden, d.h. mit der Darstellung des Innenlebens einer Figur (das Singuläre) zugleich etwas Beispielhaftes darzustellen, wobei der literarische Text meist keine Antwort darauf gibt, wofür die Figur konkret steht. Dies sei eine Aufgabe der Interpretation. Dadurch, dass literarische Erzähltexte Identitätsfragen an konkreten Figuren durchspielen, können sie diese Fragen subtiler und impliziter behandeln – sie müssen nicht zu konkreten und universalisierbaren Aussagen und Schlüssen führen, wie dies von faktualen Erzähltexten erwartet wird. Zugleich laden sie aufgrund des Zugangs zum Innenleben einer Figur die Rezipient/innen ein, die Erfahrungen, Gedanken und Gefühle der dargestellten Figur nicht nur nachzuvollziehen, sondern imaginär ‚mitzuerleben‘105. „Sie führen mir eine Welt vor Augen, in der ich nie war und die ich im ästhetischen Als-Ob so erlebe, als wäre sie meine ‚eigene‘. [Anführungszeichen im Original]“ (Müller-Funk 2008: 94), wie dies Müller-Funk (2008) formuliert. Fiktionale Erzähltexte weisen dadurch ein höheres Identifikationspotenzial auf als dies faktuale Erzähltexte tun und stellen Identitäten nicht nur dar, sondern auch her. (Culler 2002: 159-164) „Der Wert von Literatur ist seit langem mit der Probeerfahrung in Verbindung gebracht worden, die sie dem Leser vermittelt und die ihn in die Lage versetzt, bestimmte Situationen nachzuvollziehen und so bestimmte Handlungs- und Empfindungsfähigkeiten zu erwerben. Literarische Werke laden zur Identifikation mit Figuren ein, indem sie die Welt aus deren Sicht präsentieren.“ (Culler 2002: 162)
Damit ist aber, wie Bode (2005) betont, nicht die vollständige, ‚simple‘ Identifikation des Lesers/der Leserin mit einer Figur gemeint, sondern vielmehr das Ausschöpfen und Nachvollziehen der Komplexität der imaginären Identifikationsangebote. Es liege im Bereich der Freiheit des Lesers/der Leserin, „reine Geschichte ‚bloß‘ als Geschichte, als das, was sie augenscheinlich ist, zu verstehen oder im Gegenteil als Stellvertreter für etwas anderes [Anführungszeichen im Original]“ (Bode 2005: 326), wobei der Leser/die Leserin im zweiten Fall als Konstrukteur/in auftritt und dem literarischen Text nicht nur „mit lebensweltlich etablierten und bewährten, i.d.R. kom-
105 Wenngleich die emotionale Komponente nicht bei allen Theoretikern eine so zentrale Rolle spielt wie bei Aristoteles, so hat dieser bereits die Involviertheit des Subjekts als charakteristisch für Kunst und ästhetische Wirkung betrachtet. Ästhetische Werke sprechen demnach sowohl Verstand als auch Affekte an, entfalten also ihre Wirkung auch dadurch, dass sie die Rezipient/innen (emotional) berühren, was ja die Grundlage für das Konzept der Karthasis ist. (Lahn/Meister 2013: 10, 11)
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plexitätsreduzierenden Kodes [Kursivierung im Original]“ (Bode 2005: 325) begegnet. (Bode 2005: 325, 326) Wie lassen sich die erwähnten Identifikationsverfahren nun näher charakterisieren? Eine Form der textuellen Rezeptionssteuerung ist die sogenannte Sympathielenkung, wobei damit auch Antipathielenkung gemeint ist. Mit Lahn/Meister (2013: 164) lässt sich festhalten, dass Informationsrückstände oder -vorsprünge zwischen den einzelnen Figuren sowie zwischen Figur und implizitem Leser eine erhebliche Wirkung auf die Sympathielenkung entfalten können: „Leser sympathisieren in der Regel mit Figuren, denen in der Hierarchie der Informationsverteilung eine extreme Stellung zugemessen wird.“ (Lahn/Meister 2013: 164). Erweckt der Mangel an Information eher Mitgefühl (tragischer Held), so löst der Informationsvorsprung gegenüber anderen Figuren häufig Bewunderung beim Leser/der Leserin aus. Auf das Identifikationspotenzial hat dies insofern Auswirkungen als Leser/innen grundsätzlich im Sinne der poetic justice Anteil am Schicksal einer sympathischen, moralisch guten Figur nehmen, wobei dies von der Vorstellung bestimmt ist, dass „das Schicksal fiktiver Figuren mit den etablierten Werten und Normen im Einklang stehen muss“ (Lahn/Meister 2013: 164). Als Vermittlungsinstanz kommt der Erzählinstanz bei der Informationsverteilung – und dadurch bei der Rezeptionssteuerung – eine wichtige Aufgabe zu. Nünning (1989) unterscheidet vier Funktionen von Erzählinstanzen, die im Folgenden v.a. im Hinblick auf die Sympathielenkung resümiert werden: 1. erzähltechnische Funktionen, 2. analytische Funktionen, 3. synthetische Funktionen und 4. selbstreflexive Funktionen. Die erzähltechnischen Funktionen sind hier insofern relevant als die Erzählinstanz die zeitlichen und räumlichen Parameter der erzählten Welt definiert und dem impliziten Leser Figuren und Handlung sowie die wichtigsten Merkmale dieser Welt vermittelt (Nünning 1989: 121). Die Erzählinstanz gilt als Verbindung zwischen erzählter Welt und Rezipient/in, denn sie liefert dem Leser/der Leserin alle relevanten Informationen „für die Konkretisierung und Visualisierung der erzählten Welt durch den Rezipienten“ (Nünning 1989: 89). „Die Erzählinstanz ist zwar selbst Teil des fiktionalen Ganzen, vermittelt aber in ihrer Funktion als neutrales Erzählmedium die erzählte Welt. Abgesehen von Dialogäußerungen der Figuren in direkter Rede und Bewußtseinsprozessen, die als innerer Monolog wiedergegeben werden, bezieht der Rezipient alle Informationen über die Figuren und ihre Handlungen durch diese vermittelnde Instanz […]“ (Nünning 1989: 88)
Ebenso vermittelt die Erzählinstanz die fiktive Gesellschaft, der die Figuren angehören „[…] und eine unbestimmte Menge anonym bleibender Figuren zu einer fiktionalen Gemeinschaft“ (Nünning 1989: 88), was sie für die Konstruktion einer nationalen Gemeinschaft besonders relevant erscheinen lässt. „Schließlich obliegt es der Erzählinstanz, die verschiedenen gesamtgesellschaftlichen Handlungsbereiche, die die fiktive erzählte Welt konstituieren, darzustellen; durch die Beschreibung der gesellschaftlichen Handlungsbereiche ‚Politik‘, ‚Wirtschaft‘ und ‚Kultur‘ werden die Figuren in umfassenden sozialen Kontexten situiert. Solche Beurteilungskontexte können sowohl für die Erklärung von Figurenhandlungen als auch für die Bewertung von Figuren relevant sein. [Anführungszeichen im Original]“ (Nünning 1989: 89)
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Im Bereich der analytischen Funktionen erklärt, kommentiert, analysiert und bewertet die Erzählinstanz Elemente aus der erzählten Welt (Nünning 1989: 121). Es handelt sich hierbei meist um implizite106 oder explizite Fremdkommentare, die zugleich eine Selbstcharakterisierung der Erzählinstanz darstellen (Nünning 1989: 91, 92). Grundsätzlich kommen diesen ergänzenden Kommentaren der Erzählinstanz – die zugleich meist von deren höheren Informiertheit als jene der Figuren zeugen – rezeptionslenkende Effekte107 zu. Die Rezipient/innen werden mit Informationen versorgt, mithilfe derer sie Figuren und ihre Handlungen differenzierter betrachten können. „Ein Ziel von Ergänzungen kann somit sein, beim Rezipienten Verständnis, Mitgefühl und Sympathie für die Figuren zu wecken.“ (Nünning 1989: 96), etwa wenn ihm/ihr Beweggründe erläutert werden, die vielleicht der Figur gar nicht bewusst sind. „Explanative Äußerungen ergänzen, korrigieren oder analysieren Aspekte […; der erzählten Welt], evaluative Äußerungen heben Aspekte […; derselben] positiv hervor oder kritisieren sie und schaffen somit durch Sympathielenkung Beurteilungskontexte für potentielle Rezipienten. Unausgesprochener Bezugsrahmen für derartige Strategien ist dabei das gesellschaftliche Gefüge akzeptierter und diskutabler Werte und Normen, so daß der rezeptionslenkende Effekt der analytischen Funktionen implizit auf die […; textexterne Kommunikationsebene] verweist.“ (Reinfandt 1997: 158)
Nünning (1989) nennt hier etwa die bewusste oder intuitive Selbsttäuschung von Figuren, deren Kommentierung durch die Erzählinstanz an die Rezipient/innen gerichtet ist. Es handelt sich schließlich um eine Korrektur des Selbstbilds der Figur, von der die Figur nichts erfährt. (Nünning 1989: 97) Ähnlich verhält es sich mit Erläuterungen der Erzählinstanz zu den Intentionen von Figuren und Figurenhandeln. Die Erzählinstanz bringt hier „die psychologische Disposition einer Figur und ihre individuellen Werte und Normen in einen ursächlichen Zusammenhang mit den Handlungen einer Figur“ (Nünning 1989: 99). Dabei sind Konflikte zwischen den Bedürfnissen einer Figur und möglichen Konflikten mit den gesellschaftlichen Normen von besonderem Interesse (Nünning 1989: 99). „Ein zentrales Differenzkriterium zwischen der Analyse von Handlungsstrukturen und der Sympathie- bzw. Kritiklenkung durch Erzählinstanzen besteht darin, daß es sich bei den Handlungsanalysen um explanative Äußerungen handelt und nicht um evaluative; da sie Handlungsstrukturen erklären, ohne sie zu bewerten, kommt es auch nicht zu einer ‚Gängelung‘ des Rezipienten durch den Erzähler. [Anführungszeichen im Original]“ (Nünning 1989: 100, 101)
106 Besonders häufig erscheint die Ironie als Mittel impliziter Fremdcharakterisierung mit kritischer Distanz. Sie muss aus ihrem Kontext interpretiert werden. Grundsätzlich besteht die Möglichkeit einer punktuellen Ironie oder der Ironie als Grundhaltung der Erzählinstanz. (Nünning 1989: 91) 107 Neben den Äußerungen der Erzählinstanz nennt Nünning (1989: 104) die interne Fokalisierung sowie Kontrast- und Korrespondenzrelationen zwischen Figuren als Mittel der Sympathielenkung, besonders wenn zwei Figuren explizit einander gegenübergestellt werden (Nünning 1989: 110).
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Für die Sympathielenkung sind demnach evaluative Äußerungen von Erzählinstanzen relevanter. Allerdings „[…] kann die Analyse moralisch verwerflicher Handlungen entweder ein implizites Mittel der Sympathielenkung sein, da dem Rezipienten genaue Einblicke in die Motivationsstrukturen und Bedürfnisse einer Figur vermittelt werden und er selbst zum ‚Mitwisser‘ wird, oder Kritik ausdrücken und zur negativen Rezeptionslenkung beitragen, wenn etwa die Skrupellosigkeit einer Handlung durch eine Analyse in vollem Umfang ausgebreitet wird. [Anführungszeichen im Original]“ (Nünning 1989: 101)
Formen der Sympathielenkung sind für den Kontext dieser Arbeit deshalb so relevant, weil sie trotz der Subjektivität der Äußerungen der Erzählinstanz und ihrer als begrenzt einzustufenden Verbindlichkeit „zum Aufbau eines fiktiven Werte- und Normensystems des Gesamttextes“ (Nünning 1989: 103) beitragen. Laut Nünning (1989: 103) entwickelt sich aus den wertenden Äußerungen der Erzählinstanz nicht nur ein Spannungsverhältnis zwischen der erzählten Welt und der Erzählinstanz, was Werte und Normen betrifft, sondern auch zwischen Erzählinstanz und Rezipient/in, das von Zustimmung bis vehementer Ablehnung reichen kann. (Nünning 1989: 103) „Kritische Werturteile des Erzählers sind Ausdruck seiner subjektiven Ansicht und stellen eine mögliche Beurteilungsperspektive dar. Je nach dem Grad der Explizität der Wertung wird der Rezipient aktiviert und herausgefordert, sich mit diesen subjektiven Werturteilen auseinanderzusetzen.“ (Nünning 1989: 103)
Mithilfe von direkten Aufforderungen, Mitgefühl für eine Figur zu entwickeln, versuchen Erzählinstanzen „einen Konsens über Beurteilungsmaßstäbe und Normen herzustellen“ (Nünning 1989: 107). Mit den synthetischen Funktionen sind bei Nünning (1989) Kommentare der Erzählinstanz gemeint, die sich nicht unmittelbar auf die erzählte Welt beziehen, sondern generalisierender Natur sind, etwa Aussagen über das Menschsein an sich. Auch sie beziehen sich häufig auf die textexterne Welt, verlangen aber nach Reinfandt (1997: 158) als generalisierende Aussage nach höherer allgemeiner Akzeptanz der dahinterliegenden Normen und Werte. Hier erfolgt der Übergang vom Individuellen zum Allgemeinen (Nünning 1989: 122). „Gerade durch diese Allgemeingültigkeit und die daraus resultierende Vermittlungsbewegung zwischen dem Individuellen des Textes und dem Allgemeinen der ‚Wirklichkeit‘ bzw. der gesellschaftlichen Kommunikation kommt derartigen Äußerungen der Erzählinstanz eine rezeptionserleichternde Funktion zu. [Anführungszeichen im Original]“ (Reinfandt 1997: 158, 159)
Auch sie können eine rezeptionslenkende Wirkung entfalten, etwa wenn in generalisierenden Äußerungen der implizite Leser durch die Verwendung der distanzverringernden ersten Person Plural miteinbezogen wird und so eine Verständigung zwischen Erzählinstanz und Rezipient/in über Werte und Normen forciert wird (Nünning 1989: 113). Den Rezipient/innen wird dadurch ja geradezu unterstellt, mit den Werten und Normen der Erzählinstanz übereinzustimmen (Nünning 1989: 114).
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Die selbstreflexiven Funktionen schließlich beziehen sich auf den Erzählvorgang und die Poetik des Werkes selbst, u.a. in Form einer (impliziten oder expliziten) Selbstcharakterisierung der Erzählinstanz oder der (angedeuteten oder expliziten) Anrede eines Adressaten des Erzähltextes. (Nünning 1989: 122; Reinfandt 1997: 159) „Allen appellativen Erzähleräußerungen ist das pragmatische Ziel der Beeinflussung oder Veränderung der Einstellungen des Lesers gemeinsam, das sich etwa in Aufforderungen an den Rezipienten manifestiert, Referenzbezüge zur eigenen Erfahrungswirklichkeit herzustellen. Appellorientierte Erzähleräußerungen sind primär auf die Steigerung der Aufmerksamkeit des Rezipienten und die Aktivierung seiner kognitiven, emotional-affektiven und imaginativvisualisierenden Fähigkeiten gerichtet.“ (Nünning 1989: 119)
Wichtig hervorzuheben ist, dass den Aussagen der Erzählinstanz, wenn sie auch vom Individuellen zum Allgemeinen vermitteln und die erzählte Welt sowie den Erzählvorgang an sich bewerten, genauso fiktiv sind wie Äußerungen der Figuren und ihnen per se keine größere Verbindlichkeit als den Figurenäußerungen zukommt (Nünning 1989: 122). Die Erzählinstanz „[…] liefert so zwar eine Reihe von Interpretationsangeboten, legt den Rezipienten aber in der Regel nicht verbindlich auf eine bestimmte Deutung fest.“ (Nünning 1989: 122). Und auch die Frage, ob eine explizite Erzählinstanz größere oder geringere Distanz zu den Figuren herstellt, kann laut Nünning (1989: 122) nicht allgemein bewertet werden. Die Erzählinstanz fiktionaler Erzählungen ist aber mehr als nur eine weitere Kommunikationsinstanz. Anders als die Figuren ist die Erzählinstanz keine Trägerin von Handlungen, sondern nur Aussagesubjekt, das sowohl Informationen vermittelt als auch Bewertungen (etwa zu Freiheit und Nation) abgeben kann (aber nicht muss). Sie ist den Figuren als solches übergeordnet und steuert (explizit oder implizit) die gesamte Informationsvergabe des Textes. Als fiktive Instanz ist sie insofern für die Vermittlung zwischen Figur und Leser/in zuständig als Figuren fiktive Konstrukte sind, die in eigenständigen Erzählwelten angesiedelt sind und von dieser sowie deren Vermittlung durch die Erzählinstanz abhängig sind108, aber aufgrund bestimmter Effekte unabhängig wirken können (vgl. auch Lahn/Meister 2013: 233). Dazu zählen etwa der innere Monolog, der scheinbar ohne Erzählinstanz einen unmittelbaren Zugang zur Gedankenwelt in ‚zitierter‘ Form erlaubt oder die erlebte Rede109, aber auch die zitierte Figurenrede kann eine Illusion der ‚unverfälschten‘ Rede der Figur erzeugen (Lahn/Meister 203: 119), wie weiter unten näher ausgeführt wird. Andere Formen, die einen Effekt der Autonomie der Figur(en) hervorrufen können, wären z.B. die Leseranrede durch eine Figur, aber auch die externe Fokalisierung, in der die Figuren als scheinbar von der Erzählinstanz unabhängig dargestellt werden, da diese nur von außen beobachtet und weniger weiß als die Figur. Dabei handelt es sich stets
108 Schließlich lassen sich die Ordnung, die Art des Erzählens (Sprache, Stil) und die Auswahl von Figuren, deren Handlungen und Rede, etc. auf die Erzählinstanz zurückführen (Lahn/Meister 2013: 63). 109 In dieser ist zweifellos die Erzählinstanz Sprecherin; da die Figurenrede aber syntaktisch frei steht, erscheint auch die Figur beinahe wie ein Aussagesubjekt.
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um Effekte der Autonomie110. Doch alleine aufgrund der Figurencharakterisierung, ihrer Sprache und Handlungen, etc. können Figuren, je nachdem wie stark sie als solche entworfen werden, zu (sprachlich vermittelten) Persönlichkeiten111 werden und daher autonom wirken, obwohl sie als Gebilde der Phantasie stets in Abhängigkeit der erzählten Welt und der Erzählinstanz stehen. Der Leser/die Leserin lässt sich darauf ein, zu glauben, dass die Figur ‚autonom‘ spricht und handelt112, weiß jedoch zugleich um die Fiktionalität der Rede und Handlung Bescheid und ist ausschließlich auf die sprachliche Vermittlung derselben angewiesen. Was bedeutet das Spezifikum des Verhältnisses zwischen Erzählinstanz und Figuren für die Analyse von politischen Einstellungen derselben, insbesondere aus Sicht der Rezeptionssteuerung? Wie kann in der Textanalyse untersucht werden, welches Potenzial die literarischen Erzählungen in ihrer Textstrategie hinsichtlich der Identifikation und der Überzeugung des impliziten Lesers mit dem im Text konstruierten Bild von Nation und Freiheit in sich tragen? Aus der Abhängigkeit der Figuren von der Erzählinstanz sowie der fiktiven Kommunikationssituation und ihrer Einbettung in die fiktive Welt – und im weiteren Sinne aus der Autonomie des literarischen Werks, das keine direkte Bezugnahme auf die Lebens- und Erfahrungswirklichkeit der außertextuellen Welt erlaubt – folgt, dass in der Analyse stets die in der erzählten Welt aufgebauten Beziehungen zwischen politischen Meinungen der Figuren untereinander und in ihrem Verhältnis zur Erzählinstanz untersucht werden müssen, also das, was Nünning (1989) als „Perspektivenstruktur narrativer Texte“ (Nünning 1989: 76)113 bezeichnet hat. Damit werden die Äußerungen von Figuren und Erzählinstanz innerhalb der erzählten Welt analysierbar – nämlich in ihrer Relation – und nicht in ihrer Absolutheit auf die außertextuelle Welt übertragen. „‚Die Perspektivenstruktur narrativer Texte‘ konstituiert sich durch die Beziehungen aller Figurenperspektiven zueinander und durch deren Verhältnis zur Erzählerperspektive. Sie ergibt sich aus dem übergeordneten System von Kontrast- und Korrespondenzrelationen zwischen allen Einzelperspektiven eines Textes; es geht somit nicht primär um einzelne Perspektiven, sondern um das Verhältnis der Perspektiven aller Figuren und der des Erzählers zueinander. [Kursivierung und Anführungszeichen im Original]“ (Nünning 1989: 76)
110 Die scheinbare Autonomie von Figuren hängt jedoch nicht nur von der Figurenrede und ihrem Anteil am Gesamttext ab, sondern auch davon, ob sie von der Erzählinstanz implizit oder explizit bewertet wird. 111 Vgl. dazu auch Lahn/Meister (2013: 233). 112 Dies geht so weit, dass dem Leser/der Leserin häufig Figuren in Erinnerung bleiben, nicht aber die Art der Vermittlung: „Nachdem die Lektüre einer Geschichte beendet ist, leben die Figuren in der Vorstellung des Lesers häufig fort. […] Der Leser entwickelt Sympathien und Antipathien gegenüber den unterschiedlichen Figuren, und während Details der Handlungsstrukturen nach der Lektüre ziemlich schnell verblassen, bleiben die Figuren in unserem Denken erstaunlich gegenwärtig – nicht als Wörter, sondern als sprachlich vermittelte Persönlichkeiten.“ (Lahn/Meister 2013: 233). 113 Mit ‚Perspektive‘ ist hier nicht die erzählerische Vermittlung (z.B. Fokalisierung) gemeint, sondern eine inhaltliche Positionierung, eine individuelle Sichtweise einer fiktionalen Figur oder der Erzählinstanz (Nünning 1989: 65, 68, 69).
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Neben dem Verhältnis der Einstellungen der Figuren zu Freiheit und Nation und gegebenenfalls der gegenseitigen Bewertung dieser Einstellungen durch die Figuren ist insbesondere ihr Verhältnis zur Erzählinstanz ausschlaggebend für die Perspektivenstruktur des Gesamttextes. „Zwar sind auch in Erzähltexten die Dialogäußerungen der Figuren notwendig an die Perspektive der jeweils sprechenden Figur gebunden. Darüber hinaus sind aber alle Informationen über die Handlungen und das Bewußtsein der Figur, die zu einem großen Teil von der übergeordneten Erzählinstanz vermittelt werden, für die Ermittlung der Perspektiveninhalte relevant.“ (Nünning 1989: 77)
Zu fragen ist aber nicht nur nach dem Verhältnis der Figurenperspektiven zur Perspektive der Erzählinstanz, so diese ihre Meinung zu Freiheit und Nation explizit kundtut, sowie nach evaluativen Kommentaren der Erzählinstanz zur Bewertung der Figurenmeinung, sondern auch nach dem Verhältnis der Figurenmeinungen zur Figurenzeichnung, -konstellation und Sympathielenkung als implizite Form der Bewertung und den infolgedessen entstehenden Kontrast- und Korrespondenzrelationen, d.h. die „Grade an Übereinstimmung bzw. Divergenz zwischen den verschiedenen Perspektiven eines Textes“ (Nünning 1989: 79). Es geht aus Sicht der Rezeptionslenkung nicht nur um die Frage, ob eine Welt konkurrierender oder kohärenter Meinungen geschaffen wird, sondern ob und wie sich die Erzählinstanz zu diesen positioniert114 und diese (implizit oder explizit) bewertet. Auf diese Weise können Aussagen bezüglich der Beschaffenheit des Werte- und Normsystems, mit dem der implizite Leser konfrontiert wird, getroffen werden. Schließlich stellt sich die Frage, ob und wie der implizite Leser in dieses einbezogen wird oder zu einer Positionierung zu diesem aufgerufen wird. Neben der Sympathielenkung gilt die Konstruktion von Subjektivität als Mittel zur Leseridentifikation, v.a. dann, wenn dem impliziten Leser Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt der Figuren gewährt wird. Hierbei rücken bestimmte Arten der Fokalisierung sowie der Redewiedergabe als Verfahren in den Blick. Hamburger (1968) hat den scheinbar unmittelbaren Zugang zur Subjektivität der Figuren im Modus der Erzählung verortet und darin zugleich jene Charakteristika gesehen, die fiktionale Erzähltexte am stärksten als solche ausweisen. Dem stimmt Genette (1990) grundsätzlich zu. In seinem Vergleich von faktualen und fiktionalen Erzählungen kann er den Modus115 als eine jener Kategorien ausmachen, die eine Differenzierung zwischen den genannten Arten der Erzählung erlauben. Genettes (2010) Konzept der Fokalisierung erlaubt eine Analyse der ‚Informationsregulierung‘, die auf dem Wissensverhältnis zwischen der Erzählinstanz und den Figur(en) beruht und den Blickwinkel, aus dem erzählt wird, erfasst. Die Trennung in die beiden Fragen „Welche 114 Wird eine Welt kohärenter Figurenmeinungen geschaffen, so hängt die Frage danach, ob es zur Konstruktion eines harmonischen Werte- und Normensystems kommt, davon ab, wie sich die Erzählinstanz zu dieser positioniert und ob sie dieses kritisiert oder bestätigt, wobei auch eine Enthaltung Kritik oder Zustimmung ausdrücken kann. 115 Auch die Metalepse ist ein Verfahren, das nur in Fiktion denkbar ist. Allerdings erlaubt das Fehlen der Metalepse keinen Rückschluss auf den Status der Erzählung (faktual vs. fiktional) (Genette 1990: 764).
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Figur liefert den Blickwinkel, der für die narrative Perspektive maßgebend ist? [Kursivierung im Original]“ (Genette 2010: 119) und „Wer ist der Erzähler? [Kursivierung im Original]“ (Genette 2010: 119) lässt eine Differenzierung von Erzählinstanz und Figur nach ihrem Wissenstand bzw. ihrer Wahrnehmung zu. Je nach Wahrnehmungsverhältnis lassen sich die drei breit rezipierten Typen der Fokalisierung unterscheiden: 1. Die Erzählinstanz sagt mehr als jede der Figuren weiß, die Wahrnehmung der Erzählinstanz ist nicht an eine Figur gebunden (Nullfokalisierung), 2. Die Erzählinstanz sagt genauso viel wie eine der Figuren weiß und wahrnimmt (interne Fokalisierung), wobei diese fest (auf eine Figur bezogen), variabel oder multipel angelegt sein kann und 3. Die Erzählinstanz sagt weniger als die Figuren wissen und wahrnehmen (externe Fokalisierung). (Genette 2010: 118-122) Der Zugang zur Gedanken- und Gefühlswelt einzelner Figuren durch die Erzählinstanz in der internen Fokalisierung weist auf eine Möglichkeit fiktionaler Erzähltexte hin, die faktuale Erzähltexte in dieser Form nicht leisten können. Allerdings ist es für Genette (1990) nicht nur der Zugang zur subjektiven Gedanken- und Gefühlswelt einer Figur in der internen Fokalisierung, die den fiktiven Status einer Erzählung ausweist, sondern auch die anderen beiden Arten der Fokalisierung (externe Fokalisierung, Nullfokalisierung) stellen Modi der Erzählung dar, die in faktualen Erzählungen unmöglich sind. Denn dass die Erzählinstanz weniger wüsste als jede der einzelnen Figuren (externe Fokalisierung), steht dem Erklärungsanspruch von faktualen Erzählungen entgegen, während es als höchst unwahrscheinlich gelten muss, dass der Autor/die Autorin einer faktualen Erzählung nicht nur Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt einer Figur, sondern aller Figuren zugleich hätte. In der faktualen Erzählung bedarf es einer Rechtfertigung, weshalb der Autor/die Autorin Zugang zur Gedanken- und Gefühlswelt einer Figur hat, entweder gestützt durch die Quellenlage oder durch den Zusatz, dass es sich dabei um Vermutungen handelt. (Genette 1990: 761-763) Die interne Fokalisierung sowie die Nullfokalisierung stellen also Formen der Fokalisierung dar, die einen scheinbar direkten Zugang zum Bewusstsein und Innenleben der Figuren erlauben und so die Identifikation des Lesers/der Leserin mit der Figur fördern. Sie vermögen es zudem, die Verbindung von persönlicher und kollektiver Identität anzuregen, da sie die Eingebundenheit einer oder mehrerer Figuren in ein Kollektiv exemplarisch darstellen können. Für die interne Fokalisierung mit IchErzählung kommt Vázquez (2011) so zu folgendem Schluss: „It is my contention that the first person personal narrative forms employed by the authors I examine are intimately connected with projects of community efficacy. They represent the self as inextricably linked with larger social structures like community and national identity.“ (Vázquez 2011: 6). Vor allem die Autobiographie eigne sich dazu, die Verbindung einer exemplarischen Figur mit der Gemeinschaft, in die sie eingebunden ist, darzustellen und lade den impliziten Leser zur Identifikation mit dem in die nationale Gemeinschaft eingebundenen Individuum, dessen Gedanken- und Gefühlswelt ihm zugänglich ist, ein (Vázquez 2011: 9). Ergänzend kann hinzugefügt werden, dass es die Nullfokalisierung vermag, über den Zugang zur Gedanken- und Gefühlswelt der Figuren hinaus eine Art Komplizenschaft mit dem impliziten Leser herzustellen, ihn so zum ‚allwissenden Leser‘ zu machen und diesem zugleich eine Bewertung der er-
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zählten Welt mitzuliefern116, die über die Wahrnehmung einer einzelnen Figur (eines Individuums) hinausgeht (vgl. die dargestellten Formen der Sympathielenkung). Wie oben angekündigt, gelten auch die Erzähler- und Figurenrede als „Formen der Informationsvergabe [Hervorhebung im Original]“ (Lahn/Meister 2013: 117), die Einblick in die Subjektivität des Individuums gewähren können. Für die vorliegende Arbeit ist zudem relevant, welche Werthaltungen bezüglich Freiheit und Nation von der Erzählinstanz und den Figuren eingenommen werden, besonders, wenn die Figur scheinbar selbst ihre Vorstellungen zum Ausdruck bringt. Die Redewiedergabe betrifft die Art der Präsentation jener Informationen, die dem impliziten Leser figural und/oder narratorial übermittelt werden und lässt sich nach ihrem Grad an scheinbarer Authentizität (durch die Figurenrede) bzw. Mittelbarkeit (durch die Erzählinstanz) klassifizieren. Bei der Wiedergabe von Figurenrede variiert der Anteil der Erzählinstanz je nach Abstufung an Mittelbarkeit des Erzählens, d.h. an Illusion von nachahmender Rede (Realitätsbezug117) (Martínez/Scheffel 2012: 51). Im Modell von Lahn/Meister (2013: 122) nimmt die Vermittlungstätigkeit der Erzählinstanz mit jeder Stufe zu, von scheinbarer Authentizität und Subjektivität der Figurenrede bis hin zur Kontrolle der Informationsvergabe durch die Erzählinstanz, wobei schließlich der scheinbare Wortlaut der Figurenrede nicht mehr rekonstruierbar ist (Lahn/Meister 2013: 125). Dies gilt für gesprochene Rede genauso wie für mentale Prozesse und Gedanken der Figuren: Tabelle 1: Übersicht über die Arten der Figurenrede
Quelle: Lahn/Meister (2013: 122)
116 „In Texten, in denen die Erzählinstanz deutlich ausgeprägt ist – zum Beispiel als allwissender und deutlich urteilender Erzähler – ist der logisch zugrunde liegende Handlungsgang allerdings oftmals stark überformt und nur noch schwer rekonstruierbar. In solchen Fällen wird genau genommen nicht mehr das eigentliche Geschehen präsentiert, sondern die Geschehensinterpretation des Erzählers.“ (Lahn/Meister 2013: 218). 117 „Besonders wenn der Erzähler die direkte Rede als Wiedergabeform wählt, meint der Leser, unverfälscht die Äußerung der Figur zu vernehmen.“ (Lahn/Meister 2013: 119).
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Schon von Hamburger (1968) wurden der innere Monolog118 und die erlebte Rede als Formen der Figurenrede beschrieben, die für den Einblick in das Innenleben der Figuren besonders geeignet sind. Die autonome indirekte Rede (erlebte Rede) scheint auf merkwürdige Weise zwischen indirekter Rede und direkter Rede zu oszillieren. Zwar ist ohne Zweifel der Erzähler der Sprecher der gesamten Sequenz; da die Figurenrede aber nicht von einer Inquit-Formel eingeleitet und in einen Nebensatz eingebettet wird, sondern syntaktisch frei steht, erscheint auch die Figur beinahe wie ein Aussagesubjekt. (Lahn/Meister 2013: 124) Das Figurenbewusstsein wird in der erlebten Rede weniger direkt als in der direkten Rede, aber unmittelbarer als im Bewusstseinsbericht (durch die Erzählinstanz – erzählte Rede) vermittelt. Hierzu muss angemerkt werden, dass die scheinbare Authentizität der Rede und mentalen Prozesse einer Figur der zitierten Figurenrede jedoch nicht unbedingt den größten Einblick in das Innenleben der Figur erlaubt. Denn der Bewusstseinsbericht als erzählte Rede ermöglicht es etwa, „in die tieferen Bewusstseinsschichten einer Figur vorzudringen“ (Martínez/Scheffel 2012: 59) und dadurch psychische Vorgänge einer Figur zu erzählen, worüber sich diese (noch) gar nicht im Klaren ist. (Martínez/Scheffel 2012: 61) Das zweite angekündigte Spezifikum literarischer Erzähltexte ist auf den Modus der Fiktion zurückzuführen. Während bei der Rezeption literarischer Erzähltexte für gewöhnlich ein ‚Fiktionalitätsvertrag‘ zwischen Autor/in und Leser/in zustande kommt, die Leser/innen also um den künstlerischen Anspruch und dessen Implikationen bezüglich Wahrheitsgehalt des Textes wissen, so bedient sich die offizielle Erzählung der Nation des make-believe-Spiels mit der Absicht, als authentischer Text rezipiert zu werden. Literatur muss sich, wenn sie als solche rezipiert wird, also der Fiktionalitätsvertrag zustande kommt, nicht dem Vorwurf der Lüge stellen – im Unterschied zur Erzählung der Nation, die als Täuschung enttarnt werden kann. Gerade dieses Spezifikum könnte die literarische Erzählung für die Herstellung nationaler Identität interessant erscheinen lassen. Und noch eine weitere Konsequenz lässt sich aus dem ästhetischen Anspruch der literarischen Erzählung ableiten: Literarische Erzähltexte erfüllen auch eine Unterhaltungsfunktion und bereiten bei der Rezeption, bedingt durch ihre Ästhetik, Vergnügen. Im Unterschied zu anderen ‚cultural productions‘ können sie, gepaart mit ihrer politischen Funktion, also im Sinne eines „pleasure as a mode of power“ (Shield 1993: 549, zit. nach: Cahill 2012: 7) wirken. Sie verfügen durch das Bereiten von Vergnügen über eine Möglichkeit zur Manipulation, die sich aber leichter dem Vorwurf der Lüge bzw. der Täuschung entziehen kann, indem sie auf ihren ‚Als-ob‘-Charakter verweist. Trotz des fiktionalen Charakters werden literarische Erzähltexte aber nicht als bloße Fiktionen rezipiert. Sie können durchaus eine Wirkung auf die außerliterarische Welt, in die sie ja letztendlich auch eingebettet sind, entfalten. Der Fiktionalitätsvertrag erwirkt paradoxerweise in der Rezeption des literarischen Textes nicht nur das Wissen darum, dass die Geschichte so nie stattgefunden hat und es die darin vorkommenden Figuren in dieser Form nie gegeben hat, sondern eben zugleich auch das Sich-Einlassen des Lesers/der Leserin auf die er118 Der innere Monolog erlaubt eine direkte Wiedergabe der Gedanken einer Figur, in die die Erzählinstanz faktualer Erzähltexte für gewöhnlich keinen Einblick hat. Darüber hinaus wird der Wechsel von äußeren Ereignissen in die Innenwelt der Figur durch die Erzählinstanz meist nicht gekennzeichnet, wodurch die Illusion des direkten Einblicks in psychische Vorgänge der Figur verstärkt wird. (Lahn/Meister 2013: 126)
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fundene Welt, sodass die ‚Pseudo-Sätze‘ der fiktiven Welt nur entsprechend rezipiert werden können, wenn sie als wirksame Rede aufgefasst werden und emotionale Involviertheit beim Leser/der Leserin zustande kommt. Dies scheint ein weiterer Faktor für die Relevanz literarischer Erzähltexte bei der Konstruktion von nationaler Identität zu sein. Insofern wird Literatur in kulturwissenschaftlichen Ansätzen u.a. als Raum betrachtet, in dem im Sinne eines ‚Als-ob‘ gemeinsame Normen der Staatsbürger und Mitglieder der Nation, d.h. auch die Definitions- und gleichzeitigen Abgrenzungskriterien von Staatsbürgern wie Nationsangehörigen, deren Symbole und Repräsentationen, die gemeinsamen Erinnerungen, ja sogar die Organisationsform von Staaten, die noch nicht konsolidiert sind, konstruiert werden können. (Ramos 1989: 8, in: Achugar 2009: 12) „Literatur hat einen vergleichbaren Stellenwert [wie bedeutsame historische Texte], da sie Wirklichkeit im Sinne eines ‚als ob‘ konstruiert. Dies kann so weit gehen, dass das Individuum ein Ereignis als historisch erlebt erinnert, das es aus dem Angebot fiktionaler Ereignisbeschreibungen entnommen hat, wie Harald Welzer betont. [Anführungszeichen im Original]“ (Neuhaus 2009: 86)
Das literarische nation-building aus Sicht der literaturund kulturwissenschaftlichen Forschung Wie oben dargestellt, hat Anderson in seinen viel zitierten und kommentierten Imagined Communities (2006) nicht nur einen kulturzentrierten Ansatz in der Nationenforschung vorgelegt, der u.a. die Standardisierung der Landessprachen und die Ausbreitung des Druckkapitalismus in den Blick nimmt, sondern darüber hinaus den Roman als relevantes Medium für das nation-building betrachtet. Der Roman gilt Anderson (2005) deshalb als eine der „Repräsentationsmöglichkeiten für das Bewußtsein von Nation“ (Anderson 2005: 32), weil er nicht nur eine chronologische Zeitstruktur kennt, sondern auch Gleichzeitigkeit darstellen kann und untereinander unbekannte Figuren als Teil derselben Gemeinschaft vorstellbar macht. Im Roman können mehrere Handlungsstränge mit verschiedenen Figuren, die ihrerseits jeweils in eine nationale Gemeinschaft eingebettet sind, gleichzeitig dargestellt werden, obwohl sich die Figuren im Roman nicht untereinander kennengelernt haben. Der ‚allwissende Leser‘ (Anderson 2005: 33) erkennt jedoch die Beziehungen zwischen den Figuren und beobachtet sie gleichzeitig. Er hat dadurch eine Vorstellung davon, dass an verschiedenen Orten von verschiedenen Figuren unterschiedliche Handlungen ausgeübt werden, die aber zur selben Zeit passieren und die er dadurch miteinander zu verbinden weiß, dass sie gleichzeitig handeln und derselben nationalen Gemeinschaft angehören. Der Leser/die Leserin wird so gleichsam selbst in die nationale Gemeinschaft miteingeschlossen. Es wird so vorstellbar, dass der/die Einzelne nicht durch persönliche Bekanntschaft, sondern durch das Wissen (oder die Vorstellung), dass er/sie zur selben Zeit im selben gemeinsamen Raum handelt, mit anderen Mitgliedern der Nation verbunden ist. Dadurch kann sich ein vorgestelltes Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln – das Konzept der Nation wird erst so vorstellbar und denkbar. (Anderson 2005: 30-34) Die Zeitung weist insofern ähnliche Strukturen auf wie der Roman als auch sie unterschiedliche Ereignisse einander unbekannter Menschen in einem Format zusammenbringt, das nur durch den gemeinsamen Raum und die Parallelität und
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Gleichzeitigkeit der Ereignisse zusammengehalten wird. Die Verbindung zwischen den einzelnen Geschehnissen sowie die Verbundenheit mit der ‚Mitleserschaft‘ ist eine vorgestellte. „Das Veralten der Zeitung am Tag nach ihrem Erscheinen […] bringt darum eine außergewöhnliche Massenzeremonie hervor: der praktisch gleichzeitige Konsum der Zeitung als Fiktion. […] Dieser Massenzeremonie […] ist ein Paradox zu eigen. Sie wird in zurückgezogener Privatheit vollzogen, in der ‚Löwenhöhle des Kopfes‘, aber jedem Leser ist bewußt, daß seine Zeremonie gleichzeitig von Tausenden (oder Millionen) anderer vollzogen wird, von deren Existenz er überzeugt ist, von deren Identität er jedoch keine Ahnung hat. […] Indem der Zeitungsleser beobachtet, wie exakte Duplikate seiner Zeitung in der U-Bahn, beim Friseur, in seiner Nachbarschaft konsumiert werden, erhält er ununterbrochen die Gewißheit, daß die vorgestellte Welt sichtbar im Alltagsleben verwurzelt ist. [… Die] Fiktion [sickert] leise und stetig in die Wirklichkeit ein und erzeugt dabei jenes bemerkenswerte Vertrauen in eine anonyme Gemeinschaft, welches das untrügliche Kennzeichen moderner Nationen ist. [Anführungszeichen im Original]“ (Anderson 2005: 41, 42)
Die Teilhabe an nationalen Ereignissen, nationales Erinnern, ist bei Anderson (2005) aber zugleich ein nationales Vergessen, das in eine der Biographie ähnliche Form der Narration gebracht wird. Gerade die Tatsache, dass es unmöglich ist, sich an die frühe Kindheit zu erinnern, das Vergessen also unvermeidbarer Teil der eigenen Biographie ist, zeige, wie wichtig die Erzählung (etwa durch die Eltern) für das Entstehen von persönlicher Identität ist. Ähnlich verhalte es sich mit der Nation. (Anderson 2005: 200-206) „Aus dieser Entfremdung [die aus der Kluft zwischen den Dokumenten über die frühe Kindheit, die eine Kontinuität der eigenen Person belegen und der Tatsache, dass sie nicht Teil der eigenen Erinnerung sind, entsteht] erwächst eine Vorstellung von Persönlichkeit, Identität […], die gerade deswegen, weil sie nicht ‚erinnert‘ werden kann, erzählt werden muß. […] So wie es im Fall moderner Personen ist, so ist es auch bei Nationen. Ein Bewußtsein davon zu haben, in eine säkulare voranschreitende Zeit eingebettet zu sein, mit allen Implikationen der Kontinuität und dennoch die Erfahrung dieser Kontinuität ‚vergessend‘ – ein Produkt der Brüche im späten achtzehnten Jahrhundert – hat notwendig zur Folge, ein Narrativ der ‚Identität‘ zu erzeugen. [Kursivierung und Anführungszeichen im Original]“ (Anderson 2005: 206, 207)
Anders als im Falle der persönlichen Identität jedoch kennen Nationen keinen klar definierten Anfang und kein natürliches Ende (Anderson 2005: 206-208). Dieser Ansatz inspirierte eine literatur- und kulturwissenschaftliche Forschungsrichtung, die das sogenannte literarische nation-building zum Untersuchungsgegenstand hat. Am bekanntesten davon ist wohl Doris Sommers (1991) These, dass im Roman die Konstruktion der Nation mit heterosexuellem Begehren verknüpft wird: „Romantic novels go hand in hand with patriotic history in Latin America.“ (Sommer 1991: 7). Nationale Ideale (etwa der hierarchisch aufgebaute Staat), so Sommer (1991), gründen im lateinamerikanischen Roman auf heterosexueller Liebe. Diese in
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die (ebenfalls hierarchische119) Ehe mündende Liebe stehe für den gewaltlosen Aufbau der Nation vor dem Kontext der innerstaatlichen Konflikte im 19. Jahrhundert in Lateinamerika: „[…] it was civil society that had to be wooed and domesticated after the creoles had won their independence.“ (Sommer 1991: 6). Das Nationenbildungsprojekt werde nicht über Zwang, sondern über Liebe oder gegenseitiges Interesse vorangetrieben. Diese ‚Rhetorik der Liebe‘, wie es bei Sommer (1991: 6) heißt, lasse sich in sämtlichen Subgattungen, ob historischer Roman, indigenistischer, romantischer oder realistischer Roman ausmachen. In den Romanen werde der Wunsch nach Liebe und einem Staat, in dem diese möglich ist, geweckt – entweder, weil die Liebesgeschichte aufgrund der politischen Umstände tragisch endet oder das Glück der Eheleute beim Leser/der Leserin den Wunsch nach nationalem Glück und Wachstum weckt (Sommer 1991: 6, 7). Sommer (1991: 14) weist darauf hin, dass zu dieser Zeit in Europa wie in Amerika das (bürgerliche) Modell der Liebesheirat zum ersten Mal Familie, Liebe und Heirat zusammenführt. Fiktion sieht Sommer (1991) nun in Lateinamerika als Wegbereiter der Nationenprojekte. Sie spricht daher von sogenannten „foundational fictions“ (Sommer 1991: 7). Zwei Charakteristika der ‚foundational fictions‘ erscheinen für diese Arbeit besonders zentral: Zum einen hebt Sommer (1991) die Tatsache hervor, dass in Lateinamerika im 19. Jahrhundert häufig Dichter und Politiker in einer Person vereint sind und zum anderen begreift Sommer (1991: 7) die ‚foundational fiction‘ als Vorbereitung für das Nationenprojekt, das im Anschluss von den Dichter-Politikern politisch (durch Gesetzgebung oder militärische Handlungen) umgesetzt wird: „For the writer/statesman there could be no clear epistemological distinction between science and art, narrative and fact, and consequently between ideal projections and real projects. […] In the epistemological gaps that the non-science of history leaves open, narrators could project an ideal future. […] The writers were encouraged both by the need to fill in a history that would help to establish the legitimacy of the emerging nation and by the opportunity to direct that history toward a future ideal.“ (Sommer 1991: 7)
Dass der Liebesroman gerade in Lateinamerika so eng mit der Nationenbildung verbunden ist, begründet Sommer (1991) damit, dass für die weißen Kreolen, die die Unabhängigkeitsbewegung angeführt hatten, nach der Loslösung vom Mutterland ein Legitimitätsproblem bestand, das über die Schaffung einer neuen Gesellschaft – u.a. durch Fortpflanzung – gelöst werden sollte. „Without a proper genealogy to root them in the Land, the creoles had at least to establish conjugal and then paternity rights, making a generative rather than a genealogical claim. [Kursivierungen im Original]“ (Sommer 1991: 15). Anders als in den europäischen Romanen des 19. Jahrhunderts sind daher die Komplikationen, die zwischen den Liebenden auftreten, nicht auf eine/n Dritten (außereheliche Liebe, Rivale, etc.) zurückzuführen, sondern externer Natur: „the counterproductive social constraints that underline the naturalness and inevitability of the lovers’ transgressive desire.“ (Sommer 1991: 18). Das Glück der Liebenden ist in einer alternativen Gesellschaft, einem anderen politischen System, zu finden. Bei allen Unterschieden zwischen den einzelnen lateinamerikani119 Sommer (1991) spricht hier den Umstand an, dass es sich zwar um beiderseitige Liebe handelt, sich die Frau aber dem Mann unterwirft (Sommer 1991: 6, 14).
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schen Romanen des 19. Jahrhunderts kann Sommer (1991) das Ziel der nationalen Einigung durch Liebesplots und -rhetorik feststellen: „The novels share a particular kind of intimacy. Read together, they reveal remarkable points of contact in both plot and language, producing a palimpsest that cannot derive from the historical or political differences that the novels address. The coherence comes from their common projects to build through reconciliations and amalgamations of national constituencies cast as lovers destined to desire each other.“ (Sommer 1991: 24)
Für Sommer (1991) ergibt sich daraus zugleich die Einbeziehung des Lesers/der Leserin in das Nationenprojekt: „To read on, to suffer and tremble with the lovers’ drive toward marriage, family, and prosperity, and then to be either devastated or transported in the end, is already to become a partisan.“ (Sommer 1991: 27). Oft handelt es sich bei den Liebenden laut Sommer (1991: 22) um Zugehörige unterschiedlicher Ethnizität. Das Nationenprojekt hefte sich dann mestizaje auf die Fahnen – es solle auf diese Weise zu einer ‚Versöhnung‘ der weißen mit der indigenen ebenso wie mit der ‚schwarzen‘ Bevölkerung in der (künftigen) Nation kommen (Sommer 1991: 22). Zum anderen seien interethnische Heiraten auch als Strategie gesehen worden, Ethnien zu ‚beseitigen‘ und eine homogenes Nationalvolk zu schaffen, wie Sommer (1991: 38, 39) meint: „[…] it was a way of redemption in Latin America, a way of annihilating difference and constructing a deeply horizontal, fraternal dream of national identity.“ (Sommer 1991: 39). Sie bezeichnet die ethnizitätsübergreifenden Liebesplots als „pretty lies“ (Sommer 1991: 29), da sie über die tatsächlich bestehenden ethnischen, regionalen, wirtschaftlichen und Gender-Konflikte hinwegtäuschen sollten und insofern als Ausdruck bürgerlicher Hegemoniebestrebungen einer sich entwickelnden (National-)Kultur verstanden werden können. Das Verhältnis zwischen erotischem und politischem Begehren, wie dies Sommer (1991: 31) formuliert, gründet auf einer Tautologie, einer gegenseitigen Allegorie120, ganz so, als bedinge der eine Diskurs den scheinbar stabilen anderen. Romantische Liebe und Patriotismus versteht sie beide als konstruiert, auch durch nationale Liebesromane, die diese beiden Konzepte vermeintlich nur abbilden: „In fact, modernizing lovers were learning how to dream their erotic fantasies by reading the European romances they hoped to realize.“ (Sommer 1991: 32), so Sommer (1991) zum Potenzial der Liebesromane, die Vorstellung von romantischer Liebe erst hervorzubringen. Insofern entwickelt Sommer (1991) Andersons Ansatz weiter. Nicht nur die Vorstellung einer Gemeinschaft sei über Zeitung und Roman (u.a. den in Zeitungen abgedruckten Fortsetzungsroman) geschaffen worden, sondern der Liebesplot der Romane habe in den Leser/innen das Begehren für die neue Nation, samt ihren Genderrollen, geweckt: „We can read out of Anderson’s observations that in addition to sharing news items, print communities were being consolidated because everyone who read the paper was either laugh-
120 Unter ‚Allegorie‘ versteht Sommer (1991) eine Erzählstruktur, in der ein Erzählstrang eine Spur für die nächste ist, sich die einzelnen Erzählstränge also gegenseitig ‚schreiben‘, anstatt zweier paralleler (nicht unbedingt narrativer) Bedeutungsebenen (Sommer 1991: 42).
174 | F REIHEIT UND N ATION ing or (usually) panting and crying over the same installment of the serialized novel. Yet he doesn’t discuss the passions constructed by reading novels, or their ideal gender models that were teaching future republicans to be passionate in a rational and seductively horizontal way.“ (Sommer 1991: 40)
Aufbauend auf den Theorien von Anderson (2005) und Sommer (1991) hat Fernando Unzueta (2003) das literarische nation-building im lateinamerikanischen Roman untersucht. Er spricht sich für die Untersuchung von Lesepraktiken aus, um die Funktion des Romans bei der Konstruktion der Nation bestimmen zu können und befürwortet daher einen Zugang, der sich über den literarischen Text hinausbewegt. Daneben analysiert er die Darstellung des Lesens in den Romanen selbst, d.h. fiktionale Lesesituationen121 (Unzueta 2003: 148). In den lateinamerikanischen Romanen ab 1850 erkennt er zudem bestimmte Plots, die die nationale Einheit textuell herstellen sollten (Unzueta 2003: 129). Ihre Wirkung sieht er wie Sommer (1991) darin begründet: „[…] they […] signal the desire for (and not the reality of) national unity and a homogeneous citizenry.“ (Unzueta 2003: 132). Unzueta (2003) erachtet die nationalen Inhalte der Romane als einen wichtigen Faktor beim nation-building: „Reader identification with a text’s protagonist, its national contents, and values is crucial to the construction of an imagined community.“ (Unzueta 2003: 142). Die Identifikation mit (Haupt-)Figuren sieht er zum Beispiel in der Struktur des Textes angelegt, wenn die Figuren ‚realistisch‘ dargestellt werden (etwa in der Wahl ihrer Sprache) und ein breites soziales Spektrum abdecken. So könne sich der Leser/die Leserin mit der einen oder anderen Figur identifizieren und die anderen indirekt oder direkt als Mitglieder derselben nationalen Gemeinschaft anerkennen. Dies unterscheide den nationalen Roman von der patriotischen, epischen Dichtung der frühen Unabhängigkeitsphase in den neu entstandenen hispanoamerikanischen Staaten. Die für das Epos typische Idealisierung der Held/innen sei auch im Roman zu finden, jedoch seien die Held/innen nun gewöhnliche Menschen122. Die Darstellung von Bevölkerungsgruppen, die in unterschiedlichen ethnischen, geographischen, ökonomischen, sozialen Kontexten leben, sei neben dem Roman auch für die cuadros de costumbre123 typisch und ermögliche mithilfe der gemeinsamen Klammer der Nation die Vorstellung von Gemeinsamkeit, allen Unterschieden zum Trotz. Sie sind mit Unzueta (2003) als selbstreflexiv zu bezeichnen und weisen damit ein zentrales Element auf, das besonders auch für moderne persönliche Identität kennzeichnend sei. Der Roman – und v.a. der nationale Liebesroman – zeichne sich gegenüber den cuadros de costumbre dadurch aus, dass er zusätzlich das Moment des Begehrens und der Wunscherfüllung aufweise. Er erzeuge sowohl romantische als auch patriotische Gefühle und Wünsche, was sich erheblich auf die Leseridentifikation auswirke. Es seien 121 Er stellt dabei fest, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zumeist Literatur aus der europäischen und v.a. der französischen Romantik von den Figuren gelesen wird. Später wird vermehrt lateinamerikanische Lyrik in den Romanen gelesen, während Ende des 19. Jahrhunderts schließlich nationale Liebesromane in fiktionalen Lesesituationen dominieren. (Unzueta 2003: 148, 149) 122 Zudem erlaube es der Roman, Mechanismen und Szenen des mündlichen Erzählens zu integrieren (Unzueta 2003: 159). 123 Die cuadros de costumbre seien hier dem Selbstportrait ähnlich, so Unzueta (2003: 145).
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gerade jene nicht-rationalen Elemente, die modifizierend auf die Subjektivität der Leser wirken könnten124. „In a modern gesture, national romances foreground feelings and emotions as essential to personal and collective identities.“ (Unzueta 2003: 146). Bei der Leseridentifikation würden jedoch durchaus auch rationale und moralische Faktoren eine Rolle spielen, weshalb u.a. der erzieherische Aspekt der Romane Berücksichtigung finden müsse, wenn ihr Potenzial bei der Konstruktion nationaler Identität untersucht wird. Die inhaltliche Ebene (historisch wie ideologisch) ist für Unzueta (2003) daher ebenfalls relevant für das literarische nation-building. (Unzueta 2003: 144-147, 151, 159) Den Zusammenhang zwischen Roman und Nation versucht Poblete (2000) aus einer anderen Sicht als Sommer (1991) und Unzueta (2003) in den Blick zu nehmen. Poblete (2000) erklärt die Bedeutung lateinamerikanischer Romane für das nationbuilding im 19. Jahrhundert mit ihrem Entstehungskontext: dem Machtvakuum nach erreichter Unabhängigkeit und dem Legitimationsproblem der kreolischen Eliten. Die Diskrepanz zwischen den früh nach der Unabhängigkeit garantierten staatsbürgerlichen Rechten des Individuums, die Poblete (2000: 21) als Teil der subjetividad nacional der Staatsbürger begreift, und den tatsächlich vorhandenen Rechten ist für Poblete (2000) ein Grund für die Beliebtheit des Romans als Mittel zur Nationenbildung, der dem Wunsch nach Erfüllung der staatsbürgerlichen Subjektivität Ausdruck verleihen konnte. Der Roman galt v.a. der politisch-kulturellen Elite als Mittel, die zukünftigen Staatsbürger moralisch zu bilden, bevor sie politische Partizipation erhalten sollten. Die nationale Subjektivität sollte so ästhetisch vorbereitet werden. (Poblete 2000: 21) In den Worten Pobletes (2000) bedeutet dies: „[…] producir, en suma, lo que podríamos llamar el sujeto-ciudadano nacional estéticamente constituido, aquel en donde la ley funciona análogamente al objeto estético: una ley hecha carne, que operara no por coerción directa sino como ley sin ley.“ (Poblete 2000: 21)
Der Roman erscheint Poblete (2008) als eines unter verschiedenen Medien, die Teil jener Diskurse und Rezeptionspraktiken sind, die – neben anderen wirksamen Mechanismen (er nennt hier physische und symbolische Gewalt und Widerstand) – bestimmte Formen von Subjektivität (das staatsbürgerliche Subjekt), von Gemeinschaft (Nation) und Diskursräumen (nationale öffentliche Sphäre) im Nationalstaat mitsamt seiner spezifischen politischen Institutionen hervorgebracht haben (Poblete 2008: 310). Einwände/Kritik zu den skizzierten Ansätzen Die Untersuchung des Romans als Mittel zur Konstruktion der Nation ist – trotz der Anschlussstudien an die Theorien von Anderson (2005) und Sommer (1991) – ein umstrittenes Forschungsfeld. Nicola Miller (1999) stellt fest, dass zwar Andersons (2005) These, wonach Zeitungen und literarische Druckerzeugnisse sowohl Vorbedingung für die Herausbildung von Nationalbewusstsein als auch unterstützende Elemente bei der Nationenbildung sind, als weitgehend akzeptiert gilt. Dass der 124 Dem stimmt auch Dillon (2004: 31) zu, für die die Darstellung von Subjektivität in der literarischen Erzählung den Prinzipien der Innerlichkeit und Affekte folgt und nicht der Vernunft.
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Druckkapitalismus jedoch kausal mit der Entstehung der Idee der Nation verbunden ist, finde keine allgemeine Zustimmung in der Forschungsliteratur (Miller 1999: 39). Und auch, dass der Roman einer jener Hauptfaktoren sei, die Nationalbewusstsein entstehen lassen, ist ein strittiger Aspekt: „Neither does his [Andersons] thesis that the novel was a major vehicle for forging national consciousness work very well for subsequent periods: Rowe and Schelling argue that this idea ‚corresponds more to the desires of the bourgeoisie than to the works that were actually produced‘ and that ‚what the major works of literature display are the fundamental divisions of culture, language and territory that make the formation of modern nation-states difficult‘. [Anführungszeichen im Original]“ (Miller 1999: 40)
Jonathan Culler (2007) sieht Andersons Argumente zum Zusammenhang von Roman und Nation125 auf drei Ebenen angelegt: „[…] the formal structure of narrative point of view, the national content of fictions (which may include both the plot and the particular nature of the world of the novel), and finally the construction of the reader.“ (Culler 2007: 47, 48). Mit der formalen Struktur der Perspektive nimmt Anderson laut Culler (2007) auf die Darstellung gleichzeitiger ablaufender Handlung Bezug. Es gehe ihm weniger um einen allwissenden Erzähler als um einen ‚allwissenden Leser‘, sodass sichergestellt ist, dass der Leser weiß, was an verschiedenen Orten des Geschehens zur gleichen Zeit passiert. Meist sei dies in Erzählungen mit heterodiegetischer Erzählinstanz der Fall. Fiktion trage zur Konstruktion der Nation bei, indem sie gleichzeitige Geschehnisse unterschiedlicher Orte darstellt, die aber geographisch auf die Nation begrenzt sind und daher über die Wahrnehmung einzelner Individuen hinausgeht. Unklar bleibe, so Culler (2007), ob sich die Raumdarstellung auf eine konkrete Nation beziehen muss oder diese auch analog zur Nation gedacht werden kann. Neben der Vielzahl an Orten trage auch die Vielfalt an Figurenrede dazu bei, die Vorstellung einer Gemeinschaft herzustellen, die über das Wissen und die Wahrnehmung des Einzelnen hinausgehe. (Culler 2007: 48-50) Für die zweite Ebene Andersons – nationale Inhalte im Roman – sind, so Culler (2007), die Anschlussstudien von Sommer (1991) und Franco Moretti (1998) maßgeblich. Culler (2007: 69) macht darauf aufmerksam, dass Anderson mit seiner These auf die Form des Romans abzielt, wenn er dem Medium besondere Relevanz für die Konstruktion der Nation beimisst – hier vor allem die formalen Darstellungsmöglichkeiten von Zeit und Raum. Die Kritik habe jedoch, mitunter bedingt durch die Wahl der Beispiele (Rizal und Balzac), Andersons Argumente auf die Inhalte – der Darstellung der Nation im Roman – bezogen (Culler 2007: 69). Für Culler (2007: 70) ist die Unterscheidung zwischen dem Roman als Bedingung dafür, dass es möglich wird, eine Vorstellung von nationaler Gemeinschaft zu kreieren126 und dem (inhaltlichen) Beitrag von Romanen bei der Konstruktion oder Legitimation der Nation zentral, wobei er die erste Option für plausibler hält: „The contribution of the plots and 125 Neben den Imagined Communities bezieht sich Culler (2007) v.a. auf Andersons The Spectre of Comparisons (1998).
126 Culler (2007: 71) denkt hier v.a. an die Art und Weise, wie der Leser/die Leserin angesprochen wird („its open invitation to readers of different conditions to become insiders“ (Culler 2007: 72)).
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themes of novels is likely to be considerably smaller, but their form may be the condition of possibility of the imagined communities that are energized by discourses of war.“ (Culler 2007: 71). Anders als Culler (2007) sind Sommer (1991: 12, 18) und Unzueta (2003) davon überzeugt, dass Literatur die Nation in Lateinamerika inhaltlich (mit-)konstruiert hat. Bei Sommer (1991) ist es gerade eine inhaltliche Komponente (Plot), die den Roman für das nation-building relevant macht, gepaart mit der Eigenschaft, Emotionen in den Leser/innen hervorzurufen, sodass diese das Schicksal der Figuren ‚miterleben‘. „By the same token, requited love already is the foundational moment in these dialectical romances. [Kursivierung im Original]“ (Sommer 1991: 50). Was nun die dritte Ebene, die Konstruktion des Lesers/der Leserin betrifft, so geht es Culler (2007) neben der Frage nach Art und Anzahl der Rezipient/innen v.a. darum, an wen sich die Romane richten, wer der implizite Leser ist, so könnte man hinzufügen. Denn Anderson argumentiere, so Culler (2007), dass in nationalen Romanen Nationsangehörige als Leser/innen angesprochen werden und die Informationsvergabe in den Texten so angelegt sei, dass Nationsangehörige – die sich einander nicht kennen – aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Nation über einen Wissensstand verfügen, der es ihnen erlaubt, die bereitgestellten Informationen ohne weitere Erklärung zuzuordnen (etwa Straßennamen, kulturelle Elemente, etc.). Gerade aber am von Anderson gewählten Beispiel José Rizals Noli me tangere (1887) kann Culler (2007) zeigen, dass häufig Informationen und Erklärungen im Text bereitgestellt werden, die Angehörigen der philippinischen Nation bekannt sein müssen und demnach eher an externe Leser/innen gerichtet sind. Culler (2007) sieht die Informationsvergabe als Strategie der Leseridentifikation, da im Leser/der Leserin das Begehren geweckt wird, an Insiderinformationen zu kommen. (Culler 2007: 53-58, 60) „[I]t makes this sort of ‚insider information‘ into an object of readerly desire. For readers of Rizal’s novel, who may have never before taken any interest in the inhabitants of Manila, much less in its inhabitants of the late nineteenth century, it becomes desirable to be such an insider, to know about the types that constitute this nation.“ (Culler 2007: 60)
Culler (2007) kann Andersons These, dass der Adressatenkreis nationaler Romane ausschließlich auf Nationsangehörige beschränkt sei, mithilfe des Beispiels Noli me tangere schlüssig widerlegen. Dennoch scheint die Konzeption des impliziten Lesers nicht nur, wie von Culler (2007) beschrieben, den Wunsch, Insiderinformationen zu erlangen, zu steuern. Sie kann darüber hinaus durchaus die Vorstellung einer nationalen Gemeinschaft hervorbringen. Denn: Wenn auch der Rezipient/innenkreis nicht auf die Nationsangehörigen beschränkt ist und auch der implizite Leser aufgrund der Informationsvergabe nicht unbedingt als Nationsangehöriger im Text angelegt ist, so kann gerade die Informationsvergabe zu einem relevanten Aspekt der Identitätsbildung werden und so zur Konstruktion eines nationalen Gemeinschaftsgefühls beitragen. Die Vergabe von an sich bekannten Informationen kann etwa auch der Selbstvergewisserung dienen, gewissermaßen der Schaffung eines Konsenses darüber, was für die Nation als charakteristisch gelten kann. Dieses Identifikationsangebot kann dann als Versuch verstanden werden, eine verbindliche und zustimmungsfähige Version dessen, was die Nation ausmacht, zu schaffen. Die Beschreibung an sich bekannter Charakteristika liefert zugleich eine Deutung dieser ausgewählten Elemente
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mit, die für die Konstruktion dessen, was als nationaltypisch gesehen wird, relevant ist. Dass der implizite Leser teils explizit als Nicht-Angehöriger der Nation konzipiert ist, ihm die Besonderheiten der Nation, so wie in Noli me tangere, erklärt werden müssen, kann ebenfalls als Strategie zur Konstruktion der Nation gedeutet werden: Die Abgrenzung des Eigenen vom Anderen erfolgt hier dadurch, dass dem Anderen das Eigene erklärt wird, wodurch zugleich auch das Eigene definiert wird. Es handelt sich aus dieser Sicht um eine Strategie, die einerseits auf eine Alteritätserfahrung bei Nicht-Angehörigen der Nation abzielt (wodurch die Abgrenzung und Differenzierung der Gruppe der Nationsangehörigen und Nicht-Nationsangehörigen erfolgt oder zumindest bestätigt wird) und andererseits als Identifikationsangebot für Leser/innen, die der Nation angehören, wirksam wird. Als strittige Aspekte in der Forschungsliteratur zum Beitrag literarischer Erzählungen und insbesondere des Romans zur Konstruktion der Nation und der Herstellung nationaler Identität können demnach angeführt werden: 1. die Frage, ob Romane überhaupt einen maßgeblichen Beitrag zur Nationenbildung leisten können und 2. die Frage, ob die inhaltliche Ebene der literarischen Erzählung, speziell der Plot, Relevanz für die Konstruktion der Nation aufweist. Darüber hinaus lässt sich fragen, was konkret unter ‚Begehren‘ verstanden wird und in welchem Verhältnis der Begriff zur Leseridentifikation steht. Schließlich sollte auch die Verwendung des Begriffs ‚Fiktionalität‘ und dessen Anwendung auf literarische und nicht-literarische Formen der Erzählung, also die Frage nach dem Status der Fiktion, nochmals hinterfragt werden. Die erste Frage wird, wie oben erwähnt, von Miller (1999) verneint. Der Roman stelle eher die kulturellen, sprachlichen und territorialen Bruchlinien, die die Herausbildung der Nation erschweren, in den Vordergrund. Dass er ein wesentliches Mittel zur Konstruktion der Nation sei, entspreche eher den Wünschen des Bürgertums denn der Realität. Im Großteil der Anschlussforschung an Anderson (2005), insbesondere in jener, die die Erzählung von gemeinsamen Erinnerungen als einen im Kollektiv durchgeführten Prozess der Konstruktion versteht, wird dem Roman hingegen große Relevanz für die Nationenbildung beigemessen, wenn auch aufgrund unterschiedlicher Faktoren. Wir können für diese Arbeit daraus ableiten, dass eine Differenzierung zwischen den Absichten und erklärten Wünschen der Schriftsteller zur Relevanz des Romans und ihrer tatsächlichen Rezeption vonnöten ist127. Wie selbst Sommer (1991) einräumt, wurden manche dieser Romane zunächst kaum gelesen und haben erst später im Rahmen der politischen Projekte der Schriftsteller-Politiker große Bedeutung erlangt. Sie wurden nach einiger Zeit in die Literaturgeschichten, später in die Pflichtlektüre von Schulen aufgenommen und trugen zur Konstruktion einer offiziellen Version nationaler Identität bei. So wurden manche der von Sommer 127 Auf diese Weise kann es zu widersprüchlichen Aussagen kommen, etwa, wie Sommer (1991) schreibt, dass die Nationalromane zunächst kaum gelesen wurden, deren Autoren jedoch gerade das Potenzial der Romanlektüre für die Nationenbildung als sehr hoch einschätzten: „In the nineteenth century everyone was reading the forbidden texts, which is one reason the Mexican Ignacio Altamirano, among many others, was using them for patriotic projects: ‚Novels are undoubtedly the genre that the public likes best,‘ he wrote in 1868; ‚they are the artifice through which today’s best thinkers are reaching the masses with doctrines and ideas that would otherwise be difficult to impart.‘ [Anführungszeichen im Original]“ (Sommer 1991: 36).
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(1991) besprochenen Romane laut ihren Angaben erst in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu nationalem Gut erklärt. Es stellt sich die Frage, inwieweit in diesem Falle der Plot (zugehörig zu Ebene 2) für die Wirkung des Romans ausschlaggebend war oder diese Texte als Symbole (Ebene 1) ungeachtet ihres Inhalts und ihrer Form Teil des nationalen Symbolinventars wurden. Villena (2006) weist darauf hin, dass nicht alle Romane mit Liebesplot – oder manchmal gerade diese nicht – zu Nationalromanen wurden und Eingang in die Schullektüre fanden. Es bleibt die Frage zu diskutieren, ob Inhalt und Plot der Romane relevant für ihr Nationenbildungspotenzial sind oder nicht. Dazu wurden verschiedene Auffassungen erörtert: Bei Sommer (1991) ist es eben jene allegorische Verbindung von Eros und Polis, die im Leser/der Leserin das Begehren nach der geeinten Nation hervorruft. (Liebes-)Plot und Leseridentifikationsstrategien stehen im Mittelpunkt ihrer Analyse. Nationalromane weisen jedoch nicht immer Liebesplots auf. Auf ähnliche Weise stellt Unzueta (2003) Lesepraktiken sowie bestimmte Plots, die das Begehren für die vereinte Nation auslösen, ins Zentrum seiner Untersuchungen. Wenn der Leser/die Leserin, bedingt durch den Liebesplot, so ließe sich einwenden, der meist eine aus politischen Gründen unmögliche Liebe zum Thema hat, dadurch, dass er/sie das Glück der Liebenden wünscht zugleich die politischen Widerstände beseitigt wissen will, so bleibt bei Sommer (1991) die Frage offen, weshalb der Leser/die Leserin gerade die Nation begehren sollte und nicht einfach ein anderes politisches Regime als jenes, das als Hindernis für die glückliche Liebe inszeniert wird. Gerade in Hispanoamerika sind die Unabhängigkeitsbewegungen kein Ausdruck eines Nationalgefühls und auch die jungen Republiken wurden nicht aus nationalem Zusammengehörigkeitsgefühl gegründet. Es wird in Sommers (1991) Ausführungen nicht deutlich, weshalb die Unzufriedenheit mit den politischen Systemen der ersten Jahrzehnte nach erlangter Unabhängigkeit allein aufgrund des Liebesplots in den Wunsch nach einer Nation münden sollte. Zudem könnte man kritisch einwenden, dass Sommer (1991) alle lateinamerikanischen nation-building Romane des 19. Jahrhunderts als Romane mit Liebesplot betrachtet: „It is worth asking why the national novels of Latin America—the ones that governments institutionalized in the schools and that are by now indistinguishable from patriotic histories—are all love stories. An easy answer, of course, is that nineteenth-century novels were all love stories in Latin America; but it just begs the question of what love has to do with the requirements of civic education.“ (Sommer 1991: 30)
Wie Villena (2006) bemerkt, ist dies jedoch nicht zutreffend. Eine weitere Kritik bezüglich der Repräsentation der Nation mithilfe des Plots wurde von González (2006) formuliert. Er kritisiert an Sommers These, dass unklar bleibe, wie die in der Allegorie hergestellten Zusammenhänge zwischen Eros und Polis entschlüsselt werden können. „No habría nada que objetar, en principio, a esta tesis, si no fuera por el hecho de que, cuando se trata de descodificar el nivel alegórico de estas ‚novelas nacionales‘, su ‚doctrina‘ o ‚mensaje‘ es mucho menos claro de lo que se esperaría […] [Anführungszeichen im Original]“ (González 2006: 231)
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Anderson (2005) hingegen betont zunächst nur das Spezifikum des Mediums Roman, gleichzeitige Handlungen, die an unterschiedlichen Orten der Nation stattfinden aus Sicht eines ‚allwissenden‘ Lesers vorstellbar zu machen und so die Vorstellung von Gemeinschaft einander unbekannter Personen hervorbringen zu können. Plot und inhaltliche Aspekte sind dafür nicht ausschlaggebend. In diesem Falle würde sich eine detaillierte erzähltechnische Romananalyse erübrigen. Wenn aber der Roman nur durch das formale Element der Vorstellbarkeit von Gleichzeitigkeit zur Konstruktion der Nation beiträgt, so ließe sich fragen, warum er bis heute für das nation-building relevant ist, wo doch die Vorstellbarkeit von Gleichzeitigkeit längst erreicht ist? Doch selbst bei Anderson (2005) lässt sich eine implizite inhaltliche Analyseebene ausmachen, dann nämlich, wenn er den Leser/die Leserin als Nationsangehörigen durch als bekannt vorausgesetzte Informationen für Mitglieder der Nation im literarischen Text definiert. Man könnte durchaus von inhaltlichen Aspekten – Informationen bzw. fehlende Informationen – sprechen, die eine Identifikation – Konstruktion von Identität? – beim Leser/der Leserin fördern. Ähnliches kann für jene Ansätze gelten, die als primäre Leistung des Romans die Konstruktion von Subjektivität betrachten. Wie in Kapitel ‚Liberalismus, Nation(alismus) und literarische Erzählung‘ zu diskutieren sein wird, erklären manche Ansätze die Konstruktion von Subjektivität über den Roman mit der Stellung der literarischen Öffentlichkeit zwischen privater und öffentlicher Sphäre – in diesem Fall ist eine erzähltechnische Analyse des Romans überflüssig. Denn dieser Ansicht nach ist der Roman an sich gemeint und nicht ein konkreter Nationalroman aufgrund seiner Inhalte und Strukturen. In anderen Ansätzen hingegen wird mit Textstrategien im Hinblick auf den impliziten Leser (Identifikation, Begehren, Erfahrung etc.) argumentiert. Hier scheint eine detaillierte Analyse dieser Textstrategien lohnend, denn worin die an partikulären Figuren entworfene Subjektivität besteht und mithilfe welcher Strategien Leseridentifikation mit diesen Figuren begünstigt wird, ist inhaltlich und formal analysierbar. Als Konsequenz für diese Arbeit gilt, dass sämtliche der genannten Aspekte ins Analyseschema aufgenommen werden, um ihre Relevanz an den Texten des Korpus zu überprüfen, sofern sie mithilfe des Textes selbst (und nicht außertextuellen Faktoren) gemessen werden können. Nun zur Frage des Verhältnisses zwischen dem Leserbegehren und der Leseridentifkation. Bei Sommer (1991) lässt sich zwar, wie besprochen, ein inhaltliches Kriterium ausmachen, das den Roman als besonders geeignet für die Konstruktion der Nation erscheinen lässt (die interethnische Liebe), doch geht es ihr auch um die Art und Weise, wie der Plot beschaffen ist, sodass dieser das Begehren oder den starken Wunsch beim Leser/der Leserin nach einem happy end (in der Liebe wie für die Nation) hervorruft. Dieser, so Sommer (1991), entstehe durch die allegorische gegenseitige Bedingtheit von Eros und Polis. Der Leser/die Leserin sehne sich demnach dann nach der Konsolidierung der Nation, wenn er sich mit den liebenden Figuren identifiziert. Wer mit den unglücklichen Liebenden leidet, steht bereits auf deren Seite und kann nur politische Rahmenbedingungen wünschen, die den Figuren doch noch ihr Liebesglück ermöglichen. Nur aus dieser Kombination aus dem inhaltlichen Kriterium des (Liebes-)Plots und der Leseridentifikation mit den liebenden Figuren wird Sommers (1991) Argument verständlich. Die Identifikation des Lesers/der Leserin mit bestimmten Figuren an sich reicht demnach nicht für den Wunsch nach der Nation. Dieser Aspekt bleibt bei Unzueta (2003) etwas undeutlich, der zwar das
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Moment des Begehrens gemeinsam mit der Leseridentifikation als grundlegend für das literarische nation-building betrachtet, allerdings neben dem Liebesplot auch die Möglichkeit anderer ‚nationaler‘ Plots einräumt, diese aber unbestimmt lässt. Bei Culler (2007) wiederum rückt die Informationsvergabe als Identifikationsstrategie – im Leser/der Leserin wird das Begehren geweckt, an Insiderinformationen zu kommen – ins Zentrum der Fragestellung. Begehren und Identifikation müssen demnach im Analyseschema dieser Arbeit zunächst als zwei unterschiedliche Mechanismen gehandelt werden und schließlich nach ihrem Verhältnis zum Plot und zur Informationsvergabe betrachtet werden. Vermögen es auch Plots ohne Liebesthematik, Begehren für die Nation beim Leser hervorzurufen? Oder sind es in literarischen Erzählungen ohne Liebesplot vielmehr andere Strategien, die diese Texte für das literarische nation-building interessant machen, etwa das Streben nach Insiderinformationen und damit nach Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Nation bzw. Er- und Anerkennen einer nationalen Gemeinschaft, wenn es sich um ‚externe‘ Leser/innen handelt? Zur letzten Frage sei auf die oben vorgenommenen Definitionen verwiesen. Sommer (1991) meint, dass der Anspruch der Autor/innen von Liebesromanen Geschichte – als faktuale Erzählung? –, nicht Fiktion gewesen sei: „Novelists tried to insist that their work was ‚history‘ not fiction; and therefore not idle or fuel for fantasies. [Anführungszeichen im Original]“ (Sommer 1991: 36). Es muss daher im Rahmen der Textanalyse darauf geachtet werden, ob in den literarischen Texten Fiktionalitätsmarker enthalten sind, die auf ein Bewusstsein für die Trennung zwischen faktualer und fiktionaler Erzählung hindeuten. Zugleich könnte es interessant sein, jene Elemente in fiktionalen (und als solche gekennzeichnete) Erzählungen in den Blick zu nehmen, die als ‚faktisch‘ inszeniert werden.
K ONKLUSION : N ATION – I DENTITÄT – E RZÄHLUNG Im vorliegenden Kapitel wurde versucht, das Verhältnis zwischen Nation, Identität und Erzählung in einem für diese Untersuchung geeignetem Theorieansatz zu bestimmen. Nach einer Diskussion der Nationenbildungsforschung und ihren strittigen Aspekten128, die sich v.a. in der Polemik zwischen Essentialismus und Konstruktivismus gezeigt haben, wurde der historisch-strukturelle Ansatz Larrains (2000) (aufbauend auf Johnsons (1993) Kulturtheorie der Nation) als Mittelweg129 zwischen den 128 Zu diesen zählen die Fragen, ob die Konstruktion der Nation von einer kulturellen Elite ausgeht oder auf eine Volksbewegung zurückzuführen ist, ob sich die Nation auf vormoderne (ethnische) Bindungen gründet oder ob sie ein kulturelles Produkt der Moderne ist sowie ob die Nation eine ‚Fiktion‘ ist oder ob es einen wesenhaften Kern von nationaler Identität gibt. 129 Der historisch-strukturelle Ansatz geht etwa davon aus, dass nationale Identität sowohl auf realen wie auch fiktiven Gemeinsamkeiten einer Gruppe beruht. Sie fußt auf ‚realen‘ Bedingungen einer Gesellschaft und ihrer kulturellen Elemente sowie Traditionen, Bräuche und geteilten Vergangenheit (‚ways of life‘), ist aber aufgrund der Mechanismen der Selektion, Bewertung, (Fiktionalisierung) und Naturalisierung im öffentlichen Diskurs (im Bereich der ‚cultural productions‘ und der ‚public version‘) als eine Konstruktion zu betrachten, die von den Nationsangehörigen rezipiert wird. Der Vorwurf der Beliebigkeit
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beiden Theorieströmungen präsentiert sowie mögliche Schwachstellen des Modells angesprochen. Für die vorliegende Arbeit, die sich mit einem Korpus an politischen und literarischen Texten einer Autorengeneration beschäftigt, die sowohl politisch als auch literarisch einflussreich war und die frühe Konstruktion der argentinischen Nation prägen sollte, liegt es nahe, einen kulturzentrierten Ansatz zur Nationenforschung zu wählen. Als Prämisse für diese Arbeit kann daher gelten: „Though they seem to invoke an origin in a historical past with which they continue to correspond, actually identities are about questions of using the resources of history, language and culture in the process of becoming rather than being: not ‚who we are‘ or ‚where we came from‘, so much as what we might become, how we have been represented and how that bears on how we might represent ourselves. Identities are therefore constituted within, not outside representation. [Anführungszeichen im Original]“ (Hall 2003: 4)
Ausgehend von Larrains (2000) Modell wurden einzelne kulturelle Prozesse, die bei der Entstehung und Aktualisierung von nationaler Identität zum Tragen kommen, benannt. Der Rückgriff auf J. Assmanns (2002) Konzept des kulturellen Gedächtnisses diente dazu, zu präzisieren, wie kollektive Identität entsteht, wie Traditionen, Riten, Bräuche, eine geteilte Vergangenheit und gemeinsame Erinnerungen, also Elemente, die häufig als Basis eines Volksnationalismus angeführt werden, geformt werden. Die Erzählung – nicht als Form der Reproduktion, sondern der Kreation – entpuppte sich aus konstruktivistischer und kulturwissenschaftlicher Sicht, neben der Setzung von gesellschaftlichen Normen und Regeln, als ein bestimmendes Instrument zur Herausbildung gemeinsamer Erinnerung und Identität. Der Fokus dieser Arbeit liegt daher auf dem Erzählen, wobei dieses als eine Form zur Konstruktion von nationaler Identität betrachtet wird. Die Erzählung der Nation konnte bei einem Vergleich mit den typischen Charakteristika der faktualen und der fiktionalen Erzählung weder der einen noch der anderen ganz zugeordnet werden. Sie wird von einem nicht genauer bestimmbaren Großkollektiv mit ungleicher Machtverteilung der beteiligten Akteur/innen hervorgebracht, ist einem ständigen Wandel unterworfen und nicht in Form eines Einzeltextes verfügbar. Vielmehr entsteht sie aus einer unüberschaubaren Menge an ‚cultural productions‘, die in ihrer Beschaffenheit nicht unterschiedlicher sein könnten. Die Erzählung der Nation erhebt keinen Anspruch auf realitätsgetreue Wiedergabe von Ereignissen und Information und ist häufig in einem zeitlosen Raum angesiedelt. Sie zielt auf die Herstellung von Identität, operiert aber nicht mit dem Modus der Fiktion. Dennoch teilt sie mit fiktionalen Erzählungen die Präsenz erfundener Elemente in der Erzählung und verfolgt, wie diese, eine make-believe-Strategie. Sie will aber im Gegensatz zur Fiktion als authentisch gelesen werden130 und bedient sich nicht der Fiktionalisierung, sondern der Naturalisierung als Mechanismus, der die erfundenen Elemente als natürlich und immer schon vorhanden sowie zugleich für die Zukunft des Nationsentwurfs kann so entkräftet werden. Der Ansatz vermittelt zugleich zwischen der Annahme eines Eliten- oder Volksnationalismus, indem er beide Formen berücksichtigt und in wechselseitige Abhängigkeit stellt. 130 Des Weiteren erhebt sich für gewöhnlich keinen künstlerischen Anspruch, was sie ebenfalls von der literarischen Erzählung unterscheidet.
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als verbindlich erscheinen lässt. Das Konstruieren eines als authentisch rezipierten Selbstbildes der Nation in Form des Mythos und des gemeinsamen Erinnerns, mit dem sich die Nationsmitglieder identifizieren können, steht im Zentrum der Erzählung der Nation. Mit Larrain (2000) kann erläutert werden, welche Funktionen ‚cultural productions‘ (darunter Literatur) bei den Transformationen von gemeinsamer Erinnerung und kulturellen Elementen (‚ways of life‘) in Narrative, die als öffentliche Version nationaler Identität präsentiert werden, erfüllen. Mithilfe Neumanns B. (2003) und Ricœurs (1988) Ausführungen zu den Beziehungen zwischen außer- und innerliterarischer Welt (Mimesis I-III) konnte der Fokus vom gesamten Kreislauf des Modells hin zu jenem Ausschnitt verengt werden, der für diese Arbeit besonders relevant ist. Literarische Erzähltexte als Subkategorie von Literatur an sich wurden dementsprechend als eine Form der ‚cultural production‘ verstanden, die an der Erzählung der Nation mitwirken. Dabei wurde zwischen literarischen Erzähltexten, die aktiv über die interne Inszenierung der Nation an der Erzählung der Nation mitwirken (Ebene 2) und solchen, die ungeachtet ihrer Form und ihres Inhalts ‚passiv‘ zum Symbol (Ebene 1) für die Nation werden (ähnlich wie Hymne, Tanz, Flagge, Denkmal, etc.), indem ihnen ihre nationale Bedeutung diskursiv zugeschrieben wird, unterschieden. Um die Spezifika literarischer Erzähltexte als ‚culural production‘ (auf Ebene 2) bestimmen zu können, wurden zunächst kulturwissenschaftliche Ansätze diskutiert, die es erlauben, Literatur im Gesamtprozess der Konstruktion von Identität zu verorten. Diese wurden anschließend mit einem narratologischen Zugang kombiniert, der jene innertextuellen Strukturen der literarischen Erzählung in den Blick nimmt, die für die Konstruktion von Identitäten relevant sind. Der literarische Erzähltext erscheint im Gesamtmodell der Konstruktion der Nation als einer der möglichen Aggregationskanäle der ‚ways of life‘, der zum einen eine Selektion aus den vorhandenen Lebensentwürfen der sozialen Basis vornimmt, die ausgewählten Elemente aber zugleich bündelt, verformt, ja gegebenenfalls neu konstruiert und über die Publikation des Texts zu einer ‚public version‘ nationaler Identität bringen kann. Gemeinsam mit unzähligen anderen ‚cultural productions‘ sowie Interessen (politischer Parteien, Interessengruppen, Medien, etc.) vermag es der literarische Erzähltext dadurch, Identitätsentwürfe auszuwählen, zu bündeln, zu konstruieren und in die öffentliche Sphäre ‚einzuspeisen‘. Geht er (unter Umständen in abgewandelter Form) in die ‚public version‘ nationaler Identität ein, so wirkt er über die ‚readings‘ wieder zurück auf die kollektive Identität der einzelnen Nationsmitglieder, die die offizielle nationale Identität rezipieren und dabei gegebenenfalls umformen. Besonders deutlich wird dieser Prozess in jenen Fällen, in denen literarische Werke zur Pflichtlektüre in Schulen werden. Literarische Erzähltexte stellen also ein Medium zur Speicherung, Konstruktion und Vermittlung von gemeinsamer Erinnerung dar und sind so eines der Instrumente zur Herausbildung sogenannter konnektiver Strukturen der Gesellschaft, das jedoch dementsprechend verbreitet werden muss, um wirksam zu werden. Im Unterschied zu partizipativen Formen der Erinnerung bedarf es weiterer Akteur/innen, um literarische Identitätsentwürfe gesellschaftlich zu vermitteln. Anders als andere ‚cultural productions‘ konstruieren literarische Erzähltexte ihre Nationsentwürfe im Modus der Fiktion, d.h. im Sinne eines ‚Als-ob‘. Sie sind dadurch weniger stark an die ‚ways of life‘ gebunden und verfügen über das Privileg, über Fiktionalisierung neue Modelle von Wirklichkeit gestalten zu können, ohne je-
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doch von jeglichem Wirklichkeitsbezug losgelöst zu sein und ihre prägende Kraft für die Realität aufgeben zu müssen. Das erlaubt es dem literarischen Erzähltext als ‚cultural production‘, auch Gegenentwürfe zu bestehenden Identitätsentwürfen vorstellbar zu machen, wobei diese über die Mimesis III auf die ‚ways of life‘ der Leserschaft zurückwirken können, ohne von offiziellen Narrativen aufgenommen zu werden. Da nicht davon auszugehen ist, dass hier eine Rezeption durch die Gesamtheit der Nationsangehörigen erfolgt und die Entwürfe im Widerspruch zu offiziellen Entwürfen stehen können, kann hier mit Neumann B. (2003: 71, 72) auch von einer subkulturellen Gedächtnisleistung gesprochen werden. Literarische Erzähltexte können, gerade weil sie ein Modell des ‚Als-ob‘ konstruieren, vergessene Elemente aus der geteilten Vergangenheit wiederaufgreifen (Neumann B. 2003: 67) und zu „alternative[n] Erinnerungswelten“ (Neumann B. 2003: 69) werden. Vor allem aber können literarische Erzähltexte eine affirmative und aktualisierende Funktion hinsichtlich offizieller Nationsnarrative erfüllen: „Dieses Phänomen der Wechselwirkung eröffnet eine breite Skala von Möglichkeiten, von der ideologischen Bestätigung des Bestehenden, wie in der offiziellen Kunst oder der Chronik der Machthaber, bis zur Gesellschaftskritik und sogar dem Hohn auf alles ‚Wirkliche‘. [Anführungszeichen im Original]“ (Ricœur 1988: 125)
Als weiteres Charakteristikum literarischer Erzähltexte als ‚cultural production‘ bei der Konstruktion nationaler Identität (wie allgemein für literarische Texte) ist hervorzuheben, dass sie einen Spielraum zur Interpretation offen lassen, der die Reduktion des literarischen Nationsentwurfs auf eine letztgültige Version verunmöglicht131. Subversive Texte können so zu affirmativen werden und umgekehrt, abhängig von der Rezeption des Textes (und dem Zeithorizont zwischen Produktion und Rezeption des Textes) und ihrem Verhältnis zu staatlichen Akteur/innen und Institutionen (und deren ‚public version‘ nationaler Identität). Aus Sicht der literaturwissenschaftlichen Erzähltextanalyse verfügen literarische Erzählungen über Strategien der Identifikationsbildung, die sich von jener der Erzählung der Nation unterscheiden, bedingt durch den Modus der Fiktion und die spezifische Kommunikationssituation, die durch das Einsetzen einer fiktiven Vermittlungsinstanz – die Erzählinstanz – zustande kommt. Die literarische Erzählung weist Besonderheiten der textuellen Rezeptionssteuerung auf, die letztlich für die Identifikation des Lesers/der Leserin mit der Geschichte und ihrem Werte- und Normsystem relevant sind. In diesem Zusammenhang wurde die Sympathielenkung genannt, die sich meist aus einer ungleichen Informationsverteilung ergibt. Der Erzählinstanz als Vermittlungsinstanz kommt bei der Informationsverteilung eine wichtige Aufgabe zu. Mit Nünning (1989) konnten vier Funktionen der Erzählinstanz im Hinblick auf die Sympathielenkung unterschieden werden. Im Rahmen der erzähltechnischen Funktionen stellt die Erzählinstanz dem impliziten Leser alle relevanten Informationen über die erzählte Welt zur Verfügung und situiert die Figuren in ihrem privaten, sozialen, politischen, kulturellen, etc. Umfeld. Damit liefert sie bereits Erklärungen 131 „Der Kontext von Fiktionen […] lässt die Frage, wovon sie eigentlich handeln, explizit offen. Der Wirklichkeitsbezug ist nicht so sehr eine Eigenschaft literarischer Werke als eine Funktion, die ihnen durch die Interpretation erst zukommt.“ (Culler 2002: 49).
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für das Handeln von Figuren, aber auch eine Bewertung derselben, ab. Diese wird im Bereich der analytischen Funktionen noch deutlicher: Die Erzählinstanz steuert die Rezeption über ergänzende Kommentare, die explikativ oder evaluativ angelegt sein können. Obwohl diese Äußerungen der Erzählinstanz subjektiv und nur eine Möglichkeit der Bewertung sind, fordern sie den impliziten Leser, wenn auch nicht zur Übernahme des Werturteils, so doch zur Positionierung zu diesem auf. Sie dienen zudem der Entwicklung eines fiktiven Werte- und Normsystems der erzählten Welt. Direkte Aufforderungen der Erzählinstanz, Mitgefühl für eine Figur zu empfinden, können als Strategie verstanden werden, Zustimmung für das fiktive Werte- und Normsystems zu provozieren. Ähnliches gilt für Aussagen, die nicht auf die erzählte Welt bezogen sind, sondern generalisierend, durchaus auch textextern (z.B. auf das Menschsein an sich), angelegt sind (synthetische Funktionen). Mithilfe der Verwendung der ersten Person Plural kann der implizite Leser sogleich in die Perspektive der Erzählinstanz miteingeschlossen werden. Schließlich kann sich die Erzählinstanz auch explizit an einen Adressaten des Erzähltextes wenden und an diesen appellieren. Die Rezipient/innen werden damit aufgefordert, Bezüge zur eigenen Erfahrungswirklichkeit herzustellen. All diese rezeptionslenkenden Strategien müssen jedoch stets als bloße Interpretationsangebote verstanden werden, die den realen Leser/die reale Leserin nicht auf eine Deutung festlegen. Neben der Sympathielenkung wurden die interne Fokalisierung und Nullfokalisierung sowie bestimmte Arten der Redewiedergabe (v.a. der innere Monolog, die erlebte Rede und der Bewusstseinsbericht) als identifikationsfördernde Mittel literarischer Erzähltexte genannt. Sie versprechen einen Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt der Figuren – und damit einen Zugang zur Subjektivität von Figuren –, der in dieser Form in faktualen Erzählungen nicht möglich ist. Zugleich regen sie eine Verbindung von persönlicher und kollektiver Identität an, indem sie es vermögen, sowohl die Gedanken- und Gefühlswelt des Individuums als auch dessen Eingebundenheit in ein Kollektiv exemplarisch darzustellen und dabei die Rezipient/innen einzuladen, beides nachzuvollziehen oder gar in Form einer ‚Probeerfahrung‘ mitzuerleben. Darauf aufbauend werden für die Analyse des Verhältnisses zwischen Erzählinstanz, Figuren und implizitem Leser im Analyseteil der Arbeit die Bereiche Informations- und Wissensverteilung, Redesituationen sowie Bewertungsstrategien unterschieden. In der Forschungsliteratur zum literarischen nation-building wurden folgende innertextuelle Charakteristika der literarischen Erzählung hervorgehoben, die zur Konstruktion nationaler Identität beitragen, wenn dazu auch kein Konsens besteht: Die Möglichkeit, gleichzeitige, an verschiedenen Orten stattfindende und von einander unbekannten Figuren ausgeübte Handlungen (Anderson 2005) sowie eine Vielzahl an Figurenrede (Culler 2007) darzustellen (‚allwissender Leser‘), die Konzeption eines impliziten Lesers als Nationsmitglied aufgrund der Informationsvergabe (Anderson 2005) und die Kombination eines inhaltlichen Kriteriums (Liebesplots oder Nationalplots) mit Leseridentifikationsstrategien, die im Leser Begehren für die (neue) Nation erzeugen (Sommer 1991, Unzueta 2003). Schließlich ist festzuhalten: Im Gegensatz zur Erzählung der Nation, die mithilfe des make-believe-Spiels und Naturalisierungsmechanismen erfundene Elemente als authentisch zu präsentieren versucht – damit aber auch Gefahr läuft, als Täuschung enttarnt zu werden – lässt sich der Rezipient/die Rezipientin eines literarischen Er-
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zähltextes über den sogenannten ‚Fiktionalitätsvertrag‘ auf die Welt der Erzählung im Bewusstsein um seinen fiktiven Charakter ein. Literarische Erzähltexte verfügen dadurch und durch das Bereiten von Vergnügen über eine Möglichkeit der Beeinflussung, die sich dem Vorwurf der Täuschung mit Verweis auf ihren fiktiven Charakter leichter entziehen kann. Dass sie aufgrund der emotionalen Involviertheit der Leser/innen, wenn sie sich auf die ‚Pseudo-Sätze‘ der erzählten Welt einlassen, dennoch nicht als reine Fiktion verstanden werden können, sondern durchaus eine Wirkung auf die außertextuelle Welt (den realen Leser/die reale Leserin) entwickeln, lässt literarische Erzähltexte für die Konstruktion von (nationaler) Identität als besonders interessant erscheinen.
Liberalismus, Nation(alismus) und literarische Erzählung1
L IBERALISMUS UND N ATION ( ALISMUS ) – E IN S PANNUNGSVERHÄLTNIS ZWISCHEN I NDIVIDUUM UND G EMEINSCHAFT ? Der Begriff ‚liberal‘2 wird ab der Französischen Revolution in parteipolitischer Bedeutung verwendet (Wintersteiger 2012: 88). ‚Liberalismus‘ in seiner politischen Bedeutung erscheint als Begriff zum ersten Mal 1812 in den spanischen Cortes de Cádiz, als sich die Befürworter der Verfassung als ‚liberales‘ bezeichnen (Ottmann 2008: 59; Heywood 1992: 15). Ab den 40er Jahren des 19. Jahrhundert gilt ‚Liberalismus‘ in seiner Bedeutung als politische Ideologie bereits in weiten Teilen Europas als etablierter Begriff. Die enge Verbindung zwischen Verfassung und Liberalismus schon seit der Erstnennung des Begriffs ist keine zufällige. Kann man auch vor dem 19. Jahrhundert noch nicht von Liberalismus im Sinne der politischen Ideologie sprechen, so baut dieser doch auf politischen und philosophischen Ideen auf, die in den 150 Jahren zuvor entwickelt wurden3, etwa den skizzierten Theorien und Entwicklungslinien (allen voran John Locke, Immanuel Kant und die französischen Aufklärer), aber auch den schottischen Aufklärern und den Federalists in den USA. Die 1
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Die Schreibweise Nation(alismus) soll darauf hinweisen, dass das Konzept der Nation sich auch mit anderen Ideologien, abseits des Nationalismus, verbinden konnte. ‚Nation‘ und ‚Nationalismus‘ gehen nicht immer miteinander einher. Ins Deutsche wurde das französische libéral (‚freiheitlich‘), das aus dem lateinischen LIBERALIS (‚edel, freigebig, freiheitlich‘) zum lateinischen LIBER (‚frei‘) stammt, im 18. Jahrhundert entlehnt. Der Begriff ‚frei‘ (davon abgeleitet auch ‚Freiheit‘) ist hingegen ab dem 8. Jahrhundert belegt und stammt aus dem germanischen *FRIJA (‚frei‘). (Seebold 2011: 315, 316, 575) Das Spanische ‚libre‘ geht auf das lateinische LIBER zurück, ist ein Semikultismus und seit 1200 belegt, ‚liberal‘ auf lat. LIBERALIS und ist seit 1280 belegt (DRAE 2015a, b; Coromines 2010: 336). Geuss (1998) weist darauf hin, dass Liberalismus und Theorie des Naturrechts trotz gemeinsamer Grundlagen (z.B. der Menschenrechte) in einer zufälligen Beziehung zueinander stehen, da der Status der Grundrechte kein naturrechtlicher, sondern ein von den Zielen des Liberalismus, etwa Individualität, Freiheit oder Toleranz, abgeleiteter ist (Geuss 1998: 115).
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Nordamerikanische und Französische Revolution werden gemeinhin als bedeutsame Ereignisse im Hinblick auf die Entstehung des Liberalismus begriffen, da sie die „Rechte des Menschen und Bürgers deklarieren und repräsentative Republiken errichten“ (Ottmann 2008: 58). Der Liberalismus knüpft auch insofern an die moderne Verfassungsentwicklung an als er vom Individuum, dem vernunftbegabten Bürger, ausgeht und sich gegen die soziale Hierarchie des Ständesystems und dessen Wirtschaftssysteme wendet. Basis für die liberale Staatsauffassung sind laut Döhn (1977: 39, 42, 43) Gewaltenteilung und der Rechtsstaat in seiner Ausprägung als Verfassungsstaat mit Garantie der Grundrechte4 und die Unterwerfung von Verwaltung und Rechtsprechung (bei richterlicher Unabhängigkeit) unter das Gesetz. (Ottmann 2008: 58, 59; Heywood 1992: 15) Jener Aspekt liberaler Theorien, der für diese Arbeit zentral erscheint, und wohl zugleich einer der zentralsten im Liberalismus ist, ist die Grundlegung der Ideologie im Freiheitsgedanken in seinen verschiedenen Ausprägungen, der schon in der Etymologie des Begriffs Liberalismus selbst angelegt ist (Waldron 1998: 228). Zu den vielfältigen Interpretationen des Verhältnisses von Freiheit und Liberalismus selbst kommt die Verbindung des Liberalismus mit anderen politischen Ideologien wie dem Konservatismus, dem Sozialismus, dem Anarchismus oder dem Nationalismus5 hinzu, die eine kurze und prägnante Definition der Ideologie schwierig machen6. So meint schon Lothar Döhn (1977)7: „Alle Versuche einer allgemeingültigen, umfassenden begrifflichen Bestimmung dessen, was Liberalismus sei, sind gescheitert. Sie erfassen immer nur einen Teilaspekt des Liberalismus
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Döhn (1977) teilt die Grundrechte in drei Kategorien ein: Persönliche Freiheit (Unverletzlichkeit der Wohnung, Briefgeheimnis, Rechtsschutz, Gleichheit vor dem Gesetz, Freizügigkeit), politische Grundrechte (Vereins-, Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit, Wahlrecht, Wahlgeheimnis) und geistige Grundrechte (Glaubens- und Gewissensfreiheit) (Döhn 1977: 40). Ergänzend könnte im Bereich der persönlichen Freiheit noch Vertragsund Erwerbsfreiheit und die Garantie des Eigentums hinzugefügt werden, die bei Döhn (1977) gesondert abgehandelt wird. Ottmann (2008) nennt in seiner Auswahl an unterschiedlichen Varianten des Liberalismus den konservativen Liberalismus oder liberalen Konservatismus (Edmund Burke, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Alexis de Tocqueville), den sozialen Liberalismus (Jeremy Bentham, John Stuart Mill, John Rawls), den Manchesterliberalimus (Richard Cobden, John Bright, Ludwig Bamberger, Eugen Richter), den libertären Liberalismus (Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek, Murray Newton Rothbard, Robert Nozick) und den badischen Liberalismus (Carl von Rotteck, Carl Theodor Welcker) (Ottmann 2008: 60). Darüber hinaus erfährt der Liberalismus in den einzelnen Ländern unterschiedliche Schwerpunktsetzungen. In Deutschland schließt der Liberalismus an das Naturrecht an, während dieses in England durch den Utilitarismus verdrängt wird. In Frankreich waren die Machtübernahme durch Napoleon Bonaparte und die nachfolgenden politischen Ereignisse hinderlich für die Weiterentwicklung des Liberalismus, abgesehen davon, dass der Rousseauismus die Anliegen des Liberalismus zurückdrängte. (Ottmann 2008: 59, 60) Vgl. dazu auch Dworkin (1998: 182) für aktuellere Ausprägungen des Liberalismus und ihre Pluralität.
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oder sehr vergröbert eine seiner unterschiedlichen geschichtlichen und politischen Ausprägungen oder Entwicklungsstufen.“ (Döhn 1977: 11)
Grundsätzlich baut der Liberalismus sein Gedankengebäude ausgehend vom Individuum, nicht von einem Kollektiv, auf. Diese Position ließen bereits die naturrechtlich inspirierten Staatstheorien erkennen, die ihr Interesse an der Gesellschaft, oder dem Kollektiv, in Verbindung mit dem Schutz der Interessen des Individuums formulierten. Die Gesellschaft wird so als Summe an Individuen begriffen, nicht als eigene, einheitliche Größe. „Im Mittelpunkt des Selbstverständnisses des Liberalismus steht als Wert und Orientierungsnorm die Freiheit des einzelnen, dessen ungehinderte freie Entfaltung in allen Lebensbereichen nicht nur Voraussetzung für eine bestmögliche individuelle sittlich-geistige Persönlichkeitsentwicklung und individuelle Wohlstandsentwicklung sein soll, sondern zugleich zu einer bestmöglichen sittlich-geistigen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung der Gesellschaft insgesamt und ihrer staatlichen Organisation führen soll. [Kursivierungen im Original]“ (Döhn 1977: 12)
Die Gesellschaft wird als Begriff aus dem Individuum entwickelt, stellt aber keine Entität dar, der gesondert theoretischer Wert zugewiesen werden müsste, da die Gesellschaft lediglich als Summe von Individuen gefasst wird. Positive gesellschaftliche Effekte ergeben sich vielmehr aus dem Wert der individuellen Freiheit8 selbst. „The state is created by individuals and for individuals, it exists in order to serve their needs and interests. [Kursivierung im Original]“ (Heywood 1992: 27). Dass es aber eines Staates zur Absicherung individueller Freiheit bedarf, zählt zum Konsens liberaler Theorien, worin sie sich u.a. vom Anarchismus unterscheiden. (Heywood 1992: 18-27) Manche Theoretiker, darunter Isaiah Berlin, haben den Liberalismus als eine politische Ideologie verstanden, die sich auf den Begriff der negativen Freiheit vom Staat stützt. Betrachtet man aber die Variationsbreite liberaler Theorien, so kann mit Geuss (1998) angemerkt werden, dass der Liberalismus weder notwendigerweise eine demokratisch verfasste politische Ordnung impliziert (vgl. etwa John Locke oder John Stuart Mill) noch aber auf das Prinzip der Zustimmung gänzlich verzichten kann, was bereits in der Idee des Gesellschaftsvertrages, die ja auf freiwilliger Zustimmung basiert, angelegt ist. Freiheit im Staat wird im Liberalismus also bereits mitgedacht – sie bestimmt nicht zuletzt die Grenzen der individuellen negativen Freiheit: „Die Gesellschaft darf nichts beschließen, was meine Fähigkeit zu autonomer Zielsetzung einschränkt (was natürlich nicht heißt, daß sie mich nicht an der Durchführung gewisser Pläne zur Verwirklichung autonom gesetzter Ziele hindern darf).“ (Geuss 1998: 120). Liberale Denker des 19. Jahrhunderts, v.a. der ersten Hälfte des Jahrhunderts, haben aus diesem Grund vor einem Konflikt zwischen der Freiheit vom Staat und der Freiheit im Staat gewarnt und angesichts der Gefahr der „Tyrannei der Mehrheit“ (Alexis de Tocqueville) von einem demokratischen System abgeraten. 8
Ohne auf den wirtschaftlichen Liberalismus eingehen zu können, muss betont werden, dass auch hier die Auffassung vorherrscht, im freien Markt führe die freie Verfolgung der individuellen Interessen zum Wohl der gesamten Gemeinschaft (Hobsbawm 2005: 38, 39).
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Freiheit im Staat für alle drohe sich gegen individuelle Freiheit (Freiheit vom Staat) zu wenden; Volkssouveränität könne zur Gefahr für die Freiheit des Individuums werden (Berlin 2006: 245). Gleichzeitig kann individuelle Freiheit aber durch die Mitwirkung an der Gesetzgebung bzw. durch legitimen Widerstand gegen Gesetze, die die individuelle Freiheit unrechtmäßig beschneiden, gesichert werden. Die Vorrangstellung der individuellen negativen Freiheit im Liberalismus (subjektive negative Freiheit vom Staat) kann also nicht ohne jegliche politische Freiheit auskommen. (Geuss 1998: 115-122) Darauf weist auch Berlin (2006) hin, wenn er meint, dass „[…] der Hauptwert der politischen, der ‚positiven‘ Rechte auf Beteiligung an der Regierung für die Liberalen darin [besteht], daß sich mit ihrer Hilfe schützen läßt, was sie, die Liberalen, für einen letzten Wert halten, nämlich die individuelle – ‚negative‘ – Freiheit. [Anführungszeichen im Original]“ (Berlin 2006: 248)
Nach Auffassung der liberalen Grundrechtstheorie9 ist in manchen der Grundrechte (subjektive negative Freiheit vom Staat) selbst bereits eine Wirkung im Hinblick auf die Gesellschaft angelegt, die über den Bereich des Privaten und Individuellen hinausgeht, etwa im Bereich der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit. Es handelt sich gerade um jene Freiheiten, die eine Voraussetzung für politische Freiheit bilden und so zugleich als grundlegend für demokratische Mitbestimmung schlechthin betrachtet werden. Ihr Ausgang vom Individuum soll die Freiwilligkeit des Bürgers/der Bürgerin zur Versammlung und politischen Mitbestimmung gewährleisten und daher gerade nicht inhaltlich und in ihren Grenzen vorab definiert sein. (Böckenförde 1976: 226) Dass gerade in dieser Auffassung von negativer individueller Freiheit aber auch die Gefahr der Unfreiheit, verstanden als der Unmöglichkeit, die individuelle Freiheit tatsächlich auszuüben, liegen kann, ist eine häufig am Liberalismus geäußerte Kritik. „Die tatsächliche Realisierung der rechtlich gewährleisteten Freiheit bleibt der individuellen und gesellschaftlichen Initiative überlassen. Das ist eine logische Folge aus dem Abwehr- und Ausgrenzungscharakter der Grundrechte: sie schützen einen Bereich individueller und gesellschaftlicher Freiheit vor staatlicher Beeinträchtigung und Eingriffs-Reglementierung, erhalten ihn als einen vorstaatlichen […].“ (Böckenförde 1976: 227, 228)
Demgegenüber wurden auch Varianten des Liberalismus konzipiert, die positive Freiheit vom Staat beinhalten, ja gerade Hürden für die tatsächliche Umsetzung von Freiheit als Hindernis für individuelle Freiheit begreifen. Geht die klassisch liberale Auffassung noch von einem strikt negativen Freiheitsbegriff aus, so seien mit Jeremy Bentham und John Stuart Mill nur zwei Theoretiker genannt, die eine soziale Ausprägung des Liberalismus formuliert haben. Die sozialliberalen Spielarten des Liberalismus berücksichtigen „die faktische Zugänglichkeit und die reale Wahrnehmbar9
Davon unterschieden werden müssen nach Böckenförde (1976: 221-252) etwa die institutionelle Grundrechtstheorie, die Werttheorie der Grundrechte, die demokratischfunktionale oder die sozialstaatliche Grundrechtstheorie, die ihren Fokus durchaus auf öffentliche und politische Funktionen im Hinblick auf bestimmte (institutionell-objektive) Ziele und/oder im Sinne des Ausgleichs sozialer Ungleichheit legen.
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keit dieser Freiheiten“ (Horn 2012: 50), die mit negativer Freiheit vom Staat alleine noch nicht gewährleistet ist. Interessant erscheint dann, inwieweit dem Individuum im konkreten Fall der Vorrang eingeräumt wird. Es kennzeichnet den Liberalismus, wie den die Grundrechte gewährleistenden Rechtsstaat überhaupt, das Paradoxon, die Freiheit des Individuums (die als vorstaatlich gedacht wird) mit den tatsächlichen Möglichkeiten der Realisierung derselben im Zusammenleben der Individuen vereinen zu müssen. „Weil nur durch solche reine Rechtsgesetze, d. h. a priori notwendige Gesetze, die Autonomie eines jeden Einzelnen unmittelbar berührt wird, ist im Prinzip auch nur insoweit die Einstimmung des Einzelnen und damit Gesetzgebung allein durch den vereinigten Willen des Volkes zu postulieren. Hier liegt letztlich auch der Grund dafür, dass das Rechtsgesetz allgemein sein muss. Denn nach dem Prinzip der gleichen Freiheit aller kann die Willkür des einen mit der des anderen nur vereinigt werden durch staatliche (‚öffentliche‘) Zwangsgesetze, welche trotz des Zwanges dem Prinzip der Freiheit als gleicher Freiheit aller nicht widersprechen, weil sie die Freiheit in einer die menschliche Vernunft überzeugenden, insofern zwingenden und damit allgemeingültigen Weise allein um der Freiheit willen einschränken. [Anführungszeichen im Original]“ (Hofmann 2011: 169)
Der Liberalismus versucht Konflikte zwischen der Freiheit vom Staat und der Freiheit im Staat, zwischen Individuum und Kollektiv, im System der Repräsentation sowie durch das allgemeine Gesetz einer Lösung zuzuführen. Dennoch gibt Mahlmann (2012) zu bedenken: „Die Wertschätzung der Freiheit als Kern des Liberalismus lässt die Frage offen, wie das Verteilungsproblem der Freiheit in einer Gesellschaft gelöst werden soll.“ (Mahlmann 2012: 310). Aus der Fokussierung des Individuums in beiden Varianten liberaler Theorie (mit Fokus auf negativer oder positiver Freiheit vom Staat) ergibt sich, dass „die Selbsterfüllung der individuellen Subjektivität als Sinn staatlich-öffentlicher Ordnung“ (Böckenförde 1976: 68) begriffen wird und nicht im gemeinschaftlichen Allgemeinwohl zu suchen ist. „So wichtig die rechtsstaatliche Freiheitssicherung für eine Staatsordnung heute ist, kein Staat kann allein aus der Gewährung rechtsstaatlicher Freiheit sich konstituieren oder erhalten. Er bedarf eines einigenden Bandes, einer homogenitätsverbürgenden Kraft, die dieser Freiheit vorausliegt und den Staat als politische Einheit erhält.“ (Böckenförde 1976: 85)
Der Hinweis auf verbindende Kräfte in der Gesellschaft, welche die dem Liberalismus innewohnende Gefahr der Atomisierung der Einzelnen bzw. der Eskalation von Konflikten zwischen den nach Freiheit strebenden Individuen bannen soll, wird häufig als Erklärung dafür angeführt, dass im 19. Jahrhundert Liberalismus und Nation(alismus) eine Verbindung eingegangen sind. „Die Hauptträger des Nationalstaatsgedankens wurden im 19. Jahrhundert die liberalen Strömungen.“ (Scheuner 1974: 23), so der Befund Scheuners (1974), dem Heywood (1992) nur beipflichten kann: „Liberal nationalism is the oldest form of nationalism, dating back to the French Revolution itself and embodying many of its values. […] For many European revolutionaries in the mid
192 | F REIHEIT UND N ATION nineteenth century, liberalism and nationalism were virtually indistinguishable. Indeed, their nationalist creed was largely forged by applying liberal ideas, initially developed in relation to the individual, to the nation and the international order.“ (Heywood 1992: 150, 151)
Dabei mag es geradezu paradox anmuten, dass eine politische Ideologie mit Fokus auf dem Individuum sich mit einem Konzept verbinden lässt, das das Individuum dem Kollektiv unterordnet, ja die Gefahr der Auflösung individueller Freiheit in sich trägt, wie u.a. Berlin (2006) und Mahlmann (2012) formulieren. „[…] das wirkliche Selbst wird nun als etwas begriffen, das größer ist als das Individuum (im gewöhnlichen Sinne dieses Wortes), als ein gesellschaftliches ‚Ganzes‘, an dem das Individuum nur teilhat: Stamm, Rasse, Kirche, Staat, die große Gemeinschaft der Lebenden, der Toten und der Ungeborenen. Diese Entität wird nun zum ‚wahren‘ Selbst erhoben, das seinen widerspenstigen ‚Gliedern‘ den eigenen kollektiven oder ‚organischen‘, einzigartigen Willen aufzwingt und auf diese Weise seine eigene – und daher auch ihre – ‚höhere‘ Freiheit erlangt. [Anführungszeichen im Original]“ (Berlin 2006: 212) „Wenn unter Gesellschaft oder Gemeinschaft eine selbständige Entität jenseits der Menge der Individuen verstanden wird, liegt der vertraute Irrtum des Kollektivismus, z. B. des Nationalismus, vor, der von einer unabhängig von Individuen gegebenen Realität von Gemeinschaften ausgeht. Jede Werttheorie, die kollektive Interessen, verstanden als Interessen einer überindividuellen Instanz an sich (also nicht nur als Inbegriff der Vielzahl der einzelnen Menschen), über Individualinteressen stellt, opfert die realen Interessen von Individuen einer begrifflichideologischen Schimäre, als die sich die behaupteten Kollektivinteressen bei näherer Analyse immer wieder erweisen.“ (Mahlmann 2012: 310)
Folgt man den Gedanken Böckenfördes (1976), so scheint die Verbindung von Liberalismus und Nationalismus dennoch naheliegender als der Widerspruch zwischen dem Fokus auf dem Individuum einerseits und der Präferenz des Kollektivs andererseits vermuten lässt. Laut Böckenförde (1976) bedurfte der Liberalismus geradezu der Nation als „homogenitätsverbürgende[r] Kraft“10. Denn: „Der Liberalismus, die erste große politische Ideologie der Moderne, konnte sich nur schwer mit der Idee eines kollektiven, gemeinschaftlichen Gesamtinteresses, dem die Politik zu entsprechen habe, anfreunden.“ (Breuilly 1999: 262). Er vermochte es nicht, so auch Breuilly (1994), seine abstrakten, rationalen Konzepte der Gesamtbevölkerung eines Staates zu vermitteln, v.a. dann nicht, wenn offensichtliche soziale Ungleichheit neben den Idealen der gleichberechtigen Partizipation bestand. Gerade jene Gruppen, die der Liberalismus nicht anzusprechen in der Lage war, wandten sich mitunter dem vielversprechenderen Nationalismus zu, der sich kulturelle Identität zum Programm machte (Breuilly 1994: 33). Aber auch umgekehrt finden sich Nationskonzepte, in denen der Freiheitsbegriff zum inhärenten Bestandteil erklärt wird: Nach der Französischen Revolution konnte sich kaum eine Regierung als nicht freiheitlich darstellen, 10 Was unter Homogenität aber genau zu verstehen ist, bleibt hier unklar. Könnte etwa auch eine plurale Gesellschaft mit Verfassungspatriotismus (die beispielsweise auch als Variante für eine europäische Identität in der Europäischen Union diskutiert worden ist), die sich zu bestimmten (freiheitlichen) Wert bekennt, als (hinreichend) ‚homogen‘ gelten?
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obwohl keine notwendige Verbindung zwischen Freiheit und Nation bestand. „[Die moderne Nation] war mit den übrigen großen Schlagworten durch eine lange Gedankenkette und nicht durch logische Notwendigkeit [mit dem Liberalismus] verknüpft, ähnlich wie Freiheit und Gleichheit mit der Brüderlichkeit.“ (Hobsbawm 2005: 53). Wie aber verband sich konkret ein auf Partikularität und Kollektivität ausgerichtetes Prinzip (jenes der Nation) mit dem universalistischen, vom Individuum ausgehenden Wert der Freiheit? Wie wurden die Auffassungen von Gesellschaft als Summe von mit Freiheitsrechten ausgestatteten Individuen (Liberalismus) und als (moralisch begründete) kollektive Erfahrungsgemeinschaft (Nationalismus) miteinander in Einklang gebracht11? Anhand der von Hobsbawm (2005) aufgestellten Formel ‚Staat = Nation = Volk‘ zur Veranschaulichung des Prinzips nationalistischer Bewegungen lässt sich zeigen, in welchen Aspekten Liberalismus und Nation(alismus) in der Theorie schwer miteinander versöhnbar sind.
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Freiheit des Staates und Nation Die hobsbawmsche Formel ‚Staat = Nation = Volk‘ scheint in der Dimension der Freiheit des Staates vergleichsweise leicht einlösbar zu sein. Dass im Konzept des Nationalstaats Staat und Nation hinsichtlich ihrer Außendimension als Synonyme aufgefasst werden, folgt dem Gedanken der Deckungsgleichheit von Staat (mit Staatsgebiet, Staatsgewalt, Staatsvolk) und Nation, einem Kollektiv, das sich über unterschiedliche Arten der Loyalität (gemeinsame freiheitliche Werte, Sprache, Erinnerung, etc.) verbunden fühlt und seinem Zusammengehörigkeitsgefühl auch rechtlich und politisch in Form der Selbstbestimmung Ausdruck zu verleihen bestrebt ist. „Nationalists believed nations to be souvereign entities, entitled to liberty, and also possessing rights, most importantly, the rights of ‚self-determination‘. [Anführungszeichen im Original]“ (Heywood 1992: 151). Die Nation macht sich so zum Subjekt der Geschichte (Ki-Zerbo 1983: 69). In diesem Bestreben wurde häufig die Definition von Nationalismus schlechthin angesiedelt: „At heart, nationalism is the doctrine that a nation, or all nations, should be self-governing.“ (Heywood 1992: 136). Nach Heywood (1992) ist die Nation ein Prinzip, das die Deckungsgleichheit von Staat und Nation zum Ziel hat, aber zugleich selbst eine politische Organisationsform, die im Begriff des Nationalstaats ihren Ausdruck findet (Heywood 1992: 148). Man könnte diese Dimension daher auch als Freiheit des Nationalstaates bezeichnen, auch wenn tatsächlich kaum ein Nationalstaat existiert, der sich nicht aus mehreren ‚Nationen‘ (im Sinne von Nationsangehörigen, Kulturen, Traditionsgemeinschaften, 11 Vgl. zur Definition der Nation gerade nicht als Summe von Individuen, sondern als moralische Entität Ki-Zerbo (1983: 68).
12 Zu beachten ist in der Analyse, dass auch Spannungen zwischen den einzelnen Freiheitsdimensionen auftreten können (z.B. zwischen Dimension 3 und 4). Ob und wenn ja, welche Rolle der Nation in diesen Konflikten zukommt, bleibt im Einzelfall zu klären.
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etc.) zusammensetzt. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird die genannte Formel in Separatismusbestrebungen von Nationen innerhalb des Staates stark gemacht. Verwiesen wird in diesem Fall auf einen Konflikt zwischen der Freiheit des Staates und der Freiheit der Nation, jeweils bezogen auf staatliche bzw. nationale Unabhängigkeit nach außen. Hierfür sind alle Feinabstufungen der Nation auf dem Kontinuum zwischen Staats- und Kulturnation denkbar. Die Forderung nach Eigenstaatlichkeit ist sowohl aufgrund geteilter politischer Werte und Überzeugungen als auch aufgrund geteilter kultureller Identität vorstellbar. Als Beispiel für zweitere ließen sich mit Scheuner (1974) die „zentraleuropäischen Nationalbewegungen“ (Scheuner 1974: 23) auf Grundlage von sprachlich-kulturellen Faktoren anführen. „‚Nationalfreiheit‘ wurde, bei topologischer Kontinuität, zu einem Begriff, aus dem der moderne Nationalstaat abgeleitet und das dynastisch geprägte europäische System als geschichtlich überholt verworfen wurde. [Anführungszeichen im Original]” (Dipper 1975b: 503). Eine gewisse Widersprüchlichkeit des Begriffs der ‚Nationalfreiheit‘ darf aber nicht verschwiegen werden, je nachdem wie Nationen ihr Außenverhältnis zu anderen Nationen konzipieren. In ihrer Absolutheit konnte die Nationalfreiheit kaum Umsetzung finden, bedeutete sie doch, „[…] entweder Freiheit, soweit die Macht reicht, zur Befriedigung selbstgerechter nationaler Ansprüche, oder Anerkennung des Prinzips der Gegenseitigkeit mit der Folge, die Rechte oder Ziele auch der anderen, konkurrierenden Nationen anzuerkennen und mit den eigenen vereinbarend abzustimmen.“ (Dipper 1975b: 509)
Natürliche vs. bürgerliche Freiheit und Nation Das Begriffspaar ist wie in Kapitel ‚Freiheit – Staat – Nation‘ besprochen, zeitlich vor dem Konzept der politischen Nation geprägt worden. Es wird in der Analyse des Textkorpus darauf zu achten sein, ob eine nachträgliche Kombination der Nationsidee mit der Gegenüberstellung von natürlicher und bürgerlicher Freiheit konstruiert wurde und wenn ja, wie diese erfolgte. Freiheit vom Staat und Nation ‚Kollektive Freiheit‘ (nach außen), wie sie in der Freiheit des Nationalstaates (Dimension 1) verankert ist, impliziert noch keine individuelle Freiheit (im Inneren) (KiZerbo 1983: 71). Die hobsbawmsche Formel ‚Staat = Nation = Volk‘ lässt sich in der Dimension der Freiheit vom Staat in Verbindung mit dem Liberalismus kaum konsequent umsetzen. Denn: „[Der Nationalismus;…] ist eine besondere Reaktion auf die für die Moderne charakteristische Trennung von Staat und Gesellschaft, die er aufzuheben versucht.“ (Breuilly 1999: 302). Für die extreme Ausprägung der Nation als Staatsnation versteht Hobsbawm (2005: 34) die Formel als ‚Staat = Nation = souveränes Volk von Staatsbürgern‘. Nehmen wir aber an, dass das souveräne Volk von Staatsbürgern dem Staat entspricht, so können wir mit Böckenförde (1976) nicht davon ausgehen, dass individu-
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elle Freiheit – subjektive negative Freiheit vom Staat13 – gesichert werden kann. Denn fallen Gesellschaft und Staat in eins und sind sie konzeptuell nicht voneinander trennbar, so kann selbst unter der Annahme, dass sich die Gesellschaft aus Individuen zusammensetzt kein Schutz vor Eingriffen des Staates in die Privatsphäre gewährleistet werden. Die Staatsnation geht grundsätzlich von einem Kollektiv aus, das sich aus der Summe an Individuen zusammensetzt, sie bleibt also an das Individuum rückgebunden und ist in dieser Hinsicht mit dem vom Individuum ausgehenden Liberalismus vereinbar. Die hobsbawmsche Formel könnte dann folgendermaßen aussehen: ‚Volk (Staatsbürgergesellschaft) = Nation ≠ Staat‘. Laut Böckenförde (1976) braucht es für die Existenz einer Freiheit vom Staat eine gesellschaftliche Basis (an Individuen), der der Staat als Herrschafts- und Ordnungsgewalt gegenübersteht und dessen Grenzen an den Freiheitsrechten des Individuums verlaufen. Geht das Individuum aber vollends im nationalen Kollektiv auf – und auch diese Ausprägung ist in der Staatsnation vorstellbar –, so muss dies – theoretisch – zu einem Konflikt mit dem Liberalismus führen. Für die Kulturnation hat Hobsbawm (2005: 34) die Formel ‚Staat = Nation = Volk‘ insofern verstanden als der Staat aus der (vorherigen) Existenz einer (nationalen) Gemeinschaft abgeleitet ist. Wird die Nation aber mit dem Staat synonym gesetzt, so kann, wie oben diskutiert, individuelle Freiheit keinen Bestand haben, da der Staat unmittelbaren Zugriff auf das Individuum hätte. Im Unterschied zur Staatsnation kommt hinzu, dass Volk nicht primär als Staatsbürgergesellschaft, sondern als kulturelle Einheit verstanden wird. Die Formel könnte hier folgendermaßen lauten: ‚Volk (kulturelles Kollektiv) = Nation ≠ Staat‘. Stärker noch als bei der Staatsnation, droht in diesem Konzept das Individuum dem Kollektiv untergeordnet zu werden. Freiheit vom Staat versteht sich aber als Bündel an Grundrechten, das dem Individuum verliehen wird. Selbst wenn die Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft (Kulturnation) aufrecht bliebe (laut Böckenförde (1976) die Bedingung für individuelle Freiheit), so ist in der kulturell definierten Nation nicht eindeutig, ob das Kollektiv nach wie vor das Individuum zum Subjekt des Soziallebens macht (wie in der Staatsbürgergesellschaft) oder vielmehr die Nation zum Subjekt erklärt. In diesem Falle wären Liberalismus und Nationalismus wohl – theoretisch – unvereinbar. Da es sich in der Praxis nicht um Reinformen der Staats- und Kulturnation handelt, müssen die erörterten Spannungsmomente zwischen Liberalismus und Nationalismus ohnehin stets berücksichtigt werden. Und das, obwohl sich Staats- und Kulturnation laut Breuilly (1999) widersprechen. „Theoretisch betrachtet widersprechen sich die beiden Nationskonzepte – das Modell der Staatsbürgergemeinschaft und das der kulturellen Gemeinschaft. In der Praxis war der Nationalismus als Ideologie stets schnell bei der Hand, wenn es darum ging, diese beiden Konzepte miteinander zu verbinden.“ (Breuilly 1999: 262)
13 Wir betrachten das Verhältnis von Freiheit vom Staat und Nation in Bezug auf die subjektive negative Freiheit vom Staat, da diese im klassischen Liberalismus eine Vorrangstellung einnimmt. Andere Formen der Freiheit vom Staat kommen – so in der Analyse vorgefunden – im konkreten Fall zur Diskussion in ihrem Verhältnis zur Nation.
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Erwähnt werden sollte zudem, dass Staat und Nation institutionell unterschiedliche Rollen spielen. Ein völliger Ersatz des Staates, als Herrschafts- und Ordnungsgewalt mit rechtlich definierten Institutionen, durch die Nation ist in dieser Dimension (Freiheit vom Staat) – im Unterschied zur ersten Dimension (Freiheit des Nationalstaates) – auch konzeptuell nicht einlösbar. Die Nation, die als Synonym für Gesellschaft bzw. Volk gedacht wird, kann keine individuellen Freiheitsrechte sichern14. Freiheit im Staat und Nation Freiheit im Staat oder besser Freiheit im Nationalstaat erscheint, neben der Dimension der Freiheit des Nationalstaats (Dimension 1), als die zweite große Verbindunglinie zwischen Liberalismus und Nationalismus, die immer wieder – schon bei den Liberalismustheoretikern des 19. Jahrhunderts selbst – betont wird, so auch bei John Stuart Mill. „John Stuart Mill begnügte sich nicht damit, die Nation durch ihr Nationalgefühl zu definieren. Er fügte auch hinzu, die Angehörigen einer Nationalität ‚wünschen unter derselben Regierung zu stehen, und zwar unter einer Regierung, die ausschließlich entweder durch sie selbst oder durch Personen aus ihrer Mitte gebildet wird‘ (1873, S. 220). Wir stellen daher ohne Überraschung fest, daß Mill die Idee der Nationalität nicht in einer eigenen Veröffentlichung und für sich allein behandelt, sondern typischerweise – und kurz – im Kontext seiner kleinen Abhandlung über die Repräsentativregierung oder die Demokratie. [Anführungszeichen im Original]“ (Hobsbawm 2005: 30)
Verfassungen konnten so, neben Mittel und Bedingung für Freiheit, auch als Mittel zur nationalen Befreiung stilisiert werden, die in der Repräsentation der Nation im Parlament ihren Ausdruck finden sollte (During 1990: 146). „Liberal nationalism is therefore a liberating force in two senses. First, it opposes all forms of foreign domination and oppression, whether by multi-national empires or colonial powers. Secondly, it stands for the ideal of self-government: the nation should govern itself – in other words, government should be both constitutional and representative.“ (Heywood 1992: 151)
Wie in Kapitel ‚Freiheit – Staat – Nation‘ ausführlicher dargestellt, sah das in den modernen Verfassungen festgeschriebene Konzept der unteilbaren und unveräußerlichen Volkssouveränität das Volk als Träger und Kontrollinstanz für die legitime Gewaltanwendung des Staates vor. Souveränität, die sich vorrangig in der Kompetenz der Gesetzgebung ausdrückt, wird zwar meist an Repräsentant/innen des Volkes übertragen, allerdings mit dem Vorbehalt, diese Übertragung bei Missbrauch rück14 Das Spannungsverhältnis wird umso komplexer, wenn zur hier skizzierten (subjektiven) negativen die (subjektive und objektive) positive Freiheit vom Staat hinzukommt, in der ja in sich bereits eine Spannung zwischen Individuum und Kollektiv angelegt ist. Ob diese relevant wird, hängt von der Art des Liberalismus und dessen Menschenbild ab, z.B. von der Frage ob und inwieweit der Mensch ontologisch und axiologisch frei ist. In der Analyse muss darauf geachtet werden, ob und inwiefern die Nation das Verhältnis zwischen subjektiver und objektiver positiver Freiheit vom Staat verändert.
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gängig zu machen. Ende des 18. Jahrhunderts wird Volkssouveränität mit legitimer politischer Ordnung synonym gesetzt. Quelle der Legitimität ist nicht länger das Gottesgnadentum, sondern die auf Volkssouveränität gegründete politische Ordnung15. Zur entscheidenden Frage wird nun die (Aus-)Wahl von Repräsentant/innen des Volkes. Meist ist nicht das Volk (die Summe an Staatangehörigen), sondern eine Gruppe aus dem Volk, der bestimmte Rechte und Pflichten zugestanden wird, für die aktive und passive Wahl der RepräsentantInnen vorgesehen: die Gruppe der Staatsbürger/innen. Das Kollektiv der Staatsbürger/innen bestimmt sich ausgehend vom Individuum, dem ein Bündel an Rechten und Pflichten zuerkannt wird, darunter das Wahlrecht. Entscheidend ist also, welche Kriterien für den Erwerb der Staatsbürgerschaft gelten, um die (eigentliche) Trägerschaft von Souveränität bestimmen zu können. Wenngleich im Nationalstaat und in der Verbindung von Liberalismus und Nation(alismus) die Begriffe ‚Staat(svolk)‘ und ‚Nation‘ zu verschmelzen drohen, so ist es ganz entscheidend, welcher der beiden als Legitimitätsgrundlage für politische Herrschaft herangezogen wird. Auch wenn die Formel ‚Staat = Nation = Volk‘ für große Teile der auf einem Staatsgebiet sich längerfristig aufhaltenden Personen zutreffend sein mag, so ist sie dennoch nicht widerspruchsfrei einlösbar. Dies wird bei einem genaueren vergleichenden Blick auf die üblichen Definitionskriterien von Staatsbürgerschaft und Nation deutlich. Es muss hier (analytisch) erneut zwischen den Extremen der Staats- und der Kulturnation unterschieden werden. Legitimität kann zum einen auf Volkssouveränität und demokratisch (oder durch eine spezifisch qualifizierte Gruppe16) legitimierte (Mehrheits-)Entscheidungen bezogen sein. Dahinter steht die Idee der gleichberechtigen Teilhabe der Staatsbürger/innen an der Staatsgewalt. Das Extrem der Staatsnation scheint sich auf eben jenen Legitimitätsbegriff zu gründen. In diesem Falle sind das Kollektiv der Staatsbürgergesellschaft und der Nation nahezu deckungsgleich, so wie dies in der Französischen Revolution (die Souveränität geht von der Nation aus, wobei die Nationsangehörigkeit die Staatsbürgerschaft bestimmt) formuliert wurde. Es handelt sich hier um einen synonymen Gebrauch von Nation und Volk, das jedoch nicht die Staatsangehörigen bezeichnet, sondern die Staatsbürger/innen. Um die hobsbawmsche Formel für die Dimension der Freiheit im Nationalstaat in Bezug auf die Staatsnation zu konkretisieren, haben wir es dann nicht mit ‚Staat = Nation = Volk‘, sondern vielmehr mit ‚Staatsbürgergesellschaft17 = Nation (≠ Staat)18‘ zu tun. Was bedeutet diese Formel 15 Es sei darauf verwiesen, dass der deutsche Konstitutionalismus einen anderen Weg genommen hat. Die Nationenbildung erfolgt hier nicht in Verbindung mit Volkssouveränität, die als politische Selbstbestimmung erst im 20. Jahrhundert eingeführt wurde (Boldt 1990: 142-145), sondern vor dem Kontext der monarchischen Souveränität: „In Deutschland ist die Idee einer Souveränität der Vernunft oder des Rechts kaum rezipiert worden. Hier löste man das Problem der Konstruktion einer höchsten Gewalt im Verfassungsstaat mit Hilfe der Figur der Staatssouveränität.“ (Boldt 1990: 142). 16 Berücksichtigt werden muss, dass der Liberalismus zwar Zustimmung, jedoch nicht unbedingt demokratische Zustimmung vorsieht. Der Liberalismus impliziert nicht Demokratie. 17 ‚Staat = Nation‘ kann in diesem Falle, ähnlich wie in Dimension 3 (Freiheit vom Staat) nicht gelten, da der Staat als politische und rechtlich definierte Institution nicht mit der im Sinne von Volk verstandenen Nation austauschbar ist.
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für Fragen der In- und Exklusion, die sich bei der Vergabe von Staatsbürgerschaft stets stellen? Wirken Staatsbürgergesellschaft und Nation im Modell der Staatsnation auf den ersten Blick weitgehend deckungsgleich, so kann das Staatsbürgerschaftskonzept durch seine Bezogenheit auf die Nation theoretisch sogar an Inklusivität gewinnen. Wird Staatsbürgerschaft an die Nationsangehörigen, die sich durch Territorialität definieren, vergeben (vgl. die Französische Revolution), so ist eine Erweiterung der Gruppe an Staatsbürger/innen wahrscheinlich. Der Liberalismus könnte sogar einschränkend wirken, wenn er politische Teilhaberechte an das Besitzbürgertum oder das Männerwahlrecht koppelt. Liberalismus und Nationalismus scheinen im Konzept der Staatsnation (bezogen auf die Dimension der Freiheit im Staat) also gut miteinander vereinbar – die Gruppe an politisch Freien kann sich durch die Verbindung mit dem Nationalismus sogar vergrößern. Dies gilt für das 19. Jahrhundert umso mehr, da die Zahl der Wahlberechtigen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung meist auf wenige Prozente beschränkt blieb19. Mit dem Bekenntnis zur Verfassung (das im Konzept der Staatsnation eingeschlossen ist) kann hier gleichzeitig die Dimension der Freiheit vom Staat (Dimension 3) integriert werden. Ob mit der Verschiebung der Souveränität des Volkes auf die Souveränität der Nation zugleich eine Prioritätsverschiebung vom Individuum auf das Kollektiv erfolgt, muss im konkreten Fall ausgelotet werden. Für den Fall Frankreich Ende des 18. Jahrhunderts wurde diese jedenfalls konstatiert. Zum anderen kann Legitimität auf die Kulturnation bezogen sein. In diesem Falle gründet sie sich nicht primär auf politische Teilhabe, sondern auf den Loyalitätsverband der Nationsangehörigen und deren (postulierte) kollektive Identität. Die entsprechende Formel könnte dann ‚(kulturell definiertes) Volk = Nation (≠ Staat)‘ lauten. Wenn auch hier nach den In- und Exklusionsmechanismen, die sich durch die Bezogenheit der Staatsbürgerschaft auf die Kulturnation ergeben, gefragt wird, so ist davon auszugehen, dass die Gruppe mit Anrecht auf Staatsbürgerschaft exklusiver wird20, wenn Sprache, Kultur, Geschichte und/oder Ethnie zur Grundlage der Nationszugehörigkeit erklärt werden. Das Recht auf politische Teilhabe (Freiheit im Staat) verschiebt sich in Richtung Kollektiv und findet seinen Ausgang nicht (nur) 18 Der Staat steht im Liberalismus der Gesellschaft gegenüber, kann also nicht mit Staatsbürgergesellschaft deckungsgleich sein.
19 In Deutschland gaben zwischen 1870 und 1890 höchstens 15,7% der Bevölkerung ihre Stimme bei Wahlen ab, in Frankreich waren dies zur selben Zeit höchstens 21,5% der Bevölkerung. Zum Vergleich wurden in Italien im selben Zeitraum maximal 4,7%, in der österreichisch-ungarischen Monarchie (Nohlen (1986) verwendet den Begriff ‚Österreich‘, sodass nicht ganz klar ist, ob sich die Daten auf Cisleithanien oder die gesamte Doppelmonarchie beziehen) maximal 1% und in Spanien, wo es 1873 in der Ersten Republik kurzzeitig maximal 16,5% waren, höchstens 3,9% Stimmen gemessen an der Gesamtbevölkerung abgegeben. (Nohlen 1986: 33) Wahlberechtigt waren in den Wahlen zum Abgeordnetenhaus Cisleithaniens zu Beginn der 1870er Jahre etwa 6% der Bevölkerung (Olechowski 2002: 166). 20 Exklusiver wird sie dann, wenn vom allgemeinen Wahlrecht ausgegangen wird. Für das 19. Jahrhundert muss dieser Befund nicht zutreffen, allerdings ändert das Konzept der Kulturnation die Art der Kriterien hin zu kollektiven Kategorien, die das Potenzial des Rassismus und der Diskriminierung in sich tragen.
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beim Individuum. Betrachtet man also das Verhältnis zwischen Liberalismus und Kulturnation, so ist in der Theorie davon auszugehen, dass sich diese nicht zur Gänze miteinander versöhnen lassen. „Die rechtsethischen Prinzipien der allgemeinen Menschenrechtserklärungen, nämlich individuelle Freiheit und Gleichheit aller, wären m. a. W. ohne vorherige Homogenisierung der Menschheit zu einer egalitären, gleichartigen Weltbürgergesellschaft noch nicht einmal in einem allumfassenden Weltbürgerstaat bruchlos und ohne Restprobleme realisierbar.“ (Hofmann 2011: 42)
Denn mit der Inklusion und Exklusion durch Staatsbürgerschaftsvergabe „nötigt dies im Innern zu einer weitgehenden Behauptung von Gleichheit“ (Hofmann 2011: 42), die in Konflikt mit der individuellen Freiheit geraten kann. Gemeinsam können dem Konzept der Staatsbürgerschaft und jenem der Nation die Kategorien Ethnie (vgl. den Begriff des ius sanguinis, in dem der Erwerb der Staatsbürgerschaft an das ‚Abstammungsprinzip‘ gebunden ist) bzw. des Geburtsorts (vgl. ius soli, wonach Kinder, die auf einem bestimmten Staatsgebiet geboren werden, als Staatsbürger/innen anerkannt werden) sein. Erstere trifft eher auf die Kulturnation, zweitere eher auf die Staatsnation21 zu. Als Kriterien zur Staatsbürgerschaftsvergabe können darüber hinaus das Alter, im 19. Jahrhundert auch Geschlecht, Bildungsgrad und Eigentum herangezogen werden. Im Falle der Kulturnation kommen, neben den erwähnten gemeinsamen Kriterien, potenziell noch Religion, Kultur und gemeinsame Geschichte, Erinnerung und Tradition in Frage. Betrachten wir jene Kriterien, die sich nicht miteinander decken, so fällt auf, dass es sich zum einen bei Kultur, Geschichte und Tradition um Kriterien handelt, die auf das Kollektiv bezogen sind und überdies nur schwer mess- und überprüfbar sind. Der Rechtsstatus der Nationsangehörigen ist nicht explizit im Gesetz definiert, wenn auch implizit Kriterien der Nation in das Konzept der Staatsbürgerschaft miteinfließen können22. Rechte und Pflichten, darunter das aktive und passive Wahlrecht, sind daher nicht direkt von der Nation ableitbar, weshalb selbst in der Extremform der Kulturnation das Konzept der Staatsbürgerschaft nicht gänzlich aufgegeben werden kann. Alter, Geschlecht, Eigentum und Bildungsgrad sind hingegen Kriterien, die vom/von der Einzelnen ausgehen. Freiheit im Nationalstaat ist zu einer wichtigen Legitimationsquelle der Demokratie geworden, da sie dann den Mehrheitsentscheid des Staatsvolkes meint. Es stellt sich die Frage, inwieweit sie in Konflikt mit der Legitimität der moralisch geprägten, nach Homogenität strebenden Kulturnation geraten kann. Wie wirkt sich ein Mehrheitsentscheid auf Grundlage der Kulturnation aus, der nicht notwendigerweise – wie im Liberalismus idealtypisch vorgesehen – auf der vernunftbasierten, rationalen öffentlichen Meinungsbildung beruht, sondern auch die gemeinsame kulturelle Identität 21 Auf welcher Grundlage entscheidet die Staatsnation, wem die Staatsbürgerschaft verliehen wird bzw. wer nationsangehörig ist? Man hat hier idealtypisch auf die Bedeutung des Kriteriums des Staatsgebietes verwiesen. Laut Hobsbawm (2005: 30) sind „Aufbau und Definition von Staaten jetzt [nach der Französischen Revolution] wesentlich territorial“. 22 Dass diese als Voraussetzung für den Erwerb der Staatsbürgerschaft herangezogen werden können, zeigt das Beispiel des Staatsbürgerschaftstests, wenn Grundkenntnisse zu Geschichte, Tradition und Kultur eines Nationalstaates abgefragt werden.
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zu seinem Ausgangspunkt erklären kann23? Diese Frage muss im Einzelfall beantwortet werden. Mit welcher Ausprägung der Nation hat sich der Liberalismus nun typischerweise verbunden? Laut Hobsbawm (2005) basiert die Nation im klassischen Liberalismus nicht „auf ethnischer Zugehörigkeit, gemeinsamer Sprache oder Geschichte“ (Hobsbawm 2005: 46), sie ist weniger Kultur- als vielmehr Staatsnation. Dies sollte sich laut Hobsbawm (2005) ab den 1880er Jahren – und er spricht hier für Europa – ändern, als die Kriterien der Kulturnation politisch relevant zu werden schienen, „[…] weil die politische Anziehungskraft nationaler Parolen auf potenzielle Wählermassen oder Anhänger von politischen Massenbewegungen nunmehr zu einer Angelegenheit von praktischer Bedeutung geworden war.“ (Hobsbawm 2005: 57). Dipper (1975b) meint, dass in ‚Deutschland‘ ‚Freiheit vor Einheit‘ die bestimmende Leitlinie war24, bis 1866 eine Umkehrung der Prioritäten stattfinden sollte und Einheit der Freiheit als politisches Ziel vorgereiht wurde (Dipper 1975b: 511). In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass Staats- und Kulturnation jeweils Endpunkte eines Kontinuums sind und in der Empirie v.a. Mischformen vorzufinden sind. Da nicht anzunehmen ist, dass kulturelle Elemente in der liberalen Ideologie überhaupt keine Rolle spielen, muss bei der Verbindung zwischen Liberalismus und Nation(alismus) auch die Form der Kulturnation in die Analyse einbezogen werden. Es scheint dann aber umso interessanter, wie das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Nation im konkreten Fall gelöst wird. Moralisch-metaphorische Freiheit und Nation Die fünfte Dimension von Freiheit lässt sich weitgehend ohne Reibungspunkte mit der Nation vereinen, sie kann aufgrund ihrer metaphorischen Gestalt sowohl als Freiheit der Nation (Dimension 1) als auch in Bezug auf die Dimensionen 2-4 ohne nähere Spezifizierung auftreten sowie allein auf Prozesse der kollektiven Identität gestützt sein. Wie bereits erläutert, verbindet sich die Nation stets mit anderen Loyalitätskategorien – denkbar wäre hierfür auch ein unspezifischer Freiheitsbegriff. Van den Heuvel (1996) hat die moralische Funktion von Freiheit für die Jahre nach der Französischen Revolution folgendermaßen beschrieben: „[…] auf der Ebene der diskursiven Funktion als omnipräsentes, vorbehaltlos positiv besetztes Schlagwort mit hoher politischer Legitimationsfunktion, als Paradigma für einen emotionsgeladenen Begriff politischer Propaganda, der besonders in der Revolution zum Tragen kommt.“ (Van den Heuvel 1996: 87)
Aufgrund seines unspezifischen Inhalts erwies sich dieser Freiheitsbegriff als besonders anschlussfähig mit dem Konzept der Nation. 23 Wie sich diese Gemeinschaft – ohne Verleihung bestimmter Partizipationsrechte (wie im Konzept der Staatsbürgerschaft) – als solche konstituieren kann und wie das Selbstverständnis dieser Gruppe strukturiert ist, wurde anhand Benedict Andersons Idee der ‚vorgestellten Gemeinschaft‘ diskutiert. 24 Deutschland kann nach der Einschätzung von Heywood (1992: 146), basierend auf den Nationsideen von Herder und Fichte, vorwiegend als Kulturnation gelten.
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„Das dichotomische Bild einer Zukunft, die entweder vom despotisme als Inkarnation aller politischer wie moralisch verabscheuten Erscheinungen der Gegenwart oder von liberté als Verkörperung aller individuellen wie kollektiven Wunschvorstellungen bestimmt sein würde, vereinte große Philosophes wie Diderot, wirkungsvolle Popularisatoren der Aufklärungsphilosophie wie Raynal und gescheiterte Randexistenzen der République des lettres, deren rousseauistisch geprägter Moralismus in der Verurteilung der herrschenden Verhältnisse nicht zuletzt aufgrund der eigenen Erfahrung der Ausgrenzung durch das Establishment der Lumières weiteren Nährboden erhielt. Der Freiheitsbegriff wurde dadurch – ähnlich wie andere Grundbegriffe – zum Substitut für konkrete politische Zielvorstellungen. [Kursivierungen im Original]“ (Van den Heuvel 1996: 97)
Die Verbindung zur Nation wurde z.B. über das Nationalvolk, über das Kollektiv, hergestellt, und vorwiegend in den Dimensionen 1 und 4 – Freiheit des Nationalstaates und Freiheit im Nationalstaat – angesiedelt. „Der Sprecher einer nur in Sitte und Moral begründeten ‚Freiheit‘ sprach gleichzeitig im Namen der zwar fiktiven, aber dennoch letzten Instanz politischer Legitimität: Des tugendhaften, allein zur ‚Freiheit‘ fähigen ‚Volkes‘, dessen Gemeinwille zu verwirklichen war. [Anführungszeichen im Original]“ (Van den Heuvel 1996: 102)
In ‚Deutschland‘ und Frankreich war dieser unspezifische Freiheitsbegriff jedoch nicht von langer Dauer. So meint Dipper (1975b) für den ‚deutschen‘ Kontext: „Aber nur kurze Zeit verdeckten diese emphatischen Bekenntnisse die Meinungsverschiedenheiten um die geeignete politische Form, in der ‚Freiheit‘ und ‚Nation‘ zusammenfinden sollten.“ (Dipper 1975b: 504) Ästhetische Freiheit und Nation Die politischen und literarischen Texte müssen zudem nach dem Verhältnis von ästhetischer Freiheit und Nation befragt werden, da der Fokus dieser Untersuchung auf der Nation in Verbindung mit dem literarischen Erzähltext liegt. Sehen die Autoren auch eine Freiheit der und in der Nationalliteratur vor? Sollen laut den Autoren Kunst und Literatur als frei oder engagiert konzipiert sein? Mit welchen Argumenten wird dies begründet? Welche (politische) Rolle sollen Kunst und Literatur spielen?
L IBERALISMUS , N ATION ( ALISMUS ) UND POLITISCHE L EGITIMITÄT Bei der Untersuchung der Verbindung zwischen Liberalismus und Nation(alismus) stößt man in der Forschungsliteratur oft auf die Erklärung, die Nation vermöge es, eine gewisse gesellschaftliche Homogenität sowie einen Loyalitätsverband zu schaffen, der den nötigen Zusammenhalt für ein friedliches Koexistieren im Nationalstaat gewährleiste. Gerade die von Henning (2011) angesprochene moralische, normative Bindung der Nationsangehörigen an die Nation, d.h. die subjektive Vorstellung von Zusammengehörigkeit im Selbstverständnis der Nationsmitglieder, zeigt, dass die
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Nation Gleichheit vor Freiheit reiht, und den Freiheitsbegriff nicht schon konzeptuell in sich trägt. Ihre Legitimität bezieht sie, v.a. in der Ausprägung als Kulturnation, nicht aus dem Schutz von Freiheitsrechten, sondern ihrer Bezogenheit auf andere Loyalitätsformen, die, so die oben formulierte These, vornehmlich auf die Konstruktion eines Kollektivs zielen. Der Liberalismus hingegen stellt die Verfolgung individueller Ziele in den Vordergrund. Die Tendenz der Vereinzelung der Individuen in sich tragend, birgt er die Gefahr in sich, das friedliche gesellschaftliche Zusammenleben einzelnen Individualinteressen zu opfern. Diese Annahmen basieren auf dem Gedanken, dass Freiheit ohne Einheit schutzlos sei (Dipper 1975b: 507). Doch nicht nur der Liberalismus bedarf der homogenitätsstiftenden Kraft der Nation für den inneren Zusammenhalt des Staates – auch der Nationsbegriff stützt sich mitunter auf Freiheitskonzepte, insbesondere wenn er auf politische Wirksamkeit zielt. Van den Heuvel (1996) hat herausgearbeitet, dass sich dafür besonders der moralisch-metaphorische Freiheitsbegriff – die fünfte Dimension von Freiheit – eignete, selbst wenn es sich um das klassische Beispiel für eine Staatsnation, Frankreich, handelte. Sie ging im Beispiel Frankreichs aber auf Kosten der Freiheit vom Staat (Dimension 3). 25
„Der moralisch definierte Freiheitsbegriff hatte nicht nur eine polarisierende , sondern auch eine integrierende Funktion. Der Topos von der moralischen Überlegenheit der liberté française konnte dazu genutzt werden, Einmütigkeit für gemeinsame nationale Ziele zu mobilisieren. In diesem Kontext war die Berufung auf ‚Freiheit‘ ein Motor des Patriotismus und Nationalismus, und die liberté verkörperte das wesentliche Identifikationssymbol des Bürgers mit der Revolution. Diese Betonung der gemeinschaftlichen Freiheit führte in der Theorie wie in der Praxis zu einer Einschränkung der individuellen Freiheitsrechte. [Kursivierungen und Anführungszeichen im Original]“ (Van den Heuvel 1996: 102, 103)
Im von J. Assmann (2002) geschilderten Zusammenhang zwischen Freiheit und Nation ist an die erste Dimension von Freiheit, der Freiheit des Nationalstaats, zu denken. Er hat hier wohl eher die Kulturnation vor Augen, wenn er schreibt: „Alle nationalen Erweckungsbewegungen mobilisieren die Erinnerung an eine Vergangenheit, die im krassen Gegensatz zur Gegenwart steht und zum Inbegriff des wahren, wieder herbeizuführenden Zustands wird, eine Zeit der Freiheit und Selbstbestimmung, zu deren Wiedergewinnung das ‚Joch der Fremdherrschaft‘ abgeschüttelt werden muß. [Anführungszeichen im Original]“ (Assmann J. 2002: 83)
Mithilfe welcher Mechanismen aber erreicht die Nation einen so hohen Stellenwert für politische Legitimität? Hans-Joachim König und Marianne Wiesebron (1998) erblicken in der Konstruktion kollektiver Identität über gemeinsame Vergangenheitsentwürfe den entscheidenden Faktor für den Aufbau von Loyalitätsbindungen. Sie
25 Polarisierend ist der Bezug auf die moralisch-metaphorische Freiheit deshalb, weil das Potenzial der Intoleranz gegenüber von der freiheitlichen Moral abweichendem Verhalten und so die Gefahr des Despotismus gegeben sind. Van den Heuvel (1996) führt als Beispiel dafür die jakobinische Phase an.
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erweisen sich als Legitimierungsstrategie im Nationenbildungsprozess26. „La conciencia histórica siempre ha jugado un papel importante como instrumento de cohesión y legitimación social y político en los procesos de la formación de la nación y de transformación social.“ (König/Wiesebron 1998: 32). Auch Neumann B. (2003) sieht in der „Anerkennung der eigenen Vergangenheitsversion“ (Neumann B. 2003: 65) eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass die Identität eines Kollektivs zur Quelle politischer Legitimität werden kann. Die Bedeutung der literarischen Erzählung für die Verbindung von Liberalismus und Nation liegt demnach u.a. bei der Schaffung gemeinsamer Geschichten, die kollektiv erinnert und zur Grundlage nationaler Identität liberaler Ausprägung werden können. Juan Poblete (2008) erblickt die Gemeinsamkeiten von Nation und Literatur in der Erzeugung einer Vorstellung von Gemeinschaft und kollektiver Identität: „The nation and reading are both active forms of imagining ourselves and our connections to others […]“ (Poblete 2008: 309). Joseph Jurt (2003) hat indes der Literatur in der Kulturnation, für die ihm Deutschland als symptomatisch gilt, eine „Begründungsfunktion“ (Jurt 2003: 37) zugesprochen. „Kultur und Literatur entwickelten in Deutschland ein vorstaatliches nationales Denken27, das zu einem Identifikationsund Projektionspunkt für das sich ausbildende Nationalgefühl wurde.“ (Jurt 2003: 37). Die hohe Legitimität der Nation im Vergleich mit anderen Legitimationsquellen ist dadurch nicht zuletzt auf die narrative Konstruktion eines nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls und nationaler Loyalitätsbindungen, worauf auch immer diese beruhen mögen, zurückzuführen. Als Konsens der hier zitierten Forschungsliteratur kann gelten, dass der Erzählung eine legitimierende Funktion zukommt28.
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Politische Legitimität erwächst im Liberalismus – anders als in der Nation – dem vernunftbasierten Entscheid liberaler Subjekte, freier Individuen. Elizabeth Maddock Dillon29 (2004) hebt nun jedoch, anders als in den meisten Abhandlungen zum Liberalismus, hervor, dass dieser Teil einer Erzählung von liberaler Subjektivität, ja als
26 Dies dürfte besonders in der Ausprägung der Nation als Kulturnation zutreffen. 27 Herder hat mit seiner Idee, in Sprache und Poesie die Grundlagen für Volk und Nation zu suchen, eine Alternative zur Identifikation der Nation mit staatlicher Einheit formuliert und damit ein Modell der Nation geprägt, das Sprache und Kultur zur Schaffung einer nationalen Identität grundlegt und die politische Institutionalisierung (zunächst) ausklammert (Schulze H. 1996: 72, 73). 28 Die Erzählung soll aber nicht als ausschließliches Mittel zur Herstellung von Legitimität gelten. 29 Für eine ausführliche Diskussion von Dillons (2004) Thesen mit Bezug zu Ethnizität und Gender vgl. Österbauer (2017). In Kombination mit der Konstruktion der Nation wird in diesem Aufsatz eine Analyse von El matadero, Amalia, Soledad und Facundo, aufbauend auf Dillons Thesen zu Gender, Ethnizität und liberaler Erzählung durchgeführt.
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sogenannte Fiktion30 verstanden werden kann. Die liberale Ideologie ließe sich demnach als Erzählung begreifen, deren narrative Grundlage nennt sie „founding fictions“ (Dillon 2004: 11) bzw. „guiding fictions of liberalism“ (Dillon 2004: 47). In den Fiktionen des Liberalismus gehe es um die Konstruktion von Subjektivität, nicht um die Beschreibung der historischen Entwicklung von Gesellschaftsverbänden31. Das liberale Subjekt wird in den ‚founding fictions‘ zu politischem, autonomem Handeln in der Sphäre der Öffentlichkeit legitimiert. (Dillon 2004: 19-24) Wenn nach der Rolle der literarischen Erzählung im Zusammenspiel von Liberalismus und Nation(alismus) gefragt wird, muss daher auch den Bedingungen des öffentlichen Diskurses Beachtung geschenkt werden. Denn Öffentlichkeit kann als Raum für die im Liberalismus vorgesehene Herstellung öffentlicher Meinung im vernunftbasierten Austausch autonomer Individuen, aber zugleich als Raum für die Konstruktion von nationaler Identität gelten. Wenn auch Öffentlichkeit eine unterschiedlich starke Gewichtung je nach Spielart des Liberalismus32 erfährt, so ist sie Lothar Döhn (1977) zufolge zugleich „Ort und Voraussetzung politischer Willensbildung und der Kontrolle über alle staatlichen Gewalten“ (Döhn 1977: 35). In diesem Raum verhandeln Bürger/innen idealtypisch Angelegenheiten des Allgemeinwohls33 und bilden eine ‚öffentliche Meinung‘ aus, die konzeptuell von der Privatmeinung getrennt wird und daher unabhängig vom persönlichen und wirtschaftlichen Interesse sein soll. Im Konzept der Öffentlichkeit entsteht eine Vermittlungsinstanz zwischen der bereits diskutierten Trennung von Staat und Gesellschaft. Die Diskussionen im Raum der Öffentlichkeit sind ein Instrument zur Kontrolle staatlicher Gewalt, ihnen soll aber keine direkte politische Macht34 erwachsen – sie stehen dem Staat vielmehr gegenüber. Voraussetzung dafür bildet „die rechtliche Garantie der Meinungs-, Veröffentlichungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit“ (Döhn 1977: 35) sowie die Garantie der Freiheit vom Staat. Der liberale Verfassungsstaat sollte also die rechtliche Grundlage für die Entstehung und die Gewährleistung von liberaler Öffentlichkeit35 sein. (Döhn 1977: 35-39) Gesetz und 30 Zur Terminologie von ‚Erzählung‘ und ‚Fiktion‘ in dieser Arbeit vgl. Kapitel ‚Nation –
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Identität – Erzählung‘. Wir würden demnach eher von erfundenen Elementen sprechen, es sei denn die Erzählung des Liberalismus erfolgt über fiktionale Erzählliteratur. Ähnlich wie die Erzählung der Nation wäre demnach die Erzählung der Liberalismus weder der faktualen noch der fiktionalen Erzählung zuzuordnen. Vgl. dazu die Differenzierung in unterschiedliche Spielarten des Liberalismus bei Norbert Campagna (2000). Im 19. Jahrhundert ist die Gruppe der Bürger nicht nur sehr eng definiert, sondern v.a. auf die in Bezug auf die zu vertretenden Interessen relativ homogene Gruppe des Besitz- und Bildungsbürgertums zugeschnitten, sodass nicht davon ausgegangen werden kann, dass in der Öffentlichkeit allgemeingesellschaftliche Meinungsbildung erfolgen kann. Bürgerliche Herrschaft bleibt dadurch unhinterfragt. (Döhn 1977: 35, 36) Dahinter steht die Idee, dass das Parlament „Spiegelbild“ (Döhn 1977: 39) der öffentlichen Meinung sein sollte – die Wahl der RepräsentantInnen erscheint so als eine Folge aus der Diskussion im Raum der Öffentlichkeit (Döhn 1977: 39). Bald schon wächst aber die Skepsis unter liberalen Denkern wie Alexis de Tocqueville oder John Stuart Mill gegenüber einer unbeschränkten öffentlichen Meinung, die v.a. mit der Wahlrechtsausdehnung auf ‚ungebildete‘ Bevölkerungsgruppen als Gefahr für Willkür
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öffentliche Meinung werden im bürgerlichen Rechtsstaat institutionell aufeinander bezogen (Habermas 1969: 94). „Durch die freie Konkurrenz der Ideen sollte aus der Herrschaft der Öffentlichkeit der politische, der geistig-kulturelle und der wissenschaftliche Fortschritt erwachsen. Dieser Gedanke ist auch für die Gegenwart außerordentlich bedeutsam, insbesondere für die Begründung der Freiheit.“ [Kursivierung im Original] (Döhn 1977: 36)
Um jedoch am Ideenaustausch teilnehmen zu können, waren im 18. und 19. Jahrhundert Bildung und Besitz Voraussetzung. Der Strukturwandel von Wirtschaft und Öffentlichkeit im Zuge der Industrialisierung und des Aufschwungs des Bürgertums sollte den „Kreis öffentlich diskutierender Privatleute“ (Döhn 1977: 36) erweitern, v.a. aber nach neuen Kriterien ausrichten. „Neben und an die Stelle der höfischen Kultur traten die bürgerlichen Salons und Diskussionszirkel.“ (Döhn 1977: 36, 37). Die Entstehung des Pressewesens bildet erst die Voraussetzung für den Raum der Öffentlichkeit, ja sie ist „Bedingung als Quelle und Transportmittel der öffentlichen Meinung“ (Döhn 1977: 37). In eben den hier zu untersuchenden Zeitraum fällt laut Döhn (1977) die Etablierung einer (unabhängigen) Tagespresse. „Erst nach der endgültigen Errichtung des bürgerlichen Rechtsstaates beginnt sich die Gesinnungspresse zur Geschäftspresse36 zu wandeln. Dieser Prozeß setzt in England, Frankreich und den USA in den 30er Jahren des 19. Jh. ein, in Deutschland noch wesentlich später.“ (Döhn 1977: 37).
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DES LIBERALEN S UBJEKTS UND LITERARISCHE Ö FFENTLICHKEIT Die Entstehung einer politischen Öffentlichkeit erklärt Jürgen Habermas in seinem berühmten Strukturwandel der Öffentlichkeit (1969) aus dem Wirken einer literarischen Öffentlichkeit, die sich in Kaffeehäusern37, Salons38, Tischgesellschaften39
betrachtet wird. Dies kann bis zur Forderung nach einer Elite nach aristokratischem Vorbild gehen. (Habermas 1969: 148, 150, 151) 36 Zuvor gaben laut Döhn (1977) v.a. politische Vereine und Klubs ihre Zeitungen heraus. „Bis zum Zeitpunkt der rechtlichen Anerkennung der politischen Öffentlichkeit durch den Staat, als die Zeitungen von der staatlichen Zensur befreit und das liberale Grundrecht der Meinungsfreiheit Teil der Staatsverfassung wurde, bedeutete das Erscheinen einer Zeitung Kampf um die Freiheit der öffentlichen Meinung, um die Öffentlichkeit als Prinzip.“ (Döhn 1977: 37). 37 Bleiben zunächst der fürstliche Hof und die bürgerliche Öffentlichkeit miteinander verbunden, so bildet die bürgerliche Öffentlichkeit mit der Kaffeehausgesellschaft eine kulturelle Institution mit offenerem Zugang; für das Beispiel England nennt Habermas (1969: 44) hier etwa Handwerker oder Krämer. Sie wird jedoch auf männliche Teilnehmer beschränkt. 38 Salons waren von Frauen maßgeblich mitbestimmt. In Frankreich, so Habermas (1969: 45), treffen sich dort Großbürgertum und Aristokratie. Sie stellen ein Forum der Diskussion dar,
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formiert und die sich herausbildende Subjektivität der Kleinfamilie zur Grundlage hat. Insofern, so Dillon (2004: 28), beruht bei Habermas Öffentlichkeit auf der bürgerlichen Ehe und Familie. „Habermas also indicates that the family is […] a site where freedom is realized in its link to the ‚interiority‘ of the liberal subject. Freedom consists in engaging in the voluntary relations, such as companionate marriage and parental love, that characterize the intimate sphere. [Anführungszeichen im Original]“ (Dillon 2004: 28)
Das Konzept der bürgerlichen Familie basiert auf Freiwilligkeit und bildet sich aus freien Individuen – ihm liege schließlich die Liebesheirat40 zugrunde, was seine Bedeutung für das Entstehen liberaler Subjektivität erkläre (Dillon 2004: 28). Mit Öffentlichkeit wird bei Habermas (1969) parallel dazu das soziale Leben bezeichnet, in dem Bürger/innen aus freien Stücken und unabhängig von staatlicher Kontrolle vernunftbasiert eine öffentliche Meinung ausbilden. (Habermas 1969: 40, 41, 56) „Bevor Öffentlichkeit im Spannungsfeld zwischen Staat und Gesellschaft politische Funktionen ausdrücklich übernimmt, bildet allerdings die dem kleinfamilialen Intimbereich entspringende Subjektivität sozusagen ihr eigenes Publikum. Noch bevor die Öffentlichkeit der öffentlichen Gewalt durch das politische Räsonnement der Privatleute streitig gemacht und am Ende ganz entzogen wird, formiert sich unter ihrer Decke eine Öffentlichkeit in unpolitischer Gestalt – die literarische Vorform der politisch fungierenden Öffentlichkeit.“ (Habermas 1969: 40)
Dillon (2004) stützt sich maßgeblich auf Habermas und seine Theorie der literarischen Öffentlichkeit41 in ihrer Untersuchung liberaler Erzählungen. Die Konstruktion liberaler Subjektivität erscheint ihr aber als Ergebnis der Interdependenz von Privatheit und öffentlicher Identität in der Drucköffentlichkeit. Liberale Subjektivität und autonomes Handeln begreift Dillon (2004) als durch die Erzählung hervorgebracht, „[…] that defines the liberal subject’s agency as grounded in his possessive relation to privacy.“ (Dillon 2004: 25). Das gedruckte Wort kann Privatheit erst einer Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit zuführen. Die Drucköffentlichkeit bringt dadurch paradoxerweise Privatheit als Konzept erst zur Erscheinung. „[T]he interiority created in the conjugal family only seems to fully come to fruition – to ‚attain clarity about itself‘ – in the public sphere. Indeed, public communication seems to concern interiority itself, suggesting that interiority may be less the predicate of rational communication than its result. [Anführungszeichen im Original]“ (Dillon 2004: 28) in dem Erstaufführungen von künstlerischen und literarischen Werken bestehen mussten, aber auch politische Fragestellungen diskutiert wurden. 39 Tischgesellschaften, die aus den Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts hervorgehen, sind v.a. in Deutschland verbreitet (Habermas 1969: 45). 40 Inwieweit Liebe tatsächlich dem Prinzip des freien Willens gehorcht, wäre eine zu diskutierende Frage, die jedoch im Rahmen dieser Fragestellung nicht erörtert werden soll. 41 Sie bezieht sich dabei auf Habermas’ historische Öffentlichkeit, nicht aber auf seinen Entwurf einer normativen Öffentlichkeit, die sie ebenfalls der Logik der Fiktionen des Liberalismus unterworfen sieht (Dillon 2004: 27).
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Auch das liberale Subjekt wird in der Drucköffentlichkeit als solches sichtbar und dadurch zu einem ‚öffentlichen‘ Subjekt. Die liberalen Repräsentationen in der Drucköffentlichkeit, seien sie nun historisch bereits verankert oder ‚nur‘ im Diskurs präsent, können Dillon (2004) zufolge wiederum auf das Leben der Rezipient/innen der Druckwerke zurückzuwirken und reale Formen anzunehmen. Denn die Repräsentationen von privater Freiheit in der Drucköffentlichkeit erzeugen eine Vorstellung von liberaler Subjektivität42. (Dillon 2004: 18, 19, 24, 25, 30, 31) Soziale Normen wie Heterosexualität oder das Patriarchat können dadurch vom Individuum in seine Wünsche, sein Begehren (desire) übernommen werden (Dillon 2004: 33). „The subjectivity established in the intimate sphere is thus complex and far from merely private. Privacy and subjectivity are established through a relation with the abstract other (the public), that is characterized by imagination and desire.“ (Dillon 2004: 33). Sichtbar gemacht werden diese Konzepte in der Drucköffentlichkeit neben Zeitungen und Zeitschriften maßgeblich über (neue) literarische Formen, die dadurch für die Repräsentation und Konstruktion von Subjektivität und Privatheit als besonders bedeutsam erscheinen. Über den Modus der Fiktion können in literarischen Werken die vorgestellten Repräsentationen des Subjekts zur Darstellung gebracht werden. Subjektivität kann zudem einerseits am Beispiel einer literarischen Figur partikularisiert, andererseits mit Blick auf die (nationale?) Leserschaft universalisiert werden. (Dillon 2004: 26, 33, 42) Laut Habermas (1969: 61) drückt sich die neue Subjektivität des Individuums im Schreiben von Briefen aus. Die Intimität der Kleinfamilie bildet einen Raum, in dem sich das Individuum nicht wirtschaftlich, sondern ausschließlich über menschliche Beziehungen versteht. Der Brief gilt ihm nun als ein Medium, in dem Intimität und Zwischenmenschliches – Subjektivität – entfaltet werden. Der Brief als (literarische) Gattung soll laut Habermas (1969) Einblick in die Seele des Individuums gewähren, ist aber immer schon im Hinblick auf ein Publikum verfasst, das über den eigentlichen Adressaten/die eigentliche Adressatin hinausgeht. Viele der Briefe waren so von Anfang an für den Druck bestimmt. Aus ihr erklärt sich für Habermas (1969) der bürgerliche Roman, eine „psychologische Schilderung in autographischer Form“ (Habermas 1969: 62), die an die auf ein Publikum hin orientierte Subjektivität des Briefes anschließt. Im bürgerlichen Roman und mithilfe seines fiktionalen Charakters werden Privatheit und Publizität zusammengebracht und zugleich die Beziehungen zwischen Autor, Werk und Leserschaft neu geordnet. „[…; D]er sich einfühlende Leser [wiederholt] die in der Literatur vorgezeichneten privaten Beziehungen; er erfüllt die fingierte Intimität aus der Erfahrung der realen, und erprobt sich an jener für diese.“ (Habermas 1969: 63). Die sich ausweitende bürgerliche Leserschaft wird über das Pressewesen miteinander verbunden und ist nicht länger auf Salons, Kaffeehäuser, etc. angewiesen, da sie über den Druckmarkt an einer literarischen Öffentlichkeit – in der auch die Kunst- und Literaturkritik mitwirkt – teilhat. Das Verhältnis zwischen Autor und Leserschaft verändert sich indes laut Habermas (1969) dahingehend:
42 So widerspricht sich Habermas nicht, wenn er die sich im 18. Jahrhundert ausbildende Drucköffentlichkeit als „birthplace of the liberal subject“ (Dillon 2004: 26) betrachtet, obwohl zunächst die Kleinfamilie als Quelle liberaler Subjektivität genannt wurde.
208 | F REIHEIT UND N ATION „[S]ie werden zu intimen Beziehungen der psychologisch am ‚Menschlichen‘, an Selbsterkenntnis ebenso wie an Einfühlung interessierten Privatleute untereinander. Richardson weint über die Akteure seiner Romane ebenso wie seine Leser; Autor und Leser werden selbst zu den Akteuren, die ‚sich aussprechen‘. Besonders Sterne raffiniert ja die Rolle des Erzählers durch Reflexionen, durch Adressen, fast durch Regieanweisungen […] [Anführungszeichen im Original]“ (Habermas 1969: 62)
Das öffentliche Räsonieren über Kunst und Literatur bildet bei Habermas (1969) die Voraussetzung für das Entstehen von politischer Öffentlichkeit und weitet sich auf politische Fragestellungen aus. Basierend auf dem öffentlichen Austausch nach dem Vernunftprinzip – das bessere Argument möge sich durchsetzen – wird die öffentliche Meinung zur Legitimitätsquelle für den Gesetzgebungsprozess sowie für Fragen der Moral. (Habermas 1969: 63, 64, 66) „Das an der zentralen Kategorie der Gesetzesnorm demonstrierte Selbstverständnis der politischen Öffentlichkeit ist durch das institutionsgerechte Bewußtsein der literarischen Öffentlichkeit vermittelt. Überhaupt schieben sich die beiden Gestalten der Öffentlichkeit eigentümlich ineinander.“ (Habermas 1969: 67)
Zunehmend scheinen die beiden Arten von Öffentlichkeit – die literarische und die politische – „im Selbstverständnis der öffentlichen Meinung“ (Habermas 1969: 67) miteinander zu verschmelzen43 und als unteilbar. „Sobald sich die Privatleute nicht nur qua Menschen über ihre Subjektivität verständigen, sondern qua Eigentümer die öffentliche Gewalt in ihrem gemeinsamen Interesse bestimmen möchten, dient die Humanität der literarischen Öffentlichkeit der Effektivität der politischen zur Vermittlung. Die entfaltete bürgerliche Öffentlichkeit beruht auf der fiktiven Identität der zum Publikum versammelten Privatleute in ihren beiden Rollen als Eigentümer und als Menschen schlechthin. […] [W]eil sie das Prinzip der Publizität gegen die etablierten Autoritäten wendet, kann anfangs die objektive Funktion der politischen Öffentlichkeit mit deren aus Kategorien der literarischen Öffentlichkeit gewonnenem Selbstverständnis, kann das Interesse der Privateigentümer mit dem individueller Freiheit überhaupt konvergieren. [Kursivierung im Original]“ (Habermas 1969: 67, 68)
Öffentlichkeit ist dann nicht nur jener Raum, in dem verstandesgemäß öffentliche Meinung hervorgebracht wird. Vielmehr wird in öffentlichen Repräsentationen auch die Freiheit des Privatraums abgebildet. Privatheit wird nicht als bloßer Ausgangspunkt für die spätere politische Öffentlichkeit verstanden. Die liberale Identität der Öffentlichkeit erfordert vielmehr die ständige Produktion und Reproduktion von Privatheit in der Drucköffentlichkeit (Dillon 2004). Die Erzählung gilt Dillon (2004) als ein Mittel, um die Widersprüche liberaler Ideologie zu verdecken. Jene Subjektivität, die als private Subjektivität inszeniert wird, kann dann nicht als (ausschließlich) privat gelten, da Privatheit und Subjektivität durch ihre Verbundenheit mit der Öffentlichkeit über das gedruckte Wort bereits immer mit anderen Individuen außerhalb des 43 Nach Habermas (1969: 98) ist Öffentlichkeit nach ihrer Politisierung nach wie vor literarisch geprägt.
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Privatbereichs – einer abstrakten Öffentlichkeit – in Beziehung stehen. In der Repräsentation von Privatheit über die Drucköffentlichkeit ist immer schon die Existenz des Anderen angelegt. Die Darstellung von Subjektivität über die literarische Öffentlichkeit bringt Privatheit und bürgerliche Subjektivität – die Voraussetzung für die Teilhabe an der politischen Öffentlichkeit – hervor. Die (politische) Öffentlichkeit ist mit der Privatsphäre insofern in einem ständigen (Re-)Konstruktionsprozess verbunden als sie die Privatsphäre als Ursprung und Ziel von Freiheit versteht. „[E]xercising freedom of choice in love and marriage, for instance, serves to illustrate the freedom and basic humanity of the bourgeois subject.“ (Dillon 2004: 35). (Dillon 2004: 23, 24, 30, 31, 35)
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IN
H ISPANOAMERIKA
Die Erzählung des Liberalismus und der Roman haben in der bürgerlichen Öffentlichkeit ihren gemeinsamen Raum gefunden. Neben der internen Inszenierung liberaler Anliegen im Roman, sind sie über ein gemeinsames Medium – die Zeitung – verbunden, in der fortsetzungsweise einzelne Kapitel von Romanen neben anderen Gattungen der öffentlichen Diskussion erscheinen. „Und in diesem Zusammenhang sind die in den Erzähltexten formulierten lebenspraktischen Inszenierungen ebenso von Interesse wie das Schreiben und Lesen von Romanen im Zeichen einer noch zu konsolidierenden kreolischen Soziabilität.“ (Paatz 2011: 14). „Als Teilbereich gesellschaftlichen Lebens passt sich die Romanpraxis ein in das weitreichende liberale Projekt, das den kulturellen Prozess Lateinamerikas im 19. Jahrhundert dominierte. Der Liberalismus verband Literatur mit politischem Engagement, mit Bildung und dem Hervorbringen kollektiver Identität, verstand sie utilitaristisch und verlieh ihr staatstragende Funktion. Eine literatura propia, eine eigene Nationalliteratur, war nicht nur integrativer Bestandteil des patrimonio cultural, sondern sie sollte auch auf ganz konkrete Weise ciudadanos hervorbrin44 gen. [Kursivierungen im Original]“ (Paatz 2011: 14)
Auch Dieter Janik (2008) misst der Literatur eine bedeutende Rolle bei der Herstellung von Öffentlichkeit bei. Der Übergang eines Volkes aus Untertanen hin zu „nationalen Gesellschaften aus Staatsbürgern“ (Janik 2008: 246) über die Verfassung habe in Hispanoamerika im 19. Jahrhundert zum Aufbau einer „sociedad civil“ (Janik 2008: 246) geführt. Unter ‚sociedad‘ wurde sowohl die Staatsbürgergesellschaft verstanden als auch die Trägerschaft nationaler Zusammengehörigkeit, die sich auch kulturell definieren sollte. In eben jener Verbindung von Staatsbürgergesellschaft zur Gemeinschaft von Nationsangehörigen mit geteilter kultureller Identität verortet Janik (2008: 246) die Bedeutung von Literatur.
44 Laut Annette Paatz (2011) diente den liberalen Bewegungen Hispanoamerikas die Französische Revolution von 1830 als Vorbild, die Esteban Echeverría, einer der hier zu untersuchenden Autoren, miterlebte und dessen Eindrücke in Argentinien im Anschluss daran Gegenstand intensiver Auseinandersetzung und Rezeption sein sollten (Paatz 2011: 15).
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Wird in den oben skizzierten Ansätzen zur Untersuchung der Erzählung des Liberalismus die Rolle des Staates bei der Konstruktion von Identität vernachlässigt, da diese vielmehr vom Individuum als vom Staat ausgeht, so ist letzterer gerade in Bezug auf die Erzählung der Nation als bedeutsamer Akteur hervorgehoben worden. Poblete (2008), der sich in seinen Untersuchungen dem Raum der Öffentlichkeit im lateinamerikanischen 19. Jahrhundert widmet, betont, dass der Staat über die Möglichkeiten verfügt, (Staats-)Bürger/innen zu Leser/innen zu machen, etwa über das Instrument der Bildungspolitik (z.B. mittels Schul- und Lehrbüchern, öffentlichen Bibliotheken oder staatsnahen Zeitungen) – die Leserschaft also nicht nur als Trägerschaft einer vom Staat unabhängigen Öffentlichkeit betrachtet werden darf. „Printed discourses continue to be central to the forms of socialization of citizens the state privileges in its educational policies and, secondly, they constitute a valuable and strategic sector in both economic and geopolitical terms.“ (Poblete 2008: 309). Poblete (2008) hat dem Buch eine wichtige Funktion in der Verbindung von Kultur, (Staats-)Bürger/innen und Nation über den Raum der Öffentlichkeit zugeschrieben. „Reading and writing discourses, as mediated by artifacts and forms of circulation such as newspapers, letters, pamphlets, and novels, become crucial practices of such a public-forming exchange.“ (Poblete 2008: 316). Das Schreiben und Lesen von Romanen bezeichnet Poblete (2008) als eine der „key forms of national sociability“ (Poblete 2008: 317)45 im lateinamerikanischen 19. Jahrhundert, wofür aber nur eine kleine Leserschaft anzunehmen ist. Lesen war laut Poblete (2008) im 19. Jahrhundert in Lateinamerika nicht nur für die Konstruktion der Nation relevant, sondern auch Mittel zur Konstruktion jener Subjektivität, die infolge der Säkularisierung und Modernisierung politisch und institutionell relevant werden sollte und die, so können wir hinzufügen, in der Erzählung des Liberalismus Grundlage von Individualität ist. Dass hierbei Widersprüche entstehen können, wenn über Literatur liberale Subjektivität inszeniert, zugleich aber kollektive, nationale Identität geformt wird, betont auch Poblete (2008): „Both, practices and spaces of legibility, are socially produced and have complex and perhaps contradictory effects. They both help produce autonomous subjects and are crucial in the process of subjection of those subjects to the social logic of the nation. […] Connecting both there is what can be called a practical national reason embodied in the daily lives of the national subjects. A reason connecting public spheres (discourses and issues of textual representation) with public spaces – which, along with books, pamphlets, and newspapers, include other social spaces such as the street, the city, cafés, and tertulias – also linking state practices such as mass and compulsory education with civil society’s free associations and discussions.“ (Poblete 2008: 317)
Die Konstruktion der Nation und der liberalen Subjektivität über literarische Erzählungen können wie folgt systematisiert werden. Mit Habermas (1969) kann die Herstellung politischer Öffentlichkeit ausgehend von literarischer Öffentlichkeit begriffen werden. Die beiden Öffentlichkeitssphären verschränken sich miteinander und bilden einen gemeinsamen Raum von Öffentlichkeit, der von der privaten wie der 45 Im 19. Jahrhundert wird in Lateinamerika meist der Begriff der ‚Soziabilität‘ verwendet. Er umfasst sowohl elitäre als auch populäre Diskursarten. (Poblete 2008: 317)
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staatlichen Sphäre funktional getrennt ist. Über die öffentliche Meinung sind die private und staatliche Sphäre dennoch miteinander verbunden. Dieser Raum bürgerlicher Öffentlichkeit gilt dem Liberalismus als Voraussetzung für die Legitimität politischer Herrschaft, die ohne öffentliche Diskussion und Begründung von Herrschaftsanspruch im System der Repräsentation nicht hergestellt werden kann. Die Schaffung eines Raumes für öffentliche Meinung gilt dem Liberalismus demnach als Legitimitätsquelle. Das im Zentrum des Liberalismus stehende Individuum wird in seiner Subjektivität maßgeblich von der Literatur – und Habermas (1969) nennt hier v.a. die Gattungen Brief und bürgerlicher Roman (wie weiter unten näher ausgeführt wird) – geprägt. Der Roman verbindet die private Sphäre, in der über Lektüre liberale Subjektivität ausgebildet werden soll, mit dem Pressewesen und dem Raum der Öffentlichkeit, in dem er zirkuliert46. Literatur als Medium der Konstruktion liberaler Subjektivität inszeniert die Freiheit des Individuums, die zur politischen Freiheit befähigen soll. Paatz (2011) sieht auch die Bildung von Staatsbürger/innen mit der Romanlektüre in Zusammenhang stehend. Sowohl die Nation als auch liberale Subjektivität, so die Annahme, werden über die im 19. Jahrhundert sich rasch ausbreitenden und sich einer immer breiteren (bürgerlichen) Leserschaft erfreuenden Druckerzeugnisse konstruiert, von denen im 19. Jahrhundert Zeitung und Roman47 als wichtigste Medien genannt wurden. Kollektive Identität bezieht, wie weiter oben ausgeführt, ihre Grundlage häufig aus einer gemeinsamen Erzählung der Vergangenheit, die zur Basis jener Loyalitätsbeziehungen wird, aufgrund derer der Nation ein hoher Stellenwert im Bereich der politischen Legitimation zugesprochen wurde. Jene für die Ausbildung nationaler Identität so zentralen geteilten Erzählungen werden u.a. über das Medium der Literatur hergestellt. Literatur ist dann zudem Medium zur Verfestigung und/oder Konstruktion der Vergangenheitsentwürfe einer nationalen Gemeinschaft48. Aufbauend auf diesen Überlegungen scheinen sich die Ausbildung von Öffentlichkeit 46 Hinzuzufügen wäre dem, dass gerade der Briefroman eine Gattung ist, die im 18. Jahrhundert blüht (vgl. etwa Montesquieus Les Lettres persanes (1721) für Frankreich, José Cadalsos Cartas Marruecas (1793) für Spanien oder Johann Wolfgang von Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) für den deutschsprachigen Raum). Sie setzt sich teilweise oder ganz aus entweder realen und/oder fiktiven Briefen eines oder mehrerer VerfasserInnen zusammen (Sander 2006: 117). Diese bilden die Möglichkeit der Selbstdarstellung (Sander 2006: 117). Das „Interesse an seelischen Vorgängen aus subjektiver, historisierender Sicht“ (Frauenrath 2003: 36) sowie „ab Mitte des 18. Jh. die Literaturfähigkeit des privaten Familienlebens“ (Frauenrath 2003: 36) gelten nicht zuletzt als Erklärungen für den Erfolg der Gattung. (Frauenrath 2003: 35, 36) 47 Bedacht werden muss in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung des Romans für die mündliche Rezeption, da das Vorlesen des Romans im Privaten aber auch die öffentliche Lektüre weit verbreitet waren. 48 Wie in Kapitel ‚Nation – Identität – Erzählung‘ ausgeführt, muss davon der literarische Erzähltext als Nationalsymbol in der Konstruktion nationaler Identität unterschieden werden, da dieser in dem Fall nicht als Medium relevant wird, sondern als nationales Gut einer externen Zuschreibung unterliegt (Ebene 1). Die Begründungsfunktion literarischer Erzählungen für die Nation kann sowohl in einem internen Identifikationsangebot und der internen Inszenierung der Nation angesiedelt sein (Ebene 2) als auch einer äußeren Zuschreibung als nationalem Symbol (Ebene 1) geschuldet sein.
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über den Roman sowie die interne Inszenierung liberaler Anliegen im Roman einander im Projekt der Nationenbildung, aber auch des Aufbaus eines liberalen, Freiheitsrechte garantierenden, Verfassungsstaats, zu ergänzen, sich jedoch auch widersprechen zu können. Wie in Kapitel ‚Nation – Identität – Erzählung‘ diskutiert, hängen Art und Größe des Rezipientenkreises einerseits von den Bedingungen des politischen Systems und dessen Freiheitsgrad (Meinungs- und Pressefreiheit) sowie von den technologischen Möglichkeiten und der Verbreitung von Printmedien und vom Bildungsgrad (insbesondere hinsichtlich der Gruppe der Leserschaft) oder der Verbreitung von Formen der mündlichen Rezeption und ihrer Institutionalisierung ab (extraliterarische Bedingungen). Andererseits sind sie abhängig von der Ebene, auf der der literarische Text angesiedelt ist. Bleibt der literarische Text auf den inneren Kreislauf beschränkt (Kreislauf B), so kommen v.a. die Akteur/innen des Literaturbetriebes sowie die Leserschaft als Rezipient/innen in Frage. Wird er jedoch in den Kreislauf der offiziellen, nationalen Erzählung eingebracht (Kreislauf A), so kann in der Frage des Rezipient/innenkreises weitgehend die Gruppe der Nationsangehörigen angenommen werden49. Dies passiert etwa im Falle von Werken, die zunächst der Zensur unterlagen, später aber zu Nationalwerken erklärt wurden. Zusammenfassend heben beide – sowohl die Forschungsliteratur zum nationbuilding als auch jene zur Konstruktion liberaler Subjektivität – literarische Erzählungen als Mittel zur Inszenierung der jeweiligen universalisierbaren Werte und Normen an partikulären Figuren sowie spezifisch literarische Strategien der Leseridentifikation und des Erzeugens von Leserbegehren hervor. Literarische Erzähltexte können als Teil der Erzählungen der Nation und des Liberalismus verstanden werden, die über ihre je eigenen Verfahren Identitätsentwürfe zur Anschauung bringen, den Rezipient/innen zur Auseinandersetzung mit diesen auffordern und auf Leseridentifikation abzielen. Dabei gehen liberale Subjektivität und nationale Identität von zwei ganz unterschiedlichen Ausgangspunkten aus. Mit Habermas (1969) und Dillon (2004) ist die literarische Öffentlichkeit Teil einer Öffentlichkeit, in der sich freie, autonome Subjekte (im Sinne der Freiheit vom Staat) zum Meinungsaustausch, der Grundlage von politischer Partizipation und Freiheit im Staat, treffen, bringt aber – anders als politischen Öffentlichkeit – Privatheit und Subjektivität zur Anschauung. Die Privatsphäre, in der die Freiheit vom Staat angesiedelt ist, kann dadurch öffentlich sichtbar gemacht werden. Liberale Subjektivität und die Inszenierung der Freiheit des Individuums in literarischen Erzähltexten geht von der Privatsphäre aus, die damit aber zugleich öffentlich dargestellt wird und schließlich zur politischen Freiheit befähigen soll (womit sie mit der politischen Öffentlichkeit verbunden ist). Damit wird auch die funktionale Trennung zwischen privater und staatlicher Sphäre öffentlich thematisiert. Der Staat als Akteur tritt in diesen Ansätzen kaum in Erschei-
49 Diese Annahme beruht auch auf den medialen Vermittlungsbedingungen des 19. Jahrhunderts, die sich in ihrer textuellen Form v.a. in Zeitung und Roman als den primären Medien öffentlicher Druckkommunikation materialisierten. Für das 20. Jahrhundert muss der relative Stellenwert von Literatur als Medium zur Verbreitung von Identifikationsangeboten angesichts neuer Medien abnehmen.
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nung50. Im Gegensatz dazu setzt die literarische Konstruktion nationaler Identität nicht beim Individuum, sondern der Gemeinschaft und ihren Gemeinsamkeiten an. Die Inszenierung von geteilter Erinnerung bzw. die Konstruktion derselben stehen im Vordergrund. Privatheit und Individuum sind hier hingegen keine relevanten Kategorien. Erscheinen nun literarische Erzählungen als Medien zur internen Inszenierung sowohl liberaler Subjektivität als auch nationaler Identität, so sind die Erzähltexte selbst je nach Ansatz auf unterschiedliche Weise in die Sphäre der Öffentlichkeit eingebettet. Ist der literarische Erzähltext im Rahmen der Konstruktion nationaler Identität als eine von zahlreichen ‚cultural productions‘ verstanden worden, die gegebenenfalls verändert in offizielle Identitätsentwürfe (an denen v.a. staatliche Akteur/innen beteiligt sind) eingespeist werden und von den Nationsangehörigen rezipiert, verändert und erneut in den idealtypischen Kreislauf der Identitätsbildung einbracht werden, so dient er bei Habermas (1969) und Dillon (2004) der Dar- und Herstellung liberaler Subjektivität, die innerhalb der Sphäre der Öffentlichkeit und des Meinungsaustausches zur politischen Partizipation befähigen soll, womit er sich an der Vermittlung zwischen Privatsphäre und staatlicher Sphäre beteiligt. Als Schnittpunkt der Konstruktion sowohl liberaler Subjektivität als auch nationaler Identität kann damit die textinterne Ebene der literarischen Erzählung betrachtet werden. Auf eben jene konzentriert sich die vorliegende Arbeit. Welche Bedingungen für Öffentlichkeit waren indes im relevanten Untersuchungszeitraum am Río de la Plata vorzufinden?
Ö FFENTLICHKEIT AM R ÍO DE LA P LATA ALS B EDINGUNG FÜR L IBERALISMUS UND N ATION ( ALISMUS ) Dem Aufbau eines unabhängigen Presse- und Vereinswesens wird im Liberalismus große Relevanz zur Herstellung einer unabhängigen Sphäre der Öffentlichkeit, die dem Staat gegenübersteht, beigemessen (Sabato 2001: 1308), da unabhängige Information und die Meinungsbildung freier Individuen die Basis für vernunftbasierte Entscheide bilden, auf denen im Liberalismus politische Legitimität beruht. Vereine bilden neben dem (individuell angelegten) Wahlrecht51 Foren der politischen, kollektiven Partizipation und können so u.a. als Voraussetzung für Freiheit im Staat betrachtet werden. Es wird daher in der Folge zu klären sein, inwieweit von einem unabhängigen Presse- und Vereinswesen sowie von Meinungs-, Presse- und Vereinigungsfreiheit während und nach dem Rosas-Regime in Argentinien gesprochen werden kann, da dies die Zeitspanne ist, in der sich die generación del 37 nicht nur konstituiert, sondern auch einige ihrer zentralen Texte hervorbringt.
50 In der Empirie kann dies anders gelagert sein. Es gilt im Einzelfall zu prüfen, wer die beteiligten Akteur/innen sind.
51 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten sich in Argentinien auch Vereine von Gruppen, die aus dem Wahlrecht ausgeschlossen waren, z.B. Immigranten (González Bernaldo 1999b: 160).
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Printkapitalismus Hatte Anderson (2005) die Konstruktion eines nationalen Raumes mit dem sich im 18. Jahrhundert stark entwickelnden Zeitungswesen in Verbindung gebracht, da durch nationale Berichterstattung (sei es zu lokalen Ereignissen, Hochzeiten, Preisen, etc.) die Entstehung einer auf den Nationalraum bezogenen Identität gefördert worden sei, so wendet Guerra (2003: 5, 6) ein, dass man in Hispanoamerika vor 1808 nicht von einem ausgeprägten Zeitungswesen sprechen könne, da Druckerpressen vor diesem Zeitpunkt in geringer Zahl existierten und auch die Art der Inhalte nicht wie bei Anderson (2005) beschrieben vorgefunden werden könne. Abgedruckt wurde vor allem zu den Bereichen Literatur, Geographie, Wissenschaft und Technologie; die explosionsartige Entwicklung des Druckwesens hingegen sei erst ab der Krise der Monarchie 1808 historisch nachvollziehbar. (Guerra 2003: 5, 6; Halperín Donghi 2003: 34) Auch Acree und González Espitia (2009) halten fest, dass Buenos Aires im Gegensatz zu Mexiko und Lima während der Kolonialzeit kein Druckzentrum darstellte. Beiden Autoren zufolge entwickelte sich am Río de la Plata in der Zeit zwischen 1810 und 1830 eine Art Printrevolution. (Acree/González Espitia 2009: 2) Michael Riekenberg (1995: 18) setzt den Beginn des Zeitungswesens am Río de la Plata mit El Telégrafo Mercantil (1801-1802), also bereits einige Jahre vor der Unabhängigkeitsbewegung, an. Und Davies et al. (2006: 11) meinen, dass die Presse in den Unabhängigkeitskriegen zu einem immer wichtigeren Faktor wurde, während der Druckkapitalismus vor 1810 kein relevanter Erklärungsaspekt für die kreolische Bewegung gegen das Mutterland war. Die erste Druckerpresse im Vizekönigreich Río de la Plata war von den Jesuiten errichtet worden. Doch schon ein Jahr später wurde sie aufgrund der Ausweisung der Jesuiten (1767) stillgelegt. 1779 schließlich kam sie auf Betreiben des Vizekönigs Juan José de Vértiz y Salcedo in Buenos Aires wieder in Verwendung. Im Zuge der Unabhängigkeitsbewegungen sollten Druckerzeugnisse zum ersten Mal eine gewichtige Rolle spielen. Bis 1810 wurden 1200 Publikationen hergestellt, darunter auch Rousseaus Contrat Social sowie die erste Zeitung am Río de la Plata. Acree (2009) spricht in diesem Zusammenhang von einer „veritable printing revolution as well as a revolution in forms of communication“ (Acree 2009: 34). Denn zu diesem Zeitpunkt sollte der öffentliche Austausch zwischen den letrados und jenen Bevölkerungsgruppen, die in der sozialen Hierarchie weiter unten standen, z.B. Frauen52, ‚Schwarze‘ und Sklaven zunehmen, auch wenn diese nicht lesen konnten, etwa in Form der patriotischen Feste und öffentlichen Presselesungen in Kirchen, auf öffentlichen Plätzen, in Cafés und den pulperías, einer Mischung aus Lebensmittelgeschäft und Bar. Noch während der Unabhängigkeitskämpfe wurden in mehreren Provinzen Drucker52 Waren Frauen von politischer Partizipation ausgeschlossen, da mit der Gründung von liberalen Republiken eine Trennung zwischen ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ eingeführt wurde, wobei die Frau auf letzteres beschränkt wurde (Davies et al. 2006: 4), so sollte ab Mitte des 19. Jahrhunderts Frauen eine größere Rolle beim Schreiben und Lesen von öffentlichen, schriftlichen Diskursen zukommen, ebenso wie im Bildungsbereich. Allerdings wurde ausgewählt, welche Texte für Frauen und zur Erziehung von Mädchen geeignet seien. (Poblete 2008: 325) Zur Frage nach der Stellung der Frau als Leserin, Autorin und Schriftstellerin in Argentinien zwischen 1830 und 1870 vgl. Batticuore (2005).
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pressen installiert und Zeitungen, Flugblätter und Gedichte gedruckt. Die Presse stand in Buenos Aires rasch unter dem Einfluss der Junta, deren Sprachrohr die Gazeta de Buenos Ayres war, die genau wie El Grito del Sud, ein sich für die Unabhängigkeit einsetzendes Blatt, von Mariano Moreno gegründet wurde. Die Junta trieb die Verbreitung von Nachrichten in Form der Tagespresse stark voran und unterwies Priester, den Kirchgänger/innen das Lesen der Gazeta de Buenos Ayres nahezulegen, ungeachtet von Geschlecht, sozialem Status und Beruf. Militärführer sollten den Soldaten Zeitungsartikel laut vorlesen. Denn, so die Argumentation, alle Bürger/innen sollten sich ihrer Rechte und Pflichten dem Vaterland gegenüber gewahr werden53. Acree (2009) weist darauf hin, dass die öffentliche Lektüre bereits in der Kolonialzeit üblich, allerdings nicht im Ausmaß der Unabhängigkeitsepoche und nicht vergleichbar stark auf politische Inhalt fokussiert war. Zwischen 1810 und 1820 gab es bereits über 40 verschiedene Zeitungen. Bis zur ersten Amtszeit von Rosas 1829 wurden mehr als 200, meist kurzlebige, Zeitungen gegründet. (Acree 2009: 32-34, 36, 37, 40, 41) Die Zeitung sollte auch zu einem Forum werden, in dem über Verfassungsentwürfe debattiert wurde, so insbesondere in El Censor, La Crónica Argentina (18161817), El Independiente (1860-1820) und in der bereits erwähnten Gazeta de Buenos Ayres (1810-1821). (Goldman 2007: s.p.) Nicht unerwähnt bleiben soll, dass sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zudem eine prensa negra54 herausbildete, die zahlreiche Zeitungen hervorbrachte, u.a. La Igualdad, El Tambo oder La Broma. (Quijada 2000: 385) Die den zitierten Autoren zufolge als gering einzuschätzende Rolle von Druckerzeugnissen bei der Konstruktion eines nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls vor 1808 soll nicht über die Bedeutung der Presse bei der Nationenbildung im Laufe des 19. Jahrhunderts hinwegtäuschen. So meint Poblete (2008): „[...] the gradual reorientation of newspapers from their early exclusively upper-class, male readerships to their later hybrid combination of discourses appealing to different readers through multiple discursive format and tones is, perhaps, one the [sic] great cultural transformations of life in the continent during that century [das 19. Jahrhundert] and one of the foundational aspects of national imagined communities in the region.“ (Poblete 2008: 321)
Auch Janik (2000) schreibt der Presse eine wichtige Rolle bei der Konstruktion der Nation zu. Er gliedert die Staaten- und Nationenbildung in Hispanoamerika in mehrere Etappen: die Unabhängigkeit von Spanien und Einsetzung einer eigenen Regierung, den Aufbau des modernen Staates, die Etablierung der Republik sowie den Übergang vom Volk zur Gesellschaft. Es ist diese letztgenannte Etappe, die für Janik (2000) eng mit Presse und Literatur in Verbindung steht. Er begreift sie als Prozess der kollektiven Bildung im Geiste der Aufklärungsphilosophie, die zur Herausbildung einer Zivilgesellschaft führte. Der Literat (literato) nahm dabei laut Janik 53 Auch die spanische Monarchie machte sich Druckerzeugnisse zunutze, um gegen die Unabhängigkeitsbewegung anzukämpfen und an die ‚wahren‘ Patrioten zu appellieren (Acree 2009: 38). 54 Quijada (2000: 385) verwendet den Begriff der ‚prensa negra‘, um jene Presseerzeugnisse anzusprechen, die sich vorwiegend an die Bevölkerung afrikanischer Herkunft richteten, etwa im Vorfeld von Wahlen.
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(2000) eine wichtige Position ein und entwickelte ab 1810 eine politische Rolle. Die Presse diente als das Druckmedium schlechthin, mit dem das gedruckte Buch, aufgrund der großen Bandbreite an Themen in der Zeitung, kaum mithalten konnte. Auch literarische Werke erfuhren in der Presse hohe Präsenz. (Janik 2000: s.p.) „De hecho, ya que la prensa era el único medio eficaz para conquistar el espacio público e influir en la opinión pública, fue en los papeles públicos donde confluyeron ‚textualmente‘ las diferentes formas y expresiones del saber cultural. [Anführungszeichen und Kursivierung im Original]“ (Janik 2000: s.p.)
Dass Zeitung und Roman zur Vorstellung von Gemeinschaft und dem Entstehen eines nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls maßgeblich beigetragen haben55, ist in der Forschung zu Hispanoamerika zum Konsens geworden. Wie Culler (2007: 55) einwendet, sollte darüber jedoch nicht vergessen werden, dass es für den jeweiligen Zeitabschnitt äußerst schwer zu belegen ist, dass das tägliche Lesen derselben Nachrichten innerhalb der Lesergemeinschaft ein Gefühl der Verbundenheit hervorrief und dieses darüber hinaus mit der Nation verknüpft wurde. Für das Gebiet des Río de la Plata lässt sich zusammenfassend festhalten, dass das Druckwesen vor 1810 eine unbedeutende Rolle spielte und daher die Bedingungen für die Konstruktion eines nationalen Zusammengehörigkeitsgefühl über Zeitung und Roman fehlten. Ab spätestens 1830 waren die Rahmenbedingungen dafür erfüllt. Wie aber gestaltete sich die Entstehung einer liberalen Öffentlichkeit am Río de la Plata? Soziabilität und Öffentlichkeit Wie erwähnt begann sich laut Acree (2009: 34) mit der Printrevolution eine öffentliche Sphäre56 am Río de la Plata auszubilden. Die Prinzipien der Meinungs- und Pressefreiheit, die als Voraussetzungen dafür gelten, waren nach der Mairevolution bereits festgeschrieben worden (Janik 2000: s.p.). Der im 19. Jahrhundert für Öffentlichkeit am meisten gebrauchte Begriff57 ‚Soziabilität‘58 wurde in der ersten Hälfte 55 Zur Bedeutung von Bildern und darstellender Kunst für die Konstruktion der argentinischen Nation und ihrer Vorstellung vgl. Giordano (2009) und Guerra (2003: 7-9).
56 Was unter öffentlicher Sphäre verstanden wird, variiert jedoch zum Teil erheblich. Bei Poblete (2008) ist die Zivilgesellschaft als Bereich zwischen privater Sphäre und dem Staat angelegt. Zu ihr zählt er freiwillige Vereine, politische Parteien, Handelsunionen, Kulturund Bildungseinrichtungen, etc. Sie ist von der öffentlichen Sphäre nach Habermas zu unterscheiden, die einen Bereich bezeichnet, in dem Bürger frei von staatlicher Kontrolle zum freien Meinungsaustausch zusammentreten. Poblete (2008) versteht nun unter Soziabilität eine Alternative zu den genannten Konzepten, in der beides eingeschlossen wird und die den Austausch und die Beziehungen zwischen Staat und Privatsphäre in den Blick nimmt. Relevant sind dann sowohl Druckerzeugnisse als auch staatliche Bildungspolitik, freie Vereine genauso wie tertulias und Zusammenkünfte in Cafés. (Poblete 2008: 316, 317) Bei González Bernaldo de Quirós (1999a: 21) hingegen ist mit Soziabilität vorwiegend das Vereinswesen gemeint. 57 Dies trifft auch auf die generación del 37 zu. So hat z.B. Juan Bautista Alberdi einen mit sociabilidad betitelten Artikel verfasst (Poblete 2000: 13).
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des 19. Jahrhunderts häufig in der Bedeutung von Nationalität verwendet, worin sich die Zielsetzung der Bildung von Öffentlichkeit – die Konstruktion der Nation, hier aber noch im Sinne der civic nation – bereits ausdrücke, so González Bernaldo de Quirós (1999a: 23). Das bevorzugte Mittel dafür war jenes der Zivilpädagogik, die die Bürger/innen zur politischen Partizipation befähigen sollte (González Bernaldo de Quirós 1999a: 24). González Bernaldo de Quirós (1999a), die das Vereinswesen der Stadt Buenos Aires im 19. Jahrhundert eingehend untersucht hat, kommt trotz der früh einsetzenden Bemühungen zum Aufbau einer öffentlichen Sphäre zu dem Schluss, dass Buenos Aires in den 1820er Jahren in seiner Kommunikationsstruktur eher einem großen Dorf glich, in dem persönliche Kontakte dominierten. Den intensivsten Austausch gab es im Bereich der Nachbarschaft, die durch die Kirchengemeinde (parroquia) strukturiert war. Ein weiterer Treffpunkt, der für den sozialen Austausch äußerst wichtig war, waren die pulperías, die in Buenos Aires schon seit Beginn des 17. Jahrhunderts existierten und eine hohe Dichte in der Stadt aufwiesen. Während der Unabhängigkeitsbewegung dienten sie als Orte, an denen ‚Patrioten‘ für die Kämpfe rekrutiert wurden. Cafés gab es in Buenos Aires ab 1764. Sie waren Formen des öffentlichen Austausches für Männer und existierten parallel zu den in Privathäusern stattfindenden tertulias, an denen eher Frauen teilnahmen. (González Bernaldo de Quirós 1999a: 44, 53, 55, 62-64) Ab 1852 etablierte sich laut González Bernaldo de Quirós (1999a: 65) eine moderne politische Struktur, deren Fundament die Institutionen des öffentlichen Diskurses waren. Waren die Cafés unter Rosas noch literarisch geprägt, so sollten sie später politischen Charakter haben und zur Herausbildung politischer Parteien beitragen. Das Publikum in den Cafés war jung, gut gebildet und Teil der kulturellen Elite. Im Gegensatz zur pulpería bildete sich ihr Publikum nicht spontan, es war weniger sozial durchmischt und kaum durch die Struktur der Nachbarschaft geprägt. (González Bernaldo de Quirós 1999a: 65, 66) Im Gegensatz dazu meint Miller (2007), dass sich die von Habermas gezeichnete Entwicklung der öffentlichen Sphäre ausgehend von der literarischen Öffentlichkeit für das 19. Jahrhundert in Hispanoamerika nicht anwenden lasse. Ein erster Raum für politische Diskussion wurde bereits ab 1808 geschaffen, ohne dass ihm eine öffentliche, literarische Sphäre vorausgegangen wäre. Miller (2007) sieht im Charakteristikum Hispanoamerikas, dass sich beide Sphären gemeinsam entwickelt haben, eine möglichen Grund dafür, weshalb die Figur des Schriftsteller-Politikers so prägend wurde. Eine eigene literarische Öffentlichkeit entwickelte sich ihrer Einschätzung nach erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. (Miller 2007: s.p.) Was die Bildung von Vereinen betrifft, so setzt diese bereits in der Kolonialzeit ein. Diese frühen Vereine sind allerdings weniger politisch als religiös geprägt (González Bernaldo de Quirós 1999a: 70). Die bereits im 18. Jahrhundert entstehenden Sociedades Patrióticas und Sociedades de Amigos del País sollten in der Unabhängigkeitsbewegung eine wichtige Rolle spielen. Für Riekenberg (1995) stellen die Clubs, Logen sowie Patriotischen und Wirtschaftsgesellschaften einen wichtigen Schritt im Übergang „von dem kolonialen, religiös-rituell geprägten System der cof58 Wir wollen mit Poblete (2000: 12, 13) unter Soziabilität sämtliche Formen von Öffentlichkeit verstehen.
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radías [Kursivierung im Original]“ (Riekenberg 1995: 18) hin zur Entstehung einer politischen Öffentlichkeit dar. Unerlässlich war dafür die Herausbildung eines (zunächst städtischen) Lesepublikums (Riekenberg 1995: 18). Freimaurerlogen59 wurden erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts gebildet. In der Regierungszeit von Rivadavia stieg die Zahl der freien Vereine an, wenn es auch bis 1854 dauern sollte, bis die Vereinigungsfreiheit rechtlich garantiert wurde. Bis dahin war die implizite oder explizite Zustimmung der jeweiligen Regierung erforderlich. (González Bernaldo de Quirós 1999a: 72, 76) Wie gestalteten sich nun öffentliche Meinung und Öffentlichkeit während der Regierungszeit von Rosas? Die 1822 garantierte Pressefreiheit, die 1828 bereits eingeschränkt worden war, wurde unter Rosas gänzlich abgeschafft. Per Dekret wurde 1832 festgelegt, dass Drucker und Herausgeber zunächst um Freigabe ansuchen mussten. Diese Regelung sollte bis 1852 aufrecht bleiben, als das Gesetz von 1828 wiederhergestellt wurde. Zwischen 1839 und 1846 kam das Zeitungswesen praktisch zum Erliegen. Nur vier Zeitungen, die der vollständigen Kontrolle durch das Regime unterlagen, kamen in den Druck. Mithilfe derselben wurde die öffentliche Meinung zum Propagandainstrument. Halperín Donghi (2003: 47) stellt fest, dass sich das spanischsprachige Pressewesen unter Rosas zu Propagandazwecken auf eine Zeitung, La Gaceta Mercantil, konzentrierte, die in der Farbe des Regimes – in rot – abgedruckt wurde. Ab 1847 ist eine leichte Öffnung des Regimes zu bemerken, die sich auch in der Zahl der Publikationen niederschlägt, darunter studentische Literaturzeitschriften. In den letzten fünf Jahren des Regimes konnten sogar einige Mitglieder der ins Exil geflohenen kulturellen Elite wieder nach Argentinien zurückkehren. (González Bernaldo de Quirós 1999a: 124, 164-166) Es wäre verfehlt, davon zu sprechen, dass das Vereinswesen während der Regierungszeit von Rosas zum Erliegen gekommen wäre. Denn die Zahl der Vereine nahm nicht ab, sondern sogar zu. Es lässt sich beobachten, dass v.a. die afrikanischen und sozioökomischen Gesellschaften einen Anstieg verzeichneten. In den Jahren 1838 und 1839 sollte es zu einer politischen Polarisierung der Vereine zwischen den regierungsfreundlich eingestellten afrikanischen Gesellschaften60 und den zunehmend im Geheimen stattfindenden kulturellen und politischen Gesellschaften, die sich gegen Rosas formierten, kommen. (González Bernaldo de Quirós 1999a: 77) Der Salón Li59 Die erste Freimaurerloge wurde von Einwanderern gegründet und es sollte einige Zeit dauern, bis Argentinier Mitglieder wurden. Nach Ende des Rosas-Regimes zählte sie bereits 924 Freimaurer. (González Bernaldo de Quirós 1999a: 209, 212, 214) 60 Die afrikanischen Gesellschaften waren zwischen 1829 und 1862 wohl jene Formen, die das Gemeinschaftsleben in Buenos Aires am stärksten am Modell des Vereins ausrichteten und damit die am meisten entwickelten Vereine in Buenos Aires. Bis 1850 waren etwa 30% der Bevölkerung von Buenos Aires ‚Schwarze‘. Die afrikanischen Gesellschaften entstanden unter der liberalen Regierung von Rivadavia. Rosas förderte und schützte diese und versicherte sich so ihrer Unterstützung. Sie sollten sich etwa in der Phase zwischen der ersten und zweiten Regierungszeit Rosas’ sowie während der kritischen Momente des Regimes für Rosas und die Föderation einsetzen. Mit der effektiven Abschaffung der Sklaverei im Jahre 1860 lösten sich die afrikanischen Gesellschaften nach und nach auf. Die Freilassung war eines der Hauptanliegen dieser Form des Vereins. (González Bernaldo de Quirós 1999a: 96, 97, 101, 106, 108, 109, 158, 161)
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terario de Marcos Sastre ist eines der berühmtesten Beispiele für einen Verein, der aus dem Privatbereich entstanden ist, sich zum literarischen Salon institutionalisierte und sich schließlich politisch engagierte. Er war auf Initiative von Marcos Sastre im Juni 1837 als der einzige literarische Salon in der Zeit zwischen 1829 und 1862 gegründet worden und zählte etwa 500 Mitglieder. Der salón war eine Institution der kulturellen Elite und wies auch einen hohen studentischen Anteil auf. Nicht zuletzt um diesen Zugang zu teuren Büchern zu ermöglichen, fanden im Rahmen des Vereins öffentliche Lesungen, gefolgt von der Diskussion literarischer Werke statt. Es wurden aber auch Presseartikel besprochen und Publikationen aus dem Kreis des Salons hervorgebracht. González Bernaldo de Quirós (1999a: 128) fand heraus, dass zwischen 1829 und 1840 von 50 Journalisten 17 Mitglieder des Salón Literario waren. Da der Salon im Gegensatz zu anderen Vereinen nicht aus staatlicher, sondern privater Initiative entstand, ordnet González Bernaldo de Quirós (1999a: 92) diese Vereine einer neuen öffentlichen Sphäre, der autonomen literarischen Öffentlichkeit, zu. (González Bernaldo de Quirós 1999a: 86, 90-92) Der Aufschwung des Vereinslebens endete mit der Verschwörung gegen Rosas 1839. Das öffentliche Leben veränderte sich ebenfalls: Die Studentenschaft traf sich nicht länger in Cafés und in Vereinen, sondern kehrte zur älteren Praxis des Zusammentreffens im Privatraum zurück, v.a. zu den tertulias. Im öffentlichen Raum waren dagegen populäre Bevölkerungsgruppen und traditionelle Gemeinschaften präsenter. Die soziokulturellen Vereinsformen und Logen, die zunehmend im Geheimen zusammentraten, waren Rosas, wie alles, was gegen die Gemeinschaft und die Religion gerichtet war, ein Dorn im Auge, weshalb er gegen alle ‚verschwörerischen‘ Gruppen und als inmundos unitarios bezeichneten Feinde der Santa Causa de la Federación vorging. Damit waren bei Weitem nicht nur die Unitarier und die Liberalen um Rivadavia, von denen ab 1835 viele ins Exil fliehen mussten (Ortemberg 2004: 706), sondern auch Freimaurer, andere Regimegegner und Spanier gemeint. Hatte die junge Generation, die sich im Salón Literario versammelte, anfangs noch versucht Rosas’ Sympathie zu gewinnen, so richtete sie ab 1838 ihre politische Tätigkeit auf das Ziel eines gesellschaftlichen Neuaufbaus aus. Zu diesem Zwecke vereinten sich am 23. Juni 1838 35 Mitglieder des Salón Literario zu einem neuen Verein mit Esteban Echeverría als Präsidenten und Juan María Gutiérrez als Vizepräsidenten. Der Verein gab sich den Namen Joven Argentina. Viele der Mitglieder mussten ins Exil nach Montevideo fliehen, wo sie Kontakte zu den exilierten Unitariern herstellten. Nach dem gescheiterten Versuch Lavalles, Rosas zu stürzen, an dem sich der Verein beteiligte, blieb auch den restlichen Mitgliedern nur der Weg ins Exil. (González Bernaldo de Quirós 1999a: 146148, 152-154) Im Zeitraum zwischen 1838 und 1842, der auch als Epoche des Terrors bezeichnet wurde, erreichte die Jagd auf Andersdenkende und die Kontrolle des öffentlichen Lebens im Regime Rosas’ ihren Höhepunkt. Selbst für tertulias, die nachts im Familienkreis stattfinden sollten, musste eine polizeiliche Genehmigung vorgewiesen werden; auch Cafés und pulperías standen unter Überwachung. (González Bernaldo de Quirós 1999a: 157, 158, 163) Zum Zwecke der Einschüchterung von Oppositionellen wurde die Sociedad Popular Restauradora gegründet, deren Mitglieder sich täglich versammelten und mueran los enemigos de Rosas schreiend durch die Straßen von Buenos Aires liefen. Die Mashorca, als Teil der Sociedad, war eine parapolizeiliche Organisation, die Oppositionelle verfolgte, während die Sociedad insgesamt der
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Verbreitung der ‚föderalen Meinung‘ diente. Obwohl sie ein Stützpfeiler eines autoritären, mit absoluter Macht ausgestatteten Systems war, schmückte sie sich paradoxerweise mit den Symbolen der Französischen Revolution und des Republikanismus, etwa der phrygischen Mütze, die sogar in die Flagge aufgenommen wurde oder der Farbe Rot, die die Föderation symbolisch mit dem Republikanismus verbinden sollte (Ortemberg 2004: 708). Zu den Symbolen des Regimes zählte auch das per Dekret (1832) verordnete Tragen eines roten Bandes (divisa punzó) auf der linken Seite der Brust als Zeichen der Verbundenheit mit der Föderation. Galt diese Verordnung zunächst nur für zivile und kirchliche Funktionäre, so war sie ab ca. 1845 Pflicht für alle und trug die Aufschrift Federación o Muerte. (González Bernaldo de Quirós 1999a: 170, 171) Ab 1842 sollte das Motto ¡Viva la Confederación Argentina! ¡Mueran los salvajes unitarios! lauten. (Rosenblat 1964: 70, 71) Ähnliche Aufrufe gegen politische Gegner waren jedoch schon vor dem Machtantritt Rosas’ üblich. In den 1820er Jahren stellten die einzelnen Gruppierungen bei Wahlen ihre Zugehörigkeit symbolisch zur Schau: Die Unitarier trugen Frack und Gehrock, während die Parole der Föderalen „‚Vivan los federales! ¡Mueran los del frac y la levita!‘ [Anführungszeichen im Original]“ (Ternavasio 1999: 124) lautete. (Ternavasio 1999: 124) González Bernaldo de Quirós (1999a: 164) meint, dass sich unter dem Deckmantel der Föderation eine Kontinuität der Tradition und der Monarchie mit Rosas als Ersatz für den König erkennen lasse. (González Bernaldo de Quirós 1999a: 162, 163, 172) Auch Ortemberg (2004: 707) macht darauf aufmerksam, dass im Rahmen der fiestas mayas von 1840 zum Gedenken der Mairevolution von einer Omnipräsenz und Verehrung Rosas’ gesprochen werden kann, deren Inszenierung die traditionelle Treue zwischen Vasall und König imitierte. Rosas nahm für sich die Rolle des Beschützers der Freiheit in Anspruch, etwa 1841 in Verbindung mit der Abschaffung der Sklaverei (1839), die er selbst 1831 wieder eingeführt hatte (Ortemberg 2004: 708, 709). Die Verwendung republikanischer Symbole sowie die scheinbare Aufrechterhaltung der repräsentativen Institutionen bei gleichzeitiger Bezugnahme auf traditionelle Werte und die Monarchie im Rahmen eines diktatorischen Regimes erklärt Ortemberg (2004) damit, dass Rosas sich durch diesen Schein von Legitimität der internationalen Anerkennung versichern konnte (Ortemberg 2004: 717). Nach dem Ende des Regimes unter Rosas ist ein Rückgang der mit dem rosismo in Verbindung gebrachten pulperías zu beobachten. Die Cafés erfuhren einen neuen Aufschwung, waren nun aber eher Veranstaltungsort (etwa für Konzerte) als Forum der öffentlichen Meinung. Man könnte sagen, dass das Café die pulpería als Ort der populären Soziabilität ersetzte. Es setzte ein rasanter Anstieg der Vereine ein, der auch vonseiten der liberalen Regierung gefördert wurde. Auch die Pressefreiheit wurde wiedereingeführt. Es entwickelten sich zunehmend populäre Vereine neben den afrikanischen Gesellschaften sowie Wohltätigkeits- und Hilfsorganisationen. Insgesamt entstand, nicht zuletzt durch die Wiedereinführung freier Wahlen, ein Raum der Öffentlichkeit, der zwischen Privatraum und Staat angelegt war und zum Aufbau eines repräsentativen Systems beitrug. Als neue Form der Soziabilität sind hier die clubes electorales zu erwähnen, die zur Organisation von Wahlkampagnen gegründet wurden (González Bernaldo 1999b: 143). Sie trugen laut González Bernaldo (1999b: 143) entscheidend zur Vermittlung zwischen den repräsentativen Insti-
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tutionen und der Gesellschaft61 bei. Die Repräsentanten selbst, von denen zwischen 1828 und 1852 12% Mitglied eines Vereins waren, kamen nun zu 72% aus dem Umfeld der Vereine62. (González Bernaldo de Quirós 1999a: 194, 197, 198, 202, 203, 252, 257) Diese neuen Formen der Soziabilität trugen zur Neubestimmung des Individuums bei und waren ein wichtiger Faktor für das praktische Gelingen des repräsentativen Systems. Denn in den Vereinen traten Einzelne nicht aufgrund verwandtschaftlicher Beziehungen oder der Zugehörigkeit zu einer Provinz zusammen. Die Idee des Vereins ist die der Versammlung freier Individuen aufgrund ihres gleichberechtigten Anspruchs auf politische Partizipation, nicht aufgrund bestimmter Identitätsmerkmale. Die Diskussion, Aushandlung unterschiedlicher Interessen und öffentliche Meinungsbildung nach dem Vernunftprinzip im Verein erlaubte die Bündelung der Einzelinteressen und verhalf dieser zur Einbringung ins politische System, besonders, da in Argentinien nach 1852 ein Großteil der Abgeordneten Mitglieder von Vereinen waren. Selbst, wenn sich die Frage stellt, wessen Meinung den Weg ins Repräsentantenhaus schafft – bei den Mitgliedern von Vereinen handelt es sich abgesehen von den afrikanischen Gesellschaften meist um Vertreter der kulturellen und politischen Elite63 – so trug diese Form der Soziabilität zum Wandel der Öffentlichkeitsstruktur bei. Insofern können die neuen Formen der Soziabilität als Beitrag zur Herausbildung einer neuen Vorstellung von Gesellschaft – einer politischen Gemeinschaft, die sich aus freien, gleichen Individuen (den Staatsbürgern) zusammensetzt – betrachtet werden. (Vgl. Ortemberg 2004: 700, 701) Dies soll aber nicht bedeuten, dass die moderne Soziabilität traditionelle Formen des Soziallebens (etwa religiöse Feste und Riten, cofradías, etc.) verdrängt hätte. Vielmehr handelt es sich im hispanoamerikanischen 19. Jahrhundert um eine Koexistenz traditioneller und moderner Formen der Öffentlichkeit, die sich bisweilen auch miteinander vermischten. (Sabato 2001: 1305, 1306) Zudem ist es schwierig zu bewerten, inwieweit das moderne Presse- und Vereinswesen nach 1852 in Argentinien tatsächlich von einer autonomen Sphäre der Öffent-
61 Erleichtert wurde dies mit der Verordnung von 1857, die vorsah, dass die Einzugsgebiete der clubes electorales den parroquias entsprechen sollten. Dadurch konnte an eine traditionelle, bereits bestehende Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens angeknüpft werden. Es gab aber auch clubes electorales, die nicht an die von traditionellen Autoritäten geprägte Struktur der parroquia anschlossen. (González Bernaldo 1999: 144, 145, 148, 149) 62 Entgegen der Annahme der privilegierten Position der Freimaurer unter jenen Vereinen, die für Abgeordnete von Interesse waren, zeigt González Bernaldo de Quirós (1999a: 257), dass der Großteil der Abgeordneten Mitglied anderer Vereine war. Den Freimaurerlogen kam jedoch große Bedeutung bei der Abschaffung des auf Verwandtschaftsbeziehungen basierenden politischen Systems zu. Auch für die Nationenbildung sollte sie eine wichtige Rolle spielen, da sich ihr Wertesystem gut mit jenem der liberalen Konstrukteure der Nation verbinden ließ. (González Bernaldo de Quirós 1999a: 297) 63 Sabato (2001: 1310) stellt fest, dass Frauen, wie alle ‚abhängigen‘ Personen (Sklaven, Dienstboten, etc.) zwar aus dem öffentlichen Leben weitgehend ausgeschlossen waren, sie aber dennoch eigene (wenige) Vereine und Zeitungen gründen konnten. ‚Schwarze‘ waren häufig Mitglieder von Vereinen, abhängig von ihrem sozialen Status. Indigene, die zudem meist fernab von städtischen Zentren lebten, waren hingen selten Teil von Vereinen.
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lichkeit zeugt oder vom Staat vorangetrieben und beeinflusst wurde. (Sabato 2001: 1309) Schulbildung und Alphabetisierung – Schriftlichkeit und Mündlichkeit Die Bedeutung, die Zeitung und Roman, oder etwas allgemeiner Presse und Literatur, beim nation-building zukommt, ist nicht nur im Entstehen von Öffentlichkeit und eines breiteren Lesepublikums, das gemeinsam (‚nationale‘) Inhalte produziert und rezipiert, d.h. in der Sphäre der Öffentlichkeit im liberalen Sinne, zu suchen, sondern auch beim Staat selbst, wenn er es sich zum Ziel setzt, Bürger/innen zu Lesern zu machen, wie dies Poblete (2008: 309) formuliert. Dadurch rückt im Bereich der staatlichen Sphäre und ihrem Verhältnis zur öffentlichen Meinung nicht nur die Herausgabe offizieller Zeitungen, sondern auch die Bildungspolitik ins Zentrum des Interesses (Gründung öffentlicher Bibliotheken, Schulbücher, Pflichtlektüre, etc.) (Poblete 2008: 310). Zur Etablierung bzw. Ausweitung einer neuen Öffentlichkeit wurden im Zuge der Mairevolution öffentliche Bibliotheken gegründet, von denen die Biblioteca Pública de Buenos Aires (1812) – die heutige Biblioteca Nacional – die erste war (Acree 2009: 41, 42). Die Universität von Buenos Aires wurde 1821 von Rivadavia gegründet. Sie wurde zu einer wichtigen Akteurin der literarischen und politischen Öffentlichkeit. (González Bernaldo de Quirós 1999a: 83) Der Ausbau des öffentlichen Schulwesens sollte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im Sinne der Regenerierung der Gesellschaft und der Bildung nationaler Subjekte, die sich durch Schulbildung ihrer Sprache und der Geschichte und Bedeutung ihrer Nation gewahr werden, erfolgen. Der Staat übernahm hierbei eine aktive Rolle, nicht nur bei der Gründung von Schulen, sondern auch, was Lehrinhalte betrifft. (Poblete 2008: 327) Mit den Reformen im Bildungssystem wuchs auch die Alphabetisierungsrate: Bis in die 1870er Jahre war die Analphabetenrate noch sehr hoch (Acree/González Espitia 2009: 2), wenn auch vergleichbar mit europäischen Ländern wie Portugal, das eine Analphabetenquote von 76% aufwies (Wink 2009: 25, Fußnote 42). Dies sollte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts ändern, als Argentinien im Vergleich mit anderen Ländern Hispanoamerikas eine hohe Alphabetisierungsrate vorweisen konnte: Von 22% im Jahre 1869 stieg sie auf 65% im Jahre 1914. (Martínez Díaz 1998: 368) Im städtischen Umfeld waren die Alphabetisierungszahlen höher: So waren in Buenos Aires schon 1887 57% der Frauen und 64% der Männer unterschiedlichen Alters alphabetisiert. Die Zahl der Zeitungen war im Stadtgebiet so hoch, dass auf vier Einwohner Buenos Aires’ eine Zeitung kam. (Sabato 2001: 1308) Dies bedeutet jedoch nicht, dass jene, die nicht lesen konnten, vom Nachrichtenwesen ausgeschlossen gewesen wären. Während des gesamten 19. Jahrhunderts kam der Mündlichkeit in Presse und Literatur ein hoher Stellenwert zu. Das Vorlesen im Privatbereich, aber auch öffentliche Lesungen, waren weit verbreitet. In den 1830er Jahren begann sich die öffentliche Meinung von einem begrenzten Kreis der städtischen Gesellschaft hin zu anderen Bevölkerungsgruppen zu erweitern. Die populäre Presse spielte dabei eine große Rolle. Auch hier gilt, dass sie kaum still gelesen, sondern vielmehr an öffentlichen Plätzen laut vorgelesen, teils auch in Versen gesungen wurde, etwa an den Märkten oder in den pulperías. (González Bernaldo de Quirós 1999a: 131, 133)
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L IBERALISMUS , N ATION ( ALISMUS ) UND R OMAN In der Forschungsliteratur wird betont, dass der Roman sowohl als Gattung im literarischen nation-building als auch in der Konstruktion liberaler Subjektivität besonders hohe Relevanz innerhalb der Erzählliteratur erfährt. In diesem Zusammenhang wird oft thematisiert, dass im 18. und 19. Jahrhundert eine umfangreiche Romanproduktion zu verzeichnen ist, aber erst die Romantik64 eine Aufwertung der zuvor oft gering geschätzten65 Gattung brachte (Steinecke 2006: 350), also die Beliebtheit der Gattung als Erklärung vorgebracht. Mit Bezug auf Siegfried J. Schmidt hebt auch Reinfandt (1997: 8) hervor, dass sich der Roman ab dem 18. Jahrhundert zu einer zentralen, repräsentativen Gattung im Literatursystem entwickelte. Dem neuzeitlichen Roman wurde generell eine besondere Stellung zwischen Fiktion und Realität attestiert. Gemeinsam mit seiner Außenseiterstellung im Gattungssystem bis ins 18./19. Jahrhundert wurde er als formlose Gattung beschrieben, die zwischen Literatur und Realität angesiedelt ist und eine starke Verbundenheit mit nicht-literarischen Diskursen und dem Alltäglichen aufweist, die durch seine ‚Formlosigkeit‘ und Offenheit erst ermöglicht wird. Die Unterscheidbarkeit zwischen Realität und Fiktion sei dadurch immer zugleich auch Teil der Auseinandersetzung im Roman gewesen. (Reinfandt 1997: 10-12, 38) Der Roman galt v.a. in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zudem als kulturelles Produkt zivilisierter Nationen und wurde von den romantischen Schriftsteller/innen als höchster Ausdruck von Kultur verstanden. Amy E. Wright (2009) spricht von einer symbiotischen Beziehung zwischen Roman und Nation: Einerseits bringt u.a. der Roman die Nation hervor, andererseits gilt der Roman als kultureller Ausdruck der Nation. Wollte man ein möglichst großes Lesepublikum erreichen, so eignete sich der Roman aufgrund seiner Beliebtheit (auch bei den Leser/innen) zur Verbreitung nationaler Ideen. Wright (2009) macht darauf aufmerksam, dass der Fortsetzungsroman den Großteil fiktionaler Erzählliteratur zwischen 1840 und 1870 in Mexiko bildet. (Wright 2009: 59-61) Der moderne Roman wird zudem als spezifisch bürgerliche Gattung angesehen, weil er sich unter den geänderten Bedingungen der nun bürgerlichen Gesellschaft ausbildet. Er wird aus der Sicht Walter Benjamins als Weiterführung des mündlichen Erzählens in veränderter Form betrachtet. (Reinfandt 1997: 12) „Der Roman ist also ein sich unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft etablierendes Medium der menschlichen Wirklichkeitsaneignung, das die Funktionen des mündlichen Erzählens übernehmen soll, sich dabei aber durch die Einsamkeit des Individuums beim Produktions- und Rezeptionsakt von der älteren Art der Erfahrungsvermittlung unterscheidet, was wiederum Folgen für seine Inhalte und seine Struktur hat.“ (Reinfandt 1997: 12)
64 Die Romantik sah den Roman „als privilegiertes Medium der Vermittlung des romantischen Literaturkonzepts“ (Reinfandt 1997: 126) an, nicht zuletzt aufgrund der Möglichkeit der Selbstreflexion und der Thematisierung von Problemen des Erzählens in dieser Gattung. 65 Als Sonderfall kann hier Spanien mit Cervantes’ Quijote erwähnt werden (Montero Reguera 1993).
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Zugleich ist man in der Forschungsliteratur zu dem Schluss gekommen, dass Liberalismus und Roman in der bürgerlichen Öffentlichkeit ihren gemeinsamen Raum gefunden haben. Die Verbindung von (Liebes-)Roman und Liberalismus betont auch Villena (2006) mit Bezug auf Unzueta: „El romance en Latinoamérica expresa los ideales del liberalismo, de las élites dirigentes de la época y de los intelectuales que formularon el programa liberal para las naciones americanas (Unzueta 1996, 77).“ (Villena 2006: s.p.). Dem Roman komme für das Hervorbringen von Subjektivität und Individuum als Gattung eine zentrale Rolle zu und eben jene Vorstellung des Individuums sei auch ein wichtiger Bestandteil des Nationenkonzepts. „Perhaps like no other genre, novels combine in their representations diverse social groups, […] and, after the romantic revolution, the public and the private, actions and feelings. Their role in the constitution of subjectivities and the individual cannot be underestimated; and the individual, as François-Xavier Guerra notes, is at the core of modern nations.“ (Unzueta 2003: 149)
In der Diskussion des erörterten Zusammenhangs von Liberalismus, Nation(alismus) und Literatur ist der Roman als Gattung betrachtet worden, die in der literarischen Drucköffentlichkeit eine Vorstellung von liberaler Subjektivität hervorzubringen vermag. Bei Habermas (1969) ist es zunächst der Brief, der Einblick in das Innerste des Subjektes erlaubt, zugleich aber bereits im Hinblick auf eine über den Adressaten/die Adressatin hinausgehende Leserschaft verfasst ist. Im Briefroman und im bürgerlichen Roman wird die Inszenierung von Privatheit und liberaler Subjektivität im Hinblick auf die Öffentlichkeit (die Leserschaft) weitergeführt. Das gedruckte Wort macht die inszenierte private, liberale Vorstellung von Subjektivität bereits zu einer öffentlichen. Insofern werden im Roman Privatheit und Publizität vereint66. Reinfandt (1997) formuliert dies folgendermaßen: „In ihrer eigentümlichen Zwischenstellung zwischen privatem und öffentlichem Bereich erlaubt die Literatur eine öffentliche Institutionalisierung privater Erfahrung in ihrer vollen Individualität, ohne daß darum das komplexe Gefüge der für das ‚Funktionieren‘ der Gesamtgesellschaft notwendigen Subsysteme, die größtenteils öffentlich sind, destabilisiert würde. […] Auf diese Weise erscheint die Literatur als wichtige Vermittlungs- und Reflexionsinstanz zwischen dem für die Bildung des Individuums zentralen Privatbereich, der aus dem öffentlichen Leben weitgehend ausgeklammert wird, einerseits und dem vom Individuum Unterordnung unter die Notwendigkeiten des jeweiligen Subsystems fordernden öffentlichen Bereich andererseits. [Anführungszeichen im Original]“ (Reinfandt 1997: 40)
Wright (2009) kann in ihrer Untersuchung mexikanischer Fortsetzungsromane des 19. Jahrhunderts deren Funktion im nation-building in „the cultivation of a subject’s willingness or desire to form part of a nation“ (Wright 2009: 72) erkennen. Zugleich 66 Warner (1990) gibt zu bedenken, dass die Literatur meist als ein von der öffentlichen Sphäre abgekoppelter Bereich, der eine spezielle Form privater Subjektivität hervorbringt, verstanden wird. Er kommt jedoch in seiner Untersuchung US-amerikanischer Romane aus dem 18. Jahrhundert zu dem Schluss, dass diese eher den Prinzipien der republikanischen Sphäre der Öffentlichkeit als einer liberalen Ästhetik folgen. (Warner 1990: 151, 152)
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wirke sich der Roman auf die Vorstellung des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft aus: „This creative, imaginative component of the nation [das Erzeugen des Wunsches nach Zugehörigkeit zur Nation durch den Roman] goes beyond the establishment of territory and government, and requires a willingness on the part of diverse individuals to sacrifice their own needs for those of the group.“ (Wright 2009: 72)
Neben der literaturgeschichtlichen Erklärung, dem Verweis auf die Beliebtheit der Gattung und der Inszenierung von Liberalismus und Nation wird häufig angeführt, dass der Roman im 19. Jahrhundert vorzugsweise als Fortsetzungsroman in Zeitungen vorabgedruckt wurde, was wiederum im Hinblick auf seine Reichweite relevant ist. Wright (2009: 61) bezeichnet ihn darüber hinaus als Hybrid zwischen Literatur und Journalismus, ein Gedanke, der sich bei Anderson (2005) bereits ankündigt, wenn er die Zeitung als ‚fiktional‘ bezeichnet. Gemäß Kapitel ‚Nation – Identität – Erzählung‘ bevorzuge ich demgegenüber eine Differenzierung zwischen faktualer und fiktionaler Erzählung67, die mit den Spezifika der einzelnen Arten der Erzählung in Zusammenhang steht und nicht allein auf dem Medium ihrer Verbreitung basiert, wenn auch die Publikation der Romane in Zeitungen ein wichtiger Faktor für den Umfang des Rezipientenkreises (und damit der erreichbaren Individuen und Nationsmitglieder) ist. Dass sich am fiktionalen Charakter der Erzählung dadurch nichts ändert und trotz der engen Verbindung der Medien Roman und Zeitung im 19. Jahrhundert gattungsmäßig zwischen ihnen differenziert werden kann, meint auch González (2006): „Quiero decir con esto que durante un período histórico determinado sí hay diferencias entre la ficción narrativa y el periodismo, aunque estas están determinadas por los convencionalismos de la época y por las etapas anteriores del intercambio de semejanzas y diferencias. [Kursivierung im Original]“ (González 2006: 229)
Diese von González (2006) angesprochenen Differenzen decken sich mit den angeführten Charakteristika der fiktionalen Erzählung im Unterschied zur faktualen: „Más aún, al hablar del discurso periodístico, Anderson se apresura demasiado en proclamar su naturaleza ficcional […], dejando de lado la problemática de la ‚verdad‘ empírica sobre la cual el periodismo a menudo funda sus reclamos de diferencia con respecto a la ficción narrativa. [Anführungszeichen im Original]“ (González 2006: 231)
Mit Neil Larsen (2001) muss nach unterschiedlichen Formen der Erzählung und ihren Charakteristika gefragt werden, um eine Antwort auf die Frage zu erhalten, warum gerade der Roman als literarische Gattung für die Konstruktion liberaler und nationaler Identität hervorgehoben wird: „Are there particular narrative genres or sub67 Auch wenn die ‚foundational fictions‘ von Sommer (1991) und die ‚guiding fictions‘ von Shumway (1991) in der Forschungsliteratur zum literarischen nation-building häufig in einem Atemzug genannt werden (vgl. Villena 2006), so wird hier für eine analytische Trennung des Begriffs ‚Fiktion‘ plädiert.
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genres more adequate as the narrative vehicles, or equivalents, of the national?“ (Larsen 2001: 170). Meist wurde diese Frage mit der Allegorie als „narrative vehicle“ beantwortet. Larsen (2001) spricht in diesem Zusammenhang von „allegorizable novels“ bzw. „novelized allegories“ (Larsen 2001: 171). Dieser Ansatz konzentriert sich auf die Plotebene. Was offen bleibt, ist, wie diese Allegorien aufzulösen sind68 und ob es nicht vielmehr formale Charakteristika gibt, die Roman und Allegorie so besonders geeignet für die Konstruktion der Nation machen. (Larsen 2001: 170, 171) Sander (2006: 125) ist der Auffassung, dass sich der Roman von anderen fiktionalen Erzählungen (etwa den epischen Kleinformen) v.a. in seiner Länge69 und Komplexität unterscheidet, die strukturellen Charakteristika aber ähnlich sind70. Er zeige einen „größeren Weltausschnitt“ (Gfrereis 1999: 174) als andere fiktionale Erzählungen und stelle eine Vielzahl an Ereignissen, Räumen, Zeitpunkten und Figuren(gruppen) dar (Gfrereis 1999: 174; Platas Tasende 2004: 542). Steinecke (2006: 349) sieht gerade in der Möglichkeit des Romans, andere Gattungen (z.B. epische Kleinformen) aufzunehmen, eine Besonderheit, die sich schon in den frühen Romanen zeige. Für den Roman ab dem 18. Jahrhundert gelte zunehmend der Anspruch der Erschaffung von „Totalität“ und „prosaischer Wirklichkeit“ (Hess 2003: 280), v.a. für den realistischen Roman. Er wird zum „Ausdrucksmittel der nunmehr führenden bürgerlichen Gesellschaft“ (Hess 2003: 280) und zeichnet sich durch seine verständliche Sprache aus, richtet sich also nicht nur an ein gelehrtes Publikum, sondern grundsätzlich an alle „Bildungsschichten, Gesellschaftsgruppen und Altersstufen“ (Schneider J. 2010: 11), wenn dies auch mit dem konkreten Romantext und/oder seiner Subgattung variieren kann. Des Weiteren sei die Selbstreflexion „[d]urch das Reflektieren des Erzählers, das sich auch auf den Erzählprozeß selbst richtet und den Leser als Kommunikationspartner einbezieht“ (Steinecke 2006: 249) ein Charakteristikum des modernen Romans. Aber auch das besondere Verhältnis zwischen Fiktionalität und Bezug zur außerliterarischen Welt – die vermeintlich paradoxe Verbindung von Fiktionalität und Wirklichkeitsbezug –, das den modernen Roman seit seiner Entstehung kennzeichnet, wird von Reinfandt (1997: 130) als Spezifikum des Erzählens im Roman genannt. Der realistische Roman zeichne sich durch eine hohe Bezugnahme auf die außerlite68 Larsen (2001) weist darauf hin, dass allegorische Zusammenhänge oftmals tautologischen Charakter haben und verdeutlicht dies am Beispiel Sab (1841) von Gertrudis Gómez de Avellaneda: „Sab can equal Cuba, or Cuba Sab, only because both sides of the equation are still in themselves essentially empty, theoretically unspecified entities.“ (Larsen 2001: 171). 69 Schneider J. (2010) meint, dass der meist große Umfang des Romans eine unterbrochene Lektüre zur Folge hat. Dies führe dazu, dass das Gelesene sich länger und intensiver im Bewusstsein des Lesers/der Leserin verankere, die Phase des Nachdenkens über das Gelesene länger sei als bei Gedichten oder Theaterbesuchen. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer „nachhaltigen Versenkung“ (Schneider J. 2010: 9) im Roman, dessen Qualitätskriterium u.a. ist, ob er es vermag, den Leser/die Leserin zu „fesseln“. (Schneider J. 2010: 9) 70 Im Unterschied etwa zum Märchen ist der Roman ein schriftlich fixierter Erzähltext (Schneider J. 2010: 8). Unzueta (2003: 149) macht darauf aufmerksam, dass sich der Roman aber gut eignet, Elemente der Mündlichkeit zu integrieren.
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rarische Welt aus und sei nicht grundsätzlich von nichtliterarischen Texten unterscheidbar. Besonders sei nun, dass Romane mithilfe spezifischer Erzähltechniken eigene (fiktionale) Modelle von Wirklichkeit entwerfen, „[…] die dann trotz ihrer Fiktionalität vom Leser für relevant und ‚wahr‘ gehalten werden. [Anführungszeichen im Original]“ (Reinfandt 1997: 130). Der Roman schaffe so die Verbindung einer sozialen Dimension (durch (scheinbare) Referenz auf die außertextuelle Welt) mit der Wirklichkeitserfahrung des Individuums (über Fiktionalität71) und erzeuge Sinnorientierungen, die über eine rein objektive, aber auch rein subjektive Sinnorientierung hinausgehen (Reinfandt 1997: 131). Die genannten Spezifika des Romans als literarische Erzählung können folgendermaßen systematisiert und zusammengefasst werden: Zunächst wurden literaturhistorische Faktoren und die Beliebtheit der Gattung ab der Romantik bei Autor/innen wie Publikum gleichermaßen als Gründe für die Eignung des Romans für das literarische nation-building und der Konstruktion liberaler Subjektivität genannt. Diese stehen in Zusammenhang mit dem historischen und kulturellen Kontext der Romantik, in der der Roman einerseits als höchster kultureller Ausdruck zivilisierter Nationen galt, andererseits als Medium, das in Hispanoamerika nach erreichter Unabhängigkeit dem Wunsch nach staatsbürgerlicher Subjektivität in einer Phase des Machtvakuums und Legitimationsprobleme Ausdruck verleihen konnte. Poblete (2000) meint, im Roman sei das Gesetz ästhetisch vorformuliert worden. Weiters wurde die Reichweite der Gattung und ihr vergleichsweise hoher Rezipientenkreis (u.a. aufgrund des Abdrucks von Romanen als Fortsetzungsromane in Zeitungen) als Grund genannt. Ebenfalls in Verbindung mit dem gesellschaftspolitischen Kontext steht das Argument, der Roman sei zwischen ‚privat‘ und ‚öffentlich‘, in der literarischen Drucköffentlichkeit, anzusiedeln und bereite durch Inszenierung liberaler Subjektivität und Innerlichkeit im Privatraum das Entstehen einer bürgerlichen Öffentlichkeit, die auf der Partizipation des autonomen, männlichen Individuums gründet, vor. Schließlich wurden bereits spezifische Darstellungsverfahren des Romans, genannt, die seine Bedeutung für das literarische nation-building erklären sollen. Bei Anderson (2005) ist es das Merkmal des Mediums, gleichzeitig ablaufende Handlungen aus Sicht eines ‚allwissenden‘ Lesers darstellen zu können, das es für das nation-building relevant macht. Die Vorstellung von der Gemeinschaft einander unbekannter Personen aufgrund ihres gleichzeitigen Handelns im Raum der Nation wird dadurch ermöglicht. Nicht zuletzt wurden spezifische Plots (Liebesplots bei Sommer (1991), Nationenplots bei Unzueta (2003)) sowie unterschiedliche identifikationsfördernde Textstrategien als Spezifika für den Roman genannt. Als gattungsspezifisch erscheinen seine Länge, Komplexität, Vielfalt an dargestellten Ereignissen, Räumen, Zeitpunkten, Figuren(gruppen), seine verständliche Sprache, die Integration anderer Gattungen, die Selbstreflexion sowie seine hohe Bezugnahme zur außerliterarischen Welt (v.a. im historischen und im realistischen Roman) und die Tatsache, dass er sich an verschiedene gesellschaftliche Gruppen (Bildung, Alter, etc.) wendet. Darüber hinaus wurde seine Formlosigkeit betont, die wiederum die Differenz zu nicht-literarischen Erzählungen verringere und sein spezielles Verhältnis zur außertextuellen Wirklichkeit ermögliche. 71 Die Fiktionalität des Romans „kompensiert und thematisiert Probleme der individuellen Wirklichkeitserfahrung [Kursivierung im Original]“ (Reinfandt 1997: 134).
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Abgesehen von den (literatur-)historischen und gesellschaftlichen Gründen, die auf der außertextuellen Ebene anzusiedeln sind, stellt sich für diese Arbeit, die sich auf die innertextuelle Ebene konzentriert, die Frage, inwieweit die genannten Charakteristika ausschließlich für den Roman Geltung beanspruchen können – oder anders gewendet, ob andere Gattungen derselben Epoche ebenfalls Relevanz für das literarische nation-building und die Inszenierung liberaler Subjektivität beanspruchen können. Im Zusammenhang mit der Nationenbildung wurde die (Auto-)Biographie (Anderson (2005), Vázquez (2011), Stierle (2012)72) als relevante Gattung genannt. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang, dass Georg Lukács (1971) gerade die Nähe des Romans zur Biographie hervorhebt und die äußere Form des Romans als Biographie ansieht. Wie die Biographie kann auch der Roman kein vollständiges Leben in seiner Komplexität darstellen und beschränkt sich daher auf eine ‚organische‘, beispielhafte Version des individuellen Lebens73. „In the biographical form, the separate being—the individual—has a specific weight which would have been too high for the predominance of life, too low for the absolute predominance of the system, his degree of isolation would have been too great for the former, meaningless for the latter; his relationship to the ideal of which he is the carrier and the agent would have been overemphatic for the former, insufficiently subordinated for the latter. In the biographical form, the unfulfillable, sentimental striving both for the immediate unity of life and for a completely rounded architecture of the system is balanced and brought to rest: it is transformed into being. The central character of a biography is significant only by his relationship to a world of ideals that stands above him: but this world, in turn, is realized only through its existence within that individual and his lived experience. Thus in the biographical form the balance of both spheres which are unrealized and unrealizable in isolation produces a new and autonomous life that is, however paradoxically, complete in itself and immanently meaningful: the life of the problematic individual.“ (Lukács 1971: 77, 78)
Zwar zeige der Lebensausschnitt eines Individuums, der im Roman präsent ist, nicht immer eine Spanne von der Geburt bis zum Tode, doch sei er ebenfalls wie die Biographie von einem Anfangs- und einen Endpunkt eines Lebensabschnittes bestimmt, die wichtige Punkte des behandelten zentralen Konflikts bilden. Alles, was davor 72 Stierle (2012) verweist darauf, dass die Biographie eine Nähe sowohl zu Literatur als auch Geschichte aufweist und als „Modell für die Darstellung immer umgreifenderer Lebenszusammenhänge und immer komplexerer Subjekte, von der Geschichte einer Familie bis zur Geschichte einer Nation“ (Stierle 2012: 249) gelten kann. 73 Siegfried Kracauer sah den Roman um 1900 in der Krise, weil er kein autonomes, einheitliches Individuum zeichnete. Diesen Schein einer Kohärenz des Individuums hielt die Biographie aus seiner Sicht aufrecht. In Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (1937) lässt sich laut Gertrud Koch (2012) Kracauers Entscheidung, eine Biographie zu verfassen mit deren Parallelen zum Roman erklären, der „[…] zwar auf vorgegebenen Daten basiert, aber doch einen freien und fiktionalen Anteil notwendigerweise haben muss, wenn er Personen der Geschichte zu literarischem Leben erwecken will.“ (Koch 2012: 91). Diese Biographie lese sich wie ein Roman, sei aber als Künstlerbiographie zugleich beschreibende Erklärung und auf die Frage nach Subjektivität konzentriert (Koch 2012: 92). Für diese Ergänzung danke ich Christopher F. Laferl.
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oder danach liegt, wird aus der Perspektive des zentralen Konflikts mit seinem Anfangs- und Endpunkt dargestellt. (Lukács 1971: 81) Bei Habermas (1969) findet zudem der Brief als relevante Gattung zur Konstruktion liberaler Subjektivität Erwähnung. Die Gattungsfrage ist aus dieser Sicht eine der zentralen Fragen an die literarischen Erzählungen des Korpus’. Gerade, was Plot, Leseridentifikation und Darstellung von Innerlichkeit betrifft, könnten auch andere Formen des literarischen Erzählens in Frage kommen. Es bleibt außerdem zu fragen, inwieweit neben dem Roman andere narrative Gattungen in der Lage sind, verschiedene Arten von Freiheit und nationale Identität zu inszenieren. Der Roman in Hispanoamerika74 Benito Varela Jácome (1993) stellt fest, dass der Roman in Hispanoamerika erst mit der Romantik zu seiner Entfaltung kommt75. Als erste romanhafte Texte sind Los infortunios de Alonso Ramírez (1690) von Carlos de Sigüenza y Góngora sowie der Periquillo Sarniento (1815-1820) von José Joaquín Fernández de Lizardi in Mexiko zu erwähnen. 1826 wurde der erste historische Roman, Xicoténcatl, verfasst76, der allerdings noch der Klassik verpflichtet ist. Neben der Produktion von artículos de costumbres, die von Spanien – und hier v.a. Mariano José de Larra und Ramón de Mesonero Romanos – beeinflusst waren, werden von Varela Jácome (1993) zwei Entwicklungen des frühen hispanoamerikanischen Romans hervorgehoben: der Abolitionsroman in Kuba77 sowie drei argentinische Werke: El matadero von Esteban Echeverría, Facundo von Domingo Faustino Sarmiento und Amalia von José Marmol. (Varela Jácome 1993: 91) Bis 1846 wurden in Hispanoamerika aber nicht viele Romane geschrieben. Dass die Gattung erst spät eingeführt wurde, zeige sich auch an den Debatten zwischen Vertretern der Klassik und der Romantik, die im Salón Literario in Buenos Aires geführt wurden78 (Varela Jácome 1993: 93). Ab 1850 ist der Liebesroman die dominante Romangattung Hispanoamerikas, so Unzueta (2005: 9). Sie charakterisiert sich durch die Verflechtung von (nationaler) Geschichte, metatextuellen Diskursen der Epoche und einer Liebesgeschichte (Unzueta 2003: 131). Dass sich der Roman in Hispanoamerika erst so spät durchsetzen konnte, hat laut Lindstrom (2005) damit zu tun, dass die Verbreitung von Romanen von der spanischen Krone versucht wurde zu verhindern. Genehmigte Druckerzeugnisse waren 74 Damit soll nicht ausgeschlossen werden, dass auch Theaterstücke und Lyrik zum argentini-
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schen nation-building beigetragen haben. Die Autoren der generación del 37 haben sich dieser Gattungen meist ebenfalls bedient, allerdings nicht mit ähnlich expliziten nationbuilding-Intentionen wie in der Erzählliteratur und auch nicht mit einer vergleichbaren (nationalen) Rezeption, die bis heute hereinreicht. Ganz anders als in Spanien, wo der Roman seit der novela sentimental und der novela de caballería, etwa dem Amadís de Gaula (1508) von Garçi Rodríguez de Montalvo, eine gut eingeführte und beliebte Gattung war (Tietz sowie Neuschäfer 2006: 63, 64, 123, 126). 1826 zunächst anonym und 1831 in Valencia von Salvador García Bahamonte (Varela Jácome 1993: 91). Man denke hier z.B. an Sab (1841) von Gertrudis Gómez de Avellaneda. Juan Bautista Alberdi vertrat darin die Romantik, während Florencio Varela auf der Beibehaltung der Tradition mit nur leichten Abwandlungen bestand (Valcárcel 1996: 64).
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zunächst auf offizielle Dokumente und Texte mit religiösem Inhalt beschränkt, als 1539 in Mexiko und 1584 in Lima Druckerpressen installiert wurden. In (v.a. historiographischen) Texten des 17. und 18. Jahrhundert ist trotz des Druckverbotes fiktionaler Erzähltexte eine Fiktionalisierungstendenz zu beobachten, z.B. das Einweben satirischer Elemente79 (González 2006: 228). Laut Myron I. Lichtblau (1959: 23) lässt sich hierbei noch nicht von Romanen sprechen, wenn sie auch Elemente des Romans aufweisen. Gegen Ende der Kolonialzeit waren zunehmend unautorisierte Druckerzeugnisse in Umlauf. González (2006: 228) sieht als ersten Erzähltext, der seinen romanhaften und fiktionalen Charakter offenlegt, den oben erwähnten El Periquillo Sarniento (1815-20) an. Als weiteren Grund nennt Lindstrom (2005) das geringe Prestige der Gattung, das auch in den ersten Jahren der Unabhängigkeit, in denen die neoklassische Heldendichtung (Hymnen, Oden, etc.) sowie das neoklassische Drama bevorzugt wurden, nicht gestiegen war. Anstelle fiktionaler Erzähltexte80 sind im Bereich der Prosa der politische Essay, Manifeste und Reden für die Unabhängigkeitsepoche zu nennen. (Lindstrom 2005: 24; Unzueta 2003: 124) Zeitung und Roman erfuhren in Hispanoamerika zur etwa selben Zeit einen Aufschwung und zunehmende Beliebtheit. Die meisten Autoren sehen den Zusammenhang zwischen Zeitung und Roman darin angelegt, dass der Roman als in der Zeitung publizierter Fortsetzungsroman81 ein größeres und sozial breiter gestreutes Publikum erreichen konnte82. Dies ist nicht zuletzt deshalb erwähnenswert, da viele der zu dieser Zeit geschriebenen Romane explizite Hinweise enthalten, dass mit ihnen das nation-building vorangetrieben werden soll. Sie lassen das Ziel erkennen, möglichst viele Nationsangehörige zu erreichen. (Vgl. Wright 2009: 61) Mit der Zeitung wurde zudem ein Medium gewählt, das für Meinungsfreiheit stand (Wright 2009: 62). González (2006: 229) geht sogar so weit, das steigende Ansehen des Romans mit der Imitation des als wahrhaftig angesehenen Zeitungsartikels zu erklären. Für Hispanoamerika ist betont worden, die Verbindung zwischen Roman, Romantik, Liberalismus
79 Zu nennen wären hier z.B. El carnero (1638) von Juan Rodríguez Freyle, der Lazarillo de ciegos caminantes (1775) von Alonso Carrió de la Vandera oder El nuevo Luciano de Quito (1779) von Francisco Javier Santa Cruz y Espejo (González 2006: 228). 80 Durchaus präsent sind hingegen narrative Gedichte (Unzueta 2003: 125). 81 Der aus Frankreich stammende feuilleton (~1830), spanisch folletín, war meist auf dem unteren Abschnitt der Titelseite einer Zeitung abgedruckt und ab 1840 im spanischsprachigen Bereich üblich. Er ist mit Wright (2009) vom Fortsetzungsroman (sp. novela por entregas) insofern zu unterscheiden als letzterer nicht unbedingt die Zeitung als Publikationsmedium aufweist, wenn auch die beiden Begriffe im 19. Jahrhundert häufig synonym gebraucht werden. Es sei erwähnt, dass Hispanoamerika mit El Periquillo Sarniento 1816 ein frühes Datum des Fortsetzungsromans hat. Lizardi folgt hier aber einer anderen Idee als jener, der dem französischen Fortsetzungsroman zugrunde liegt. Er strebte ein größeres Publikum an und wollte der Zensur entgehen, während in Frankreich kommerzielle Interessen vorrangig waren. (Wright 2009: 61, 62) 82 Es ändert sich auch die Finanzierung des Druckes. Anstelle der Praxis, Förderer für die Publikation eines Buches zu gewinnen, tritt nun das kapitelweise zahlende Lesepublikum (Unzueta 2005: 11).
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und nation-building83 sei eine noch engere als andernorts, da die Romanproduktion abgesehen von einzelnen Vorläufern gemeinsam mit der Romantik und den genannten politischen Strömungen einsetzt und ästhetische Freiheit kein übergeordnetes Prinzip der hispanoamerikanischen Romantik ist, sondern sich diese mit gesellschaftspolitischem Engagement mischt und sich politischen Projekten unterordnet. Wie wird dies in der Forschungsliteratur begründet? Wie Montaldo (2004: 21) ausführt, ist ein zentrales Thema der Romantik die Suche nach einer neuen Subjektivität, die sich u.a. in der Neudefinition des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft zeigt, die nunmehr im Rahmen des (modernen) Staates erfolgt. Insofern teilen Liberalismus und Romantik das Anliegen, das Individuum zu definieren und gesellschaftlich im Rahmen des Staates neu einzuordnen. Mit Bezug auf Victor Hugo sollten in Hispanoamerika Romantik und Liberalismus miteinander verschmelzen (SchmidtWelle 2003: 317). Wie oben erwähnt, werden literarische Erzähltexte dieser Epoche, allen voran der Roman, zudem als Mittel, das nation-building voranzutreiben, betrachtet. Der Roman erscheint dadurch als Schnittpunkt ästhetischer, liberaler und nationaler Anliegen. In ihm wird zum Beispiel der Subjektivitätsbegriff verhandelt, der alle drei Anliegen berührt. Der Roman in Argentinien Wird für Hispanoamerika meist El Periquillo Sarniento (1815-1820) als erster Roman genannt, so sollte es in Argentinien bis zur ersten Romanveröffentlichung noch etwas dauern. Erste Züge des Romans erkennt Lichtblau (1959) in Echeverrías El matadero (~1838), wenn dieser auch erst 1871 veröffentlicht wurde. Nicht nur aufgrund seiner Kürze, sondern auch einer fehlenden Geschichte, die über die erzählte Episode hinausgeht, entspricht das Werk laut Lichtblau (1959) noch nicht einem Roman. Des Weiteren erwähnt Lichtblau (1959) Prosaschriften von Juan María Gutiérrez (1809-1878) als Vorläufertexte des argentinischen Romans, etwa El hombre hormiga, artículo sobre costumbres de Buenos Aires en 1938, im selben Jahr in El Iniciador de Montevideo veröffentlicht, oder El capitán de Patricios (1843), nach Lichtblau (1959) der erste argentinische Erzähltext, in dem das Erzählen einer Geschichte im Vordergrund steht und damit politischen und sozialen Kommentaren übergeordnet ist. 1840 erscheinen die Cartas a Genuaria von Marcos Sastre (18091887), die als Vorläufertext für den in den 1850ern und 1860ern beliebten sentimentalen Roman gelten. (Lichtblau 1959: 23-28) Als Begründer der voll ausgeprägten Untergattung84, zu deren Charakteristika die Projektion von Gefühlen des Subjekts – insbesondere der Liebe – auf die Landschaft, psychologische Überempfindsamkeit und das Spiel mit Emotionen zählen, gilt Bartolomé Mitre mit Soledad (1847) (Varel Jácome 1993: 94, 99). Als weiterer Vorläufertext des argentinischen Romans kann Juan Bautista Alberdis Tobías o la cárcel de la vela (1844, erschienen 1851) genannt 83 Am häufigsten ist davon für Hispanoamerika die besonders enge Verbindung zwischen der Entwicklung des Romans und dem nation-building herausgestrichen worden (so z.B. bei Lindstrom 2005: 41). 84 Ihr sollten eine Reihe an Werken in Hispanoamerika folgen, etwa Esther (1851) von Miguel Cané, El primer amor (1858) von Alberto Blest Gana, Julia (1861) von Luis Benjamín Cisneros, María (1867) von Jorge Isaacs, etc. (Varela Jácome 1993: 99).
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werden, in den zahlreiche Details zu Schifffahrt, Klima, Sitten, Ländern und ethnischen Gruppen eingebaut sind (Lichtblau 1959: 28, 29). Der erste kurze argentinische Roman, der mit Lichtblau (1959: 29) als solcher bezeichnet werden kann85, wurde von einer Frau86 geschrieben. Es handelt sich um Juana Manuela Gorritis La quena (1845). Oftmals ungenannt bleiben die Erzähltexte einer weiteren argentinischen Schriftstellerin, Juana Manso de Noronha, darunter Los misterios del Plata (184687), eine dunkle Zeichnung des Rosas-Regimes oder La familia del comendador (1854). Obwohl der Facundo von Domingo Faustino Sarmiento nicht als Roman bezeichnet werden kann, wird er häufig im Zusammenhang mit der Romanentwicklung Argentiniens erwähnt, da er laut Lichtblau (1959) als eines der meist gelesenen argentinischen Bücher des 19. Jahrhunderts auf alle literarischen Gattungen Einfluss übte. (Lichtblau 1959: 31, 39) Blickt man auf die Entwicklung der frühen romanartigen Texte in Argentinien, so wird Francos (2009: 59) Urteil bestätigt, dass ein Gutteil der Literatur nach der Unabhängigkeit aus Protest gegen Rosas entstand, etwa El matadero, Los misterios del Plata und der Facundo, ebenso wie Amalia von José Mármol – ein Werk, das häufig als erster Roman Argentiniens bezeichnet wurde, was allerdings nur dann gilt, wenn neben den Gattungskriterien die erzählte Welt in Argentinien angelegt und der Autor/die Autorin Argentinier/in sein muss (ansonsten gebührte dieses Prädikat Gorritis La quena). Aufgrund des Exils vieler argentinischer Schriftsteller/innen wurden einige der Erzähltexte nicht nur außerhalb Argentiniens verfasst, sondern auch deren Setting außerhalb des Landes angelegt, so bei La quena oder Soledad. Als Texte der Romantik können von den erwähnten Werken El capitán de los Patricios, La quena, Soledad und Amalia gelten. (Lichtblau 1959: 41-43) Romantik in Hispanoamerika im Allgemeinen und in Argentinien im Besonderen José Miguel Oviedo (2001) setzt den Beginn der Romantik in Hispanoamerika im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts an, wenn auch bis 1850 weiterhin neoklassische Literatur geschrieben wurde. Mit den Eckdaten 1830 bis 1875 wurde die Romantik zur am längsten andauernden literarischen Strömung im 19. Jahrhundert in Hispanoamerika. Sie war noch keine eigenständige literarische Entwicklung, sondern von der europäischen Romantik inspiriert, wenngleich sie ihre eigenen Charakteristika ausbildete. (Oviedo 2001: 13, 15, 20) In Europa war die Romantik als Skepsis dem 85 Zwar spielt der Roman im kolonialen Peru, doch wurde er von einer argentinischen Schriftstellerin verfasst (Lichtblau 1959: 30).
86 Es muss mit Davies et al. (2006: 6) angemerkt werden, dass die von hispanoamerikanischen Frauen geschriebene Literatur des (v.a. frühen) 19. Jahrhunderts noch nicht gut erforscht ist. Es stammen nicht wenige patriotische Gedichte und Verse aus der Feder von Frauen. Auch von ‚schwarzen‘ Frauen sind Verse überliefert, so etwa La negrita (1830), ein cielito der in Buenos Aires lebenden Juana Peña. (Davies et al. 2006: 6) 87 Die erste Auflage stammt erst aus dem Jahre 1899, wobei nicht klar ist, ob es, wie dort in einer Fußnote vermerkt, nicht bereits eine frühere Auflage gibt, die noch während der Regierungszeit von Rosas erschienen ist. Eine solche wurde jedoch nicht gefunden. (Lichtblau 1959: 31, 32)
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Rationalismus der Aufklärung und dem Neoklassizismus gegenüber entstanden und nahm in Abgrenzung dazu das Subjektive, Irrationale und Imaginäre in den Blick. Die Vorromantiker „[…] sind mißtrauisch gewordene Erben der Aufklärung, die im Namen der Freiheit der dichterischen Imagination ihre Rechte auf die poetische Revolte anmelden.“ (Hofer 1982: 103). Dies drückt sich im Wunsch nach Befreiung aus dem neoklassischen Normensystem zugunsten der Fantasie des Individuums und der Freiheit der Formen und der Kunst aus. Literatur sollte nicht primär politisch und sozial nützlich sein (Hofer 1982: 103). Neben dem Individuum sollten auch Völker ihren eigenen, ‚authentischen‘ literarischen Ausdruck finden. Die Strömung entstand in Deutschland und England und breitete sich anschließend in Frankreich und Spanien aus. Laut Oviedo (2001) war für Hispanoamerika der spanische und französische Einfluss am stärksten ausgeprägt. (Oviedo 2001: 14, 15) In Hispanoamerika trug zur Ablehnung neoklassischer Literatur bei, dass sie mit dem spanischen Absolutismus assoziiert wurde. Neben der politischen Unabhängigkeit sollte aus Sicht der kulturellen Elite auch ein Bruch mit dem kulturellen Erbe Spaniens88 (Janik 2008: 248, 249) und gleichzeitig eine Hinwendung zu den „fortschrittlichen Kulturnationen Europas“ (Janik 2008: 249) erfolgen. Für Esteban Echeverría etwa bedeutete die nationale und kulturelle Unabhängigkeit Lateinamerikas zugleich eine Befreiung von der Norm und Ästhetik des Klassizismus (SchmidtWelle 2003: 324). Stärker noch als in Europa, wo die Forderung nach Freiheit der Kunst bisweilen zu einer Abkehr von engagierter Literatur89 und der Gesellschaft an sich90 – einer Weltabgewandtheit, wie etwa bei Joseph von Eichendorff (SchmidtWelle 2003: 326) – führte, gingen in Hispanoamerika Liberalismus und Romantik Hand in Hand. Die Romantik war hier nicht so sehr dem Prinzip ästhetischer Freiheit verpflichtet, sondern hatte ausgeprägte politische Ziele91, denen sich die Literatur manches Mal sogar unterordnete, wie Oviedo (2001: 16) meint. Die Romantik stützte sich in Hispanoamerika auf zwei wiederkehrende Elemente: das Interesse an Geschichte92 und – wie schon in der neoklassischen Dichtung – die Betonung der amerikanischen Natur. Ist in Europa der Bezug auf legendenhafte Ursprünge und Mythen 88 Es wurde auch das Bedürfnis formuliert, die spanische Sprache zu einem eigenen hispanoamerikanischen Ausdruck zu bringen (Janik 2008: 249).
89 So die L’art pour l’art-Haltung um 1830 bei Théophile Gautier oder Alexander Puschkin (Hoffmeister 1990: 201).
90 Man denke nur an Rousseaus Emile und den sich gekränkt von der Gesellschaft zurückziehenden Künstler, der fortan in Einsamkeit lebt (Hoffmeister 1990: 200, 201).
91 Dies soll nicht bedeuten, dass die europäische Romantik keine politische Dimension gehabt hätte. Gerade die utopischen Gesellschaftsentwürfe (Henri de Saint-Simon, Samuel Taylor Coleridge, etc.) zeugen vom Gegenteil. Viele Romantiker strebten an, „den Liberalismus aus der Literatur in die Politik [zu] übertragen“ (Hoffmeister 1990: 201). Und Victor Hugo zeigt eine Entwicklung von einer ästhetisch dominierten Position hin zu einer sozialen. Dem Dichter wird hier eine zivilisatorische Rolle zuteil. (Hoffmeister 1990: 201) Dennoch scheint die Verschmelzung von Schriftsteller und Politiker in staatstragender Position sowie die Vernachlässigung einer rein ästhetischen Romantik für Hispanoamerika charakteristisch. 92 Das Interesse an Geschichte findet laut Unzueta (2005: 8) ab 1850 Eingang in den hispanoamerikanischen Roman als ein Mittel, nationale Einheit zu konstruieren.
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paradigmatisch, so geht es der hispanoamerikanischen Romantik darum, eine eigene Tradition zu suchen, die von der Kolonialzeit verschüttet worden war. Die novela indianista bildete eine eigene Untergattung des Romans, die häufig Liebesplots zwischen Indigenen und Weißen oder eine unglückliche Liebegeschichte eines Indigenenpaars93 in Regionen mit außergewöhnlicher Natur zum Thema hat (Varela Jácome 1993: 94). Laut Dill (1999) sind die Figuren auch häufig Indigene zu präkolumbischer Zeit (Dill 1999: 134). Die widerständigen Indigenen werden dabei nicht selten als amerikanischer Ausdruck gegen Spanien stilisiert und deren Darstellung zur Konstruktion nationaler Identität verwendet. Vor allem in Mexiko ist im historischen Roman die Bezugnahme auf die aztekische Geschichte bis zur Unabhängigkeit Mexikos als Gründungsmythos verwendet worden (Dill 1999: 132). Indigene des 19. Jahrhunderts, deren Lage sich nach der Unabhängigkeit vielerorts verschlechtert hatte, kommen darin kaum vor (Dill 1999: 134). „La más brillante generación romántica del continente es, sin duda, la argentina.“ (Oviedo 2001: 24). Als herausragende Autoren führt Oviedo (2001) Esteban Echeverría, Domingo Faustino Sarmiento, Juan Bautista Alberdi und José Marmol an. Darüber hinaus nennt er Juan María Gutiérrez als einen der Hauptvertreter der argentinischen Romantik. Echeverría führt er als Begründer der hispanoamerikanischen Romantik allgemein an. (Oviedo 2001: 24) Auch für Dill (1999: 122) ist Echeverría Begründer der Romantik in Lateinamerika, während Varela Jácome (1993: 92) Echeverría als den Initiator der Romantik in Argentinien hervorhebt. Auch wenn man dem Urteil Oviedos nicht zustimmen möchte, so bleibt festzuhalten, dass die erwähnten Autoren nicht nur hohe politische Bedeutung in der Geschichte Argentiniens, sondern auch einen festen Platz in der hispanoamerikanischen Literaturgeschichte erhalten haben. Es muss abschließend angemerkt werden, dass die argentinische Literatur ab den 1840er Jahren, nachdem die wichtigsten Schriftsteller ins Exil gegangen waren, oft als unbedeutend bezeichnet worden ist. Tatsächlich nahm die Zahl an Werken beträchtlich ab. Dennoch, so Fleming (2011: 29), war sie nicht so spärlich wie sie im Nachhinein (auch aus Sicht der liberalen, nationalen Literaturgeschichtsschreibung) dargestellt wurde. Neben Gelegenheitsgedichten, die das Rosas-Regime lobten und der poesía gauchesca, darunter cielitos, Dialoge und décimas mit föderaler Prägung, wurden Gedichte verfasst, die die Sprache der ‚Schwarzen‘ aufgriffen. 1846 erschien eine Anthologie gelehrter Dichtung mit dem Titel La lira del Plata. Pedro de Ángelis brachte 1835 die Colección de obras y documentos relativos a la historia antigua y moderna del Río de la Plata in acht Bänden heraus. Er widmete sich zudem der Analyse indigener Sprachen und verfasste neben seiner journalistischen Tätigkeit mehrere biographische, literarische und politische Essays. (Fleming 2011: 29)
93 Es ist mit Rössner (2005: 205) anzumerken, dass die Indigenen hierbei selten idealisiert oder positiv dargestellt werden (eine ecuadorianische Ausnahme davon wäre Cumandá o un drama entre salvajes (1871) von Juan León Mera). Die Darstellung von Indigenen als „spätromantisch-sentimentalen sterbenden letzten Erben einer natürlichen Kultur“ (Rössner 2005: 205) setzt erst Ende des 19. Jahrhunderts, Anfang des 20. Jahrhunderts ein.
Analyse ausgewählter politischer Texte der generación del 371
E STEBAN E CHEVERRÍA Einordnung und Struktur der Werke Die beiden hier zu analysierenden Werke von Esteban Echeverría liegen in der Ausgabe der Ediciones Estrada in der 2. Auflage von 1956 vor, in der gemeinsamen Veröffentlichung des etwa 85 Seiten langen Dogma Socialista de la Asociación de Mayo2 und der ca. 90 Seiten umfassenden Ojeada Retrospectiva sobre el movimiento 1
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Angemerkt muss werden, dass die außerordentlich umfangreiche Forschungsliteratur zu den politischen Ideen der generación del 37 die auf das Verhältnis von Freiheit und Nation zentrierte Analyse der politischen Texte keine Kennzeichnung aller in der Forschungsliteratur jemals thematisierten Einzelaspekte beinhalten kann. Einzelne Studien zum Forschungskonsens anzuführen, wäre hingegen aufgrund dessen nicht möglich, da nicht mehr festzustellen ist, welche Untersuchungen welche Aspekte zum ersten Mal erläutert haben (etwa das Thema der Einwanderung oder des Ausbaus des Transportwesens). Sie sind vielmehr Teil dessen, was in das Alltagsverständnis über die von der generación del 37 geprägte Nation eingegangen ist. Wie in der Einleitung erläutert, konnten keine Studien gefunden werden, die sich Freiheit und Nation in ihrem Verhältnis widmen. ‚Socialista‘ wird im Dogma Socialista (1837) in der Bedeutung von ‚gesellschaftlich‘, nicht ‚sozialistisch‘ verwendet. Die Texte aus Korpus 1 gehen kaum auf Fragen der Umverteilung oder des Ausgleichs der Lebenschancen durch den Staat ein, sieht man von Bildung, einem zentralen Anliegen der meisten Autoren der generación del 37 ab. Hintergrund ist aber auch hier nicht etwa Chancengleichheit, sondern es sind v.a. wirtschaftliche Gründe oder die Erziehung der Bevölkerung zum politischen Subjekt ausschlaggebend. Auch die für Lateinamerika so zentrale Frage der Landverteilung wird hauptsächlich im Hinblick auf die indígenas de frontera und die Besiedelung deren Gebiete gestellt. Echeverría nennt zwar den Gleichheitsbegriff als zentralen Bestandteil seines Modells, doch ist hier vordergründig die Gleichheit vor dem Recht gemeint. In den Texten finden sich keine Abgrenzungen zu sozialistischen Theorien, obwohl diese seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch in Lateinamerika Verbreitung fanden (Löwy 1981). Den Begriff ‚socialista‘ übernimmt Echeverría aus „Del individualismo y del socialismo“ von Pierre Leroux (1833), einem Anhänger von Saint-Simon (für einen Vergleich zwischen den ‚sansimonianos‘ und
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intelectual en el Plata desde el año 373. Der 1837 als Gründungstext der Asociación de Mayo verfasste Dogma Socialista stammt vorwiegend aus der Feder von Esteban Echeverría und wurde 1838 erstmals in El Iniciador in Montevideo publiziert. Diese erste schriftliche Darlegung der politischen Vision der generación del 37 entstand im Widerstand gegen die Rosas-Diktatur, kurz bevor die meisten Mitglieder der Asociación ins Exil flüchteten. Der erste Abschnitt des Dogma Socialista (1837) ist an die Jugend Argentiniens und alle würdigen Söhne der Patria gerichtet: „A LA JUVENTUD ARGENTINA Y A TODOS LOS DIGNOS HIJOS DE LA PATRIA [Formatierung im Original]“ (Echeverría 1837: 101). Den Hauptteil bilden die Palabras simbólicas – 15 Grundsätze der Asociación, die abschnittsweise erläutert werden und von denen nur der letzte Grundsatz auf Juan Bautista Alberdi zurückgeht. Die Ojeada Retrospectiva wurde von Echeverría 1846 im Exil in Montevideo verfasst und ist so nach dem Dogma Socialista (1837) das zweitälteste Schriftstück aus Korpus 1. Der in elf Abschnitte gegliederte Text versteht sich als Einblick in die Tätigkeiten der intellektuellen Gruppe seit ihrer Formierung 1837: Echeverría bietet einen Überblick über das politische Geschehen und das Schicksal der Asociación seit dem Gründungsjahr. Er greift dabei nach und nach einzelne Punkte des Dogma Socialista (1837) auf, ergänzt, korrigiert und erläutert sie. Immer wieder weist er auf Aspekte hin, die zu Kontroversen in der Gruppe geführt haben. Den Abschluss bildet ein Text Echeverrías, den er als Antwort an einen in El Comercio publizierten Text von Alcalá Galiano formuliert hat. Thema dieses Abschnitts ist die Frage nach der Unabhängigkeit der hispanoamerikanischen Literatur. Auswertung der Kategorien im Dogma Socialista gemäß Analyseschema 1 Freiheit Für Echeverría (1837) wurde der erste Schritt zur Freiheit der Patria mit der Mairevolution 1810 gesetzt. Die Unabhängigkeit von Spanien sei Bedingung für Freiheit in Amerika gewesen: „Los revolucionarios de Mayo sabían que la primera exigencia de la América era la independencia de hecho de la metrópoli, y que, para fundar la libertad, era preciso emancipar primero la patria.“ (Echeverría 1837: 140). Doch die großen Ideen der Mairevolution hätten sich nicht durchgesetzt. Argentinien sei zwar unabhängig (Kategorie A1), aber die spanische Tradition nach wie vor eine Last auf der Freiheit des Landes: „El gran pensamiento de la revolución no se ha realizado. Somos independientes, pero no libres. Los brazos de la España no nos oprimen, pero sus tradiciones nos abruman.“ (Echeverría 1837: 149). Das Problem liege darin begründet, dass seit der Mairevolution jegliche politische Gruppierung das Schlagwort der Libertad unabhängig von den tatsächlichen politischen Zielen des Regimes (A5) für sich in Anspruch genommen hat und im Namen der Freiheit gegeneinander Krieg
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Echeverría vgl. Ortiz 2007). Er geht aber, anders als in Frankreich, nicht zu einem Kollektivismus über. Es findet sich aber bei Echeverría eine Kritik an der Vereinzelung der Individuen, wie weiter unten gezeigt wird, wenngleich Ausgangspunkt stets das liberale Individuum bleibt. Vgl. zur Verbreitung des Sozialismus in Lateinamerika auch Löwy 1981. Der Dogma Socialista (1837) lieferte gemäß Analyseschema 1 115 Textbelege, die Ojeada Retrospectiva (1846) 82 Textbelege.
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führte. Diese metaphorische Verwendung des Freiheitsbegriffes ohne näher definierbaren Inhalt sei auch bei Rosas bemerkbar gewesen. (Echeverría 1837: 100) „Nosotros decimos desde el año treinta y siete: Mayo, Progreso, Democracia, y explicamos esa fórmula. [Kursivierungen im Original]“ (Echeverría 1837: 100). Welche Art von Freiheit versteht Echeverría (1837) also unter der Formel Mairevolution, Fortschritt, Demokratie? Echeverría (1837) scheint zwar die Verabschiedung einer Verfassung langfristig vorzusehen (vgl. dazu weiter unten), doch gilt es ihm zunächst, die Rahmenbedingungen für eine solche zu schaffen. Echeverría (1837) spricht daher vielmehr von einem Pakt, einer asociación4 zwischen Individuen, d.h. einer Art Gesellschaftsvertrag. Diese Überlegungen können dementsprechend im Bereich der Kategorie A2 (natürliche vs. bürgerliche Freiheit) angesiedelt werden. Für Echeverría (1837) ist nach der politischen Emanzipation die Notwendigkeit gesellschaftlicher Emanzipation gegeben, mit der nicht nur Freiheit der Nation (Unabhängigkeit (A1)), sondern Freiheit in der Nation verbunden ist. Zwar sei der Mensch an sich frei (natürliche Freiheit) – an dieser Stelle zitiert er das Junge Europa5: „‚Por la ley de Dios y de la humanidad todos los hombres son libres.‘ [Anführungszeichen im Original]“ (Echeverría 1837: 122) – jedem Menschen stehen seine natürlichen, von Gott und der Menschlichkeit abgeleiteten, Rechte bereits vor jeder asociación zu. Demnach ist jedes Individuum mit dem Recht auf Leben, Eigentum und Freiheit ausgestattet (Echeverría 1837: 156). Doch können die natürlichen Rechte des Individuums erst gesichert und erweitert werden, so es in die asociación eintritt: „Así es que, lejos de abnegar el hombre al entrar en sociedad una parte de su libertad y sus derechos, se ha reunido al contrario a los demás y formado la asociación con el fin de asegurarlos y extenderlos.“ (Echeverría 1837: 157). Sind die positiven Gesetze in der asociación mit den natürlichen Rechten des Individuums vereinbar, so sind sie legitim und verlangen Gehorsam, wobei eine Missachtung derselben geahndet wird. Sind sie es nicht, so gelten sie als illegitim, tyrannisch und dem Individuum erwächst das Recht auf Widerstand. (Echeverría 1837: 157) Darüber hinaus erachtet es Echeverría als legitim, Gewalt mit Gewalt zu vergelten – ein Recht, das er aus dem Gesell4
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Der Begriff ‚asociación‘ kann sich bei Echeverría auf die politische Gemeinschaft oder auf die Gruppe der Asociación de la Joven Generación Argentina (in Majuskel) beziehen. Er kann in Ergänzung zu Wassermans F. (1998) Auflistung an Begriffen, die bei der generación del 37 im Sinne von ‚Nation‘ verwendet werden angeführt werden. Der Begriff bezieht sich auf eine durch Gesellschaftsvertrag zustandekommende politische Gemeinschaft. Außerdem wird der Begriff im 19. Jahrhundert im Sinne von ‚Verein‘ verwendet. In Kapitel ‚Analyse der literarischen Texte‘ wird der Begriff nochmals in Mármols Amalia (1855) und in Sarmientos Facundo (1845) auftauchen, bei zweiterem v.a. in der negativen Form desasociación – dem Fehlen jeglicher Form von Gesellschaft. In Europa bildeten sich im Vormärz an mehreren Orten politische Vereine u.a. von Schriftstellern aus, deren Einzelorganisationen im Jungen Europa zusammengefasst waren und mithilfe der politischen Presse ihre revolutionären Ideale verbreiteten, vgl. etwa das Junge Deutschland mit Börne, Heine und Gutzkow als Mitglieder (Kinder/Hilgemann 2001: 329), das Junge Italien mit Guiseppe Mazzini, das Junge England mit anti-utilitaristisch eingestellen Schriftstellern wie Walter Scott oder Robert Southey (Adelman 2007: 89) oder das Junge Spanien mit liberalen Vertretern, die sich für eine Erneuerung und Freiheit einsetzten (Mercado 1996: 70).
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schaftsvertrag ableitet6. Werden die individuellen Rechte vom Kollektiv missachtet, so löst sich die asociación auf „y cada uno será dueño absoluto de su voluntad y sus acciones y de cifrar su derecho en la fortaleza.“ (Echeverría 1837: 156) – die Individuen kehren in den Zustand ihrer natürlichen Freiheit zurück, die dem Gesetz des Stärkeren unterliegt. Welche Freiheiten sind es nun, die Echeverría im Rahmen der asociación vorsieht? Welche Freiheiten umfasst also sein Konzept der bürgerlichen Freiheit (A2)? Echeverría (1837) nennt das Recht auf ein Gerichtsverfahren bei Verbot des Freiheitsentzuges ohne Gerichtsurteil, das Recht, über den Ertrag der eigenen Arbeit und Leistung zu verfügen, Meinungs- und Pressefreiheit, Gewissens- und Religionsfreiheit, wobei Mitglieder einer Glaubensgemeinschaft dieselben bürgerlichen und politischen Rechte genießen wie alle anderen Staatsbürger, das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung sowie das Verbot, expatriiert und/oder von seiner Familie getrennt zu werden, das Recht auf Sicherheit des Lebens und des Eigentums, das Verbot, zu kämpferischen Handlungen gezwungen zu werden, so es nicht das öffentliche Interesse erfordert sowie das Recht, einer Beschäftigung nachzugehen (Echeverría 1837: 123, 126)7. Des Weiteren spricht sich Echeverría (1837) gegen eine Staatsreligion aus, da der Staat über kein Gewissen verfüge8. Kirchenangehörige sollen über keine Privilegien verfügen und der Gerichtsbarkeit des Staates unterliegen9. Echeverría (1837) nennt also die klassischen Abwehrrechte des Individuums gegen den Staat (A3), allerdings ohne diese im Rahmen des Verfassungsstaates zu garantieren. Vielmehr leitet er sie aus den gottgegebenen und den natürlichen Rechten des Individuums sowie den Menschenrechten ab, insistiert aber zugleich, dass diese nur dann zur vollen Entfaltung kommen, wenn sie im Rahmen der asociación gesichert werden. Im Unterschied zum Verfassungsstaat kann die asociación bei einer Verletzung der bürgerlichen Rechte aufgelöst werden. Die Notwendigkeit, Nützlichkeit und moralische Vertretbarkeit einer Regierung erwächst erst aus ihrer Aufgabe der Sicherung der Rechte des Individuums, v.a. jener der Freiheit (Echeverría 1837: 112). Aus Echeverrías (1837) Sicht scheint es allerdings keinen friedlichen Weg zur Etablierung der asociación zu geben: „La libertad no se adquiere sino a precio de sangre.“ (Echeverría 1837: 132). Echeverría (1837) hat als Formel der asociación Mairevolution, Fortschritt, Demokratie genannt. Wie ist es also um die politische Partizipation, der Freiheit in der asociación, bestellt? Da die asociación die Form der Demokratie erhalten soll, sieht sie einerseits Gleichheit sowie andererseits einen breiten Freiheitsbegriff vor, der individuelle, bürgerliche und politische Freiheit umfasst. (Echeverría 1837: 154) Wer 6
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„[...] es por consiguiente legítimo, como lo es el derecho de repeler la fuerza con la fuerza, y de matar al ladrón o al asesino que atente a nuestra propiedad o nuestra vida, puesto que nace de las condiciones mismas del pacto social.“ (Echeverría 1837: 157). Echeverría (1837) verweist darauf, dass mit der Mairevolution bereits bestimmte Freiheiten wie Meinungs- und Pressefreiheit sowie das Recht auf ein Gerichtsverfahren und das Verbot von Strafe ohne Gerichtsverfahren und -urteil festgeschrieben worden waren. „El Estado, como cuerpo político, no puede tener una religión, porque no siendo persona individual, carece de conciencia propia.“ (Echeverría 1837: 127). „Como los demás ciudadanos estarán sujetos a las mismas cargas y obligaciones, a las mismas leyes civiles y penales y a las mismas autoridades.“ (Echeverría 1837: 129).
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ist in den genannten Freiheitsdimensionen inkludiert (Kategorie B), wer darf den jeweiligen Freiheitsbegriff für sich in Anspruch nehmen (B1) und wer ist explizit oder implizit ausgeschlossen (B2)? Wie wird ein allfälliger Ausschluss argumentiert (Geschlecht, Alter, Ethnizität, Eigentum, Bildung, etc.)? Echeverría (1837) hebt hervor, dass alle Mitglieder der asociación in den Genuss der individuellen wie der bürgerlichen Freiheit kommen. Anders verhält es sich in Bezug auf politische Freiheit: „Las masas ignorantes, sin embargo, aunque privadas temporariamente del ejercicio de los derechos de la soberanía o de la libertad política, están en pleno goce de su libertad individual; como los de todos los miembros de la asociación, sus derechos naturales son inviolables; la libertad civil también, como a todos, las escuda; la misma ley civil, penal y constitucional, dictadas por el soberano, protege su vida, su propiedad, su conciencia y su libertad [...]“ (Echeverría 1837: 160)
Echeverría (1837) nimmt die masas ignorantes aus dem Recht auf politische Partizipation aus – fehlende Bildung dient ihm so als Argument für die Exklusion einzelner Individuen aus politischer Freiheit. Ziel sei es jedoch, alle Mitglieder der asociación zu politischer Freiheit zu befähigen. Die Mittel dazu müssen den masas ignorantes zur Verfügung gestellt werden. Ihr Recht auf politische Partizipation bleibt aufrecht, als Bedingung für die Wahrnehmung desselben gilt jedoch, dass sie sich zur Emanzipation befähigen, d.h. Autonomie erwerben (Echeverría 1837: 159). „Ellas no pueden asistir a la confección de la ley que formula los derechos y deberes de los miembros asociados, mientras permanezcan en tutela y minoridad, pero esa misma ley les da medios de emanciparse y las tiene entretanto bajo su protección y salvaguardia. [...] Cuando todos los miembros de la asociación estén en posesión plena y absoluta de estas libertades y ejerzan de mancomún la soberanía, la democracia se habrá definitivamente constituído sobre la base incontrastable de la igualdad de clases: tercer principio.“ (Echeverría 1837: 160, 161)
Bedingung für politische Partizipation ist bei Echeverría (1837) demnach die persönliche Autonomie und die Unabhängigkeit des eigenen Wohlergehens vom Willen anderer, damit sichergestellt ist, dass das Individuum vernunftbasierte und nicht von der Abhängigkeit von Dritten geleitete Entscheidungen fällt (Echeverría 1837: 158, 159): „De aquí resulta que la soberanía del pueblo sólo puede residir en la razón del pueblo, y que sólo es llamada a ejercerla la parte sensata y racional10 de la comunidad 10 Die Formulierung des rationalen Teils erinnert an die melior pars der Benediktinerregel aus dem 6. Jahrhundert, dass jener Abt wird, der entweder einstimmig von der Kongregation gewählt wurde oder von einem kleinen Teil der Kongregation mit besserer Einsicht. Dies bedeutete, dass eine sehr kleine Minderheit über die Mehrheit bestimmen konnte, weil diese die bessere Einsicht hatte (wie etwa im Kommentar des Paulus Diaconus im 8. Jahrhundert vertreten). Die Zisterzienserurkunde von 1387 enthält diese Formulierung noch, bald darauf ging man aber zum Mehrheitsprinzip der maior pars über. (Brandi 1921: 231) Das Problem ist jenes der Bestimmung, wer die bessere Einsicht habe oder – im Falle Echeverrías (1837) – wer der rationale Teil des Volkes sei. Es findet sich im Dogma Socialista (1837) keine genauere Ausführung dazu. Wie weiter unten in einem Zitat von Echeverría (1837) ersichtlich, sagt er dazu nur, dass die besten und fähigsten jene Menschen
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social. [Kursivierung im Original]“ (Echeverría 1837: 157, 158). Eine weitere Bedingung für die Inanspruchnahme des Rechts auf politische Partizipation, die mit der eben genannten in Verbindung steht, stellt Echeverría (1837) in Form des Nachweises einer regulären Arbeit auf11. Denn, wer keinen Dienst an der Gemeinschaft übt, der ist dieser und deren Wohlergehen nicht eng genug verbunden und für Stimmenkauf und Einschüchterung anfällig. Auf Frauen, gauchos und Indigene geht Echeverría (1837) nicht ein. Es wird nicht deutlich, ob sie implizit aus der parte sensata y racional de la comunidad social ausgeschlossen sind. Die Bedingung der geistigen und materiellen Autonomie schließt Menschen aus, die diese aufgrund ihres Alters (noch) nicht entwickeln konnten, Echeverría (1837) nennt aber kein Mindestalter für das Recht auf Stimmabgabe. Letztbegründung für die natürlichen Rechte des Menschen ist bei Echeverría (1837) stets Gott: „El espíritu humano es una esencia libre; la libertad es un elemento indestructible de su naturaleza y un don de Dios.“ (Echeverría 1837: 127, 128). Der Mensch ist an sich frei, seine Freiheit ist aber durch die Natur und/oder Gott bestimmt. Echeverrías (1837) Begrenzung der menschlichen Freiheit mit christlichen Grundsätzen (vgl. Kursivierung im nachfolgenden Zitat) kommt auch im folgenden Textausschnitt zum Ausdruck: „El libre ejercicio de las facultades individuales no debe causar extorsión ni violencia a los derechos de otro. No hagas a otro lo que no quieras te sea hecho; la libertad humana no tiene otros límites. [Kursivierung VÖ]“ (Echeverría 1837: 122, 123). Nation Den aktuellen Zustand Argentiniens beschreibt Echeverría (1837) folgendermaßen: „1. — Los tiranos han sembrado la cizaña y erigido su trono de iniquidad sobre los escombros de la anarquía. 2. — No hay para nosotros ley, ni derechos, ni patria, ni libertad.“ (Echeverría 1837: 101). Angesichts der Tyrannei existiere weder Gesetz, Recht, Patria noch Freiheit. Die Liebe zur Freiheit sowie der Einsatz für die Patria hätten in der Realität bislang keine Früchte getragen und die in der Mairevolution erlangten Freiheiten seien in der Praxis nutzlos (Echeverría 1837: 102). Gründe dafür findet Echeverría (1837) in der kolonialen Vergangenheit, die er als Zeit der Sklaverei bezeichnet und im negativen Einfluss des ehemaligen Mutterlandes, unter dem Hispanoamerika nach wie vor leide. Im Blut sowie in den Traditionen und Bräuchen lebe Spanien weiter. (Echeverría 1837: 144) „Su cuerpo se ha emancipado, pero su inteligencia no.“ (Echeverría 1837: 145). Das mache sich in zwei Bereichen bemerkbar: „Se diría que la América revolucionaria, libre ya de las garras del león de España, está sujeta aún a la fascinación de sus miradas y al prestigio de su omnipotencia. […] Dos legados funesseien, die die beste Tugend und die höchste Intelligenz des Landes bildeten. Diese Idee wurde nicht umgesetzt. Für den Hinweis der melior und maior pars danke ich Christopher F. Laferl. 11 „Otra condición del ejercicio de la soberanía es la industria. El holgazán, el vagabundo, el que no tiene oficio tampoco puede hacer parte del soberano; porque, no estando ligado por interés alguno a la sociedad, dará fácilmente su voto por oro o amenazas.“ (Echeverría 1837: 158).
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tos de la España traban principalmente el movimiento progresivo de la revolución americana: sus costumbres y su legislación. [...] Las costumbres de una sociedad fundada sobre la desigualdad de clases, jamás podrán fraternizar con los principios de la igualdad democrática.“ (Echeverría 1837: 145)
Einerseits in der Gesetzgebung, die ihre kolonialen Nachwirkungen zeigt und andererseits in den Bräuchen und der kolonialen Gesellschaftsordnung, die den Grundlagen der Demokratie – v.a. der Gleichheit sowie der Bereitschaft zu Innovation und dem Ausbruch aus der Routine (Echeverría 1837: 145, 146) – entgegenstehen. Spanien habe das Volk zu Untertanen erzogen sowie eine Gesellschaftsordnung der Privilegien und der Hierarchie mit Klerus und Adel an oberster Spitze geschaffen; die Patria verlange jedoch nach aufgeklärten Bürgern, die dem Ideal des hombre libre gerecht werden (Echeverría 1837:146). Um die ersehnte Patria in Form der Republik zu schaffen, bedürfe es der Überzeugung des Volkes von demokratischen Grundsätzen und dies sei Aufgabe der Asociación de la Joven Generación Argentina, die daran glaubt, dass die Demokratie in Ansätzen im argentinischen Volk bereits vorhanden ist12. Das Mittel zur Bildung der Nation ist hier also Aufklärung und Bildung. Dass Echeverría (1837) vom Erfolg von Bildungsmaßnahmen und dem systematischen Aufbau von Grundschulbildung überzeugt ist, um das Volk zu einer Summe aus Staatsbürgern zu erziehen, lässt sich auch im folgenden Textausschnitt erkennen. Um eine Änderung von Bräuchen und Moral zu erreichen, empfehle sich religiöse Erziehung (Echeverría 1837: 160). Wie kann die Religion zur Bildung der Patria durch moralische Erziehung beitragen? Gerade auf dem Gebiet der Moral sei ein weiterer Grund für die fehlende Einheit Argentiniens und den aktuellen Zustand der Tyrannei zu finden: Egoismus: „[…] ¿irá la generación de los gigantes a unirse al coro de los idólatras perjuros, que no tienen más Dios que el egoísmo, más patria que sus mezquinas ambiciones, más idea de la dignidad del hombre que de la dignidad de los brutos?“ (Echeverría 1837: 103). Die Patria selbst wird als Wille Gottes verstanden, die Ideen der jungen Generation als heiliger Schwur: „He aquí el mandato de Dios, he aquí el clamor de la patria, he aquí el sagrado juramento de la joven generación.“ (Echeverría 1837: 106). Dass die von Echeverría (1837) gezeichnete zukünftige Nation auf einem christlichen Fundament und christlichen Werten ruht, wird an mehreren Stellen des Dogma Socialista (1837) deutlich, wenn er sich auch, wie oben dargestellt, gegen eine Staatsreligion ausspricht: „La mejor de las religiones positivas es el cristianismo, porque no es otra cosa que la revelación de los instintos morales de la humanidad.“ (Echeverría 1837: 124). Zivilgesellschaft und religiöse Gemeinschaften müssen voneinander unabhängig sein – das unterscheide die neue Patria vom Kolonialsystem – doch aufgrund des christlichen Gesetzes der Liebe und der Freiheit müssen Demokratien den christlichen Glauben als Religion wählen: „La sociedad religiosa es independiente de la sociedad civil; aquélla encamina sus esperanzas a otro mundo, ésta 12 „La Asociación de la Joven Generación Argentina, cree que la democracia existe en germen en nuestra sociedad; su misión es predicarla, difundir su espíritu y consagrar la acción de sus facultades a fin de que un día llegue a constituirse en la República.“ (Echeverría 1837: 167).
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las concentra en la tierra; la misión de la primera es espiritual, la de la segunda temporal.“ (Echeverría 1837: 126); „El Evangelio es la ley de amor, y como dice el Apóstol Santiago, la ley perfecta, que es la ley de la libertad. El cristianismo debe ser la religión de las democracias.“ (Echeverría 1837: 125). Die Religion soll, wie alle anderen Gesellschaftsbereiche, den Zielen der Demokratie und der Patria dienen: „Política, filosofía, ciencia, religión, arte, industria, todo deberá encaminarse a la democracia, ofrecerle su apoyo y cooperar activamente a robustecerla y cimentarla.“ (Echeverría 1837: 154). Zudem soll der Klerus seiner Privilegien entledigt werden und die geerbte spanische Gesellschaftsordnung zugunsten einer Hierarchie nach neuen Kriterien umgestaltet werden: republikanischer Tugenden, Talent und Leistung. „La única jerarquía que debe existir en una sociedad democrática, es aquella que trae su origen de naturaleza y es invariable y necesaria como ella. […] pero ni su oro, ni los inciesos del vulgo vil, les infundirán nunca lo que la naturaleza les negó, capacidad y virtudes republicanas. [Kursivierung im Original]“ (Echeverría 1837: 121)
Die von Echeverría (1837) genannten Kriterien zur Neuordnung der gesellschaftlichen Hierarchie nach dem Prinzip der Meritokratie erscheinen ihm legitim, weil sie natürlichen und göttlichen Ursprungs sind: „La inteligencia, la virtud, la capacidad, el mérito probado; he aquí las únicas jerarquías de su origen natural y divino.“ (Echeverría 1837: 121). Alle anderen Privilegien sollen abgeschafft werden, damit demokratische Gleichheit – und damit meint er Gleichheit vor dem Recht – entstehen kann: „La igualdad consiste en que esos derechos y deberes sean igualmente admitidos y declarados por todos, en que nadie pueda substraerse a la acción de la ley que los formula, en que cada hombre participe igualmente del goce proporcional a su inteligencia y trabajo. Todo privilegio es un atentado a la igualdad. No hay igualdad donde la clase rica se sobrepone y tiene más fueros que las otras. [...] Donde sólo los partidos, no la nación, son soberanos. [Kursivierung im Original]“ (Echeverría 1837: 119) „Es también atentatorio a la igualdad, todo privilegio otorgado a corporación civil, militar o religiosa, academia o universidad; toda ley excepcional y de circunstancias. La sociedad o el poder que la representa, debe a todos sus miembros igual protección, seguridad, libertad; si a unos se la otorga y a otros no, hay desigualdad y tiranía.“ (Echeverría 1837: 120)
Ein weiteres Mittel zur Bildung der Massen und deren Bewusstwerdung ihrer staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten ist die Vorbereitung der Bevölkerung durch das Gesetz und seine öffentliche Verbreitung. „Es indispensable por lo mismo para preparar al pueblo y al legislador, elaborar primero la materia de la ley, es decir, difundir las ideas que deberán encarnarse en los legisladores y realizarse en las leyes, hacerlas circular, vulgarizarlas, incorporarlas al espíritu público. [...] Sólo con esta condición lograremos lo que deseamos todos ahincadamente, que aparezca el legislador futuro, o una representación nacional capaz de comprender y remediar los males que sufre
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la sociedad, de satifacer sus votos y de echar el fundamento de un orden social incontrastable y permanente. [Kursivierungen im Original]“ (Echeverría 1837: 166)
Das Gesetz diene außerdem – neben der Religion – der Änderung der Bräuche und der staatsbürgerlichen Erziehung. „La obra de la legislación es lenta, porque las costumbres no se modifican de un golpe. Las leyes influyen sobremanera en mejora de las costumbres. Cuando las leyes son malas, las costumbres se depravan; cuando buenas, se mejoran. […] Nuestras leyes positivas deben estar en armonía con los principios de derecho natural.“ (Echeverría 1837: 148) „Ellas [las leyes] fijarán a cada ciudadano los límites de sus respectivos derechos y obligaciones, y les enseñarán lo útil o nocivo a su interés particular y al colectivo de la sociedad.“ (Echeverría 1837: 149)
Das Ziel der Nation ist Fortschritt. Um Fortschritt zu erlangen, muss die Nation zivilisiert werden. Europa kann hier als Vorbild dienen, da es das Zentrum der Zivilisation darstellt: „La América, creyendo que podía mejorar de condición se emancipó de la España; desde entonces entró en las vías del progreso. Progresar es civilizarse, o encaminar la acción de todas sus fuerzas al logro de su bienestar, o en otros términos, a la realización de la ley de su ser. La Europa es el centro de la civilización de los siglos y del progreso humanitario. [Kursivierung im Original]“ (Echeverría 1837: 116)
Eine Orientierung an Europa – wohl mit der Ausnahme Spaniens13 – und dessen humanitären Fortschritts bedeute keine bloße Übernahme europäischer Ideen. Vielmehr müssten die Spezifika des argentinischen Volks14 berücksichtig werden, denn: „Cada pueblo tiene su vida y su inteligencia propia.“ (Echeverría 1837: 116). An der europäischen Aufklärung sowie an den nationalen Spezifika gleichermaßen orientiert, zeichnet Echeverría (1837) das Programm der Asociación de la Joven Generación Argentina zum Aufbau der Nation: „La Asociación de la Joven Generación Argentina, representa en su organización provisoria el porvenir de la nación argentina: su misión es esencialmente orgánica. Ella procurará derramar su espíritu y su doctrina; extender el círculo de sus tendencias progresivas; atraer los ánimos a
13 Kurz bevor Echeverría (1837) die Notwendigkeit, sich am Zentrum der Zivilisation – Europa – zu orientieren betont, hält er fest, dass sich América von Spanien emanzipieren wollte, da es glaubte, dadurch seine Situation zu verbessern. An mehreren Stellen wird Spanien als Ursache für den fehlenden Fortschritt in Argentinien genannt. Auch wenn sich Echeverría (1837) und andere Autoren der generación del 37 oftmals generell auf Europa beziehen, so grenzen sie sich in den Texten von Spanien ab. 14 „Pediremos luces a la inteligencia europea, pero con ciertas condiciones. El mundo de nuestra vida intelectual será a la vez nacional y humanitario; tendremos siempre un ojo clavado en el progreso de las naciones y el otro en las entrañas de nuestra sociedad.“ (Echeverría 1837: 175).
244 | F REIHEIT UND N ATION la grande asociación nacional uniformando las opiniones y concentrándolas en la patria y en los principios de la igualdad, de la libertad y de la fraternidad de todos los hombres. Ella trabajará en conciliar y poner en armonía el ciudadano y la patria, el individuo y la asociación: y en preparar los elementos de la organización de la nacionalidad argentina sobre el principio democrático.“ (Echeverría 1837: 114)
Die Nation soll durch Synthese der vorhandenen Meinungen auf Grundlage der Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in Form einer Demokratie entstehen. Staatsbürger und Patria, Individuum und asociación müssen miteinander in Übereinstimmung gebracht werden. Dem Prinzip der Brüderlichkeit kommt bei der Einigung der Nation eine besondere Stellung zu, denn ohne die Solidarisierung und ein einigendes Band zwischen allen Patrioten kann es keine Patria geben: „La fraternidad es la cadena de oro que debe ligar todos los corazones puros y verdaderamente patriotas; sin esto no hay fuerza, ni unión, ni patria.“ (Echeverría 1837: 118). Demokratie kann aus der Sicht Echeverrías (1837) nur funktionieren, wenn sämtliche Gesellschaftsbereiche – gleich ob Politik, Philosophie, Kunst, Wissenschaft oder Wirtschaft – ihr und der Nation dienen, wie zuvor im Hinblick auf die Religion bereits erwähnt. Besonders deutlich wird dies in den folgenden beiden Textpassagen: „Nuestro punto de arranque y reunión será la democracia. Política, filosofía, religión, arte, ciencia, industria; toda la labor inteligente y material deberá encaminarse a fundar el imperio de la democracia. Política que tenga otra mira, no la queremos. Filosofía que no coopere a su desarrollo, la desechamos. Religión que no la sancione y la predique, no es la nuestra. Arte que no se anime de su espíritu y no sea la expresión de la vida del individuo y de la sociedad, será infecundo. Ciencia que no la ilumine, inoportuna. Industria que no tienda a emancipar las masas y elevarlas a la igualdad, sino a concentrar la riqueza en pocas manos, la abominamos.“ (Echeverría 1837: 173) „Queremos una política, una religión, una filosofía, una ciencia, un arte, una industria que concurran simultáneamente a idéntica solución moral; que proclamen y difundan verdades enlazadas entre sí, las cuales se dirijan a establecer la armonía de los corazones e inteligencias o la unión estrecha de todos los miembros de la familia argentina.“ (Echeverría 1837: 174)
Um die Vereinigung aller Mitglieder der ‚argentinischen Familie‘15 zu erlangen, sei es nötig – man denke hierbei an die Ausführungen Benedicts Andersons (2005) zum Vergessen – alle in Folge der Unabhängigkeitskriege entstandenen Verwerfungen zwischen den künftigen Nationsangehörigen im Sinne einer Generalamnestie zu vergessen und den Frieden mit der Vergangenheit für den Frieden in der Gegenwart und in der Zukunft16 zu nutzen.
15 Es finden sich keine Hinweise im Dogma Socialista (1837), dass mit Familie eine genealogische-biologische Dimension gemeint wäre. Der Bezug wird stets mit Brüderlichkeit und Solidarität hergestellt. 16 „Es menester llevar la paz a la historia, para radicarla en el presente, que es hijo del pasado, y el porvenir, que es hijo del presente.“ (Echeverría 1837: 178).
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„Armonía en los intereses, armonía en las opiniones, en las localidades, en los hombres, en el presente, en el pasado de nuestra vida política. Para ello una general amnistía para todos los extravíos precedentes; una ley de olvido conteniendo todos los momentos, todos los sucesos, todos los caracteres históricos de la revolución americana.“ (Echeverría 1837: 177)
Das Gelingen einer in dieser Form konstruierten Patria könne als Modell für Freiheit in ganz Amerika dienen: „La que vosotros conquistéis será la libertad de medio mundo: trabajando por la emancipación de vuestra patria, trabajáis por la emancipación del genio americano.“ (Echeverría 1837: 105). Welche Art der Nation schwebt Echeverría (1837) und der Asociación de la Joven Generación Argentina vor (Kategorie C1)? Zusammengefasst wird eine geeinte Nation, die Individualinteressen und Gemeinwohl mithilfe einer Synthese der vorhandenen Meinungen und einer Generalamnestie verbindet und das einigende Band aller Nationsangehörigen und hombres libres über alle anderen gesellschaftlichen Belange stellt, als wünschenswert dargestellt wird. Ihr müssen alle Gesellschaftsbereiche dienen, seien es Politik, Philosophie, Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft oder Religion. Religion soll zur moralischen Bildung sowie als Wertebasis der Nation dienen und in Abgrenzung zu spanischen Traditionen und Bräuchen stehen. Auf Grundlage demokratischer Prinzipien und der Grundsätze der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit soll eine asociación des argentinischen Volkes entstehen, deren gesellschaftliche Hierarchie nach den Kriterien der Meritokratie (Talent, Leistung) sowie der republikanischen Tugenden organisiert ist. Als Mittel zur Konstruktion des beschriebenen Nationsmodells streicht Echeverría (1837) Schul- und religiöse Bildung sowie die zivilisierende Wirkung von Gesetzen hervor. Ist demnach eher von einer Staats- oder Kulturnation im Dogma Socialista (1837) auszugehen (D2)? Es lassen sich Hinweise auf beide Ausprägungen der Nation finden. Zum einen bindet Echeverría (1837) den Begriff der ‚patria‘ an die Rechte der Staatsbürger, ein Aspekt, der für die Staatsnation spricht. Die Nation ist nicht durch den Geburtsort ihrer Mitglieder bestimmt, sondern stellt die Summe jener, die über die argentinische Staatsbürgerschaft verfügen, dar: „[…] la patria no se vincula en la tierra natal, sino en el libre ejercicio y pleno goce de los derechos de ciudadano.“ (Echeverría 1837: 104). Zum anderen sind für Echeverría (1837) all jene Argentinier, die sich zur Patria bekennen, zur Mairevolution, zu dreißigjährigen Geschichte seit der Unabhängigkeit, sich als Teil des argentinischen Volkes mit ihrer Fahne und ihrer Geschichte sehen. Hier spielen durchaus Elemente der Kulturnation wie die gemeinsame Geschichte, gemeinsame Symbole und Erinnerungen eine Rolle. In der folgenden Textpassage wird zugleich deutlich, dass die so verfasste Kulturnation dennoch inklusiv gestaltet ist und keine ethnischen Exklusionskriterien aufweist. Ob implizite Ausschlusskriterien darin angelegt sind, kann auf der Textbasis allein nicht beantwortet werden. „Todos los argentinos son unos en nuestro corazón, sean cuales fueren su nacimiento, su color17, su condición, su escarapela, su edad, su profesión, su clase. Nosostros no conocemos más que una sola facción, la patria, más que un solo color, el de Mayo, más que una sola época, los treinta años de revolución republicana. Desde la altura de estos supremos datos, nosotros no
17 Hier ist die Parteizugehörigkeit gemeint.
246 | F REIHEIT UND N ATION sabemos qué son unitarios y federales, colorados y celestes, plebeyos y decentes, viejos y jóvenes, porteños y provincianos, año 10 y año 20, año 24 y año 30; divisiones mezquinas que vemos desaparecer como el humo delante de las tres grandes unidades del pueblo, de la bandera y de la historia de los argentinos. [Kursivierungen im Original]“ (Echeverría 1837: 180)
Die genannten Aspekte könnten auch eine Antwort auf die oben offen gebliebene Frage sein, worin die Spezifika des argentinischen Volkes, die neben den europäischen Vorbildern Berücksichtigung bei der Konstruktion der Nation finden sollen, bestehen. Die künftige Regierung Argentiniens sollte laut Echeverría (1837) jedenfalls den kulturellen Elementen des argentinischen Volkes entsprechend gestaltet sein: „[…] aquel gobierno será mejor que tenga más analogía con nuestras costumbres y nuestra condición social.“ (Echeverría 1837: 113). Wer ist Teil des Volkes, wer als Souverän im Dogma Socialista (1837) vorgesehen (D3)? Wie bereits im Abschnitt zu ‚Freiheit‘ erwähnt, schließt Echeverría (1837) per se niemanden vom Recht auf politische Partizipation aus, was er mit den Prinzipien der Demokratie und deren Gleichheitsanspruch, aber auch mit Gott begründet. „La democracia es el gobierno de las mayorías, o el consentimiento uniforme de la razón de todos, obrando para la creación de la ley y para decidir soberanamente sobre todo aquello que interesa a la asociación. El consentimiento general y uniforme constituye la soberanía del pueblo. [Kursivierungen im Original]“ (Echeverría 1837: 155) „[…] la voz del pueblo es la voz de Dios.“ (Echeverría 1837: 164)
Doch gilt Echeverría (1837) die Einschränkung, dass nicht die voluntad colectiva, sondern die razón colectiva Souverän sein sollte. Nur Individuen, die sich von vernunftbegründeten Entscheidungen leiten lassen, sollen Teil des Souveräns sein: „La razón colectiva sólo es soberana, no la voluntad colectiva. La voluntad es ciega, caprichosa, irracional; la voluntad quiere, la razón examina, pesa y se decide.“ (Echeverría 1837: 157). Angesichts des vorliegenden Bildungsgrades der argentinischen Bevölkerung erscheint es ihm absurd, sofort das allgemeine Wahlrecht festzuschreiben18. Um das langfristige Ziel der demokratischen Gleichheit zu erreichen, sei es daher geboten, dem argentinischen Volk entsprechende Emanzipierungs- und Bildungsmaßnahmen zu bieten. „Él procurará elevar a la clase proletaria al nivel de las otras clases, emancipando primero su cuerpo, con el fin de emancipar después su razón. Para emancipar las masas ignorantes y abrirles el camino de la soberanía, es preciso educarlas. Las masas no tienen sino instintos; son más sensibles que racionales; quieren el bien y no saben dónde se halla; desean ser libres y no conocen la senda de la libertad.“ (Echeverría 1837: 159) „Pero el pueblo, las masas, no tienen siempre en sus manos los medios de conseguir su emancipación. La sociedad o gobierno que la representa debe ponerlo a su alcance. Él fomentará la industria, destruirá las leyes fiscales que traban su desarrollo, no la sobrecargará de impuestos y
18 „La soberanía sólo reside en la razón colectiva del pueblo. El sufragio universal es absurdo.“ (Echeverría 1837: 174).
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dejará que ejerza libre y severamente su actividad. [Kursivierung im Original]“ (Echeverría 1837: 159)
Diese Aufgabe der Regierung umfasse nicht nur den Aufbau von Bildungsinstitutionen, sondern auch die Förderung von Wirtschaft und die Abschaffung von Steuern, die die Entwicklung der Wirtschaft hemmen. Auch die Bürger sollten nicht mit zu hohen Steuern belastet werden, damit sie ihrer Tätigkeit frei nachgehen können. Denn, wie oben bereits erläutert, ist für Echeverría (1837) die wirtschaftliche Unabhängigkeit eine Voraussetzung für eine vernünftige Stimmabgabe. „Ilustrar las masas sobres sus verdaderos derechos y obligaciones, educarlas con el fin de hacerlas capaces de ejercer la ciudadanía y de infundirlas la dignidad de hombres libres, protegerlas y estimularlas para que trabajen y sean industriosas, suministrarles los medios de adquirir bienestar e independencia: he aquí el modo de elevarlas a la igualdad.“ (Echeverría 1837: 121)
Echeverría (1837) besteht auf der Trennung zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen öffentlich und privat, wenn er darauf aufmerksam macht, dass die Souveränität des Volkes ihre Grenzen an der individuellen Freiheit findet: „La soberanía del pueblo es ilimitada en todo lo que pertenece a la sociedad, en la política, en la filosofía, en la religión; pero el pueblo no es soberano de lo que toca al individuo, de su conciencia, de su propiedad, de su vida y su libertad.“ (Echeverría 1837: 156); „Resulta de aquí, que el limite [sic] de la razón colectiva es el derecho; y el límite de la razón individual, la soberanía de la razón del pueblo. [Kursivierungen im Original]“ (Echeverría 1837: 156). Hierbei kommt wiederum der oben formulierte Wunsch, in der Nation Individuum und asociación miteinander zu versöhnen, bei Gewährleistung der Rechte beider, zum Ausdruck. Vom Emanzipationsgrad des Volkes und dessen Bereitschaft, staatsbürgerliche Rechte und Pflichten zu übernehmen, hängt es nach Echeverría (1837) ab, ob eine Verfassung sinnvoll erscheint. „De aquí nace también, que si el legislador tiene conciencia de su deber, antes de indagar cuál forma gubernativa sería preferible, debe averiguar si el pueblo se halla en estado de regirse por una constitución; y dado este caso, ofrecerle, no la mejor y más perfecta en teoría, sino aquélla que se adapte a su condición. [...] De aquí, en suma, deduciremos la necesidad de preparar al legislador, antes de encomendarle la obra de una constitución. El legislador no podrá estar preparado si el pueblo no lo está.“ (Echeverría 1837: 165)
Ein vorbildlicher, autonomer und vernunftbegabter Staatsbürger, der grande hombre oder hombre de honor, sollte nach Echeverría (1837) folgende Tugenden aufweisen: „El hombre de honor no traiciona los principios. El hombre de honor es veraz, no falta a su palabra, no viola la religión del juramento; ama lo verdadero y lo justo; es caritativo y benéfico. El hombre de honor no prevarica, tiene rectitud y probidad, no vende sus favores cuando se halla elevado en dignidad. El hombre de honor es buen amigo, no traiciona al enemigo que viene a ponerse bajo su salvaguardia; el hombre de honor es virtuoso, buen patriota y buen ciudadano.“ (Echeverría 1837: 130)
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Neben den Tugenden des guten Patrioten und Staatsbürgers, die eine christliche Prägung aufweisen, ist zu erwähnen, dass der grande hombre sich in sämtlichen Gesellschaftsbereichen mit seinem Engagement für die Nation auszeichnen kann: „El grande hombre puede ser guerrero, estadista, legislador, filósofo, poeta, hombre científico.“ (Echeverría 1837: 135). „Grande hombre es aquel que, conociendo las necesidades de su tiempo, de su siglo, de su país, y confiando en su fortaleza, se adelanta a satifacerlas; y a fuerza de tesón y sacrificios, se labra con la espada o la pluma, el pensamiento o la acción, un trono en el corazón de sus conciudadanos o de la humanidad.“ (Echeverría 1837: 134)
Eine für die Nation typische Eigenschaft des hombre de honor ist schließlich gesondert hervorzuheben: die Bereitschaft, sich für die Nation zu opfern. „El hombre de honor detesta la tiranía porque tiene fe en los principios y no es egoísta: la tirania es el egoísmo encarnado. El hombre de honor se sacrifica, si es necesario, por la justicia y la libertad. […] El que no obra cuando la patria está en peligro, no merece ser hombre ni ciudadano. La virtud de las virtudes es la acción encaminada al sacrificio.“ (Echeverría 1837: 131) „El sacrificio es aquella disposición generosa del ánimo, que lleva al hombre a consagrar su vida y facultades, ahogando a menudo las sugestiones de su interés personal y de su egoísmo, a la defensa de una causa que considera justa; al logro de un bien común a su patria y a sus semejantes; a cumplir con sus deberes de hombre y de ciudadano siempre y a pesar de todo; y a derramar su sangre si es necesario para desempeñar tan alta y noble misión.“ (Echeverría 1837: 131)
Wer nicht bereit ist, für die Nation Opfer zu bringen, kann weder hombre, noch Staatsbürger sein. Zum Nationsangehörigen wird man nicht nur aufgrund einer politischen Gemeinschaft (Staatsnation), sondern auch aufgrund der Bereitschaft, die Nation über individuelle Freiheiten – konkret das Recht auf Leben – zu stellen. Freiheit und Nation Wie lässt sich das im Dogma Socialista (1837) etablierte Verhältnis von Freiheit und Nation auf den Punkt bringen (Kategorie D)? „Nosotros nos perdimos porque gritamos libertad, libertad, y no fuimos hermanos; la desunión inutilizó todos nuestros sacrificios. [Kursivierung im Original]“ (Echeverría 1837: 104). Nicht Freiheit ist Grundlage und Voraussetzung für die Konstruktion der Nation – der Aufbau der Nation, die nationale Einigung, erscheint bei Echeverría (1837) als Bedingung dafür, dass sich Freiheit über die ohnehin jedem Individuum angeborene natürliche Freiheit hinaus entfalten kann: „Asociarse, mancomunar su inteligencia y sus brazos para resistir a la opresión, es el único medio de llegar un día a constituir la patria.“ (Echeverría 1837: 1837). Die Fraternisierung und Herstellung eines einigenden Bandes sowie die asociación als eine Art Gesellschaftsvertag zwischen den zukünftigen Nationsangehörigen werden hier als einziges Mittel genannt, um zur Nation zu gelangen. Argumentiert wird diese Verbindung nicht nur mit Argumenten der Staatsnation (Erweiterung der (bürgerlichen) Freiheit gegenüber der natürlichen Freiheit, so der Zusammenschluss in der asociación gelingt), sondern stets mit religiösen Bezügen:
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„En la unión está la fuerza; el reino dividido perecerá, dijo el Salvador del mundo.“ (Echeverría 1837: 104). Ziel der asociación ist der Fortschritt der Nation. „Sin asociación no hay progreso, o más bien ella es la condicición forzosa de toda civilización y de todo progreso.“ (Echeverría 1837: 109). Mit Fortschritt ist durchaus auch die Freiheit der Staatsbürger und Nationsangehörigen gemeint. „La confraternidad de principios producirá la unión y fraternidad de todos los miembros de la familia argentina y concentrará sus anhelos en el solo objeto de la libertad y engrandecimiento de la patria.“ (Echeverría 1837: 172) „La perfección de la asociación está en razón de la libertad de todos y de cada uno. […] Es necesario trabajar para que todas las fuerzas individuales, lejos de aislarse y reconcentrarse en su egoísmo, concurran simultánea y colectivamente a un fin único: al progreso y engrandecimiento de la nación.“ (Echeverría 1837: 112)
Freiheit lässt sich, wie oben erwähnt, nur über den Weg der Nation erreichen. Individuelle wie kollektive Freiheit und der Fortschritt der Nation werden hier gleichermaßen als Ziele der asociación erwähnt. Wie also werden sie miteinander vereint? „Para que la asociación corresponda ampliamente a sus fines, es necesario organizarla y constituirla de modo que no se choquen ni dañen mutuamente los intereses sociales y los intereses individuales o combinar entre sí estos dos elementos: el elemento social y el individual, la patria y la independencia del ciudadano. [...] El derecho del hombre y el derecho de la asociación son igualmente legítimos.“ (Echeverría 1837: 109)
Echeverría (1837) bleibt eine konkrete Antwort schuldig, wann welchem der ihrerseits legitimen Rechte des Individuums und der Gemeinschaft der Vorrang gegeben werden soll. Die potenziellen Widersprüche zwischen den Interessen der Individuen und jenen des Kollektivs thematisiert er nicht. Er betont aber, dass die Freiheit des Individuums gewahrt werden muss und nicht dem Kollektiv zum Opfer fallen darf. „La política debe encaminar sus esfuerzos a asegurar por medio de la asociación a cada ciudadano su libertad y su individualidad. La sociedad debe poner a cubierto la independencia individual de todos sus miembros, como todas las individualidades están obligadas a concurrir con sus fuerzas al bien de la patria. La sociedad no debe absorber al ciudadano o exigirle el sacrificio absoluto de su individualidad. El interés social tampoco permite el predominio exclusivo de los intereses individuales, porque entonces la sociedad se disolverá, no estando sus miembros ligados entre sí por vínculo alguno común.“ (Echeverría 1837: 109, 110)
Argentinien sei aufgrund der Nachwirkungen der spanischen Kolonialzeit, deren Gesellschaftshierarchie und Bräuche bislang nicht in der Lage gewesen, Gesetz, Freiheit und Nation zur Durchsetzung zu bringen. Welchen Weg schlägt Echeverría (1837) vor diesem Kontext vor, um zur asociación in der freiheitsfördernden Nation zu gelangen? Einerseits nennt er religiöse (moralische) Erziehung, Bildungsmaßnahmen, Wirtschaftsförderung und die zivilisierende Wirkung des Gesetzes als Mittel zur Änderung von freiheitsfeindlichen Sitten und Bräuchen und der Befähigung der Massen zu vernunftgeleiteten Entscheidungen – die Voraussetzung für das langfristig anzu-
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strebende allgemeine Wahlrecht. „Para destruir estos gérmenes nocivos y emanciparnos completamente de esas tradiciones añejas, necesitamos una reforma radical en nuestras costumbres; tal será la obra de la educación y de las leyes.“ (Echeverría 1837: 147). Diese Maßnahmen lassen nicht auf explizite Exklusion von Individuen aufgrund von Gender oder Ethnizität schließen. Echeverría (1837) scheint außerdem davon überzeugt, dass Freiheit und Nation nur mithilfe von Gewalt herzustellen seien. „Vuestra libertad y la suya no la recobraréis sino con sangre. Del coraje es el triunfo; del patriotismo el galardón; de la prudencia el acierto.“ (Echeverría 1837: 105) „Estad siempre preparados, porque el tiempo de la cruzada de emancipación se acerca. El reino de la verdad no vendrá sino con guerra.“ (Echeverría 1837: 105) „Caed mil veces; pero levantaos otras tantas. La libertad, como el gigante de la fábula, recobra en cada caída nuevo espíritu y pujanza: las tempestades la agrandan y el martirio la diviniza.“ (Echeverría 1837: 105) „Pero, acordaos que para triunfar necesitáis uniros; y que sólo con el concurso armónico de todas vuestras fuerzas, lograréis desempeñar vuestra misión y encaminar vuestra patria al rango de Nación libre, independiente y poderosa.“ (Echeverría 1837: 106)
Welches Ideal einer freiheitsfördernden Nation zeichnet Echeverría (1837) im Dogma Socialista (1837), wie soll das Ergebnis der mit Gewalt, Bildung und Gesetzen erreichten Nation gestaltet sein? Echeverría (1827) befürwortet eine Nation, deren einigendes Band auf den Prinzipien der Demokratie, der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sowie gemeinsamer Geschichte, Symbole und Erinnerungen seit 1810 beruht. Es ist eine Nation, die sich auf christliche Werte beruft und ihren Verpflichtungsgrund vom Willen Gottes ableitet, Religions- und Gewissensfreiheit aber anerkennt und keine Staatsreligion vorsieht. Diese Form der asociación soll nach den Kriterien der Meritokratie und der republikanischen Tugenden strukturiert sein und mit der Gleichheit vor dem Recht sämtliche Privilegien für obsolet erklären. Langfristig gesehen, soll sie sich eine Verfassung geben und das allgemeine Wahlrecht festschreiben. Bis das argentinische Volk zu autonomen, vernunftgeleiteten Entscheidungen fähig ist, soll dieses jedoch ausschließlich dem vernünftigen Teil des Volkes vorbehalten sein. „¿Los que por su voto imprudente podrían comprometer la libertad de la patria y la existencia de la sociedad? ¿Cómo podrá, digo, ver el ciego, caminar el tullido, articular el mudo, es decir, concurrir a los actos soberanos el que no tiene capacidad ni independencia?“ (Echeverría 1837: 158) „La parte ignorante queda bajo la tutela y salvaguardia de la ley dictada por el consentimiento uniforme del pueblo racional. La democracia, pues, no es el despotismo absoluto de las masas, ni de las mayorías; es el régimen de la razón.“ (Echverría 1837: 158)
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Die Kategorien D3 und D4 des Verfassungsstaates sind im Dogma Socialista (1837) demnach noch nicht relevant. Im Rahmen der asociación, die das Individuum vom Zustand der natürlichen Freiheit in jenen der bürgerlichen Freiheit überführt (Kategorie D2), soll positives Recht bei Vorrang der Menschenrechte19 herrschen, da sich die asociación bei Missachtung der natürlichen Freiheit der Individuen selbst auflöst. Dieses garantiert die üblicherweise im Rahmen von Freiheit vom Staat angeführten Individualrechte durch einfache Gesetze. „Ninguna mayoría, ningún partido o asamblea, tiene derecho para establecer una ley que ataque las leyes naturales y los principios conservadores de la sociedad, y que ponga a merced del capricho de un hombre la seguridad, la libertad y la vida de todos. (Echeverría 1837: 110, 111) A la voluntad nacional, verdadera conciencia pública, toca interpretar y decidir soberanamente sobre lo justo, lo verdadero y lo obligatorio: he aquí el dominio de la ley positiva. Pero más allá de esa ley, y en otra esfera más alta, existen los derechos del hombre, que siendo la base y la condición esencial del orden social, se sobreponen a ella y la dominan.“ (Echeverría 1837: 110)
Kernanliegen des Dogma Socialista (1837) ist es, Freiheit und Nation in ein geeignetes Verhältnis zu bringen.: „[…] de la fórmula llamada hoy a presidir la política moderna, que consiste, como lo hemos dicho en otra parte, en la armonización de la individualidad con la generalidad, o en otros términos, de la libertad con la asociación. [Kursivierungen im Original]“ (Echeverría 1837: 183) sowie zur Vereinigung in der Nation aufzurufen: „Alzaos, dignos hijos de los padres de la patria y marchad unidos hacia la conquista de la libertad y de los gloriosos destinos de la Nación Argentina.“ (Echeverría 1837: 104). Dabei wird die Nation dem Ziel der Freiheit bisweilen übergeordnet. Wie oben dargestellt, sollen sämtliche Gesellschaftsbereiche (Politik, Philosophie, Kunst, Religion, Wissenschaft, Wirtschaft) der Nation dienen und sich ihr unterordnen. Freiheit allein habe bislang keine praktische Umsetzung erlangt. Erst mit der Vereinigung des Volkes in der Nation könne ein freiheitssichernder Rahmen etabliert werden. Da es ohne Nation keine praktische Freiheit geben kann, muss das Individuum bei sonstiger Garantie seiner individuellen Freiheit nicht nur dem Wohl der Nation dienen: „[…] y que, en suma, en una sociedad democrática sólo son dignos, sabios y virtuosos y acreedores a consideración, los que propenden con sus fuerzas naturales al bien y prosperidad de la patria.“ (Echeverría 1837: 147). Es muss darüber hinaus auch bereit sein, sein Leben (und damit seine individuelle Freiheit) für die Nation zu opfern. Denn: „la nacionalidad es sagrada [Kursivierung im Original]“ (Echeverría 1837: 151). Auswertung der Kategorien in der Ojeada Retrospectiva gemäß Analyseschema 1 Die Ojeada Retrospectiva (1846) sei aus Liebe zur Patria entstanden und richtet sich an alle, die sich für sie geopfert haben: „¡MÁRTIRES sublimes! a vosotros dedico estas páginas inspiradas por el amor a la Patria, única ofrenda que puedo hacerla en el destierro; [Hervorhebung im Original]“ (Echeverría 1846: 3). Echeverría (1846) er19 Echeverría (1837) stellt hier keinen expliziten Bezug zur Französischen oder Amerikanischen Revolution her.
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läutert in der Ojeada Retrospectiva (1846) zunächst, wie der Dogma Socialista (1837) zustande kam. In der Asociación de la Joven Generación Argentina hätte er all jene vereint, die sich für die Patria einsetzen wollten20. Ausgangspunkt ihrer Arbeit sei es gewesen, alle vorhandenen Verfassungen und Statute der Provinzen sowie der Nation zu studieren und miteinander zu vergleichen (Echeverría 1846: 16, 17). Der Dogma Socialista (1837) wurde von allen Mitgliedern angenommen – zuvor wurden einzelne Aspekte zur vernunftbasierten Meinungsfindung einer gemeinsamen Diskussion unterzogen. „La aprobaron [la redacción del Dogma] en todas sus partes, y se invirtió una noche en leerla ante la Asociación, entonces algo más numerosa que al principio. Después de su lectura, a petición del que suscribe, se resolvió considerar y discutir por partes el dogma, porque importaba que todos los miembros le diesen su asentimiento meditado y racional para que él no fuese sino la expresión formulada del pensamiento de todos.“ (Echeverría 1846: 17, 18)
Freiheit In der Ojeada Retrospectiva (1846) bekräftigt Echeverría einige der zentralen Forderungen und Positionen des Dogma Socialista (1837). Nach dem Erfolg der Mairevolution sei die argentinische Bevölkerung aus der spanischen Knechtschaft befreit worden und habe volle individuelle und soziale Freiheit erlangt (Echeverría 1846: 19). „Nosotros queríamos, pues, que el pueblo pensase y obrase por sí, que se acostumbrase poco a poco a vivir colectivamente, a tomar parte en los intereses de su localidad comunes a todos, que palpase allí las ventajas del orden, de la paz y del trabajo común; encaminado a un fin común.“ (Echeverría 1846: 22)
Weil es ein Ziel der Asociación de la Joven Generación Argentina war, das Volk an das neue Kollektiv zu gewöhnen, das lernen sollte, selbstbestimmt zu leben und sich an gemeinschaftlichen Interessen zu beteiligen, wurde die Einführung des allgemeinen Wahlrechts diskutiert. Diese Frage sollte heftige Kontroversen zwischen den Mitgliedern auslösen. Die Befürworter des allgemeinen Wahlrechts nahmen sich die USA zum Vorbild und argumentierten darüber hinaus mit dem geltenden Recht in Argentinien, das bereits das allgemeine Wahlrecht vorsah. Die Gegner, zu denen sich auch Echeverría (1846) zählt, lehnten dieses aufgrund des Scheiterns des unitarischen Systems21 und der in Argentinien gemachten Erfahrungen mit dem allgemeinen Wahlrecht ab. (Echeverría 1846: 28, 29) 20 „A fines de mayo del año de 1837 se propuso el que subscribe promover el establecimiento de una Asociación de jóvenes, que quisieran consagrarse a trabajar por la Patria. [Kursivierung im Original]“ (Echeverría 1846: 7). 21 „Lo diremos francamente. El vicio radical del sistema unitario, el que minó por el cimiento su edificio social, fué esa ley de elecciones, el sufragio universal. El partido unitario desconoció completamente el elemento democrático en nuestro país. Aferrado en las teorías sociales de la Restauración en Francia, creyó que podría plantificar en él de un soplo instituciones representativas, y que la autoridad del gobierno bastaría para que ellas adquiriesen consistencia.“ (Echeverría 1846: 30).
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„Se engañó. La mayoría del pueblo a quien se otorgaba ese derecho, no sabía lo que era sufragio, ni a qué fin se encaminaba eso, ni se le daban tampoco medios de adquirir ese conocimiento. Sin embargo, lo citaban los tenientes alcaldes, y concurrían algunos a la mesa electoral, presentando una lista de candidatos que les daban: era la del gobierno. Por supuesto, el gobierno en sus candidatos tendría en vista las teorías arriba dichas. Era obvio que debía ser representada la propiedad raíz, la inmueble, la mercantil, la industrial, la intelectual, que estaban en la cabeza de los doctores y de los clérigos por privilegio exclusivo heredado de la colonia; y como en las otras clases había pocos hombres hábiles para el caso, la sanción oficial los habilitaba de capacidad para la representación en virtud de su dinero, como había habilitado a todo el mundo de aptitud para el sufragio. [Kursivierungen im Original]“ (Echeverría 1846: 31) „Se ve, pues, todo era una ficción; la base del sistema estaba apoyada sobre ella. Una tercera parte del pueblo no votaba, otra no sabía por qué ni para qué votaba, otra debe presumirse que lo sabía.“ (Echeverría 1846: 31)
Echeverría (1846) führt die spezifische (nationale) Situation Argentiniens und seiner Bevölkerung als Argument gegen die sofortige Einführung des allgemeinen Wahlrechts an. Werde es gewährt, bevor die Bevölkerung vorbereitet ist, so führe es zu Ungleichheit und Privilegien. Erst wenn die Nation geeint ist und ihre Bevölkerung reif ist, könne Freiheit im Staat ausgeweitet werden. Echeverría (1846) stellt hier, wie im Dogma Socialista (1837) mit Bezug auf bürgerliche Freiheit, die Nation der Freiheit voran. Anders als im Dogma Socialista (1837) zieht er in der Ojeada Retrospectiva (1846) ein Argument aus der Geschichte der Nation – das System der Unitarier – heran, kommt aber zum selben Schluss: „Llegamos, por lo mismo, lógicamente, en el Dogma a esta fórmula: Todo para el pueblo, y por la razón del pueblo. [Kursivierung im Original]“ (Echeverría 1846: 36). In der Ojeada Retrospectiva (1846) präzisiert Echeverría (1846) seinen Wahlrechtsvorschlag als mehrstufiges indirektes Wahlrecht, das Geltung haben soll, bis das allgemeine Wahlrecht eingeführt werden kann. „Concebíamos entonces una forma de institución del sufragio, que sin excluir a ninguno, utilizase a todos con arreglo a su capacidad para sufragar. El partido municipal podía ser centro de acción primitiva del sufragio, y pasando por dos o tres grados diferentes, llegar hasta la representación o concediendo a la propiedad solamente el derecho de sufragio para representantes, el proletario llevaría temporariamente su voto a la urna municipal del partido. [Kursivierungen im Original]“ (Echeverría 1846: 36)
Eigentum und Bildung sind darin als Bedingungen für aktives und passives Wahlrecht enthalten. Nationale Einheit kann laut Echeverría (1846) aber nur dauerhaft geschaffen werden, wenn die Individuen vor dem Recht gleich sind und sämtliche Privilegien abgeschafft werden. „Y como ninguno es justo sea excluido de ese derecho, pues si alguno lo fuera se cometería injusticia con él, ni el cumplimiento de ese deber, pues se le otorgaría un privilegio dañoso a los demás, resulta que cada uno tendría participación igual de derecho y obligación, pero con arreglo de sus facultades, pues nadie da más de lo que tiene, ni participa sino de aquello que está en la esfera de su poder. [Kursivierungen im Original]“ (Echeverría 1846: 76)
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Einzig Tugend, Talent, Intelligenz und Leistung sollen die gesellschaftliche Hierarchie bestimmen. „[…] porque no concebimos progreso alguno para el país, sino a condición de que ejerzan la iniciativa del pensamiento y la acción social los mejores y más capaces, y por mejores y más capaces entendemos los hombres que sean la expresión de la mas acrisolada virtud y de la más alta inteligencia del país. [Kursivierungen im Original]“ (Echeverría 1846: 82, 83)
Anders als im Bereich der Individualrechte, die jedem Menschen als natürliche Freiheit noch vor jeder asociación zustehen, sollten Verfassungen im Bereich der Freiheit im Staat gemäß den nationalen Eigenheiten angepasst werden können, so Echeverría (1846)22. Wer konkret zum Staats- oder Nationalvolk zu zählen habe und wer sich von Beginn an zum souveränen Teil des Volkes zählen darf, wird nicht genauer definiert, ebenso wenig, aufgrund welcher Kriterien sich die Summe der Einwohner (habitantes) von jener der Staatsbürger (ciudadanos) unterscheidet. „Queríamos que el pueblo no fuese como había sido hasta entonces, un instrumento material del lucro y poderío para los caudillos y mandones, un pretexto, un nombre vano invocado por todos los partidos para cohonestar y solapar ambiciones personales, sino lo que debía ser, lo que quiso que fuese la revolución de Mayo, el principio y fin de todo. Y por pueblo entendemos hoy como entonces, socialmente hablando, la universalidad de los habitantes del país; políticamente hablando, la universalidad de los ciudadanos; porque no todo habitante es ciudadano, y la ciudadanía proviene de la institución democrática.“ (Echeverría 1846: 21)
Eine weitere Veränderung der Argumentation gegenüber dem Dogma Socialista (1837) ist in der Ojeada Retrospectiva (1846) im Bereich der Religionsfreiheit zu verzeichnen. Dem Grund für die Garantie von Religionsfreiheit in der natürlichen Freiheit der Individuen weicht nun ein wirtschaftliches Argument. „Pedíamos con arreglo a la ley de la provincia de 12 de octubre de 1825, la más amplia libertad religiosa, porque considerábamos que la emigración extranjera debía traer al país infinitos elementos de progresos de que carece, y que era preciso estimularla por leyes protectoras.“ (Echeverría 1846: 28)
Religionsfreiheit solle die Einwanderung von fortschrittlichen Personen fördern, an denen es Argentinien mangle. Die Trennung von Zivilgemeinschaft und Religionsgemeinschaft wird aufgrund der Verbindung der Kirche mit Rosas befürwortet. „Queríamos la independencia de la sociedad religiosa y por consiguiente de la iglesia, porque la veíamos instrumento dócil de barbarie y tiranía.“ (Echeverría 1846: 29).
22 „Empezaremos por sentar que el derecho de sufragio, diferente del derecho individual anterior a toda institución, es de origen constitucional, y que el legislador puede, por lo mismo, restringirlo, amplificarlo, darle la forma conveniente.“ (Echeverría 1846: 29).
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Nation Führte Echeverría im Dogma Socialista (1837) die problematische Ausgangslage Argentiniens für die Nationenbildung auf den negativen Einfluss der spanischen Kolonialzeit zurück, so nennt er in der Ojeada Retrospectiva (1846) Gründe, die in den Spezifika der argentinischen Gesellschaft, insbesondere ihrer politischen und regionalen Antagonismen, angelegt sind. „La sociedad argentina entonces estaba dividida en dos facciones irreconciliables por sus odios como por sus tendencias, que se habían largo tiempo despedazado en los campos de batalla: la facción federal vencedora, que se apoyaba en las masas populares y era la expresión genuina de sus instintos semibárbaros y la facción unitaria, minoría vencida, con buenas tendencias, pero sin bases locales de criterio socialista, y algo antipática por sus arranques soberbios de exclusivismo y supremacía. [Kursivierung im Original]“ (Echeverría 1846: 7) „La patria, para el correntino, es Corrientes; para el cordobés, Córdoba; para el tucumano, Tucumán; para el porteño, Buenos Aires; para el gaucho, el pago en que nació. La vida e intereses comunes que envuelve el sentimiento racional de la patria es una abstracción incomprensible para ellos, y no pueden ver la unidad de la República simbolizada en su nombre. Existía, pues, ese otro principio de desacuerdo y relajación en los elementos revolucionarios.“ (Echeverría 1846: 53)
Die beiden die argentinische Politik prägenden Parteien, Unitarier und Föderale, würden sich niemals auflösen, so Echeverría (1846), da sie beide legitime Tendenzen vertreten, „[...] dos manifestaciones necesarias de la vida de nuestro país: el partido federal, el espíritu de localidad preocupado y ciego todavía; el partido unitario el centralismo, la unidad nacional. [Kursivierungen im Original]“ (Echeverría 1846: 69). Würden auch die aktuellen Vertreter der Parteien verschwinden, so würden andere diese Ideen mit der gleichen Vehemenz vertreten, da sie Ausdruck der argentinischen, nationalen Gegebenheiten sind. „La lógica de nuestra historia, pues, está pidiendo la existencia de un partido nuevo, cuya misión es adoptar lo que haya de legítimo en uno y otro partido, y consagrarse a encontrar la solución pacífica de todos nuestros problemas sociales con la clave de una síntesis alta, más nacional y más completa que la suya, que satisfaciendo todas las necesidades legítimas, las abrace y las funda en su unidad. [Kursivierungen im Original]“ (Echeverría 1846: 69)
Als Lösung des Problems schlägt Echeverría (1846) die Gründung einer neuen Partei vor, die die Vorzüge der vorhandenen Parteien in sich vereint und sich die Einheit der Nation auf die Fahnen heftet. Er selbst sieht sich und seine Generation aufgrund ihres Alters, ihrer Bildung sowie ihrer Position als Hoffnungsträger für die Beendigung der Bürgerkriege und als Verantwortliche, sich der cosa pública, der Einigung der Nation und der Organisation des Landes anzunehmen, ja als legitime Erben der Religion der Patria, wenn auch bislang ohne Erfolg23. (Echeverría 1846: 7, 8) Die neue Generation mache es sich zum Ziel, die Föderalen zu unitarisieren sowie die 23 „Heredera legítima de la religión de la Patria, buscaba en vano en esas banderas enemigas el símbolo elocuente de esa religión.“ (Echeverría 1846: 8).
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Unitarier zu föderalisieren und werde daher von beiden Parteien abgelehnt. Wenngleich sie eine Synthese beider Positionen anstrebte, so musste sie doch den Unitariern als verfolgte Liberale, die sich für den Verfassungsstaat einsetzten und die Schulen gegründet hatten, in denen der neuen Generation ihre Bildung zuteilwurde, näher stehen. (Echeverría 1846: 8, 9, 14) „Nosotros creíamos que unitarios y federales desconociendo o violando las condiciones peculiares de ser del pueblo argentino, habían llegado con diversos procederes al mismo fin; al aniquilamiento de la actividad nacional: los unitarios sacándola de quicio y malgastando su energía en el vacío; los federales sofocándola bajo el peso de un despotismo brutal; y unos y otros apelando a la guerra. [Kursivierung im Original]“ (Echeverría 1846: 19, 20)
Die geeignete Staatsform ist nach Echeverría (1846) eine Synthese unitarischer und föderaler Ideen. Sie solle sowohl die Interessen der Provinz in Form von entsprechenden dezentralen Strukturen vertreten, als auch eine geeinte, nationale Regierung aufweisen. „Concebíamos por esto en la futura organización, la necesidad de descentralizarlo todo, de arrancar al poder sus usurpaciones graduales, de rehabilitar al pueblo en los derechos que conquistó en Mayo; y de constituir con ese fin en cada partido un centro de acción administrativa y gubernativa, que eslabonándose a los demás, imprimiese vida potente y uniforme a la asociación nacional, gobernada por un poder central. [Kursivierungen im Original]“ (Echeverría 1846: 22)
Da beide Parteien auf ihre Weise Argentinien in den Kriegszustand führten, da sie zu wenig auf die condiciones peculiares de ser del pueblo argentino achteten, möchte die neue Generation ihr Nationenprojekt auf den nationalen Spezifika aufbauen. „Hubiéramos deseado se penetrasen de la idea de que nosotros no podremos representar un partido político con pretensiones de nacionalidad si no basamos nuestra síntesis social sobre fundamentos inmutables, y no damos pruebas incesantes de que la nuestra tiene un principio de vida más nacional y comprende mejor y de un modo más completo que las anteriores, las condiciones peculiares de ser y las necesidades vitales del pueblo argentino.“ (Echeverría 1846: 66)
Mit kritischem Blick auf die Unitarier lehnt Echeverría (1846) daher die bloße Übernahme europäischer Ideen ab und plädiert für die Berücksichtigung nationaler Eigenheiten, „[…] y la Europa poco puede ayudarnos en eso.“ (Echeverría 1846: 68). Worin bestehen nun die Spezifika Argentiniens aus der Sicht Echeverrías (1846) und wie gilt es dementsprechend das politische Programm der neuen Generation zu gestalten? „El punto de arranque, como decíamos entonces, para el deslinde de estas cuestiones debe ser nuestras leyes, nuestras costumbres, nuestro estado social; determinar primero lo que somos, y aplicando los principios, buscar lo que debemos ser, hacia qué punto debemos gradualmente encaminarnos.“ (Echeverría 1846: 17)
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Um dies herauszufinden, sollen Gesetze, Bräuche und der gesellschaftliche Zustand berücksichtigt sowie die Frage geklärt werden, ‚was wir sind‘ und ‚was wir sein sollen‘. Auffallend ist, dass in diesem Zusammenhang nicht Ethnizität oder Sprache sondern Bräuche, Geschichte, gesellschaftlicher Zustand, Natur, Moral und Intellekt angeführt werden. „Pero, cada pueblo, cada sociedad, tiene sus leyes o condiciones peculiares de existencia, que resultan de sus costumbres, de su historia, de su estado social, de sus necesidades físicas, intelectuales y morales, de la naturaleza misma del suelo donde la providencia quiso que habitase y viviese perpetuamente. [Kursivierung im Original]“ (Echeverría 1846: 18, 19)
Nur, wenn sich ein Volk unter Berücksichtigung seiner spezifischen Bedürfnisse aus den oben genannten Bereichen entwickelt, ist es zu Fortschritt fähig, so Echeverría (1846: 19). Welche geschichtlichen Aspekte meint Echeverría (1846) konkret, wenn er von der Geschichte als nationalem Spezifikum spricht? Für Echeverría (1846) existiert das argentinische Volk erst seit der Mairevolution. Sie ist es, die die argentinische Tradition begründete, die Echeverría (1846) zum Ausgangspunkt seiner politischen Ideen macht. Die Ideen der Mairevolution zu vervollständigen und zu perfektionieren, darin bestehe die Aufgabe der neuen Generation. (Echeverría 1846: 16, 19) „¿Qué había, entre tanto, de nuevo en ese pensamiento? Lo diremos francamente; había la revelación formulada de lo que deseaban y esperaban para el país todos los patriotas sinceros; había los fundamentos de una doctrina social diferente de las anteriores, que tomando por regla de criterio única y legítima la tradición de Mayo, buscaba con ella la explicación de nuestros fenómenos sociales y la forma de organización adecuada para la República; [...] [Kursivierung im Original]“ (Echeverría 1846: 47)
Was sind aus Echeverrías (1846) Sicht die wichtigsten Ideen der Mairevolution, die es fortzuführen gilt? „¿Qué quiere decir Mayo? Emancipación, ejercicio de la actividad libre del pueblo argentino, progreso: ¿por qué medio? Por medio de la organización de la libertad, la fraternidad y la igualdad, por medio de la democracia. […] Poneos en camino de encontrar esa solución y serviréis la causa de la patria, la causa de Mayo y del progreso. [Kursivierung im Original]“ (Echeverría 1846: 70, 71)
Hier bleibt Echeverría (1846) den Ideen des Dogma Socialista (1837) treu, ordnet sie aber trotz ihres universellen Charakters stärker in die Tradition und Geschichte Argentiniens ein. Die Herleitung des im Dogma Socialista (1837) gezeichneten politischen Programms erfolgt nun mit Bezug auf die Geschichte der Nation. „¡Mártires sublimes de la Patria! vosotros resumís la gloria de una década de combates por el triunfo del Dogma de Mayo; vuestros nombres representan los partidos que han dividido y dividen a los argentinos: desde la esfera de beatitud divina, donde habitáis como hermanos unidos en espíritu y amor fraternal, echad sobre ellos una mirada simpática, y rogad al Padre derrame
258 | F REIHEIT UND N ATION en sus corazones la fraternidad y la concordia necesaria para la salvación de la Patria. [Kursivierung im Original]“ (Echeverría 1846: 6)
Die Vereinigung der politischen Parteien in der nationalen Einheit mit Bezug auf die Mairevolution und deren Ideale soll ein Gefühl der Verbundenheit, ein Nationalgefühl, erzeugen; der Dogma Socialista (1837) ist das Programm, die Fahne, der zu konstruierenden Nation: „Debía, en suma, ser un credo, una bandera y un programa. [Kursivierung im Original]“ (Echeverría 1846: 18). „Ahora, después de tantas decepciones y trabajos, nos gozamos en recordar aquella noche [des 23. Junis 1837, in der die palabras simbólicas verlesen wurden], la más bella de nuestra vida, porque ni antes ni después hemos sentido tan puras y entrañables emociones de patria.“ (Echeverría 1846: 10)
Diese Verbundenheit soll alle einschließen: „[…] se ven los jóvenes de la nueva generación, fraternizando con ellos [den von Rosas Verfolgten] por el amor a la patria, madre común de los argentinos.“ (Echeverría 1846: 51). Freiheit und Nation Wie werden Freiheit und Nation in der Ojeada Retrospectiva (1846) miteinander in Verbindung gebracht und worin bestehen die Unterschiede zum Dogma Socialista (1837)? Zur Beantwortung dieser Fragen sollen zunächst die betreffenden Passagen aus der Ojeada Retrospectiva (1846) diskutiert werden. Dort geht Echeverría (1846) der Frage nach, was den Freiheits- und Nationsbegriff Rosas’ von dem der neuen Generation unterscheidet – schließlich nehmen beide die Begriffe für sich und ihr politisches Programm in Anspruch: „Vosotros, patriotas argentinos, que andáis diez años hace con el arma al brazo rondando en torno de la guarida del minotauro de vuestro país ¿por qué peleáis? Por la patria. Bueno, pero Rosas y sus seides dicen también que pelean por la patria.“ (Echeverría 1846: 72, 73). Er fragt, ob es das Territorium, der Geburtsort, ist, das die Nation ausmacht und verneint dies mit dem Hinweis, dass Grund und Boden nicht nur in der Nation zur Verfügung stehen und kultiviert werden können. „¿Qué significa, pues, para vosotros la patria? ¿Es acaso el terreno donde nacisteis? Pero entre vosotros hay correntinos, porteños, tucumanos, enterrianos, y cada uno peleará por su pedazo de tierra. Además, el hombre no es una planta, y dondequiera que encuentra aire, respira y vive. La tierra es tierra en todas partes, y dondequiera que vayáis, hallaréis un pedazo que poder cultivar, para alimentaros, y otro para el descanso de vuestros huesos.“ (Echeverría 1846: 73)
Er fragt weiter, ob mit ‚Nation‘ die Familie gemeint sei, um dies abermals zu verneinen. Die Familie ließe sich mitnehmen, wenn man das Land verlässt. „Si la patria no es la tierra, ¿será acaso la familia? Pero si la tenéis ¿no os podéis llevarla a vuestro lado y vivir y sufrir con ella? Y en caso que no lo podáis, ¿no os queda el arbitrio de someteros a Rosas con tal de satisfacer el deseo de vivir en vuestra tierra al lado de vuestra familia? Sí. Luego la patria no es la tierra ni la familia.“ (Echeverría 1846: 73, 74)
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Schließlich kommt er zur Frage, ob die Nation durch Freiheit bestimmt sei. „¿Qué cosa será, pues, la patria? La libertad. ¡Ah! bueno; esto es más claro; vosotros peleáis por gozar del derecho de vivir en vuestra tierra al lado de vuestra familia como queráis, sin que nadie os incomode, ni os ultraje, ni os persiga; por trabajar sin traba alguna en la adquisición de vuestro bienestar; peleáis, en suma, porque vuestro yo individual recobre el señorío magnífico que en Mayo le regaló la Providencia y del cual Rosas os despojó violentamente. [Kursivierung im Original]“ (Echeverría 1846: 74)
Aber auch Rosas und seine Unterstützer setzen sich für „Patria y Libertad“ (Echeverría 1846: 74) ein. Rosas verstehe unter Freiheit, seinen eigenen Willen durchzusetzen. Die unterschiedlichen Auffassungen von Freiheit sowie die Unterdrückung Andersdenkender durch Rosas führen laut Echeverría (1846) zu Krieg. „Luego no podéis tener patria ni libertad, sin cometer una grande injusticia, la misma de que sois víctima y por la que peleáis contra Rosas […]. Luego la libertad por sí sola tampoco es la patria. […] Luego la libertad, no os dará patria, sino guerra o nueva proscripción: luego la libertad no es la patria.“ (Echeverría 1846: 74, 75)
Freiheit alleine kann daher noch keine Nation ausmachen – sie führt zu kriegerischen Zuständen im Kampf um den jeweils ‚richtigen‘ Freiheitsbegriff. Rosas nehme Freiheit nur für sich und seine Mitstreiter in Anspruch und stelle sich gegen die Vereinigung aller Argentinier24. Wie ist es aber möglich, in Frieden in der Nation zu leben? Vereint mit jenen, die gegeneinander kämpfen, sodass alle das Recht auf Freiheit genießen? „Sólo de un modo: fraternizando vosotros con ellos y ellos con vosotros; de lo contrario la guerra no acabará sino por el exterminio de unos u otros.“ (Echeverría 1846: 75). Es sei nur möglich über den Weg der Brüderlichkeit, der Vereinigung aller in der Nation. Auch auf die Frage, wie dies konkret vor sich gehen soll, hat Echeverría (1846) eine Antwort: „¿Y cómo fraternizaréis? Obligándoos en vuestra conciencia a no dañaros recíprocamente, a no hacer sino lo que las leyes mandan y ejercer vuestra libertad fuera de lo que ellas no vedan.“ (Echeverría 1846: 75, 76). Durch die Einhaltung des Gesetzes und Ausübung der Freiheit nur im Rahmen dessen, was dieses nicht verbietet. Echeverría (1846) kommt hier zum selben Schluss wie bereits im Dogma Socialista (1837): Die asociación, die Vereinigung der Individuen in der Staatsnation, die bürgerliche Freiheit mittels Gesetz garantiert, kann sich Freiheit erst entfalten und diese gesichert werden. Stärker als im Dogma Socialista (1837) betont er hier die Gleichheit vor dem Recht, ohne die weder Patria noch Libertad Bestand haben können. Sie gilt in der Ojeada Retrospectiva (1846) als Voraussetzung für Freiheit und Nation, während im Dogma Socialista (1837) die Vereinigung in der Nation selbst an oberster Stelle stand. „Luego la libertad y la fraternidad no pueden engendrar la patria, sino a condición de que exista entre todos vuestros compatriotas la más equitativa igualdad, en la fruición del derecho y en la
24 „[…] Rosas que pretende y vocifera defender la patria y la libertad, sólo es un malvado hipócrita, porque, oponiéndose a la unión de los argentinos, quiere para sí solo y sus seides la libertad, con exclusión de los demás.“ (Echeverría 1846: 77).
260 | F REIHEIT UND N ATION participación y el cumplimiento del deber. Luego la libertad, la fraternidad y la igualdad son como el verbo engendrador de la patria. Tenemos, pues, los tres términos primitivos que engendran la unidad de la patria; [...] [Kursivierungen im Original]“ (Echeverría 1846: 76, 77)
Der letzte zitierte Satz legt sogar die Vermutung nahe, dass nun Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit erst zur nationalen Einheit führen25, was eine Umkehr der Bedingungen gegenüber dem Dogma Socialista (1837) bedeuten würde, wenn auch die Schlüsselwörter dieselben geblieben sind: „Queríamos entonces como ahora la democracia como tradición, como principio y como institución. La democracia como tradición, es Mayo, progreso continuo. La democracia como principio, la fraternidad, la igualdad y la libertad. La democracia como institución conservatriz del principio, el sufragio y la representación en el distrito municipal, en el departamento, en la provincia, en la república. [Kursivierungen im Original]“ (Echeverría 1846: 20)
Auch die Religion als getrennte Institution vom Staate, aber als Förderin der moralischen Erziehung der Bevölkerung im Dienste der Demokratie hebt Echeverría (1846) in der Ojeada Retrospectiva (1846) nochmals hervor26. Wie oben erwähnt, wird Religionsfreiheit jedoch nicht länger mit den natürlichen Freiheiten des Individuums begründet, sondern mit der Förderung von Immigration27. Dies führt zu einem weiteren Unterschied zwischen Dogma Socialista (1837) und Ojeada Retrospectiva (1846): Während im Dogma Socialista (1837) die Nation mit der erweiterten, bürgerlichen Freiheit in der asociación gegenüber der natürlichen Freiheit argumentiert wird (Kategorie D2), so geht Echeverría (1846) in der Ojeada Retrospectiva (1846) nicht mehr auf die Opposition natürliche vs. bürgerliche Freiheit ein. Als wichtige Freiheitsrechte streicht er in der Ojeada Retrospectiva (1846) die Pressefreiheit, Volkssouveränität und repräsentative Demokratie hervor (Echeverría 1846: 16). Seine Argumente für die Nation bezieht er jedoch auch nicht aus den Freiheiten, die der Verfassungsstaat garantieren könnte (E3, E4), sondern vielmehr aus der nationalen Geschichte seit 1810, mit Bezug zur Mairevolution und ihren Idealen sowie den spezifischen Bedingungen der argentinischen Nation und ihrer Antagonismen, v.a. politischer und regionaler Art. Elemente der Kulturnation dienen in der Ojeada Retrospectiva (1846) stärker der Argumentation für eine geeinte Nation. Echeverría (1846) bezieht sie nicht aus den Kategorien Sprache oder Ethnizität, sondern der gemeinsamen Geschichte, Symbole, Erinnerungen und christlichen Werten. 25 Wie im Bereich des allgemeinen Wahlrechts thematisiert, scheint es dennoch Bereiche zu geben, in denen weiterhin die Nation als Bedingung für Freiheit formuliert wird.
26 „Deseábamos, por último, que el clero comprendiese su misión, se dejase de política, y pusiese mano a la obra santa de la regeneración moral e intelectual de nuestras masas populares, predicando el cristianismo. [Kursivierungen im Original]“ (Echeverría 1846: 29). 27 Echeverría (1837) hat dabei stets das ‚zivilisierte‘ Europa im Blick, auch wenn er allgemein von Einwanderung spricht. Es liegt daher nahe, dass Religionsfreiheit im Hinblick auf jene Teile Europas formuliert wurde, die nicht römisch-katholisch, aber christlich waren. Die Bedeutung des Christentums hebt er mehrmals hervor. Im Text findet sich dazu aber keine Präzision und auch kein Hinweis, ob darauf aufbauend Religionsfreiheit als allgemeines Prinzip für alle Religionen gelten sollte.
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Die Nationenbildung wird nun auch mit der Liebe zur Patria und der Herstellung eines Nationalgefühls in Verbindung gebracht. Dennoch bleibt die Staatnation als Ziel aufrecht: „La organización social ¿cómo se consigue? Por medio de leyes, de instituciones.“ (Echeverría 1846: 78). Die zu schaffenden Institutionen sollen auf den Volksentscheid zurückzuführen sein: „¿Quién hará esas instituciones? Los representantes. ¿Quién nombrará los representantes? El pueblo. ¿Quién compondrá el pueblo? Vosotros y todos los argentinos que hoy están con Rosas. Luego, el pueblo realizará esas instituciones por el órgano de sus escogidos, o más bien, las formará una representación creada por el sufragio del pueblo mismo.“ (Echeverría 1846: 78)
Anders als im Dogma Socialista (1837) betont Echeverría (1846) nicht mehr, dass Freiheit nur mit kämpferischen Mitteln und Blutvergießen zu erreichen sei. Er hebt nun stärker das Schreiben, die Überzeugungsarbeit und die Erziehung der Bevölkerung als Mittel zur Nationenbildung hervor. „Considerábamos que el país no estaba maduro para una revolución material, y que ésta, lejos de darnos patria, nos traería o una restauración (la peor de todas las revoluciones) o la anarquía, o el predominio de nuevos caudillos. Creíamos que sólo sería útil una revolución moral que marcase un progreso en la regeneración de nuestra Patria. Creíamos que antes de apelar a las armas para conseguir ese fin, era preciso difundir, por medio de una propaganda lenta pero incesante, las creencias fraternizadoras, reanimar en los corazones el sentimiento de la patria amortiguado por el desenfreno de la guerra civil y por los atentados de la tirania, [...]“ (Echeverría 1846: 11, 12)
Eine moralische Revolution mithilfe einer langsamen, aber unablässigen Propaganda der creencias fraternizadoras sei langfristig der Weg zur Bildung der Nation. Aus diesem Grund sei sein Text so formuliert, dass er nicht nur für Gelehrte, sondern für alle, für ‚unser Volk‘ verständlich ist: „Se creyó por esto, mejor, formular y explicar racionalmente algunos puntos; no era para los doctores, que todo lo saben; era para el pueblo, para nuestro pueblo.“ (Echeverría 1846: 18). Wie im Dogma Socialista (1837) hebt Echeverría (1846) die Notwendigkeit hervor, dass sämtliche Gesellschaftsbereiche (Politik, Philosophie, Kunst, Religion, Wissenschaft, Wirtschaft) der Nation dienen müssen bzw. ihr untergeordnet sind. Die notwendige Bewusstseinsänderung im Volk, die dieses für die Demokratie vorbereiten soll, scheint ihm ebenfalls nur im Rahmen der Vereinigung der Individuen in der asociación möglich: „[…] sólo por medio de la asociación, de la labor inteligente y de la unidad de las doctrinas, lograremos educar, inocular creencias en la conciencia del pueblo.“ (Echeverría 1846: 49). Sie soll außerdem von einer Elite, zu der er sich selbst zählt, angeführt und durch die Formulierung eines Dogmas vorbereitet werden: „Sólo de dos modos pudo, en concepto nuestro, surgir la unidad omnipotente y salvadora: uno, por la propagación de un Dogma formulado, que absorbiese todas las opiniones y satisficiese todas las necesidades de la nación; pero este medio, que la Asociación quiso emplear, no era adaptable ya, cuando cada hombre empuñaba un arma, y preocupaba a todos la acción: otro,
262 | F REIHEIT UND N ATION tomando la iniciativa en los ejércitos y negocios políticos, los mejores, más capaces, con acuerdo previo de los interesados. [Kursivierung im Original]“ (Echeverría 1846: 53)
Echeverría (1846) erwähnt in der Ojeada Retrospectiva (1846) die Bereitschaft, sein Leben für die Nation zu opfern nicht länger als Erfordernis für die Nationenbildung. Dass Echeverría (1846) die Nationenbildung nun stärker mit der argentinischen Tradition verbindet, wird auch im vorletzten Langzitat nochmals deutlich, wenn er von der regeneración de nuestra Patria spricht, ganz so, als hätte es die argentinische Nation bereits gegeben, selbst wenn er das Fehlen der Nation beklagt und es dabei zu einer widersprüchlichen Formulierung zwischen Vergessen und Erinnern kommt: „Así, hemos gastado nuestra energía en ensayos de todo género, para volver a ensayar de nuevo lo olvidado; toda nuestra labor intelectual se ha gastado estérilmente, y no tenemos ni en política, ni en literatura, ni en ciencia, nada que nos pertenezca.“ (Echeverría 1846: 49)
Literatur28 Abschließend sollen kurz die Positionen Echeverrías (1846) zur Stellung der hispanoamerikanischen Literatur, die in bzw. gemeinsam mit der Ojeada Retrospectiva (1846) sowie im Dogma Socialista (1837) veröffentlicht wurden, dargestellt werden, insbesondere um Echeverrías Sicht auf das Verhältnis von Literatur und Nation zu ergründen. Trotz der reichen literarischen Tradition Spaniens erkennt Echeverría (1846) für seine Zeit keine Überlegenheit der spanischen Literatur gegenüber der amerikanischen in puncto Originalität an (Echeverría 1846: 88). Spanien könne Amerika kein literarisches Vorbild sein, da es selbst andere literarische Strömungen Europas imitiere: „[…] que no nos hallamos dispuestos a adoptar su consejo, ni a imitar imitaciones, ni a buscar en España ni en cada español el principio engendrador de nuestra literatura, que la España no tiene, ni puede darnos; […] [Kursivierung im Original]“ (Echeverría 1846: 88). Nur Larra und Espronceda gelten ihm als bedeutende und fortschrittliche Dichter, weil sie sowohl im Denken als auch in der Form Neues und Originelles hervorbringen (Echeverría 1846: 90). Und auch das ‚progressive Spanien' sei beachtenswert. „Sin embargo, la América, obligada por su situación a fraternizar con todos los pueblos necesitando del auxilio de todos, simpatiza profundamente con la España progresista, y desearía verla cuanto antes en estado de poder recibir de ella en el orden de las ideas, la influencia benefactora que ya recibe por el comercio y por el mutuo cambio de productos industriales.“ (Echeverría 1846: 97)
Was Echeverría (1846) als Erbe Spaniens schätzt, ist die spanische Sprache. Aber auch sie soll verändert und weiterentwickelt werden, sodass auch in diesem Bereich eine gewisse Emanzipation möglich ist. „El único legado que los americanos pueden aceptar y aceptan de buen grado de la España, porque es realmente precioso, es el del idioma; pero lo aceptan a condición de mejora, de trans-
28 Nicht alle Texte aus Korpus 1 beinhalten Stellen zu Literatur und Nation. Wenn vorhanden, so werden sie jeweils nach der Diskussion von Freiheit und Nation angeführt.
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formación progresiva, es decir, de emancipación. [Kursivierung im Original].“ (Echeverría 1846: 93)29
Wie soll die hispanoamerikanische Literatur nach Echeverría (1846) beschaffen sein? Vor 1837 habe in Buenos Aires v.a. die Dichtung neue Wege beschritten. Literatur und Dichtkunst hätten zu dieser Zeit jedoch noch nicht die Anliegen der jungen Generation aufnehmen können, sie hätten ihren Fokus nicht auf das gelegt, was die Gesellschaft bewegt und sie später unter der Herrschaft des Tyrannen mit Sorge erfüllen sollte. „A esa causa debe atribuirse la timidez de sus ensayos, y es de presumir que los jóvenes que se ocuparon de letras, más lo hicieron por despecho y necesidad de acción mental, que por obedecer a un impulso propio o social.“ (Echeverría 1846: 40). Aus diesem Grund lasse sich das Schreiben der damaligen Zeit nicht auf einen eigenen oder sozialen Impuls zurückführen. Ganz anders als in der neuen Generation, zu der sich die Asociación de la Joven Generación Argentina zählt. „Basta a nuestro propósito hacer notar que la fermentación política y literaria estaba a un tiempo en la cabeza de la juventud argentina; y que sólo Montevideo ofrecía asilo seguro al pensamiento proscripto de Buenos Aires.“ (Echeverría 1846: 40). Politik und Literatur bildeten ein gemeinsames Anliegen der Gruppe, dem sie nur im Exil in Sicherheit nachgehen konnte. Kunst, die sich nicht in den Dienst der Politik – und besonders der Mairevolution – stellt, scheint Echeverría (1846) unnütz: „‚Arte que nose anime de su espírito [de Mayo] y no sea la expresión de la vida individual y social, será infecundo. […] [Anführungszeichen im Original]“ (Echeverría 1846: 67). Und gerade weil Literatur und Politik bei Echeverría (1846) so eng miteinander verbunden sind, könne Amerika nicht politisch von Spanien unabhängig sein und es zugleich als literarisches Vorbild anerkennen: „[…] la cuestión literaria […] está íntimamente ligada con la cuestión política, y nos parece absurdo ser español en literatura y americano en política.“ (Echeverría 1846: 89). Die amerikanische Kunst müsse ihre Inspiration im Gewissen, im Herzen und in der unberührten amerikanischen Natur suchen30. Die Verbindung zur Politik besteht zum einen darin, dass das Genie seine Inspiration nur in seinen nationalen Überzeugungen finden kann: „[…] el genio, que no es planta parásita ni exótica, sólo puede beber la vida y la inspiración en la fuente primitiva de las creencias nacionales.“ (Echeverría 1846: 94). Zum zweiten ist es Aufgabe der Kunst, Individuelles und Soziales in Austausch zu bringen: „[…] en el arte, busca el pensamiento individual y el pensamiento social, los cuales confronta y explica […]“ (Echeverría 1837: 152). Und drittens sollen Kunst und Literatur zum Lob großer politischer Taten und der Verbreitung politischer Ideen beitragen: „Él canta el hero29 Siehe dazu auch die Polemik zwischen Andrés Bello und Domingo Faustino Sarmiento bezüglich der geeigneten Sprachnorm für Hispanoamerika. Sarmiento hatte sich im Gegensatz zu Bello für die Etablierung einer eigenen, von Spanien unabhängigen Norm ausgesprochen. Bello vertrat die Meinung, es müsse eine panhispanische linguistische Norm etabliert werden, die auf klassischen spanischen Quellen aufbaut. (Vgl. dazu etwa Torrejón 1989) 30 „[…] el arte americano, democrático, sin desconocer la forma, puliéndola con esmero, debe buscar en las profundidades de la conciencia y del corazón el verbo de una inspiración que armonice con la virgen, grandiosa naturaleza americana. [Kursivierung im Original]“ (Echeverría 1846: 92, 93).
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ísmo y la libertad, y solemniza todos los grandes actos, tanto internos como externos de la vida de las naciones.“ (Echeverria 1837: 153, 154). Zu den Werken Sarmientos, Alberdis, Mitres und Mármols31 schreibt Echeverría (1846) Folgendes: „Pero los apuntes biográficos de Fr. Aldao32, y la vida de Facundo Quiroga, son en concepto nuestro, lo más completo y original que haya salido de la pluma de los jóvenes proscriptos argentinos.“ (Echeverría 1846: 56). An Sarmientos Facundo (1845) bemängelt Echeverría (1846) im Einklang mit seinen zuvor skizzierten Kriterien für gute Literatur, dass er den erzieherischen Effekt der Lektüre noch deutlicher herausarbeiten hätte können. „Notamos, sin embargo, un vacío en la obra del señor Sarmiento sobre Quiroga; la hallamos poco dogmática. Mucho hay en ella que aprender para los espíritus reflexivos; pero hubiéramos deseado que el autor formulase su pensamiento político para el porvenir e hiciese a todos palpables las lecciones que encierra ese bosquejo animado que nos presenta de nuestra historia.“ (Echeverría 1846: 57) „Infatigable apóstol del progreso, [Alberdi] ha combatido siempre en primera línea por él, y no dudamos que sus escritos, cuando cese la guerra y se calmen las pasiones que hoy nos dividen, darán ilustración literaria a la patria de los argentinos.“ (Echeverría 1846: 61) „[Mitre] Se ocupa actualmente de trabajos históricos que le granjearán, sin duda, nuevos lauros.“ (Echeverría 1846: 62) „[Mármol] Su Musa, reflexiva y entusiasta, descuella entre las coetáneas por la originalidad y el nervio de la expresión: Rosas, la patria y la libertad, tienen en su labio yo no sé qué mágica potencia.“ (Echeverría 1846: 64)
Nicht nur für literarische Texte, sondern auch politische Programme gilt der Grundsatz, dass sie möglichst breite Rezeption finden sollen: „[…] porque progresistas en política como en todo, nunca fué nuestro ánimo aferrarnos en un sistema exclusivo, […] [Kursivierungen im Original]“ (Echeverría 1837: 99). Von der Zeitung als Medium zur Konstruktion der Nation und der politischen Bildung zeigt sich Echeverría (1846) in einem Nachtrag zum Dogma Socialista (1837) aus der Retrospektive enttäuscht. „La forma de periódico que se dió a la primera edición de este escrito, no era la más conveniente para que se difundieran con facilidad y eficacia; y éste es uno de los motivos que nos han impulsado a reimprimirlo en forma de libro. Tenemos mucha fe en las ideas, pero también creemos que su triunfo depende a menudo de los medios que se emplean para propagarlas.“ (Echeverría 1846: 184)
31 Das Urteil bezieht sich auf Mármols Lyrik. Amalia ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht erschienen.
32 Der als fraile Aldao bekannte föderale caudillo aus Mendoza hieß eigentlich José Félix Esquivel y Aldao.
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Die Zeitung setzte als Medium eine instrucción previa voraus und richte sich vorwiegend an ohnehin bereits gebildete Leser (Echeverría 1846: 184). Aus diesem Grund befürwortet Echeverría (1846) die Verbreitung von Handbüchern zur Erziehung des Nationalvolkes. „La prensa doctrinaria, la prensa de verdadera educación popular, debe tomar la forma de libro para tener acceso en todo hogar, para atraer la atención a cada instante y ser realmente propagadora. Así quisiéramos que, en vez de muchos periódicos, se escribieran muchos Manuales de Enseñanza sobre aquellos ramos de saber humano cuyo conocimiento importa popularizar entre nosotros. Una Enciclopedia popular, elaborada en mira del desenvolvimiento gradual y armónico de la Democracia en el Plata, llenaría perfectamente las condiciones que nosotros concebimos para la prensa progresista del porvenir en nuestro país. Si quiere Dios que alguna vez volvamos a poner el pie en la tierra natal, no echaremos en olvido este pensamiento: hoy carecemos absolutamente de medios para ponerlo en planta. [Fettdruck im Original]“ (Echeverría 1846: 184)
Der Weg zur Konstruktion der Nation über Schulbücher ist in diesem Zitat bereits vorgezeichnet.
J UAN B AUTISTA ALBERDI Einordnung und Struktur der Werke Juan Bautista Alberdi veröffentlichte seine Bases y puntos de partida para la organización política de la República Argentina, derivados de la ley que preside al desarrollo de la civilización en la América del Sud33 in ihrer Erstauflage im Mai des Jahres 1852, die hier in der auf der Wiederauflage von Ricardo Rojas in der Librería La Facultad von 1915 beruhenden Ausgabe von Oscar Terán (2005: XLIII, 66) vorliegt. Die Bases (1852) erscheinen so erstmals, nachdem General Urquiza Rosas in der Schlacht von Caseros besiegt hatte (Terán 2005: 342). Wie aus dem Titel bereits hervorgeht, ist der sich über 120 Seiten erstreckende Text mehr als ein Verfassungsentwurf, der die Grundlagen der künftigen politischen Organisation der von Alberdi als República Argentina bezeichneten Republik Argentinien, die unter Rosas Confederación Argentina hieß und im Übrigen auch im Verfassungstext von 1853 wieder als Confederación Argentina bezeichnet werden sollte, ergründen will. Das Recht erscheint ihm dafür der geeignete Ausgangspunkt, nicht nur für die Neuorganisation des politischen Systems, sondern für den Weg zur ‚Zivilisation‘. Ebenfalls aus dem Titel geht hervor, dass der Text zwar auf Argentinien fokussiert ist, dabei aber stets ganz ‚Südamerika‘34 im Blick hält. Dies spiegelt sich auch in der Struktur des Textes wider: Nach einem Vorwort schildert Alberdi im ersten von 28 Kapiteln die konstitutionelle Ausgangslage in der Region des Río de la Plata (nicht ‚Argentiniens‘), um anschließend die historischen Charakteristika der in ‚Südamerika‘ erlassenen Verfas33 Die Bases lieferten 84 Textbelege gemäß Analysesschema 1. 34 Alberdi (1852) verwendet den Begriff ‚Südamerika‘ stets im Sinne von ‚Hispanoamerika‘.
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sungen zu bestimmen. Bevor einzelne Länder wie Chile, Peru, Bolivien, Kolumbien, Mexiko und ihre Verfassungsentwicklung und deren von Alberdi als solche betrachtete Schwächen diskutiert werden, wirft der Autor einen Blick auf die Verfassungsversuche Argentiniens. Daraus leitet er in Summe Richtlinien für ein neues Verfassungsrecht in ‚Südamerika‘ ab. Einzelne zentrale Punkte werden in separaten Kapiteln besprochen: die Regierungsform (Kapitel X), Bildungspolitik (Kapitel XI), die zivilisierende Wirkung Europas auf ‚Südamerika‘ (Kapitel XII), Einwanderung als Mittel zu Förderung von Fortschritt und Kultur in ‚Südamerika‘ (Kapitel XIII) sowie die Gesetzgebung als Mittel zur (Bevölkerungs-)Entwicklung in ‚Südamerika‘ (Kapitel XIV). „Todo el presente libro no está reducido más que a la exposición de los fines que debe proponerse el nuevo derecho constitucional suramericano; sin embargo vamos a enumerarlos con más precisión en este capítulo, a propósito de la Constitución de la República Argentina.“ (Alberdi 1852: 120)
Kapitel XV bis XXVIII sind schließlich Argentinien und der Grundlegung der politischen Organisation des Landes gewidmet. Ergänzend dazu wurde die zweite und erweiterte Auflage der Bases35 von 1858, die hier in der Edition von Leoncio Gianello (1963) vorliegt, konsultiert und sie auf Änderungen hin untersucht. Bereits in der zweiten Auflage vom September 1852 hatte Alberdi seine Bases um einen ausformulierten Vorschlag für die Textierung der Verfassung, den Proyecto de Constitución concebido según las bases desarrolladas en este libro, ergänzt (Gianello 1963: 21, 22). Bei der Ausgabe von 1856, die in Frankreich erschien, handelt es sich um die definitive Version der Bases, die 1858 nur leicht verändert wurde – letztere gilt als die klassische Ausgabe der Bases (Gianello 1963: 22). Diese Ausgabe wird als Ergänzung zur Erstauflage vom Mai 1852 konsultiert, da Alberdi seine in der ersten Auflage dargelegten Ideen darin bisweilen neu ausrichtet und das Werk um folgende Kapitel ergänzt: zwei kurze Kapitel zur Verfassung in Uruguay und in Paraguay sowie ein weiteres zur aus seiner Sicht vorbildlichen Verfassung Kaliforniens und eine umfassendere Ergänzung der auf die Republik Argentinien bezogenen Bases36. Die Ausgabe von 1858 umfasst insgesamt 37 Kapitel und ist mit ca. 175 Seiten deutlich umfassender als die Erstausgabe. In der Zwischenzeit waren sowohl die Verfassung von 1853 verabschiedet worden als auch 35 Die erweiterte Ausgabe lieferte zusätzlich 29 Textbelege. 36 Die entsprechenden Kapitel beinhalten: Continuación del mismo asunto. Vocación política de la constitución, o de la política conveniente a sus fines; Continuación del mismo asunto. En América, gobernar es poblar; Continuación del mismo objeto. Sin nueva población es imposible el nuevo regimen. Política contra el desierto actual, enemigo de América; Continuación del mismo asunto. La Constitución debe precaverse contra leyes orgánicas que que pretendan destruirla por excepciones. Examen de la Constitución de Bolivia, modelo del fraude en la libertad; das geänderte, bereits zuvor enthaltene Kapitel mit dem Titel Continuación del mismo asunto. Política conveniente para después de dada la Constitución; De la política de Buenos Aires para con la nación argentina; Advertencia que sirve de prefacio y de análisis del proyecto de Constitución que sigue sowie den erwähnten Proyecto de Constitución (Gianello 1963: 249).
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die Trennung Buenos Aires’ von den restlichen Provinzen erfolgt. Ein weiterer Grund für die Analyse einer Ausgabe, die den oben zitierten Proyecto enthält, ist, dass sich Domingo Faustino Sarmiento in einem ebenfalls in das Korpus aufgenommenen Examen crítico del proyecto de constitución del Dr. Alberdi, der im November und Dezember 1853 in La Crónica erschien, bereits auf eine erweiterte Version der Bases bezieht. Der zweite, mit etwa 25 Seiten deutlich kürzere, Text Alberdis, La omnipotencia del Estado es la negación de la libertad individual37, ist in die letzte Schaffensetappe Alberdis einzuordnen und am Ende des zeitlichen Horizonts des Korpus’ anzusiedeln. Der Text ist die Verschriftlichung eines Vortrages, den Alberdi am 24. Mai 1880 an der Facultad de Derecho de la Universidad de Buenos Aires im Rahmen der feierlichen Verleihung akademischer Titel hielt. (Terán 2005: 310, 344) Auswertung der Kategorien in den Bases in Erstauflage gemäß Analyseschema 1 Freiheit Alberdi (1852) führt aus, dass nach der Mairevolution 1810 und der erfolgreichen Emanzipation von Spanien stets die Freiheit des Staates (Kategorie A1), d.h. die staatliche Unabhängigkeit, im Vordergrund stand: „La independencia y la libertad exterior eran los vitales intereses que preocupaban a los legisladores de ese tiempo.“ (Alberdi 1852: 70). Die Zeit der Heldenverehrung sei nun aber vorüber, die Prioritäten hätten sich geändert. Nicht mehr militärische Siege, sondern Organisation, Frieden und gesicherte Freiheit seien die Bedürfnisse der Gegenwart. Rosas hätte die Gelegenheit dazu gehabt, sie herzustellen und es sei sein größtes Vergehen, diese nicht genutzt zu haben. (Alberdi 1852: 109) Oberstes Gebot sei es nun, eine freiheitssichernde Verfassung mit starker exekutiver Gewalt zu erlassen. „Dad al poder ejecutivo todo el poder posible, pero dádselo por medio de una constitución. Este desarrollo del poder ejecutivo constituye la necesidad dominante del derecho constitucional de nuestros días en Suramérica.“ (Alberdi 1852: 157). Die individuellen Freiheitsrechte, d.h. Freiheit vom Staat (Kategorie A3), die bereits 1810 unter hohen Verlusten erkämpft worden waren, blieben bislang leere Worte und könnten in der Praxis nur mithilfe einer starken, verfassungsmäßig eingeschränkten Exekutive gesichert werden, von der Freiheit, Institutionen, Wohlstand und Fortschritt abhängen (Alberdi 1852: 157). Genau wie im Jahre 1810 stehe Argentinien nun vor der Aufgabe, eine gesamtstaatliche Regierung zu bilden und eine Verfassung zu erlassen, die diese leite (Alberdi 1852: 68, 69). Weil sie bislang Gegenstand der Provinzverfassungen waren, verzichtet der Autor darauf, die einzelnen individuellen Freiheiten (Kategorie A3) aufzuzählen – er nennt das Recht auf Privateigentum und auf gleichberechtigte politische Partizipation (Kategorie A4) –, obgleich er sie als essentielles Ziel jeder politischen Gemeinschaft ansieht. Die Provinz Buenos Aires und deren Gesetze sollten den anderen Provinzen als Modell dienen38. (Alberdi 1852: 126). Die zu erlassende 37 Aus diesem Text wurden insgesamt 25 Belege entnommen. 38 Quijada (2005a,b) fand heraus, dass den auf argentinischem Staatsgebiet geborenen Indigenen das Wahlrecht zukam. Die Wahlgesetze der Provinz Buenos Aires waren für die Rechtsentwicklung maßgeblich.
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Verfassung solle nicht als Allianz unabhängiger Provinzen verstanden werden. Die föderale Verfassung schließe, ganz im Gegensatz zur Allianz, eine allgemeine, gesamtstaatliche Regierung mit ein. (Alberdi 1852: 129) Was die Freiheit im Staat (Kategorie A4) betrifft, so argumentiert Alberdi für das allgemeine Wahlrecht ohne Eigentum und Bildung als Voraussetzungen, denn beides könne erworben werden. Bis jedoch weite Bevölkerungsteile über die nötige Bildung verfügen, solle ein mehrstufiges indirektes Wahlrecht Geltung haben, das später durch das Direktwahlrecht ersetzt werden könne. (Alberdi 1852: 142, 143). Wenn auch die Gesetzgebung vom Willen des Volkes geleitet ist, so endet das Abgeordnetenhaus in seiner faktischen Macht an den göttlichen Grenzen39. Nicht alles, was der Wille des Volkes vorsieht, kann so zur Umsetzung kommen. „La ley, constitucional o civil, es la regla de existencia de los seres colectivos que se llaman estados, y su autor, en último análisis no es otro que el de esa existencia misma regida por la ley. El Congreso Argentino Constituyente no será llamado a hacer la República Argentina ni a crear las reglas o leyes de su organismo normal; él no podrá reducir su territorio, ni cobijar su constitución geológica, ni mudar el curso de los grandes ríos, ni volver minerales los terrenos agrícolas. Él vendrá a estudiar y a escribir las leyes naturales en que todo eso propende a combinarse y desarrollarse del modo más ventajoso a los destinos providenciales de la República Argentina.“ (Alberdi 1852: 115)
Alberdi (1852) spricht sich demnach für eine Verfassung der föderalen Republik Argentiniens aus und versteht Freiheit vom Staat und Freiheit im Staat als Garantien im Rahmen des Verfassungsstaates. Und doch erscheinen ihm für die Zukunft Argentiniens einzelne Freiheiten aus dem Bereich der Freiheit vom Staat bedeutsamer als andere. Freiheit (Kategorien A3 und A4) und Unabhängigkeit (Kategorie A1) blieben zwar weiterhin die Grundlagen des Verfassungsrechts. Für die praktische Umsetzung dessen seien jedoch besonders folgende Mittel zu berücksichtigen, entsprechend der „necesidades de hoy“ (Alberdi 1852: 87): „Así como antes colocábamos la independencia, la libertad y el culto, hoy debemos poner la inmigración libre, la libertad de comercio, los caminos de fierro, la industria sin trabas, no en lugar de aquellos grandes principios, sino como medios esenciales de conseguir que dejen de ser palabras y se vuelvan realidades.“ (Alberdi 1852: 87)
Freie Einwanderung40, Handelsfreiheit, der Aufbau eines Eisenbahnnetzes und einer industria41 ohne Hindernisse sollen die großen Ziele der Freiheit nicht ersetzen, sie 39 „Es una especie de sacrilegio el definir la ley como la voluntad general de un pueblo. La voluntad es impotente ante los hechos que son obra de la providencia.“ (Alberdi 1852: 114). 40 Im Proyecto Constitucional in der Ausgabe von 1858 ist in Art. 16 im Abschnitt zu ‚Freiheit‘, das Recht definiert, in das Land Argentinien einzureisen, sich dauerhaft anzusiedeln, sowie ohne Reisepass ein- und auszureisen (Alberdi 1858: 197). Letzteres wurde nicht in die Verfassung von 1853 übernommen. 41 Die generación del 37 benutzt immer wieder den Begriff der ‚industria‘. Ihn vor dem Kontext der damaligen Zeit zu übersetzen, würde im agrarisch dominierten Argentinien ‚Ge-
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erscheinen dem Autor aber als notwendige Mittel, um die großen Ziele zur praktischen Umsetzung zu bringen42. Wirtschaftliche Freiheit scheint bei Alberdi (1852) den Rahmen der klassisch liberalen Freiheit (A3.1), der Abwehrrechte des Individuums gegenüber dem Staat, zu verlassen und nicht nur im Hinblick auf deren praktische Realisierbarkeit mit Fokus auf der politischen Gemeinschaft betrachtet zu werden; Alberdi (1852) stellt sie den anderen Freiheiten als Bedingung für deren praktische Realisierung voran. Sie könnten daher mit den klassischen Abwehrrechten des Individuums gegenüber dem Staat in Konflikt und Widerspruch geraten, worauf Alberdi (1852) allerdings nicht näher eingeht. Dies ist zugleich die Schnittstelle, an der Alberdi (1852) den Bogen zur Nation und der spezifischen Situation der argentinischen Nation und deren necesidades spannt. Wie argumentiert der Autor konkret? Ausgangspunkt der Argumentation bilden für Alberdi (1852) zwei Aspekte: 1. ein ideologischer Aspekt, wonach Fortschritt und Zivilisation materiell, v.a. ökonomisch, verstanden werden und 2. ein geschichtlich-kultureller Aspekt: die auch für die Zeit nach 1810 prägende Kolonialzeit und der negative Einfluss Spaniens. Zum ersten Aspekt, der Definition dessen, was als zivilisiert und fortschrittlich gilt – und ohne Zivilisation keine praktisch umsetzbare Freiheit – hält Alberdi (1852) fest, dass die gesamte Zukunft ‚Südamerikas‘ von der wirtschaftlichen Entwicklung abhänge. „En su redacción nuestras constituciones imitaban las constituciones de la República francesa y de la República de Norte América. Veamos el resultado que esto producía en nuestros intereses económicos, es decir, en las cuestiones de comercio, de industria, de marina [sic] de inmigración, de que depende todo el porvenir de la América del Sur.“ (Alberdi 1852: 71)
Die Imitation des französischen Vorbildes und der Französischen Revolution43 habe dazu geführt, dass zwar sämtliche Freiheiten in den Blick genommen wurden, Handelsfreiheit und die Abschaffung von Binnenzöllen jedoch unberücksichtigt blieben (Alberdi 1852: 71, 72). Was sind also die zitierten necesidades de hoy aus der Sicht Alberdis? Zunächst gilt es laut Alberdi (1852), dünn besiedelte Gebiete zu bevölkern und allgemeines Bevölkerungswachstum herzustellen. Die Förderung europäischer Einwanderung dient ihm nicht nur als Mittel für den erwünschten Bevölkerungszuwachs, sondern auch zur raschen Zivilisierung der Bevölkerung. Um europäische Immigranten anzuwerben, sei es vonnöten, ihnen bürgerliche Freiheitsrechte zuzugestehen (Kategorie B1). Die wirtschaftliche Tätigkeit von Einwanderern dürfe gesetz-
werbe‘ und/oder ‚Handel‘ passend erscheinen lassen. Doch die Autoren haben das Vorbild Großbritannien und die Industrielle Revolution vor Augen. Ihre Vision von wirtschaftlichem Fortschritt könnte durchaus die Bedeutungsebene ‚Industrie‘ umfassen. Da dies aus den Texten jedoch nicht klar hervorgeht, wird stets der Originalbegriff angeführt. 42 Der Stellenwert, den Alberdi (1852) den genannten wirtschaftspolitischen Maßnahmen zuschreibt, ja, sie verfassungsgesetzlich definiert wissen will, würde auch die Erstellung einer eigenen, zusätzlichen Kategorie als gerechtfertigt erscheinen, kann aber auch im Rahmen der objektiven positiven Freiheit vom Staat (A3.3), d.h. der Berücksichtigung tatsächlich vorhandener Möglichkeiten, um gemeinschaftliche Freiheitsziele zu erreichen, behandelt werden. 43 Auf den negativen Einfluss der USA geht Alberdi (1852) nicht näher ein.
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lich nicht gehemmt werden. (Alberdi 1852: 87, 110, 111) Zudem müssten Immigranten im Privatrecht den argentinischen Staatsbürgern gleichgestellt werden: „En provecho de la población de nuestras repúblicas, por inmigraciones extranjeras, nuestras leyes civiles deben contraerse especialmente: 1o A remover las trabas e impedimentos, de tiempos atrasados, que hacen imposible o difíciles los matrimonios mixtos. 2o A simplificar las condiciones para la adquisición del domicilio. 3o A conceder al extranjero el goce de los derechos civiles, sin condición alguna de una reciprocidad irrisoria. 4o A concluir con el derecho de albinagio, dándole los mismos derechos civiles que al ciudadano para disponer de sus bienes póstumos por testamento o de otro modo.“ (Alberdi 1852: 112)
Die Rechte, die 1825 bereits allen nach Argentinien einwandernden Briten zugestanden worden waren, sollen nach Alberdi (1852) für alle Immigranten gelten. Dazu gehören: „De la libertad de comercio. De la franquicia de llegar seguros y libremente con sus buques y cargamentos a los puertos y ríos, accesibles por la ley a todo extranjero. Del derecho de alquilar y ocupar casas a los fines de su tráfico. De no ser obligados a pagar derechos diferenciales. De gestionar y practicar en su nombre todos los actos de comercio sin ser obligados a emplear personas del país a este efecto. De ejercer todos los ‚derechos civiles‘ inherentes al ciudadano de la República. De no poder ser obligados al servicio militar. De estar libres de empréstito forzoso, de exacciones o requisiciones militares. De mantener en pie todas estas garantías a pesar de cualquier rompimiento con la nación del extranjero residente en el Plata. De disfrutar de entera libertad de conciencia y de culto, pudiendo edificar iglesias y capillas en cualquier paraje de la República Argentina. [Anführungszeichen im Original]“ (Alberdi 1852: 125, 126)
Neben der Handelsfreiheit sei die Forderung erwähnt, dass Einwanderern keine Sonderrechte und -gebühren vorgeschrieben werden dürfen, sie nicht zum Militärdienst verpflichtet werden sollen und v.a. die Forderung nach Religions- und Gewissensfreiheit, die an der folgenden Stelle noch präzisiert wird: „Si queréis pobladores morales y religiosos, no fomentéis el ateísmo. Si queréis familias que formen las costumbres privadas, respetad su altar a cada creencia. La América española, reducida al catolicismo con exclusión de otro culto, representa un solitario y silencioso convento de monjes. El dilema es fatal, o católica exclusivamente y despoblada; o poblada y próspera, y tolerante en materia de religión. Llamar la raza anglosajona y las poblaciones de la Alemania, de Suecia y de Suiza, y negarles el ejercicio de su culto, es lo mismo que no llamarles sino ceremonia, por hipocresía de liberalismo.“ (Alberdi 1852: 102)
Einwanderern solle zudem der Zugang zu öffentlichen Ämtern zweiten Ranges ermöglicht werden, da diese als praktisches Beispiel einen zivilisierenden Effekt auf die argentinischen Staatsbürger ausüben könnten. „Debe abrirles [a los inmigrantes] acceso a los empleos públicos de rango secundario, más que en el provecho de ellos, en beneficio del país. Que de ese modo aprovechará de su actitud para la gestión de nuestros negocios públicos y facilitará la educación oficial de nuestros ciudadanos
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por la acción del ejemplo práctico, como en los negocios de la industria privada.“ (Alberdi 1852: 122)
In seiner Priorisierung der Wirtschaftspolitik geht er so weit, Verträge und Verfassungen als „especie de contratos mercantiles de sociedades colectivas“ (Alberdi 1852: 87) zu bezeichnen. „La industria es el calmante por excelencia. Ella conduce por el bienestar y por la riqueza, al orden, por el orden a la libertad: ejemplos de ello son la Inglaterra y los Estados Unidos. La instrucción en la América, debe encaminar sus propósitos a la industria.“ (Alberdi 1852: 93)
Wirtschaft und industria führen laut Alberdi (1852) zu Wohlstand und Reichtum, Ordnung und in weiterer Folge zu Freiheit. Aus diesem Grund müsse auch die Bildungspolitik wirtschaftlichen Interessen folgen. Selbst individuelle Freiheiten wie die Unverletzlichkeit des Privateigentums und die Freiheit von Arbeit und industria leitet Alberdi (1852) aus dem Gebot der Immigration und des Fortschritts ab: „Siendo el desarrollo y la explotación de los elementos de riqueza que contiene la República Argentina, el principal elemento de su engrandecimiento y el aliciente más enérgico de la inmigración extranjera de que necesita, su Constitución debe reconocer entre sus grandes fines, la inviolabilidad del derecho de propiedad y la libertad completa del trabajo y de la industria.“ (Alberdi 1852: 123)
Welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen schlägt Alberdi konkret vor? Zunächst den Ausbau des Transportwesens, um das wirtschaftlich schwächere Landesinnere mit den progressiveren Küstenstädten, die über die Schifffahrt mit Europa verbunden sind, zu stärken und sie so „al alcance de la acción civilizante de Europa“ (Alberdi 1852: 104) zu bringen. Ein gut ausgebautes Eisenbahnnetz diene auch der rascheren Verbreitung von Bildung und Kultur: „Los caminos de fierro son a este siglo, lo que los conventos eran a la Edad Media; cada época tiene sus agentes de cultura.“ (Alberdi 1852: 106). Immigranten sollen ins Landesinnere gebracht werden (Alberdi 1852: 103). Zudem solle die freie Schifffahrt beschlossen und mit entsprechenden Verträgen gesichert sowie Binnenzölle durch einen nationalen Zoll ersetzt werden, denn 14 unterschiedliche Provinzzölle seien der Förderung von Wirtschaft und industria abträglich. (Alberdi 1852: 107, 108, 124). Zur Finanzierung dieser Projekte sollen Kredite aufgenommen werden: „El crédito es la disponibilidad del capital; y el capital es la varilla mágica que debe darnos población, caminos, canales, industria, educación y libertad.“ (Alberdi 1852: 112). Kapital erscheint hier als Voraussetzung für die praktische Etablierung von Freiheit. Selbst die Vorschläge zum Aufbau einer argentinischen Nation leiten sich aus den wirtschaftspolitischen Forderungen ab. Denn die Aufnahme der benötigen Kredite gelinge nur der geeinten Nation, nicht dem cabildo oder der Provinz44.
44 Zudem könne die Vergabe von Privilegien an ausländische Firmen angedacht werden (Alberdi 1852: 106).
272 | F REIHEIT UND N ATION „Uníos en cuerpo de nación, consolidad la responsabilidad de vuestras rentas y caudales presentes y futuros, y tendréis quien os empreste millones para atender a vuestras necesidades locales y generales, porque si no tenéis plata hoy tenéis los medios de ser opulentos mañana.“ (Alberdi 1852: 106)
Die benötigten Summen für umfassende Wirtschaftsreformen könne keine Provinz alleine bestreiten, nur die Nation sei stark genug dafür und erfahre auch den nötigen Respekt ausländischer Mächte. „Sólo ella [la nación] merece respeto, porque solo ella es fuerte. Caminos de fierro, canales, puentes, grandes mejoras materiales, empresas de colonización, son cosas superiores a la capacidad de cualquier provincia aislada, por rica que sea. Esas obras piden “millones”, y esta cifra es desconocida en el vocabulario provincial. [Anführungszeichen im Original]“ (Alberdi 1852: 144)
Der Aufbau eines Eisenbahnnetzes könne bei der Einigung des Territoriums behilflich sein: „Así, pues, la unidad política, debe empezar por la unidad territorial, y sólo el ferrocarril puede hacer de dos parajes separados por quinientas leguas, un paraje único.“ (Alberdi 1852: 105). Zum zweiten Aspekt sei gesagt, dass Alberdi die Rückständigkeit Argentiniens mit dem kolonialen Erbe in Verbindung bringt. Die Nachwirkungen des Kolonialsystems bis in die Gegenwart hätten eine rasche Einordnung Argentiniens nach 1810 in das Projekt der europäischen Zivilisation unmöglich gemacht: „Quebrantadas las barreras por la mano de la revolución, debió esperarse que este suelo quedase expedito al libre curso de los pueblos de Europa; pero bajo los emblemas de la libertad, conservaron nuestros pueblos la complexión repulsiva que la España había sabido darles, por un sistema que hoy hace pesar sobre ella misma sus consecuencias.“ (Alberdi 1852: 67)
Abhilfe verschaffe der Aufbau europäischer Institutionen und politischer Systeme, nicht nur, weil diese freiheits- und fortschrittssichernd sind, sondern weil sie europäische Einwanderer anlocken würden. „El bienestar de ambos mundos se concilia casualmente, y mediante un sistema de política y de instituciones adecuadas, los estados del otro continente deben propender a enviarnos, por inmigraciones pacíficas, las poblaciones que los nuestros deben atraer por una política e instituciones análogas.“ (Alberdi 1852: 67, 68)
Um die Rückständigkeit Argentiniens aufgrund des kolonialen Erbes zu überwinden, reiche es nicht, wie 1810 geschehen, Freiheit und Unabhängigkeit – in Abgrenzung zu Europa – festzuschreiben. Das gegenwärtige Gebot für Fortschritt und Freiheit sei es, europäische, zivilisierte Einwanderer anzuwerben. „La América de hace treinta años, sólo miró la libertad y la independencia; para ellas escribió sus constituciones. Hizo bien, era su misión de entonces. El momento de echar la dominación europea fuera de este suelo, no era el de atraer los habitantes de esa Europa temida.“ (Alberdi 1852: 86)
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Es stellt sich nun die Frage, wer in den genannten Freiheitsbegriffen inkludiert ist (Kategorie B). Im Zuge der wirtschaftsfördernden Maßnahmen schlägt Alberdi (1852), wie bereits angeklungen, die rechtliche Gleichstellung von Immigranten und Staatsbürgern vor (Kategorie B1). Die Anwerbung von Einwanderern stellt für Alberdi (1852) einen Grund für die Abschaffung der Staatsreligion und die Garantie der Religions- und Gewissensfreiheit mittels Verfassung dar. Die Staatbürgerschaft soll für Immigranten leicht erwerbbar sein, diesen aber nicht aufgedrängt werden. „Así para poblar el país, debe garantizar la libertad religiosa, sin lo cual habrá población, pero escasa, impura y estéril. Debe ‚prodigar‘ la ciudadanía y el domicilio al extranjero sin imponérselos. Prodigar, digo, porque es la palabra que expresa el medio de que se necesita. [Anführungszeichen im Original]“ (Alberdi 1852: 122)
Die Gruppe der Immigranten ist in den Vorschlägen Alberdis jener der Staatsbürger weitgehend gleichgestellt und kommt wie diese in den Genuss der beschriebenen Freiheitsrechte. Ja, manche der verfassungsmäßig definierten Freiheiten leiten sich sogar aus dem Ziel der Förderung von Immigration ab (etwa die Religionsfreiheit). Die Gruppe der Einwanderer kann implizit als freiheitsfördernd betrachtet werden. Wer ist aber aus den beschriebenen Freiheitsbegriffen explizit oder implizit ausgeschlossen und wie wird die Exklusion gegebenenfalls begründet (Kategorie B2)? Welche Identitätskategorien und persönlichen Merkmale dienen als Ausschlusskriterium (Geschlecht, Alter, Ethnizität, Eigentum, Bildung)? Wie oben dargestellt, sind für Alberdi (1852) Eigentum und Bildung keine Voraussetzungen für Freiheit im Staat. Zum Mindestalter für Wähler äußert er sich in den Bases (1852) nicht. Betrachtet man die Identitätskategorien Geschlecht und Ethnizität näher, so werden Frauen bei Alberdi (1852) nicht explizit aus dem Wahlrecht ausgeschlossen. Es findet allerdings eine implizite Exklusion statt, die sich nicht zuletzt an der Forderung des Ausschlusses von Frauen aus der Öffentlichkeit widerspiegelt. Der Frau wird die Domäne des Haushalts und des Privatraums zugeschrieben; sie habe sich um das Haus, die Kindeserziehung und ihren Ehemann sowie um alles zu kümmern, was glücklich macht, ohne öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen45. Die Bildung der Frau solle dementsprechend angepasst werden. Es sei nicht vonnöten, Frauen künstlerisch zu bilden: „En cuanto a la mujer, su instrucción no debe ser brillante. No 45 „La mujer debe brillar con el brillo del honor, de la dignidad, de la modestia de su vida. Sus destinos son serios; no ha venido al mundo para ornar el salón, sino para hermosear la soledad fecunda del hogar. Darle apego a su casa, en salvarla; y para que la casa la atraiga, se debe hacer de ella un edén. Se le debe reemplazar al lujo de las caravanas, de los trajes espléndidos y de las cosas de ostentación, por el lujo del dormitorio, de la cama, de la mesa, de la cocina, de los jardines interiores, y de todo lo que hace ser feliz sin llamar la atención del público. Bien se comprende que la conservación de ese edén, exige una laboriosidad incesante y que una mujer laboriosa no tiene el tiempo de perderse, ni el gusto de disiparse en vanas reuniones. Mientras la mujer viva en la calle y en medio de las provocaciones; recogiendo aplausos como actriz en el salón; rozándose como un diputado entre esa especie de público que se llama la sociedad, educará los hijos a su imagen, servirá a la república como ‚Lola Montes‘ y será útil para sí misma y para su marido, como ‚Mesalina‘ más o menos decente. [Anführungszeichen im Original]“ (Alberdi: 1852: 94).
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debe consistir en talentos de ornato y lujo exterior, como la música, el baile, la pintura, como ha sucedido hasta aquí.“ (Alberdi 1852: 93). Zur Präsenz von Frauen in der politischen Drucköffentlichkeit kann gesagt werden, dass die zitierten Stellen die einzigen innerhalb der Bases (1852) sind, an denen Frauen explizit erwähnt werden. Was den Aspekt der Ethnizität betrifft, so schließt Alberdi (1852) Indigene explizit aus der politischen und bürgerlichen Gesellschaft aus. „Hoy mismo, bajo la independencia, el indígena no figura ni compone mundo en nuestra sociedad política y civil. Nosotros, los que nos llamamos americanos, no somos otra cosa que europeos nacidos en América. Cráneo, sangre, color, todo es de fuera. El indígena nos hace justicia; nos llama españoles hasta el día. No conozco persona distinguida de nuestras sociedades que lleve apellido pehuenche o araucano.“ (Alberdi 1852: 95)
Diese Formulierung legt einen Ausschluss von der politischen Partizipation nahe. Laut Quijada (2005a, b) sollte die indigene Bevölkerung, so sie auf argentinischem Staatsgebiet geboren wurde, während des gesamten 19. Jahrhunderts nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen werden. Indigene würden auch in der von Alberdi (1852) inspirierten Verfassung von 1853 nicht explizit ausgeschlossen. Spricht Alberdi (1852) hier von einem sozialen Ausschluss oder sind davon auch die Freiheitsrechte (Freiheit vom und im Staat) betroffen? Sollten Indigene zwar über die individuellen Freiheitsrechte verfügen, aber politisch nicht partizipieren? Die zitierte Stelle lässt keine genauen Antworten diesbezüglich zu. Begründet wird die oben formulierte Exklusion jedenfalls ethnisch. Alberdi (1852) sieht sich und die Kreolen als Europäer an, die in Amerika geboren wurden, was an der Schädelform, an der Abstammung sowie der Hautfarbe erkennbar sei. Die Überlegenheitsposition der Kreolen begründet er auch mit der Stellung in der sozialen Hierarchie. Die kriegerischen Auseinandersetzungen mit den indígenas de frontera seien jedoch kein Grund für das bisherige Scheitern der Verfassungsentwürfe. Vielmehr hätten die internen Kriege Argentiniens die Verabschiedung einer Verfassung unmöglich gemacht: „La guerra interior que ha sufrido la República Argentina, no es de esas guerras indígenas por sus motivos y miras, hijas del vicio y manantiales de relajación.“ (Alberdi 1852: 168). Nation Zur Frage, was in den Bases (1852) unter ‚Nation‘ verstanden wird und wodurch sie sich charakterisiert (Kategorie C1), ist festzuhalten, dass Alberdi (1852) die Nation als etwas zu Konstruierendes, Zukünftiges betrachtet. „Con un millón escaso de habitantes por toda población en un territorio de doscientas mil leguas, no tiene de nación la República Argentina sino el nombre y el territorio.“ (Alberdi 1852: 122). Die fehlende Bevölkerung und die Leere des Landes machen es aus Sicht des Autors unmöglich, von einer argentinischen Nation zu sprechen. Die Weite des dünn besiedelten Landes fördere die lokale Autonomie und verunmögliche den Aufbau einer Zentralregierung (Alberdi 1852: 130). Die niedrigen Bevölkerungszahlen seien ein Grund dafür, weshalb Argentinien bislang keine Staatsgewalt mit Gewaltmonopol auf argentinischem Territorium etablieren konnte, der es laut Alberdi (1852) jedoch bedarf, um die Einhaltung einer Verfassung überhaupt durchsetzen zu können (Alberdi 1852: 156): „La falta de población que le impide ser nación, le impide también la adquisición de un gobierno general completo.“ (Alberdi 1852: 122). Denn für Al-
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berdi ist ein dünn besiedeltes Territorium (el „desierto“ (Alberdi 1852: 67)) mit Rückständigkeit gleichzusetzen, selbst wenn Bodenschätze und Potenzial für Reichtum vorhanden sind. Das Staatsgebiet sei indes weitestgehend definiert: „Uno de ellos es el ‚territorio argentino‘, sobre cuya extensión, integridad y límites, estamos de acuerdo la Europa, la América y los geógrafos, salvo pequeñas discusiones sobre fronteras externas. Bajo el nombre de ‚República‘ y ‚Confederación Argentina‘ todo el mundo reconoce un cierto y determinado territorio, que pertenece a una asociación política, que no se equivoca ni confunde con otra. [Anführungszeichen im Original]“ (Alberdi 1852: 145)
In anderen Worten: Der Staatsnation fehlt es am Staatsvolke. Ein Mittel, dieses Problem zu lösen, erblickt Alberdi (1852) in der einwanderungsfreundlichen Verfassung: „Según esto la población de la República Argentina hoy desierta y solitaria, debe ser el grande y primordial fin de su Constitución por largos años.“ (Alberdi 1852: 122). Denn die natürliche Bevölkerungsentwicklung sei ein zu langwieriger Prozess. Es empfehle sich, das Land mit bereits gebildeten, zivilisierten Einwanderer zu besiedeln. Diese würden einen Zivilisierungseffekt entwickeln, der sich schneller vollzieht als der Aufbau von entsprechenden Bildungsinstitutionen und -maßnahmen: „Cada europeo que viene a nuestras playas, nos trae más civilización en sus hábitos, que luego comunica a nuestros habitantes, que muchos libros de filosofía.“ (Alberdi 1852: 99). Es sei nicht zu befürchten, dass das Wesen der argentinischen Nation durch Einwanderung gefährdet sei, denn Nationen bestünden immer aus einer Mischung unterschiedlicher Völker46. All das lässt auf die Ausprägung der Staatsnation (Kategorie C2) schließen, die Immigranten wie Nationsangehörige aufgrund der gemeinsamen, verfassungsmäßig gesicherten (Freiheits-)Rechte zur Nation zusammenbringt: „El suelo prohija a los hombres, los arrastra, se los asimila y hace suyos. El emigrado es como el colono; deja la madre patria por la patria de su adopción.“ (Alberdi 1852: 109). Das gemeinsame Territorium erzeuge eine Gemeinschaft. Dieses alleine reiche aber nicht zur Bildung der Nation, was daran abzulesen sei, dass das Territorium bereits seit drei Jahrhunderten Bestand habe, die Patria jedoch erst seit 1810 existiere. „La patria es la libertad, es el orden, la riqueza, la civilización organizadas en el suelo nativo, bajo su enseña y en su nombre.“ (Alberdi 1852: 98). Die Verfassung sei dazu in der Lage, den nationalen Konsenses von Freiheit, Ordnung, Wohlstand und Zivilisation auf einem gemeinsamen Territorium abzusichern: „No: en vez de dar el despotismo a un hombre, es mejor darlo a la ley. Ya es una mejora el que la severidad sea ejercida por la constitución y no por la voluntad de un hombre. Lo peor del despotismo no es su dureza, sino su inconsecuencia, y sólo la constitución es inmutable.“ (Alberdi 1852: 156)
Um zur gewünschten, künftigen Nation zu gelangen, müsse also das Problem des Staatsvolkes gelöst werden. Neben der Einwanderungspolitik sei dafür die Bildungs46 „El poblador extranjero no es un peligro para el sostén de la nacionalidad.“ (Alberdi 1852: 85) und „No temáis tampoco que la nacionalidad se comprometa por la acumulación de extranjeros, ni que desaparezca el tipo nacional. Ese temor es estrecho y preocupado.“ (Alberdi 1852: 108).
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politik zentral. Zwar lasse sich auch in hundert Jahren im besten Bildungssystem aus einem gaucho kein englischer Arbeiter machen, doch ließe sich damit eine Ordnung herstellen, die wiederum Einwanderung begünstigt: „Se hace este argumento: educando nuestras masas, tendremos orden; teniendo orden, vendrá la población de fuera.“ (Alberdi 1852: 100). Argentinien sei davon jedoch weit entfernt. Da das Volk nicht für das System der Repräsentation vorbereitet sei, funktioniere auch die Republik nicht. (Alberdi 1852: 87) „Nosotros somos incapaces de federación y de unidad perfectas, porque somos pobres, incultos y pocos.“ (Alberdi 1852: 131). Zur Lösung der Probleme beim Aufbau eines stabilen Regierungssystems wird die (politische) Bildung des argentinischen Volkes vorgeschlagen. „[...] ella consiste en elevar nuestros pueblos a la altura de la forma de gobierno, que nos ha impuesto la necesidad; en darles la aptitud que les falta para ser republicanos; en hacerlos dignos de la república, que hemos proclamado, que no podemos practicar hoy ni tampoco abandonar: en mejorar el ‚gobierno‘ por la mejora de los ‚gobernados‘; en mejorar la ‚sociedad‘ para obtener la mejora del ‚poder‘, que es su expresión y resultado directo. [Anführungszeichen im Original]“ (Alberdi 1852: 89)
Alberdi (1852) geht es allerdings nicht primär um die Förderung republikanischer Tugenden und schulischer Grundkenntnisse wie das Lesen. Dass das Volk nach 1810 lesen lernte, machte es für die Manipulation der Presse anfällig. Bildung solle nicht länger in den Händen des Klerus liegen, denn das oberste Ziel ist für Alberdi (1852) nicht die moralische Bildung und auch nicht die Ausbildung von Juristen und Publizisten, sondern Bildung, die ‚nützlich‘ ist (de „utilidad material e inmediata“ (Alberdi 1852: 93)). Darunter versteht er die praktische Ausbildung für Markt und industria, v.a. von Ingenieuren, Geologen, Naturwissenschaftlern. Neben den angewandten Wissenschaften sollen lebende Fremdsprachen (Englisch statt Latein) als Sprachen der freien industria gefördert werden. (Alberdi 1852: 91-93). Auch die Maßnahmen zur Konstruktion der Nation leiten sich bei Alberdi (1852) demnach von wirtschaftlichen Erfordernissen ab. Neben den soeben diskutierten Komponenten der zu konstruierenden Nation nach Alberdi (1852), die auf die Ausprägung einer Staatsnation schließen lassen, finden sich auch Hinweise auf die Ausprägung der Kulturnation. Die Definition von Nationsangehörigen mitsamt ihrer Inklusions- und Exklusionsmechanismen bestimmt sich nicht nur durch die politische Wertegemeinschaft, die ihren Grundkonsens in der Verfassung festschreibt und deren Inklusionsbereitschaft von der Anerkennung derselben geleitet ist, sondern auch durch Faktoren wie gemeinsame Geschichte, Bräuche, Kultur und Ethnizität. Um mit dem Aspekt der Ethnizität zu beginnen, so ist in den Bases (1852) deutlich zu erkennen, dass Alberdi (1852) nicht nur Zivilisation und Fortschritt an Europa koppelt, sondern sich selbst und die Kreolen als europäisch definiert. Denn: Amerika sei eine europäische Entdeckung; die heutigen ‚Besitzer‘ keine Indigenen. „Todo en la civilización de nuestro suelo es europeo. La América misma es un descubrimiento europeo. La sacó a luz un navegante genovés, y fomentó el descubrimiento una mujer de España. Cortés, Pizarro, Mendoza, Valdivia, que no nacieron en América, la poblaron de la gente que hoy la posee, que ciertamente no es indígena.“ (Alberdi 1852: 94)
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Alles, was das gegenwärtige Argentinien kulturell ausmache, sei europäisch: die Gesetze, die Universitäten, die Religion. „Nuestra religión cristiana ha sido traída a América por los extranjeros. A no ser por la Europa, hoy la América estaría adorando al sol, los árboles, las bestias, quemando hombres en sacrificio, y no conocería el matrimonio. La mano de la Europa plantó la cruz de Jesucristo en la América antes gentil: ¡bendita sea por esto sólo la mano de la Europa!“ (Alberdi 1852: 95)
Alberdi (1852) geht sogar noch einen Schritt weiter und folgert im Umkehrschluss, dass alles, was nicht aus Europa stammt, barbarisch sei. Das ‚Wir‘, von dem Alberdi (1852) spricht und die Gruppe der Kreolen bezeichnet, nimmt hier keine eigene Kategorie ein – Alberdi (1852) lässt nur die Ausprägungen ‚europäisch‘ vs. ‚indigen‘ zu. Die Kreolen werden so zu Europäern. Denn obwohl sie in Amerika, nicht in Europa, geboren wurden, sind sie Christen und sprechen sie Spanisch. „En América todo lo que no es europeo es bárbaro: no hay más división que esta: 1o el indígena, es decir el salvaje; 2o el europeo, es decir nosotros, los que hemos nacido en América y hablamos español, los que creemos en Jesucristo y no en Pillán (dios de los indígenas).“ (Alberdi 1852: 96)
Neben einer Differenzierung der argentinischen Bevölkerung nach ihrer Wirtschaftskraft (Landesinnere vs. Küstengebiete) ist dies die einzige Spaltung des Volkes, die Alberdi (1852) gelten lässt. Einen Stadt-Land-Antagonismus, wie er in der Gegenüberstellung von Unitariern und Föderalen zu dieser Zeit zum Ausdruck kommt, hält Alberdi (1852) für unzutreffend: Es gebe auch Unitarier auf dem Land und Rosas als Föderaler dominierte Argentinien von der Stadt aus. Und selbst die Unterscheidung zwischen Landesinnerem und Küstengebieten sei auf den Einfluss Europas zurückzuführen. Die florierenden Küstengebiete seien Ergebnis der europäischen Zivilisationsbemühungen des 19. Jahrhunderts (Handel, Einwanderung), während das Landesinnere Ergebnis des Europas des 16. Jahrhunderts und der spanischen Abschottungspolitik sei. (Alberdi 1852: 96) Wenn Alberdi (1852) vom zivilisierten Europa spricht, so sind damit vorwiegend England und Frankreich, nicht aber Spanien gemeint. Die Frage nach der kollektiven Identität jener Gruppe, die zur Konstruktion der argentinischen Nation maßgeblich beitragen soll, wird bei Alberdi (1852) mit ‚europäisch‘ beantwortet, sei es durch europäische Einwanderer, sei es durch die Kreolen, die er als europäisch definiert. So kommt es, dass Alberdi (1852) die Gruppe der Kreolen in eine als natürlich aufgefasste Geschichte des europäischen Fortschritts („curso natural de las cosas“ (Alberdi 1852: 67)) einschreibt, die sich bislang nicht entwickeln konnte, weil die ‚südamerikanischen‘ Kreolen noch unter den Folgen der Abgrenzungspolitik der Spanier leiden, die das Gebiet von Europa abschotteten, die Kommunikationswege abschnitten und mit ihrer Politik die Vervielfachung der ‚europäischen‘ Bevölkerung ‚Südamerikas‘ verhinderten. Darin bestehe der Unterschied zwischen ‚Südamerika‘ und den USA, die von einem Land mit einem ausgeprägteren Sinn für Wirtschaft kolonisiert worden waren. Die kulturelle Identität der Kreolen ist also europäisch geprägt und in Abgrenzung zu Spanien wie zur indigenen
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Bevölkerung zu sehen. Sie ist vielmehr auf ganz Hispanoamerika bezogen als nationalstaatlich gefasst. (Alberdi 1852: 66, 67) Gleichsam betont Alberdi (1852) den hohen kulturellen Entwicklungsstand der Europäer, deren Sitten und Bräuche, die an die Einwohner Argentiniens weitergegeben werden sollen: „¿Queremos plantar y aclimatar en América la libertad inglesa, la cultura francesa, la laboriosidad del hombre de Europa y de Estados Unidos? Traigamos pedazos vivos de ellas en las costumbres de sus habitantes y radiquémoslos aquí.“ (Alberdi 1852: 99)
Zivilisation und Kultur gelten ihm als erlernbare Größen; da die Änderung der costumbres und die Erziehung der ungebildeten Massen ein langer Prozess ist, erscheint ihm die Zuwanderung gebildeter Menschen, die ihrerseits einen ‚Zivilisierungseffekt‘ auf die argentinische Bevölkerung üben, bedeutender. „Os diré que invertís el verdadero método de progreso. No tendréis orden, ni educación popular, sino por el influjo de masas introducidas con hábitos arraigados de ese orden y buena educación.“ (Alberdi 1852: 100, 101)
Dass Ethnizität und Klima großen Einfluss auf Charakter, Bildung, Sitten zu haben scheinen – es ist in der oben zitierten gaucho-Passage unverkennbar, dass die Überlegenheit der Europäer nicht rasch wettgemacht werden kann –, doch nicht zum allesbestimmenden Faktor werden kann, muss Alberdi (1852) schon alleine deswegen annehmen, da die Kreolen ja vom ‚rückständigen‘ Spanien und nicht von den fortschrittlichen Europäern abstammen. „La exaltación del carácter español que nos viene de raza, y el clima que habitamos no son condiciones que nos hagan aptos para la política, que consta de prudencia, de reposo y de concesión; pero debemos recordar que ellos no han impedido, a la Grecia y a la Italia, ardientes como el pueblo español, ser la cuna antigua y moderna de la legislación y de la ciencia del gobierno.“ (Alberdi 1852: 172)
Ob dies auch für die indigene Bevölkerung gelten kann oder Alberdi (1852) in diesem Fall doch von einem auf Ethnizität beruhenden Determinismus ausgeht – kann Zivilisation auch von als barbarisch bezeichneten Gruppen ‚erlernt‘ werden? – wird in den Bases (1852) nicht ganz klar. Die Frage stellt sich angesichts dessen, dass Alberdi (1852) alles, was er mit Europa in Verbindung bringt (inklusive Kreolen) den Indigenen radikal gegenüberstellt. Wie steht es nun um den Aspekt der Geschichte? Ist bei Alberdi (1852) auch das Ziel unverkennbar, in Argentinien eine Nation nach europäischem Maßstab zu konstruieren, so betont er stets, dass die necesidades del país, die spezifischen Bedingungen des Landes, bei der Konstruktion des argentinischen Nationalstaates Berücksichtigung finden müssten. Die Errichtung einer Konföderation sei aus diesem Grund keine Option für Argentinien, denn sie ließe das argentinische Problem der lokalen Souveränitäten unberührt, ohne dessen Lösung Argentinien nicht zur Nation werden könne (Alberdi 1852: 138). Die Geschichte des Landes seit 1810 zeige, dass Unitarier wie Föderale untrennbar mit ihr verbunden sind. Der einzige Weg, in Argenti-
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nien zu einer einheitlichen Regierung zu kommen und die politische Organisation der Republik Argentinien voranzutreiben sei es, beide politische Traditionen miteinander zu vereinen. „Y desde luego aplicando ese método a la solución del problema más difícil que haya presentado hasta hoy la organización política de la República Argentina, que consiste en determinar cuál sea la base más conveniente para el arreglo de su gobierno general, si la forma ‚unitaria o la federativa‘: el Congreso hallará que estas dos bases tienen antecedente tradicional en la vida anterior de la República Argentina; que ambas han coexistido anterior y modernamente y forman como los dos elementos de la existencia política de aquella República. [Anführungszeichen im Original]“ (Alberdi 1852: 115)
Die zu wählende politische Organisationsform wird mit der politischen Tradition des unabhängigen Argentiniens argumentiert, nicht mit Bezugnahme auf europäische Vorbilder und Modelle. Ähnlich verhält es sich mit der Wahl der Regierungsform: „De las tres ‚formas‘ esenciales de gobierno, que reconoce la ciencia –a saber–, el ‚monárquico‘, el ‚aristocrático‘ y el ‚republicano‘, este último ha sido proclamado por la revolución americana, como el gobierno de estos países. No hay, pues, lugar a cuestión sobre forma de gobierno. En cuanto al ‚fondo‘, él reside originariamente en la nación, y la ‚democracia‘, entre nosotros, más que una forma, es la esencia misma del gobierno. [Anführungszeichen im Original]“ (Alberdi 1852: 129)
Die Republik wird als Ergebnis der Unabhängigkeitskriege gewürdigt und aufgrund dieser geschichtlich-symbolischen Bedeutung nicht in Frage gestellt. Die Nation bilde ursprünglicherweise die Grundlage der Regierungsform. Die gemeinsame Erinnerung an die Mairevolution und der in der Folge getroffenen politischen Weichenstellungen erscheinen hier als Grund für die Wahl der Regierungsform und der politischen Organisation der Nation. Dasselbe gilt für die Frage, wie eng der Zusammenschluss der Provinzen in der Föderation gestaltet sein soll. „Hay grados diferentes de federación, según este. ¿Cuál será el grado conveniente a la República Argentina? Lo dirán sus antecedentes históricos y las condiciones normales de su modo de ser físico y social. […] Estando a la ley de los antecedentes y al imperio de la actualidad, la República Argentina será y no podrá menos que ser un Estado federativo, una república nacional compuesta de varias provincias a la vez independientes y subordinadas al gobierno general creado por ellas.“ (Alberdi 1852: 129)
Diese Art der Föderation erlaube es, die beiden rivalisierenden politischen Traditionen des Landes miteinander zu verbinden und baue dadurch auf den natürlichen und historischen Bedingungen Argentiniens auf. Sie sei von General Urquiza ausgerufen und der Nation versprochen worden. Die Schlacht von Caseros sei ein ebenso bedeutendes Ereignis wie die Mairevolution. Nach dem Sturz von Rosas stehe nun der Weg zur Organisation der Republik Argentinien und zum Fortschritt offen. (Alberdi 1852: 68, 69, 129, 130)
280 | F REIHEIT UND N ATION „Los himnos populares de nuestra Revolución de 1810, anunciaban la aparición en la faz del mundo, de ‚una nueva y gloriosa nación‘, recibiendo saludos de todos los libres, dirigidos ‚al gran pueblo argentino‘. La musa de la libertad sólo veía ‚un pueblo argentino, una nación argentina‘, y no muchas naciones, y no catorce pueblos. [Anführungszeichen im Original]“ (Alberdi 1852: 140)
Die Erinnerung an die Mairevolution und ihre Ankündigung einer großen Nation bilden abermals das Argument für die nationale Organisation Argentiniens und gegen einen losen Staatenbund der 14 Provinzen. Der Weg zur nationalen Versöhnung müsse eine Koexistenz von lokaler Individualität der Provinzen mit dem Kollektiv der Nation erlauben und so in der Lage sein, die Freiheit der Provinzen mit der Gemeinschaft der Nation zu verbinden, analog zum menschlichen Organismus. „[...] la fórmula llamada hoy a presidir la política moderna, que consiste, en la combinación armónica de la ‚individualidad‘ con la ‚generalidad‘, del ‚localismo‘ con la ‚nación‘, o bien de la ‚libertad‘ con la ‚asociación‘: ley natural de todo cuerpo orgánico, sea colectivo o sea individual, llámese Estado o llámese hombre, según la cual tiene el cuerpo orgánico dos vidas, por decirlo así, una de localidad y otra general o común, a semejanza de lo que enseña la ciencia de los seres animados, cuya vida reconoce dos existencias, una parcial y de cada órgano, y a la vez otra general de todo el organismo. [Anführungszeichen im Original]“ (Alberdi 1852: 119)
Was bedeutet dies für die Frage nach dem Souverän und der Definition von Staatsvolk und Nationsangehörigen (Kategorie C3)? An einer Stelle der Bases (1852) heißt es, das argentinische Volk sei 200 Jahre alt: „Es un pueblo con más de dos siglos de existencia, que tiene instituciones antiguas y modernas, desquiciadas e interrumpidas, pero reales y existentes en cierto modo.“ (Alberdi 1852: 145), eine auf die Gruppe der Kreolen zentrierte Formulierung. Eigentum und Bildung sollen keine Voraussetzungen für politische Partizipation in Form des Wahlrechts sein, da sie erwerbbar sind. Bildung breiter Bevölkerungsschichten und wirtschaftlicher Fortschritt gelten ihm daher als notwendige Schritte auf dem Weg zur zivilisierten, freiheitssichernden Nation. Das Ziel der Zivilisation scheint ihm jedoch nicht ohne zivilisiertes Volk erreichbar, und in diesem Punkt besteht kein Zweifel daran, dass er damit Kreolen und v.a. europäische Einwanderer meint. Dementsprechend soll das argentinische Staatsvolk in kurzer Zeit durch europäische Immigration anwachsen; Einwanderer sollen rasch die Staatsbürgerschaft erhalten und so Teil des souveränen Volks werden. Bis dieser Zustand erreicht ist, soll nach Alberdi (1852) kein direktes Wahlrecht gelten und das Volk soll keine volle Souveränität erhalten. Vielmehr solle die Exekutive die Möglichkeit erhalten, bei Bedarf – etwa der Gefahr der Anarchie – mit umfassender Macht zu regieren: „Yo no veo por qué en ciertos casos no puedan darse facultades omnímodas para vencer el atraso y la pobreza, cuando se dan para vencer el desorden que no es más que el hijo de aquellos.“ (Alberdi 1852: 156). Dies wiederum ist durchaus ein ethnisch-kulturelles Argument, das politisch-rechtliche Konsequenzen zeigt. Erst wenn das Volk zivilisiert und europäisiert ist, kann ihm die volle Souveränität („la soberanía radical del pueblo“ (Alberdi 1852: 155)) zuteilwerden. Aber auch erst, wenn die internen Differenzen innerhalb der Kreolen beigelegt wurden und eine nationale Einigung erfolgt ist, scheint das Volk zu Souveränität bereit.
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„Hay muchos puntos en que las facultades especiales dadas al poder ejecutivo, pueden ser el único medio de llevar a cabo ciertas reformas de larga, difícil e insegura ejecución si se entregan a las legislaturas compuestas de ciudadanos más prácticos que instruidos, y más divididos por pequeñas rivalidades que dispuestos a obrar en el sentido de un pensamiento común.“ (Alberdi 1852: 156)
Freiheit und Nation Wie werden in den Bases (1852) demnach Freiheit und Nation aufeinander bezogen? Welche Aspekte machen die europäisch geprägte, dennoch spezifisch argentinische Republik und Nation, die es erst zu konstruieren gilt, aus? „La República Argentina, simple asociación tácita e implícita por hoy, tiene que empezar por crear un gobierno nacional y una constitución general, que le sirva de regla.“ (Alberdi 1852: 69). Nach Alberdi (1852) soll Argentinien eine föderale Republik werden, deren nationale Regierung in den Rahmen des Verfassungsstaates eingebettet ist. Die Verfassung soll nicht nur die Geschicke der Regierung leiten, sondern auch die grundlegenden Freiheiten garantieren, von denen Alberdi (1852) die Freiheit des Staates/der Nation (Kategorie D1), die Freiheit vom Staat (Kategorie D3) sowie die Freiheit im Staat (Kategorie D4) hervorhebt. Die Garantie der Freiheit des Staates/der Nation alleine bringe noch keine zivilisierte Nation hervor, was an den nicht ratifizierten vorhergehenden Verfassungen Argentiniens, der unzureichenden praktischen Einhaltung der Freiheitsrechte seit 1810 sowie dem Fehlen einer geeinten Nation abzulesen sei. Die Verfassung erscheint als Grundlage und Mittel zur Konstruktion nicht nur der Republik, sondern der argentinischen Nation, schreibt sie doch den Wertekonsens der politischen Gemeinschaft fest. Nur sie garantiere die politische Stabilität, die eine Einigung Argentiniens sowie ein geregeltes politisches System erst möglich machen. Damit sie diese Wirkung entfalten und als Garant für Stabilität stehen kann, muss sie an die spezifischen, nationalen Bedingungen angepasst sein und auf die zentralen, historischen Probleme des Landes Rücksicht nehmen: „De hoy más los trabajos constitucionales deben tomar por punto de partida la nueva situación de la América del Sur.“ (Alberdi 1852: 86). Im Falle Argentiniens sind dies aus Alberdis (1852) Sicht die schmale Bevölkerungsbasis sowie das schlecht vorbereitete Volk für das System der politischen Repräsentation. Diese Bedingungen müssen auch bei der Gestaltung der Freiheitsrechte (E3 und E4) Berücksichtigung finden. Sollen auch die üblichen individuellen Abwehrrechte gegen den Staat im Bereich der Freiheit vom Staat gelten und die Provinzverfassung von Buenos Aires als Modell dienen, so streicht Alberdi (1852) insbesondere die Bedeutung von Religions- und Gewissensfreiheit sowie wirtschaftliche Freiheiten (A 3.3), etwa Handelsfreiheit, hervor. Im Bereich der Freiheit im Staat sieht er die rasche, doch unerzwungene Vergabe der Staatsbürgerschaft an Einwanderer vor, und selbst ohne Erwerb der Staatsbürgerschaft sollen Einwanderer Staatsbürgern rechtlich weitgehend gleichgestellt werden47. Alberdi (1852) stellt sie den anderen Freiheiten als Bedingung für deren praktische Umsetzung voran, weil sie ihm einerseits als einwanderungsfördernde Freiheitsrechte gelten – und ohne europäische Einwanderung lässt sich das Bevölkerungsproblem aus der Sicht Alberdis (1852) kaum lösen – und weil andererseits Wirtschaft und indus47 Sie sind dann aber vom Recht auf politische Partizipation in Form des Wahlrechts ausgeschlossen.
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tria aus der Sicht des Autors zu Wohlstand und Reichtum, Ordnung und in weiterer Folge zu Freiheit führen. Nun ist das größte Hindernis für die Konstruktion der Nation laut Alberdi (1852) eben die niedrige Bevölkerungszahl und der geringe Bildungsgrad der Bevölkerung, wobei erstere die Tendenz der lokalen Autonomiebestrebungen fördert und so einer nationalen Regierung entgegensteht und zweiterer einen Grund für das ungenügende Funktionieren des System der Repräsentation darstellt. Eine einwanderungsfreundliche Verfassung, in der die oben genannten bildungspolitischen, verkehrspolitischen und wirtschaftspolitischen Maßnahmen festgeschrieben sind, dient aus dieser Sicht der Absicherung von Freiheit. Denn die erwähnten einwanderungsfördernden Freiheiten in der Verfassung sowie die Schaffung einer nationalen Regierung mithilfe der Verfassung sind Bedingungen dafür, dass Einwanderer ins Land kommen sowie wirtschaftlicher Fortschritt entstehen kann. Eine geeinte Nation ist im Gegensatz zu einzelnen souveränen Provinzen zugleich Voraussetzung für den Erhalt von Krediten für Investitionen im Bildungs- und Transportwesen, Zollabbau und der Umsetzbarkeit der Verkehrsprojekte. Die Nation ist daher Bedingung für Freiheit und wirtschaftlichen Fortschritt. Da europäische Einwanderer zum einen den Bevölkerungsmangel ausgleichen und zum anderen der praktischen Bildung (‚Zivilisierung‘) der argentinischen Einwohner dienen sowohl, was wirtschaftliche Fähigkeiten als auch politische Bildung und Befähigung zu politischer Freiheit betrifft, und zwar rascher als dies das Bildungssystem zu tun vermag, führt die Verabschiedung einer einwanderungsfreundlichen und die Staatsnation begründenden Verfassung langfristig zur Sicherung sämtlicher Freiheiten und deren praktischer Geltung, zu Zivilisation und Fortschritt. „[…] de inmigración europea y de estrechamiento de este continente con el antiguo, que había sido y debía ser el manantial de nuestra civilización y progreso.“ (Alberdi 1852: 84). „Firmad tratados con el extranjero en que deis garantías de que sus derechos naturales de propiedad, de libertad civil, de seguridad, adquisición y tránsito, les serán respetados. Esos tratados serán la más bella parte de la constitución; la parte exterior que es la llave del progreso de estos países, llamados a recibir su acrecentamiento de fuera.“ (Alberdi 1852: 101)
Paradoxerweise kann es in dieser Form der Argumentation und Verknüpfung von Freiheit und Nation weder Freiheit noch Nation ohne europäische Einwanderer geben. Gemäß dieser für die Staatsnation sprechenden Argumente könnte die Verfassung als identitätsstiftend betrachtet werden. In den Bases (1852) wird jedoch eine andere Form der kollektiven Identität in den Vordergrund gerückt. Nicht (nur) das Bekenntnis zu den politischen Werten der Verfassung schaffe ein ‚Wir-Gefühl‘. Das im Text präsente ‚Wir‘ ist kreolisch, schreibt sich in die Geschichte des europäischen Fortschritts ein und versteht sich in Abgrenzung zur indigenen, als barbarisch gezeichneten Bevölkerung mithilfe der Faktoren Sprache, Religion, Ethnizität (Hautfarbe, Physiognomie), soziale Stellung, ‚Zivilisations-‘ und Bildungsgrad. Die sich über ganz ‚Südamerika‘ erstreckende kreolische Identität schließt eine nationale Identität gemäß der Staatsnation nicht per se aus. Aus den Ausführungen zu ‚Freiheit‘ geht jedoch hervor, dass die künftige Nation eine fortschrittliche, zivilisierte (d.h. wirtschaftlich florierende und dadurch freiheitssichernde) sein soll. Dieses Desiderat impliziert bestimmte Vorstellungen zu den ‚geeigneten‘ Nationsangehörigen. Denn von
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Indigenen, gauchos und den ungebildeten Massen gehen laut Alberdi (1852) weder wirtschaftlicher noch zivilisatorischer Fortschritt aus, ja das Funktionieren der politischen Institutionen, gesicherte Freiheit und eine konsolidierte Nation scheitern laut Alberdi (1852) gerade am Fehlen eines zivilisierten Staatsvolkes. Aufgrund dieser kulturell-ethnischen Komponente kann hier nicht von einer (reinen) Staatsnation gesprochen werden. Auch die Überwindung der mannigfachen internen Spaltung – selbst innerhalb der kreolischen Bevölkerung – mithilfe der Bezugnahme auf historische Ereignisse wie die Mairevolution und die Ableitung der geeigneten Regierungsform, der politischen Organisation der Republik, des Grads an Föderalismus sowie des Erfordernisses der nationalen Einigung an sich (wie sie in den himnos populares besungen wurde) aus gemeinsamen Erinnerungen sind eher Elemente der Kulturnation. Das zukünftige Argentinien ist laut Alberdi (1852) eine föderale Republik mit einer starken nationalen Exekutive, die mit der Freiheit der Provinzen vereinbar ist, Verfassungsstaat, Einwanderungsland, kulturell christlich-europäisch geprägt, auf wirtschaftlichen Fortschritt und Bildung bedacht und eine geeinte Nation auf Basis der Fusion von unitarischen und föderalen Prinzipien, deren wichtigste historische Ereignisse die Mairevolution sowie die Schlacht von Caseros sind. Mit seiner ‚Freiheit und Nation‘ im Sinne der Förderung von Immigration verknüpfenden Verfassungsidee könne Argentinien vielleicht zum Modell für weitere ‚südamerikanische‘ Staaten werden, die ähnliche Bedingungen aufweisen: „Ojalá toque a la República Argentina, iniciadora de cambios fundamentales en este continente, la fortuna de abrir la era nueva por el ejemplo de su constitución próxima.“ (Alberdi 1852: 86). Ergänzende Auswertung der Kategorien in den Bases in der Ausgabe von 1858 gemäß Analyseschema 1 In der Ausgabe von 1858 präzisiert Alberdi, dass die oben erläuterten wirtschaftspolitischen Vorschläge weiterhin dringend zu verfolgen seien, der Staat über diese Weichenstellung hinaus jedoch keine weitere Einmischung in die Sphäre der Wirtschaft vornehmen dürfe. Da Alberdi (1858) neben der langfristigen Gewährleistung von Freiheit auch das Gelingen einer geeinten Nation von der Wirtschaftspolitik abhängig macht, kommt er zu dem Schluss, dass Nationen kein Werk von Regierungen, sondern auch der freien Entfaltung der wirtschaftlichen Kräfte seien: „Las naciones, por lo general, no son obra de los gobiernos, y lo mejor que en su obsequio pueden hacer en materia de administración, es dejar que sus facultades se desenvuelvan por su propia vitalidad.“ (Alberdi 1858: 178). Die Argumentation aus der Ausgabe von 1852, die das Staatsvolk und seine Freiheitsfähigkeit zu ihrem Ausgangspunkt macht, spitzt Alberdi in der Ausgabe von 1858 zu. Während er in der Erstausgabe zwar Bildungs- und Erziehungsmaßnahmen48 für das argentinische Staatsvolk zwar nicht als ausreichend, doch langfristig
48 In der Ausgabe von 1858 zeigt sich Alberdi (1858) deutlich skeptischer bezüglich Bildungsmaßnahmen zur Vorbereitung des Staatsvolks für die repräsentative Republik als in der Erstausgabe der Bases (1852): „Es un error infelicísimo el creer que la instrucción primaria o universitaria sean lo que pueda dar a nuestro pueblo la aptitud del progreso mate-
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als sinnvoll erachtet, hält er den Erfolg derselben im Hinblick auf die Ziele der Freiheit, Nation und der Zivilisation für nahezu ausgeschlossen, für paradox und utopisch: „Paradojal y utopista es el propósito de realizar las concepciones audaces de Siéyes49 y las doctrinas puritanas de Massachussetts, con nuestros peones y gauchos que apenas aventajan a los indígenas.“ (Alberdi 1858: 160). Deutlich ist nun auch der Bezug zu Ethnizität. Die ‚hispanoamerikanische Rasse‘50 erscheint ihm aufgrund ihrer kolonialen Vergangenheit aktuell als ungeeignet für die repräsentative Republik: „Es utopía, es sueño y paralogismo puro el pensar que nuestra raza hispano americana [sic], tal como salió formada de manos de su tenebroso pasado colonial, pueda realizar hoy la república representativa […]“ (Alberdi 1858: 161). Nicht die Gesetze, sondern die Menschen, die Basis für das Staats- und Nationalvolk, müssen ‚geändert‘ werden: „Necesitamos cambiar nuestras gentes incapaces de libertad por otras gentes hábiles para ella […]“ (Alberdi 1858: 161). Alberdi (1858) spricht nicht länger von der Zivilisierung der argentinischen Bevölkerung, sondern von ihrem Austausch gegen freiheitsfähigere Personen. „La libertad es una máquina que, como el vapor, requiere para su manejo maquinistas ingleses de origen. Sin la cooperación de esa raza, es imposible aclimatar la libertad y el progreso material en ninguna parte.“ (Alberdi 1858: 166). Erscheint ihm auch die großangelegte Einwanderung v.a. englischer Immigranten als Bedingung für Freiheit in Argentinien, so sind ihm sowohl die Bewahrung der ‚hispanoamerikanischen Rasse‘ als auch der Stellung der Kreolen in der sozialen Hierarchie und der Herrschaftsverhältnisse ein Anliegen, wie aus der folgenden Textpassage hervorgeht: „Necesitamos cambiar nuestras gentes incapaces de libertad por otras gentes hábiles para ella, sin abdicar el tipo de nuestra raza original, y mucho menos el señorío de país; suplantar nuestra actual familia argentina por otra igualmente argentina, pero más capaz de libertad, de riqueza y progreso.“ (Alberdi 1858: 161)
Wie gedenkt Alberdi (1858) sein Konzept der Kulturnation mit Vorherrschaft der Kreolen mit seinen Ideen zur Realisierung von Freiheit zu versöhnen? Um sowohl Sprache als auch den „tipo nacional primitivo“, den ursprünglichen Nationaltypus, zu erhalten, sieht Alberdi (1858) Mischehen mit argentinischen Frauen vor. „Removed los impedimentos inmorales que hacen estéril el poder del bello sexo americano y tendréis realizado el cambio de nuestra raza, sin la pérdida del idioma ni del tipo nacional primitivo.“ (Alberdi 1858: 161). Durch die entsprechende Fortpflanzungspolitik sei die Veränderung ‚unserer Rasse‘ zu freiheits- und fortschrittsfähigen Menschen mit kultureller argentinischer Prägung möglich. Alberdi (1858) geht damit einen deutlichen Schritt weiter als in der Erstauflage der Bases (1852) und stellt das rial y de las prácticas de libertad.“ (Alberdi 1858: 166). Denn Bildung alleine bringe noch keinen Unternehmergeist hervor. 49 Hierin könnte eine Anspielung an Abbé Sieyès zu finden sein, der am Vorabend der Französischen Revolution in seiner Schrift Qu’est-ce que le tiers état mit dem französischen Adel des Ancien Régime abgerechnet hatte (Schulze W. 2010: 148). 50 In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff ‚Rasse‘ nur unter Anführungszeichen und nur dann, wenn er in den Texten vorkommt, verwendet. An allen anderen Stellen wird der Begriff ‚Ethnizität‘ gebraucht.
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Verhältnis zwischen Freiheit und Nation nun auf eine ethnische, genetisch bedingte, Grundlage. Wenn ihm auch die Verfassung als Mittel zur Erreichung seiner Ziele geeignet erscheint und die Sicherung von Freiheitsrechten im Zentrum seiner Bases (1858) steht, so können Freiheit und Nation in Alberdis (1858) geändertem Verfassungsentwurf ausschließlich über eine Veränderung der ‚Rasse‘ erreicht werden, was nun eindeutig für die Ausprägung der Kulturnation spricht und in Widerspruch mit der Freiheit vom Staat geraten könnte (was Alberdi (1858) aber nicht anspricht): „Este cambio gradual y profundo, esta alteración de raza debe ser obra de nuestras constituciones y verdadera regeneración y progreso.“ (Alberdi 1858: 161). Zugleich schwächt Alberdi (1858) in der Ausgabe von 1858 die Wirkmächtigkeit der Verfassung, wenn auch nicht für Argentinien, sondern für Uruguay, zugunsten demographischer und geographischer Kriterien ab: „Sin embargo, es menester reconocer que el buen espíritu, el espíritu de progreso, más que en su Constitución, reside para Montevideo en el modo de ser de sus cosas y de su población, en la disposición geográfica de su suelo, de sus puertos, de sus costas y ríos. Conviene tener esto presente, para no dejarse alucinar por el ejemplo de su Constitución escrita, que tiene menos acción que lo que parece n [sic] su progreso extraordinario.“ (Alberdi 1858: 47)
Dass das Gedankengebäude Alberdis (1858) vom Ausgangspunkt und Ziel des Wirtschaftswachstums und der Bevölkerungspolitik (im Sinne einer Änderung des Staatsvolkes, des Bevölkerungszuwachses und einer Änderung der ‚Rasse‘) gleichermaßen geprägt ist und alle weiteren Ziele wie Freiheit und Nation von diesen abgeleitet sind, nicht aber auf Freiheit aufbauen, wird in der Ausgabe von 1858 besonders deutlich: „La población es el fin y es el medio al mismo tiempo. [Kursivierung im Original]“ (Alberdi 1858: 164); „Es pues, especialmente económico el fin de la política constitucional y del gobierno en América. Así, en América gobernar es poblar.“ (Alberdi 1858: 164); „Sin población y sin mejor población que la que tenemos para la práctica de la república representativa, todos los propósitos quedarán ilusorios y sin resultados.“ (Alberdi 1858: 165). Auch das Ziel einer Verfassung ist wirtschaftlich bestimmt: „No basta que la Constitución contenga todas las libertades y garantías conocidas.“ (Alberdi 1858: 169); „Su misión, según esto, es esencialmente económica.“ (Alberdi 1858: 162). Dass alle weiteren wünschenswerten Ziele für die Republik Argentinien vorerst nachrangig sind und sich dem wirtschaftlichen Fortschritt unterwerfen müssen, formuliert Alberdi (1858) in dieser Ausgabe der Bases explizit: „Todo lo que se separe de este propósito es intempestivo, inconducente, por ahora, o cuando menos secundario y subalterno.“ (Alberdi 1858: 162) Was bedeutet diese Verschiebung auf dem Kontinuum zwischen Staats- und Kulturnation für die Gruppe der Indigenen (B2)? Indigene wie Spanier sind in dieser Verknüpfung von Freiheitsfähigkeit und Ethnizität weit vom Ziel des Fortschritts entfernt. „Con tres millones de indígenas, cristianos y católicos, no realizaríais la república ciertamente. No la realizaríais tampoco con cuatro millones de españoles peninsulares, porque el español puro es incapaz de realizarlas allá o acá. Si hemos de componer nuestra población para nuestro sistema de gobierno, si ha de sernos más posible hacer la población para el sistema proclamado que el sistema para la población anglosajona. Ella está identificada con el vapor, el comercio y
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Ein Ausschluss von Freiheitsrechten wird in Alberdis (1858) späterer Ausgabe der Bases (1858) nicht explizit formuliert. Im Proyecto Constitucional findet sich keine begriffliche oder konzeptuelle Trennung zwischen ciudadanos und indígenas, sondern nur zwischen ciudadanos und extranjeros, wobei letztere den ciudadanos in ihren bürgerlichen Rechten gleichgestellt werden sollen. In seinem Proyecto Constitucional sieht er Eigentum als Voraussetzung zur Wahl zum Präsidentenamt, Senat und Abgeordnetenhaus vor, wie den folgenden Artikeln zu entnehmen ist. „Art. 57. — Son requisitos para ser elegido senador: tener la edad de treinta y cinco, haber sido cuatro años ciudadano de la Confederación, disfrutar de una renta anual de 2.000 pesos fuertes51, o de una entrada equivalente.“ (Alberdi 1858: 204) „Art. 62. — Para ser electo diputado se requiere haber cumplido la edad de veinticinco años, tener dos años de ciudadanía en ejercicio y el goce de una renta o entrada anual de mil pesos fuertes.“ (Alberdi 1858: 205) „Art. 78. — Para ser elegido Presidente, se requiere haber nacido en el territorio argentino o ser hijo de ciudadano nativo, habiendo nacido en país extranjero, tener treinta años de edad y las demás calidades requeridas para ser electo diputado.“ (Alberdi 1858: 207, 208)
Aus den zitierten Artikeln ist ersichtlich, dass Ethnizität kein explizit formuliertes Kriterium ist. In der Verfassung von 1853 wurden Eigentumsvoraussetzungen für das Präsidentenamt (die um religiöse Kriterien ergänzt wurden) und Senat definiert, für die Wahl ins Abgeordnetenhaus hingegen nicht. Das Recht auf Eigentum und Boden von Indigenen, die außerhalb des offiziellen Staatsgebiets leben, wird, wie schon in der Erstauflage der Bases (1852), nicht anerkannt. Die folgende Textpassage aus Artikel 21 im Proyecto Constitucional von Alberdi (1858), aus der dies hervorgeht, ist nicht in die Verfassung von 1853 aufgenommen worden: „Obtienen naturalización, residiendo dos años continuos en el país [los extranjeros]; la obtienen sin este requisito los colonos, los que se establecen en lugares habitados por indígenas o en tierras despobladas; los que emprenden y realizan grandes trabajos de utilidad pública; los que introducen grandes fortunas en el país; los que se recomienden por invenciones o aplicaciones de grande utilidad general para la República.“ (Alberdi 1858: 199, 200; Art. 21)
Abschließend sei noch ein Aspekt erwähnt, der in der Erstausgabe fehlen musste: Die Trennung zwischen Buenos Aires mit eigener Verfassung ab 1854 und den restlichen Provinzen, in denen die von Alberdi geprägte Verfassung von 1853 in Kraft trat. Welche Meinung vertrat Alberdi (1858) in diesem Fall im Hinblick auf das Ziel der nationalen Einigung, dem gemeinsamen Anliegen der generación del 37? Anstatt ein nationales Verfassungsprojekt zu unterstützen, sei Buenos Aires zum Hindernis für 51 Welchem Betrag das heute entsprechen würde, konnte nicht ermittelt werden.
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die geeinte Nation geworden. Es habe mit der Verfassung von 1854 der Provinz Buenos Aires gegeben, was für die Nation bestimmt war und so die Nation durch die Provinz ersetzt. Dieses Verhalten zeuge von einem Fehlen von Patriotismus. (Alberdi 1858: 183, 184, 187). „Luego el obstáculo para la unión, según la mente con que resiste Buenos Aires, es la Nación misma, y la Nación sólo puede ser obstáculo para una política sin patriotismo. [Kursivierung im Original]“ (Alberdi 1858: 187). Buenos Aires verleugne damit das nationale Erbe der Mairevolution und benutze dieses als Vorwand, um als Ersatz der Kolonialmacht Spanien aufzutreten. „Si Buenos Aires no quiere respetar al gobierno que se ha dado la República independiente de los reyes de España, prueba en tal caso que no quiere sinceramente el objeto de la revolución que encabezó en 1810 y de la emancipación proclamada en 1816, y que su patrimonio decantado, es decir, su abnegación al pueblo argentino, compuesto hoy día de catorce provincias, es un patriotismo hipócrita y falaz, que pretextó para suplantarse en el poder metropolitano de España.“ (Alberdi 1858: 188)
Die Entscheidung Buenos Aires’, sich eine eigene Verfassung zu geben, wertet Alberdi (1858) demnach nicht nur als Ursache für das Scheitern der Einigung der Nation, sondern als Verrat an den nationalen Idealen und des argentinischen, unabhängigen Volkes. Auswertung der Kategorien in La Omnipotencia del Estado es la negación de la libertad individual gemäß Analyseschema 1 Im zweiten, mit 1880 wesentlich später entstandenen Text von Alberdi stellt sich die Gewichtung der einzelnen Freiheiten aus Kategorie A3 und ihre Bedeutung für die geeinte Nation etwas anders dar als in den Bases. Wirtschaftliche Freiheit – in den Bases die Grundlage für Freiheit und Nation schlechthin – spielt darin kaum eine Rolle. Es sind 28 Jahre seit der Erscheinung der Bases vergangen, die Verfassung von 1853 ist in Kraft getreten und gilt seit 1860 in ihrer gewandelten Form auf dem gesamten argentinischen Territorium, Buenos Aires inklusive. Freiheit vom Staat oder individuelle Freiheit, bleibt der Ausgangspunkt für alle weiteren Überlegungen: „A la libertad del individuo, que es la libertad por excelencia, debieron los pueblos del Norte la opulencia que los distingue.“ (Alberdi 1880: 313) – die individuelle Freiheit gilt ihm als die Freiheit schlechthin. Alberdi (1880) liefert eine Aufschlüsselung all jener Freiheiten, die unter individuelle Freiheit fallen: „Es una libertad multíplice o multiforme, que se descompone y ejerce bajo estas diversas formas: – Libertad de querer, optar y elegir. – Libertad de pensar, de hablar, escribir: opinar y publicar. – Libertad de obrar y proceder. – Libertad de trabajar, de adquirir y disponer de lo suyo. – Libertad de estar o de irse, de salir y entrar en su país, de locomoción y de circulación. – Libertad de conciencia y de culto. – Libertad de emigrar y de no moverse de su país. – Libertad de testar, de contratar, de enajenar, de producir y adquirir.“ (Alberdi 1880: 333)
Zu den aus den Bases bekannten wirtschaftlichen Freiheiten und der Religions- und Gewissensfreiheit gesellen sich nun gleichwertig Willens- und Entscheidungsfreiheit,
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Meinungs- und Pressefreiheit sowie das Recht auf Niederlassungsfreiheit52. Damit diese ihre Geltung entfalten können, muss die politische Ordnung vom Individuum ihren Ausgang nehmen, nicht vom Kollektiv53. Dies bedeutet, dass Staat und Gesellschaft voneinander getrennt sein müssen und nicht die gesamte öffentliche Macht der Patria oder deren Regierung zuteilwird: „Pero dejar en manos del gobierno de la patria todo el poder público adjudicado a la patria misma, es dejar a todos los ciudadanos que componen el pueblo de la patria sin el poder individual en que consiste la libertad individual, que es toda y la real libertad de los países que se gobiernan, que se educan, que se enriquecen y engrandecen a sí mismos, por la mano de sus particulares, no de sus gobiernos.“ (Alberdi 1880: 317)
Freiheit vom Staat ist nur dann möglich, wenn ein Land sich selbst regiert, bildet und wirtschaftlich voranbringt und zwar durch den Beitrag der Einzelnen, nicht ausschließlich der Regierung, so Alberdi (1880). Patria wie sie im antiken Griechenland und Rom verstanden wurde, so der Autor, steht jeder individuellen Freiheit diametral entgegen, denn sie war mit allumfassender Macht ausgestattet, ohne Halt vor dem Individuum zu machen und dessen private Grenzen zu respektieren. Das Individuum ging voll und ganz in der Patria auf, „ [...] le debía su alma, su persona, su voluntad, su fortuna, su vida, su familia, su honor.“ (Alberdi 1880: 310). Die Patria fand im Monarchen oder anderen Souveränen ihre Personifizierung, nicht aber im Volke. Eine solch verstandene Patria sei die „negación más absoluta de la libertad“ (Alberdi 1880: 311). In Großbritannien und den USA sei eine Trennung von Patria und Individuum erfolgt. Die Freiheit der Patria (Kategorie D1) habe dort ihre Grenze an der Freiheit des Individuums (Kategorie D3) gefunden: „[...] si el Estado fue libre del extranjero, los individuos no lo fueron menos respecto del Estado.“ (Alberdi 1880: 312). Die Menschenrechte seien auf diese Weise zu den Rechten der Patria gemacht worden. Öffentliche Anliegen würden dort zum Gegenstand öffentlicher Diskussion, in der die einzelnen Individuen zusammentreten und ihre Interessen aushandeln. (Alberdi 1880: 312, 314) In ‚Südamerika‘ sei jedoch eine Allmacht des Staates zu beobachten. Ursache dessen sei der Einfluss Spaniens und des Kolonialregimes. „Pero no debemos olvidar que no fue griego ni romano todo el origen de la omnipotencia del Estado y de su gobierno entre nosotros suramericanos. En todo caso, no sería ese sino el origen mediato, pues el inmediato origen de la omnipotencia en que se ahogan nuestras libertades individuales, fue el organismo que España dio a sus estados coloniales en el Nuevo Mundo, cuyo organismo no fue diferente en ese punto, del que España se dio a sí misma en el Viejo Mundo.“ (Alberdi 1880: 314)
Dass es um individuelle Freiheit in ‚Südamerika‘ nach wie vor nicht gut bestellt sei, liege also am kolonialen Erbe. So sei es erklärbar, dass trotz moderner Verfassungen 52 Dieses war in der Ausgabe der Bases von 1858 ebenfalls schon enthalten. 53 „En realidad, el afán del propio engrandecimiento, es el afán virtuoso de la propia grandeza del individuo, como factor fundamental que es del orden social, de la familia, de la propiedad, del hogar, del poder y bienestar de cada hombre.“ (Alberdi 1880: 313).
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selbst von Liberalen keine konsequente Trennung zwischen Staat und Gesellschaft gefordert wird: „A pesar de nuestras constituciones modernas, copiadas de las que gobiernan a los países libres de origen sajón, a ningún liberal le ocurriría entre nosotros, dudar que el derecho del individuo debe inclinarse y ceder ante el derecho del Estado, en ciertos casos.“ (Alberdi 1880: 315)
In dieser Ansicht drückt sich wie schon in den Bases Alberdis Vorstellung der Nation aus, die nachhaltig von ihrer negativen Vergangenheit bestimmt ist und sich in Abgrenzung zum Mutterland versteht (Kategorie C1). Patriotismus alleine sei keine Lösung für das Problem des Despotismus in ‚Südamerika‘, wenn nicht das Individuum an erster Stelle steht54. Denn nicht einzelne Tyrannen tragen die Verantwortung für die Unterdrückung individueller Freiheit, sondern das System bringe Despoten hervor. Ursache allen Übels sei also die „[...] construcción mecánica del Estado, por la cual todo el poder de sus individuos refundido y condensado, cede en provecho de su gobierno y queda en manos de su institución.“ (Alberdi 1880: 317). Im Namen des Patriotismus werde auf diese Weise individuelle Freiheit zerstört, dabei wäre individuelle die eigentliche patriotische Freiheit, so Alberdi (1880: 318). Die Nation geht bei Alberdi (1880) wie schon in der Erstauflage der Bases (1852) von der individuellen Freiheit (Kategorie D3) aus. Wenn auch Freiheit im Staat (Kategorie D4) ein wichtiger Teil von Freiheit sei, so bliebe das Individuum in seiner Unmündigkeit gefangen, existierte keine Trennung von Staat und Gesellschaft55. Eine Nation, die nicht von der Freiheit vom Staat ausgeht, ein Patriotismus, der die Freiheit des Individuums negiert und die Liebe zur Patria über alles stellt, trage stets die Tendenz des Despotismus in sich und sei eine Gefahr für ein freies Land. „Es muy simple el camino por donde el extremo amor a la patria, puede alejar de la libertad del hombre y conducir al despotismo patrio del Estado. El que ama a la patria sobre todas las cosas, no está lejos de darle todos los poderes y hacerla omnipotente. Pero, la omnipotencia de la patria o del Estado, es la exclusión y negación de la libertad individual, es decir de la libertad del hombre, que no es en sí misma sino un poder moderador del poder del Estado.“ (Alberdi 1880: 326, 327)
Es sei daher geboten, zwischen der Freiheit der Nation und der Freiheit vom Staat/der Nation zu differenzieren, da es sich um zwei unterschiedliche Arten von Freiheit handle, die miteinander in Widerspruch geraten können: „La patria es libre, en cuanto no depende del extranjero; pero el individuo carece de libertad en cuanto depende del Estado de un modo omnímodo y absoluto. La patria es libre en cuanto absorbe y monopoliza las libertades de todos sus individuos, pero sus individuos no lo son, porque el gobierno les tiene todas sus libertades.“ (Alberdi 1880: 312)
54 „Sus destinos futuros deberán su salvación al individualismo; o no los verán jamás salvados si esperan que alguien los salve por patriotismo.“ (Alberdi 1880: 313).
55 „Tener derechos políticos, votar, nombrar o elegir magistrados, poder ser uno de ellos, es todo lo que se llamaba libertad; pero el hombre no continuaba menos avasallado al Estado, que como antes lo estuvo.“ (Alberdi 1880: 320).
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Wird die Freiheit vom Staat/der Nation nicht von der Patria respektiert, so droht die Aufhebung der Freiheit des Individuums. Alberdi (1880) lässt also eine klare Präferenz für das Individuum vor dem Kollektiv (der Nation) erkennen. Unter Volk (Kategorie C3) versteht er dementsprechend nicht nur ein Kollektiv, sondern eine aus mit gleichen Rechten ausgestatteten, einzelnen Individuen zusammengesetzte Gemeinschaft aus auf argentinischem Territorium geborenen oder immigrierten Individuen56. Ihr obliege es, die Patria auf dem Weg zu Fortschritt und Zivilisation voranzutreiben. Werde die individuelle Freiheit unterdrückt, so werde zugleich sozialer Fortschritt unterbunden, da dieser auf der Privatinitiative der Individuen beruhe. (Alberdi 1880: 327-329) Dass Alberdi (1880) die Freiheit der Nation sowie Freiheit im Staat/der Nation für wichtig hält, der Fortschritt der Nation und der Bestand sämtlicher Freiheiten in ihr jedoch von der Freiheit vom Staat/der Nation ausgehen, bringt er in der folgenden Textstelle zum Ausdruck: „¿De dónde deriva su importancia la libertad individual? De su acción en el progreso de las naciones.“ (Alberdi 1880: 333). Voraussetzungen dafür sind die Trennung von Staat und Gesellschaft sowie der Ausgang öffentlicher Macht vom aus Individuen zusammengesetzten Staatsvolk, das als Summe von Individuen, nicht als einheitliches Kollektiv verstanden wird. Die Nation ist demnach als Staatsnation (Kategorie C2) angelegt.
B ARTOLOMÉ M ITRE Einordnung und Struktur der Werke Bartolomé Mitres Profesión de fe y otros escritos57, die 1852 in Los Debates veröffentlicht wurden und hier in der Ausgabe von Ricardo Levene 1956 zitiert werden, umfassen eine Sammlung von 20 Zeitungsartikeln mit insgesamt 175 Seiten, die kurz nach der Schlacht von Caseros und dem Sturz Rosas’ (3. Februar 1852), etwa zeitgleich mit den Bases (1852) von Alberdi, aber noch vor der politischen Karriere Mitres anzusiedeln sind. Sie erstrecken sich über den Zeitraum vom 1. April bis zum 19. Juni – zum Vergleich: Alberdi veröffentlichte seine Bases zum ersten Mal am 1. Mai desselben Jahres. Ihr Themenspektrum reicht vom Wahlrecht, Reflexionen zum Gebiet Patagonien, der öffentlichen Bildung, des Gedenkens des 25. Mai bis hin zur Frage der Stellung von Buenos Aires’ in der Confederación, um nur einige zu nennen. Der zweite, 50 Seiten umfassende Text, der aufgrund seines Detailreichtums bei der Erörterung der Verfassung von 1860 nur drei Belege für die Themenstellung dieser Arbeit geliefert hat, trägt den Titel La Constitución debe examinarse y reformarse und ist ursprünglich in mehreren Artikeln in El Nacional (vom 16., 21., 28., 30., und 31. Jänner und 4., 6., 11., und 15. Februar 1860) erschienen. Er liegt hier in der Ausgabe von Néstor Tomás Auza (1982), die in einem Band mit dem Titel Polémica so-
56 Vgl. dazu das skizzierte Nationsverständnis in der Erstauflage der Bases (1852) und die Verschiebung desselben in Richtung einer auf ethnischen Kriterien beruhenden Kulturnation in der Ausgabe von 1858. 57 Der Textsammlung wurden 62 Textbelege gemäß Analyseschema 1 übernommen.
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bre la constitución die Kommentare von Juan Francisco Segui und Bartolomé Mitre einander gegenüberstellt, vor. Er ist für diese Arbeit von Interesse, weil er auch eine Kritik des Verfassungsentwurfes von Alberdi enthält. Auswertung der Kategorien in den Profesión de fe y otros escritos gemäß Analyseschema 1 Freiheit Bartolomé Mitre (1852) hat in Profesión de fe y otros escritos, wie weiter unten noch deutlich wird, den Verfassungsstaat (A3, A4) zur Sicherung von Freiheit vor Augen. Die Herrschaft des Rechts – und damit rechtlich gesicherte Freiheit – bilden den Ausgangspunkt seines politischen Programms: „¡LIBERTAD Y JUSTICIA! He ahí las dos palabras sacramentales de nuestro credo político. [Hervorhebung im Original]“ (Mitre 1852: 23); „La libertad no es otra cosa que el reino de la justicia sobre la tierra.“ (Mitre 1852: 23). Einige der Freiheiten aus dem Bereich der Freiheit vom Staat (A3) hebt Mitre (1852) gesondert hervor. „Libertad de comercio; Impuesto sobre el capital; Establecimiento de una aduana federal; Igualación de las banderas58; Libre navegación de los ríos; Depósito franco en los puertos mayores; Abolición del despacho forzoso de las mercaderías [...]“ (Mitre 1852: 29)
Es handelt sich um die wenig später59 in Alberdis Bases (1852) proklamierten wirtschaftlichen Freiheiten, die auf den Fortschritt der Nation abzielen und aus diesem Grund nicht nur Handelsfreiheit und freie Schifffahrt, sondern die Abschaffung all jener Sonderregelungen beinhalten, die einzelne Provinzen getroffen haben, darunter die Abschaffung von Binnenzöllen und Etablierung eines nationalen Zolls, also Bereiche die die objektive positive Freiheit vom Staat (A3.3) berühren. Die wirtschaftliche Entwicklung Argentiniens zu fördern, ist nach Mitre (1852) aus folgenden Gründen wichtig: Wirtschaft und Gesellschaft oder Politik ließen sich nicht trennen; Armut begünstige die Tyrannei, während Wohlstand Freiheit und Aufklärung fördert; die Zukunft Argentiniens hänge daher von der Wirtschaft ab; die Spaltung Argentiniens sei auf wirtschaftliche Missverständnisse zurückzuführen. „Como punto natural de partida adoptaremos el desarrollo de los intereses materiales, y nos consagraremos a ellos con calor y tenacidad: 1° Porque no hay cuestión económica que no envuelva otra cuestión política o social. 2° Porque la pobreza es el primer auxiliar de la tiranía y la ignorancia, a la par que la riqueza es la fuente primera de la libertad y la ilustración. 3° Porque todo el porvenir de la Confederación Argentina depende hoy del arreglo y desarrollo de sus intereses materiales. 4° Porque las revoluciones políticas que nos han ensangrentado por espacio de veinte años no han sido en el fondo sino cuestiones económicas mal entendidas o violentadas, y porque conviene llevar al terreno pacífico de los intereses materiales los odios profundos y la división de opiniones que de otro modo apelarían a las armas para hacerse justicia por su mano.“ (Mitre 1852: 24, 25) 58 Gemeint ist hier die Vereinigung unter einer – nationalen – Fahne. 59 Die betreffende Textstelle stammt vom 1. April 1852, während Alberdi seine Bases erstmals am 1. Mai veröffentlichte.
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Zwei Gründe führt Mitre (1852) für die Nationalisierung wirtschaftlicher Bestimmungen an: diese Maßnahmen entsprächen dem Mehrheitswillen (Mitre 1852: 26) und die Förderung des freien Handels dient, genau wie bei Alberdi (1852), dem Ziel der Einwanderungsförderung „como medio de regenerar nuestra sociedad“ (Mitre 1852: 30). „Es necesario crear un vasto sistema de inmigración; crear ocupaciones para esos brazos, dar valor a la tierra y a la producción y, sobre todo, dar seguridades y garantías de orden legal, de paz estable, de libertad, que éste es el verdadero sistema para traer a nuestras playas una inmigración espontánea.“ (Mitre 1852: 177)
Auch bei Mitre (1852) ist mit der regeneración der argentinischen Gesellschaft gemeint, diese zu Freiheit zu befähigen. Freiheit erscheint im obigen Zitat als Maßnahme in Abhängigkeit vom Ziel der Einwanderung. „[...] como el aumento de población es la base de todo adelanto, debe empezarse quitando todos los obstáculos que pueden obstar a su crecimiento. Establecida la libertad de comercio y aumentada a consecuencia de ella la población, todo lo demás vendría por sí.“ (Mitre 1852: 71)
Allerdings wird bei Mitre (1852) kein absoluter Vorrang der Einwanderungsförderung vor Bildungsmaßnahmen und moralische Erziehung eingeräumt, die er ebenso befürwortet60. Den Dreh- und Angelpunkt von Mitres (1852) Freiheitsmodell bildet nicht nur die wirtschaftliche Freiheit. Es ist die Meinungs- und Pressefreiheit, die für ihn den ersten Rang unter allen Freiheiten vom Staat einnimmt und von der sich alle weiteren zu treffenden Maßnahmen ableiten und die dem Bereich der subjektive negative Freiheit vom Staat (A 3.1) angehört. „Ese documento ha sido como el grito del heraldo que abre la liza a los nobles contendientes de la inteligencia, porque él importa el reconocimiento explícito de la primera de nuestras libertades y el juramento solemne de apoyarla con su espada.“ (Mitre 1852: 20, 21)
In seiner Rede (ese documento) vom 17.03.1852 hat Urquiza die Pressefreiheit wiederhergestellt. Sie gilt Mitre (1852) als die primera de nuestras libertades. Warum stellt Mitre (1852) sie an oberste Stelle der Freiheitsrechte? „Los Debates, como se ha anunciado ya, será un periódico de cuerda y templada discusión, que llamará todas las opiniones a batirse en el terreno pacífico de la inteligencia y de la ley, llevando la luz del debate razonado sobre todas las cuestiones vitales que hoy se agiten, y tengan relación con los intereses generales del país. Esto quiere decir que prevemos la disidencia de opiniones. La aceptamos desde ahora. La disidencia de opiniones es de la esencia de los pueblos libres: es una condición de vida y de progreso. Sólo en los gobiernos como el de Rosas hay unanimidad de opiniones. [Kursivierung im Original]“ (Mitre 1852: 21)
60 „Por la difusión de la educación primaria, como medio de moralizar las masas y hacerlas aptas para el ejercicio de la libertad; […]“ (Mitre 1852: 30).
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Weil sie die öffentliche, vernunftbasierte Debatte des kollektiven Interesses gewährleistet und die für die öffentliche Diskussion in einem freien Volk notwendige Meinungsverschiedenheit gewährt. Die wiederum ist eine Bedingung für das Funktionieren des parlamentarischen Systems. „La discusión es inherente al sistema parlamentario, y es no sólo inherente sino esencial, como lo hemos dicho ya. La discusión es lo que constituye verdaderamente al gobierno parlamentario. Discutir es, pues, rendir un homenaje a la razón.“ (Mitre 1852: 22)
Jene Länder, die keine Pressefreiheit garantieren, seien nicht frei, so Mitre (1852: 22). Dementsprechend sieht Mitre (1852) nicht vorrangig wirtschaftspolitische oder demographische Maßnahmen als zentral für Fortschritt an. Die freie Debatte in der Presse und im Parlament gelten ihm als die geeigneten Mittel zur Erziehung des Volkes und seiner Befähigung zu Freiheit: „[…] es el medio más eficaz de domesticar los instintos brutales y traer los espíritus al convencimiento, a la armonía o al respeto al derecho de la mayoría cuando menos.“ (Mitre 1852: 22). Die Liebe zur Freiheit und zum Gerechtigkeitssinn als Leitprinzip der öffentlichen Diskussion stelle sicher, dass Pressefreiheit der Erziehung zu einer vernunftbasierten Diskussionskultur, der Besänftigung der Instinkte und der Vorbereitung der parlamentarischen Arbeit dient. „Así se educará la discusión; así se rozarán las pasiones como las piedras agudas en medio de una corriente; así se preparará la discusión de la tribuna de las asambleas provinciales y del Congreso Nacional, y la discusión popular en los meetings y en los clubes que vendrán después. Para dirigirnos, en medio de las tinieblas del más borrascoso de los debates, tendremos una antorcha y una brújula: El amor a la libertad y el sentimiento de la justicia. [Kursivierung im Original]“ (Mitre 1852: 23)
Die Ausbildung eines Gerechtigkeitssinnes für eine fortschritts- und freiheitsfördernde Moral gehört daher nach Mitre (1852) zu den wichtigsten Maßnahmen für die Herausbildung einer Diskussionskultur, besonders vor dem Kontext der vergangenen Rosasdiktatur. Ohne diese gebe es keinen Fortschritt und keine Freiheit. „Para educar el debate necesitamos educar el sentimiento de la justicia, único bálsamo que puede cicatrizar las llagas del cuerpo social; único correctivo a los malos hábitos que el despotismo ha engendrado en nuestras poblaciones; único medio que se nos presenta para fundar la moral pública, sin la cual no hay progreso ni libertad posibles.“ (Mitre 1852: 23, 24)
Sie ist bei ihm christlich mit der Nächstenliebe begründet: „[...] el sentimiento de la justicia es la caridad cristiana y el amor al prójimo en ejercicio; es lo que lleva al hombre al sacrificio, a la abnegación, a la devoción, virtudes que distinguen al racional de la bestia.“ (Mitre 1852: 24). Zur Gerechtigkeit zähle die Gleichheit vor dem Recht, ungeachtet der politischen Orientierung. Mitre (1852) stellt dies am Falle D. Baldomero Garcías dar, eines Unterstützers von Rosas, der von seinem Petitionsrecht Gebrauch gemacht hatte und dafür von einem Minister bestraft wurde und kein Ge-
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richtsverfahren erhielt. Dies gleiche der monstruosidad, mit der Rosas gegen politische Gegner vorging61. (Mitre 1852: 45) Was die Freiheit im Staat (A4) betrifft, so streicht er die Wichtigkeit des Wahlrechts hervor, ohne dieses zu konkretisieren. „El derecho público electoral de la Confederación Argentina abraza un inmenso círculo de acción, en que están comprendidas todas las garantías protectoras de la libertad del hombre, todas las instituciones que tienen alguna influencia en el progreso y en la mejora social.“ (Mitre 1852: 33)
Im Gegensatz zu Echeverría (1837, 1846) spricht sich Mitre (1852) für das allgemeine Wahlrecht aus: „La libertad para todos es la base de las garantías recíprocas, que podremos llamar la Política del derecho común. [Kursivierung im Original]“ (Mitre 1852: 43); „En una palabra, propenderemos al triunfo definitivo de la democracia que es el Gobierno de todos y para todos. [Kursivierung im Original]“ (Mitre 1852: 29). Ob mit todos nur alle existierenden Parteien oder tatsächlich alle in Argentinien lebenden Personen gemeint sind, ungeachtet ihrer Ethnizität und anderer Identitätskategorien, lässt sich aufgrund des Textes nicht beantworten. Zur Frage, wer in den genannten Freiheitsdimensionen inkludiert ist (Kategorie B), kann eine einwandererfreundliche Haltung festgestellt werden, wenngleich Mitre (1852) bezüglich ihres Rechtsstatus’ im Gegensatz zu Alberdi (1852) keine eindeutige Aussage trifft62. Was das Wahlrecht betrifft, konnten keine Identitätskategorien, die als In- oder Exklusionskritieren dienen könnten, identifiziert werden, da Mitre (1852) auf diese Frage nicht näher eingeht. Sehr klar positioniert er sich hingegen in Bezug auf die indígenas de frontera, also nicht jene Indigene, die ohnehin auf gesichertem argentinischen Territorium mit Gewaltmonopol leben, sondern jene, die in den ‚uneroberten‘ Gebieten leben. Mitre (1852) spricht von einem Krieg gegen die Indigenen, der ein anhaltendes Interesse der Republik darstelle. Der Krieg an sich sei ein Erbe der Diktatur, doch müsse er mit allen Konsequenzen angenommen werden, „ [...] si no queremos ver despoblarse poco a poco nuestra campaña del sur y abandonados los caminos que conducen a las provincias del interior.“ (Mitre 1852: 91), d.h. aus wirtschaftlichen Gründen. Die betreffenden Gebiete sieht Mitre (1852) als argentinisches Staatsgebiet an, das es rückzuerobern gilt, auch wenn dort bislang weder argentinisches Recht, argentinische Überzeugungen noch die argentinische Staatsgewalt durchsetzbar waren. Den indígenas de frontera kommt also kein status subjectionis zu (B 1). Mitre (1852) betrachtet deren Territorium als unabhängige, grausame Republiken innerhalb der Republik, die aufgrund ihres barbarischen Charakters ein Sicherheitsproblem für den Staat sowie das Leben und Eigentum der argentinischen Staatsbürger darstellen – dieses bildet die Rechtfertigung für die Eroberung des Gebiets, wobei die indigene Bevölkerung der ‚Zivilisation‘ gegenübergestellt wird. Die 61 „Nosotros debemos reaccionar contra esta monstruosidad, y alzar con energía la voz toda vez que el derecho de un habitante de la Confederación Argentina sea desconocido, sea que ese habitante haya nacido lejos o pertenecido al partido de Rosas.“ (Mitre 1852: 44). 62 „Salvémonos por medio de la virtud y fundemos así la confraternidad argentina para extenderla a los hombres de todos los climas que vengan a buscar el amparo de nuestras leyes.“ (Mitre 1852: 29).
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Indigenen würden außerdem die schönsten ländlichen Gebiete Argentiniens beanspruchen63. (Mitre 1852: 91, 93) „Nosotros decimos y creemos que todo ese territorio que ocupan es argentino, y sin embargo ni nuestras leyes, ni nuestras creencias, ni nuestras autoridades imperan allí, y lejos de imperar son tratadas como enemigas. De todo lo cual resulta que las tribus salvajes son una gran potencia respecto de nosotros, una república independiente y feroz en el seno de la república, que cuando lo tiene a bien puede talar nuestros campos, robar nuestros ganados, llevar cautivos nuestros hijos y gozar en paz de su botín manchado con sangre bajo el tiro de cañón de nuestra frontera. Para acabar con este escándalo es necesario que la civilización conquiste ese territorio.“ (Mitre 1852: 93)
Mitre (1852) nennt als Ziel die Auslöschung der indigenen Bevölkerung oder ihre Zurückdrängung in den desierto. „El argumento acerado de la espada tiene más fuerza para ellos, y éste se ha de emplear al fin hasta exterminarlos o arrinconarlos en el desierto, pero ha de ser tan sólo después que se haya desenvuelto el vasto plan de colonias militares y de fuertes de fronteras, que es el que nosotros proponemos, y el que indudablemente ha de resolver el problema.“ (Mitre 1852: 94)
Er spricht sich gegen eine rasche und blutige Eroberung aus und befürwortet die langsame Eroberung des Gebiets mithilfe von Stützpunkten und dem Aufbau von Siedlungskolonien (Mitre 1852: 94, 96). „Para ello no es necesario entrar desde luego a sangre y fuego en el territorio pampa, sino desenvolver sistemáticamente el plan de fortificaciones y de colonias y de reducción pacífica que tengan un punto de apoyo en la fuerza, que en último resultado decidirá de la victoria cuando ya su uso no sea o ineficaz o peligroso. No pretendemos, pues, por ahora que se emprenda una campaña, que nos daría por resultado unos cuantos indios muertos a lanza y algún coronel laureado, que se nos presentaría mañana con aires de Héroe del Desierto. Queremos algo más racional y menos ineficaz.“ (Mitre 1852: 94)
Nation Was sind aus Sicht Mitres (1852) die Probleme des Landes, die es verhindern, dass Argentinien zur Nation wird? Zum einen nennt Mitre (1852) die fehlende Bildung des Volkes, die es für Korruption anfällig macht und die Gefahr in sich birgt, dass die Gesellschaft auseinanderfällt. „La llaga de la América del Sur es la ignorancia del pueblo, y los mayores obstáculos que se oponen al desarrollo de la civilización son los instintos bárbaros que la falta de luces desen-
63 „Esos salvajes ponían a contribución a su gobierno, conservaban el dominio de los más hermosos terrenos de nuestra campaña, interceptaban las tropas que iban o venían de las provincias, degollaban a los pasajeros, entraban a las poblaciones a sangre y fuego; en una palabra, disponían de la vida y de la hacienda de los habitantes de la República [...]“ (Mitre 1852: 92).
296 | F REIHEIT UND N ATION vuelve en las masas, arrojando en su seno el germen de la corrupción, que acaba por descomponer la sociedad.“ (Mitre 1852: 83)
Die politische Spaltung zwischen Unitariern und Föderalen gab es hingegen laut Mitre (1852) in der argentinischen Bevölkerung nie. Sie sei bloßes Ergebnis von politischen Spekulationen, die ihrerseits die nationale Einigung verhinderten64. Dass es 1826 nicht zur Verabschiedung des damaligen Verfassungsentwurfes kam, in dem Buenos Aires als Hauptstadt vorgesehen war, lag laut Mitre (1852) an den Einwohnern Buenos Aires’ selbst sowie an den Unterstützern Rosas, die ihm uneingeschränkte Macht verleihen wollten, nicht am Widerstand der Provinzen. (Mitre 1852: 131) Neben der fehlenden Bildung beklagt Mitre (1852) das Fehlen von rechtlich gesicherter Freiheit, die über die Unabhängigkeit des Landes hinausgeht. Diese zu etablieren, sei die Aufgabe des Moments. „Nuestros padres proclamaron ambas cosas, pero sólo nos legaron la independencia, que conquistaron en cien campos de batalla, y cuya historia esculpieron con la punta de la espada en los eternos monumentos que la mano gigantesca de la naturaleza levantó en el suelo de la América. La Independencia es el hecho. La Libertad es el derecho. A nosotros nos toca la ímproba y gloriosa tarea de fundar la Libertad sobre la base inconmovible de la Independencia que construyeron los héroes de Mayo.“ (Mitre 1852: 136)
Die Probleme Argentiniens könnten jedoch nicht gelöst werden ohne nationale Einheit. Sie herzustellen wird bei Mitre (1852) auch als Aufgabe der Moral gesehen. „Para llegar a tan alto resultado es necesario que todos los miembros de la familia argentina se hagan solidarios los unos de los otros; […] El egoísmo es lo que nos ha perdido.“ (Mitre 1852: 24). Denn die nationale Einigung scheint der einzige Weg zu sein, der Argentinien aus der Tyrannei und dem Zustand des Bürgerkrieges führen kann65. Urquiza habe nach dem Sturz Rosas’ diesen Weg zu beschreiten begonnen, indem er sich nicht einer Partei zurechnen ließ, sondern mit Bezug auf die Mairevolution die gesamte Nation vor Augen hatte66. Dies führt zur Frage, ob das Modell Mitres (1852) eher der Staats- oder der Kulturnation (Kategorie C2) zuzuordnen sei. Für die Ausprägung der Staatsnation spricht Mitres (1852) einwanderungsfreundliche Haltung sowie die Einigung der Nation mit dem Ziel der verfassungsmäßigen Absicherung von Freiheit als eine ihrer Grundla64 „Tal vez vamos a sorprender a algunos al asegurar que tales celos no han existido jamás de parte de las poblaciones, y que las supuestas prevenciones con que se ha estorbado la organización nacional han sido vanos fantasmas forjados por los especuladores políticos.“ (Mitre 1852: 131). 65 „La organización nacional, formada sobre bases sólidas, eternas, irreprochables, es indudablemente el gran remedio, el único remedio, salvador, después de tan largos años de tiranía y guerra fratricida.“ (Mitre 1852: 180). 66 „El general Urquiza con el grande ejército que se reunió en torno de la bandera de Mayo al grito de Regeneración y Organización Nacional no ha triunfado para ningún partido en particular, sino para la nación en general; […] [Kursivierung im Original]“ (Mitre 1852: 128).
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gen. Gleichwohl führt Mitre (1852) Elemente der Kulturnation an, wenn er ihr zukünftiges Selbstverständnis zeichnet. Neben der oben erwähnten christlichen Prägung des Gerechtigkeitsbegriffes, der zur Grundlage der neuen Nation und der Erziehung des Staatsvolkes gemacht werden soll, fällt hier die Bezugnahme auf die nationale Geschichte bzw. deren Konstruktion auf. Mitre (1852) legt den Beginn der Nation mit der Mairevolution fest, schildert die Leiden der Nation unter Bürgerkrieg und Tyrannei, um sie dann in das Erbe der Mairevolution einzuschreiben und der von ihr bereits deklarierten Freiheit praktische Entfaltung zu ermöglichen. „En ese día [el 25 de Mayo], cuyo sol saludaremos mañana con entusiasmo, la República Argentina se inauguró como Nación, y las tablas de sus derechos bajaron del Sinai popular, iluminadas entonces con la luz de la inteligencia, selladas después con la sangre de las venas, pisoteadas más tarde por la tiranía y la barbarie, y defendidas hoy por los hijos de la inmortal generación que pronunció el sublime Fiat Lux de la Independencia y la Libertad. [Kursivierung im Original]“ (Mitre 1852: 135, 136)
Auch das religiösen Gefühlen ähnliche Nationalgefühl, das er mit dem Freiheitsbegriff in Verbindung bringt und das symbolhafte Zelebrieren der Verbundenheit mit der nationalen Gemeinschaft, zählt er zu den Bestandteilen der Nation: „La religión de la Patria como la religión de Dios tiene sus grandes aniversarios, en que el pueblo se postra de rodillas ante la estatua de la Libertad, adora su mártires y medita sobre las páginas eternas de su evangelio político, elevando su alma hasta los cielos en alas del entusiasmo y de la fe.“ (Mitre 1852: 135)
Der Ausschluss von Freiheitsrechten wird – außer im Falle der indígenas de frontera – nicht mit der Zugehörigkeit zur Kulturnation oder dem Bezug auf Ethnizität argumentiert; es werden in diesem Zusammenhang weder Kreolen noch Indigene sowie deren spezifische kulturelle, sprachliche oder genetische Merkmale explizit erwähnt, wenngleich implizite Exklusionsstrategien auf Textbasis alleine nicht ausgeschlossen werden können67. Derselbe Befund lässt sich für die Frage nach dem Souverän bzw. dem Nationalvolk anführen (D3). Wie oben bereits erwähnt, befürwortet Mitre (1852) das allgemeine Wahlrecht; es geht aus seinem Text jedoch nicht deutlich hervor, welche Einschränkungen dieses vorsieht (Alter, Gender, Ethnizität, etc.). Dass er das Prinzip der Volkssouveränität sowie der aktiven politischen Partizipation des Volkes ausdrücklich unterstützt, wird besonders an zwei Textstellen deutlich. In der ersten Stelle spricht er sich für die Selbstregierung des Volkes in kleinen Einheiten (Volksschulgremien, Gemeinderäte, etc.) aus. „Pues entonces pensemos en fundar un sistema de educación, no en teoría, sino en la práctica, tomando un hecho por punto de partida, tomando una idea fundamental por guía, como el navegante toma una estrella en el cielo; y trabajar día por día en completar el hecho y realizar la idea. [...] Para el efecto es necesario librar la educación misma al pueblo organizándole in-
67 Weil etwa Frauen in Profesión de fe y otros escritos nicht explizit erwähnt werden, deutet dies nicht automatisch auf ihre Inklusion hin.
298 | F REIHEIT UND N ATION stituciones, por medio de las cuales la sociedad se ha de gobernar a sí misma, es decir, el consejo municipal, el consejo de departamento, el consejo de instrucción primaria y demás corporaciones concejiles y locales.“ (Mitre 1852: 178)
In der zweiten Passage kritisiert Mitre68 (1852), dass das Volk nicht zum am 31. Mai 1852 beschlossenen Acuerdo de San Nicolás, der die Grundlage für den Zusammenschluss der Provinzen ohne Buenos Aires bildet, befragt worden sei. „[...] y así es como ese pacto [el Acuerdo de San Nicolás] aparece como el resultado de una liga de gobernadores, más bien que como una asociación de pueblos o provincias. Éste es no sólo un defecto de forma, es un defecto esencial; pero lo repetimos, la culpa no es del general Urquiza, que consideró esencial que los gobernadores fuesen suficientemente autorizados, sino de los gobernadores que se largaron a tratar a poncho, como dicen nuestros paisanos.“ (Mitre 1852: 182)
Freiheit und Nation Wie also gestaltet sich das Verhältnis von Freiheit und Nation, das Mitre (1852) in Profesión de fe y otros escritos (1852) entwickelt (Kategorie D)? Wie in den obigen Ausführungen gezeigt, stellt Mitre (1852) die Begriffe Freiheit und Gerechtigkeit ins Zentrum seines Freiheitsbegriffes. „Así es cómo nosotros entendemos la fusión: Libertad y respeto para todos los ciudadanos. Igualdad de derechos y deberes comunes. Estricta justicia para los hombres de todos los partidos políticos. Solidaridad de todos los miembros de la comunión argentina en el agravio hecho a un ciudadano, en cuya cabeza se viole el derecho común sea cual fuere su opinión.“ (Mitre 1852: 44)
Aus der Einhaltung des Rechts und der Überwachung desselben leitet Mitre (1852) eine Solidaritätsgemeinschaft ab, ein Aspekt, der für die Staatsnation spricht. Die Gemeinschaft leitet sich in diesem Fall von der Zustimmung zu gemeinsamen Freiheitsrechten ab. Mitre (1852) spricht sich für die Garantie der Freiheitsrechte im Verfassungsstaat (E3, E4) aus. Dass es sich bei dieser Gemeinschaft um eine Art Verfassungsgemeinschaft handelt, wird aus dem folgenden Zitat ersichtlich: „1° A la organización nacional por medio de un congreso constituyente. 2° Al establecimiento del sufragio directo universal, conquistado ya en la práctica. 3° A la consolidación de la libertad de imprenta, poniéndosele por límite la inviolabilidad de la vida privada. 4° A la conquista del derecho de reunión, que no es sino la libertad de la palabra hablada, como el derecho de publicar los pensamientos sin previa censura es la libertad de la palabra escrita. 5° A la realidad del sufragio por medio de la independencia del voto del ciudadano y la renovación periódica de los representantes elegidos por la voluntad de la mayoría. 6° A la reforma de la ley de imprenta y de elecciones.“ (Mitre 1852: 28)
Die Nation und ihre Organisation soll sich von einer verfassungsgebenden Versammlung ableiten. Im Bereich der Freiheitsrechte unterstreicht er nochmals die Einfüh68 Der betreffende Zeitungsartikel von Mitre ist am 19. Juni 1852 erschienen.
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rung des direkten allgemeinen Wahlrechts (E4), d.h. Freiheit im Staat; im Bereich der Freiheit vom Staat erwähnt er gesondert die Pressefreiheit bei Respekt der Privatsphäre des Individuums. Wie oben diskutiert, gilt Mitre (1852) die Pressefreiheit als Freiheit par excellence, da sie die Grundvoraussetzung für das Funktionieren des parlamentarischen Systems bildet: öffentliche, vernunftbasierte Diskussion. Die öffentliche Debatte in der Presse diene zudem der Erziehung des Volkes und deren Zähmung der Instinkte zugunsten der Vernunft, die Mitre (1852) als Voraussetzung für Freiheit gilt. Die Vereinigungsfreiheit ist für ihn das Pendant zur Pressefreiheit, da sie ebenfalls eine Bedingung für die öffentliche Diskussion darstellt. Neben Presse-, Meinungs- und Vereinigungsfreiheit betont Mitre (1852) in Profesión de fe y otros escritos die Notwendigkeit wirtschaftlicher Freiheiten als Bedingung für Fortschritt. Ohne Wohlstand sei die Herrschaft des Rechts schwer durchzusetzen, denn Armut führe allzu schnell zu Korruption und Tyrannei. Als wirtschaftliche Maßnahmen schlägt er die Nationalisierung der Zölle, Handelsfreiheit und freie Flussschifffahrt sowie die Förderung von Immigration vor. In der folgenden Passage fasst Mitre (1852) zusammen, wofür Urquiza und die Schlacht von Caseros stehen. Sie kann gleichzeitig als Maßnahmenkatalog für den Aufbau der Nation und die Absicherung von Freiheit gelesen werden: „Organización del Gobierno Nacional de todos y para todos. Reunión de un Congreso General Constituyente que arregle los asuntos nacionales. Destrucción de la bárbara tiranía que se oponía al logro de esos bienes. Garantías constitucionales. Libertad del sufragio, de la prensa y de la tribuna. Rectitud administrativa. Fomento de la instrucción pública. Desarrollo de los intereses materiales. Inmigración extranjera. Asociación de los partidos. Confección de leyes orgánicas. Reforma financiera federal. Difusión de la moral pública. Aceptación de todas las buenas ideas. Admisión de las ambiciones nobles. Premio a los grandes servicios. Reprobación a las ambiciones ilegítimas. Fraternidad política y social. Verdad del pacto federativo. Paz con todas las naciones. Cesación del régimen arbitrario.“ (Mitre 1852: 103, 104)
Es wird abermals deutlich, dass bei Mitre (1852) wirtschaftsfördernde Maßnahmen neben Bildungsförderung als Mittel zur Konstruktion der Nation gelten, in der sowohl Freiheit vom Staat (hier insbesondere die Pressefreiheit) als auch Freiheit im Staat (in Form des allgemeinen Wahlrechts) garantiert werden sollen. Die Pressefreiheit ist dabei zugleich ein Mittel zur Bildung des Volkes und damit Voraussetzung und Ziel der Nation. „La misión de nuestra patria ha sido grande y noble, y su porvenir será hermoso, porque su estrella lo conduce a mejores destinos, pero aun le falta mucho para ser libre. Le falta extender por todas partes el principio de igualdad; le falta extirpar con mano vigorosa las malas raíces que el despotismo ha dejado escondidas en el seno de nuestra tierra; le falta derramar el bienestar en todas las clases de la sociedad; le falta educar al pueblo; le falta llevarlo al gobierno, de modo que en adelante el impulso vaya de los pueblos a los gobiernos; le falta formar un cuerpo de nación, ligando en un haz todos sus intereses dispersos, y consignar sus derechos y sus deberes en una constitución que establezca definitivamente el gobierno de todos, por todos y para todos.“ (Mitre 1852: 139, 140)
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Wir können zusammenfassen, dass Mitre (1852) eine einwanderungsfreundliche Nation vor Augen hat, die Bevölkerungswachstum, Wirtschaftswachstum und damit Fortschritt sichern soll. Diese Maßnahmen würden zugleich die Antagonismen in der argentinischen Bevölkerung, die er als wirtschaftliche Missverständnisse, nicht als regionale und/oder politische Konflikte begreift, abschwächen und den Weg zur nationalen Einigung öffnen. Wirtschaftliche Maßnahmen alleine können aber nicht aus dem Zustand der Tyrannei und der Bürgerkriege führen. Dazu bedürfe es einer Änderung der Moral. Damit im Rahmen der (Staats-)Nation die erwähnten Freiheitsrechte verfassungsmäßig garantiert werden können, brauche es eine Erziehung des Volkes durch Bildungsmaßnahmen, öffentliche Diskussion (etwa über die Presse) sowie das allgemeine Wahlrecht und die Selbstregierung des Volkes (besonders auf lokaler Ebene). Ziel von Bildung ist es u.a., eine freiheitsfördernde öffentliche Moral zu etablieren, die auf dem Gerechtigkeitsbegriff ruht, der von der christlichen Nächstenliebe ausgeht. Die gemeinsame Überwachung der Einhaltung des Rechts führe zu einer Solidargemeinschaft. Freiheit und Nation bedingen sich im Entwurf Mitres (1852) gegenseitig. Seine Vision von der Zukunft der argentinischen Nation legt Mitre (1852) schon in der Mairevolution an, die den eigentlichen Beginn der Nation bilde. Aufgabe der Gegenwart sei es, die Ideale der Mairevolution nach den vergangenen Jahrzehnten des Bürgerkriegs und der Tyrannei nun im Sinne einer regeneración und Erneuerung der Ideale in die Praxis umzusetzen. Dazu sollen die Differenzen der Parteien zugunsten einer nationalen Partei und der Synthese der vorherrschenden Meinungen beseitigt werden. Die Bildung einer nationalen Gemeinschaft erfährt hier neben der Staatnation eine Komponente der Kulturnation in Form der gemeinsamen Geschichte und Erinnerung. Besonders, wenn Mitre (1852) den Gedenktag des 25. Mai mit einem religiösen Festtag gleichsetzt. Hauptstadt der Nation solle Buenos Aires aufgrund des historischen Stellenwerts sein: „Una de las razones que se aducen en pro del proyecto de capitalizar a Buenos Aires es que esta ciudad siempre fué de hecho la capital de la Confederación. [Kursivierung im Original]“ (Mitre 1852: 130). Er schrieb diese Zeilen am 7. Mai 1852, also kurz bevor sich Buenos Aires und die restlichen Provinzen vorerst voneinander trennen sollten. Wer Teil dieser Nation sein darf und wer an den in ihrem Rahmen gesicherten Freiheitsrechten teilhat, geht in Mitres (1852) Text, in dem er sich stets auf todos ohne Bezug zu Alter, Geburtsort, Ethnizität und Gender bezieht, nicht im Detail hervor. Umso deutlicher erfahren die indígenas de fronteras nicht nur eine Exklusion aus der Staats- wie Kulturnation – sie bilden nach Mitre (1852) eine eigene Republik in der Republik und sind als Barbaren eine Bedrohung für die Sicherheit Argentiniens –; ihnen wird als ‚Feinde‘ der Nation der Krieg erklärt. Die Auslöschung oder Vertreibung der aus seiner Sicht unrechtmäßig die schönsten ländlichen Gebiete des argentinischen Staatsgebiet besiedelnden indígenas de frontera nennt Mitre (1852) ausdrücklich als Ziel. Abschließend sei ein Blick auf die Kritik Mitres (1860) am Verfassungsentwurf Alberdis, wie er sie in La constitución debe examniarse y reformarse formuliert, geworfen. „El Dr. Alberdi, en sus superficiales estudios sobre el Derecho Público argentino, que según él nadie ha estudiado en Buenos Aires, y en su completa ignorancia de la historia del país ha
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llamado a la Constitución de las trece Provincias una obra esencialmente original, y esto mismo repitió como loro la Comisión que la presentó en 1853, a la par que llamaba copia servil (no dice) a la Constitución de 1826.“ (Mitre 1860: 136)
Zunächst wirft ihm Mitre (1860) vor, für seinen Verfassungsentwurf das Prädikat der Originalität in Anspruch genommen und gleichzeitig den Entwurf von 1826 als unselbstständiges Werk kritisiert zu haben. Dabei erscheint ihm gerade der Entwurf von 1826 als das originellste Dokument Südamerikas und Alberdis Vorschlag als Kopie des Verfassungsentwurfs von 182669. Denn der Entwurf von 1826 habe eine nationale Regierung vorgesehen, dabei die Provinzen respektiert und sogar die Aufteilung der Zolleinnahmen zwischen ihnen geregelt. „La Constitución de 1826, al constituir la nación consolidada en unidad de régimen, no despojaba a las Provincias de su personalidad, y si les quitaba atribuciones políticas, les daba en cambio mayores facultades administrativas, dividiendo entre todas ellas los productos de la aduana de Buenos Aires. [Kursivierung im Original]“ (Mitre 1860: 136)
Literatur und Presse Mitre (1852) sieht nach der Schlacht von Caseros die Presse als geeignetes Mittel, um sich für Freiheit einzusetzen. „Suceda lo que suceda, desde hoy consagramos nuestra pluma y nuestra inteligencia a la libertad, como antes le hemos consagrado nuestra espada.“ (Mitre 1852: 31). Die Aufgabe des öffentlichen Schriftstellers liege darin, Wahlgesetze zu analysieren und diese verständlich an das Volk weiterzuvermitteln (Informations- und Aufklärungsfunktion). Darüber hinaus solle er eine Kontrollfunktion gegenüber der Regierung ausüben70. Die Vermittlungstätigkeit des Schriftstellers soll die Emotionen der Leserschaft ansprechen71. In Mitres (1852) Ausführungen, weshalb er für die Presse schreibt, zeigt sich erneut, dass er sich in die Tradition der Mairevolution einreiht und seine Tätigkeit zugleich der Freiheit widmet: „Al emprender nuestras tareas periodísticas colocamos bajo la advocación de esos gloriosos nombres los escritos que en adelante saldrán de nuestra pluma, que desde hoy consagramos a la libertad.“ (Mitre 1852: 18). Wie aus dem Text hervorgeht, sind mit den gloriosos nombres die Maiväter sowie die Opfer von Repression und Zensur wie Moreno oder Varela gemeint. Dass die argentinischen Schriftsteller der Nation mit dem Schreiben im Exil einen wichtigen Dienst erwiesen haben, sollte laut Mitre (1852) entsprechend gewürdigt werden.
69 „Y sin embargo, la Constitución de 1826 es en su género la obra más original que se haya ejecutado en la América del Sur, y la Constitución dictada en 1853 por el Congreso Constituyente de Santa Fe, no es sino la copia de la parte más esencial de aquella Constitución.“ (Mitre 1860: 136) 70 „Analizar en detalle todas y cada una de esas leyes, para popularizar su verdadero sentido; señalar sus defectos y vacíos, o aplicarlas a casos determinados en la práctica del Gobierno representativo: he ahí la tarea del escritor público.“ (Mitre 1852: 35). 71 „El escritor público es el gladiador generoso del pensamiento, que escribe día por día, a la faz de todo un pueblo y sobre la arena sangrienta del periodismo, las páginas calorosas que hacen vibrar de entusiasmo el corazón de las masas.“ (Mitre 1852: 17).
302 | F REIHEIT UND N ATION „Durante ese largo período Várela, Rivera Indarte, Alsina, Wright, Sarmiento, Piñero, Peña, Echeverría, Tejedor, Oro, Alberdi, Frías, Agrelo, López, Mármol, Domínguez, Gutiérrez, Cantilo, Godoy, Fragueiro, Zorraindo, Barros Pasos, y otros muchos, han escrito y publicado en el exterior sus escritos políticos, sus poesías, sus trabajos históricos y forenses, sus meditaciones económicas, sus tratados científicos, sus impresiones de viaje, sus Memorias y sus ensayos filosóficos, con la esperanza de que algún día la patria, libre de sus tiranos, rescataría esa riquísima herencia, dispersa hoy por todo el mundo, pues no hay un solo país en él en que el emigrado argentino no haya puesto su planta, dejando impreso el sello de su vigorosa inteligencia.“ (Mitre 1852: 82)
Er schreibt diese Werke, die u.a. von der generación del 37 verfasst wurden, dem nationalen Erbe ein, woraus wir schließen können, dass die Rezeption der betreffenden Schriften als bedeutendes Gut der Nation, als Nationalliteratur, nicht nur nachträglich vorangetrieben wurde, sondern bereits kurz nach dem Ende des Rosas-Regimes von Mitre (1852) selbst bereits vorgeschlagen wurde. „Hoy que los hombres y las ideas dispersas de la República Argentina vuelven al seno de la patria, la nación debe reclamar para sí la gloria de sus hijos desterrados, y colocar sus escritos en el largo catálogo de las producciones que honran su naciente literatura, porque esa gloria es una propiedad común.“ (Mitre 1852: 81)
Sarmiento hebt er nicht nur lobend für sein umfangreiches Werk hervor, sondern besonders für seinen Verdienst im Bereich der Bildung, der für Mitre (1852), wie oben dargestellt, neben wirtschaftlichen Maßnahmen Grundlage für die Nationenwerdung Argentiniens ist. „Hablamos de D. Domingo Sarmiento, que en el espacio de doce años de emigración ha redactado sucesivamente el Mercurio, el Progreso, la Crónica y Sud América; ha publicado Los Viajes a Europa, Africa y América, Recuerdos de Provincia, Nuevo sistema de ortografía castellana, Civilización y barbarie, Vida de Aldao, Paralelo entre San Martín y Bolívar, Nuevos métodos de lectura, más de una docena de traducciones importantes y una obra seria y de largo aliento que lleva por título Educación Popular. [Kursivierungen im Original]“ (Mitre 1852: 82, 83)
Die Educación Popular von Sarmiento biete jenen Unterstützung, die ihre Kraft dem Engagement gegen fehlende Bildung, die Mitre (1852) als eines der größten Hindernisse für den Aufbau einer freiheitssichernden Nation gilt, widmen. „Tal es la obra de que nos proponemos ocupar a nuestros lectores. Hoy que se anuncia entre otras varias creemos oportuno hacerlo, y nos mueve a ello sobre todo la circunstancia de hallarse a la orden del día la cuestión de la instrucción pública, de que el Sr. Sarmiento se ha hecho el apóstol infatigable. Creemos que la lectura de obras semejantes son las que han de contribuir a templar el alma de los que se proponen luchar a brazo partido con la ignorancia.“ (Mitre 1852: 83)
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D OMINGO F AUSTINO S ARMIENTO Einordnung und Struktur der Werke Domingo Faustino Sarmientos Comentarios de la Constitución de la Confederación Argentina (1853a) bilden den achten Band der von der argentinischen Regierung finanzierten Obras completas, die uns in der Ausgabe von 1913 vorliegen. Der ca. 270 Seiten umfassende Text72 wurde erstmals im September 1853, also wenige Monate nach der Verabschiedung der Verfassung selbst, in Santiago de Chile veröffentlicht. Zum betreffenden Zeitpunkt war Sarmiento Abgeordneter zum verfassungsgebenden Kongress der Provinz San Juan. Die Nachricht, dass die Provinz Buenos Aires nicht Teil der Confederación Argentina werden und in den Geltungsbereich der Verfassung fallen sollte, ereilte Sarmiento nach eigener Angabe, nachdem er den ersten Teil des Textes bereits verfasst hatte (Sarmiento 1853a: 37). Das Anliegen der Comentarios de la Constitución (1853a) ist es, auf die aus Sicht des Autors wenigen, aber folgenreichen Fehler der Verfassung von 1853 aufmerksam zu machen73. Sarmiento (1853a) versteht seinen Text in der Tradition USamerikanischer Kommentare zur Verfassung und orientiert sich konkret an Joseph Storys Kommentar zur Verfassung der USA. Eine Auslegungstradition zu wichtigen Rechtstexten nach US-amerikanischem Vorbild zu initiieren, kann als weiteres Ziel des Textes genannt werden. „Si hay fecundidad en esta aplicación de la ciencia y práctica norteamericana á nuestra Constitución, mil trabajos del género pueden emprenderse, y en poco años enriquecernos con una literatura constitucional, de que carecen por lo general los otros países constituídos.“ (Sarmiento 1853a: 37)
Die Comentarios de la Constitución (1853a) sind mit ausgedehnten Zitaten der Vorbildtexte versehen. Sie gliedern sich in ein Vorwort, auf das sieben Kapitel folgen, die ihrerseits einzelne Abschnitte der Verfassung von 1853 untersuchen und kommentieren. Das erste Kapitel ist der Präambel der Verfassung gewidmet, während das zweite den Abschnitt zu den Grundrechten kommentiert. Kapitel III beschäftigt sich mit der Frage der Staatsreligion, Kapitel IV mit der Frage der Hauptstadt, Kapitel V mit der nationalen Wirtschaftspolitik, Kapitel VI mit den Provinzverfassungen und Kapitel VII dem Verhältnis von Bundesstaat und Gliedstaaten. Die Analyse der Comentarios de la Constitución (1853a) wird um einen zweiten Text Sarmientos ergänzt, der im Anhang desselben Bandes publiziert wurde, ursprünglich aber in der chilenischen Zeitung La Crónica vom 19. und 26. November sowie vom 3., 10. und 17. Dezember 1853 erschienen ist. Es handelt sich um den Examen crítico de un proyecto de Constitución de la Confederación Argentina por
72 Die Comentarios de la Constitución (1853a) lieferten 108 Belege gemäß Analyseschema 1. 73 „De lo primero es motivo suficiente nuestro deseo de fijar puntos dudosos que su texto encierra, hacer resaltar la oportunidad y acierto de muchas de sus cláusulas, y poner de manifiesto los poquísimos, pero capitales errores que inutilizan, á nuestro humilde juicio, toda la obra.“ (Sarmiento 1853a: 33).
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Juan B. Alberdi (1853b). Der Text gibt Aufschluss über die Differenzen zwischen den genannten Autoren in Bezug auf die Verfassungsfrage. Er ist mit ca. 35 Seiten bedeutend kürzer und hat nur 11 Belege gemäß Analyseschema 1 hervorgebracht. Auswertung der Kategorien in den Comentarios de la Constitución gemäß Analyseschema 1 Freiheit In den Comentarios de la Constitución lässt Sarmiento (1853a) keinen Zweifel daran, dass Freiheit verfassungsmäßig garantiert werden muss: „Una Constitución es la Suprema Ley de un pueblo, es el Decálogo de los preceptos políticos, y el paladium de las libertades, como la regla de los actos de los poderes públicos.“ (Sarmiento 1853a: 277). Unter Freiheit sei nicht die übertriebene Beachtung von Volksbestrebungen, die für politische Willkür ausgenutzt werden können und Freiheit ins Gegenteil verkehren, zu verstehen. ‚Wahre‘ Freiheit bedürfe der Absicherung durch das Recht. (Sarmiento 1853a: 34) „La libertad moderna sale de las condiciones de simple perfección de las instituciones, de mero contentamiento del sentimiento de la dignidad humana. Es economía, industrial, base indispensable de la riqueza de los individuos y del engrandecimiento nacional.“ (Sarmiento 1853a: 111)
Die Perfektion politischer Institutionen bringe moderne Freiheit hervor, so Sarmiento (1853a). Im selben Atemzug erwähnt Sarmiento (1853a) die Wirtschaft als Quelle sowohl für individuellen Wohlstand als auch für den Fortschritt der Nation. Es gilt also zu fragen, wie wirtschaftliche Maßnahmen im Vergleich mit Freiheitsrechten aus dem Bereich der Freiheit vom Staat (Kategorie A3) gewichtet werden. Wiederum führt Sarmiento (1853a) das Erfordernis gut funktionierender politischer Institutionen als Bedingung für alle weiteren Ziele an. Auch betont er die Notwendigkeit der Besiedelung des argentinischen Territoriums als Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum; aus diesem Grund befürwortet er die Förderung von Immigration. Ohne Garantie der Rechte der Freiheit vom Staat (A 3.1) sei dieses Ziel jedoch nicht zu erreichen. „Desde luego, el primer elemento de prosperidad para la colocación de las tierras son las instituciones políticas, que como las de los Estados Unidos cuadren á las ideas de los emigrantes. Sin libertad de cultos y sin derechos políticos que aseguran la libertad, la vida, la prosperidad, el movimiento, los inmigrantes se ocuparán de negocios y artes en los puertos y costas, contando realizar sus provechos para regresar á su país nativo ; pero para emprender labrar la tierra, que es un antecedente y un reato que liga al suelo, es preciso que amen ese suelo, y que el porvenir para sí y para sus hijos se les presente tranquilo, risueño y feliz.“ (Sarmiento 1853a: 176)
Zu den zu garantierenden individuellen Freiheitsrechten zählt er neben der allgemeinen Formulierung der Sicherheit von Leben, Freiheit und Wohlstand konkret Religionsfreiheit74 und Niederlassungsfreiheit. Die Garantie der beiden Arten von Frei74 An der Formulierung in der Verfassung, dass der Staat die katholische Religion ‚annehme‘ (adopta) kritisiert er, dass sich der Staat nicht um Glaubenssätze, sondern ausschließlich
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heit leitet sich also aus dem Ziel der Förderung von Wirtschaft und Wohlstand ab. Religionsfreiheit wird aber nicht ausschließlich mit dem Ziel der Wohlstandsförderung durch Immigration argumentiert, sondern mit den Prinzipien der durch eine Verfassung garantierten Freiheitsrechte an sich. „Si algunos manifestasen el deseo de no ver que otros siguen sus ritos ; si hay quien pretenda que tiene derecho de estorbar á otros lo que no daña á tercero, ni les atañe, á estos tales debe hacérseles comprender que las constituciones políticas se dictan para contener á cada uno en el goce de sus propios derechos individuales, y estorbarle que ataque, oprima y violente los de otro. [Kursivierung im Original]“ (Sarmiento 1853a: 135)
Als drittes Argument für Religionsfreiheit zieht Sarmiento (1853a) mit der Memoria del abate Auger75 eine christliche Autorität heran, die er in voller Länge zitiert. Anders als in den Bases (1852) von Alberdi wird die Garantie der erwähnten Freiheitsrechte nicht als Bedingung dafür, dass überhaupt Immigranten nach Argentinien kommen, dargestellt, sondern als Bedingung dafür, dass sie nicht nur an den wirtschaftlich stärkeren Küstengebieten siedeln sowie dass sie sich dauerhaft in Argentinien ansiedeln, eine Bindung zu Land und Boden aufbauen und Familien gründen. Die geforderten Wirtschaftsmaßnahmen der beiden Autoren ähneln aber einander: „La libre navegación de los ríos, como un principio de derecho de gentes, es tan nuevo en el mundo, que después del caso especialísimo de la navegación del Rin y del Po, la de los ríos afluentes al Plata es el segundo que consagra el principio.“ (Sarmiento 1853a: 169, 170)
Sarmiento (1853a) erwähnt neben der freien Flussschifffahrt die Abschaffung von Binnenzöllen. „Ninguna provincia puede legítimamente reputar de propiedad provincial los derechos que cobre en sus puertos, si no es aquellos que pagan exclusivamente sus habitantes, pues estando unas provincias favorecidas de puertos, y careciendo de ellos las más, tal verificación, á más de absurda, sería imposible, sin caer para remediarlo en el desastroso sistema de aduanas interiores de que era la Confederación Argentina el único ejemplo que se conocía en los tiempos modernos.“ (Sarmiento 1853a: 170)
Und doch lassen sich Unterschiede in der Argumentation zwischen Alberdi (1852) und Sarmiento (1853a) feststellen. Während Alberdi (1852) die Abschaffung von Binnenzöllen ausschließlich mit wirtschaftlichen Argumenten verteidigt, führt Sarmiento (1853a) die fehlende Rechtsgrundlage für die Erklärung der Häfen zum um die finanzielle Unterstützung der römisch-katholischen Kirche zu kümmern habe, da dies die Religion der Mehrheit seiner Bürger sei. Das sei es auch, was mit der Formulierung gemeint sei, die besser durch ‚unterstütze‘ (sostiene) ersetzt werden solle. (Sarmiento 1853a: 135) 75 Sarmiento greift die Diskussion um religiöse Toleranz in Frankreich auf. Die Memoria del abate Auger war eine Antwort auf die Memoria sobre la tolerancia religiosa, die am 27. Juli 1847 im Auftrag des Comité Central del Instituto Histórico in Frankreich publiziert wurde, so Sarmiento (1853a: 137).
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Eigentum der Provinz an, es sei denn, deren Finanzierung erfolge ausschließlich durch die Bewohner der Provinz. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass Sarmiento (1853a) sämtliche der vorgeschlagenen Maßnahmen mit dem Vorbildcharakter der USA und – in diesem Falle mit der geographischen Ähnlichkeit zwischen Argentinien und den USA – argumentiert. „De todos estos testimonios [de los Estados Unidos], de la naturaleza del asunto, y de la similitud notable de situación geográfica en ambos países federados, resulta la conveniencia de reconcentrar en una sola administración nacional las aduanas, y de consagrar á objetos comunes á todas las provincias los derechos recaudados en ellas.“ (Sarmiento 1853a: 171)
Besonders hervorgehoben wird bei Sarmiento (1853a) des Weiteren die Garantie von Minderheitenrechten76. In der Demokratie sei sie die wichtigste Bedingung für Freiheit an sich (Sarmiento 1853a: 200). Solange sie nicht zu Gewaltakten führen, dürfen auch fehlerhafte Meinungen frei geäußert werden77. All die erwähnten Freiheitsrechte und wirtschaftlichen Maßnahmen zur Wohlstandssteigerung der Nation könnten ausschließlich im Rahmen einer Verfassung garantiert werden, die eine nationale Regierung vorsieht. Die Provinzen hätten der Tyrannei nicht standhalten können und auch keine Minderheitenrechte gekannt, daher sei kein Zentralstaat (wie er de facto während des Rosas-Regimes bestand) anzustreben, sondern ein föderales System, an dem die Provinzen beteiligt werden. Nur in der Einheit, die moralisch und physisch auf die Teile einwirkt, könne Freiheit garantiert werden. (Sarmiento 1853a: 200) „El hecho existente de una general tiranía, no resistida por los gobiernos de las provincias, muestra la necesidad de un gobierno general en que cada una de las provincias tenga parte, y por la acción moral y física del todo sobre cada una de ellas, garantice las libertades que de otro modo no han podido conservarse.“ (Sarmiento 1853a: 114)
Aus diesem Grund plädiert Sarmiento (1853a) für ein Zweikammernsystem. Dieses ermögliche gegenseitige Kontrolle und könne gegebenenfalls die Übermacht einer Mehrheit in einer der Kammern ausgleichen78. Die Ausgestaltung der beiden Kammern müsse folgendermaßen angelegt sein: „¿ Cómo se consigue este resultado, con los hombres de un mismo país, y sujetos como los demás á las debilidades humanas ? I.° Por el solo hecho de la separación en dos cuerpos. 2.° Por la diferencia de edad requerida. 3.° Por la mayor duración del término de funciones. 4.° Por
76 „Otro punto que una constitución general asegura, en cuanto á los beneficios de la libertad, es la existencia, seguridad y libertad de las minorías, en favor de las cuales son casi todas las prescripciones y garantías de la constitución ; […]“ (Sarmiento 1853a: 114). 77 „Asegurar la libertad es, pues, asegurar el derecho á todas la disidencias políticas, á todas las opiniones, á todos los errores mismos, cuando no se traducen en actos violentos.“ (Sarmiento 1853a: 115). 78 „De aquí ha nacido el expediente de dividir las legislaturas en dos cuerpos, compuestos de elementos diversos para que se contrabalancen y corrijan recíprocamente.“ (Sarmiento 1853a: 201).
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la manera paulatina de renovarse los miembros. 5.° Por el corto número, lo que da más vigor á la resistencia.“ (Sarmiento 1853a: 202)
Die Erneuerung der beiden Kammern dürfe zudem nicht zum selben Zeitpunkt stattfinden. Der Senat dürfe auch nicht gleichzeitig mit der Bestellung des Präsidentenamtes erneuert werden, da sonst die Interessen der Provinzen nationalen Zielen untergeordnet werden könnten (Sarmiento 1853a: 205). Was die Organisation der Gemeinden betrifft, dürfe keinesfalls zum System der cabildos zurückgekehrt werden, ja nicht einmal die Benennung weitergeführt werden, da die koloniale Gesetzgebung zu Chaos geführt habe und die Koexistenz der neuen institutionellen Ordnung mit alten Elementen Verwirrung erzeugen würde. (Sarmiento 1853a: 248) Starke Kritik übt Sarmiento (1853a) an der Bestimmung in der Verfassung von 1853, wonach die Gouverneure der Provinzen von der nationalen Exekutive bestimmt werden sollen. Diese einem Zentralstaat zuzuordnende Regelung sei unzulässig, da sie den Prinzipien der föderalen Verfassung widerspreche und diese dadurch obsolet mache. „No hay medio : O el Presidente elige y revoca sus funcionarios, y entonces es unitario el gobierno y la Constitución cae. O el Presidente se reserva la facultad de aprobar ó no las elecciones de gobernadores de las provincias como el tirano, y entonces las Legislaturas y las libertades provinciales son meras farsas, y la Constitución una burla. O el Presidente intriga, conspira, y revuelve las provincias para deshacerse de los malos agentes que le dan las elecciones provinciales, como lo hicieron el tirano y Urquiza, y la anarquía se perpetúa y la Constitución es inútil. O se entra de plano en el sistema federal, uniendo las provincias entre sí por los funcionarios federales, electos, pagados y revocados por el poder federal, y la Constitucion es revisada para borrar de ella el obstáculo que ha levantado contra toda posible administración.“ (Sarmiento 1853a: 290)
Die Kompetenzaufteilung zwischen Bundesstaat und Gliedstaaten müsse klar formuliert werden und für alle erkenntlich sein. Folgende Beamte müssen der nationalen Regierung unterstellt werden: „Los agentes para mensura y venta de las tierras ; los empleados de aduana, tasadores y colectores de impuestos ; los procuradores fiscales en lo civil y en lo criminal ; los comisarios para prestar fuerza y ejecución á las sentencias de los tribunales, aprehender y custodiar reos, intimar en nombre de las Provincias Unidas ó la Federación á los insurrectos la orden de dispersarse, comunicar con el ejecutivo é instruirle de los obstáculos que la ejecución de las leyes encuentra ; todos estos funcionarios no deben estar sometidos á los gobernadores de provincia, ni éstos intervenir en el ejercicio de sus funciones. El pueblo obedece á las autoridades federales, lo mismo que á las provinciales, como obedecemos al juez de paz y al cura, á nuestros padres y al subdelegado, según la naturaleza especial de las funciones de cada autoridad.“ (Sarmiento 1853a: 282)
Die betreffenden Textpassagen werden hier so ausführlich wiedergegeben, da sie davon zeugen, dass bei Sarmiento (1853a) die Frage, ob Freiheit in der Praxis tatsächlich gesichert werden kann, von der Ausgestaltung der Bestimmungen in der Verfassung und deren Widerspruchsfreiheit entscheidend abhängt. So erstaunt es, dass er an
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einer anderen Textstelle den Einfluss bereits etablierter politischer Praktiken und erworbener Rechte auf die öffentlichen Institutionen für stärker als jenen eines Verfassungstexts hält: „No es tanto el texto de las constituciones políticas lo que hace la regla de los poderes públicos, como los derechos de antemano conquistados y las prácticas establecidas.“ (Sarmiento 1853a: 34). Freiheit im Staat (A4) ist bei Sarmiento (1853a) durch politische Partizipation in Form von Wahlen vorgesehen. Im Zusammenhang mit Kategorie C3 wird sie ausführlicher diskutiert. Es stellt sich nun die Frage, wer in den oben skizzierten Freiheitsbegriffen inbzw. exkludiert ist (Kategorie B). Abgeleitet vom Ziel der Einwanderungsförderung begrüßt Sarmiento (1853a) die in der Verfassung von 1853 enthaltene Ausweitung der Garantie der Freiheitsrechte vom Kreise der argentinischen Staatsbürger hin zu allen Menschen, die auf argentinischem Boden leben möchten als eines der vorrangigen Ziele der Verfassung – wiederum in Anlehnung an die US-Verfassung79. „El otro principio, añadido al preámbulo de la Constitución de los Estados Unidos que sirvió de guía, es la amplificación de los beneficios de la libertad, entre otros objetos primordiales que la Constitución Argentina se propone asegurar, no sólo para nosotros y nuestra posteridad, sino ‚para todos los hombres del mundo que quieran habitar en el suelo argentino‘. [Anführungszeichen und Kursivierung im Original]“ (Sarmiento 1853a: 75, 76)
Diese die größtmögliche Inklusion gewährende Formulierung stellt alle Menschen ungeachtet ihrer Ethnizität in der Garantie ihrer Freiheitsrechte auf argentinischem Staatsgebiet gleich. Ob aus Sarmientos (1853a) Sicht Einschränkungen hinsichtlich des Alters, Gender, Bildung und Eigentum hinzukommen sollen, bleibt in den Comentarios de la Constitución (1853a) offen. Das Ziel dieser Formulierung ist aber deutlich: Nicht aus Gründen der Gleichheit, sondern der Förderung von Einwanderung wird sie von Sarmiento (1853a) nachdrücklich unterstützt. „Tal declaración importa una invitación hecha á todos los hombres del mundo á venir á participar de las libertades que se les aseguran, una promesa de hacer efectivas esas libertades, y una indicación de que hay tierra disponible para los que quieran enrolarse en la futura familia argentina.“ (Sarmiento 1853a: 76)
Ein Hinweis auf eine theoretisch mögliche Einschränkung der Freiheitsrechte aufgrund von Ethnizität könnte in der untenstehenden Formulierung para los pueblos que representan gefunden werden – es findet sich keine Erläuterung im Text, welche Völker von den Abgeordneten vertreten werden sollen, sodass diese Frage letztlich offen bleiben muss.
79 So leitet er die zu erwartenden positiven Effekte der Einwanderung für nationales Wachstum vom Beispiel der USA ab: „El hecho práctico ha mostrado por cuanto ha contribuído al pasmoso y rápido engrandecimiento de aquella nación [gemeint sind die USA], la latitud dada á la incorporación de nuevos ciudadanos en el Estado, los beneficios de la libertad asegurados á todos los hombres del mundo que quisieren habitar su suelo. [Kursivierung im Original]“ (Sarmiento 1853a: 76).
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„Así, pues, derrocada apenas la tiranía, viendo abiertas aun las fuentes de donde emana, conocidos y palpados veinte años sus deplorables efectos, los Representantes del pueblo reunidos en Congreso se proponen asegurar los beneficios de la libertad, para los pueblos que representan, para sus descendientes y para todos los hombres del mundo que quieran venir á habitar el suelo argentino [...]“ (Sarmiento 1853a: 110)
Bezüglich der auf der Unabhängigkeit des Individuums vom Willen anderer beruhenden Fähigkeit zu Freiheit meldet Sarmiento (1853a) Zweifel an, was die Landbevölkerung betrifft. Der intelligente Teil des Volkes lebe vorwiegend in den Städten der Provinzen. „Verdad es que para ubicar la elección concurren dificultades generales á todas las provincias, compuestas por lo general de una ciudad en que está reconcentrada la parte inteligente y por posición ó ideas menos dependientes de la voluntad ajena, y de villorrios y campañas que reciben la impulsión que se les dé. [Kursivierung im Original]“ (Sarmiento 1853a: 205)
Ob daraus Exklusionsbestimmungen abgeleitet werden sollen, führt Sarmiento (1853a) in den Comentarios de la Constitución (1853a) nicht weiter aus. Fest steht für ihn jedenfalls, dass die fehlende Autonomie des Willens der Landbevölkerung nicht bedeute, dass diese eine unpolitische Haltung habe – im Gegenteil: deren Revolten hätten verheerende Folgen gehabt: „¿ Las campañas no tienen vecinos que mandar á las legislaturas ? ¿ No se interesan en la vida política ? ¿ Cómo es que toman parte tan activa en las revueltas internas que lo aniquilan todo ?“ (Sarmiento 1853a: 209). Nation Wie schildert Sarmiento (1853a) den gegenwärtigen Zustand der Nation und worin liegen die Hindernisse für die Konstituierung derselben begriffen? Für kein Volk der Erde sei die Herstellung von nationaler Einheit dringlicher als in Argentinien (Sarmiento 1853a: 80). Der aktuelle Zustand Argentiniens sei wenig erfreulich: „[…] la vida, la propiedad, la honra, la libertad, hasta los gustos, las opiniones, los colores mismos han permanecido librados á caprichos sangrientos.“ (Sarmiento 1853a: 88). Drei Hindernisse gelte es zu beseitigen, damit sich die Nation einen kann: das Problem der zu geringen Bevölkerungszahl, die Distanzen zwischen den Provinzen sowie das Problem, dass überall in Argentinien Menschen ohne Prinzipien und Tugenden die Macht ergreifen. Zunächst verortet Sarmiento (1853a) die Wurzel der Probleme Argentiniens in der Herrschaft unter Rosas: „La tiranía argentina tuvo la triste gloria de cobrar fama universal, llamando la atención del mundo entero. Sus obras, empero, están ahí ; ruinas, despoblación, miseria, odios, desmoralización é ignorancia. Nada más ha dejado.“ (Sarmiento 1853a: 111). Die geringe Bevölkerungszahl sowie der moralische Zustand der Bevölkerung seien auf die Zeit der Tyrannei zurückzuführen. Die fehlerhafte Einwanderungspolitik sei aber bereits in der Kolonialzeit angelegt gewesen. Denn die spanische Doktrin der Homogenität von ‚Rasse‘ und religiösem Glauben („un sistema de ideas de homogeneidad de raza y de creencias“ (Sarmiento 1853a: 127)) habe die Gruppe der potenziellen Zuwanderer auf Spanien beschränkt und da-
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durch klein gehalten. Dabei wäre Argentiniens Land und Boden reich an Schätzen. (Sarmiento 1853a: 127) „El sistema de colonización, á cuya acción por tres siglos deben su origen los Estados americanos del habla española, ha dejado errores que propenden á perpetuarse, leyes que es preciso derogar de un golpe, y tradiciones que, á dejarlas obrar, traerían los más funestos resultados. La España cerró sus colonias á todos los hombres de otra estirpe, idioma y creencia que la suya propia, de donde resultaba un sistema de instituciones exclusivas y prohibitorias que conculcaban todos los principios de libertad de acción y de pensamiento, sin los cuales la población del territorio es imposible, el gobierno una tutela ó una tiranía, y la pobreza, debilidad, y por tanto la inferioridad como nación, un Estado permanente y crónico.“ (Sarmiento 1853a: 77)
Bei Sarmiento (1853a) sind Bevölkerungswachstum und Wohlstand der Nation unmittelbar miteinander verbunden. Ein Bevölkerungsrückgang führe umgekehrt in den Zustand der Barbarei. „Todos los pueblos colonizadores que se han desviado de este sistema han tocado á poco en inconvenientes, que en algunas partes han producido no sólo la despoblación y la barbarie, sino que han parado en verdaderos desastres. Tales son los ocurridos en las pampas argentinas y en el cabo de Buena Esperanza.“ (Sarmiento 1853a: 178)
Die Faktoren, die für das Fehlen der Nation in Argentinien verantwortlich sind, macht Sarmiento (1853a) zum einen in den Leyes de Indias und ihren restriktiven Vorgaben aus, was einen raschen Bevölkerungszuwachs verhinderte. Darüber hinaus habe Argentinien in den Unabhängigkeitskriegen weit höhere Opferzahlen und Vermögensverluste zu verzeichnen gehabt als andere Regionen Amerikas. Schließlich sei Argentinien Opfer eines halben Jahrhunderts an Bürgerkriegen, die jedes Vertrauen in Moral, Sicherheit des Lebens und des Eigentums erschüttert hätten. Die Kriege mit den Nachbarstaaten hätten die Wirtschaft weiter geschwächt. Dass Bevölkerungswachstum zu nationalem Wachstum führt, betont Sarmiento (1853a) mehrfach. Worin besteht aber der Zusammenhang zwischen nationalem Wachstum und dem Ende der Gewalt und der internen Konflikte? Laut Sarmiento (1853a) führen sogenannte intereses comprometidos zu Ordnung und Frieden. Ist das Land gut besiedelt und floriert die industria, so bilden die Menschen einander vereinende Interessen aus. „Todos los pueblos marchan en esta vía. El elemento del orden de un país no es la coerción : son los intereses comprometidos. La despoblación y la falta de industria prohijan las revueltas : poblad y cread intereses. Haced que el comercio penetre por todas partes, que mil empresas se inicien, que millones de capitales estén esperando sus productos, y crearéis un millón de sostenedores del orden... Las preocupaciones populares pueden ser modificadas y dirigidas... Infundid á los pueblos del Río de la Plata que están destinados á ser una grande nación, que es argentino el hombre que llega á sus playas ; que su patria es de todos los hombres de la tierra, que un porvenir próximo va á cambiar su suerte actual, y á merced de estas ideas, esos pueblos marcharán gustosos por la vía que se les señale, y doscientos mil emigrantes introducidos en el país, y algunos trabajo preparatorios, darán asidero en pocos años á tan risueñas esperanzas. [Kursivierungen im Original]“ (Sarmiento 1853a: 79)
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Daraus folgt, dass die Hauptaufgabe der Gesetzgeber ist, Landbesitzer für unbestellte Gebiete zu finden: „El deber de los legisladores es proveer á los medios de engrandecimiento y riqueza de los pueblos para quienes legislan, y el más sencillo que la época ofrece, es buscar poseedores para la tierra inculta.“ (Sarmiento 1853a: 128). Folgende Schritte sind diesbezüglich zu setzen: Zunächst müsse das argentinische Staatsgebiet definiert werden: „¿ Cuáles son las tierras de propiedad nacional ? La Constitución nada dice á este respecto.“ (Sarmiento 1853a: 172). Dann solle der Kongress Landstücke zum Verkauf anbieten. „En todas estas disposiciones, y otras que omitimos, la federación obra como distribuidora de la materia primera de la sociedad y de la propiedad, que es el suelo. Cuida de que haya para todos, evitando el proletariado hereditario […] y guarda ademas su parte de tierras á las generaciones sucesivas.“ (Sarmiento 1853a: 178)
Der ‚unbestellte‘, argentinische Boden wird von Sarmiento (1853a) als öffentliches Gut betrachtet. Eine nationale Regierung sei alleine schon aus diesem Grund wichtig, damit die Frage der Landverteilung geordnet, d.h. ausgehend von einem Zentrum, vonstattengehen kann. „2.° Que para remediar los males del desorden producido por el antiguo sistema de colonización, debe regir una legislación común á todas las tierras dependientes de un centro común, y sometidas á la dirección exlusiva del Congreso, á fin de que pueda hacer á las mismas provincias concesiones de terrenos, y evitar el desparpajo que el favor puede hacer de este tesoro común, y sólo útil por un prudente y económico manejo.“ (Sarmiento 1853a: 180)
Aus Sarmientos (1853a) Ausführungen bezüglich dessen, was zum argentinischen Staatsgebiet als öffentlichem Gut zählen soll, lässt sich schließen, dass er Gebiete von Indigenen, die zu jener Zeit noch nicht offiziell Teil des Staates waren, einschließt und kein Recht auf Landeigentum anerkennt. „I.° Que debe en principio aplicarse este nombre á todas las que pertenecían á la corona de España al tiempo de la emancipación de las colonias, adquiridas con la Independencia, por la sangre y el dinero de todos los argentinos, y por tanto propiedad común de la nación, aplicable al bien general, cualquiera que sea el punto del territorio en que estén ubicadas.“ (Sarmiento 1853a: 179, 180)
Sarmiento (1853a) beruft sich bei der Eingrenzung des argentinischen Territoriums grundsätzlich auf die Gebiete der spanischen Krone, die von den ‚Argentiniern‘ im Zuge der Unabhängigkeitskriege erobert wurden. Aus dem folgenden Zitat geht hervor, dass aber auch die noch nicht erschlossenen Gebiete laut Sarmiento (1853a) zur Souveränität Argentiniens zu zählen seien. Es handelt sich um die Gebiete im Norden und Süden des Landes, die von Indigenen (den sogenannten indígenas de frontera) besiedelt waren, offiziell aber nicht zum Staatsgebiet zählten. „Pueden, pues, definirse así las tierras de dominio nacional. I.° Las que existen incultas y sin título de propiedad en las provincias. 2.° Las que se extienden al Sur de Buenos Aires, Córdoba y Mendoza hasta el Río Negro. 3.° La Patagonia, cuya soberanía pertenece á la República Ar-
312 | F REIHEIT UND N ATION gentina. 4.° Los territorios comprendidos bajo el nombre general del Gran Chaco.“ (Sarmiento 1853a: 180, 181)
Vom Gelingen der Bevölkerungspolitik und der Landverteilung hänge die Zukunft der Nation ab: „De las leyes, pues, que el Congreso dicte á este respecto depende el porvenir, la tranquilidad y el engrandecimiento de la Confederación. Pueden á su impulsión brotar nuevas Provincias ; pueden extenderse á mayor escala las causas de miseria, de despoblación, de ignorancia y disolución que labran hoy las entrañas de la parte ya poblada.“ (Sarmiento 1853a: 181)
Zum zweiten genannten Hindernis ist zu sagen, dass die Provinzen sich aus Sicht Sarmientos (1853a) selbst geschadet haben, in dem sie ihren gegenseitigen Austausch in Form von Monopolen, Steuern und Verboten erschwert haben. „Y todo esto era requerido por la loca pretensión de constituir gobiernos separados é independientes, por la necesidad de expoliaciones de los Régulos inmorales y la impotencia de los pueblos para resistirlos, á causa de su aislamiento.“ (Sarmiento 1853a: 83). Auch hier gilt, dass nur die geeinte Nation den Aufbau von entsprechenden Transport- und Kommunikationswegen schaffen kann: „La República Argentina, para vergüenza de sus gobiernos y castigo de sus propias faltas, es el único Estado civilizado del mundo que carezca de servicios públicos, y de obras para asegurar el bienestar general. Ni un puente, ni un acueducto, ni un camino, ni un muelle, ni un edificio llevan, en toda la extensión de aquel país, ni el sello de la previsión, ni el nombre del Estado. Hay dos dilatadas fronteras, sin un sistema común de defensa, como no hay correo en el interior, como no hay cosa que acredite la existencia de una nación. [...] el Gobierno Nacional daráles lo que les falta, medios de comunicación entre ellas, y fronteras aseguradas.“ (Sarmiento 1853a: 109)
Welchen Lösungsweg schlägt Sarmiento (1853a) für dieses Problem, abgesehen von den erwähnten Maßnahmen der Abschaffung von Binnenzöllen und der freien Flussschifffahrt, vor? Vor allem der Aufbau und die Reform des Postwesens könne Abhilfe schaffen, so Sarmiento (1853a). „La institución del correo es uno de los poderosos agentes de la civilización moderna ; ellos llevan la vida y el movimiento á los ángulos más apartados de un Estado ; por ellos el pensamiento, los hechos, las ideas, los datos que interesan á la comunidad se difunden, haciendo partícipes de su conocimiento á los individuos de una nación, y confundiendo en un solo interés y en una sola familia á todos los pueblos de la tierra.“ (Sarmiento 1853a: 192)
Die Post sei nicht nur ein Mittel, um die Nationsangehörigen miteinander zu verbinden und ein sie einendes Interesse auszubilden, sondern auch eine Institution der Freiheit, des Gewissens und des öffentlichen Vertrauens80. Sind die Individuen von80 „El correo es, pues, una institución de libertad, de conciencia y de fe pública, y estas bases son requisitos hasta para los asuntos puramente de negocios. Su falta reacciona sorda, pero infaliblemente, sobre los pueblos en masa ; creando costumbres de reserva, de incomuni-
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einander abgeschirmt und haben sie keine Möglichkeit zur Kommunikation, so schlage sich die dadurch hervorgerufene wirtschaftsfeindliche Haltung im Charakter und den Sitten nieder. Das Technikvertrauen Sarmientos (1853a) ist so stark ausgeprägt, dass er sicher ist, die Hälfte des infolge der Kriege verlorenen Vermögens hätte mithilfe eines intakten Postwesens wiedererlangt werden können, wäre nicht das Rosas-Regime dazwischen gekommen (Sarmiento 1853a: 193). Es sei zynisch, dass Rosas das öffentliche Vertrauen nach 300 Jahren Sicherheit und Respektierung des Briefgeheimnisses, das mittels Ley de Indias 1550 garantiert wurde, erschütterte, gerade so, als hätte sich die Gesellschaft zurückentwickelt (Sarmiento 1853a: 195). Die Post sei als Bereich der Staatsgewalt (in Verantwortung der Verwaltung) zu sehen und sei äußerst bedeutend für den Wohlstand der Nation, eine gute Verwaltungspraxis und die Freiheit der Staatsbürger (Sarmiento 1853a: 194). „Todo está por fundarse aquí, y el correo tiene para hacerse una institución próspera, y proveer de una renta para el sostén del gobierno general, que pasar por grandes reformas, atraer más la atención de los hombres públicos, sacarse de la condición servil en que yace su administración, y elevándola en la jerarquía social, reaccionar sobre la desconfianza pública, que lo ha hecho un vehículo infiel y traidor para quienes le confían sus intereses ó ideas, y un servidor tardío y sujeto al capricho de las cavilosidades de una política inmoral y arbitaria.“ (Sarmiento 1853a: 194)
Damit sind wir beim Thema des dritten angekündigten Hindernisses für die Nationenbildung angelangt: der Moral und Tugenden der Machtinhaber, aber auch des Volkes. „¡ Cuántos crímenes, si la conciencia pública hubiese estado más preparada para distinguir lo que era lícito hacer, de lo que entra en el dominio del crimen, ya sea pueblo, legislatura ó gobernante quien lo ejecuta !“ (Sarmiento 1853a: 120). Die Erklärung der Grundrechte in der Verfassung sei angesichts dessen besonders wichtig für Argentinien, einem Land, das während der Kolonialzeit zu Unterwürfigkeit erzogen worden sei und das gegen die ungezähmten Instinkte, Leidenschaften und Traditionen seiner Ahnen versuche, Freiheit und Wohlstand nach dem Vorbild der USA zu etablieren (Sarmiento 1853a: 119). Denn die Grundrechtserklärung begrenze nicht nur die Sphäre der öffentlichen Institutionen, sondern leiste einen Beitrag zur Bildung des Gewissens und der moralischen Erziehung des Individuums: „La declaración de derechos tiene, pues, no sólo por objeto poner coto á los desbordes de los poderes públicos, sino educar y edificar la conciencia individual, señalar límites á la voluntad, al ardor, á la abnegación y aun al odio de los partidos, mostrándoles lo que no se debe, ni puede sin crimen desear, querer, pedir ó ejecutar.“ (Sarmiento 1853a: 119)
Ein weiterer lobenswerter und fortschrittlicher Abschnitt der Verfassung, weil er der Erziehung und Bildung des Volkes diene, sei jener zur kostenlosen Schulbildung81. cación, que al fin afectan al carácter de los individuos, y se arraigan en las costumbres.“ (Sarmiento 1853a: 193). 81 „‚Educación gratuita‘ Esta es una de las más bellas prescripciones de la Constitución y con la que se ha puesto de un golpe á la altura de su época. [Anführungszeichen im Original]“ (Sarmiento 1853a: 237).
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Die Bedeutung des Abschnitts erwachse daraus, dass das Volk nicht für die perfekten Institutionen, die die Verfassung vorsieht, vorbereitet sei. „Si hubiésemos de juzgar por ciertos hechos de la República Argentina, diríamos que esos pueblos no están preparados sino para degollar, robar, haraganear, devastar y destruir.“ (Sarmiento 1853a: 35). Die grundsätzliche Fähigkeit, das Zusammenspiel der Institutionen zu verstehen, sei aber im argentinischen Staatsvolk nicht weniger ausgeprägt als in anderen amerikanischen Ländern. Die Verfassung sei überdies kein Verhaltenskodex für alle Menschen, denn die Bevölkerungsmassen hielten sich diesbezüglich an einfache Gesetze, Richter, die diese anwenden und die Sicherheitspolizei. (Sarmiento 1853a: 35, 36) „Son las clases educadas las que necesitan una Constitución que asegure las libertades de acción y de pensamiento: la prensa, la tribuna, la propiedad, etc., y no es difícil que éstas comprendan el juego de las instituciones que adoptan. Para el ejercicio de una Constitución cualquiera, no hay sino dos personajes de por medio : el mandatario y el ciudadano ; los dos aptísimos para instruirse, y saber si está ó no en los términos de la Constitución el intento sostenido por cada uno.“ (Sarmiento 1853a: 36)
Sarmiento (1853a) lässt hier anklingen, dass er das ungebildete Staatsvolk grundsätzlich nicht als Hemmschuh für die Nation betrachtet. Bedeutet aber seine Differenzierung von ungebildetem und gebildetem Staatsvolk nun, dass nur letztere das Recht auf Pressefreiheit, Eigentum, etc. verstehen und für sich in Anspruch nehmen können, es ‚benötigen‘, wie es im Zitat heißt? Ist nur die gebildete Elite als Staatsbürger, d.h. als jener Teil des Staatsvolks, das volle Rechte und Pflichten genießt, vorgesehen? Der Text lässt diesen Schluss nicht zu. Welche weiteren Maßnahmen sind laut Sarmiento (1853a) zu treffen, um die nationale Einigung voranzutreiben? Die Justiz solle auf nationaler Ebene organisiert werden, nationale Gerichtshöfe sollten eingerichtet werden und könnten durch ihr Netz, das das gesamte Staatsgebiet umspannt, zur Bildung von Verbundenheit und Abhängigkeit einzelner Gebiete untereinander beitragen, v.a. in Provinzen, die für sich Souveränität einfordern. (Sarmiento 1853a: 96) Ein Netzwerk aus nationalen Richtern und Gerichtshöfen bei Gewaltenteilung und Unabhängigkeit der Justiz ist für Sarmiento (1853a) demnach ein Mittel zur Herstellung von Verbundenheit in der Nation. „En un país como el nuestro, que sale del reino desenfrenado de la violencia y de la fuerza brutal, es preciso levantar muy alto por todas partes el pendón de la justicia y del derecho. Así la Constitución Argentina ha establecido en los tribunales de justicia un poder superior á todos los otros poderes, en cuanto ellos son en definitiva los intérpretes de la Constitución, y, por tanto, los jueces que han de resolver todas las cuestiones de derecho y de hecho que del ejercicio de aquéllas emanan ; y este es un punto capital para que lo dejemos pasar inapercibido. La teoría es sencillísima. El poder judicial es independiente de los otros poderes y coexistente con ellos.“ (Sarmiento 1853a: 98)
Die bisherige Praxis sei weit von diesem Ideal entfernt. Gerichtshöfe würden sich als Ausführungsorgane der Provinzgouverneure verstehen; Gewalt und Einschüchterung vonseiten offizieller Einrichtungen stünden an der Tagesordnung.
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„El hecho práctico, empero, es hasta hoy que las legislaturas y aun los tribunales de justicia en muchas de ellas han sido simples oficinas de autorización y refrendación de los mandatos de los jefes de provincia, no escaseando los actos de violencia pública y notoria, la intimidación y aún las órdenes expresas, cuando han mostrado aquellos poderes disposiciones de obrar en la esfera de sus atribuciones.“ (Sarmiento 1853a: 103, 104)
Analog zur Justiz solle auch die nationale Regierung für die Bevölkerung gut sichtbar im gesamten Staatsgebiet vertreten sein. Dies sei dadurch zu erreichen, dass ihre Vertretungen unmittelbar neben den Gebäuden der Provinzexekutive angesiedelt sind82. Schließlich äußert sich Sarmiento (1853a) zur Frage nach dem Verhältnis zwischen Buenos Aires und den restlichen Provinzen des Landes als einem der Aspekte, die für die Einigung der Nation von großer Bedeutung sind. Aus Sicht von Buenos Aires sei der Hinderungsgrund für die Vereinigung Urquiza, der Erinnerungen an die Zeit der Tyrannei wecke und zur Selbstabschaffung der Provinz führe. Aus Sicht der restlichen Provinzen sei Urquiza Hoffnungsträger für die Nation: „Así la cuestion de organización se encarna en un hombre propio, y á sostenerlo ó eliminarlo se consagrarán todas las fuerzas en pugna.“ (Sarmiento 1853a: 40). Sarmiento (1853a) plädiert für die nationale Einigung mit Buenos Aires als Hauptstadt, denn es habe die großen Momente der Nation finanziell getragen und Argentinien stets repräsentiert. „Buenos Aires, además, se ha habituado á vivir en todos tiempos de sí mismo, y á hacer la representación de la nacionalidad argentina con sus propios fondos, entrando en ellos los de aduana. No discutimos teorías, sino que presentamos hechos. Los ejércitos de la Independencia, excepto el de San Martín, fueron todos sostenidos y pagados por Buenos Aires. La guerra del Brasil la sostuvo él solo, y á la de Montevideo, tan ruinosa, las provincias no contribuyeron sino con autorizaciones para hacerla. Creemos que desde 1810 adelante Buenos Aires no ha pedido jamás á las provincias dinero para hacer los gastos nacionales. Desde 1823 adelante, había la costumbre de autorizarlo á recibir embajadores y representar el nombre argentino. [Kursivierung im Original]“ (Sarmiento 1853a: 43, 44)
Schließlich sei ein Kompromiss zwischen Buenos Aires und den restlichen Provinzen zu finden, denn die nationale Einigung entspräche dem Willen hunderter Argentinier. „Mientras la desesperanza tarda en dar sus consejos, hemos querido en el siguiente trabajo mostrar á Buenos Aires y á las provincias que en la Constitución dada en Santa Fe hay elementos de organización que pueden ser fecundados, si de una parte se depone la exageración de la repulsa, y de la otra la exageración de la compulsión. [...] Terminaremos estas indicaciones reproduciendo el voto de centenares de argentinos, emitido hace ya un año.“ (Sarmiento 1853a: 46)
Der Begriff Confederación Argentina, der in der Verfassung von 1853 für den argentinischen Staat verwendet wird, sei völlig unpassend und irreführend. Zunächst hand82 „[…] es preciso que se le vea, que obre por todas partes en la esfera de sus atribuciones ; y que el pueblo que lo sostiene y nombra, le obedezca en cambio de la segura protección que le presta.“ (Sarmiento 1853a: 282).
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le es sich gemäß Verfassung um keine Konföderation, sondern eine Föderation, denn die Verfassung zeuge ja bereits davon, dass es um keinen losen Staatenbund auf Vertragsbasis gehe und sie geradezu im Gegensatz zum Pakt von San Nicolás 1831 stehe. Die Bezeichnung stamme darüber hinaus aus der Epoche der Tyrannei unter Rosas, traf schon damals nicht auf die tatsächlich existierende Staatsform zu und wecke Erinnerungen an ein System, dem die neue politische Ordnung gerade nicht ähneln soll. (Sarmiento 1853a: 62, 64, 65, 68, 69) „La Confederación es una época de terror y de iniquidades, que debiera quedar aislada y solitaria en nuestra historia, como aquellos monumentos fúnebres que conmemoran calamidades públicas. ¡Pero dar al Tirano la gloria de imponerle al país que cubrió de sangre y de crímenes, nombre perdurable, y este nombre ser además una falsificación y un contrasentido! ¿Por qué no llamarnos, como en la Acta de la Independencia, Las Provincias Unidas del Río de la Plata, traducción de los Estados Unidos del Norte de América?“ (Sarmiento 1853a: 71)
Sarmientos (1853a) Gegenvorschlag lautet analog zu den USA Provincias Unidas del Río de la Plata, eine Bezeichnung, die sich schon in der Unabhängigkeitserklärung Argentiniens fand. Wie soll zusammenfassend die argentinische Nation nach Sarmiento (1853a) gestaltet sein? Wodurch charakterisiert sie sich (Kategorie C1)? Sarmientos (1853a) Provincias Unidas del Río de la Plata orientieren sich am Vorbild der USA und sind eine föderale Republik mit der Hauptstadt Buenos Aires. Diese Staatsform sei ein Geschenk Gottes und die einzige Organisationsform, in der untrennbar die Ideen der Freiheit, des Wohlstands, der Bildung und Erziehung des Individuums, des raschen Wachstums, der Macht und des sozialen Friedens miteinander verbunden seien. (Sarmiento 1853a: 122) Landverteilung, Freiheitsrechte für Einwanderer, Postwesen, Nationalisierung der Zolleinnahmen, freie Flussschifffahrt, die Grundrechte der Verfassung zur Erziehung des Volkes, kostenlose Schulbildung – all das könne nur in der geeinten Nation gewährleistet werden. Wen sieht Sarmiento (1853a) in seinen Comentarios de la Constitución als Souverän (Nation, Staat, Staatsvolk, etc.) vor? Sarmiento (1853a) spricht sich für Volkssouveränität bei Gleichheit vor dem Recht aus. „La igualdad de derechos en la cosa pública es la condición esencial de esta asociación ; y el ejercicio absoluto del derecho de gobernarse á sí misma, que es asegurar sus vidas, propiedades y propender á su mayor felicidad, se llama soberanía. [Kursivierung im Original]“ (Sarmiento 1853a: 121)
Und doch gibt Sarmiento (1853a) zu bedenken, dass ein Teil der Bevölkerung bislang freiwillig auf politische Partizipation verzichtet habe. Ein weiterer Teil des Volkes könne öffentliche Angelegenheiten nicht verstehen und sich nicht für eine geregelte und friedliche Ordnung einsetzen. Dennoch seien im Laufe der bewegten Geschichte des unabhängigen Landes die Voraussetzungen für das Wahlrecht, etwa das Alter betreffend, zunehmend abgebaut worden. Es sei zu beobachten, dass die Wahlbeteiligung steigt, sobald Freiheit gewährt wird und Zwangsmittel abgebaut werden.
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„Dejamos á un lado que una buena porción de los vecinos huía de tomar parte en las agitaciones políticas, haciéndose un honor de su alejamiento voluntario de ellas. Sucede otro tanto y más aun con las masas populares, incapaces de ordinario de comprender los intereses públicos, ni de aficionarse por su gestión regular y pacífica. La serie de trastornos por que ha pasado el país ; la íntima dependencia en que la fortuna, la vida, el reposo se han encontrado en los vaivenes políticos, han aumentado y aumentarán en lo sucesivo la solicitud de los vecinos, sin distinción de edad ni condiciones, para ocuparse de lo que prepara ó aleja las calamidades de que luego son víctimas. Dondequiera que la coerción ha cesado, se ha visto al pueblo acudir presuroso á los comicios electorales. Hase visto más y es acudir cuando había plena libertad, y alejarse de ellos cuando la antigua coerción se reproducía ; sin que falte ejemplo de que la intimidación haya sido vencida en despecho de sus amenazas.“ (Sarmiento 1853a: 200)
Das Volk der heutigen Föderation, wie Sarmiento (1853a) sie nennt, war über vierzig Jahre lang weder geeint, noch wirklich getrennt, es habe unter den verschiedensten Regimen gelitten, ohne deren Vorteile zu genießen. Es kenne die Vorzüge von Freiheit nicht und wisse nicht, worin deren Wesen bestehe. (Sarmiento 1853a: 80, 111) Könnten auch Institutionen das öffentliche Leben nicht letztgültig zum Besseren formen, so seien die Auswirkungen noch schlimmer, gäbe es sie nicht. Um weitere Bürgerkriege zu vermeiden, müsse ein System etabliert werden, das Freiheit abzusichern imstande ist. „La vida pública no la forman tanto las instituciones como los males que su falta hace sufrir. Todos los pueblos libres de los tiempos modernos han gemido bajo las más desordenadas tiranías ; y las guerras civiles, que terminan por el despotismo, no son tan definitivas como las que afianzan la libertad.“ (Sarmiento 1853a: 200)
Dies erklärt, weshalb sich Sarmiento (1853a) bei allen Vorbehalten gegenüber den ungebildeten Massen für Volkssouveränität ausspricht. Wen er vom Recht auf Freiheit im Staat implizit, etwa bezüglich Gender, ausschließt, kann aufgrund des Textes nicht beantwortet werden. In Bezug auf die indigene Bevölkerung konnte zwar keine Textstelle gefunden werden, in der er sie vom Recht auf Freiheit im Staat ausschließt, doch sieht Sarmiento (1853a) im Bereich der Freiheit vom Staat keine Religionsfreiheit für Indigene vor (Kategorie B2). Im Gegensatz zu den zukünftigen Immigranten, für die das Recht auf Religionsfreiheit gelten soll, befürwortet Sarmiento (1853a) die Christianisierung von Indigenen; paradoxerweise mit der Verpflichtung des Staates zur finanziellen Unterstützung der römisch-katholischen Kirche: „Por la atribución 15, corresponde al Congreso promover la reducción de los indios al catolicismo. Esta atribución está conforme con la disposición fundamental que declara obligación del gobierno federal sostener el culto católico.“ (Sarmiento 1853a: 133). Er sieht darin keinen Widerspruch begriffen: „¿ Es constitucional el ejercicio de las misiones entre los salvajes ? y nuestro juicio es que sí, porque está en armonía con los dictados generales de la Constitución que sostiene un culto, pero no pone embarazo á otros.“ (Sarmiento 1853a: 134). Indigene bezeichnet er als salvajes, die es zu zivilisieren gelte. Zur Zivilisierung in den Bereichen Kunst, Druck, Handel, Landwirtschaft, Häuslichkeit, etc. eigne sich der katholische Glaube sehr gut, wie an verschiedenen Orten der Welt zu beobachten wäre.
318 | F REIHEIT UND N ATION „Como acción civilizadora es eficacísima la de estas misiones, apoyadas en el concurso de sociedades poderosas que las sostienen, y sirviéndose como medio de acción de las artes, la imprenta, el comercio, la agricultura, y los goces de la vida doméstica que enseñan á los salvajes.“ (Sarmiento 1853a: 133)
Das Recht auf Eigentum und Boden der indígenas de frontera wird, wie oben thematisiert, nicht anerkannt. Sarmiento (1853a) projiziert die Existenz eines argentinischen Volkes in die Vergangenheit ab 1810 zurück, etwa wenn er jene, die die Unabhängigkeit von Spanien erkämpft hätten als argentinos83 bezeichnet. An anderer Stelle spricht Sarmiento (1853a) von der Notwendigkeit der „reconstrucción de una nueva sociedad argentina“ (Sarmiento 1853a: 45), die einen Widerspruch in sich trägt. Zum einen soll die argentinische Gesellschaft wiederaufgebaut werden, was bedeutet, dass sie bereits existiert hätte. Zum anderen soll es sich um eine neue Gesellschaft handeln. Ist die Nation, die Sarmiento (1853a) vorschwebt, nun eher der Staats- oder der Kulturnation (Kategorie C2) zuzuordnen? Dass Sarmiento (1853a) die Nation als Verfassungsstaat konzipiert, wird an vielen Stellen des Textes deutlich. „El resultado mostró la falacia de estas esperanzas. La representación nacional abrió sus sesiones, dictóse una Constitución y no se reunió por eso el virreinato en un cuerpo de nación. Reuniólo Rosas bajo su despotismo, teniendo por agentes naturales, aunque negado el hecho, á los capitanejos de provincia ; pero una tiranía no es una Constitución.“ (Sarmiento 1853a: 281)
Zwar gebe es auch andere Wege zur nationalen Einigung, wie etwa unter Rosas, doch führten diese zu Repression und Tyrannei. Eine Verfassung alleine bilde aber noch keine Nation, wie in den vorangegangenen Versuchen, eine Verfassung zu erlassen, deutlich wurde. Sarmiento (1853a) misst der Perfektion der Institutionen eine hohe Bedeutung für den Aufbau eines friedlichen, freiheitssichernden Systems zu. Aber führt dieses auch zum Zusammenhalt der Nationsangehörigen? Mehrere Stellen der Comentarios de la Constitución (1853a) deuten darauf hin. Etwa, wenn Sarmiento (1853a) die Auffassung vertritt, die Bürgerkriege könnten nur mithilfe der Verfassung überwunden werden, etwa durch Bestimmungen, die die Provinzen miteinander verbinden und deren Souveränitätsbestrebungen schwächen (Postwesen und Kommunikationswege, gemeinsamer Zoll, nationale Justiz, etc.) oder wenn er meint, die dargestellten Verfassungsbestimmungen führten zu größerem Wohlstand und Frieden und förderten dadurch die Ausbildung eines die Nationsangehörigen einenden Interesses oder die Sichtbarkeit nationaler Institutionen wie der Gerichtshöfe oder der Repräsentationen der Nationalregierung in den Provinzen, die zu Gehorsam und Zusammenhalt führen soll, ganz zu schweigen von dem erzieherischen Effekt der Verfassung auf die Ausbildung von Freiheitsliebe. Zum anderen sind den Comentarios de la Constitución (1853a) aber auch Elemente der Kulturnation zu entnehmen, v.a. was das Thema Ethnizität betrifft. Indigene müssten erst durch Christianisierung von ‚wilden‘ zu ‚zivilisierten‘ Menschen gemacht werden, ihnen kommt kein Recht auf Religionsfreiheit zu. Sie sollen in 83 Dass nicht einmal der Begriff ‚argentinos‘ für die Gesamtbevölkerung der damaligen Gebiete in Verwendung war, wurde in der Einleitung angesprochen.
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sämtlichen kulturellen Bereichen angepasst werden. Ist hier auch die Möglichkeit vorgezeichnet, Indigene in die Nation durch Missionierung und kulturelle Assimilierung aufzunehmen und kein definitiver Ausschluss von Indigenen aufgrund genetischer Merkmale vorgesehen, so ist doch im Umkehrschluss daraus abzulesen, dass die Gemeinschaft an Nationsangehörigen bestimmte kulturelle Merkmale aufweist, die sie von Nicht-Angehörigen abgrenzt. Ob der vorläufige Ausschluss aus der nationalen Gemeinschaft auch einen Ausschluss von der Staatsbürgerschaft bedeutet, wird in den Comentarios de la Constitución (1853a) nicht deutlich. Eine Ausnahme davon bildet die Gruppe der Immigranten, denen ausdrücklich gleiche Rechte wie den argentinischen Staatsbürgern bei Religionsfreiheit zukommen sollen. Freiheit und Nation In welchem Verhältnis stehen also Freiheit und Nation in Sarmientos (1853a) Comentarios de la Constitución? Ohne geeinte Nation kann es laut Sarmiento (1853a) keine dauerhafte Freiheit geben. Die vereinzelten Provinzen hätten es in über vierzig Jahren nicht geschafft, die natürliche Freiheit des Menschen zu garantieren. „Ninguna provincia en el espacio de cuarenta años ha podido conservar ninguna de las libertades naturales, y toda nuestra historia muestra que ellas per se y aisladamente son incapaces de garantir sus propias libertades, habiendo, por el contrario, caído bajo la tutela de un gobierno general que por falta de bases discutidas, y poniendo en conflicto unas provincias con otras, logró imponerles una voluntad y acción que no emanaba de ellas mismas. [Kursivierung im Original]“ (Sarmiento 1853a: 114)
Die Nation könne hingegen an sich bereits Schutz für die Provinzen bieten. Denn eine geregelte Ordnung der Nation wirke bis in die entlegensten Gebiete ihres Territoriums. „La organización general es por sí sola un amparo á las libertades provinciales ; pues así como la tiranía general sofocaba la libertad que hubiera querido manifestarse parcialmente, así un orden regular de cosas en los negocios generales, lleva su benéfica influencia á todos los extremos.“ (Sarmiento 1853a: 199)
Demnach führe die Nation zu Freiheit. Aber die Bildung einer Einheit alleine könne Freiheit nicht dauerhaft sichern. Dies könne nur im Rahmen des Verfassungsstaats erfolgen, der Freiheit für ‚uns‘, ‚unsere Nachfahren‘ sowie Einwanderer aus der gesamten Erde garantiert. „Un gobierno general, pues, y la Constitución que lo asegura deben preocuparse de asegurar los beneficios de la libertad, no sólo para nosotros, sino para nuestros hijos, y los hombres del mundo que quieran habitar nuestro suelo.“ (Sarmiento 1853a: 113)
Freiheit an seine Nachkommen weitergeben zu können, sei das beste und produktivste Erbe, das den nachfolgenden Generationen mitgegeben werden kann (Sarmiento 1853a: 112). Der Mensch sei ein komplexes Wesen, das den unveränderlichen Gesetzen des Rechts, des Fortschritts und der Schönheit gehorche. Es sei daher angebracht, die Gesellschaft nun in den Rahmen der Verfassung zu heben. (Sarmiento 1853a:
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107) Die Justiz, die es auch bereits zuvor gab, reiche dazu nicht aus, da ihr bislang die Absicherung durch die Verfassung gefehlt habe: „[…] ya de dar seguridad á la administración de justicia, ya de fundar el edificio de poder que debe ejercerla ; pues si bien la justicia ha existido antes entre nosostros, como en todos los países, el establecimiento del poder es lo que incumbe sólo á la Constitución.“ (Sarmiento 1853a: 87)
Die Verfassung bilde das geeignete Fundament politischer Macht, um Freiheit zu sichern. Es handelt sich dabei, wie oben dargestellt, um Freiheit vom Staat genauso wie Freiheit im Staat. Die Souveränität gehe vom Volk aus. (Kategorien D3, D4) Dies seien die Bedingungen für Wohlstand und Fortschritt (Sarmiento 1853a: 97). Die Garantie von Religionsfreiheit erscheint Sarmiento (1853a) nicht im Widerspruch mit der verfassungsrechtlichen Bestimmung, Indigene zu christianisieren. Der Rechtsstatus von Indigenen bleibt so im Dunkeln. Den indígenas de frontera scheint jedenfalls kein status subjectionis zuzukommen, um deren Gebiete es sich schließlich handelt, wenn Sarmiento (1853a) von ‚unbestelltem‘ Land für Landverteilungsmaßnahmen spricht. Zugleich erscheinen einzelne Freiheitsrechte wiederum als Bedingung dafür, dass die Konstituierung der Nation funktionieren kann. Zu nennen wären hier wirtschaftliche Freiheiten, die zum Abbau der Antagonismen zwischen den Provinzen führen sollen oder der freie Briefverkehr mittels eines entsprechenden Postwesens, das für die Einhaltung des Postgeheimnisses garantiert. Die Verfassung von 1853 müsse überarbeitet werden, damit sie die Einigung der Nation und die Sicherung von Freiheit fördern kann: „Y la revisión de la Constitución es el arca de alianza que salva del naufragio á donde marcha fatalmente la República. Por la revisión, las provincias continúan constituídas. Por la revisión, Buenos Aires puede aceptar como antecedente y base de una nueva discusión la obra ya consumada. Por la revisión, se subsanan los vicios de ilegitimidad que tuvo la Constitución por base. Por la revisión, se constituye el poder federal, anulado en la presente Constitución. Por la revisión, se convoca un verdadero y legítimo Congreso Constituyente, en proporción de la población, y no en conformidad á miras torcidas y amaños de la política, causa de la división actual.“ (Sarmiento 1853a: 290)
Nicht aber eine Orientierung an den necesidades del país, die bei Alberdi (1852) und Echeverría (1837) im Vordergrund stehen, weise den Weg zur geeigneten Verfassung, sondern die Orientierung an den fortschrittlichen und vorbildhaften USA. Die USA hätten nicht nur entsprechende Erfahrung, die Autorität ihrer Gerichtshöfe und die bedeutendsten Juristen vorzuweisen, sondern auch das zivilisatorisch am weitesten fortgeschrittene Volk, das für das Glück der größten Zahl sorge (Sarmiento 1853a: 60). Die Verfassung von 1853 habe gut daran getan, sich auf erprobte Praktiken zu stützen84. Argentinien solle den USA nicht nur in Regierungsform und Ver84 „El Congreso ha dado, pues, una Constitución y una jurisprudencia ; instituciones nuevas, apoyadas en una práctica antigua. Esto es grande y nuevo en los fastos constitucionales.“ (Sarmiento 1853a: 60).
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fassungstext folgen, sondern auch in den praktischen Maßnahmen, wie Bevölkerungszuwachs und Wohlstand gefördert werden können, denn diese seien u.a. die Kräfte der Nation, solange sie von Freiheitsrechten getragen sind85. Die Bedrohungen, denen Argentinien ausgesetzt ist, kämen weniger von außen als vielmehr von innen und könnten durch die Verfassung abgewendet werden86. Werde Argentinien dennoch erneut von Europa bedroht, so sei dies nur ein weiteres Argument für die Orientierung an den USA, da die größtmögliche Ähnlichkeit zwischen den beiden Staaten eine Annäherung herbeiführen könnte, die für den gebotenen Schutz sorge. „Si nuestra constitución federal hubiese de ser la plácida aurora de la libertad, acompañada de la prosperidad y población rápida de nuestro suelo, acaso la semejanza de instituciones, la similitud de situaciones geográficas descollantes en ambos continentes, nos atraería desde luego las simpatías de la poderosa Unión norteamericana ; y á su sombra, cual aliados y socios en la gran causa de la libertad humana, ponernos á salvo de las complicaciones con la política europea, único punto de donde fuera permitido temer la necesidad de proveer á nuestra común defensa.“ (Sarmiento 1853a: 105, 106)
Abschließend soll ein Blick auf jene Passagen des Examen crítico (1853b) geworfen werden, die sich auf Freiheit und Nation beziehen. Es handelt sich um einen Text, in dem Sarmiento (1853b) den Verfassungsentwurf von Alberdi kritisiert. Examen crítico Der erste Vorwurf, den Sarmiento (1853b) Alberdi macht, bezieht sich auf dessen Aussage, dass sein Verfassungsentwurf von Originalität geprägt sei. In Wirklichkeit handle es sich um ein Plagiat von Gesetzestexten der USA87. Die einzig neue Stelle sei inakzeptabel: jener Abschnitt, in dem Alberdi die Exekutive zu Maßnahmen zur Förderung des Bevölkerungszuwachses per Verfassung verpflichten möchte: „‚Gobernar, ha dicho en otra parte, es poblar‘. Así, pues, uno de los grandes propósitos del proyecto del señor Alberdi, fué hacer del Ejecutivo un poblador, un creador de la riqueza. El mayor delito del Ejecutivo no será el peculado, la traición, el cohecho, sino no haber abierto un camino, ó haber estorbado la libertad de comercio. La idea, como se ve, es nueva y va al fondo de la cuestión. [Anführungszeichen im Original]“ (Sarmiento 1853b: 364)
85 „[…] en la aplicación de los medios prácticos de acrecentar rápidamente la población y la riqueza ; dos elementos de la fuerza y espectabilidad de las naciones, cuando son vivificados por la libertad, que despierta en el hombre la energía moral, intelectual y física, y por las garantías que son la salvaguardia de la propiedad y de la vida, que son como la causa y el efecto de la libertad.“ (Sarmiento 1853a: 78). 86 „El riesgo no nos viene, pues, de afuera, sino de los desmanes de nuestros gobiernos, y las precauciones, formalidades y sujeciones que la Constitución impone á esos gobiernos, son los mejores medios de proveer á la defensa común.“ (Sarmiento 1853a: 106). 87 „Ni las contó el señor Alberdi al copiarlas, al plagiarlas.“ (Sarmiento 1853b: 373).
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Es sei gleichzeitig die einzige Textstelle, für die der Anspruch zutreffe, die Verfassung den necesidades del país anzupassen. „Aquí está, pues, toda la innovación introducida por el señor Alberdi en el derecho constitucional sudamericano ‚para ser expresión leal de nuestras necesidades‘. Caminos, comercio, navegación, población, riqueza, tal es la misión del Poder Ejecutivo, y muy estrecha cuenta rendirá si retarda el desarrollo de esos beneficios. [Anführungszeichen im Original]“ (Sarmiento 1853b: 365)
Sarmiento (1853b) äußert starke Zweifel daran, dass das politische Ziel des Bevölkerungswachstums in geeigneter Form bestimmbar wäre, um daran die Verantwortlichkeit der Regierungstätigkeit zu messen. „¿ Cómo retarda la voluntad del Presidente el aumento de la población ? ¿ Cómo se determina tal delito ? ¿ Cómo se presenta la prueba ? Aumento es relativo á una cantidad conocida y el de la población determinada por el censo, obedece á leyes muy variables, independientes de la acción individual del señor presidente del señor Alberdi, aunque asuma las facultades de un rey. [Kursivierung im Original]“ (Sarmiento 1853b: 366)
Es sei zudem höchst bedenklich, ein politisches Ziel, das Gegenstand unterschiedlicher politischer Meinungen ist, in der Verfassung festzuschreiben und Abweichung davon als Delikt zu bewerten. „¡ Pero estorbar el aumento de la población ! ¡ omitir la construcción de vías ! ! Esto es exponerse que á cada cambio de presidencia que traiga al poder un partido contrario, se susciten acusaciones sobre todos los pretextos que la enemiga de los partidos pueda inventar.“ (Sarmiento 1853b: 367)
Sarmiento (1853b) wirft Alberdi vor, der Presse und ihrem Ruf nach Wirtschaftswachstum, Bildung, Einwanderung und freier Flussschifffahrt gefolgt zu sein und nun zu glauben, mittels einer Verpflichtung in der Verfassung Bevölkerungswachstum erzeugen und die Flüsse mit Schiffen übersäen zu können. (Sarmiento 1853b: 372) „Y para que el efecto fuese más rápido, dar al Poder Ejecutivo, que era todo el gobierno en tiempo de la tiranía de Rosas, ‚y se puede decir que es casi todo en estos países‘, más suelta, menos contrapesos, menos auxiliares, para que vaya derecho al objeto de construir caminos. En fin, y por todo, el gobierno es, según el invento del señor Alberdi, una oficina de puentes y calzadas. [Anführungszeichen im Original]“ (Sarmiento 1853: 372, 373)
Dass der Exekutive dazu mehr Macht eingeräumt werden soll, sei nicht gerechtfertigt, wie generell die Forderung Alberdis nach einem gobierno regular, also keiner Diktatur, aber doch einer Exekutive mit weitreichender Macht inklusive der Kontrolle der Einhaltung von Gesetzen und Verfassung. Alberdi rechtfertigt dies damit, dass brilliante Gesetze nicht weiterhelfen, wenn sie nicht beachtet werden. Sarmiento (1853b) entgegnet dem, dass die Verfassung dazu da sei, Regeln festzuschreiben und
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deren Überwachung nicht ausschließlich der Exekutive obliegen darf, da gerade in ihr die Gefahr des Missbrauchs gegeben ist. „Regular quiere decir sujeto á reglas, y estas reglas son las que contiene una Constitución. No es el Ejecutivo el solo llamado á defender, conservar el orden y la paz, como que la paz ni el orden no son precisamente efecto de la observancia de la Constitución y de las leyes por parte de los mandatarios. No hay leyes brillantes, calificación sin sentido en el caso presente, como la de ‚espiritual‘ en un caso parecido... El principal infractor de las leyes puede ser el Ejecutivo, donde á él solo se halla reducido el gobierno, y no es necesario suprimirlo, por nada más que por el justo temor de que infrinja las leyes, si no está limitado. [Kursivierungen und Anführungszeichen im Original]“ (Sarmiento 1853b: 359, 360)
Eine weitere Textstelle, in der Sarmiento (1853b) Alberdis Differenzierung zwischen Argentiniern und Einwanderern (extranjeros)88 mit dem Argument kritisiert, dass gerade diese Differenz aufgehoben werden soll und alle zur Nation zu zählen seien, ist hier bezüglich der Frage nach dem Wahlrecht erhellend. „Es cuestión ésta de pudor público y muy grave nacional y políticamente, según la desenvuelve el señor Alberdi. Su distinción entre nacionales y extranjeros, debió evitarla precisamente porque existe en América y debe borrarse. No debe haber dos naciones, sino la Nación Argentina ; no dos derechos, sino el derecho común. ‚Los extranjeros, dice el señor Alberdi, gozan de los derechos civiles y pueden comprar, locar, vender, ejercer industrias y profesiones‘ ; las mujeres argentinas se hallan en el mismo caso, como todos los argentinos y todos los seres humanos que no tienen voto en las elecciones. ¿ Para qué distinguirlos ? [Kursivierung und Anführungszeichen im Original]“ (Sarmiento 1853b: 351, 352)
Da heißt es, es sei nicht notwendig, extranjeros eigens zu nennen, da auch andere Gruppen von Argentinier/innen, die nicht wählen dürfen, nicht extra angeführt werden, so etwa Frauen. Wer außer Frauen und Immigranten noch zur Gruppe jener Nationsangehörigen gehört, denen das Wahlrecht verwehrt ist (und daher nicht zur Gruppe der Staatsbürger zu zählen sind), bleibt aber offen. Auch im Examen crítico betont Sarmiento (1853b), dass die nationale Einigung nur mithilfe der Verfassung zu erreichen sei. Sie müsse jedoch überarbeitet werden: „Una revisión de la Constitución puede ser el arco iris de la unión de esos pueblos divididos hoy, no por la Constitución, sino por los hombres que en importancia han querido asumir rango más alto que la Constitución misma.“ (Sarmiento 1853b: 331).
88 Alberdi (1858) hat Art. 21 den Rechten der extranjeros gewidmet, obwohl diese schon in Art. 16 ausdrücklich in die bürgerlichen Freiheiten einbezogen werden.
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J OSÉ M ÁRMOL Einordnung und Struktur des Werks Der mit 28 Seiten vergleichsweise kurze Text von José Mármol ist mit Consideraciones Políticas89 betitelt und wurde am 19. Oktober 1854 veröffentlicht, also in jenem Jahr, in dem Mármol das Amt des Senators übernahm (Reichardt 1992: 83; Fernández 1993: 158). Das Erscheinungsdatum des vorliegenden Textes ist zeitlich nach Inkrafttreten der Verfassungen der Confederación (1853) und der Provinz Buenos Aires (12. April 1854) anzusiedeln. Der Text ist um die Frage zentriert, wie mit der neuen Situation der gespaltenen Nation (Buenos Aires vs. die restlichen Provinzen) umgegangen werden soll. Für Mármol (1854) existieren drei Möglichkeiten, deren Erörterung er jeweils einen eigenen Abschnitt widmet: die Erklärung der Unabhängigkeit der Provinz Buenos Aires (Independencia de Buenos Aires), die Vereinigung mit den konföderalen Provinzen (Transacion [sic] con las provincias confederadas) sowie die Kriegserklärung (La guerra). Ohne sich auf eine der drei Möglichkeiten festlegen zu wollen, ist er strikt gegen die Erhaltung des status quo (Mármol 1854: 23). Auswertung der Kategorien in den Consideraciones Políticas gemäß Analyseschema 1 Freiheit Mármol (1854) äußert sich in seinen Consideraciones políticas nicht explizit zu einzelnen Freiheitsdimensionen. Als Staatsform befürwortet er als einziger der hier untersuchten fünf Autoren ein zentralistisches System und keine Synthese föderaler und unitarischer Ideen: „[…] puede decirse que la unidad política es la regla jeneral de la buena ecsistencia de los Estados […] Aun despojado de sus anteriores ecsajeraciones, el federalismo será siempre impotente para obrar el bien en este pais.90“ (Mármol 1854: 21). Zur Frage, wer Zugang zu den Freiheitsrechten erhalten soll (Kategorie B), finden sich keine Hinweise in den Consideraciones Políticas (1854). Nation Wie gestaltet sich die Frage der Nation aus der Sicht Mármols (1854) (Kategorie C1), worin sieht er die Ursachen für das Fehlen der geeinten Nation und was müsste getan werden, um diese aufbauen zu können? Mármol (1854) äußert sein Unverständnis dafür, dass sich nun nach Beendigung der Tyrannei, nun da die politischen Parteien zur friedvollen Verständigung zurückgekehrt sind und sich in allen ein Gefühl von Frieden verbreitet hat, der nächste kriegerische Konflikt – und er bezieht sich hier auf den Streit zwischen Buenos Aires und den restlichen Provinzen – abzeichnet.
89 Der Text lieferte 35 Belege gemäß Analyseschema 1. 90 Die Zitate aus den Consideraciones Políticas (1854) halten sich an die im Text verwendete Orthographie. Differenzen zur heutigen Schreibweise werden daher nicht mit [sic] gekennzeichnet.
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„¿Qué significa ese rumor de armas que se percibe á lo lejos, que se siente agudo y vibrante como los primeros truenos de una tempestad tropical, y que viene á repercutir en todos los hombres de este pais desafortunado sobre cuya frente parece que el destino ha escrito que viva como el yerbazo, juguete de las mareas y las olas de una revolucion que no tiene fin, porque nadie quiere acordarse de su principio? ¿Qué significan nuevas guerras civiles, hoy que los partidos políticos han caducado para la accion militante, que la tirania no tiene raices, y que el sentimiento de la paz domina en todos?“ (Mármol 1854: 4)
Den Grund allen Übels macht Mármol (1854) nicht in der Kolonialzeit, nicht in der moralischen Beschaffenheit oder im Bildungsgrad der argentinischen Bevölkerung und auch nicht in den häufig zitierten Antagonismen, seien sie wirtschaftlicher, regionaler oder politischer Natur, aus, sondern im Verhalten der Regierung. Zwar gebe es tief verwurzelte Ursachen für die argentinischen Konflikte, doch stünden der Regierung Wege und Mittel zur Verfügung, diese abzuschwächen und auszugleichen. Dazu seien Regierungsentscheidungen notwendig, die sich vermeintlich gegen das Volk richten, indem sie sich nicht der Meinung des besorgten Volkes unterwerfen. Die Verantwortung, wenn auch nicht für die Probleme Argentiniens, so doch für das Nichtlösen der Probleme macht Mármol (185) bei der Regierung fest. (Mármol 1854: 4, 5) „¿Qué y quienes han producido tal estado de cosas? Mas que los hombres, los acontecimientos que se desbordaron de una revolucion incompleta. Todos y nadie. ¿Pero alguien puede parar el progreso del mal? Hay á quien responsabilizar por no hacerlo? Sí ; á los gobiernos. A los gobiernos que, á pesar del pueblo, han debido trabajar por el pueblo; y que no se salvan de su responsabilidad con decir que se han hecho órgano de las ideas jenerales, porque hay algo mas que la opinion que debe ser consultada por los gobiernos [...]“ (Mármol 1854: 5, 6)
Es handle sich um nichts weniger als das größte Problem, das die Nation, die niemand respektiere und auch niemand wirklich verstehe, je zu lösen hatte: die Untätigkeit der Regierung angesichts der Trennung von Buenos Aires und den Provinzen (Mármol 1854: 6). „La política de abstencion, si alguna vez puede ser útil es cuando los intereses que se discuten y combaten son intereses de otros. Pero en asuntos propios no hay tal política de abstencion ; y si tal se ejecuta pasa á ser indiferentismo culpable, ó ineptitud.“ (Mármol 1854: 8)
Dieses Problem scheint ihm so gravierend, dass er es als tieferliegender und schlimmer bezeichnet als die Regierungszeit von Rosas. Letztere sei bei all den Verbrechen dennoch ein vorübergehender Zustand, der auf ein Individuum zurückgeführt werden kann, gewesen. Und obwohl diese Etappe ihre Spuren in der gesellschaftlichen Moral hinterlassen hätte, so könnten diese mithilfe der neuen Ordnung wiedergutgemacht werden. Das gegenwärtige Unglück Argentiniens setze sich in den Institutionen der neuen Ordnung fest und mache sich private Interessen, die Sorgen und den Rückstand des argentinischen Volkes zunutze. (Mármol 1854: 5-8) „Pero el mal presente se ahonda y echa raices, no en la índole y la naturaleza de gobiernos, no en la moral pública y privada susceptible de mejora mas ó menos lenta, ni en las pasiones rudas
326 | F REIHEIT UND N ATION del populacho, potro que la civilizacion y la libertad le doman luego: sino que se ahonda y echa raices en las instituciones y en los destinos permanentes de la República ; sirviéndose insensiblemente del interés privado y de las preocupaciones y atraso público para infiltrarse mas y relajar mas el organismo del cuerpo político y social. Y esto es infinitamente y sin comparacion mas serio y mas trascendental que lo otro.“ (Mármol 1854: 5)
Aus der zitierten Passage geht hervor, dass Mármol (1854) die öffentliche und private Moral für verbesserungsfähig hält. Er zeigt sich zudem zuversichtlich, dass die ungezähmten Leidenschaften des Volkes durch Zivilisation und Freiheit in den Griff gebracht werden können. Die Grundlage für die Lösbarkeit aller anderen Fragen ist die Wiedervereinigung von Buenos Aires mit dem Rest des Landes, also die Einigung der Nation und die Frage danach, was wir heute sind und was wir morgen sein werden91. Während die Regierung der Confederación ihr Gebäude ohne das nötige – nationale – Fundament baue, alle Schwierigkeiten, die dabei auftreten, auf den Widerstand Buenos Aires’ zurückführe und sich in Schuldzuweisungen übe, so brilliere die Provinzregierung in Buenos Aires mit ihrer Untätigkeit, obwohl das Ziel des Sonderweges war, sich in Ruhe und ohne Druck von außen über die Rechtsgrundlagen und Interessen der Provinz und der sie umgebenden Provinzen als Mitglieder der Republik gewahr zu werden. (Mármol 1854: 8, 11, 12) „[…] el gobierno cree que lo mejor es no hacer nada en esa cuestion y dejar la provincia con su modo de ser actual, que por otra parte no deja de ser el peor de los modos posibles de este mundo, desde que nadie podrá decir qué modo de ser es este, ni qué se quiere, ni qué se espera ; ni mucho menos adonde se vá, porque no se vá ni para atras ni para adelante.“ (Mármol 1854: 15)
Für eine Regierung reiche es nicht aus, der Gerechtigkeit und der Liebe zur Freiheit Tribut zu zollen: „El respeto á la justicia, el amor á la libertad, la probidad administrativa, son virtudes cívicas, sentimientos morales muy honorables, pero que nada tienen que ver con las creencias políticas de un gobierno. […] ningun acto, ningun documento, ninguna palabra, ha podido indicar lo que el gobierno piesa, ni que el gobierno piensa en la cuestion política.“ (Mármol 1854: 14, 15)
Die Vorwürfe der Regierung der Confederación provozierten indes nur ein neues Aufflammen des Konfliktes. „Pero ¿y despues de vencer? Limpiad de nuevo las armas para volver á pelear el año que viene ; porque la lanza mata los hombres pero no las causas que les estimulan á la lucha.“ (Mármol 1854: 9). Dies führe zu einem Kreislauf der Gewalt: „Nueva sangre que no se infiltrará en la tierra, sino que quedará sobre ella para pedir mas sangre.“ (Mármol 1854: 8). Die Vereinigung der Provinzen ohne Buenos Aires in der Confederación Argentina sei eine Fehlentscheidung gewesen, die der Prosperität der Nation, dem Frieden und dem öffentlichen Vertrauen entgegenstünden. (Mármol 1854: 15) Ausländisches Kapital wie Immigranten 91 „Y entretanto ; la cuestion capital, la que ha de servir de base á la resolucion de todas las otras en hacienda, en administracion &a. ; la cuestion de saber lo que somos hoy y lo que seremos mañana ; […]“ (Mármol 1854: 7).
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würden nur darauf warten, dass sich Argentinien in der Nation eint: „[...] y que no vendrán jamás mientras no vean resuelto el problema del mal estar político de toda la República ; mientras no vean resuelta, en una palabra, la cuestion entre Buenos Aires y el resto de la nacion.“ (Mármol 1854: 17). Der wirtschaftliche Fortschritt erscheint so als eines der Argumente für die Vereinigung der Nation. Wie beschreibt Mármol (1854) nun die drei möglichen Wege zur Nationenbildung? Die erste Lösung – die Unabhängigkeitserklärung Buenos Aires’ – könnte folgendermaßen aussehen: Auch wenn eine Sezession Buenos Aires’ aufgrund des pacto social mit dem Provinzen rechtlich unmöglich sei, so seien politisch gesehen Brüche möglich, wenn der Teilstaat die nötige Stärke dazu besitzt. (Mármol 1854: 18). „El oprimido para el conquistador, la colonia para la metrópoli, la provincia para el reino, el Estado para la Federacion ; todos tienen y reconocen vínculos mas ó menos estrechos ; y sinembargo [sic], todos los han roto cuando han tenido la voluntad y los medios: y esa es la escuela del derecho práctico de la historia.“ (Mármol 1854: 19)
Und dennoch: Wichtig sei die Zweckmäßigkeit des Unterfangens. „No basta tener el derecho y poseer la fuerza y la voluntad decidida de todos sus miembros, ó de la mayoria de ellos. Es necesario tambien tener la conveniencia. [Kursivierung im Original]“ (Mármol 1854: 20). Diese wäre im Falle von Buenos Aires dadurch gegeben, dass eine vorläufige Emanzipation die Möglichkeit des tiefgreifenden Wandels und des Neuaufbaus der nationalen Organisation unter der Führung von Buenos Aires und der Einbeziehung des gesamten argentinischen Staatsgebietes biete. „Hace muchos años que puede verse clara la necesidad de que la República Arjentina sufra un cambio total y se reconstruya ; y que la independencia de Buenos Aires puede servir de base á una nueva organizacion de todos los Estados arjentinos sin perder un solo hombre ni una pulgada de terreno de la antigua república.“ (Mármol 1854: 21)
Der zweite Lösungsweg Mármols (1854) sieht die Einigung der Nation über das Mittel der Verfassung vor. Unter der Bedingung, dass Urquiza sein Amt zurücklege, könne eine gemeinsame Verfassung ausgehandelt werden. „¿Qué diferencia hay entre el Jeneral Urquiza, Presidente de la Confederacion, y el Jeneral Urquiza Director Provisorio de la Confederacion? Sustancialmente ninguna para el caso que nos ocupa, pues no son las investiduras sino la persona la que hace el obstáculo.“ (Mármol 1854: 24)
Die dritte mit kriegerischen Mitteln herbeizuführende Lösung führt Mármol (1854) nicht weiter aus, da sie keinen Weg aus dem Kreislauf an Gewalt biete. „Dejemos á otros la triste mision de indicar medios que sirvan al derramamiento de la sangre arjentina ; y cerremos este trabajo repitiendo que es necesario sacar al pais de la situacion en que se encuentra ; que es necesario evitar funestísimas consecuencias que, mas hoi, mas mañana, han de tener lugar ; que es necesario que el gobierno no circunscriba su mision á la accion administrativa simplemente ; que es necesario que cumpla su mandato político [...]“ (Mármol 1854: 28)
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Mármol (1854) nahm bislang kaum Bezug auf das Thema der Freiheit. Welche Art der Nation hat er vor Augen, wenn er die Notwendigkeit der nationalen Einigung als höchste Priorität Argentiniens einstuft? Lässt sich diese eher der Staats- oder Kulturnation zuordnen (Kategorie C2)? Die einigenden Elemente, die Mármol (1854) erwähnt, beziehen sich vorrangig auf Aspekte der Kulturnation, allen voran die gemeinsame Geschichte der Revolution. „Las carteras sobre que se trazaba en otro tiempo el mapa de los destinos futuros de todo el continente ; donde se grababan como en bronce las miras políticas de una revolucion que trastornaba el órden secular del mundo ; donde la tinta se secaba con el calor de la mano que la derramaba, producido por el fuego del jenio y de la fé ; donde la intelijencia de hombres emprendedores como su época, infatigables como ella, serenos y grandes como ella, se desbordaba en raudal de ideas que herian y tajaban los mas dificiles problemas de la revolucion, como el sable de nuestros granaderos el fierro del fusil enemigo ; donde la diplomacia daba tambien batallas y triunfaba mas allá de los mares, como nuestros ejércitos mas allá de los Andes ; hoy, cuando un contrapaso de una revolucion de medio siglo la perturba, la arranca de su huella, la arrebata su unidad, su bandera, su historia, y la amenaza en sus jeneraciones futuras, espuestas á recojer miembros mutilados de aquel hermoso cuerpo de su patria, cuya figura radiante de esplendor y de vida podrán apenas divisarla en el horizonte del pasado, pero no tocarla y amarla como la tocaron y amaron sus abuelos ; hoy que todo clama por la lejania del plomo que derrumba, y que ecsige la accion del pensamiento que reconstruye, hoy que no tenemos de la patria sino el pais, de la historia sino fragmentos, de la libertad sino ensayos parciales y fugitivos, y del porvenir sino sombras; [...]“ (Mármol 1854: 6, 7)
Auch Sprache und Traditionen (wobei er religiöse Traditionen ausnimmt) bilden ein verbindendes Element nach Mármol (1854). Anders als in den restlichen Texten des Korpus’ wird die Gemeinschaft der Nationsangehörigen als Schicksalsgemeinschaft dargestellt, die Sorgen und Nöte, Tugenden und Laster, Erfolge und Leiden miteinander teilt und dadurch unzertrennlich wird. „¿De qué escuela histórica, de qué teoría, de qué cabeza ha podido salir que una nacion de hábitos y de tradiciones seculares, con historia, lengua, costumbres, preocupaciones, virtudes, vicios, glorias y desgracias indivisibles ; con los caminos de la naturaleza no abiertos ni esplotados aun ; que una nacion así, cortada de repente por el ímpetu de acontecimientos parciales y fujitivos, pueda estacionarse en esa division, sin plan, sin trabajos preparatorios, sin combinaciones ulteriores, sin hombres en accion para ello, sin nada hecho ni por hacer absolutamente, quedando cada pedazo entre si es ó no es nacion independiente, entre si quiere ó no quiere serlo, entre si ha de dominar ó lo han de dominar, entre si transa ó no transa, y sin que esto haya de producir forzosa é irremisiblemente dificultades administrativas y políticas, choques de derechos, de intereses y de aspiraciones, y ódios, y contiendas, y reacciones que hoy se apagarán acá, y mañana aparecerán allá, mientras la causa jeneral ecsista?“ (Mármol 1854: 9, 10)
Die Elemente der Staatsnation, die Mármol (1854: 10) erwähnt, erscheinen ihm hingegen als noch zu lösende Fragen, d.h. als Anliegen, die es in der neuorganisierten Nation zu beantworten gilt. Mármol (1854) stützt sich nicht ausschließlich auf Elemente der Kulturnation, führt diese aber als bereits vorhandene, einigende Aspekte
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an, während ihm die für ihn ebenfalls zu berücksichtigenden Elemente der Staatsnation als noch zu klärende Punkte gelten. „¿Qué influencia ejerce su palabra, en el continente siguiera?— ¿Dónde se oye siguiera su palabra? ¿Dónde están sus derechos tan caramente conquistados? ¿Quien habla á nombre de ella? ¿Dónde está la verdadera responsabilidad nacional? ¿Dónde el centro de su poder y de su accion? ¿Con quien se habla? ¿Qué puerta se llama en esta casa para preguntar por la nacion, por la soberanía, el derecho, el gobierno y la bandera de ella?“ (Mármol 1854: 10)
Dass eine gemeinsame Verfassung, eine Gemeinschaft, die gleich an Freiheitsrechten ist, zur Verbundenheit zwischen den Nationsangehörigen führen könnte, kommt hier nicht zur Sprache, wenn Mármol (1854) auch teuer erkämpfte Freiheit und Rechte als gemeinsames Erbe in Bezug auf die Mairevolution erwähnt. Die Frage, wer als Souverän (Nation, Staat, Staatsvolk, etc.) der neuen Nation vorgesehen ist (Kategorie C3), bleibt bei Mármol (1854) offen. Einzelne Textstellen liefern uns dennoch vage Hinweise auf die Frage nach dem Staatsvolk. So heißt es an einer Stelle, dem Volk sei nicht immer Recht zu geben, der Wille des Volkes nicht ausschlaggebend für die Tätigkeit der Regierung, die zum Wohle des Volkes arbeiten müsse. „[…] el gobierno, consultando su mision y los intereses públicos que se le confiaban, debió trabajar por el pueblo aun contra la voluntad del pueblo, y aun esponiéndose las personas á perderse y á descender del puesto. ¿Qué importa que un hombre ó que diez hombres se pierdan ante la popularidad, si se pierden por convicciones vastas é intelijentes?“ (Mármol 1854: 12, 13)
Im Rahmen seines ersten Lösungsvorschlags möchte Mármol (1854) der Regierung einen weiten Aktionsradius zugestehen, damit sie die Neuorganisation der Nation unter Führung von Buenos Aires durchführen kann. „Pero una obra asi requiere vastos y laboriosos trabajos, grande libertad de accion en los gobiernos, y la solidaridad de principios entre los hombres que se sucedan en los destinos públicos, porque esta clase de revoluciones sociales rara vez han sido la obra de un solo hombre, ó de una sola jeneracion.“ (Mármol 1854: 21)
Aufgrund einer weiteren Textstelle liegt es nahe, anzunehmen, dass sich Mármol (1854) im vorletzten Zitat auf einzelne unpopuläre Regierungsmaßnahmen bezog und nicht auf die Legitimierung der Exekutive schlechthin. Denn, zumindest Mármols (1854) zweiter Lösungsvorschlag zur Einigung der Nation eröffnet den Weg dafür, dass die neu zu verabschiedende Verfassung der künftigen Nation von einer konstituierenden Versammlung vorbereitet und vom Volk – dem Souverän – ratifiziert werden kann. „Si la Constitucion está jurada, la fuente de la soberanía de que surjió no se ha estinguido. El voto de los pueblos puede ser consultado ; y un nuevo Congreso Constituyente, con mandato solo de revisor de determinados artículos, puede ser fijado para un tiempo mas ó menos largo.“ (Mármol 1854: 26)
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In Bezug auf die zu beklagenden Bürgerkriege, die bislang keinen Friedenszustand zum Ergebnis hatten, benutzt Mármol (1854) die Begriffe ‚nuestra raza‘ und ‚nuestros pueblos‘ im Plural. Wer darunter zu verstehen ist und wodurch sich einzelne pueblos definieren, geht aus dem Text nicht hervor. „En nuestros pueblos, con nuestra raza, nada puede establecerse sobre las victorias civiles. Se vence, pero no se triunfa. […] Ni siquiera la paz ha podido establecerse como consecuencia de la fortuna militar sobre los campos de la guerra civil, donde los partidos cantan y la patria llora.“ (Mármol 1854: 9)
Erwähnt werden muss an dieser Stelle des Weiteren, dass die oben genannten Elemente der Kulturnation – mit Ausnahme der Sprache? – per se keine Exklusionsmechanismen vorgeben, was die Definition des Souveräns, aber auch der Nationsangehörigen betrifft. Freiheit und Nation In welchem Verhältnis stehen demnach Freiheit und Nation in den Consideraciones Políticas (1854)? Dass die Einigung der Nation oberste Priorität noch vor allen Freiheitsrechten einnimmt, ist nicht nur an der raren Verwendung des Begriffs der ‚Freiheit‘ erkennbar, sondern auch am Anliegen des gesamten Textes, exemplarisch nachvollziehbar an der folgenden Textstelle, die den ersten Lösungsweg Mármols (1854) betrifft. „En lo que ha sido República no se ha ensallado todavia la unidad política sino bajo las formas groseras de la tiranía personal. Y la independencia de Buenos Aires, preparada de modo que sirviese á recojer gradualmente en su centro político los demas Estados arjentinos, podria ser el hecho mas alto de nuestra historia, y la piedra angular de nuestra futura grandeza.“ (Mármol 1854: 21, 22)
Während der erste Lösungsweg die Neuorganisation der Nation über die Freiheit (Unabhängigkeit) einer Provinz (Kategorie D1) vorsieht, erfolgt im zweiten Lösungsweg die Konstituierung der Nation über die Aushandlung einer Verfassung und der sie umfassenden Freiheitsrechte (Kategorien D3 und D4). In beiden Fällen wird die Nation über Freiheit hergestellt, wenn auch ganz unterschiedlicher Arten von Freiheit. Freiheit ist hier ein Mittel zur Konstruktion der Nation. Über die dann in der Nation zu sichernden Freiheitsrechte und ihr Potenzial, Verbundenheit zwischen den Nationsangehörigen herzustellen, ist in den Consideraciones políticas (1854) nichts zu lesen. Dass Freiheit und ihre Gewährleistung ein Ziel der Nation, das ihre Mitglieder verbindet, seien, kann für die Consideraciones Políticas (1854) nicht bekräftigt werden. Es existiere ohnehin eine Grundlage für den Zusammenhalt ihrer Mitglieder, die kultureller Art ist, als Schicksalsgemeinschaft bezeichnet werden könnte und der Nation vorausgeht. Die Kulturnation – die sich nicht explizit über Ethnizität definiert – steht bei Mármol (1854) im Vordergrund, inkludiert aber die Gewährleistung von Frieden und Recht. So lauten die Schlusszeilen des Textes, dass man dem Volk die Schaffung einer klaren Rechtslage – die mit der Einigung der Nation erreicht wird – schulde: „El pueblo trabajó para tener el derecho de descansar ; dadle pues lo que se le debe en justicia : una situacion clara sobro [sic] que reposen su paz y sus derechos.“ (Mármol 1854: 28).
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Formuliert Mármol (1854) auch das Ziel der Einwanderung und der Anwerbung ausländischen Kapitals als Bedingungen für die Prosperität der künftigen Nation, so bringt er dieses weder mit der Frage nach der Ausgestaltung der Freiheitsrechte noch mit einer etwaigen Erziehung des Staatsvolkes, die sich mittels einer nicht näher definierten Freiheit und Zivilisation ohnehin im Laufe der Zeit einstellen würde, in Verbindung. Die Erziehung des Staatsvolkes gilt ihm auch nicht als Bedingung für Freiheit und Nation.
F REIHEIT UND N ATION : G EGENÜBERSTELLUNG UND S YSTEMATISIERUNG DER ANALYSIERTEN T EXTE Ein Konsens in den untersuchten Texten ist die Beschreibung des Ausgangszustandes Argentiniens als Land ohne geeinte Nation und gesicherte Freiheit. „No hay para nosotros ley, ni derechos, ni patria, ni libertad.“ (Echeverría 1837: 101), stellt Echeverría im Dogma Socialista (1837) fest. Und Sarmiento (1853a) schreibt: „[…] la vida, la propiedad, la honra, la libertad, hasta los gustos, las opiniones, los colores mismos han permanecido librados á caprichos sangrientos.“ (Sarmiento 1853a: 88). Nach Alberdi (1852) könne vorläufig von keiner argentinischen Nation gesprochen werden. Dabei siedeln Echeverría (1837) sowie Alberdi (1852) den Beginn von Freiheit und Mitre (1852) die Geburtsstunde der Nation bereits mit der Mairevolution von 1810 als einem historischen Ereignis an, das die argentinische Tradition und das argentinische Volk92 hervorgebracht habe (Echeverría 1846). Die Ideen der Mairevolution zu vervollständigen und zu perfektionieren, darin bestehe die Aufgabe der neuen Generation (Echeverría 1846). Es sei eine Anforderung der Gegenwart, so auch Mitre (1852), die Ideale der Mairevolution nach den vergangenen Jahrzehnten des Bürgerkriegs und der Tyrannei nun im Sinne einer regeneración und Erneuerung der Ideale in die Praxis umzusetzen. Einig sind sich Echeverría (1837), Alberdi (1852) und Mitre 1852) auch darin, dass Argentinien zwar seine Unabhängigkeit von Spanien erlangt habe (Freiheit der Nation), jedoch nicht frei sei, da es an der praktischen Umsetzung von Freiheit vom Staat fehle. Folgende Gründe werden dafür in den Texten angeführt: Bei Echeverría (1837) und Alberdi (1852) wird das koloniale Erbe Spaniens, das in den Bräuchen des Volkes weiterlebe, genannt. Alberdi (1852) und Sarmiento (1853a) verorten die Ursache für die Probleme der Nation in der Leere des Landes, der geringen Bevölkerungszahl, die bei Sarmiento (1853a) ebenfalls auf die mangelhafte Einwanderungspolitik der Kolonialzeit zurückgeführt wird. Alberdi (1852) betrachtet die niedrigen Bevölkerungszahlen als Grund dafür, weshalb Argentinien bislang keine Staatsgewalt mit Gewaltmonopol auf argentinischem Territorium etablieren konnte, die für ihn die Voraussetzung bildet, um die Einhaltung einer Verfassung durchsetzen zu können. Sarmiento (1853a) macht den Wohlstand der Nation vom Bevölkerungswachstum abhängig und vertritt die Auffassung, dass ein Bevölkerungsrückgang in den Zustand der Barbarei führe. Echeverría (1837) und Mitre (1852) machen einen weiteren Grund für die fehlende Einheit Argentiniens auf dem
92 Bei Alberdi (1852) heißt es hingegen an einer Stelle der Bases (1852), dass das argentinische Volk 200 Jahre alt sei. Dies ist mit dem Fokus Alberdis auf den Kreolen zu erklären.
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Gebiet der Moral und dem Egoismus aus. „Para llegar a tan alto resultado es necesario que todos los miembros de la familia argentina se hagan solidarios los unos de los otros; […] El egoísmo es lo que nos ha perdido.“ (Mitre 1852: 24). Und auch Sarmiento (1853a) erblickt in fehlenden Tugenden und der Moral der Machtinhaber wie des Volkes eines der Hindernisse für die Nationenbildung in Argentinien. Mitre (1852) macht die mangelnde Bildung des Volkes dafür verantwortlich, dass dieses für Korruption anfällig ist; Mármol (1854) klagt über die ungezähmten Leidenschaften des Volkes, das vorwiegend seinen Instinkten folge. Neben der Kolonialpolitik und den fortdauernden Bräuchen aus dieser Zeit wird das als tyrannisch bezeichnete Rosas-Regime für das Fehlen von Freiheit und Nation als Ursache genannt (Echeverría 1837; Mitre 1852; Sarmiento 1853a). Einen Stadt-Land-Antagonismus, wie er in der Gegenüberstellung von Unitariern und Föderalen zum Ausdruck kommt, halten aber sowohl Alberdi (1852) als auch Mitre (1852) für unzutreffend, denn Rosas wählte als Föderaler mit Buenos Aires die Stadt als Machtbasis und auch auf dem Land gebe es Unitarier. Dass sich das Landesinnere und die Küstengebiete wirtschaftlich und demographisch stark voneinander unterscheiden, sei auf den Einfluss Europas und dessen Zivilisationsbemühungen an den Küstengebieten zurückzuführen, während das Landesinnere vernachlässigt wurde, so Alberdi (1852). Laut Mitre (1852) gab es selbst die politische Spaltung zwischen Unitariern und Föderalen im argentinischen Volk nie. Antagonismen in der argentinischen Bevölkerung begreift er als wirtschaftliche Missverständnisse, nicht als regionale und/oder politische Konflikte. Konsens zwischen allen Autoren ist, dass die Probleme Argentiniens nicht ohne nationale Einheit gelöst werden können. Selbst Mármol (1854) sieht die Grundlage für die Lösbarkeit aller anderen Fragen in der Wiedervereinigung von Buenos Aires mit dem Rest des Landes. Alberdi (1852) schwebt eine Nation nach europäischem Maßstab vor, die jedoch die spezifischen Bedingungen des Landes und des Volkes, die necesidades del país, nicht außer Acht lassen dürfe. Diesen Aspekt betont auch Echeverría (1837): Um das Ziel der Nation – Fortschritt93 – zu erlangen, müsse die Nation zivilisiert werden, wofür Europa, das Zentrum der Zivilisation, als Vorbild dienen könne. Im Gegensatz dazu schlägt Sarmiento (1853a) eine föderale Republik nach dem Vorbild der USA, die Provincias Unidas del Río de la Plata heißen soll, vor. Welche Freiheit und welche Nation schweben den Autoren also vor? Neben der für sich genommen unzulänglichen Freiheit der Nation betonen alle Autoren die Notwendigkeit von Freiheit vom Staat. Echeverría führt im Rahmen der bürgerlichen Freiheiten (d.h. ohne Verfassung) das Recht auf ein Gerichtsverfahren bei Verbot des Freiheitsentzuges ohne Gerichtsurteil, das Recht, über den Ertrag der eigenen Arbeit und Leistung zu verfügen, Meinungs- und Pressefreiheit94, Gewissens- und Religionsfreiheit95, wobei Mitglieder einer Glaubensgemeinschaft dieselben bürgerlichen 93 Bei Alberdi (1852) werden Fortschritt und Zivilisation v.a. ökonomisch verstanden. 94 Alberdi (1880) führt in der Omnipotencia auch Willens- und Entscheidungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit sowie das Recht auf Niederlassungsfreiheit an.
95 Bei Alberdi (1852) stellt die Anwerbung von Einwanderern einen Grund für die Abschaffung der Staatsreligion und die Garantie der Religions- und Gewissensfreiheit mittels Verfassung dar.
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und politischen Rechte genießen wie alle anderen Staatsbürger, das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung sowie das Verbot, expatriiert und/oder von seiner Familie getrennt zu werden, das Recht auf Sicherheit des Lebens und des Eigentums, das Verbot, zu kämpferischen Handlungen gezwungen zu werden, so es nicht das öffentliche Interesse erfordert sowie das Recht, einer Beschäftigung nachzugehen, an. Echeverría (1837) spricht sich gegen eine Staatsreligion aus; Kirchenangehörige sollen über keine Privilegien verfügen und der Gerichtsbarkeit des Staates unterliegen. Auch Sarmiento (1853a) nennt als zu garantierende individuelle Freiheitsrechte, neben der Sicherheit von Leben, Freiheit und Wohlstand, Religionsfreiheit und Niederlassungsfreiheit, die er aus dem Ziel der Förderung von Wirtschaft und Wohlstand ableitet. Für die praktische Umsetzung von Freiheit hält Alberdi (1852) wirtschaftliche Freiheiten für unumgänglich. Zunächst müsse ein Ausbau des Transportwesens erfolgen, um das wirtschaftlich schwächere Landesinnere mit den progressiveren, über Schifffahrt mit Europa verbundenen Küstenstädten zu stärken. Bildung und Kultur könnten mithilfe eines gut ausgebauten Eisenbahnnetzes rasch verbreitet werden. Es sei notwendig, die freie Schifffahrt vertraglich zu sichern und Binnenzölle durch einen nationalen Zoll zu ersetzen, da 14 unterschiedliche Provinzzölle ein Hindernis für Wirtschaft und industria darstellten. Mitre (1852) und Sarmiento (1853a) stimmen mit Alberdi (1852) in den letzten beiden Punkten – der freien Flussschifffahrt und der Abschaffung von Binnenzöllen – überein. Die Förderung des freien Handels diene, so Mitre (1852), dem Ziel der Einwanderungsförderung „como medio de regenerar nuestra sociedad“ (Mitre 1852: 30). Für Sarmiento (1853a) kann nur eine geeinte Nation den Aufbau von entsprechenden Transport- und Kommunikationswegen bewerkstelligen. Die neue Nation solle laut Echeverría (1837) aus einer auf den Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit basierenden Synthese der konkurrierenden Meinungen entstehen, in der Staatsbürger und Patria, Individuum und asociación miteinander in Übereinstimmung gebracht werden. Der Antagonismus zwischen Föderalen und Unitariern sei zu überwinden, sodass all jene als Argentinier gezählt werden können, die sich zur Patria, zur Mairevolution, zur dreißigjährigen Geschichte seit der Unabhängigkeit bekennen und sich als Teil des argentinischen Volkes mit ihrer Fahne und ihrer Geschichte sehen. Die Vereinigung der politischen Parteien in der nationalen Einheit solle mit Bezug auf die Mairevolution und deren Ideale ein Gefühl der Verbundenheit hervorrufen. Auch Alberdi (1852) sieht in der Vereinigung der beiden politischen Traditionen den einzigen Weg, Argentinien eine einheitliche Regierung zu geben und die politische Organisation des Landes voranzutreiben. Die Nation erscheint ihm als die ursprüngliche Grundlage der Regierungsform, da sie aufgrund der Mairevolution und der politischen Geschichte seit 1810 historisch begründet sei. Ähnlich sieht das Mitre (1852): Die Differenzen der Parteien müssten zugunsten einer nationalen Partei und der Synthese der vorherrschenden Meinungen überwunden werden, die Bildung einer nationalen Gemeinschaft mit Bezug auf die gemeinsame Geschichte und Erinnerung voranschreiten. Während Echeverría (1837) zunächst die Bildung einer asociación vorsieht, haben Alberdi (1852), Mitre (1852) und Sarmiento (1853a) den Verfassungsstaat mit einer nationalen Regierung zur Absicherung von Freiheit vor Augen. Die erwähnten Freiheitsrechte sowie die wirtschaftlichen Maßnahmen zur Wohlstandssteigerung der Nation könnten nur mittels Verfassung dauerhaft garantiert werden. Sie sei dazu in
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der Lage, den nationalen Konsens von Freiheit, Ordnung, Wohlstand und Zivilisation auf einem gemeinsamen Territorium abzusichern, so auch Alberdi (1852). Eine nationale Versöhnung müsse auf der Koexistenz lokaler Individualität der Provinzen mit dem Kollektiv der Nation basieren und die Freiheit der Provinzen mit der Gemeinschaft der Nation vereinen. Die Verfassung gilt ihm als Grundlage und Mittel zur Konstruktion nicht nur der Republik, sondern der argentinischen Nation, da sie den Wertekonsens der politischen Gemeinschaft festschreibe. Sie garantiere die politische Stabilität, die eine Einigung Argentiniens sowie ein geregeltes politisches System erst möglich machen. Dazu sei es unabdinglich, die spezifischen, nationalen Bedingungen und die zentralen, historischen Probleme des Landes zu berücksichtigen. Patriotismus alleine sei keine Lösung für das Problem des Despotismus in ‚Südamerika‘, wenn nicht das Individuum an erster Stelle steht, meint Alberdi (1880) in seiner späten Schrift La omnipotencia del Estado es la negación de la libertad individual. Während Mármol (1854) die Frage nach der Verfassung offen lässt, so betont auch er, dass die Anwerbung von ausländischem Kapital wie von Immigranten nur im Rahmen der Nation erfolgen könnten. Der wirtschaftliche Fortschritt ist demnach bei allen Autoren eines der Argumente für die Vereinigung der Nation. Als weiteres Mittel zur Bildung der Nation werden Aufklärung und Bildung erwähnt. Echeverría (1837) setzt auf den Erfolg von Bildungsmaßnahmen und den systematischen Aufbau von Grundschulbildung und sieht in der öffentlichen Verbreitung des Gesetzes ein geeignetes Instrument, um den Massen Bewusstsein über ihre staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten zu vermitteln. Sarmiento (1853a) lobt den Abschnitt zur kostenlosen Schulbildung der Verfassung von 1853, da er die Vorbereitung des unzureichend gebildeten Volkes für die perfekten Institutionen der Verfassung fördere. Durch Zivilisation und Freiheit, so auch Mármol (1854), sollten die Leidenschaften des Volkes gezähmt werden. Einzig Alberdi (1852) steht der Bildung als Maßnahme zur raschen Zivilisierung der Bevölkerung skeptisch gegenüber und setzt stattdessen auf Einwanderungsförderung. Für Fortschritt und Freiheit sei es geboten, europäische, zivilisierte Einwanderer anzuwerben und allgemeines Bevölkerungswachstum herzustellen. Diese würden einen Zivilisierungseffekt entwickeln, der sich schneller vollzieht als der Aufbau von entsprechenden Bildungsinstitutionen und -maßnahmen96. Unterschiede zwischen den politischen Texten Wurde Freiheit im Staat bislang nicht erwähnt, so deshalb, weil diesbezüglich die Meinungen der Autoren auseinandergehen: Echeverría (1837) will die masas ignorantes zunächst aus dem Recht auf politische Partizipation aufgrund fehlender Bildung ausschließen. Ihr Recht auf politische Partizipation bleibe aufrecht, allerdings müssten sie zunächst Bildung und Autonomie erlangen, um von diesem Gebrauch machen zu dürfen. Alberdi (1852) argumentiert hingegen für das allgemeine Wahlrecht ohne (die erwerbbaren Faktoren) Eigentum und Bildung als Voraussetzungen. 96 Alberdi (1852) geht es auch nicht so sehr um die Förderung republikanischer Tugenden und schulischer Grundkenntnisse wie das Lesen, sondern Bildung, die ‚nützlich‘ ist. Darunter versteht er die praktische Ausbildung für Markt und industria, v.a. von Ingenieuren, Geologen, Naturwissenschaftlern. Neben den angewandten Wissenschaften sollen lebende Fremdsprachen (Englisch statt Latein) als Sprachen der freien industria gefördert werden.
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Bis weite Bevölkerungsteile über die nötige Bildung verfügen, solle ein mehrstufiges indirektes Wahlrecht Geltung haben, das schließlich durch das Direktwahlrecht ersetzt werden solle. In seinem Proyecto Constitucional (1858) sieht er Eigentum als Voraussetzung zur Wahl zum Präsidentenamt, Senat und Abgeordnetenhaus vor. Mitre (1852) spricht sich hingegen sofort für das allgemeine Wahlrecht aus; Sarmiento (1853a) befürwortet Volkssouveränität bei Gleichheit vor dem Recht. Als bedeutender Unterschied in den Schriften Echeverrías (1837, 1846) zu den anderen politischen Texten kann dessen Modell der asociación, einem Pakt zwischen Individuen, d.h. einer Art Gesellschaftsvertrag, der Geltung haben soll, bis die Rahmenbedingungen für die Verabschiedung einer Verfassung vorhanden sind, angeführt werden. In seiner Formel Mairevolution, Fortschritt, Demokratie differenziert sich Echeverría (1837, 1846) insofern von den anderen Texten als die zu konstruierende Nation für ihn nur eine Demokratie sein kann. Der Nation und Demokratie sollen alle weiteren Gesellschaftsbereiche (Politik, Philosophie, Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft oder Religion) unterstellt sein. Anders als die anderen Autoren schlägt Echeverría (1837, 1846) religiöse Erziehung zur Änderung von Bräuchen und Moral vor. Eine Parallele dazu findet sich insofern bei Mitre (1852) als dessen Gerechtigkeitsbegriff, der ihm als Grundlage der neuen Nation und der Erziehung des Staatsvolkes dient, eine christliche Prägung aufweist. Die spanische Gesellschaftsordnung mit einem Klerus, der Privilegien genießt, solle aber durch eine neue Hierarchie, aufbauend auf republikanischen Tugenden, Talent und Leistung ersetzt werden, so Echeverría (1837, 1846). Alberdi (1852) baut hingegen seinen Nationsentwurf auf wirtschaftlicher Freiheit auf, die den anderen Freiheiten als Bedingung für deren praktische Realisierung vorangestellt werden und mit den klassischen Abwehrrechten des Individuums gegenüber dem Staat in Konflikt geraten kann97. Wirtschaft und industria führen laut Alberdi (1852) zu Wohlstand und Reichtum, Ordnung und in weiterer Folge zu Freiheit. In der Ausgabe der Bases von 1858 spricht Alberdi (1858) nicht länger von der Zivilisierung der argentinischen Bevölkerung, sondern von ihrem Austausch gegen freiheitsfähigere Personen. Obwohl ihm die großangelegte Einwanderung v.a. englischer Immigranten als Bedingung für Freiheit in Argentinien gilt, sollen die ‚hispanoamerikanischen Rasse‘ wie die Stellung der Kreolen in der sozialen Hierarchie und der Herrschaftsverhältnisse bewahrt werden. Auch bei Sarmiento (1853a) gilt die Besiedelung des argentinischen Territoriums als Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum, weshalb auch er die Förderung von Immigration befürwortet. Anders als bei Alberdi (1852) ist diese bei Sarmiento (1853a) jedoch nicht ohne Garantie der Rechte der Freiheit vom Staat zu erreichen. Diese sieht er weniger als Bedingung dafür an, dass Immigranten nach Argentinien kommen, sondern dafür, dass sie nicht nur an den wirtschaftlich stärkeren Küstengebieten siedeln sowie dass sie sich dauerhaft in Argentinien niederlassen, eine Bindung zu Land und Boden entwickeln und Familien gründen. Argumentiert Alberdi (1852) aus wirtschaftlichen Gründen für die Abschaffung von Binnenzöllen, so führt Sarmiento (1853a) die fehlende Rechtsgrundlage für die Erklärung der Häfen zum 97 Die Bases (1852) ließen einen starken Fokus auf der Kategorie der objektiven positiven Freiheit von Staat (A3.3) erkennen. Denn die wirtschaftlichen Freiheiten lassen sich als Maßnahmen verstehen, die auf gemeinschaftliche Freiheitsziele fokussiert sind.
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Eigentum der Provinz an, es sei denn, deren Finanzierung erfolge ausschließlich durch die BewohnerInnen der Provinz. Das Ziel des Bevölkerungswachstums formuliert Sarmiento (1853a) nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, sondern mit dem Argument, dass ein gut besiedeltes Land mit florierender industria die Ausbildung einander vereinender Interessen zwischen den Menschen begünstige. Die sogenannten intereses comprometidos führten zu Ordnung und Frieden. Für die Überwindung der Distanzen zwischen den Provinzen, schlägt er, abgesehen von den erwähnten Maßnahmen der Abschaffung von Binnenzöllen und der freien Flussschifffahrt, den Aufbau und die Reform des Postwesens sowie die Organisation der Justiz auf nationaler Ebene vor. Mithilfe eines das gesamte Staatsgebiet umspannenden Netzes könne Verbundenheit und Abhängigkeit einzelner Gebiete untereinander hergestellt werden, v.a. in Provinzen, die für sich Souveränität einforderten. Die wirtschaftliche Entwicklung Argentiniens zu fördern, ist nach Mitre (1852) aus einem anderen Grund wichtig: Die Zukunft Argentiniens sei an die Wirtschaft gebunden, weil Armut Tyrannei begünstige, während Wohlstand Freiheit und Aufklärung förderten. Bei Mitre (1852) wird der Einwanderungspolitik kein absoluter Vorrang vor Bildungsmaßnahmen und moralischer Erziehung eingeräumt. Den höchsten Rang unter den Freiheiten vom Staat nimmt bei ihm die Meinungs- und Pressefreiheit ein – von ihr leiten sich alle weiteren Maßnahmen ab. Die freie Debatte in der Presse und im Parlament sind laut Mitre (1852) Mittel zur Erziehung des Volkes und seiner Befähigung zu Freiheit. Die Liebe zur Freiheit und zum Gerechtigkeitssinn als Leitprinzip der öffentlichen Diskussion stelle sicher, dass Pressefreiheit der Erziehung zu einer vernunftbasierten Diskussionskultur, der Besänftigung der Instinkte und der Vorbereitung der parlamentarischen Arbeit diene. Mármol (1854) unterscheidet sich von den anderen Autoren, da er ein zentralistisches System und keine Synthese föderaler und unitarischer Ideen als geeignet befindet. Die Ursache für den politischen Zustand Argentiniens macht Mármol (1854) nicht in der Kolonialzeit, der moralischen Beschaffenheit, dem Bildungsgrads der argentinischen Bevölkerung oder den wirtschaftlichen, regionalen und politischen Antagonismen, sondern im Verhalten der Regierung aus. Es existierten durchaus tief verwurzelte Ursachen für die argentinischen Konflikte, doch gerade der Regierung stünden Mittel zur Verfügung, diese abzuschwächen und auszugleichen. Es sei angebracht, politische Entscheidungen zu treffen, die sich nicht von der Meinung des besorgten Volkes leiten ließen, auch wenn sich diese vermeintlich gegen das Volk richteten. Anders als in den restlichen Texten des Korpus’ wird die Gemeinschaft der Nationsangehörigen als Schicksalsgemeinschaft dargestellt, die Sorgen und Nöte, Tugenden und Laster, Erfolge und Leiden teilt und dadurch unzertrennlich wird. Freiheit und Nation Aufgrund der Differenzen zwischen den Autoren, kann keine einheitliche Antwort auf die Frage gegeben werden, wie in den politischen Texten der generación del 37 Freiheit und Nation argumentativ miteinander verknüpft werden. Für Echeverría (1837) ist die nationale Einigung Bedingung dafür, dass sich Freiheit über die ohnehin jedem Individuum angeborene natürliche Freiheit hinaus entfalten kann. Die Nation wird dem Ziel der Freiheit bisweilen übergeordnet. In der Ojeada Retrospectiva (1846) wird Gleichheit vor dem Recht als Voraussetzung für Freiheit und Nation formuliert, während im Dogma Socialista (1837) die Vereinigung in der Nation
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selbst an oberster Stelle stand. Bei Alberdi (1852) leiten sich die Vorschläge zur Konstruktion einer argentinischen Nation aus dessen wirtschaftspolitischen Forderungen ab. Die Nation ist Bedingung für Freiheit und wirtschaftlichen Fortschritt. Zugleich sind einzelne wirtschaftliche Freiheiten Bedingung dafür, dass praktische Freiheit zur Umsetzung gelangen kann: Da europäische Einwanderer zum einen den Bevölkerungsmangel ausgleichen und zum anderen der praktischen Bildung (‚Zivilisierung‘) der argentinischen Einwohner dienen, sowohl, was wirtschaftliche Fähigkeiten als auch politische Bildung und Befähigung zu politischer Freiheit betrifft, führe die Verabschiedung einer einwanderungsfreundlichen Verfassung langfristig zur Sicherung und praktischen Geltung sämtlicher Freiheiten sowie zu Zivilisation und Fortschritt. Weder Freiheit noch eine Nation kann es bei Alberdi (1852) ohne europäische Einwanderer geben. Mitre (1852) leitet hingegen aus der Einhaltung des Rechts und der Überwachung desselben eine Solidaritätsgemeinschaft ab. Die Gemeinschaft bilde sich aufgrund der Zustimmung zu gemeinsamen Freiheitsrechten. Mitre (1852) ist der Meinung, dass wirtschaftliche Maßnahmen alleine nicht aus dem Zustand der Tyrannei und der Bürgerkriege führen können. Für die verfassungsmäßige Garantie von Freiheit im Rahmen der Nation bedürfe es der Erziehung des Volkes durch Bildungsmaßnahmen, einer Änderung der Moral, öffentliche Diskussion (etwa über die Presse) sowie des allgemeinen Wahlrechts und der Selbstregierung des Volkes (besonders auf lokaler Ebene). Für Sarmiento (1853a) leistet die Grundrechtserklärung einen Beitrag zur Bildung des Gewissens und der moralischen Erziehung des Individuums. Ohne geeinte Nation könne Freiheit keinen dauerhaften Bestand haben. Die Bildung einer Einheit alleine führe jedoch zu keiner Sicherung von Freiheit. Dies sei nur im Rahmen des Freiheit garantierenden Verfassungsstaats möglich. Einzelne Freiheitsrechte gelten ihm wiederum als Bedingung dafür, dass der Aufbau der Nation vollzogen werden kann. Zu nennen wären hier wirtschaftliche Freiheiten, die zur Überwindung der Antagonismen zwischen den Provinzen führen sollen. Bei Mármol (1854) nimmt hingegen die Einigung der Nation oberste Priorität noch vor allen Freiheitsrechten ein. Die politischen Texte enthielten nicht immer konkrete Antworten darauf, wem welche Freiheitsrechte zugestanden werden sollen und wer Teil der Nation sein sollte. Das betrifft insbesondere die Frage nach dem Frauenwahlrecht sowie dem Wahlrecht für die indigene und ‚schwarze‘ Bevölkerung. Das Konzept der Staats- und Kulturnation hat sich in der Analyse als problematisch erwiesen. Eine Frage ist, wer Teil der Staatbürgergesellschaft sein soll, d.h. Freiheit im Staat, erhalten soll, wobei aufgrund der angesprochenen Leerstellen in einigen Texten nur Annahmen bezüglich des Wahlrechts der indigenen und ‚schwarzen‘ Bevölkerung sowie des Frauenwahlrechts angestellt werden konnten. Die andere Frage ist, aufgrund welcher Kriterien sich die Identitätsgemeinschaft bildet. Das ist bei den Autoren, entsprechend der Staatsnation, meist die Verfassungsgemeinschaft, politische Wertegemeinschaft oder die Erinnerung an die gemeinsame Geschichte seit 1810, es sind aber auch kulturelle Faktoren christlich-europäischer Prägung zu finden. Diese scheinen aber nicht entscheidend für die Frage gewesen zu sein, wer an der politischen Gemeinschaft teilhaben darf. Die Konfrontation der Texte mit der Praxis zeigt darüber hinaus eine äußerst geringe Wahlbeteiligung und Wahlbetrug. Aus dieser Sicht stellt sich die Frage, die aber im Rahmen dieser Arbeit nicht geklärt werden kann, welche Bevölkerungsgruppen zu den tatsächlichen Wählern zählten sowie auf welche Gruppen die offi-
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ziellen Wahlergebnisse zurückzuführen sind. Auf textueller Ebene fanden sich kaum Widersprüche (wenn doch, so wurden sie angeführt), doch über die Widersprüche, die sich bei der praktischen Umsetzung ergeben können, kann hier nichts gesagt werden. Ob die kulturelle Vorstellung der Nation für die praktische Teilhabe an Wahlen ausschlaggebend war, muss offen bleiben. Freiheit vor Nation? Nation vor Freiheit? Freiheit durch die Nation? Nation durch Freiheit? So ähnlich sich die fünf Autoren in vielen Punkten (v.a. wirtschaftlicher Natur) sind, so unterschiedlich ist das von ihnen etablierte Verhältnis zwischen Freiheit und Nation. In Echeverrías Dogma Socialista (1837) ist nicht Freiheit Grundlage und Voraussetzung für die Konstruktion der Nation; der Aufbau der Nation, die nationale Einigung, erscheint ihm als Bedingung dafür, dass sich Freiheit über die ohnehin jedem Individuum angeborene natürliche Freiheit hinaus entfalten kann. Freiheit ist ein Ziel der Nationenbildung, sie soll also durch die Nation hergestellt und gesichert werden. In der Ojeada Retrospectiva (1846) erscheint ihm hingegen Gleichheit vor dem Recht als Bedingung sowohl für Libertad als auch für Patria. An einer Stelle suggeriert er auch, dass Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zur nationalen Einheit führen, was eine Umkehr der Bedingungen gegenüber dem Dogma Socialista (1837) bedeuten würde. In Bezug auf Freiheit im Staat (mit allgemeinem Wahlrecht) erscheint aber doch wieder die Nation als Bedingung für Freiheit. Bei Alberdi (1852) führt weder Freiheit zur Nation, noch kann die Nation alleine Freiheit sichern. Es ist der wirtschaftliche Wohlstand, der beides garantiert und als Ziel der Nation genannt wird. Zugleich ist die Vereinigung Argentiniens in der Nation aber Bedingung dafür, dass sich Wirtschaftswachstum (etwa für den Erhalt von Krediten, den Ausbau des Transportwesens, die Abschaffung von Binnenzöllen, etc.) und in weiterer Folge gesicherte Freiheit einstellen können. Doch: Einzelne auf wirtschaftliche Maßnahmen bezogene Freiheitsrechte gehen zugleich allen anderen Rechten als Bedingung für deren praktische Realisierung voran. Grundlage und Mittel zur Konstruktion der Nation sowie der Sicherung von Freiheit ist die einwanderungsfördernde Verfassung. In Mitres (1852) Entwurf bedingen sich Freiheit und Nation gegenseitig. Ohne wirtschaftliche Freiheiten und Freiheit vom Staat (v.a. Pressefreiheit) keine Nation und ohne Nation keine Garantie der Freiheitsrechte. Die Ausbildung eines Gerechtigkeitssinnes und einer fortschritts- und freiheitsfördernden Moral sind weitere Voraussetzungen für Freiheit und Nation. Bei Sarmiento (1853a) führt die Einigung der Nation im Verfassungsstaat zu gesicherter Freiheit. Die ‚richtige‘, überarbeitete Verfassung ist hier Mittel und Bedingung für Nation und Freiheit. Sie muss eine klare Kompetenzverteilung zwischen Bundes- und Gliedstaaten definieren, wirtschaftsfördernde und kommunikationsfördernde Maßnahmen festschreiben, die Landverteilung durch den Kongress, kostenlose Schulbildung und eine Nationalisierung der Justiz verordnen. Bei Mármol (1854) soll die Nation durch Freiheit (Unabhängigkeit der Provinz Buenos Aires oder eine Verständigung der Provinzen auf gemeinsame Freiheitsrechte in Form der Verfassung) hergestellt werden98. Oberstes Ziel ist die Einigung der Nation. Über die dann in der Nation zu sichernden Freiheitsrechte und ihr Potenzial, Verbundenheit zwischen den Nationsangehörigen herzustellen, steht in den Consideraciones 98 Dem dritten Lösungsweg, Krieg, steht Mármol (1854) ablehnend gegenüber.
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políticas (1854) nichts geschrieben. Es kann daher nicht festgestellt werden, ob Freiheit und ihre Gewährleistung zugleich ein Ziel der Nation, das ihre Mitglieder verbindet, sein sollen.
Analyse ausgewählter literarischer Texte der generación del 37
E STEBAN E CHEVERRÍA Einordnung des Werks Esteban Echeverrías El matadero wurde zwischen 1839 und August 1840 – kurz, bevor der Autor nach Colonia auswanderte – auf der hacienda Los Talas, auf die er sich zurückzog, nachdem die geheimen Treffen in Buenos Aires zu gefährlich geworden waren, verfasst, doch erst im Jahre 1871 postum von Juan María Gutiérrez veröffentlicht (Oviedo 2001: 27). Hier wird die im Cátedra-Verlag erschienene Ausgabe Leonor Flemings (2011) als Analysegrundlage verwendet. Sie beruht auf der in der Revista del Río de la Plata veröffentlichen Fassung von 1871 (Fleming 2011: 85). Nach César Aira (2001) ist El matadero ein „[…] relato de sorprendente vigor y perfección, piedra basal de la narrativa argentina.“ (Aira 2001: 191). Analyse von El matadero nach einzelnen narratologischen Kategorien El matadero (1839) ist mit etwas mehr als 20 Seiten ein kurzer Erzähltext. Der Titel des Werks bildet einen Hinweis auf den Fokus der Erzählung, dem Schauplatz des matadero und den Vorgängen an diesem Ort. Der Text weist keine formale Gliederung in Abschnitte auf, kann aber nach einem einführenden, allgemeinen Teil, einem costumbristisch gehaltenen Teil – der Schilderung der barbarischen Zustände auf dem Schlachthof – sowie einem die eigentliche Handlung beinhaltenden dritten Teil differenziert werden. Der Plot des kurzen Erzähltextes setzt mit der Beschreibung der Zustände zur Fastenzeit des Jahres 18…1 in Buenos Aires ein, in der die Stadt von einer Überschwemmung heimgesucht wird. Diese sowie die Fastenzeit verhindern die Schlachtung von Tieren und unterbrechen die Fleischversorgung der Stadt. Aufgrund einer Verordnung des Restaurador de las Leyes angesichts der einsetzenden Hungersnot werden schließlich 50 Jungstiere im matadero de la Convalecencia o del 1
Fleming (2011: 91, Fußnote 2) zufolge spielt die Erzählung während der Fastenzeit des Jahres 1839. Dies ist an der im Text erwähnten Trauerzeit um die Gattin Rosas’, Encarnación Ezcurra, auszumachen.
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Alto2 zur Schlachtung freigegeben. Doch einer der Jungstiere, von dem zunächst nicht ganz sicher ist, ob er nicht doch bereits ein ausgewachsener Stier ist, kann sich aus dem Schlachthof befreien. Beim Ausbruch des Stieres wird versehentlich ein Kind geköpft. Der Stier flüchtet Richtung Stadt, kann schließlich eingefangen und getötet werden, erschrickt zuvor aber einen Briten, der gerade auf seinem Pferd durch den Sumpf watet und zu Boden fällt. Die Schlachtung scheint schon beendet, als ein junger Unitarier, ebenfalls zu Pferd, am Schlachthof vorbeikommt. Die föderalen Figuren provozieren und verspotten ihn und es kommt zur Eskalation zwischen den beiden Parteien: Der Unitarier wird in der Folge bis zum Tode gefoltert, wobei offen bleibt, ob dieser an der Misshandlung oder an seinem Zorn stirbt. Das Figureninventar des Textes umfasst die katholische Kirche, den Restaurador de las Leyes und seine Gattin, die aber nicht aktiv an der Handlung teilhaben, die als barbarisch dargestellte Menge an ‚schwarzen‘ Frauen, ‚Mulattinnen‘, Schaulustigen und schmutzigen Kindern, die sich im Umfeld des Schlachthofs tummeln und versuchen, inmitten all des Blutes Fleischreste und Eingeweide zu ergattern, die föderalen, im Schlachthof tätigen Figuren, darunter der Richter des Schlachthofes (el juez) und der brutale und namentlich als solcher charakterisierte Schlachter Matasiete sowie den erwähnten Briten und den jungen Unitarier. Die Menge an Schaulustigen, ‚schwarzen‘ Frauen, ‚Mulattinnen‘ und Burschen wird auch als Gesindel (chusma) bezeichnet und gemeinsam mit den Figuren der Föderation (Schlachtern, Arbeitern des Schlachthofes, Richter, Matasiete, etc.) zunächst dem entkommenen Stier, dann dem Briten und schließlich dem jungen Unitarier gegenübergestellt. So kommt es jeweils an unterschiedlichen Stellen der Erzählung zu einer Gegenüberstellung von Kollektiv/Masse und Individuum. Dass es sich bei dem Kollektiv tatsächlich um eine große Menschenansammlung handelt, wird an einer Textstelle deutlich, in der 400 nach Fleischresten gierende ‚schwarze‘ Frauen erwähnt werden (Echeverría 1839: 102). Wie werden die einzelnen Figuren(-gruppen) charakterisiert? Im ersten Abschnitt der Erzählung wird der Restaurador de las Leyes, also Rosas, der aber nicht namentlich genannt wird, als „hombre muy amigo del asado“ (Echeverría 1839: 98) beschrieben. Die katholische Kirche, die als eng mit dem Regime verbunden gezeichnet wird, verfügt über Privilegien – dem „fuero eclesiástico de alimentarse con carne“ (Echeverría 1839: 96). Das Fleisch kann hier als Anspielung auf die Machtbasis des Regimes – den estancieros, von denen Rosas selbst einer ist – verstanden werden. Die ironische Verbindung von Fleisch(-konsum), Regime, Kirche und Fastenzeit zeichnet das Regime und die Kirche als scheinheilig und selbstbereichernd3. Ein guter Föderaler zu sein, bedeutet ein guter Katholik zu sein („buenos federales, y por lo mismo buenos católicos“ (Echeverría 1839: 92)). Doch gerade die katholische Regierung bricht auf Anweisung des „muy católico Restaurador“ (Echeverría 1839: 93) die Fastenzeit, weil sie die lauten Magen- und Darmgeräusche der infolge der Überschwemmung hungernden Bevölkerung – an der die Unitariern die Schuld haben sol2
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Der erwähnte Schlachthof befindet sich im Viertel del Alto südlich der Stadt Buenos Aires, an der heutigen Plaza España, das damals außerhalb der Stadt lag (Fleming 2011: 94, Fußnote 9; Echeverría 1839: 98). Zur christlichen Symbolik in El matadero und ihrer Interpretation vgl. David William Foster (1970).
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len – für das Krachen einer von den Unitariern ausgehenden Revolution hält (Echeverría 1838: 95). Das Volk von Buenos Aires wird als gehorsam und sich jedwedem Befehl beugend dargestellt („[…] el pueblo de Buenos Aires atesora una docilidad singular para someterse a toda especie de mandamiento […]“ (Echeverría 1839: 92)). Die Kommission der Schlachter, die dem Restaurador das erste Jungvieh als Geschenk im Namen der Föderalen übergibt, hasst die salvajes unitarios, die ihr als Feinde Gottes und der Menschen gelten (Echeverría 1839: 98). Der zweite, costumbristische Abschnitt der Erzählung enthält vorwiegend Charakterisierungen der sich am Schlachthof befindlichen Menschenmenge. ‚Schwarze‘ Frauen suchen dort in Scharen nach Eingeweiden und werden in ihrer Beschreibung mit den fleischfressenden Greifvögeln Carancho und Harpyie parallel gesetzt: „Multitud de negras rebusconas de achuras, como los caranchos de presa, se desbandaron por la ciudad como otras tantas harpías protas a devorar cuanto hallaran comible. [Kursivierung im Original]“ (Echeverría 1839: 94). Der typische Schlachter trägt das Messer in der Hand, Brust und Arm sind nackt, sein Haar ist lang und zerzaust, er ist wie ein gaucho gekleidet (camisa y chiripá) und sein Gesicht ist blutverschmiert (Echeverría 1839: 100). Auch andere Figuren am Schlachthof tragen die typischen Farben und Kleidungsstücke der Föderalen: „[…] la cabeza cubierta con un pañuelo punzó y chaleco y chiripá colorado […]“ (Echeverría 1839: 103). Die sich hinter dem Schlachter tummelnde Menge aus Burschen, ‚schwarzen‘ Frauen und ‚Mulattinnen‘ wird als hässlich, tierähnlich und vulgär beschrieben4. Dies zeigt sich in ihrem Verhalten – sie bewirft sich mit Blut und Schlamm und stiehlt (Echeverría 1839: 102, 103) – sowie in der Sprache der Figuren, die laut und ordinär ist: „—Ahí se mete el sebo en las tetas, la tía —gritaba uno. —Aquél lo escondió en el alzapón —replicaba la negra. —¡Che!, negra bruja, salí de aquí antes que te pegue un tajo —exclamaba el carnicero.“ (Echeverría 1839: 101). Der Richter des Schlachthofes wird als „terrible“ (Echeverría 1839: 99) bezeichnet. Obwohl mehrere Personen an der Rückführung des entkommenen Stieres an den Schlachthof beteiligt sind, geht Matasiete als Bezwinger des stolzen Tieres hervor. Seinen riesigen Dolch schiebt er dem Stier bis zur Faust in die Kehle. Aus Stolz setzt er einen zweiten Hieb nach. (Echeverría 1839: 107) Er wird als Mann der Taten, nicht der Worte beschrieben: „Tratándose de violencia, de agilidad, de destreza en el hacha, el cuchillo o el caballo, no hablaba y obraba.“ (Echeverría 1839: 109). Die Charakterisierung der dem Schlachthof zugehörigen, anonymen Masse steht in starkem Kontrast zur Charakterisierung der Individuen. Der als saladero tätige Brite („cierto inglés“ (Echeverría 1839: 106)) scheint so in Gedanken bei seinen Berechnungen („absorto en sus cálculos“ (Echeverría 1839: 106)), dass er die schreiende Menge, den sich nähernden Stier und die Reiter nicht hört. Dem weißen, blonden, ruhigen und überlegten Mann wird der sarkastische Spott und das Gelächter der Menge zuteil, als er von oben bis unten mit Schlamm bedeckt wird. (Echeverría 1839: 106) Der entlaufene Stier wird als unzähmbar wild, eifrig, eigensinnig, cholerisch, hochmütig und stolz beschrieben (Echeverría 1839: 106, 107).
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Für die Darstellung der Figuren in El matadero und ihre Einordnung in die gezeichnete liberale und nationale Gesellschaftshierarchie nach Gender- und Ethnizitätsaspekten vgl. Österbauer (2017).
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Seine enormen Hoden bezeugen seine Würde als Stier5 (im Gegensatz zu den anderen 49 Jungstieren) (Echeverría 1839: 108). Auf die Parallelen der Charakterisierung von Stier und Unitarier wurde in der Sekundärliteratur bereits oft aufmerksam gemacht. Die Beobachtung „Un toro en el matadero era cosa muy rara, y aun vedada.“ (Echeverría 1839: 108) lässt sich genauso auf den Unitarier beziehen. Und in der Figurenrede der Föderalen wird diese Parallele explizit beiderseitig hergestellt: „[El toro] Es emperrado y arisco como un unitario […]“ (Echeverría 1839: 104); „— [El unitario] Está furioso como toro montaraz.“ (Echeverría 1839: 111). Der Unitarier wird als ca. 25-jähriger, stolzer und gut aussehender Mann gezeichnet, der auf dem Weg zum Stadtteil Barracas ist, als er sich dem Schlachthof nähert (Echeverría 1839: 109). Die Charakterisierung der Figuren geht mit jener des Raumes konform. Die barbarische Menge kann als dem Schauplatz der Föderalen zugehörig verstanden werden und wird dadurch in die Nähe des Regimes gerückt. Der Schlachthof wird als Morast, als blutverschmierter, mit den Resten der Tierschlachtung übersäter, schmutziger Ort, an dem sich Vögel, Ratten und wilde Hunde herumtreiben, beschrieben (Echeverría 1839: 99, 100). In einem schäbigen Häuschen, das dort steht, werden die Steuern der Viehhöfe eingenommen. Auf dem Gebäude stehen in roten Buchstaben – der Farbe des Regimes – die folgenden Parolen geschrieben: „‚Viva la Federación‘, ‚Viva el Restaurador y la heroína doña Encarnación Ezcurra‘, ‚Mueron los salvajes unitarios‘. [Anführungszeichen im Original]“ (Echeverría 1839: 99). Die Gattin Rosas’, um die getrauert wird, wird zur „patrona del matadero“ (Echeverría 1839: 100) erkoren. Der junge Unitarier scheint dort deplatziert, er kommt wie zufällig an diesen schmutzigen Ort. Die föderale Bezeichnung der unitarischen Figur als wilden, schmutzigen Unitarier steht demnach im Kontrast zur Raumbeschreibung und der ihr zugehörigen Figuren. Freiheit und Nation Inwiefern sind Freiheit und Nation Thema des kurzen Erzähltextes? Dass die Erzählung über den konkret genannten Schauplatz des matadero in einem Außenbezirk von Buenos Aires hinaus im Hinblick auf das gesamte Land gelesen werden kann, dafür gibt der Text selbst die entscheidenden Hinweise: Der Richter des Schlachthofes wird als caudillo bezeichnet und verfügt – wie Rosas in der außertextuellen Welt – über absolute Macht: „En la casilla se hace la recaudación del impuesto de corrales, se cobran las multas por violación de reglamentos y se sienta el juez del matadero, personaje importante, caudillo de los carniceros y que ejerce la suma del poder en aquella pequeña república por delegación del Restaurador.“ (Echeverría 1839: 99)
Im angeführten Zitat gilt der Schlachthof als kleine Republik in Vertretung des Restaurador. Die Erzählung endet mit dem Hinweis, dass der Fokus der Föderation auf dem Schlachthof ruht: „[…] el foco de la federación estaba en el matadero.“ (Eche5
Zur Interpretation der sexuellen Dimension in El matadero vgl. etwa Skinner (1999) und Xuan Jing (2010).
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verría 1839: 114). Die entscheidende Textstelle, die einen Schluss darauf zulässt, dass die Vorgänge am Schlachthof als Allegorie für ganz Argentinien gelten können, lautet folgendermaßen: „Simulacro en pequeño era éste del modo bárbaro con que se ventilan en nuestro país las cuestiones y los derechos individuales y sociales. [Kursivierung VÖ]“ (Echeverría 1839: 103). Diese im Text selbst formulierte Interpretation, dass das Geschehen am Schlachthof als Kritik am Umgang mit den Rechten des Individuums und der Gesellschaft während der Rosas-Herrschaft angelegt ist, erlaubt eine weitere Zuordnung von Textelementen zum gesamten Land, der gesamten Föderation. Die konkrete Ebene des Textes spielt in Buenos Aires zu einer Zeit, als das Rosas-Regime die Unterdrückung politischer Gegner verschärfte (1839). Auch in der erzählten Welt bilden die als solche bezeichneten Föderalen und Unitarier die sich einander gegenüberstehenden Figuren(-gruppen). Sowohl einzelne historische Figuren als auch die Symbole des Regimes finden sich in ihr wieder: Die gegen die Unitarier gerichteten bzw. die Föderation preisenden Sprüche des Regimes, die Farbe des Regimes sowie der Verweis auf Rosas (Restaurador de las Leyes) und seine namentlich genannte Gattin. Die erwähnten Schriftzüge, die in roter Farbe auf dem Häuschen prangen, werden als Symbole des politischen und religiösen ‚Glaubens‘ verstanden und verweisen auf der allegorischen Ebene über die gente del matadero hinaus auf die Anhänger des Rosas-Regimes: „Letreros muy significativos, símbolo de la fe política y religiosa de la gente del matadero.“ (Echeverría 1839: 99). Dies lässt den Schluss zu, dass weniger die Geschichte einzelner Figuren im Vordergrund der Erzählung stehen, sondern vielmehr die Grausamkeit und Praktiken des Regimes und ihrer Unterstützer, die als barbarische, von ihren Instinkten geleitete Masse dargestellt werden. Die allegorische, auf die gesamte Föderation bezogene Lesart wird durch die Konzeption der Figuren gestützt. Diese werden nicht als individualisierte Figuren in die Erzählung eingeführt, sondern als vorwiegend anonym bleibende Masse oder Einzelfigur unter Erwähnung einer auf sie zutreffenden Identitätskategorie: die Ethnizität der Figuren sowie ihr Geschlecht (negras, mulatas), das Alter der Figuren (muchachos), ihre Parteizugehörigkeit (federales, un unitario), ihre Nationszugehörigkeit (cierto inglés) oder ihre Berufsgruppe (un juez, el carnicero). Dies trifft auf alle Figurengruppen ungeachtet ihrer Konstellation zu, mit Ausnahme der Gattin Rosas’ sowie Matasietes, die beim Namen genannt werden, obgleich auch ‚Matasiete‘ eine Antonomasie ist. Die Figuren werden so zu Repräsentantinnen ihrer Identitätskategorie und all jener Argentinier/innen, die ebenfalls dieser Kategorie zugeteilt werden können. Der Wirkungskreis der Figurengruppe der Schlachter als intime Verbündete des Regimes wird im Text selbst über den Schlachthof hinaus auf die gesamte Föderation bezogen: „En aquel tiempo los carniceros degolladores del matadero eran los apóstoles que propagaban a verga y puñal la federación rosina, y no es difícil imaginarse qué federación saldría de sus cabezas y cuchillas.“ (Echeverría 1839: 114). Als jene Gruppe, die für die Verfolgung von Regimegegnern verantwortlich ist und Folterpraktiken anwendet, könnten die Schlachter stellvertretend für die mazorca stehen. Sie sind für die Wiederherstellung der Ordnung zuständig: „Verificaron la orden […]“ (Echeverría 1839: 114). Die ‚Ordnung‘ scheint sich auf die Überwachung der Regimetreue der Argentinier/innen sowie die Verfolgung all jener, die sich dieser Zugehörigkeit verweigern, zu beziehen. Das Häuschen auf dem Schlachthof wird als für diese Zwecke ausgestattet beschrieben: „La sala de la casilla tenía en su centro una grande y fornida mesa de la cual no salían los vasos de bebida y los naipes
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sino para dar lugar a las ejecuciones y torturas de los sayones federales del matadero.“ (Echeverría 1839: 110, 111). Die Figuren am Schlachthof, die als ‚föderale Henkersknechte‘ bezeichnet werden, fühlen sich nicht nur durch die Zurschaustellung der Zugehörigkeit des jungen Mannes zur Gruppe der Unitarier, worauf sein in Form eines U geschnittener Bart (anstatt des für die Föderalen typischen Schnauzbartes), seine Kleidung sowie der englische Sattel6 hindeuten, provoziert7. Zur Eskalation kommt es, nachdem der Unitarier das Tragen des roten Bandes als Symbol des Rosas-Regimes sowie des Trauersymbols8 für die verstorbene Gattin des Restaurador verweigert: „—Por qué no llevas luto en el sombrero por la heroína?. —¡Porque lo llevo en el corazón por la Patria, por la Patria que vosostros habéis asesinado, infames!“ (Echeverría 1839: 112, 113). Neben der Konzeption der Figuren weisen der Aufbau und der Zusammenhang der Einzelteile darauf hin, dass die Kritik am Zustand der Republik einen wesentlichen Teil des Erzähltextes bildet. Der einführende Abschnitt der Erzählung widmet sich einer allgemeinen Regimekritik, allen voran der Verbindung des Regimes mit der katholischen Kirche9. Wie im Dogma Socialista (1837) wird die Kirche dafür kritisiert, Privilegien zu genießen, was dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Recht widerspricht. Die folgende Textstelle bezieht sich auf den während der Fastenzeit verbotenen Fleischkonsum sowie den oben zitierten fuero eclesiástico de alimentarse con carne: „¡Cosa extraña que haya estómagos privilegiados y estómagos sujetos a leyes inviolables y que la iglesia tenga la llave de los estómagos!“ (Echeverría 1839: 96). Einen zweiten, damit verbundenen thematischen Schwerpunkt des ersten Teiles bildet die Diffamierung der Unitarier durch Regime und Kirche gleichermaßen, hier in Form der zitierten Figurenrede der predicadores: „Es el día del juicio, decían, el fin del mundo está por venir. La cólera divina rebosando se derrama en inundación. ¡Ay de vosotros, pecadores! ¡Ay de vosotros, unitarios impíos que os mofáis de la iglesia, de los santos, y no escucháis con veneración la palabra de los ungidos del Señor! [...] La justicia del Dios de la Federación os declarará malditos.“ (Echeverría 1839: 92, 93)
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Vgl. dazu auch die Ausführungen von Fleming (2011: 108, 109, Fußnoten 55-58). „Mas de repente la ronca voz de un carnicero gritó: —¡Allí viene un unitario! —y al oír tan significativa palabra toda aquella chusma se detuvo como herida de una impresión subitánea. —¿No le ven la patilla en forma de U?. No trae divisa en el fraque ni luto en el sombrero. —Perro unitario. —Es un cajetilla. —Monta en silla como los gringos. —La Mazorca con él. —¡La tijera! —Es preciso sobarlo. —Trae pistoleras por pintar.“ (Echeverría 1839: 108, 109). Der hier explizit gemachte Verweis auf die Mazorca stützt die oben dargestellte Lesart, dass die Figuren des Schlachthofes, die den Unitarier foltern, stellvertretend für die Mazorca stehen könnten. Man beachte auch, dass der Unitarier im Gegensatz zum Messer der Föderalen eine Pistole trägt. Laut Fleming (2011: 108, Fußnote 56) ordnete Rosas eine zweijährige Trauerzeit für seine Gattin an, während der eine Armschleife mit schwarzem Band am linken Arm sowie eine schwarzes Band am Hut getragen werden mussten. Auf diesen Aspekt weist u.a. auch Fleming (2011: 93, Fußnote 7) hin.
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Dieser Teil der Erzählung wird nicht durch einen Plot, der an konkrete Figuren und deren Handlungen gebunden wäre, mit den folgenden Teilen zusammengehalten, sondern zeigt Institutionen wie die als paternalistisch beschriebene Regierung („el gobierno, tan paternal como previsor“ (Echeverría 1839: 95)) und die katholische Kirche als Handlungsträgerinnen. Wie hängen die Regime- und Kirchenkritik im ersten Teil mit der Schilderung der Vorgänge am Schlachthof und der Folter des Unitariers zusammen? Der erste Teil kann mit den anderen beiden Teilen als verbunden verstanden werden, wenn seine thematische und räumlich-allegorische Konstante in den Blick genommen wird. „[...] en aquel tiempo la Federación estaba en todas partes, hasta entre las inmundicias del matadero y no había fiesta sin Restaurador como no hay sermón sin Agustín.“ (Echeverría 1839: 96). Der nicht als aktive Figur inszenierte Restaurador (es wird nur über ihn gesprochen) als oberster Repräsentant des Regimes ist in allen drei Teilen der Erzählung präsent und bildet eine Verbindung zwischen der allgemeinen Regimekritik im ersten Teil, der costumbristischen Schilderung von Sitten und Verhalten der barbarischen Menschenmenge im Umfeld des Schlachthofes im Mittelteil sowie der konkreten Konfrontation zwischen den Figuren der zwei politischen Parteien des Landes im Schlussteil10. Ein in allen drei Teilen der Erzählung wiederkehrendes Thema ist darüber hinaus jenes der Freiheit. Im ersten Teil ist es die Gewissensfreiheit des Individuums, deren Fehlen kritisiert wird. „Y como la iglesia tiene ab initio y por delegación directa de Dios el imperio inmaterial sobre las conciencias y estómagos, que en manera alguna pertenecen al individuo, nada más justo y racional que vede lo malo. [Kursivierung im Original]“ (Echeverría 1839: 92). Im zweiten Teil versucht sich der Stier aus den Fängen der Föderalen am Schlachthof zu befreien: „Allá va —gritó una voz ronca11 interrumpiendo aquellos desahogos de la cobardía feroz—. ¡Allá va el toro! […] Y, en efecto, el animal acosado por los gritos y sobre todo por dos picanas agudas que le espoleaban la cola, sintiendo flojo el lazo, arremetió bufando a la puerta, lanzando a entrambos lados una rojiza y fosfória mirada.“ (Echeverría 1839: 105)
Als er entkommt, flieht er Richtung Stadt12: „El toro, entre tanto, tomó hacia la ciudad por una larga y angosta calle […]“ (Echeverría 1839: 106). Und im dritten Teil ist es der junge Unitarier, der seine Freiheit zu verteidigen versucht: „—La librea es para vosotros, esclavos, no para los hombres libres.—A los libres se les hace llevar a la fuerza.“ (Echeverría 1839: 112). Die Föderalen kritisiert er als Sklaven und Vasallen, in Opposition zum oben zitierten hombre libre, der mit individueller Freiheit ausgestattet ist: „—¿No sabes que así lo dispuso el Restaurador? —Lo dispusisteis 10 Wie weiter unten deutlich wird, ist auch die Antipathielenkung gegen föderale Figuren durch die Erzählinstanz ein die einzelnen Teile miteinander verbindendes Element.
11 Man beachte, dass sowohl die Stierepisode als auch jene des jungen Unitariers mit una voz ronca gritó eingeführt werden. Beide, der Stier wie der junge Unitarier werden von der Menge provoziert und angestachelt. Und beide werfen dieser einen feurigen Blick (una rojiza y fosfórica mirada (Stier) bzw. lanzando una mirada de fuego, sus ojos de fuego, echaban feugo sus pupilas (Unitarier)) zu. 12 Der Unitarier wurde an einer der oben zitierten Textstellen als cajetilla, laut Fleming (2011: 108, Fußnote 57), ein städtischer Mann, ein petrimetre, beschimpft.
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vosotros, esclavos, para lisonjear el orgullo de vuestro señor y tributarle vasallaje infame.“ (Echeverría 1839: 113). Die „perseguidores“ (Echeverría 1839: 107) von Stier und Unitarier, so wird es im letzten Absatz deutlich, verfolgen alle aufgeklärten und moralisch guten Menschen, die Nation und Freiheit schätzen: „[…] a todo hombre decente y de corazón bien puesto, a todo patriota ilustrado amigo de las luces y de la libertad […]“ (Echeverría 1839: 114). Diese den Schlusssatz bildenden Worte spannen den Bogen zu einer allgemeinen Bemerkung im ersten Teil der Erzählung, in der die Unterdrückung individueller Freiheit durch Kirche und Regierung angeprangert und mit dem Kolonialsystem13 in Verbindung gebracht wird: „[…] el caso es reducir al hombre a una máquina cuyo móvil principal no sea su voluntad sino la de la iglesia y el gobierno. Quizá llegue el día en que sea prohibido respirar aire libre, pasearse y hasta conversar con un amigo, sin permiso de autoridad competente. Así era, poco más o menos, en los felices tiempos de nuestros beatos abuelos que por desgracia vino a turbar la revolución de Mayo.“ (Echeverría 1839: 96)
Die als ‚patria‘ bezeichnete Nation wird insofern mit dem Thema der Freiheit verbunden als sie begrifflich und konzeptuell nur von Regimegegnern verwendet wird. Die Verteidigung der Patria kommt zum einen in der Figurenrede des jungen Unitariers zum Ausdruck und zum anderen im Schlussabsatz der Erzählung, in dem erklärt wird, dass die Föderalen all jene verfolgen und pauschal als salvaje unitario bezeichnen („conforme a la jerga inventada por el Restaurador“ (Echeverría 1839: 114)), die keine deklarierten Anhänger des Regimes sind („a todo el que no era degollador, carnicero, ni salvaje, ni ladrón“ (Echeverría 1839: 114)), ob sie nun tatsächlich Unitarier sind oder nicht („a todo patriota ilustrado amigo de las luces y de la libertad“ (Echeverría 1839: 114)). Das Land (nuestro país), das Regime des Restaurador und die Föderation werden weder als ‚patria‘ noch ‚nación‘ bezeichnet. Die oben zitierte Figurenrede des Unitariers suggeriert, dass es die Patria bereits gegeben habe, die Föderalen diese aber vernichtet hätten (¡Porque lo llevo en el corazón por la Patria, por la Patria que vosostros habéis asesinado, infames!). Das Rosas-Regime wird in El matadero (1839) demnach als freiheits- und nationsfeindlich gezeichnet. Individuelle Freiheit (Freiheit vom Staat) und Nation können so als ex negativo präsente Konstante der Erzählung betrachtet werden. Welche weiteren Mittel zur Inszenierung derselben weist El matadero (1839) auf? Zum Verhältnis zwischen Autor und Erzählinstanz In El matadero (1839) gibt sich die Erzählinstanz zu Beginn des Textes als yo zu erkennen, die ihre Geschichte erzählt: „A pesar de que la mía es historia [...]“ (Echeverría 1839: 91); „Diré solamente que los sucesos de mi narración pasaban por los años de Cristo de 183….“ (Echeverría 1839: 91). Über dieses Ich als Sprechinstanz finden sich keine Informationen bezüglich Namen, Biographie, Geschlecht, Alter, sozialen Status, Beruf oder Familienstand; es bleibt auf Textebene anonym. Das Ich ist aber Teil der erzählten Welt in Buenos Aires („Estábamos, a más, en cuaresma, 13 Die Mairevolution wird also, wie im Dogma Socialista (1837), als Wendepunkt und Beginn für Freiheit definiert.
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época en que escasea la carne en Buenos Aires […]“ (Echeverría 1839: 91)). Wird das Jahr, in dem die Erzählung spielt, auch nicht konkretisiert, so lassen die Angabe 183… sowie die oben besprochenen Hinweise in Form der Trauerzeit für die Rosas’ Gattin gemeinsam mit dem Verweis auf die Fastenzeit eine recht genaue Datierung zu: die Fastenzeit des Jahres 1839. Die Erzählung spielt also zu jener Zeit, in der der Autor das Werk verfasste. Raum und Zeit können als Parallelen zwischen Autor und Erzählinstanz angeführt werden. Gestützt wird dieser Effekt dadurch, dass die Erzählinstanz als unbeteiligte Beobachterin und Kommentatorin auftritt, die sich keiner der beschriebenen Gruppen in Form eines ‚Wirs‘ zuordnet. Es wird dadurch suggeriert, dass das Ich wie der Autor ein Zeitzeuge ist. Diese Beobachtungen sind vor dem Kontext relevant, dass Autor und Erzählinstanz im 19. Jahrhundert noch nicht als getrennte Kommunikationsinstanzen verstanden wurden. Zum Verhältnis zwischen Erzählinstanz, Figuren und implizitem Leser Informations- und Wissensverteilung Zunächst, so scheint es, ist die Erzählinstanz mit Nullfokalisierung in einer allwissenden Position, die vor allem im ersten Teil der Erzählung über sämtliche Informationen zu Buenos Aires, Land, Regime und Kirche verfügt und in der Lage ist, die Ausgangssituation (die Überschwemmung sowie die Hintergründe zur Schlachtung der 50 Jungstiere) zu schildern. Sie überblickt das Geschehen, kennt alle nötigen Hintergrundinformationen und lässt diese dem impliziten Leser zukommen. Anders im zweiten Teil der Erzählung, in dem sich die Erzählinstanz zunehmend zurückzieht und schließlich aus der Distanz beobachtend erzählt: „La perspectiva del matadero a la distancia era grotesca, llena de animación.“ (Echeverría 1839: 100). Es wird der Eindruck erzeugt als beobachte die Erzählinstanz die Geschehnisse am matadero aus sicherer Ferne und erzähle sie dem impliziten Leser in einer gleichzeitigen Narration, ganz so als verfügte sie über kein darüberhinausgehendes Wissen. Dieser Abschnitt der Erzählung kann als externe Fokalisierung, der größtmöglichen Distanzierung in Form der Perspektive, klassifiziert werden14. Die Figurenrede der sich am matadero befindlichen Figuren wird in direkt zitierter Form wiedergegeben. Es scheint als würde die Erzählinstanz die Gespräche der Figuren mithören, doch als verfügte sie über keinen Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt derselben. Sie beobachtet zwei Afrikanerinnen („dos africanas“ (Echeverría 1839: 102)), um gleich weiter zu den erwähnten 400 negras zu schwenken und dann „varios muchachos“ (Echeverría 1839: 102) in den Blick zu nehmen. Stets erzählt sie, welch Bild sich ihr bietet: „Hacia otra parte, entre tanto, dos africanas llevaban arrastrando las entrañas de un animal; allá una mulata se alejaba con un ovillo de tripas y resbalando de repente sobre un charco de sangre, caía a plomo, cubriendo su cuerpo la codiciada presa.“15 (Echeverría 1839: 102); „[…] por otro, cuatro, ya adolescentes, ventilaban a cuchilladas el derecho a una tripa gorda y un mondongo que habían robado a un carnicero […]“ 14 Der Abschnitt in externer Fokalisierung reicht von der soeben zitierten Stelle auf Seite 100 bis zur Seite 105, wie weiter unten erklärt wird.
15 Zur karnavalesken Dimension des Textes nach Mikhail Bakthin vgl. Roberto Folger (1999).
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(Echeverría 1839: 103). Diesen Abschnitt der Erzählung beendet die Erzählinstanz mit ihrem Hinweis darauf, dass die Vorgänge am Schlachthof ein simulacro en pequeño des gesamten Landes seien und sie rechtfertigt ihre vorangegangene Distanz mit folgenden Worten: „En fin, la escena que se representaba en el matadero era para vista, no para escrita.“ (Echeverría 1839: 103). Immer noch werden kaum Informationen und Einblicke in die Welt der Gedanken und Gefühle der Figuren gewährt und es dominiert die zitierten Figurenrede, doch erfolgt an der folgenden Stelle ein Wechsel der Außensicht in die Nullfokalisierung (und damit eine Einsicht in auslösende Faktoren für Emotionen): „—Se cortó el lazo —gritaron unos—, allá va el toro —pero otros, deslumbrados y atónitos, guardaron silencio porque todo fue como un relámpago [Kursivierung VÖ].“ (Echeverría 1839: 105), auf die kurz darauf die folgende Stelle folgt: „Unas cuantas negras achuradoras, sentadas en hilera al borde del zanjón, oyendo el tumulto se acogieron y agazaparon entre las panzas y tripas que desenredaban y devanaban con la paciencia de Penélope, lo que sin duda las salvó, porque el animal lanzó al mirarlas un bufido aterrador, dio un brinco sesgado y siguió adelante perseguido por los jinetes.“ (Echeverría 1839: 105, 106)
Die eher distanzierte Haltung gegenüber den Figuren wird bis zum Schluss der Erzählung aufrechterhalten und ändert sich auch nicht, als der Streit zwischen den Föderalen und dem Unitarier eskaliert und dessen Todesszene erzählt wird. Meist zugunsten der zitierten Figurenrede zurücktretend, werden nur kleinere Einblicke in die Wahrnehmung von Figuren gewährt, gefolgt vom zitierten Schlussabsatz der Erzählung, in dem die Erzählinstanz wieder zu ihrer übergeordneten, alles überblickenden Position, so wie zu Beginn der Erzählung, zurückkehrt. Der implizite Leser weiß in etwa gleich viel wie die Erzählinstanz. Das heißt, dass er im Mittelteil der Erzählung weniger als die Figuren weiß. Der implizite Leser wird dadurch über weite Strecken der Erzählung zum Zeugen, der scheinbar sieht und hört, was passiert, die Schreie, das Blut, die Figuren, ihren Dialog. Welches Wissen wird beim impliziten Leser vorausgesetzt? Zunächst das Wissen eines zeitgenössischen Einwohners von Buenos Aires, so scheint es angesichts des Einstiegs in die Erzählung, ohne dass Orte, Flüsse und Stadtviertel erklärt würden, ebenso wenig wie die Antonomasie El Restaurador de las Leyes oder die politische Ironie zu Beginn der Erzählung. Das Terrain des Schlachthofes, dessen Lage nicht als bekannt vorausgesetzt wird, wird dem impliziten Leser aber sehr genau vorgestellt und es werden ihm Erklärungen zur Gattin von Rosas, die bei einem zeitgenössischen Leser aus Buenos Aires als bekannt angenommen werden dürfen, geliefert: „El matadero de la Convalecenca o del Alto, sitio en las quintas al sud de la ciudad […]“ (Echeverría 1839: 98); „Pero algunos lectores no sabrán que la tal heroína es la difunta esposa del Restaurador, patrona muy querida de los carniceros [...]“ (Echeverría 1839: 99). Lassen sich auch keine genauen Hinweise auf den im Text angelegten Leserkreis ausmachen, so ist er prinzipiell auch für Leser/innen, die nicht aus Buenos Aires oder Argentinien stammen, offen gehalten.
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Redesituationen Zusätzlich zu den im Anschluss zu diskutierenden Bewertungen der Erzählinstanz tragen die Figuren ihre Zustimmung und Ablehnung zum Rosas-Regime in direkter Rede vor. Die ideologische Zuordnung der zitierten Figurenrede ist eindeutig: Während sich die Föderalen als erbitterte Gegner der Unitarier (etwa in der zitierten Figurenrede der katholischen Prediger (Echeverría 1839: 92, 93)) und RegimeUnterstützer zeigen, die fortwährend mit Begeisterung die Parolen der Föderation ausrufen, so bringt der Unitarier seine Opposition zum Regime ebenfalls selbst zum Ausdruck (vgl. die oben zitierten Stellen), indem er sich für die Patria und seine individuelle Freiheit einsetzt. Die vulgären Ausdrücke der föderalen Figuren in ihrer direkten Rede bestätigen die Charakterisierung durch die Erzählinstanz. Der implizite Leser wird selbst ‚Zeuge‘ ihrer ordinären Sprache, ihrer Einstellungen und ihres Verhaltens. Dass die Figurenrede aber auch die Ambiguität des Textes erhöht16 ist im dritten Teil der Erzählung zu beobachten, als es zur Auseinandersetzung zwischen den Föderalen und dem Unitarier kommt. Es ist dies jener Teil der Erzählung, der am meisten zitierte Figurenrede enthält. Die Erzählinstanz ‚verschwindet‘ an manchen Stellen beinahe, verbindet die Dialoge kaum miteinander und lässt Rede auf Rede folgen. „— A ti te toca la resbalosa —gritó uno. —Encomienda tu alma al diablo. —Está furioso como toro montaraz. —Ya le amansará el palo. —Es preciso sobarlo. —Por ahora verga y tijera. —Si no, la vela. —Mejor será la mazorca. —Silencio y sentarse —exclamó el juez, dejándose caer sobre su sillón. Todos obedecieron, mientras el joven, de pie, encarando al juez, exclamó con voz preñada de indignación: —Infames sayones, ¿qué intentan hacer de mí? —¡Calma! —dijo sonriendo el juez—, no hay que encolerizarse. Ya lo verás.“ (Echeverría 1839: 111)
Die Figur des Unitariers wird nicht durch die Erzählinstanz, sondern die Figurenrede der Föderalen in die erzählte Welt eingeführt17: „Mas de repente la ronca voz de un carnicero gritó: —¡Allí viene un unitario!“ (Echeverría 1839: 108). Die Charakterisierung der unitarischen Figur wird in der jeweiligen Figurenrede vorgenommen – in expliziter Fremdcharakterisierung durch die Föderalen und impliziter wie expliziter Selbstcharakterisierung durch den Unitarier. Ihre Bewertung ist abgesehen von der oben zitierten Textstelle in diesem Teil der Erzählung nicht von der Erzählinstanz gesteuert und so weitgehend dem impliziten Leser selbst überlassen. Dementsprechend unterschiedlich sind die Interpretationen der Schlussepisode des Erzähltextes in der Sekundärliteratur ausgefallen: Laut Cabañas (1998: 135) macht der tragische, heldenhafte Tod des Unitariers diesen zum Märtyrer und Patrioten. Jing (2010) meint, dass der junge Unitarier die ideale Nation verkörpere18. Da dieser aber stirbt, bevor er vergewaltigt werden kann, lege der Text nahe, dass die Figuren des matadero kein 16 Auf diesen Aspekt in El matadero hat Folger (1999) hingewiesen. Laut Folger (1999: 38) untergräbt die Vielstimmigkeit das politische Anliegen des Textes.
17 Darauf weist auch Jing (2010) hin. Dadurch verschiebe sich der Fokus der Erzählung auf den feindlichen Blick der Föderalen, was als Beginn der darauffolgenden Ereignisse gedeutet werden könne. (Jing 2010: 110) 18 Der Autor argumentiert diese Lesart mithilfe einer „modelación del héroe como una figura Christi [Kursivierung im Original]“ (Jing 2010: 113).
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Recht auf den nationalen Körper hätten (Jing 2010: 113). Jing (2010) sieht mit dem Tod des Helden die Gemeinschaft der Föderalen am matadero in Auflösung begriffen, ja als zerstört an (Jing 2010: 111): „El joven unitario se vuelve, aunque posteriormente, un héroe trasgesor en el sentido de Lotman (1989: 338): ha sido capaz de penetrar en un espacio prohibido para destruir allí el orden regente.“19 (Jing 2010: 119). Folger (1999: 40, 41) macht auf die provokative Haltung des Unitariers aufmerksam, der Gegenreaktionen der Föderalen geradezu herausfordere. Er sei arrogant, gewaltsam und kämpfe mit allen Mitteln gegen die Entwürdigung seiner Person durch die Föderalen (Folger 1999: 46). Auch Skinner (1999: 223) legt eine Textinterpretation vor, die die negativen Eigenschaften des Unitariers in den Blick nimmt. Der Unitarier sei unfähig oder unwillig, mit den Föderalen zu kommunizieren: „[…] he berates, lectures, and harangues them, but never engages in conversation with them. Nor is he able to present a statement of political beliefs or an ideological agenda beyond calling the Federalists ‚esclavos‘ (137). [Anführungszeichen im Original]“ (Skinner 1999: 223). Fleming (2011: 75) meint, dass zumindest der heutige Leser/die heutige Leserin dem Unitarier als affektiertem, gekünsteltem Helden nicht mit Sympathie begegnet und sich nur bemüht mit seiner Sache solidarisieren kann. Es bleibt zu klären, ob der fiktive Leser in El matadero (1839) direkt angesprochen wird. Dazu lässt sich sagen, dass die Erzählinstanz den impliziten Leser an mehreren Stellen als lector bzw. lectores anspricht: „Porque han de saber los lectores que en aquel tiempo la Federación estaba en todas partes [...]“ (Echeverría 1839: 96). Sie zeigt dem Leser an, wohin er seine Aufmerksamkeit richten sollte – „Pero para que el lector pueda percibirlo a un golpe de ojo, preciso es hacer un croquis de la localidad.“ (Echeverría 1839: 98) – und versorgt ihn mit den nötigen Informationen, damit er das Vorgehen am Schlachthof richtig verstehen könne: „Pero algunos lectores no sabrán que tal heroína es la difunta esposa del Restaurador, patrona muy querida de los carniceros […]“ (Echeverría 1839: 99). Sie weist ihn darüber hinaus auf die Gewaltsamkeit und Brutalität der Anhänger des Regimes hin: „Oíanse a menudo, a pesar del veto del Restaurador y de la santidad del día, palabras inmundas y obscenas, vociferaciones preñadas de todo el cinismo bestial que caracteriza a la chusma de nuestros mataderos, con las cuales no quiero regalar a los lectores.“ (Echeverría 1839: 102)
Und sie lässt ihn zum Zeugen des Geschehens werden, um ihn abschließend implizit in unpersönlicher Anrede (puede verse) darauf aufmerksam zu machen, dass das Geschehen als Merkmal der Föderation gewertet werden kann: „[…] y por el suceso anterior puede verse a las claras que el foco de la federación estaba en el matadero.“ (Echeverría 1839: 114). Dies sind die Schlussworte des Erzähltextes, in denen die Erzählinstanz an den impliziten Leser gewandt noch einmal zur Ablehnung der Föderation aufruft. Die Leseranrede erfolgt also vornehmlich an Stellen, die der Schilderung von Brutalität im Umfeld der föderalen Figuren gewidmet sind.
19 Wie aber ist dann die im Text darauffolgende verallgemeinernde Konklusion zu verstehen, dass der beschriebene Vorfall eine etablierte Praxis der Föderation gegen sämtliche als salvajes unitarios bezeichnete Regimegegner darstellt? Kann die Gemeinschaft am Schlachthof vor diesem Kontext als durch den Einzelvorfall zerstört angesehen werden?
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Bewertungsstrategien Die Erzählinstanz in El matadero (1839) äußert sich sowohl in Form explikativer als auch evaluativer Kommentare. Sie ist eine zentrale Instanz zur Bewertung des Geschehens und der Figuren und dabei alles andere als neutral. Sie macht an mehreren Stellen explizit, dass sie die Selektionsinstanz von Figuren und Ereignissen ist20: „Lo que hace principalmente a mi historia es que por causa de la inundación […]“ (Echeverría 1839: 94). Die zahlreichen Erklärungen des ersten Teils der Erzählung sind mit einer deutlichen Wertung versehen. Die Erzählinstanz bedient sich hierfür des Mittels der Ironie, d.h. der kritische Distanz schaffenden Fremdcharakterisierung21, die von Hyperbeln begleitet ist. „Se hablaba ya, como de cosa resuelta, de una procesión en que debía ir toda la población descalza y a cráneo descubierto, acompañando al Altísimo, llevado bajo palio por el Obispo, hasta la barranca de Balcarce, donde millares de voces, conjurando al demonio unitario de la inundación, debían implorar la misericorida divina.“ (Echeverría 1839: 93)
Der gesamte erste Teil der Erzählung ist durchzogen von ironischen Kommentaren und Übertreibungen, sodass kaum ein Absatz zu finden ist, der keines der beiden Mittel enthält. Zwei weitere Beispiele seien hier noch angeführt: „Algunos médicos opinaron que si la carencia de carne continuaba, medio pueblo caería en síncope por estar los estómagos acostumbrados a su corroborante jugo; y era de notar el contraste entre estos tristes pronósticos de la ciencia y los anatemas lanzados desde el púlpito por los reverendos padres contra toda clase de nutrición animal y de promiscuación en aquellos días destinados por la iglesia al ayuno y la penitencia. Se originó de aquí una especie de guerra intestina entre los estómagos y las conciencias [...]“ (Echeverría 1839: 95) „Es de creer que el Restaurador tuviese permiso especial de su Ilustrísima para no abstenerse de carne, porque siendo tan buen observador de las leyes, tan buen católico y tan acérrimo protector de la religión, no hubiera dado mal ejemplo aceptando semejante regalo en día santo [gemeint ist der erste Jungstier, der ihm geschenkt wurde]“ (Echeverría 1839: 98)
Die distanzierende Antipathielenkung, die hier erfolgt, ist offenkundig gegen die Regierung und die Kirche gerichtet. In den beiden weiteren Teilen der Erzählung tritt die ironische Grundhaltung zugunsten expliziter, ebenfalls rezeptionssteuernder, Wertungen zurück, die nicht nur eine distanzierte, sondern eine klar ablehnende Haltung der Erzählinstanz erkennen lassen. Im zweiten Teil der Erzählung, der ohnehin 20 Auf die starke Präsenz der Erzählinstanz hat z.B. David William Foster hingewiesen, der diese als über eine scheinbar objektive oder uneigennützige Kommentarinstanz hinausgehend und als zentrale Instanz des Diskurses versteht (Cabaña 1998: 143). Jaime Giordano meint, die wertende, ja verurteilende Erzählinstanz sei der Reinheit der Erzählung abträglich (Cabaña 1998: 144). 21 Dass das Mittel der Ironie in El matadero (1839) eine Distanz zwischen Erzählinstanz und dem Erzählten herstellt, betont bereits Jitrik (1968: 7). Und auch Jing (2010: 118) erblickt in der Ironie ein Mittel, um eine Desolidarisierung und Distanzierung des Lesers mit dem Schlachthof hervorzurufen.
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aufgrund der externen Fokalisierung bereits eine Distanzierung der Erzählinstanz zu den Figuren am Schlachthof aufweist, erfolgen diese entweder in Form negativ konnotierter Wortwahl („chusma“ (Echeverría 1839: 101)), des Vergleichs der Figuren mit wilden Tieren22 oder einer expliziten Wertung („bestial“ (Echeverría 1839: 102), „infernal“ (Echeverría 1839: 105), „hombres feroces“ (Echeverría 1839: 109))23. Die Antipathielenkung der Erzählinstanz gegen die Föderalen nimmt den Großteil ihrer wertenden Kommentare ein. Die Menschenmenge wird als sarkastisch und schadenfroh beschrieben: „La aventura del gringo en el pantano excitaba principalmente la risa y el sarcasmo.“ (Echeverría 1839: 107). Während die Erzählinstanz um Mitgefühl für den Engländer wirbt („el pobre hombre“ (Echeverría 1839: 106)), lässt der Unfall die Menge kalt: „Este accidente, sin embargo, no detuvo ni refrenó la carrera de los perseguidores del toro, antes al contrario, soltando carcajadas sarcásticas [...] amasaron con barro bajo las patas de sus caballos su miserable cuerpo.“ (Echeverría 1839: 106). Die Erzählinstanz ruft den impliziten Leser zu Mitgefühl für das Individuum bei gleichzeitiger Schaffung von Missgunst für die als barbarisch gezeichnete föderale Masse auf, die den Engländer nicht nur verhöhnt (an einer Stelle ist auch von deren „cinismo bestial“ (Echeverría 1839: 102) die Rede), sondern ihn noch zusätzlich mit Schlamm bedeckt. Der Gipfel an Brutalität im zweiten Teil der Erzählung wird mit dem Tod des Kindes erreicht, das beim Ausbruch des Stiers24 und dessen Versuch, seine Freiheit wiederzuerlangen, stirbt. „Y, en efecto, el animal acosado por los gritos y sobre todo por dos picanas agudas que le espoleaban la cola, sintiendo flojo el lazo, arremetió bufando a la puerta, lanzando a entrambos lados una rojiza y fosfórica mirada. Diole el tirón el enlazador sentando su caballo, desprendió el lazo de la asta, crujió por el aire un áspero zumbido y al mismo tiempo se vio rodar desde lo alto de una horqueta del corral, como si un golpe de hacha la hubiese dividido a cercén, una cabeza de niño cuyo tronco permaneció inmóvil sobre su caballo de palo, lanzando por cada arterira chorro de sangre.“ (Echeverría 1839: 105)
22 Dass die Menge an ‚schwarzen‘ Frauen und ‚Mulattinnen‘ als Unterstützerinnen der Föderalen verstanden werden können, lässt sich nicht nur an Gegenüberstellung der Figurengruppe mit einzelnen, mit dieser in Kontrast stehenden Individuen begründen, sondern auch mit der Figurencharakterisierung, die anhand von Tiervergleichen erfolgt. Wurde der Vergleich der Frauengruppe mit caranchos oben bereits erwähnt, so findet sich zu einem späteren Zeitpunkt der Erzählung derselbe Vergleich wieder, dieses Mal bezogen auf die gesamte Figurengruppe: „—¡Viva Matasiete! —exclamó toda aquella chusma cayendo en tropel sobre la víctima como los caranchos rapaces sobre la osamenta de un buey devorado por el tigre.“ (Echeverría 1839: 109). 23 „A sus espaldas se rebullían, caracoleando y siguiendo los movimientos, una comparsa de muchachos, de negras y mulatas achuradoras, cuya fealdad trasuntaba las harpías de la fábula, y, entremezclados con ella, algunos enormes mastines olfateaban, gruñían o se daban de tarascones por la presa.“ (Echeverría 1839: 100). 24 Der Ausbruch des Stieres ist zugleich jene Stelle, an der der Wechsel von der externen Fokalisierung zur Nullfokalisierung erfolgt.
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Das Kind wird regelrecht zweigeteilt, als wäre es durch einen Axtschlag geköpft worden. Es kommt in der Auseinandersetzung zwischen dem freiheitssuchenden, mit dem Unitarier parallel gesetzten Stier und den provokativen, als brutal gezeichneten Föderalen zu Tode25. In der Sekundärliteratur ist häufig die Meinung geäußert worden, Echeverría identifiziere sich im dritten Teil der Erzählung mit dem misshandelten Unitarier. Fleming (2011) meint, der Autor überschreite hier seine Funktionen und vermische sich mit der Figur, um seine Empörung zum Ausdruck zu bringen. „El diálogo, adoctrinador, resulta enfático y sobreactuado.“ (2011: 113, Fußnote 74). Auch Roberto González Echevarría (1994) kann als einer der Unterstützer der These angeführt werden, dass der Unitarier eine Projektion des Autors sei: „In the story, a young man who is very clearly a projection of the author is assaulted by the rabble who work or just assemble at the Buenos Aires slaughterhouse.“ (González Echevarría 1994: 220). Dass in der Rezeption Echeverría und die Figur des Unitariers miteinander verbunden wurden, mag u.a. an der dem Text vorangestellten Bemerkung Juan María Gutiérrez’ liegen, dass sich der Autor wie der Unitarier verhalten hätte, wäre er in einer ähnlichen Situation gewesen („‚como lo habría hecho el noble poeta en situación análoga‘ [Anführungszeichen im Original]“ (Fleming 2011: 75), vgl. dazu auch Fontana/Roman (2009: 129)). Während die Erzählinstanz auch im dritten Teil der Erzählung explizit negative Bewertungen der föderalen Figuren vornimmt, so ist auffällig, dass sie keine vergleichbaren positiven Werturteile über die Figur des Unitariers äußert26. Außer dem 25 Inwieweit das Kind für die neue Generation der Nation stehen kann, die im Streit zwischen Föderalen und Unitariern zu Grabe getragen wird, ist eine Frage der Interpretation. Als der Stier wieder zurück an den Schlachthof gebracht wird, befindet sich das Kind bereits am Friedhof: „Del niño degollado por el lazo no quedaba sino un charco de sangre: su cadáver estaba en el cementerio.“ (Echeverría 1839: 107). Diese Todesszene weist mit der weiter unten analysierten Todesszene des Unitariers Parallelen auf, was die Reaktion einzelner (nicht aller) föderaler Figuren betrifft. Es sind dies die einzigen Stellen, an denen sie als still und betroffen gezeichnet werden: „—Se cortó el lazo —gritaron unos—, allá va el toro —pero otros, deslumbrados y atónitos, guardaron silencio porque todo fue como un relámpago.“ (Echeverría 1839: 105). Ähnlich die Stelle, an der der Unitarier (von den Föderalen unbeabsichtigt? vgl. dazu Folger (1999: 40) mit Hinweis auf Lojos Interpretation) stirbt: „Los sayones quedaron inmóviles y los espectadores estupefactos.“ (Echeverría 1839: 114). 26 Ein weiterer möglicher Hinweis auf die distanzierte Haltung der Erzählinstanz gegenüber der politischen Haltung der Unitarier könnte in der Interpretation der übertragenen Bildebene in den ersten beiden Teilen gefunden werden. Die als brutal und vulgär gezeichneten Figuren im Umfeld des Schlachthofes werden mit nach Fleisch gierenden den Hunden ‚vermischt‘: „[...] una comparsa de muchachos, de negras y mulatas achuradoras, cuya fealdad trasuntaba las harpías de la fábula, y, entremezclados con ella, algunos enormes mastines olfateaban, gruñían o se daban de tarascones por la presa.“ (Echeverría 1839: 100). Die Farbe Rot als Farbe des Regimes ist in der Erzählung omnipräsent. Nun findet sich eine Stelle im Text, an der auch die Farben der Unitarier (blau und weiß) eingebracht werden: „[...] al paso que más arriba, en el aire, un enjambre de gaviotas blanquiazules, que habían vuelto de la emigración al olor de carne, revoloteaban cubriendo con su disonante
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Hinweis, dass der auch als äußerlich positiv gezeichnete Unitarier (er wird als gut aussehend, jung und stolz beschrieben) nichtsahnend und unbedarft in die Konfrontation mit den Föderalen gerät27 sowie eines analog zum Engländer („el pobre hombre“ (Echeverría 1839: 106)) zum Ausdruck gebrachten Mitgefühls – „el infeliz joven“ (Echeverría 1839: 110) – finden sich keine positiven Wertungen, die von der Erzählinstanz ausgehen. Sowohl der Engländer, der in Gedanken versunken ist, wie der Unitarier werden von den gewaltsamen Figuren des Schlachthofes und deren Aggression überrascht und überrumpelt. „Era éste un joven como de veinicinco años, de gallarda y bien apuesta persona, que mientras salían en borbotón de aquellas desaforadas bocas las antiores exclamaciones, trotaba hacia Barraca, muy ajeno de temer peligro alguno. Notando, empero, las significativas miradas de aquel grupo de dogos de matadero, echa maquinalmente la diestra sobre las pistoleras de su silla inglesa, cuando una pechada al sesgo del caballo de Matasiete lo arroja de los lomos del suyo tendiéndolo a la distancia boca arriba y sin movimiento alguno.“ (Echeverría 1839: 109)
Die negativen Werturteile über die Figuren des Schlachthofes werden indes fortgesetzt: „—¡Viva Matasiete! —exclamó toda aquella chusma cayendo en tropel sobre la víctima como los caranchos rapaces sobre la osamenta de un buey dovorado por el tigre.“ (Echeverría 1839: 109). An zwei Stellen kommentiert die Erzählinstanz die Brutalität der Föderalen mit ironischen Ausrufen, die ansonsten in diesem Teil der Erzählung fehlen: „¡Qué nobleza de alma! ¡Qué bravura en los federales! Siempre en pandilla cayendo como buitres sobre la víctima inerte.“ (Echeverría 1839: 110); „Los federales habían dado fin a una de sus innumerables proezas.“ (Echeverría 1839: 114). Weist der Text dadurch eine unverkennbare, von der Erzählinstanz ausgehende Antipathielenkung auf, die eine Konstante der drei Teile der Erzählung bildet, so finden sich im letzten Teil der Erzählung, in der die Figur des Unitariers auftritt, weder größere Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt des Unitariers, noch analog zu den markant negativen Äußerungen bezüglich der Föderalen ähnlich explizite (positive) Kommentare der Erzählinstanz. Der Text lässt so auf eine Sympathielenkung schließen, die weniger auf die Identifikation mit einer der Figuren (z.B. den Unitarier und Einblicke in seine Gefühlswelt) zielt, sondern die Ablehnung der Barbarei zum Ziel hat. Die Erzählinstanz ergreift Partei für die Opfer der Föderalen (Engländer, Stier, Unitarier) – man beachte, dass der Unitarier in den beiden oben zitierten Stellen als víctima bezeichnet wird – die Sympathielenkung im Text deutet jedoch nicht graznido todos los ruidos y voces del matadero y proyectando una sombra clara sobre aquel campo de horrible carnicería. [Kursivierung VÖ]“ (Echeverría 1839: 101). Sie werfen eine sombra clara auf den schrecklichen Ort. Auch in diesem Oxymoron könnte eine ambivalente Haltung der Erzählinstanz bezüglich Unitarier gesehen werden. Bereits im ersten Teil der Erzählung wurde erwähnt, dass die um Fleisch (= Macht?) in Konkurrenz stehenden Möwen und Hunde aufgrund der Überschwemmung aus den Schlachthöfen ‚emigriert‘ seien: „Las gaviotas y los perros, inseparables rivales suyos en el matadero, emigraron en busca de alimento animal.“ (Echeverría 1839: 94). 27 Dies ist auch die einzige Stelle des Erzähltextes, an der die Erzählinstanz Einblick in die Gedankenwelt des Unitariers erlaubt (muy ajeno de temer peligro alguno; notando, empero, las significativas miradas de aquel grupo).
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auf eine Identifikation der Erzählinstanz mit der parteipolitischen Ideologie28 des Unitariers hin, die über die im ersten Teil der Erzählung von der Erzählinstanz erwähnten Ideale der Mairevolution, individuelle Freiheit und Nation hinausgingen. Auch die in der Sekundärliteratur mitunter als überflüssig bezeichnete Konklusion der Erzählinstanz in den letzten Zeilen des Erzähltextes29 legt diesen Schluss nahe: Sie ist eine Fürsprache für alle Regimegegner, die für Patria und Libertad stehen. Es sei eine Erfindung des Restaurador, all jene als salvajes unitarios zu bezeichnen, die Kritik am Regime üben, ungeachtet dessen ob sie nun Unitarier sind oder nicht: „Llamaban ellos salvaje unitario, conforme a la jerga inventada por el Restaurador, patrón de la cofradía, a todo el que no era degollador, carnicero, ni salvaje, ni ladrón; a todo hombre decente y de corazón bien puesto, a todo patriota ilustrado amigo de la luces y de la libertad; [...]“ (Echeverría 1839: 114)
Die Eigen- und Fremdcharakterisierungen der Figuren sowie deren Einschätzungen der Situation werden von der Erzählinstanz nicht wertend kommentiert – im Gegenteil: Die Erzählinstanz berichtigt die Deutung des Geschehens der föderalen Figuren nicht, sondern nimmt Beobachtungen der Figuren in ihre Rede auf: den unbändigen Zorn des Unitariers30, der neben der von den föderalen Figuren ausgehenden Misshandlung der Figur als Interpretation der Todesursache offen gehalten wird. Auch die Charakterisierung der Figuren als feroces findet sich auf beiden Seiten der einander gegenüberstehenden Figuren(gruppen). Als die Situation zu eskalieren beginnt, befiehlt der Richter des Schlachthofes, den Unitarier in das am Schlachthof befindliche Häuschen zu bringen, wo ihm zunächst der unitarische Bart abgeschnitten wird. „—¡Calma! —dijo sonriendo el juez—, no hay que encolerizarse. Ya lo verás. El joven, en efecto, estaba fuera de sí de cólera. Todo su cuerpo parecía estar en convulsión. Su pálido y amoratado rostro, su voz, su labio trémulo, mostraban el movimiento convulsivo de su corazón, la agitación de sus nervios. Sus ojos de fuego parecían salirse de la órbita, su negro y lacio cabello se levantaba erizado. Su cuello desnudo y la pechera de su camisa dejaban entrever el latido violento de sus arterias y la respiración anhelante de sus pulmones. —¿Tiemblas? —le dijo el juez. —De rabia, porque no puedo sofocarte entre mis brazos. —¿Tendrías fuerzas y valor para eso? —Tengo de sobra voluntad y coraje para ti, infame.“ (Echeverría 1839: 111)
28 Auch Skinner (1999: 219) meint, dass zwar eine klare Verurteilung der Brutalität und Grausamkeit der Föderation im Text enthalten sei, doch daraus nicht notwendigerweise folgt, dass Echeverría unitarische Anliegen unterstütze, begründet dies aber vorrangig mit der politischen Einstellung des realen Autors (Skinner 1999: 219-222). 29 Enrique Pupo-Walker (1969) etwa spricht von einer „cola de prosa periodística que Echeverría le añade a su relato“ (Pupo-Walker 1969: 204). 30 Die Wut des Unitariers wird bereits kurz nach seiner Einführung in die erzählte Welt thematisiert: „Atolondrado todavía, el joven fue, lanzando una mirada de fuego sobre aquellos hombres feroces, hacia su caballo que permanecía no muy distante, a buscar en sus pistolas el desagravio y la venganza [...]“ (Echeverría 1839: 109, 110).
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Der Unitarier stirbt, nachdem der Richter dazu auffordert, diesen auszuziehen und ihn zu vergewaltigen31 („—Abajo los calzones a ese mentecato cajetilla y a nalga pelada denle verga, bien atado sobre la mesa.“ [Echeverría 1839: 113]): „—Átenlo primero —exclamó el juez. —Está rugiendo de rabia —articuló un sayón. En un momento liaron sus piernas en ángulo a los cuatro pies de la mesa volcando su cuerpo boca abajo. Era preciso hacer igual operación con las manos, para lo cual soltaron las ataduras que las comprimían en la espalda. Sintiéndolas libres el joven, por un movimiento brusco en el cual pareció agotarse toda su fuerza y vitalidad, se incorporó primero sobre sus brazos, después sobre sus rodillas y se desplomó al momento murmurando: —Primero degollarme que desnudarme, infame canalla. Sus fuerzas se habían agotado; inmediatamente quedó atado en cruz y empezaron la obra de desnudarlo. Entonces un torrente de sangre brotó borbolloneando de la boca y las narices del joven, y extendiéndose empezó a caer a chorros por entrambos lados de la mesa. Los sayones quedaron inmóviles y los espectadores estupefactos. —Reventó de rabia el salvaje unitario —dijo uno. —Tenía un río de sangre en las venas —articuló otro. —Pobre diablo: queríamos únicamente divertirnos con él y tomó la cosa demasiado a serio —exclamó el juez frunciendo el ceño de tigre—. Es preciso dar parte, destátenlo y vamos. Verificaron la orden; echaron llave a la puerta y en un momento se escurrió la chusma en pos del caballo del juez cabizbajo y taciturno.“ (Echeverría 1839: 113, 114)
Gerade aufgrund ihrer auffälligen wertenden Präsenz in den anderen Teilen der Erzählung, ist das Zurücktreten, ja das beinahe ‚Verschwinden‘ der Erzählinstanz im dritten Teil (abgesehen vom Schlussabsatz) bemerkenswert. Die Bewertung der föderalen Figuren in den ersten beiden Teilen und in geringerer Form auch im dritten Teil gehen mit der Figurenrede der Föderalen konform32. Diese Kongruenz zwischen Bewertung der Erzählinstanz und der (scheinbar autonomen), föderalen Figurenrede im dritten Teil bewirkt die Fortführung der Antipathielenkung (auch) im dritten Teil der Erzählung. Dies lässt zum einen dem impliziten Leser den erwähnten Interpretationsspielraum der Todesszene sowie einen größeren Spielraum in der Bewertung der Figur des Unitariers; zum anderen kommt es dadurch aber auch zu einer Distanzierung der zentralen Bewertungsinstanz (der Erzählinstanz) von der Figur des Unitariers – sie tritt zudem nicht für die Sache seiner Partei ein. Zur Gattungsebene El matadero (1839) wurde in der Sekundärliteratur entweder verschiedenen Gattungen (cuento, ensayo, artículo de costumbres, etc.) zugeordnet oder als hybrid und unzuordenbar eingestuft (Cabaña 1998: 133). Aber selbst der Status als eigenständiges literarisches Werk ist angezweifelt worden33: Cabaña (1998: 140) zieht die Möglich31 Die Textstelle ist in der Sekundärliteratur meist als versuchte Vergewaltigung verstanden worden, worauf der Begriff verga (der auch ‚Penis‘ bedeuten kann) hindeute (Jitrik 1968: 18, 19; Skinner 1999; Xing 2010: 112). 32 Diese Fortführung ergibt sich auch aus der impliziten Bewertung der Figurenrede der Föderalen durch die zuvor vorgenommene Antipathielenkung gegen die Figurengruppe in Form der Figurencharakterisierung und ihrer Stellung in der Figurenkonstellation. 33 Fontana/Roman (2009: 139) weisen darauf hin, dass auch die Autorschaft des Textes angezweifelt wurde.
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keit in Betracht, dass El matadero (1839) Echeverría bloß als Ausgangsmaterial für andere literarische Texte dienen sollte. Die Frage wird dadurch aufgeworfen, dass der Text postum von Juan María Gutiérrez veröffentlicht wurde und Echeverría dessen Publikation nicht angedacht hatte. Gutiérrez ordnete ihn zunächst in die ensayos literarios des Autors ein und bezeichnet ihn später als página histórica, cuadro de costumbres y una protesta (Cabaña 1998: 141). El matadero (1839) wurde aber auch als Fabel gelesen (Cabaña 1998: 145). Noé Jitrik (1968) stuft den Erzähltext, ebenso wie Enrique Anderson Imbert, Robert Bazín, Fernando Alegría, Fernando Rojas, Iber H. Verdugo und Leonor Fleming (Cabaña 1998: 142) (mit Vorbehalten) als cuento ein: „Tenemos la impresión de que lo ‚cuento‘ apareció tarde en el espíritu del autor cuya propuesta formal no era clara. En cambio, podemos afirmar que tenía un propósito ejemplarizador, que quería escribir sobre la situación política de su momento pero que de entrada no veía la forma en la que podía encarnarse su voluntad. [Anführungszeichen im Original]“ (Jitrik 1968: 1, 2)
Dagegen spricht laut Cabaña (1998: 143) das fehlende Gattungsbewusstsein für den cuento zu dieser Zeit. Die Gattungszuordnung wird zudem dadurch erschwert, dass der streckenweise realistisch anmutende Erzähltext zu einer Zeit verfasst wurde, in der sich erst die Romantik in Argentinien zu entwickeln begann und von der Ästhetik des Realismus noch lange keine Rede sein kann. Für die Fragestellung dieser Arbeit relevant ist die Beobachtung, dass der Text entgegen den Gattungskonventionen der Epoche stark ausgeprägte Referenzen zur außertextuellen Welt aufweist. Die Integration der historischen Daten (Jahr, Ort, Parolen der Föderation, etc.) zeugen von der klaren politischen Intention des Textes, so Jitrik (1968: 6). Dies betrifft nicht nur die Einbettung in Raum und Zeit sowie die teils historischen Persönlichkeiten nachempfundenen Figuren und Parteien (die durchaus typisch für die Romantik sind), sondern die an der sozialen Schicht orientierte und nach dieser differenzierte Figurenzeichnung und -rede34, d.h. die Nähe zur gesprochenen Sprache, die nach diastratischen und diatopischen Gesichtspunkten differenziert wird. Zu Beginn des Erzähltextes spielt der Autor zudem auf ironische Weise mit den Begriffen narración und historia: „A pesar de que la mía es historia, no la empezaré por el arca de Noé y la genealogía de sus ascendientes como acostumbraban hacerlo los antiguos historiadores españoles de América, que deben ser nuestros prototipos. Tengo muchas razones para no seguir ese ejemplo, las que callo por no ser difuso. Diré solamente que los sucesos de mi narración pasaban por los años de Cristo de 183... .“ (Echeverría 1839: 91)
Obwohl der Beginn des Erzähltextes zunächst auf einen faktualen Text zu verweisen scheint (historia, como acostumbraban hacerlo los antiguos historiadores españoles de América), wird dem impliziten Leser die Fiktionalität des Textes durch Übertreibung (no la empezaré por el arca de Noé y la genealogía de sus ascendientes) sowie der ironischen Haltung angedeutet. Diese Spannung hat Jitrik (1968) wie folgt formuliert: 34 Diese ist deshalb nicht weniger poetisch überformt und überzeichnet.
360 | F REIHEIT UND N ATION „Parece entonces claro: lo que no es cuento en este escrito es realidad; quizás sea ficción de realidad pero no es seguro que la afirmación tenga ese sentido para Echeverría; la tomo, en todo caso, como un punto de partida de reflexion. Por cierto que el cuento -aun en el que adopta claramente la ficción y no hace la ficción de la realidad- es ‚realidad‘ en la medida en que refiere una situación extraída de la realidad, pero también es cierto que no llega a ser tan real por el hecho de ser, precisamente, cuento. [Anführungszeichen im Original]“ (Jitrik 1968: 3)
Der zweite Teil der Erzählung lehnt sich mit dem costumbrismo an eine Gattung an, die nah an der extratextuellen Welt angelegt ist und grundsätzlich auch nichtfiktionale Spielarten zulässt35, obgleich der Erzähltext zahlreiche Fiktionalitätssignale36 enthält. Ricardo Piglia (1994) meint dazu: „[…] El matadero is a fiction— and because it is a fiction, it can enter into the world of barbarians and give them a place and make them speak. [Kursivierung im Original]“ (Piglia 1994: 133). Für Cabaña (1998: 145) ist in El matadero (1839) eine ‚gefährliche‘ Annäherung an den nicht-literarischen Diskurs zu erkennen. Jitrik (1968) erklärt das Vorhandensein von ästhetischen Elementen des Realismus, bevor dieser existierte, mit dem politischen Anliegen des Textes: „[…] la crítica política y social, la intención de hacer servir la literatura para una causa extraliteraria.“ (Jitrik 1968: 15). Dieses Spiel mit Faktizität in der fiktionalen Erzählung kann als Textstrategie im Hinblick auf den impliziten Leser verstanden werden. Erscheint der Text dadurch dem politischen Anliegen unterworfen und büßt er insofern einen Teil von Freiheit der Literatur ein, so zeugt gerade die Unmöglichkeit, den Text vor seiner Entstehungszeit gattungsmäßig zuordnen zu können, von seiner ästhetischen Freiheit (im Dienst der Nation). Konklusion Es wurde versucht zu zeigen, dass Freiheit und Nation zwei elementare Diskursstränge der Erzählung El matadero (1839) bilden, die sowohl den Plot als auch die Selektion der Figuren und ihre Konstellation bestimmen. Die drei Teile der Erzählung erscheinen dann als zusammenhängend, wenn der implizit im Text präsente Restaurador als verbindendes Element zwischen der allgemeinen Regimekritik im ersten Teil, der costumbristischen Darstellung der Zustände am Schlachthof im zweiten und der Misshandlung des Unitariers im dritten Teil im Sinne der im Text angelegten Allegorie auf das Rosas-Regime gelesen wird. Die einst mit der Mairevolution geschaffene Patria wird in der Figurenrede des Unitariers für tot erklärt – vernichtet durch die Föderation. Doch nicht nur die Figur des Unitariers verteidigt individuelle Freiheit (Freiheit vom Staat) und Patria. Die Erzählinstanz kritisiert im ersten Teil der Erzählung die Missachtung individueller Freiheit – sowohl der Gewissensfreiheit, der Gleichheit vor dem Recht als auch überspitzt der Freiheit zum Atmen und sich mit Freunden zu unterhalten – und prangert im Schlussabsatz des Erzähltextes die Verfolgung eines jeden freiheitsliebenden Patrioten durch das Rosas-Regime an. Die 35 Vgl. dazu auch Jitrik (1968), der zudem darauf hinweist, dass der costumbrismo vorgibt, ‚wahr‘ zu sein, dies aber stets aus einer wertenden Perspektive, einer „óptica personal“ (Jitrik 1968: 5). 36 Darunter etwa die Hyperbeln oder die Allwissenheit der Erzählinstanz und deren Möglichkeit, etwas über das Innenleben verschiedener Figuren zu wissen.
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als Patria bezeichnete Nation ist begrifflich und konzeptuell den freiheitsliebenden Gegnern des Rosas-Regimes vorbehalten. Das Rosas-Regime wird so zur Negation von Freiheit und Patria schlechthin; individuelle Freiheit und Nation werden zur ex negativo präsenten Konstante der Erzählung. Im Text selbst wird das Geschehen am Schlachthof als simulacro en pequeño des Umgangs mit den Rechten des Individuums und der Gesellschaft während der Rosas-Herrschaft bezeichnet. Ob es der Erzähltext vermag, aufgrund seiner Inszenierung der Vernichtung von Freiheit und Nation den Wunsch nach einer neuen politischen Ordnung im impliziten Leser hervorzurufen, ist eine schwer zu klärende Frage. Die Analyse der Perspektivenstruktur des Textes liefert diesbezüglich folgende Ergebnisse: Die politische Positionierung von Unitarier und Föderalen ist eindeutig und wird von den Figuren in direkter Konfrontation selbst formuliert. Der Divergenz ihrer politischen Einstellungen steht die Meinung der Erzählinstanz gegenüber, die sich explizit für Freiheit und Nation ausspricht und in diesem Aspekt die Haltung der Figur des Unitariers unterstützt. Die Textstrategie lässt eine eindeutige Antipathielenkung gegen die Figuren der Föderation erkennen, denen der Engländer, der Stier sowie der Unitarier gegenüber stehen. Diese zeigt sich in der Distanzierung der Erzählinstanz zu den föderalen Figuren in Form von Ironie und Hyperbeln, der externen Fokalisierung im zweiten Teil sowie den expliziten negativen Werturteilen der Erzählinstanz im zweiten und dritten Teil (hier an zwei Stellen gepaart mit Ironie). Auffällig ist, dass die starke Antipathielenkung gegen die föderalen Figuren keine Entsprechung in Form einer Sympathielenkung hin zur Figur des Unitariers erfährt. Es werden weder größere Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt des Unitariers gewährt, noch weist der Text analog zur negativen Kommentierung der föderalen Figuren ähnlich explizite (positive) Kommentare der Erzählinstanz auf. Die Identifikation mit der Figur wird dadurch textuell nicht gefördert. Dies hat in der Sekundärliteratur eine große Variationsbreite in der Interpretation der Erzählung provoziert. Während Jing (2010: 120-123) die destruktive Funktion des unitarischen Helden zugleich als Möglichkeit interpretiert, eine neue Ordnung sowie eine neue „comunidad de placer“ (Jing 2010: 210) herzustellen, die sich an alle aufgeklärten, freiheitsliebenden Patrioten richte und die Eliminierung des Anderen beinhalte, so meint Fleming (2011: 73) demgegenüber, dass eine gewisse Wertschätzung gegenüber den barbarisch gezeichneten, föderalen Figuren im Text erkennbar sei, etwa dadurch, dass ihnen Geschicklichkeit und Mut zugeschrieben werden. Dies weiche die dichotomische Gegenüberstellung von Föderalen und Unitarier etwas auf. „La rudeza de las acciones y la atrocidad del cuadro, condenadas abiertamente por el narrador, no ocultan, sin embargo, unas insinuaciones de simpatía por la habilidad de jinetes, enlazadores y pialadores y por el coraje del criollo que enfrenta y mata al toro enfurecido.“ (Fleming 2011: 73)
Folger (1999: 41) meint, dass zwar die Beschreibungen, expliziten Kommentare und das Mittel der Ironie eine manipulative Wirkung auf den Leser/die Leserin haben und diesem/dieser eine Interpretation des Textes auferlegen: „El narrador tiene claramente el objetivo de difamar a la ‚chusma‘ con las descripciones del matadero y de su población [Anführungszeichen im Original].“ (Folger 1999: 42). Allerdings, so argumentiert er, hätte Echeverría unbeabsichtigt einen karnavalesken Text im Sinne
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Bachtins hervorgebracht, dessen Dynamik er am Ende der Erzählung nicht mehr kontrollieren könne (Folger 1999: 44, 47). Seine Autorität werde durch die Sichtweise der föderalen Figuren untergraben (Folger 1999: 49). Und Skinner (1999: 223, 224) schreibt, die versuchte Vergewaltigung des Unitariers sei eine groteske Parodie auf Echeverrías Aufrufe zur Versöhnung der Nation in seinen politischen Texten und zeige das Scheitern politischen Austauschs und Dialogs an. „In short, ‚El matadero‘ presents a world in which national discourse cannot take place; the only possible exchanges between political opponents are based on the repeated gesture of domination and subordination, dramatically incarnated in the metaphor turned horribly real of gang rape. [Anführungszeichen im Original]“ (Skinner 1999: 224)
Grandas (2010) Einschätzung El mataderos als „[…] un texto alegórico vinculado a la política, donde hay una verdad (la de los unitarios) y una mentira (la del poder dictatorial).“ (Granda 2010: 38) kann anhand der durchgeführten Analyse jedoch nicht bestätigt werden. Die parteipolitische Ideologie des Unitariers wird an keiner Stelle des Textes von der Erzählinstanz aufgenommen, bestätigt oder befürwortet. Die fehlende Sympathielenkung zur Figur des Unitariers hat, wie oben ausgeführt, sogar zur Interpretation der Figur als antipathisch und arrogant geführt. Die Analyse der im Text vorhandenen ideologischen Linien bezüglich Freiheit und Nation deutet vielmehr darauf hin, dass sich im Text keine Hinweise auf eine Identifikation der Erzählinstanz mit der parteipolitischen Ideologie des Unitariers finden, die über die im ersten Teil und im Schlussabsatz der Erzählung von der Erzählinstanz erwähnten Ideale der Mairevolution, individuelle Freiheit und Nation hinausgingen. Dies spricht für eine Distanzierung der zentralen Bewertungsinstanz (der Erzählinstanz) von der Figur des Unitariers, zeugt jedoch zugleich von einer impliziten, positiven Wertung dessen Haltung zu Freiheit und Nation. Im Schlussabsatz der Erzählung weist die Erzählinstanz darauf hin, dass alle freiheitsliebenden Patrioten von den Föderalen pauschal als Unitarier bezeichnet werden, ob sie der Parteiideologie folgen oder nicht. Gerade die Variationsbreite, die in der realen Rezeption des Textes bestätigt wird, lässt aber Zweifel darüber aufkommen, ob die fehlende parteipolitische Solidarisierung in der Textstruktur deutlich wird. Klar argumentierbar sind auf Basis der Perspektivenstruktur hingegen die rezeptionslenkenden Strategien zum nation-building (als Wunsch, dem freiheits- und nationsvernichtenden Regime die aufgeklärte, freiheitssichernde Patria entgegenzusetzen), die dadurch, dass sich die Erzählinstanz nicht explizit mit der Parteiideologie solidarisiert und so nicht einfach eine der beiden bekannten Positionen in der Auseinandersetzung zwischen Unitariern und Föderalen einnimmt – sie hat zumindest zu Beginn und am Ende der Erzählung zudem eine übergeordnete Position inne –, noch stärker rezeptionslenkend gegen die Figuren(gruppe) der Föderalen wirken kann, deren Taten und Worte sie selbst sprechen lässt und die – gemeinsam mit distanzfördernden und wertenden Elementen, die von der Erzählinstanz ausgehen – deren Ablehnung befördert. Die Perspektivenstruktur des Textes lässt demnach eine klare Ablehnung der politischen Einstellung der föderalen Figuren erkennen sowie eine Befürwortung der skizzierten Ideale von Freiheit und Nation. Der implizite Leser wird nicht nur mit der erläuterten Perspektivenstruktur des Textes konfrontiert; die Anrede und Hinwendung zur Leserinstanz, besonders in Bezug auf die Grausamkeit der Föderalen, deren
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‚Zeuge‘ der implizite Leser wird37, lässt zudem eine Solidarisierungsstrategie der Erzählinstanz im Hinblick auf den impliziten Leser erkennen: Sie ‚zeigt‘ dem impliziten Leser, was sich am matadero zuträgt. Der impliziten Leser wird auf diese Weise von der Brutalität der Föderation zu überzeugen versucht und zum Mitanhören grausamer Szenen gezwungen, auf die ihn die Erzählinstanz explizit hinweist. Für eine Solidarisierung spricht auch die Wissensverteilung, in der dem impliziten Leser ein der Erzählinstanz ähnliches Niveau zuteilwird. Deutet Fleming (2011: 98, Fußnote 22) die detailreiche Schilderung des Geschehens am matadero als Vorausgriff auf die neue Ästhetik des Realismus, so lässt sich auch die grotesk anmutende und überzeichnete38 Darstellung der Figuren und des Raumes als literarische Strategie im Hinblick auf den impliziten Leser verstehen. Die Faszination des Abscheulichen, Hässlichen und Schmutzigen zieht den impliziten Leser in Bann und stößt ihn zugleich ab39. Als Strategie des Textes verstanden, suggeriert sie nicht nur die Übernahme der Perspektive der Erzählinstanz durch den impliziten Leser (was ja mithilfe der distanzierten Fokalisierung bereits geschieht), sondern auch deren Bewertung des Geschehens und ihrer oppositionellen Haltung gegenüber den Föderalen. Dass der Erzähltext diese Spannung zwischen der Ästhetik des Hässlichen und der Ablehnung des Gewaltsamen aufzubauen versucht, thematisiert der Text selbst (cuya fealdad trasuntapa las harpías de la fábula), wie besonders aus der folgenden Textstelle hervor geht (pintoresco vs. horriblemente feo): „El espectáculo que ofrecía entonces era animado y pintoresco aunque reunía todo lo horriblemente feo, inmundo y deforme de una pequeña clase proletaria peculiar del Río de la Plata.“ (Echeverría 1839: 98). Sie wird gleichzeitig als etwas Besonderes, Spezifisches der Region am Río de la Plata gedeutet. Die für den Entstehungskontext ungewöhnlich ‚realistische‘40 Darstellung der fiktiven erzählten Welt sowie das Spiel mit Faktizität in der dennoch als fiktional erkennbaren Welt41 können als weitere im Text angelegte Strategie im Hinblick auf den impliziten Leser verstanden werden. Dass diese dem politischen Anlie-
37 Dazu tragen die gleichzeitige Narration im zweiten Teil sowie die ausgedehnten zitierten Figurendialoge im dritten Teil bei.
38 Als Beispiel für die Überzeichnung der Szene kann folgende Textstelle angeführt werden, in der die Tiere als bis zur Schulter im Morast steckend beschrieben werden: „Estos corrales son en tiempo de invierno un verdadero lodazal en el cual los animales apeñuscados se hunden hasta el encuentro y quedan como pegados y casi sin movimiento.“ (Echeverría 1839: 99). 39 Sie bereitet zudem Vergnügen an der Lektüre, könnte dem mit Fleming (2011) hinzugefügt werden: „Sus páginas inquietan, sugieren y no dejan en paz al lector […]“ (Fleming 2011: 84). 40 Dies bedeutet nicht, dass es hier zu einer Deckungsgleichheit von fiktionaler und extratextueller Welt käme. Erstere ist literarisch überformt, allerdings, wie oben gezeigt wurde, mithilfe teils anderer Mittel als jene, die für die Romantik typisch sind. Es deutet aber darauf hin, dass eine Illusion von Authentizität versucht wird zu erzeugen. 41 Dazu zählt auch die Illusion des erzählenden Ich als Zeitzeugen, das raum-zeitliche Parallelen mit dem Autor aufweist und sich als beobachtende Instanz, die Teil der erzählten Welt ist, beschreiben lässt.
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gen geschuldet sind, wurde von mehreren Autoren betont. Zugleich machen sie die ästhetische Freiheit des keiner Gattung zuordenbaren Textes aus42.
D OMINGO F AUSTINO S ARMIENTO Einordnung und Struktur des Werks Civilización y Barbarie. Vida de Juan Facundo Quiroga y aspecto físico, costumbres y hábitos de la República Argentina (kurz: Facundo) wurde 1845 im chilenischen Exil verfasst und in der Zeitung El Progreso als folletín sowie im selben Jahr in Buchform (Janik 1992: 69) veröffentlicht43. Laut Roberto González Echevarría (1994: 224) hat sich der Text in so vielen Editionen44 entwickelt, dass keine definitive Fassung auszumachen ist. In der zweiten Ausgabe des Facundo (1851) wurde der Haupttitel civilización y barbarie gestrichen (González Echevarría 1994: 225), in der zweiten und dritten Ausgabe zudem die Einleitung sowie die letzten beiden Kapitel entfernt und an die politischen Umstände45 nach dem Fall von Rosas angepasst (Jitrik 1994: 174). Hier wird die Ausgabe von Roberto Yahni von 1970, die in Alianza Editorial erschien, zur Analyse herangezogen, in der diese Kapitel enthalten sind. Nach einer advertencia del autor und einer introducción folgt der Hauptteil des Werks, der wiederum in zwei Teile aufgegliedert ist und auch die beiden Schlusskapitel enthält. Schon der Titel zeigt an, dass nicht nur das Leben des Facundo Quiroga, sondern zugleich die Beschaffenheit der Republik Argentinien im Zentrum des Werks steht. Der erste Teil widmet sich dem, was am Ende des Untertitels angekündigt wird: einer Beschreibung und Erklärung der für die Republik Argentinien typischen geographischen Bedingungen, Charaktere, Sitten und Ideen. Neben der Geschichte des Landes seit 1810 sowie einer Einführung in Geographie und Wirtschaft Argentiniens, werden einzelne gaucho-Charaktere und die pulpería als gesellschaftliche Form der Landgebiete beschrieben. Der Gegenstand des zweiten, umfassenderen Teils ist das Leben des Facundo Quiroga, dessen politischer Aufstieg und Fall sowie die Errichtung des Rosas-Regimes. Das letzte Kapitel (XV.), Presente y porvenir, das zugleich den Abschluss des gesamten Werkes bildet, zeichnet eine Vision des künftigen Argentinien und der Ideen einer neuen Regierung, die Rosas eines Tages nachfolgen wird. Die beiden Teile des Buches werden nicht etwa durch eine Figur(engruppe) – Facundo 42 Ob diese intendiert ist oder nicht lässt sich schon alleine aufgrunddessen schwer beantworten, da der Autor eine Publikation des Textes nicht vorgesehen hatte. Weshalb der Text keiner damals bekannten Gattung entsprechend gestaltet wurde, ist ein Rätsel der Forschung geblieben. 43 Als literarisches Werk betrachtet, wertet Oviedo (2001) den Facundo (1845) als „libro personalísimo“ (Oviedo 2001: 37). „Hay una enorme inmediatez en el libro, pues está hecho de razones y emociones. Si hay una estética en él, es la estética de lo espontáneo.“ (Oviedo 2001: 38). 44 Bereits 1868 wurde der Facundo in New York herausgegeben, 1874 in Paris (González Echevarría 1994: 225). 45 Jitrik (1994) sieht darin ein Indiz dafür, dass Literatur der Politik ungeordnet wurde und Sarmiento das literarische Wort als sehr wirkungsvoll gelten musste.
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Quirogas Leben ist erst Gegenstand des zweiten Teils –, sondern durch das mehrfach explizit formulierte Anliegen des Werks zusammengehalten: der Erklärung der politischen Situation Argentiniens, ihrer inneren Zerrissenheit, ihrer Bürgerkriege und der tyrannischen Herrschaft ihrer caudillos aus dem Wesen ihrer Bewohner, das wiederum in Abhängigkeit von demographisch-wirtschaftlichen Faktoren geformt wird. So heißt es im Facundo: „Necesítase, empero, para desatar este nudo que no ha podido cortar la espada, estudiar prolijamente las vueltas y revueltas de los hilos que lo forman, y buscar en los antecedentes nacionales, en la fisonomía del suelo, en las costumbres y tradiciones populares, los puntos en que están pegados.“ (Sarmiento 1845: 18)
Analyse des Facundo nach einzelnen narratologischen Kategorien Dem oben Gesagten entsprechend lässt sich die Plot-Struktur beschreiben. Der Plot wird nicht etwa durch eine Handlungskette einer oder mehrerer Figuren gebildet – sie, die Auswahl des Figureninventars und deren Konstellation sind vielmehr von den Bedingungen des Raumes, d.h. der argentinischen Republik und deren Charakteristika, bestimmt. Selbst die Eckpunkte, die aus dem Leben der im Zentrum des Werks angesiedelten Figur Facundo Quiroga ausgewählt und erzählt werden, leiten sich von ihnen ab. So scheint es letztlich nicht um Facundo Quiroga oder Juan Manuel de Rosas als historische Einzelfälle, als einzigartige, ununterscheidbare Herrscherpersönlichkeiten zu gehen. Das Land mit seiner spezifischen Beschaffenheit könnte wohl verschiedene Quirogas, Rosas, etc. hervorbringen, die einander in ihrem Verhalten ähneln: „De eso se trata, de ser o no ser salvaje. ¿Rosas, según esto, no es un hecho aislado, una aberración, una monstruosidad? Es, por el contrario, una manifestación social, es una fórmula de una manera de ser de un pueblo. [Kursivierung im Original] (Sarmiento 1845: 22)“. Aus jedem gaucho malo könne ein Herrscher mit Anspruch auf uneingeschränkte Macht, ein ‚neuer Rosas‘, werden: „[…] había docenas de caudillos que en cuatro años habían elevádose de gauchos malos a comandantes, de comandantes a generales, de generales a conquistadores de pueblos y, al fin, a soberanos absolutos de ellos. [Kursivierung im Original]“ (Sarmiento 1845: 154). Nicht (nur) einzelne, partikuläre Figuren stehen im Zentrum des Facundo (1845) – auch wenn das Leben des Facundo Quiroga, wie im Untertitel angekündigt, zunächst als Gegenstand des Werks erscheinen mag –, sondern Nation und Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt Argentiniens, allen voran das argentinische Nationalvolk46: „Por eso nos es necesario detenernos en los detalles de la vida interior del pueblo argentino para comprender su ideal, su personificación.“ (Sarmiento 1845: 26). Facundo Quiroga erscheint der Erzählinstanz als der naivste Ausdruck zur Beschreibung des argentinischen Bürgerkrieges. Er habe innerhalb von zehn Jahren einen lokalen Krieg zum Krieg der Nation gesteigert, dessen Profiteur wiederum jener ist, der Fa46 Auf ähnliche Weise hat auch Dill (1994) den Facundo (1845) interpretiert: „La persona del caudillo Juan Facundo Quiroga funciona en primer lugar como instrumento para transportar y divulgar los conceptos políticos, las ideas económicas, la visión de la historia y las opiniones del autor sobre la cultura entre sus contemporáneos, a cuya apropiación intelectual y práctica – política, científica, teórica – estaba destinado el texto.“ (Dill 1994: 68, 69).
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cundo aus Sicht der Erzählinstanz ermordet hat: Rosas, der das unbedarfte, instinktive Vorgehen Facundos zum System perfektioniert hat (Sarmiento 1845: 25)47. „Facundo no ha muerto: está vivo en las tradiciones populares, en la política y revoluciones argentinas; en Rosas, su heredero, su complemento; su alma ha pasado en este otro molde más acabado, más perfecto, y lo que en él era sólo instinto, iniciación, tendencia, convirtióse, en Rosas, en sistema, efecto y fin. La naturaleza campestre, colonial y bárbara, cambióse en esta metamorfosis, en arte en sistema y en política regular [...]“ (Sarmiento 1845: 17)
Aber auch Rosas’ Biographie scheint von den Naturgewalten abgeleitet; dessen politisches Regime steht wiederum in Abhängigkeit seiner Biographie48. Der Facundo (1845) weist ein so großes Figureninventar49 auf, dass eine Auflistung aller Figuren wenig Erkenntnisgewinn verspricht. Die Figuren sind an historische Persönlichkeiten angelehnt. Zu ihrem überwiegenden Großteil sind sie Argentinier, die aus unterschiedlichen Provinzen stammen und jedenfalls zwischen 1810 und 1845 lebten. Die omnipräsenten Verweise auf Sitten und ‚Charakter‘ des argentinischen Volkes sowie die Betonung gemeinsamer Charakterzüge verschiedener Figuren, die auf die nationalen Bedingungen zurückgeführt werden50, lassen den Schluss zu, dass das Schicksal der argentinischen Nation zwar exemplarisch an Einzelfiguren wie Facundo Quiroga, einzelnen Generälen wie Madrid oder Paz, etc. abgearbeitet wird, doch der eigentliche, kollektive Protagonist das argentinischen Volk ist. Wie wird nun die im Zentrum stehende Figur Facundo Quiroga gezeichnet? Schon als Kind habe er einen unzähmbaren Charakter gehabt und seine Mitschüler in Angst und Schrecken versetzt. Eine Episode aus dem Klassenzimmer beendet die Erzählinstanz mit der Frage: „¿No era ya el caudillo que va a desafiar más tarde a la sociedad entera?“ (Sarmiento 1845: 95). Facundo habe sich zum Befehlen berufen gefühlt, seine rebellische Seele konnte sich keiner Disziplin unterwerfen (Sarmiento 1845: 98). Er lehne jegliche Mittel der Zivilisation ab und zerstöre sie. Nicht einmal zu regieren ziehe er in Erwägung, da das Regieren bereits ein Dienst zugunsten anderer sei. Skrupellos folge er stattdessen seinen Instinkten, die von einer unermesslichen Habsucht geleitet sind. (Sarmiento 1845: 115). Die stets hinter der Charakterisierung der Figur stehende Frage lautet:
47 „Rosas no ha inventado nada; su talento ha consistido sólo en plagiar a sus antecesores y hacer de los instintos brutales de las masas ignorantes un sistema reeditado y coordinado fríamente.“ (Sarmiento 1845: 77). 48 „¿Dónde, pues, ha estudiado este hombre el plan de innovaciones que introduce en su gobierno, en desprecio del sentido común, de la tradición, de la conciencia y de la práctica inmemorial de los pueblos civilizados? Dios me perdone si me equivoco, pero esta idea me domina hace tiempo: en la estancia de ganados, en que ha pasado toda su vida, y en la Inquisición, en cuya tradición ha sido educado. [Kursivierungen im Original]“ (Sarmiento 1845: 243). 49 Angemerkt werden soll, dass sich unter den vielen Figuren kaum Frauen befinden. 50 Auch Emilio Carilla (1964: 18) verweist darauf, dass im Facundo der caudillo als natürliche Folge seines Umfeldes erscheint.
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„¿Qué causas hacen a este hombre criado en una casa decente, hijo de un hombre acomodado y virtuoso, descender a la condición del gañán, y en ella escoger el trabajo más estúpido, más brutal, en el que sólo entra la fuerza física y la tenacidad?“ (Sarmiento 1845: 96)
Die Schuld an der Brutalität des caudillo kann nicht im Elternhaus angesiedelt werden. Aber auch Facundo selbst kann keine Schuld gegeben werden: „Ha nacido así y no es culpa suya […]“ (Sarmiento 1845: 102). Die Gründe für die Gewaltbereitschaft des provinziellen Machtinhabers seien in der Struktur der Landgebiete Argentiniens zu finden: „Éste es el carácter original del género humano, y así se muestra en las campañas pastoras de la República Argentina. Facundo es un tipo de la barbarie primitiva […]“ (Sarmiento 1845: 102). Die Spezifika des Territoriums und seiner Geschichte hätten Facundo zu dem gemacht, was er ist: „[…] en Facundo Quiroga no veo un caudillo simplemente, sino una manifestación de la vida argentina tal como lo han hecho la colonización y las peculiaridades del terreno […]“ (Sarmiento 1845: 25). Der Raum der Nation, seiner Natur und Beschaffenheit bedinge die Figur, wie die Erzählinstanz selbst formuliert. „Razones de este género me han movido a dividir este precipitado trabajo en dos partes: la una, en que trazo el terreno, el paisaje, el teatro sobre que va a representarse la escena; la otra, en que aparece el personaje, con su traje, sus ideas, su sistema de obrar; de manera que la primera esté ya revelando a la segunda, sin necesidad de comentarios ni explicaciones.“ (Sarmiento 1845: 27)
Das exemplarische soll das generelle Übel der Nation aufzeigen, die Figur als Individuum das ‚Wesen‘ eines Kollektivs. So formuliert es die Erzählinstanz: „He creído explicar la Revolución argentina con la biografía de Juan Facundo Quiroga, porque creo que él explica suficientemente una de las tendencias, una de las dos fases diversas que luchan en el seno de aquella sociedad singular.“ (Sarmiento 1845: 25). In Facundo als Figur kristallisieren sich die Probleme der argentinischen Nation und ihres Volkes, dessen Gewohnheiten, Bräuche, Sorgen und Einstellungen, die von der sie umgebenden Natur bestimmt sind. „Pero Facundo, en relación con la fisonomía de la naturaleza grandiosamente salvaje que prevalece en la inmensa extensión de la República Argentina; Facundo, expresión fiel de una manera de ser de un pueblo, de sus preocupaciones e instinto; Facundo, en fin, siendo lo que fue, no por un accidente de su carácter, sino por antecendentes inevitables y ajenos de su voluntad, es el personaje histórico más singular, más notable, que puede presentarse a la contemplación de los hombres que comprenden que un caudillo que encabeza un gran movimiento social no es más que el espejo en que se reflejan, en dimensiones colosales, las creencias, las necesidades, preocupaciones y hábitos de una nación en una época dada de su historia.“ (Sarmiento 1845: 26)
Nation Dass die Nation dem Facundo (1845) nicht nur implizit eingeschrieben ist, sondern Plot, Raum, Figureninventar und -charakterisierung maßgeblich bestimmt, wurde bereits geschildert. Welches Bild von der Nation wird nun im Facundo (1845) gezeich-
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net? Wird es mit Freiheit in Verbindung gebracht? Und wenn ja, mit welchen Dimensionen von Freiheit? Argentinien wird einerseits als mit anderen südamerikanischen Ländern verbunden oder sogar als Teil ein und desselben Gebildes beschrieben. Andererseits wird Argentiniens Stellung in Südamerika aber auch als herausragend hervorgehoben: „¿Hay en la América muchos pueblos que estén, como el argentino, llamados por lo pronto a recibir la población europea que desborda como el líquido en un vaso?“ (Sarmiento 1845: 23). Argentinien sei eines der reichsten Gebiete Amerikas mit hundert Flüssen, die im Río de la Plata zusammenfließen sowie einer großen Zahl an potenziellen Einwanderern, die nur darauf warten würden, dass sich die politische Lage in Argentinien zum Besseren wende. Obwohl Argentinien über den Reichtum unzähliger Wasserwege verfüge, veränderten diese günstigen Voraussetzungen der Natur die nationalen Sitten kaum. Denn das alles bestimmende Problem Argentiniens sei die zu geringe Besiedelung des Staatsgebiets. (Sarmiento 1845: 22, 23, 31, 33) „El mal que aqueja la República Argentina es la extensión: el desierto la rodea por todas partes y se le insinúa en las entrañas; la soledad, el despoblado sin una habitación humana, son, por lo general, los límites incuestionables entre unas y otras provincias.“ (Sarmiento 1845: 31)
Am Beispiel der USA könne man beobachten, dass der Grund für rasches nationales Wachstum die Nutzbarmachung der Flüsse für das Transportwesen sei. Doch seien die Spanier weder mit einem guten Sinn für die Schifffahrt noch für den Handel ausgestattet gewesen und hätten die Bedeutung des Río de la Plata verkannt51. (Sarmiento 1845: 33, 126) Das größte Hindernis der Nationenbildung ist im Facundo (1845) also wie in den Comentarios de la Constitución (1853a) jenes der schlechten Besiedelung des Territoriums, der Grund dafür u.a. in der kolonialen Vergangenheit zu suchen. Zur Erläuterung des ‚Wesens‘ der argentinischen Nation und ihrer Einwohner wird im Facundo (1845) ein Bild der nationalen Geschichte konstruiert. Sie wird wie folgt entworfen: Die Abwehr der englischen Bedrohung 1806/07 hätte dem ‚argentinischen‘ Volk die eigene Bedeutung aufgezeigt – dieser in der Historiographie häufig anzutreffende Ausgangspunkt der ‚nationalen‘ Erhebung ist also bereits im Facundo (1845) grundgelegt52. Aufgrund der Handelsbeziehungen mit Europa seien Bücher, Ideen und politische Nachrichten aus aller Welt nach Argentinien gelangt. Die Unabhängigkeitskriege („la guerra de la revolución argentina [Kursivierung VÖ]“ (Sarmiento 1845: 79)) seien als zweifacher und noch nicht abgeschlossener Konflikt zu betrachten: zum einen als Kampf der spanisch-europäisch geprägten Städte gegen das Mutterland, um dessen Kultur zu erweitern, zum anderen als Krieg der caudillos gegen die Städte, um sich jeder zivilen Unterwerfung zu entledigen und ihren Cha-
51 „Otro espíritu se necesita que agite esas arterias en que hoy se estagnan los fluidos vivificantes de una nación.“ (Sarmiento 1845: 34).
52 „La guerra con los ingleses aceleró el movimiento de los ánimos hacia la emancipación y despertó el sentimiento de la propia importancia.“ (Sarmiento 1845: 127).
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rakter ausleben zu können53. (Sarmiento 1845: 79, 126, 127) In dieser Selektion und Bewertung der historischen Ereignisse um 1810 ist die weiterführende Struktur des Facundo (1845) angelegt, die oftmals in Verbindung mit dem Titel des Werks als Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei, zwischen Stadt und Land, verstanden wurde. Beides, Stadt wie Land, seien von der spanischen Kolonialmacht geprägt worden. „La ciudad es el centro de la civilización argentina, española europea; allí están los talleres de las artes, las tiendas del comercio, las escuelas y colegios, los juzgados, todo lo que caracteriza, en fin, a los pueblos cultos. La elegancia en los modales, las comodidades del lujo, los vestidos europeos, el frac y la levita tienen allí su teatro y su lugar conveniente.“ (Sarmiento 1845: 40)
Die in den argentinischen Städten anzutreffenden Merkmale der europäischen Zivilisation stünden im Gegensatz zum von Barbarei geprägten Land54. Während die Städte nach 1810 zur Fortsetzung des gebildeten und zivilisierten Spaniens und Europas geworden wären, so formierten sich am Land, das kein öffentliches Leben kannte, infolge der Unabhängigkeitskämpfe kriegerische Truppen, die montoneras, die auf der ländlichen Machtstruktur der estancias gründeten. Sie versuchten zwischen 1810 und 1840 die Städte einzunehmen und sie zu ‚barbarisieren‘. Buenos Aires’ Zivilisationsgrad habe sich dennoch von 1810 bis 1820 stetig erhöht; die Stadt stehe in einem so engen Kontakt mit Europa und den anderen Nationen wie keine andere Region Hispanoamerikas. Buenos Aires erfahre eine „desespañolización [und] europeificación [Kursivierungen im Original]“ (Sarmiento 1845: 127). Sie werde eines Tages die größte Stadt beider Amerikas sein: „Buenos Aires está llamada a ser un día la ciudad más gigantesca de ambas Américas. […] Ella sola, en la vasta extensión argentina, está en contacto con las naciones europeas; ella sola explota las ventajas del comercio extranjero; ella sola tiene poder y rentas.“ (Sarmiento 1845: 34)
Eine ‚dumme‘, koloniale Politik hätte verhindert, dass Buenos Aires den Bitten der Provinzen nach Zivilisation (industria, europäische Einwanderer) nachkam und so hätten sich diese damit gerächt, Buenos Aires in der Gestalt von Rosas mit Barbarei zu überhäufen, derer sie genügend zur Verfügung hatten. (Sarmiento 1845: 34, 73, 78, 86, 127-129) Doch zuvor hätte 1825 die Regierung von Buenos Aires versucht, die Provinzen in einer gemeinsamen Verfassung zu vereinen (Sarmiento 1845: 136). Die Unitarier
53 „Las ciudades triunfan de los españoles, y las campañas de las ciudades. He aquí explicado el enigma de la revolución argentina, cuyo primer tiro se disparó en 1810 y el último aún no ha sonado todavía.“ (Sarmiento 1845: 79). 54 „La vida de los campos argentinos, tal como la he mostrado, no es un accidente vulgar: es un orden de cosas, un sistema de asociación característico, normal, único, a mi juicio, en el mundo, y él solo basta para explicar toda nuestra revolución. Había antes de 1810 en la República Argentina dos sociedades distintas, rivales e incompatibles: dos civilizaciones diversas: la una española europea, culta; y la otra bárbara, americana, casi indígena; [...]“ (Sarmiento 1845: 72).
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seien nicht nur in der Stadt anzusiedeln – auch sie ließen sich nach einer zivilisierten und einer barbarischen Bewegung unterscheiden. „La República era solicitada por dos fuerzas unitarias: una que partía de Buenos Aires y se apoyaba en los liberales del interior; otra que partía de las campañas y se apoyaba en los caudillos que ya habían logrado dominar las ciudades: la una, civilizada, constitucional, europea; la otra, bárbara, arbitraria, americana.“ (Sarmiento 1845: 134)
Die fragmentarische Bewegung der auf dem Land lebenden Unitarier vereint zu haben, sei das Werk Facundo Quirogas, obwohl dieses ein Nebenprodukt seiner Eroberungszüge und nicht das Ziel Facundos war55. Obwohl sich dieses als föderal bezeichnet, sei seit 1831 und v.a. unter Rosas die Bildung eines Einheitsregimes vorangetrieben worden, die Confederación Argentina, das die Revolution von 1810 außer Kraft setzen sollte (Sarmiento 1845: 245, 248). Nicht etwa Patriotismus sei das Mittel zur Einigung der Provinzen gewesen – Facundo habe sich immer nur eines Mittels bedient, das noch mächtiger als jeder Patriotismus sei: Terror und die Verbreitung von Angst und Schrecken. „He aquí su sistema todo entero: el terror sobre el ciudadano para que abandone su fortuna; el terror sobre el gaucho para que con su brazo sostenga una causa que ya no es la suya; el terror suple a la falta de activiad y de trabajo para administrar, suple al entusiasmo, suple a la estrategia, suple a todo. Y no hay que alucinarse: el terror es el medio de gobierno que produce mayores resultados que el patriotismo y la espontaneidad.“ (Sarmiento 1845: 168)
Der Terror sei eine Gemütskrankheit, der niemand entrinnen kann. Die Ermordung Facundos, die Rosas die Gelegenheit zu dessen politischen Aufstieg bietet, wird als offizieller Akt, ein von langer Hand geplantes Vorgehen vonseiten Rosas und einzelnen Provinzregierungen beschrieben56. (Sarmiento 1845: 143, 231) Rosas habe die Schuld am Mord Facundos den ‚gottlosen Unitariern‘ zugeschrieben. Von nun an habe die Bezeichnung ‚Unitarier‘ keine Parteizugehörigkeit mehr ausgedrückt, sondern sie sei zum Etikett all jener geworden, die dem Regime unliebsam waren57. (Sarmien55 „Así, la Providencia realiza las grandes cosas por medios insignificantes e inapercibibles y la unidad bárbara de la República va a iniciarse a causa de que un gaucho malo ha andado de provincia a provincia levantando tapias y dando puñaladas. [Kursivierungen im Original]“ (Sarmiento 1845: 135). 56 „Facundo muere asesinado el 18 de febrero; la noticia de su muerte llega a Buenos Aires el 24, y a principios de marzo ya estaban arregladas todas las bases del gobierno necesario e inevitable del comandante de campaña, que desde 1833 ha tenido en tortura a la ciudad, fatigádola, angustiádola, desesperádola, hasta que le ha arrancado, al fin, entre sollozos y gemidos, la Suma del Poder Público; porque Rosas no se ha contentado esta vez con exigir la dictadura, las facultades extraordinarias, etc. No; lo que pide es lo que la frase expresa: tradiciones, costumbres, formas, garantías, leyes, culto, ideas, conciencia, vidas, haciendas, preocupaciones; [...] [Kursivierung im Original]“ (Sarmiento 1845: 232). 57 „[…] a don Juan Manuel Rosas se le ha antojado llamar a sus enemigos presentes y futuros salvajes, inmundos unitarios, y uno nacerá salvaje estereotipado allí dentro de veinte años, como son federales hoy todos los que llevan la carátula que él les ha puesto. [Kursivierungen im Original]“ (Sarmiento 1845: 133, 134).
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to 1845: 245, 248) Der Terror sei mit Rosas institutionalisiert worden. „La reacción acaudillada por Facundo y aprovechada por Rosas se simboliza en una cinta colorada que dice: ¡Terror, sangre, barbarie!“ (Sarmiento 1845: 140). Das obligatorische Tragen des roten Bandes, des Porträts Rosas’ mit der Aufschrift Mueran los salvajes inmundos unitarios seien Ausdruck des Terrors, Symbol für Gewalt, Blutvergießen und Barbarei. Anstatt der Erschießungskommandos habe sich das Aufschlitzen der Kehle als Tötungspraxis durchgesetzt, das Messer sei zum Instrument der Justiz geworden58. (Sarmiento 1845: 140, 142, 240) Doch nicht nur die grausamen Methoden des Regimes zeugten von dessen Barbarei – Rosas habe zugleich jeglicher Zivilisation den Kampf angesagt. Während die zivilisierten Regierungen in das Postwesen investierten, da der Wohlstand der Völker und sicherer Handel eines funktionierenden Nachrichtenwesens bedürfen, so unterdrücke Rosas jeglichen Briefverkehr und das Postwesen sei seit 14 Jahren zum Erliegen gekommen. Er unterbinde die freie Schifffahrt und europäische Einwanderung, er versorge die Provinzen nicht mit Gütern und beharre auf dem Monopol der Zolleinnahmen Buenos Aires’ (Sarmiento 1845: 208, 209, 250, 251). „¡Cuánto tiempo perdido desde 1825 hasta 1845! ¡Cuánto tiempo más aún hasta que Dios se ha servido ahogar el monstruo de la pampa! Porque Rosas, oponiéndose tan tenazmente a la libre navegación de los ríos; protestando temores de intrusión europea; hostilizando a las ciudades del interior y abandonándolas a sus propias fuerzas, no obedece simplemente a las preocupaciones godas contra los extranjeros, no cede solamente a las sugestiones del porteño ignorante que posee el puerto y la aduana general de la República sin cuidarse de desenvolver la civilización y la riqueza de toda esa nación, para que su puerto esté lleno de buques cargados de productos del interior, y su aduana de mercancías, sino que principalmente sigue sus instintos de gaucho de la pampa que mira con horror el agua, con desprecio los buques y que no conoce mayor dicha ni felicidad igual a la de montar un buen parejero para trasportarse de un lugar a otro.“ (Sarmiento 1845: 208, 209)
Rosas erscheint im Facundo (1845) als Feind der Ideen, Sitten und Zivilisation europäischer Völker (Sarmiento 1845: 20) und findet in der Figurenkonstellation sein positives Gegenüber in Rivadavia, dem jedoch deutlich weniger Platz eingeräumt wird59. Wie wird im Facundo das Nationalvolk dargestellt? Die dem argentinischen Nationalvolk zugrundeliegende Zweiteilung wird im Facundo zunächst als Differenzierung zwischen Spaniern und Indigenen als zwei verschiedene ‚Rassen‘ getroffen: „El pueblo que habita estas extensas comarcas se compone de dos razas diversas, que, 58 „Los serenos cantan a cada cuarto de hora: ‚¡Viva el ilustre Restaurador! ¡Viva doña Emcarnación Ezcurra! ¡Mueran los impíos unitarios!‘ El sargento primero, al pasar lista a su compañía, repite las mismas palabras; el niño, al levantarse de la cama, saluda al día con la frase sacramental. [Anführungszeichen im Original]“ (Sarmiento 1845: 238, 239). 59 „Que le quede, pues, a este hombre, ya muerto para su patria, la gloria de haber representado la civilización europea en sus más nobles aspiraciones, y que sus adversarios cobren la suya de mostrar la barbarie americana en sus formas más odiosas y repugnantes; porque Rosas y Rivadavia son los dos extremos de la República Argentina.“ (Sarmiento 1845: 130, 131).
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mezclándose, forman medios tintes imperceptibles: españoles e indígenas.“ (Sarmiento 1845: 39). Die im Norden und Süden Argentiniens lebenden Indigenen, die indígenas de frontera, gelten im Facundo als blutrünstig und habgierig, als gefährliche Viehdiebe, die Siedlungen plündern (Sarmiento 1845: 215, 216). Das Leben der Landbevölkerung sei durch die Gefahr bestimmt. Diese Lebensbedingungen hätten den Charakter der ländlichen Einwohner geprägt und zur Resignation vor dem gewaltsamen Tod geführt. (Sarmiento 1845: 32, 37) „Si no es la proximidad del salvaje lo que inquieta al hombre del campo, es el temor de un tigre que lo acecha, de una víbora que puede pisar. Esta inseguridad de la vida, que es habitual y permanente en las campañas, imprime, a mi parecer, en el carácter argentino, cierta resignación estoica para la muerte violenta, que hace de ella uno de los percanes inseparables de la vida, una manera de morir como cualquiera otra, y puede, quizá, explicar en parte la indiferencia con que dan y reciben la muerte, sin dejar en los que sobreviven impresiones profundas y duraderas.“ (Sarmiento 1845: 32)
Die Landbevölkerung Argentiniens lebe abgeschieden von jeglicher Gesellschaft, das Individuum kämpfe allein gegen die Natur (Sarmiento 1845: 38). Die Weite und Leere des Landes, des desierto, umgebe den Landbewohner und enge ihn zugleich ein. Das Fehlen von Gesellschaft und die Vereinzelung des Menschen am Land würden die Entwicklung von Zivilisation und Fortschritt unmöglich machen. In diesem Zustand der Verwahrlosung und der Barbarei könne man kaum vom Funktionieren staatlicher Institutionen sprechen: Weder Gemeindeverwaltung, Polizei noch Justiz könnten sich in diesem Umfeld etablieren, ebenso wenig wie Bildungseinrichtungen: „¿Dónde colocar la escuela para que asistan a recibir lecciones los niños diseminados a diez leguas de distancia en todas direcciones?“ (Sarmiento 1845: 44). Am Land gebe es keine Gesellschaft mehr; es sei nur die isolierte feudale Familie geblieben, sodass die Erzählinstanz anmerkt: „Ignoro si el mundo moderno presenta un género de asociación tan monstruoso como éste.“ (Sarmiento 1845: 43). Ganz anders als das Leben in der Stadt: „El hombre de la ciudad viste el traje europeo, vive de la vida civilizada tal como la conocemos en todas partes; allí están las leyes, las ideas de progreso, los medios de instrucción, alguna organización municipal, el gobierno regular, etc.“ (Sarmiento 1845: 41). Der Unterschied in Kleidung, Sitten und Charakter zwischen Stadt- und Landbevölkerung sei so groß, dass man von zwei verschiedenen Völkern sprechen müsse, die sich gegenseitig fremd sind (Sarmiento 1845: 41), ja einander feindselig gegenüber stehen: „Todo lo que hay de civilizado en la ciudad está bloqueado allí, proscripto afuera, y el que osara mostrarse con levita, por ejemplo y montado en silla inglesa, atraería sobres sí las burlas y las agresiones brutales de los campesinos.“ (Sarmiento 1845: 41). Was für den Landbewohner das Pferd ist, ist für den Stadtbewohner die Krawatte – unverzichtbarer Bestandteil des Lebensstils (Sarmiento 1845: 67). Das Leben am Land unter den geschilderten Bedingungen habe erst den typisch argentinischen Soldaten hervorgebracht: „[...] y es fácil imaginarse lo que hábitos de este género pueden dar en valor y sufrimiento para la guerra.“ (Sarmiento 1845: 47). Von klein auf an das Töten von Tieren und an Blutvergießen gewöhnt, sei das Herz des Landbewohners jeglichem Opfer gegenüber verhärtet. „La vida del campo, pues, ha desenvuelto en el gaucho las facultades físicas, sin ninguna de las de la inteligen-
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cia.“ (Sarmiento 1845: 47). Der Landbewohner sei es von Kindesbeinen an gewohnt, den Widerständen zu trotzen, sich gegen die Natur durchzusetzen und sie zu besiegen. Dies habe seine Einschätzung der eigenen Bedeutung verzerrt und mache ihn zu einem von seiner Überlegenheit überzeugten Individuum. (Sarmiento 1845: 47) Das Gesetz des Stärkeren scheint das einzige Gesetz zu sein, das am Land regieren kann60. Die Justiz sei daher ebenso verschlagen wie das Individuum: „Costumbres de este género requieren medios vigorosos de represión y para reprimir desalmados se necesitan jueces más desalmados aún.“ (Sarmiento 1845: 70). Und es sei kein Zufall, dass alle namhaften caudillos aus dem Lande stammen: „Es singular que todos los caudillos de la revolución argentina han sido comandantes de campaña: López e Ibarra, Artigas Güemes, Facundo y Rosas.“ (Sarmiento 1845: 71, 72). Rosas sei der beste Reiter Argentiniens oder gar der ganzen Welt: „Es el primer jinete de la República Argentina, y cuando digo de la República Argentina sospecho que de toda la tierra, porque un equitador ni un árabe tiene que habérselas con el potro salvaje de la pampa.“ (Sarmiento 1845: 241). Mit dem Aufschwung der caudillos seien auch jene Reste an Zivilisation verschwunden, die noch von den Spaniern und der Kolonialzeit übriggeblieben seien (Sarmiento 1845: 79). Mit Rosas herrsche die Barbarei in der Stadt61. Freiheit Wie ist es nun um den Freiheitsbegriff bestellt? Ist Freiheit ein Thema des Facundo (1845)? Das Thema der Freiheit ist vordergründig nicht so präsent wie das Thema des Buches schlechthin, die Nation. Und doch spielt es eine nicht zu vernachlässigende Rolle: Der campesino argentino ist, wie oben beschrieben, ein einsamer Mensch, der sich allein und selbstverantwortlich den Gefahren der Natur stellen muss. Er ist in keine Gesellschaftsstruktur eingebunden und unabhängig: „Le hemos visto hombre, independiente de toda necesidad, libre de toda sujeción, sin ideas de gobierno, porque todo orden regular y sistemado se hace de todo punto imposible.“ (Sarmiento 1845: 66). Er ist niemandem und nichts unterworfen und kennt keine Regierung; er ist frei. Diese Art der Freiheit, die hier im Facundo (1845) gezeichnet wird, ließe sich als natürliche Freiheit des Individuums verstehen62, das weder Staat 60 „Así es cómo la vida argentina empieza a establecerse por estas peculiaridades el predominio de la fuerza brutal, la preponderancia del más fuerte, la autoridad sin límites y sin responsabilidad de los que mandan, la justicia, administrada sin formas y sin debate.“ (Sarmiento 1845: 37). 61 Für die Darstellung der Gruppe der ‚Schwarzen‘, Frauen und MulattInnen im Facundo und ihre Einordnung in die gezeichnete liberale und nationale Gesellschaftshierarchie nach Gender- und Ethnizitätsaspekten vgl. Österbauer (2017). 62 In ähnlicher Weise hat auch Julio Callet-Bois (1973) den Freiheitsbegriff im Facundo (1845) verstanden: „Para los adversarios de Rosas, Sarmiento desecha la ‚libertad natural‘, para invocar los derechos y obligaciones de la ‚libertad moral‘, en la que la razón condiciona y determina el fundamento de la única conducta que es lícito seguir, apoyada en convicciones inquebrantables, porque es superior a las ventajas y peligros que de ella pudieran resultar." [Anführungszeichen im Original] (Callet-Bois 1973: 354). Und auch Dill (1994: 64) meint, der gaucho befinde sich im Facundo (1845) in einem historischen Zustand noch vor dem Gesellschaftsvertrag, der die unabhängigen Subjekte verbinden könnte.
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noch anderen Individuen in einer Gemeinschaft verpflichtet ist. Der gaucho wird als natürlich frei entworfen und steht schon alleine aus diesem Grund in Konflikt mit der Justiz. Der Gesellschaftsverband (asociación) auf dem Lande sei gar kein Verband (desasociación) und daher von der Stammesgesellschaft abzugrenzen. Die Einsamkeit und Weite des Landes habe seine Bewohner zu isolierten, ungebundenen, natürlich freien Individuen gemacht. „He indicado la asociación normal de la campaña, la desasociación, peor mil veces que la tribu nómade; he mostrado la asociación ficticia en la desocupación; la formación de las reputaciones gauchas; valor, arrojo, destreza, violencias y oposición a la justicia regular, a la justicia civil de la ciudad. Este fenómeno de organización social existía en 1819, existe aún, modificado en muchos puntos, modificándose lentamente en otros, e intacto en muchos aún. Estos focos de reunión del gauchaje valiente, ignorante, libre y desocupado, estaban diseminados a millares en la campaña.“ (Sarmiento 1845: 72, 73)
Das mache den Landbewohner angriffslustig; die eigenverantwortliche Verteidigung des Lebens, der Schutz der natürlichen Freiheit, fordere Opfer und kenne keine Grenzen. Das zeige sich besonders in der Figur des caudillo: „El individualismo constituía su esencia, el caballo su arma exclusiva, la pampa inmensa su teatro.“ (Sarmiento 1845: 77). Facundo als typischer caudillo wird als keiner Gewalt unterworfen verstanden: „Facundo es un tipo de la barbarie primitiva; no conoció sujeción de ningún género; su cólera era la de las fieras; […]“ (Sarmiento 1845: 102). Seine Freiheit ist eine völlig ungebundene. War es die Landbevölkerung während der Kolonialzeit gewohnt, der Autorität des Königs zu unterstehen, so konnte sie mit dem Freiheitsbegriff der Revolution nichts anfangen: „Libertad, responsabilidad del poder, todas las cuestiones que la revolución se proponia resolver eran extrañas a su manera de vivir, a sus necesidades.“ (Sarmiento 1845: 75). Rechtlich gesicherte Freiheit im Gesellschaftsverband – bürgerliche Freiheit in Opposition zur natürlichen Freiheit – sei ihr fremd gewesen. Eben jene sei unter Martín Rodríguez (1820-1824) und Gregorio Las Heras (1824-1826) vorangetrieben worden63. Doch hätten die Bemühungen der Unitarier nicht ausgereicht: „Las doctrinas políticas de que los unitarios se habían alimentado hasta 1829, eran incompletas e insuficientes para establecer el Gobierno y la libertad; […]“ (Sarmiento 1845: 277). Facundo habe im Gegenteil dazu Gesetz, Freiheit und die Ideen der Stadt durch sich selbst ersetzt und auf diese Weise mehrere Provinzen vereint64. Wenn die natürliche Freiheit der Individuen nicht mittels Gesellschaftsvertrag in bürgerliche, rechtlich gesicherte Freiheit überführt wird, die sich die Individuen mit Eintritt in diesen gegenseitig garantieren, so kann sie in Un63 „Hasta este momento Rodríguez y Las Heras han estado echando los cimientos ordinarios de los Gobiernos libres. Ley de olvido, seguridad individual, respeto de la propiedad, responsabilidad de la autoridad, equilibrio en los poderes, educación pública […].“ (Sarmiento 1845: 128). 64 „Las conquistas de Quiroga habían terminado por destruir todo sentimiento de independencia en las provincias, toda regularidad en la administración. El nombre de Facundo llenaba el vacío que las leyes, la libertad y el espíritu de ciudad habían dejado, y los caudillos de provincia reasumídose en uno general para una porción de la República.“ (Sarmiento 1845: 211).
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freiheit, in die Abschaffung des freien Willens und der Individualität, münden, angeführt durch den caudillo und dessen unbeschränkte Macht: „Facundo posee La Rioja como árbitro y dueño absoluto; no hay más voz que la suya, más interés que el suyo. Como no hay letras, no hay opiniones, y como no hay opiniones diversas, La Rioja es una máquina de guerra que irá a donde la lleven.“ (Sarmiento 1845: 120). Das zeige sich auch der Art und Weise, wie Facundo sein Heer führt und Rosas seine Feinde unterdrückt65. Und es sei auch daran ablesbar, wie frei das Individuum in seiner Art, sich zu kleiden ist: „Toda civilización se expresa en trajes, y cada traje indica un sistema de ideas entero. ¿Pero por qué usamos hoy la barba entera? Por los estudios que se han hecho en estos tiempos sobre la Edad Media; la dirección dada a la literatura romántica se refleja en la moda. ¿Por qué varía ésta todos los días? Por la libertad del pensamiento europeo; fijad el pensamiento, esclavizadlo y tendréis vestido invariable [...] Los argentinos saben la guerra obstinada que Facundo y Rosas han hecho al frac y a la moda.“ (Sarmiento 1845: 141)
Anstatt die für die Zivilisation zentrale Religionsfreiheit, die die Anwerbung von Einwanderern verspreche, zu gewähren, hätte Facundo den Spruch ¡Religión o muerte! an den Toren der Stadt San Juan anbringen lassen (Sarmiento 1845: 145). Die Gefahr sei, dass das Volk schließlich seine Freiheit ganz aufgibt: „Hay un momento fatal en la historia de todos los pueblos, y es aquel en que, cansados los partidos de luchar, piden antes de todo el reposo de que por largos años han carecido, aun a expensas de la libertad […]“ (Sarmiento 1845: 233). Als mögliches Mittel zur Bekämpfung von Unfreiheit und des Rosas-Regimes wird im Facundo (1845) gerade eine der bürgerlichen Freiheiten – Pressefreiheit – erachtet (Sarmiento 1845: 152). „¡Nada!, excepto ideas, excepto consuelos, excepto estímulos; arma ninguna nos es dado llevar a los combatientes, si no es la que la Prensa libre de Chile suministra a todos los hombres libres. ¡La Prensa! ¡La Prensa! He aquí el vellocino de oro que tratamos de conquistar. He aquí cómo la prensa de Francia, Inglaterra, Brasil, Montevideo, Chile, Corrientes va a turbar tu sueño en medio del silencio sepulcral de tus víctimas [...]“ (Sarmiento 1845: 24)
Freiheit und Nation Das Verhältnis von Freiheit und Nation kommt nicht ohne eine Diskussion der im Facundo (1845) so zentralen Begriffe civilización und barbarie aus. Der Fokus der Lektüre dieser Arbeit auf Freiheit und Nation erlaubt indes drei Präzisierungen des in der Rezeption so präsenten Begriffspaares civilización und barbarie: 1. Die Gegenüberstellung von civilización und barbarie entspricht keiner exakten Gegen-
65 „El ejército se presentaba a la batalla medio federalizado, medio montonerizado, mientras que el de Facundo traía esa unidad que dan el terror y la obediencia a un caudillo que no es causa, sino persona, y que, por tanto, aleja el libre albedrío y ahoga toda individualidad. Rosas ha triunfado de sus enemigos por esta unidad de hierro que hace de todos sus satélites instrumentos pasivos, ejecutores ciegos de su suprema voluntad. [Kursivierungen im Original]“ (Sarmiento 1845: 198).
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überstellung von Stadt und Land66, 2. sie impliziert keine ausschließliche Unterteilung in ‚gut‘ und ‚böse‘ und 3. es handelt sich bei der Gegenüberstellung von civilización und barbarie um keine Dichotomie67. Im Folgenden sollen diese drei Behauptungen anhand von Textstellen belegt werden. Mit Buenos Aires hat die Zivilisation im Facundo (1845) ihr Zentrum gefunden. Doch nicht alle Städte werden als so fortschrittlich wie Buenos Aires skizziert. Córdoba wird im Facundo (1845) zwar Anerkennung für ihre Schönheit und ihre Universität zuteil, sie wird jedoch als ‚spanisch-zivilisiert‘, nicht ‚europäisch-zivilisiert‘ gezeichnet und erscheint dadurch als rückständig und fortschrittsfeindlich68. Für ihr Verharren in der Kolonialzeit und der Scholastik, ihre altmodische Gelehrtheit, die bis in untere Gesellschaftsschichten dringt, wird Córdoba im Facundo (1845) belächelt: „Por lo demás, el pueblo de la ciudad, compuesto de artesanos, participa del espíritu de las clases altas; el maestro zapatero se daba los aires de doctor en zapatería y os enderezaba un texto latino al tomaros gravemente la medida; el ergo andaba por las cocinas, en boca de los mendigos y locos de la ciudad, y toda disputa entre ganapanes tomaba el tono y forma de las conclusiones. [Kursivierung im Original]“ (Sarmiento 1845: 124)
Dass mit Zivilisation nicht Urbanität und hohe Bildung69 alleine gemeint sind, wird in der folgenden Passage deutlich, in der beschrieben wird, dass sich die Ideen der Unabhängigkeitsbewegung in Córdoba nicht durchsetzen konnten: „La juventud cordobesa empezó desde entonces [los años de 1816] a encaminar sus ideas por nuevas vías, y no tardó mucho en sentirse los efectos, de lo que trataremos en otra parte, porque, por ahora, sólo caracterizo el espíritu maduro, tradicional, que era el que predominaba. La revolución de 1819 encontró en Córdoba un oído cerrado, al mismo tiempo que las provincias todas respondían a un tiempo al grito de: ‚¡A las armas! ¡A la libertad!‘ [Anführungszeichen im Original]“ (Sarmiento 1845: 125)
Freiheit im Sinne von Freiheit des Staates/der Nation habe in Córdoba wenig Anklang gefunden. Damit stehe Córdoba im Gegensatz zu Buenos Aires, das nicht nur Ausgangspunkt der Unabhängigkeitsbewegung war, sondern Freiheit (Freiheit im und vom Staat) darüber hinaus verfassungsmäßig gesichert wissen wollte und bis 66 Die These, dass diese Begriffspaare übereinstimmen, vertreten u.a. Lipp (1993: 8), Dill (1994: 64) und Darío Arnolfo (2005: 26).
67 Für die Gültigkeit dieser drei Gegenüberstellungen plädieren z.B. Areán García und de Cássia Marcelino (2005) oder Carmen Granda (2010).
68 „Esta ciudad docta no ha tenido hasta hoy teatro público, no conoció la ópera, no tiene aún diarios, y la imprenta es una industria que no ha podido arraigarse allí. El espíritu de Córdoba hasta 1829 es monacal y escolástico; la conversación de los estrados rueda siempre sobre las procesiones, las fiestas de los santos, sobre exámenes universitarios, profesión de monjas, recepción de las borlas de doctor.“ (Sarmiento 1845: 123). 69 Andererseits habe der hohe Bildungsgrad der Bevölkerung Córdoba dazu beigetragen, dass sie die Revolution von General Paz, der sich für Zivilisation und Freiheit eingesetzt habe, unterstützte (Sarmiento 1845: 164).
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1828 ein Ort der Hochkultur und der feinen Gesellschaft gewesen sei (Sarmiento 1845: 132). „Así educado, mimado hasta entonces por la fortuna, Buenos Aires se entregó a la obra de constituirse a sí y a la República, como se había entregado a la de libertarse a sí y a la América, con decisión, sin medios términos, sin contemporización con los obstáculos.“ (Sarmiento 1845: 129)
So stehen auch wichtige Städte Argentiniens im Widerspruch zueinander; im Facundo (1845) ist von einem Antagonismus zwischen Córdoba und Buenos Aires die Rede. „Córdoba, española por educación literaria y religiosa, estacionaria y hostil a las innovaciones revolucionarias, y Buenos Aires, todo novedad, todo revolución y movimiento, son las dos fases prominentes de los partidos que dividían las ciudades todas, en cada una de las cuales estaban luchando estos dos elementos diversos que hay en todos los pueblos cultos.“ (Sarmiento 1845: 132)
Der Unterschied zwischen Córdoba und Buenos Aires lässt sich auf ihre unterschiedliche Einstellung zu Freiheit, Kultur, Ideen70 und Religion sowie auf die Orientierung Córdobas an Spanien und jene von Buenos Aires an den ‚fortschrittlichen‘ Nationen Europas zurückführen. Gepaart mit dem Problem der fehlenden nationalen Einheit des Landes seit der Revolution, lässt sich hier Zivilisation weniger auf die Stadt an sich als vielmehr aufgrund dessen, was unter Freiheit und Nation verstanden wird, beziehen: „A estos elementos de antagonismo se añadía otra causa no menos grave: tal era el aflojamiento de todo vínculo nacional, producido por la revolución de la Independencia.“ (Sarmiento 1845: 132, 133). Dass die Antagonismen innerhalb der Nation vielfältiger als die Gegenüberstellung von Stadt und Land (= Zivilisation und Barbarei) sind, zeigt auch die folgende Textstelle: „Aquí, un caudillo que no quería nada con el resto de la República; allí, un pueblo que nada más pedía que salir de su aislamiento; allá, un gobierno que transportaba la Europa a la América; acullá, otro que odiaba hasta el nombre de civilización; en unas partes se rehabilitaba el Santo Tribunal de la Inquisición; en otras se declaraba la libertad de las conciencias como el primero de los derechos del hombre; unos gritaban Federación; otros, Gobierno central.“ (Sarmiento 1845: 121)
Zum zweiten Aspekt der Bewertung von Zivilisation und Barbarei nach einem GutBöse-Schema kann Folgendes angemerkt werden: Obwohl der Zivilisation klar der Vorrang gegeben wird, hat auch die Barbarei ihren Reiz: „De manera que si en esta disolución de la sociedad radica hondamente la barbarie por la imposibilidad y la inutilidad de la educación moral e intelectual, no deja, por otra parte, de tener sus atractivos.“ (Sarmiento 1845: 48). Sie erscheint letztlich als Teil der Nation und bildet de70 Die beiden Städte würden sich unterschiedlicher Quellen bedienen. Während Córdoba sich auf Spanien, die Konzile, etc. berufen würde, so sei Buenos Aires Bentham, Rousseau, Montesquieu und der französischen Literatur zugewandt. (Sarmiento 1845: 132)
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ren Spezifika erst aus (Sarmiento 1845: 65). Zum einen übe das Landleben, wenn es auch unter den geschilderten Bedingungen Hürden für jede politische Organisation, für europäische Zivilisation, deren Institutionen und infolgedessen für Wohlstand und Freiheit bereithalte, zugleich einen gewissen poetischen Reiz aus. „Si de las condiciones de la vida pastoril tal como la ha constituido la colonización y la incuria, nacen graves dificultades para una organización política cualquiera y muchas más para el triunfo de la civilización europea, de sus instituciones y de la riqueza y libertad, que son sus consecuencias, no puede, por otra parte, negarse que esta situación tiene su costado poético y fases dignas de la pluma del romancista.“ (Sarmiento 1845: 49)
Echeverría hätte sich in der spanischsprachigen Welt der Literatur einen Namen mit La cautiva gemacht, indem er die großartigen Naturszenen und den Kampf zwischen der europäischen Zivilisation und der indigenen Barbarei beschrieben hat (Sarmiento 1845: 49, 50). „La poesía, para despertarse […] necesita el espectáculo de lo bello, del poder terrible, de la inmensidad, de la extensión, de lo vago, de lo incomprensible […]“ (Sarmiento 1845: 51). Die Ängste, die die Naturgewalten hervorrufen, das Schreckliche, die Weite des Landes rufe poetische Faszination hervor. „De aquí resulta que el pueblo argentino es poeta por carácter, por naturaleza.“ (Sarmiento 1845: 52). Das argentinische Volk sei von Natur und seinem Charakter aus poetisch und musikalisch veranlagt; die Natur wirke auf das Gemüt des gaucho71: „Así, cuando la tormenta pasa, el gaucho se queda triste, pensativo, serio y la sucesión de luz y tinieblas se continúa en su imaginación, del mismo modo que cuando miramos fijamente el sol nos queda por largo tiempo su disco en la retina.“ (Sarmiento 1845: 52)
Die Landbevölkerung habe ihre eigenen Gesänge entwickelt; eines Tages würden die nationalen Sitten und Eigenheiten das Drama und den Nationalroman (romance nacional) verschönern und ihnen eine eigene Prägung geben (Sarmiento 1845: 55). „Así, pues, en medio de la rudeza de las costumbres nacionales, estas dos artes que embellecen la vida civilizada y dan desahogo a tantas pasiones generosas, están honradas y favorecidas por las masas mismas que ensayan su áspera musa en composiciones líricas y poéticas.“ (Sarmiento 1845: 54)
Die Bewertung der barbarischen Figuren fällt ebenfalls nicht ausschließlich negativ aus72. So wird Facundo für seine zustimmende Haltung zum Vorschlag, eine die Na71 Für die Darstellung des gaucho im Facundo und seine Einordnung in die gezeichnete liberale und nationale Gesellschaftshierarchie nach Gender- und Ethnizitätsaspekten vgl. Österbauer (2017). 72 Monti (2013) hingegen vertritt folgende, häufig in der Sekundärliteratur anzutreffende, Meinung: „En el cuento de Echeverría y en el texto de Sarmiento se entiende perfectamente que el partido de los federales, es decir el partido controlado por Rosas, estaba asociado con la ‚barbarie‘, mientras que el partido de los unitarios, que quería la formación de una nación con un gobierno central, estaba asociado con la ‚civilización‘. [Anführungszeichen im Original]” (Monti 2013: 9).
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tion einende Verfassung zu erlassen – im Sinne von Freiheit und Nation – gelobt: „Facundo recibió en La Rioja la invitación y acogió la idea con entusiasmo, quizá por aquellas simpatías que los espíritus altamente dotados tienen para las cosas esencialmente buenas.“ (Sarmiento 1845: 136). Die Charakterisierung der Figuren passt demnach mit Facundo als Prototypen der Barbarei nicht in ein Gut-Böse-Schema, das Zivilisation und Barbarei einander exklusiv gegenüberstellt: „Como se ve, el alma de Facundo no estaba del todo cerrada a las nobles inspiraciones.“ (Sarmiento 1845: 173). Ähnliches lässt sich in Bezug auf die Figur des General Madrids sagen, der zwar ein Landbewohner und gaucho (der Typ des cantor) ist, aber aufgrund seines Einsatzes für rechtlich gesicherte Freiheit als ‚zivilisierter‘ gaucho beschrieben wird: „Es el general Madrid uno de estos tipos naturales del suelo argentino. […] Es un Tirteo que anima al soldado con canciones guerreras, el cantor de que hablé en la primera parte; es el espíritu gaucho, civilizado y consagrado a la libertad.“ (Sarmiento 1845: 137)
Dass der Charakter im Facundo (1845) als erzieh- und veränderbar gefasst wird, lässt sich besonders deutlich an der Textstelle erkennen, in der Facundo in das Umfeld der Zivilisation gelangt, als er in Buenos Aires ankommt. El poder educa, y Quiroga tenía todas las altas dotes de espíritu que permiten a un hombre corresponder siempre a su nueva posición, por encumbrada que sea. Facundo se establece en Buenos Aires, y bien pronto se ve rodeado de los hombres más notables; compra seiscientos mil pesos de fondos públicos; juega a la alza y baja; habla con desprecio de Rosas; declárase unitario entre los unitarios, y la palabra Constitución no abandona sus labios. Su vida pasada, sus actos de barbarie, poco conocidos en Buenos Aires, son explicados entonces y justificados por la necesidad de vencer, por la de su propia conservación. (Sarmiento 1845: 218)
Facundo habe bemerkt, dass in Buenos Aires eine andere Form der Gewalt vorherrscht – die geregelte Staatsgewalt – und er beugt sich dieser, weil er feststellt, dass hier Recht exekutiert wird und er bei einem Rechtsverstoß ins Gefängnis kommen könnte. Seine Kinder lässt er die besten Schulen besuchen und sie nur in Frack oder Gehrock außer Haus gehen (Sarmiento 1845: 219). Doch als er zurück auf das Land zieht, kehren seine Brutalität und der Terror wieder, was im Facundo (1845) mit dem Umfeld der Natur und der halbbarbarischen Gesellschaft (sociedad semibárbara) erklärt wird. (Sarmiento 1845: 224) Dies führt uns zum dritten Aspekt und der These, dass sich Zivilisation und Barbarei im Facundo (1845) nicht in Form einer Dichotomie gegenüberstehen. Die negativen Seiten der Barbarei könnten überwunden werden – nicht, weil es die Barbarei an sich auszulöschen und durch die Zivilisation zu ersetzen gälte73, sondern weil diese durch Bildung und Erziehung ausgemerzt werden könnten. Als Beispiel wird im Facundo (1845) die Stadt San Juan genannt: „Sus edificios se han aumentado sensiblemente; lo que prueba toda la riqueza de aquellos países y cuánto podrían progresar 73 Die Lesart des Facundo (1845), dass die ungebildete Landbevölkerung ersetzt werden müsse, damit eine Nation konstruiert werden könne, vertritt z.B. Laguado (2007: 312, 315). Der gaucho wird bei Laguado (2007: 312, 313) als Ausdruck jener Bevölkerungsgruppe, die ersetzt werden soll, verstanden.
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si el gobierno cuidase de fomentar la instrucción y la cultura, únicos medios de elevar a un pueblo.“ (Sarmiento 1845: 83). In der geeinten Nation und mit den ‚richtigen‘ politischen Maßnahmen sei das Staatsvolk erziehbar: „Todo depende de las preocupaciones que dominan en ciertos momentos, y el hombre, que hoy se ceba en sangre por fanatismo, era ayer un devoto inocente, y será mañana un buen ciudadano.“ (Sarmiento 1845: 283). Ja selbst Rosas gilt als fähig zu Zivilisation: „Buenos Aires es tan poderosa en elementos de civilización europea, que concluirá al fin con educar a Rosas y contener sus instintos sanguinarios y bárbaros.“ (Sarmiento 1845: 79). Die drei ausgeführten Präzisierungen zum Verhältnis von Zivilisation und Barbarei sind aufschlussreich für das Verhältnis von Freiheit und Nation im Facundo (1845). Die Verortung der nationalen Sitten, Bräuche, Charaktere, Geschichte und Spezifika in den natürlichen Gegebenheiten des Landes lassen eine gewisse Wertschätzung der Barbarei im Facundo (1845) durchklingen, wenn auch die Schilderung ihrer Brutalität den Großteil des Buches einnimmt. Exemplarisch nachvollziehbar ist diese anhand der folgenden Textstelle unter Verwendung der ersten Person Plural: „Nuestras carretas viajeras son una especie de escuadra de pequeños bajeles, cuya gente tiene costumbres, idioma y vestidos peculiares que la distinguen de los otros habitantes, como el marino se distingue de los hombres de tierra.“ (Sarmiento 1845: 37). Und auch gemeinsame Charakterzüge aller Argentinier als nationale Spezifika werden im Facundo (1845) diskutiert. „Los argentinos, de cualquier clase que sean, civilizados o ignorantes, tienen una alta conciencia de su valer como nación; todos los demás pueblos americanos les echan en cara esta vanidad, y se muestran ofendidos de su presunción y arrogancia. Creo que el cargo no es del todo infundado, y no me pesa de ello.“ (Sarmiento 1845: 47)
Dies sowie die Durchlässigkeit der Begriffe Zivilisation und Barbarei – es ist möglich, barbarische Figuren mittels Bildung zu ‚zivilisieren‘ – deutet auf eine Allianz zwischen Zivilisation und Barbarei als Lösung zur Einigung der Nation hin74. Die Vereinigung der Landbewohner wird als Bedingung für die neue politische Ordnung gefasst: „[…] todavía no ha llegado el momento de la alianza de todas las fuerzas pastoras para que salga de la lucha la nueva organización de la República.“ (Sarmiento 1845: 150). Die angesprochene Allianz des Nationalvolkes sei als unerwünschtes Nebenprodukt des Terrorregimes bereits im Aufbau begriffen: „Las atrocidades de que era teatro sangriento Buenos Aires habían, por otra parte, hecho huir a la campaña a una inmensa multitud de ciudadanos que, mezclándose con los gauchos, iban obrando lentamente una fusión radical entre los hombres del campo y los de la ciudad; la común desgracia los reunía; unos y otros execraban aquel monstruo sediento de sangre y de crímenes, ligándolos para siempre en un voto común. [Kursivierung im Original]“ (Sarmiento 1845: 267)
Die Bewohner Argentiniens hätten sich gegenseitig kennengelernt und angenähert – aus diesem Grund habe Rosas das Postwesen zum Erliegen gebracht und die Über74 Auch Miller (2007: s.p.) vertritt die These, dass in Sarmientos Facundo (1845) sowohl Zivilisation als auch Barbarei wichtig für die Nation sind.
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wachung des Volkes angeordnet (Sarmiento 1845: 273). Aus zwei Gesellschaften werde eine, indem die gauchos mit den Ideen der Stadtbewohner sympathisieren: „Existían antes dos sociedades diversas: las ciudades y las campañas; echándose las campañas sobre las ciudades, se han hecho ciudadanos los gauchos y simpatizado con la causa de las ciudades. [Kursivierungen im Original]“ (Sarmiento 1845: 273). In den Schlussseiten des Facundo (1845) ist gar von einer bereits erfolgten Einigung des Nationalvolkes die Rede: „La lucha de las campañas con las ciudades se ha acabado; el odio a Rosas ha reunido a estos elementos; los antiguos federales y los viejos unitarios, como la nueva generación, han sido perseguidos por él y se han unido.“ (Sarmiento 1845: 286). Es wirkt als wäre die Versöhnung der sich scheinbar feindlich gegenüberstehenden Gruppen bereits erfolgt, als sei die Patria als Werk Gottes durch das zivilisationsfeindliche Regime Rosas’ geradezu ungewollt bereits vorbereitet worden und der Weg zur Verwirklichung von Nation und Freiheit frei, wäre da nicht Rosas. „Pero no se vaya a creer que Rosas no ha conseguido hacer progresar la República que despedaza, no; es un grande y poderoso instrumento de la Providencia, que realiza todo lo que al porvenir de la patria interesa. Ved cómo. Existía antes de él y de Quiroga, el espíritu federal en la provincias, en las ciudades, y organiza en provecho suyo el sistema unitario que Rivadavia quería en provecho de todos. Hoy todos esos caudillejos del interior, degradados, envilecidos, tiemblan de desagradarlo y no respiran sin su consentimiento. La idea de los unitarios está realizada; sólo está de más el tirano; el día que un bueno gobierno se establezca, hallará las resistencias locales vencidas, y todo dispuesto para la unión.“ (Sarmiento 1845: 272, 273)
Nicht die Überwindung der Barbarei, sondern die Synthese von Zivilisation und bestimmter Aspekte der Barbarei, scheint das Anliegen des Facundo (1845) zu sein. Und nicht der Ersatz der Barbarei verspricht die Lösung für die Probleme der Nation, sondern konkrete politische Maßnahmen, die im Bereich der freiheitssichernden, mittels Verfassung vereinten Nation angesiedelt werden können75. „Nada importa esto para el progreso de un pueblo. El mal que es preciso remover es el que nace de un Gobierno que tiembla a la presencia de los hombres pensadores e ilustrados, y que para subsistir necesita alejarlos o matarlos, nace de un sistema que, reconcentrando en un solo hombre toda voluntad y toda acción, el bien que él no haga, porque no lo conciba, no lo pueda o no lo quiera no se sienta nadie dispuesto a hacerlo por temor de atraerse las miradas suspicaces del tirano, o bien porque donde no hay libertad de obrar y de pensar, el espíritu público se extingue
75 Auch Shumway (2008) sieht das Anliegen des Facundo (1845) nicht einfach in der Kritik am Rosas-Regimes und den Sturz des Tyrannen erschöpft: „Sarmiento, however, did not see Rosas merely as a tyrant whose removal would put Argentina back on a proper course; rather, he considered Rosas a symptom of much deeper problems in Argentine culture and the incarnation of personalist government that yields power to a charismatic leader, the caudillo, and thereby fails to develop the rule of law and institutions. [Kursivierung im Original]“ (Shumway 2008: 297). Er meint weiter, dass es Sarmientos Ziel im Facundo (1845) gewesen sei, Lösungen anzubieten, die seinen eigenen politischen Zielen entsprechen (Shumway 2008: 298).
382 | F REIHEIT UND N ATION y el egoísmo que se reconcentra en nosotros mismos ahoga todo sentimiento de interés por los demás. [Kursivierung im Original]“ (Sarmiento 1845: 188)
Schon die Geographie Argentiniens mache eine Einigung der Nation mittels Verfassung nötig. Nur so könne der Reichtum der Nation – die unzähligen Flüsse als Verkehrsnetz – genutzt werden. „Pero la República Argentina está geográficamente constituida de tal manera, que ha de ser unitaria siempre, aunque el rótulo de la botella diga lo contrario. Su llanura continua, sus ríos confluentes a un puerto único la hacen fatalmente una e indivisible. Rivadavia, más conocedor de las necesidades del país, aconsejaba a los pueblos que se uniesen bajo una Constitución común, haciendo nacional el puerto de Buenos Aires. [Kursivierungen im Original]“ (Sarmiento 1845: 134)
Nicht die Einigung der Nation in Unfreiheit und Barbarei, wie sie Facundo und Rosas vorangetrieben haben, sondern mithilfe einer freiheitssichernden Verfassung erscheint so als die erstrebenswerte Alternative: „Nosotros, empero, queríamos la unidad en la civilización y en la libertad, y se nos ha dado la unidad en la barbarie y en la esclavitud.“ (Sarmiento 1845: 35). In Bezug auf General Paz wird im Facundo dieses Anliegen explizit formuliert: „¡Quién sabe si la Providencia, que tiene en sus manos la suerte de los Estados, ha querido guardar este hombre, que tantas veces ha escapado a la destrucción, para volver a reconstruir la República bajo el imperio de las leyes que permiten la libertad sin la licencia y que hacen inútil el terror y las violencias que los estúpidos necesitan para mandar!“ (Sarmiento 1845: 163)
Werden die soeben skizzierten Ideale von Freiheit und Nation im überwiegenden Großteil des Facundo ex negativo formuliert, indem der gegenteilige Zustand der Unfreiheit, des Terrors, der Barbarei, des Blutvergießens und der Unterdrückung großer Teile des Nationalvolks detailreich geschildert wird – mit wenigen Ausnahmen, in denen Elemente der Zivilisation als Gegenfolie herangezogen werden (z.B. in Form einzelner Figuren wie Paz und Madrid oder der Beschreibung der Städte Córdoba und Buenos Aires) – so ist das letzte Kapitel des Buches, Presente y porvenir, einer Vision zur Einigung der Nation mit Garantie der Freiheitsrechte gewidmet. Neben den beschriebenen Akteuren des Nationalvolkes, das sich in einer Allianz versöhnen soll, treten nun neue Protagonisten auf den Plan. „Últimamente había llegado a reunirse en Montevideo un cuarto elemento que no era ni unitario, ni federal, ni ex rosista, y que ninguna afinidad tenía con aquéllos, compuesto de la nueva generación que había llegado a la virilidad en medio de la destrucción del orden antiguo y la implantación del nuevo.“ (Sarmiento 1845: 261)
Denn in Argentinien geblieben sei nur jener Teil der Gesellschaft, der der Erwerb ihres Brotes wichtiger ist als Nation und Freiheit und die sich dafür jeglichem Tyrannen unterstellen lässt: „[…] los hombres, en fin, para quienes el interés de la libertad, la civilización y la dignidad de la patria, es posterior al de comer y dormir [...]“ (Sarmiento 1845: 260). Der Salón Literario sei die erste Form gewesen, die der neu-
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en Generation Ausdruck verliehen habe. Aus diesem Kreise hätten einige intelligente Mitglieder in geheimen Treffen Ideen entwickelt, wie der barbarischen Regierung eine zivilisierte Antwort entgegengestellt werden könnte. (Sarmiento 1845: 262) Diese Elite, die sich zugleich schriftstellerisch hervorgetan hätte, sei dazu berufen, die neue Nation aufzubauen76. Der (nicht-fiktionale) Schwur der Gruppe an jungen Intellektuellen und Literaten ist im Facundo (1845) abgedruckt und enthält mit den palabras simbólicas auch das Bekenntnis zu Freiheit und Nation. „‚Y deseando consagrar sus esfuerzos a la libertad y felicidad de su patria y a la regeneración completa de la sociedad argentina, ‚I.° Juran concurrir con su inteligenia, sus bienes y sus brazos a la realización de los principios formulados en las palabras simbólicas que forman las bases del pacto de alianza. [Anführungszeichen und Kursivierung im Original]“ (Sarmiento 1845: 263)
Man könnte sagen, im Facundo (1845) werde der Mythos der generación del 37 seiner Zeit vorauseilend grundgelegt – politisch wie literarisch: „Que en cuanto a literatura, la República Argentina es hoy mil veces más rica que lo fue jamás en escritores capaces de ilustrar a un Estado americano.“ (Sarmiento 1845: 278). Die junge, gebildete Elite, so heißt es weiter, habe im amerikanischen Exil Sitten und Bräuche, Völker und deren Regierungen studiert und Hürden bezüglich Freiheit und Nation untersucht77. Die eingeholten Informationen aus Europa und Amerika würden sie eines Tages zugunsten der Nation nutzbar machen78. (Sarmiento 1845: 277) Was sind die Maßnahmen, die eine neue Regierung setzen würde? Unter anderen sind dies der Aufbau eines Postwesens und der freien Flussschifffahrt, die Schaffung von neuen Siedlungen an den Ufern der Flüsse, den Aufbau eines funktionierenden Pressewesens in der gesamten Republik sowie die Verbreitung von Lehrbüchern und Publikationen zu u.a. industria, Literatur und Kunst. Sie werde wieder Institutionen zur Repräsentation schaffen, die Rechte des Individuums absichern, die die freie Ent-
76 „Casi todos los que sobreviven son hoy literatos distinguidos, y si un día los poderes intelectuales han de tener parte en la dirección de los negocios de la República Argentina muchos y muy completos instrumentos hallará en esta escogida pléyade, largamente preparada por el talento, el estudio, los viajes, la desgracia y el espectáculo de los errores y desaciertos que han presenciado o cometido ellos mismos.“ (Sarmiento 1845: 263). 77 „Los jóvenes estudiosos que Rosas ha perseguido se han desparramado por toda la América, examinado las diversas costumbres, penetrado en la vida íntima de los pueblos, estudiado sus gobiernos, y visto los resortes que en unas partes mantienen el orden sin detrimento de la libertad y del progreso, notando en otros los obstáculos que se oponen a una buena organización.“ (Sarmiento 1845: 277). 78 „Cuatro o cinco asociaciones existen en el extranjero de escritores que han emprendido compilar datos para escribir la historia de la República, tan llena de acontecimientos; y es verdaderamente asombroso el cúmulo de materiales que han reunido de todos los puntos de América [...]“ (Sarmiento 1845: 278).
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faltung seiner Handlungen sowie seines Intellekts betreffen und unterschiedliche Meinungen respektieren79. (Sarmiento 1845: 279-281) Die im Facundo (1845) formulierte Vorstellung der geeinten, freien Nation ähneln jenen, die Sarmiento später in den Comentarios de la Constitución (1853a) vertreten sollte, wenngleich im Facundo (1845) noch offen bleibt, welche Staatsform mit der Verfassung etabliert werden soll. Ob sie föderal, zentralistisch oder gemischt sein soll, hänge von der Situation ab, die ohnehin von Skepsis geprägt sei, da jeglicher Versuch, eine Verfassung in Argentinien zu erlassen bislang gescheitert war. (Sarmiento 1845: 282). Unter allen Maßnahmen wird im Facundo (1845) aber im Einklang mit der Wurzel allen Übels – der fehlenden Bevölkerung am Land – die Förderung von europäischer Einwanderung hervorgestrichen: „Pero el elemento principal de orden y moralización que la República Argentina cuenta hoy es la inmigración europea […] y si hubiera un Gobierno capaz de dirigir su movimiento, bastaría por sí sola a sanar en diez años no más, todas las heridas que han hecho a la patria los bandidos, desde Facundo hasta Rosas, que la han dominado.“ (Sarmiento 1845: 284)
In den USA fänden europäische Einwanderer ohnehin nicht mehr so viele Vorteile vor, sie sollten daher in das Gebiet des Río de la Plata mit seinem milden Klima und fruchtbaren Böden kommen (Sarmiento 1845: 285). Die neue Regierung kümmere sich um die Förderung von Einwanderung und Verteilung derselben in den Provinzen, sodass die Ufer der Flüsse innerhalb von zehn Jahren mit Städten bedeckt sein würden und Argentinien seine Bevölkerung mit aktiven, unternehmerischen und moralischen Bürgern verdoppeln würde80. (Sarmiento 1845: 286) Wie werden Freiheit und Nation zusammenfassend im Facundo (1845) miteinander verknüpft? Das nationale Territorium und dessen Beschaffenheit forme die nationalen Charaktere, die sich und ihr Leben vereinzelt und auf sich gestellt gegen die Gefahren der Natur und der indigenen Bevölkerung verteidigen müssen und daher zu natürlicher Freiheit neigen, welche aber unter der Herrschaft von caudillos rasch in Unfreiheit münden kann. Die Probleme der Nation seien nicht auf Einzelpersönlichkeiten, sondern die fehlende nationale Einheit, die koloniale Vergangenheit der Nation sowie die geringe Bevölkerungszahl zurückzuführen. Die Geschichte der Nation wird vor diesen Prämissen geschrieben. Aber auch nationale Sitten und Bräuche, das ‚Wesen‘ der Nationalvolks, werden von der Barbarei abgeleitet. Das Programm der neuen Regierung wird im Facundo (1845) bereits vorformuliert, der Maßnahmenkatalog ist definiert, der Konsens in der Bevölkerung scheint schon vorhanden und die politische Elite, die das Projekt vorantreiben soll, stehe im Exil be79 „Todas las cuestiones sociales, ventiladas; federación, unidad, libertad de cultos, inmigración, navegación de los ríos, poderes políticos, libertad, tiranía, todo se ha dicho entre nosotros, todos nos ha costado torrentes de sangre.“ (Sarmiento 1845: 278, 279). 80 „Puede ser que tantos bienes no se obtengan de pronto, y que después de una subversión tan radical como la que ha obrado Rosas, cueste todavía un año o más de oscilaciones el hacer entrar la sociedad en sus verdaderos quicios. Pero con la caída de ese monstruo entraremos por lo menos en el camino que conduce a porvenir tan bello, en lugar de que bajo su funesta impulsión nos alejamos más y más cada día, y vamos a pasos agigantado retrocediendo a la barbarie, a la desmoralización y a la pobreza.“ (Sarmiento 1845: 282).
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reit. Mithilfe von Bildung und Erziehung, vor allem aber Zuwanderung aus Europa, stünden sich Zivilisation und Barbarei nicht länger feindlich gegenüber – sie vereinten sich in der zivilisierten, freiheits- und wohlstandssichernden Nation81 mit ihren Spezifika in Literatur und Kunst, Sitten, Geschichte, Natur, Volk und Nationaltypen, allen voran des gaucho. Die in der Natur des gaucho angelegte Freiheitsliebe wird in der Nation zur zivilisierten, bürgerlichen Freiheit – die Zeit des Terrors, der Unterdrückung von Freiheit und der Bürgerkriege scheint so überwunden. Eine dichotomische Gegenüberstellung von Zivilisation und Barbarei wird im Facundo (1845) nicht vorgenommen. Stadt- und Landbevölkerung sollen sich zu einer Allianz zusammenfügen und die Barbarei gilt als erziehbar. Die Bewertung der Figurengruppen sowie individueller Figuren steht vielmehr in Abhängigkeit zu deren Einstellung zu Freiheit und Nation. Wenn eine strikte Gegenüberstellung von Bevölkerungsgruppen im Facundo (1845) zu bemerken ist, so ist dies weniger zwischen Stadt- und Landbevölkerung, d.h. zwischen zivilisierter, europäisch geprägter und barbarischer, von caudillos geprägter Bevölkerung mit dem gaucho als Nationaltyp82 der Fall als vielmehr zwischen der Summe der genannten Gruppen und der indigenen, als salvaje bezeichneten Bevölkerung. Diese Gegenüberstellung nimmt aber nur wenig Platz im Facundo (1845) ein und lässt einige Fragen unbeantwortet, wenn auch die Geringschätzung dieser Gruppe gegenüber offenkundig ist. Sind Indigene wie gauchos mithilfe von Bildung und Erziehung zu Zivilisation und Freiheit fähig? Die folgende Textstelle lässt auch dies offen: „El derecho de gentes, que ha suavizado los horrores de la guerra, es el resultado de siglos de civilización; el salvaje mata a su prisionero, no respeta convenio alguno siempre que haya ventaja en violarlo. ¿Qué freno contendrá al salvaje argentino, que no conoce ese derecho de gentes de las ciudades cultas? ¿Dónde habrá adquirido la conciencia del derecho? ¿En la pampa?“ (Sarmiento 1845: 189)
Auch die Kritik an der Tötung von Indigenen durch das Rosas-Regime lässt die Frage unbeantwortet: „Verdad es que se fusilan en una mañana cuarenta y cuatro indios en una plaza de la ciudad, para dejar yertos a todos con estas matanzas, que aunque de salvajes, eran, al fin, hombres; [...]“ (Sarmiento 1845: 240). Es kann auf Textbasis nicht festgestellt werden, ob Indigene als Nationsangehörige zu betrachten sind, sie als unzivilisierbares Hindernis für die Verwirklichung von Freiheit und Nation erach81 Dass im Facundo (1845) von zwei verschiedenen Freiheitsbegriffen auszugehen ist, der natürlichen Freiheit der gauchos sowie einem bürgerlichen Freiheitsbegriff (la civizilación, las leyes y la libertad) geht auch aus dem folgenden Zitat hervor: „Desenvolviéndose los acontecimientos, veremos las montoneras provinciales con sus caudillos a la cabeza en Facundo Quiroga últimamente, triunfante en todas partes la campaña sobre las ciudades, y dominadas éstas en su espíritu, gobierno y civilización, formarse al fin el gobierno cental, unitario, despótico del estanciero don Juan Manuel Rosas, que clava en la culta Buenos Aires el cuchillo de gaucho y destruye la obra de los siglos, la civilización, las leyes y la libertad.“ (Sarmiento 1845: 73). 82 In der Sekundärliteratur ist hingegen häufig zu lesen, dass der gaucho erst mit José Hernández’ Martín Fierro eine Aufwertung in der Literatur erfahren habe, so auch bei Laguado (2007: 314).
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tet und als solches toleriert oder bekämpft werden. Es geht auch nicht hervor, ob dies für alle Indigenen oder nur für die indígenas de frontera, gegen die im Facundo (1845) kämpferische Maßnahmen befürwortet werden, gilt. Zum Verhältnis zwischen Autor und Erzählinstanz Die äußerst präsente Erzählinstanz tritt dem impliziten Leser im Facundo (1845) als yo in der Ich-Form entgegen, gibt sich aber nicht explizit als Domingo Faustino Sarmiento zu erkennen. Der implizite Leser erfährt gleich zu Beginn des Buches, dass die Erzählinstanz in die Fänge der mazorca geraten ist und die Nation verlassen musste: „A fines del año 1840 salía yo de mi patria, desterrado por lástima, estropeado, lleno de cardenales, puntazos y golpes recibidos el día anterior en una de esas bacanales sangrientas de soldadesca y mazorqueros. [...] Significa simplemente que venía a Chile, donde la libertad brillaba aún, y que me proponía hacer proyectar los rayos de las luces de su prensa hasta el otro lado de los Andes. [Kursivierung im Original]“ (Sarmiento 1845: 16)
Aus der zitierten Passage geht hervor, dass Argentinien die Patria der Erzählinstanz sein muss und sie nun in Chile im Exil lebt, von wo aus sie mithilfe der Presse ihre Ideen nach Argentinien bringt. Die Erzählinstanz vermittelt ihre Information also von außerhalb und ist nicht mehr Teil des Handlungsraums, der dem Raum der Nation entspricht. Am Ende des ersten Teils des Buches wird der implizite Leser über den Bildungshintergrund des yo informiert: „Existen aún los restos de seis o siete bibliotecas de particulares en que estaban reunidas las principales obras del siglo XVIII, y las traducciones de las mejores griegas y latinas. Yo no he tenido otra instrucción hasta el año 36, que la que esas ricas, aunque truncas, bibliotecas pudieron proporcionarme.“ (Sarmiento 1845: 84, 85)
Er erfährt darüber hinaus, dass sich die Erzählinstanz im Bildungswesen engagiert: „Yo que hago profesión hoy de la enseñanza primaria, que he estudiado la materia, puedo decir que si alguna vez se ha realizado en América algo parecido a las famosas escuelas holandesas descriptas por M. Cousin, es en la de San Juan.“ (Sarmiento 1845: 86)
Dass die Erzählinstanz den caudillos ablehnend gegenübersteht, ist offenkundig. Sie distanziert sich aber auch von den Unitariern, denen sie ideologisch näher steht und schließt sich aus deren Gruppe aus: „Estos unitarios del año 25 forman un tipo separado, que nosotros sabemos distinguir por la figura por los modales, por el tono de la voz y por las ideas.“ (Sarmiento 1845: 131). Sie beschreibt den typischen Unitarier als stolzen Menschen mit aufrechtem Gang, mit fixen, unveränderlichen Ideen, der den Blick nicht einmal nicht hinten wendet, wenn hinter ihm ein Gebäude zusammenbricht. Recht und Gesetz, Verfassung und die Garantie der Individualrechte sind ihm das Wichtigste, die Zukunft der Nation ist seine Religion. „Es imposible imaginarse una generación más razonadora, más deductiva, más emprendedora, y que haya
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carecido en más alto grado de sentido práctico. [Kursivierung im Original]“ (Sarmiento 1845: 131). Die Erzählinstanz rechnet sich der nachfolgenden Generation zu und hebt neben dem fehlenden Sinn für das Praktische als Unterschied zu den Unitariern Folgendes hervor: „Sobre todo, lo que más les distingue de nosotros son sus modales finos, su política ceremoniosa y sus ademanes pomposamente cultos.“ (Sarmiento 1845: 132). Zwischen Autor und Erzählinstanz finden sich demnach zahlreiche Parallelen. In der Sekundärliteratur ist meistens von Sarmiento selbst die Rede, wenn auf die Erzählinstanz im Facundo (1845) verwiesen wird; nicht nur, wenn der Text als Autobiographie gelesen wird. Carilla (1964) schlägt vor, in einer hypothetischen Lektüre den Autor des Werks auszublenden, hält dies aber für ein absurdes Unterfangen, da alles im Text auf Sarmiento zu verweisen scheint. (Carilla 1964: 15, 16). Demgegenüber hat Alvarado B. (2000) eine Polyphonie zwischen der Stimme des Autors, der Stimme Facundos und jener Sarmientos als kommentierenden Zeitgenossen ausgemacht. Die drei Stimmen würden eine textuelle Autonomie erreichen und sich gegenseitig unterbrechen, um das bereits Gesagte aus einem anderen Blickwinkel zu erzählen: „Por momentos es el autor quien nos esgrime sus argumentos; por otros, es el asombrado y escandalizado Sarmiento (observador participante), mientras que en algunos preciosos instantes parece que Facundo se independiza y se nos presenta con su propia lógica como actor esencial de la trama.“ (Alvarado B. 2000: s.p.)
In Kontrast dazu wird in dieser Arbeit das Argument im Abschnitt zu den Redesituationen entwickelt, dass Facundo als Stimme keine Autonomie erlangt. Alles, was der implizite Leser über die Figur erfährt, meist selbst die Figurenrede, geht von der Erzählinstanz aus. Dass nicht hinlänglich klar ist, ob Sarmiento als Autor und Erzählinstanz spricht – er anhand der oben dargestellten Informationen, die sich mit der Biographie des Autors in Einklang bringen lassen, suggeriert, dass er selbst spricht – lässt sich auch als Textstrategie begreifen. Zum Verhältnis zwischen Erzählinstanz, Figuren und implizitem Leser Informations- und Wissensverteilung Der implizite Leser verfügt im Facundo (1845) über jenes Wissen, das die Erzählinstanz vermittelt und erhält keine darüber hinausgehende Informationen, etwa vonseiten einer Figur. Der Facundo (1845) ist in der Nullfokalisierung verfasst, was u.a. an folgender Stelle ersichtlich ist: „Desde entonces ya no bramó el tigre; acercábase a saltos, y en un abrir y cerrar de ojos sus enormes manos estaban apoyándose a dos varas del suelo sobre el delgado tronco, al que comunicaban un temblor convulsivo que iba a obrar sobre los nervios del mal seguro gaucho. Intentó la fiera dar un salto impotente; dio vuelta en torno del árbol midiendo su altura con ojos enrojecidos por la sed de sangre, y al fin, bramando de cólera se acostó en el suelo, la boca entreabierta y reseca.“ (Sarmiento 1845: 93)
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Die Erzählinstanz verfügt als expatriierte Nationsangehörige über mehr Wissen als jede der Figuren und hat zeitlich und räumlich scheinbar unbegrenzte Kenntnisse über die Nation und deren Bewohner. Sie nimmt die Rolle der beteiligten Beobachterin, wie in der Folge (Redesituationen) noch gezeigt wird, ein: „Facundo, porque así lo llamaron largo tiempo los pueblos del interior; el general don Facundo Quiroga, el excelentísimo brigadier general don Juan Facundo Quiroga, todo eso vino después, cuando la sociedad lo recibió en su seno, y la victoria lo hubo coronado de laureles [...]“ (Sarmiento 1845: 94)
Dass sie die Selektionsinstanz der erzählten Handlungen und Einstellungen der Figuren ist, wird an mehreren Stellen explizit gemacht. „Aquí termina la vida privada de Quiroga, de la que he omitido una larga serie de hechos que sólo pintan el mal carácter, la mala educación y los instintos feroces y sanguinarios de que estaba dotado. Sólo he hecho uso de aquellos que explican el carácter de la lucha, de aquellos que entran en proporciones distintas, pero formados de elementos análogos, en el tipo de los caudillos de las campañas que han logrado al fin sofocar la civilización de las ciudades, y que últimamente ha venido a completarse en Rosas, el legislador de esta civilización tártara, que ha ostentado toda su antipatía a la civilización europea en torpezas y atrocidades sin nombre aún en la historia.“ (Sarmiento 1845: 101)
Es werden immer nur einzelne Episoden aus dem Leben der Figuren, die durch den Raum der Nation miteinander verbunden sind, ausgewählt und erzählt – ihre Selektion bestimmt sich gemäß dem Anliegen des Textes: die Grausamkeit der caudilloHerrschaft und deren Ursachen aufzuzeigen, um zugleich für eine neue politische Ordnung zu plädieren. „Sólo he querido pintar el origen de este gobierno y ligarlo a los antecedentes, caracteres, hábitos y accidentes nacionales que ya desde 1810 venían pugnando por abrirse paso y apoderarse de la sociedad. He querido además, mostrar los resultados que ha traído y las consecuencias de aquella espantosa subversión de todos los principios en que reposan las sociedades humanas.“ (Sarmiento 1845: 272)
So kommt es, dass die Figuren kaum miteinander in Beziehung treten. Die Erzählinstanz wechselt häufig zwischen den verschiedenen Schauplätzen und zahlreichen Figuren, deren Sprünge sich nicht aus dem Plot ergeben, sondern auf die Steuerung der Erzählvorganges durch die Erzählinstanz zurückzuführen sind83. Durch ihre als solche deutlich markierte Auswahl der Figuren84, die durch die gemeinsame Nationsangehörigkeit und den gemeinsamen (Zeit-)Raum der Nation zusammengehalten wird, nicht aber durch andere Beziehungen zwischen den Figuren bestimmt ist, macht sie 83 Auf die Schilderung der Situation in Córdoba folgt beispielsweise die Frage: „¿Qué había sido de Facundo entre tanto?“ (Sarmiento 1845: 166).
84 Zwar erfolgt in fiktionalen Erzähltexten die Auswahl der Figuren stets von der Erzählinstanz, es kann aber die Illusion erzeugt werden, dass die Figuren selbst miteinander in Beziehung treten.
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das idealisierte Nationalvolk zum kollektiven Akteur und Protagonisten des Werks. Einzelne ‚argentinische‘ Figuren werden zwar exemplarisch aus dem Kollektiv der Nation herausgegriffen, dies begründet die Erzählinstanz allerdings damit, das Wesen der argentinischen Nation und deren nationale Charaktere erklären zu können. Die Erzählinstanz ist als Teil des Nationalvolkes mit den Figuren verbunden (wenn auch im Exil) und bezieht nicht nur anonym bleibende, weitere Nationsangehörige, sondern auch den impliziten Leser in dieses Kollektiv mit ein. Trotz der Nullfokalisierung wird kaum Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt der Figuren geboten. Vielmehr ist es die Erzählinstanz, die ihre eigene Gedanken- und Gefühlswelt in den Vordergrund rückt. Sie zeigt sich wütend, angewidert oder an einer Stelle auch gerührt und ergriffen. In eben dieser erzählt sie, dass auch die Religion unter der Isolation am Lande leidet, kaum Kirchgänger/innen zur Messe erscheinen oder selbst die Priester demoralisiert sind und sich teilweise den caudillos anschließen. Als sich die Erzählinstanz im Jahre 1838 in den Bergen von San Luis aufhält, kommt sie zu einem estanciero, der sich eine Kapelle errichtet hatte, in der er jeden Sonntag den Rosenkranz betete. Denn seit Jahren war kein Priester mehr in dieser Region. Die Erzählinstanz beobachtet die Szene, in der der estanciero in seiner Kapelle vor einer kleinen Gemeinschaft betet und beschreibt sie folgendermaßen: „[…] el dueño de casa, hombre de sesenta años, de una fisonomía noble, en que la raza europea pura se ostentaba por la blancura del cutis, los ojos azulados, la frente espaciosa y despejada, hacía coro, a que contestaban una docena de mujeres y algunos mocetones, cuyos caballos, no bien domados aún, estaban amarrados cerca de la puerta de la capilla. Concluido el rosario, hizo un fervoroso ofrecimiento. Jamás he oído voz más llena de unción, fervor más puro, fe más firme, ni oración más bella, más adecuada a las circunstancias que la que recitó. Pedía en ella a Dios lluvia para los campos, fecundidad para los ganados, paz para la Repúblia, seguridad para los caminantes... Yo soy muy propenso a llorar, y aquella vez lloré hasta sollozar, porque el sentimiento religioso se había despertado en mi alma con exaltación y como una sensación desconocida, porque nunca he visto escena más religiosa; creía estar en los tiempos de Abraham, en su presencia, en la de Dios y de la naturaleza que lo revela; la voz de aquel hombre candoroso e inocente me hacía vibrar todas las fibras y me penetraba hasta la médula de los huesos.“ (Sarmiento 1845: 44, 45)
Die Erzählinstanz verweist auf die Dringlichkeit der nationalen Probleme. Sie zwingt den impliziten Leser zur Konfrontation mit Gewalt, Blutvergießen und äußerster Brutalität. Beim diesem wird hingegen kaum Wissen vorausgesetzt. Im ersten Teil des Facundo (1845) werden ihm sämtliche Grundlagen der argentinischen Nation erklärt, wobei nicht auf die im Text vorgesehene Nationsangehörigkeit des impliziten Lesers geschlossen werden kann. Wäre der Text voraussetzungsreich und ausschließlich für argentinische Nationsangehörige der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts konzipiert, so müssten und könnten die Charakteristika der Nation nicht erklärt werden. Dass der Leserkreis nicht auf das argentinische Nationalvolk beschränkt wird, erlaubt es der Erzählinstanz, das Eigene zu formulieren. Dies macht den Text für nachfolgende Lesergenerationen gleichermaßen aktuell. Zur Offenheit des potenziellen Leserkreises trägt der Umstand bei, dass im Facundo (1845) zahlreiche Parallelen und Vergleiche zu anderen Nationen und deren Geschichte gezogen werden. Auch, wenn dem impli-
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ziten Leser keine Nationalität zugeschrieben wird, so deuten folgende Textstellen darauf hin, dass der Text doch auch in Konkurrenz mit Europa verfasst ist. „Este estudio, que nosotros no estamos aún en estado de hacer, por nuestra falta de instrucción filosófica e histórica, hecho por observadores competentes, habría revelado a los ojos atónitos de la Europa un mundo nuevo en política, una lucha ingenua, franca y primitiva entre los últimos progresos del espíritu humano y los rudimentos de la vida salvaje, entre las ciudades populosas y los bosques sombríos. Entonces se había podido aclarar un poco el problema de España, esa rezagada a la Europa [...]“ (Sarmiento 1845: 19)
Diese Textpassagen stellen das Eigene im Vergleich mit Europa aus und dienen so zugleich der Selbstvergewisserung und der Verortung Argentiniens und des ‚Wesens‘ der argentinischen Nation in der Welt: „¿Hemos de dejar ilusorios y vanos los sueños de desenvolvimiento, de poder y de gloria, con que nos han mecido desde la infancia los pronósticos, que, con envidia, nos dirigen los que en Europa estudian las necesidades de la humanidad?“ (Sarmiento 1845: 22, 23)
Der modo de ser der Argentinier wird als – auch von Europa – unerforscht und neu erklärt. Während dies dem Eigenen Besonderheit verleiht, sollte es beim Anderen Interesse wecken. „A la América del Sur en general y a la República Argentina sobre todo ha hecho falta un Tocqueville, que premunido del conocimiento de las teorías sociales, como el viajero científico de barómetros, octantes y brújulas, viniera a penetrar en el interior de nuestra vida política, como en un campo vastísimo y aún no explorado ni descrito por la ciencia, y revelase a la Europa, a la Francia, tan ávida de fases nuevas en la vida de las diversas porciones de la humanidad, este nuevo modo de ser que no tiene antecedentes bien marcados y conocidos. [Kursivierung im Original]“ (Sarmiento 1845: 19)
Redesituationen Der Facundo (1845) enthält kaum Figurenrede; die Figuren formulieren ihre Vorstellungen zu Freiheit und Nation nicht selbst, sondern die Informationsvergabe (auch bezüglich Freiheit und Nation) erfolgt ausschließlich durch die Erzählinstanz. Einzig vereinzelte Ausrufe von Figuren werden in direkter Rede wiedergegeben, sie enthalten jedoch keine Sichtweisen, Meinungen, Empfindungen oder Gedanken der Figuren bezüglich Freiheit und Nation oder sich selbst, wie etwa in dem folgenden Beispiel: „Pero lo que hay de averiguado es que su padre pidió una vez al gobierno de La Rioja que lo prendieran para contener sus demasías, y que Facundo, antes de fugar de los Llanos, fue a la ciudad de La Rioja, donde a la sazón se hallaba aquél, y cayendo de improviso sobre él, le dio una bofetada diciéndole: ‚¿Usted me ha mandado prender? ¡Tome, mándeme prender ahora!‘ Con lo cual montó en su caballo y partió al galope para el campo. [Anführungszeichen im Original]“ (Sarmiento 1845: 99)
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Sie unterstreichen lediglich die von der Erzählinstanz formulierte Charakterisierung der Figur. Der Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt und die Wahrnehmung der Figuren erfolgt hingegen durch erzählte Rede: „Cuando nuestro prófugo había caminado cosa de seis leguas, creyó oír bramar el tigre a lo lejos y sus fibras se estremecieron.“ (Sarmiento 1845: 92). Die Figuren bieten demnach keinen ‚autonomen‘ Zugang zu ihrer Gedanken- und Gefühlswelt, wodurch es unwahrscheinlich wird, dass Mitgefühl, Verständnis und Sympathie des impliziten Lesers gegenüber den Figuren entsteht, so dieses nicht von der Erzählinstanz angeregt wird. Die Erzählinstanz ist auch jene Kommunikationsinstanz, die mit dem impliziten Leser interagiert. Der Leser wird im Facundo (1845) das gesamte Werk hindurch mehrmals direkt angesprochen und zwar meist als Kollektiv in der zweiten Person Plural oder in der dritten Person Singular. Heißt es zu Beginn des Buches in der dritten Person Singular und Plural noch: „El que haya leído las páginas que preceden creerá que es mi ánimo trazar un cuadro apasionado de los actos de barbarie que han deshonrado el nombre de don Juan Manuel Rosas. Que se tranquilicen los que abriguen ese temor.“ (Sarmiento 1845: 24), so wendet sich die Erzählinstanz in weiterer Folge häufig in der Form des Imperativs an den impliziten Leser: „Imaginaos una extensión de dos mil leguas cuadradas cubierta toda de población, pero colocadas las habitaciones a cuatro leguas de distancia unas de otras; a ocho a veces; a dos, las más cercanas.“ (Sarmiento 1845: 42) oder „Preguntadle al gaucho a quién matan con preferencia los rayos, y os introducirá en un mundo de idealizaciones morales y religiosas, mezcladas de hechos naturales [...]“ (Sarmiento 1845: 52). Das weiter oben diskutierte, von der Erzählinstanz suggerierte Interesse des impliziten Lesers an der detailreichen Schilderung des Grauens wird hier direkt in Bezug auf den Leser formuliert, aber dessen Vorstellungskraft überlassen: „El lector suplirá todos los horrores de esta muerte lenta.“ (Sarmiento 1845: 78). Die Leseranrede erfolgt an Stellen, an denen die zentralen ideologischen Positionen der Erzählinstanz inszeniert werden. Der Aufmerksamkeit des impliziten Lesers versichert sich die Erzählinstanz in fiktiven, der mündlichen Erzählung ähnelnden Gesprächssituationen85, in denen sie an bereits Erzähltes erinnert: „¿Recuerda el lector que he copiado de un manuscrito que Facundo ‚nunca se confesaba, ni oía misa, ni rezaba, y que él mismo decía que no creía en nada‘? Pues bien; [...] [Anführungszeichen im Original]“ (Sarmiento 1845: 145), „Si el lector se acuerda de lo que he dicho del capataz de carretas, adivinará el carácter, valor y fuerzas del Boyero [...]“ (Sarmiento 1845: 182) oder „¿Y queréis saber lo que es la naturaleza humana cuando la infamia está entronizada y no hay a quien apelar en la tierra contra los verdugos?“ (Sarmiento 1845: 205). Dies kann auch in Form rhetorischer Fragen erfolgen, die sich die Erzählinstanz selbst beantwortet: „¿Creeráse exagerado? ¡No! El general Rivera, de la Banda Oriental, es un simple baqueano […]“ (Sarmiento 1845: 60) oder „¿Se vengaba en el juez de la reciente pérdida? ¿Quería sólo saciar el encono de gaucho malo contra la autoridad civil y añadir este nuevo hecho al brillo de su naciente fama? Lo uno y lo 85 Diesen Aspekt hat auch bereits Carilla (1964) hervorgehoben: „Sarmiento escribe como si estuviera delante del lector: da la impresión de eliminar el vehículo, el libro, y el ardor se dispara en el énfasis redundante de la frase.” (Carilla 1964: 20). Und weiter heißt es: “Es la suya una prosa casi hablada, que levanta la voz en las interjecciones e imprecaciones, que apunta al auditorio y a cada página lo aguijonea sin nombrarlo.“ (Carilla 1964: 21).
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otro.“ (Sarmiento 1845: 97). Die Erzählinstanz gibt mögliche Deutungen des Geschehens vor, um anschließend die zutreffende auszuführen. Die rhetorischen Fragen können auch als Mittel verstanden werden, sich der Zustimmung des impliziten Lesers zu versichern: „¿No es esto un lindo romance?“ (Sarmiento 1845: 170). Oder das Gesagte bestätigt zu wissen: „No os decía que el terror produce resultados mayores que el patriotismo?“ (Sarmiento 1845: 204). Bisweilen schließt die Erzählinstanz den impliziten Leser auch in ein gemeinsames ‚Wir‘ ein, etwa, wenn er die Stadt Córdoba beschreibt und sich mit diesem auf einen Spaziergang durch die Stadt begibt: „Andando un poco en la visita que hacemos, se encuentra la célebre Universidad de Córdoba […]“ (Sarmiento 1845: 123). Bevor das Ende Facundo Quirogas erzählt wird, fordert die Erzählinstanz den impliziten Leser auf, sich mit ihm zum Ort dessen Ermordung zu begeben: „Por la puerta que deja abierta el asesinato de Barranca Yaco entrará el lector conmigo en un teatro donde todavía no se ha terminado el drama sangriento.“ (Sarmiento 1845: 232). All das zeigt, wie bemüht die Erzählinstanz um Solidarisierung mit dem impliziten Leser ist – sie nimmt ihn geradezu an der Hand. Auf Seite 217 bringt die Erzählinstanz ein Schema, in dem die Machtverteilung in der Republik Argentinien von 1832 (Provinzen, die Facundo unterstehen, jene, die der Liga Litoral angehören sowie eine fracción feudal) dargestellt ist: „[…] para que el lector comprenda mejor los movimientos que empiezan a operarse […]“ (Sarmiento 1845: 216, 217). „Así, el lector está en el Facundo tan presente como su autor. Si nos vemos atraídos o rechazados por la apasionante materia de la narración, no es menos importante ese urgente reclamo del autor al lector, que es unas veces invitación cordial, otras compulsión necesaria y a la medida de lo expuesto, siempre, en todo caso, un llamado de atención.“ (Yahni 1970: 12)
Doch wer ist der vorgesehene Leser? Gibt es Hinweise dazu, wer aufgrund der Textstruktur der lector oder das Ihr des Textes sein soll? Aus dem Beginn des Buches geht hervor, dass die Erzählinstanz sich an all jene wendet, die nicht (richtig) davon überzeugt sind, dass es sich lohnt, sich für die argentinische Nation und deren Regimewechsel einzusetzen. Diesen wird ausgerichtet: „¡Este porvenir no se renuncia así nomás!“ (Sarmiento 1845: 23). Am Ende des ersten Teils werden sie gefragt: „¿Preguntásenos ahora por qué combatimos? Combatimos por volver a las ciudades su vida propia.“ (Sarmiento 1845: 87). Vorrangig deren Emotionen scheint sie auch anzusprechen, wenn sie sich gegen Ende des Buches nochmals an dieses Kollektiv wendet: „¡Ah, corazones de piedra! ¡Nos preguntaréis todavía por qué combatimos!“ (Sarmiento 1845: 258). Wer damit konkret gemeint ist, kann nicht eindeutig geklärt werden. Einmal sind es die hispanoamerikanischen Völker, die das Ihr bilden: „¡No os riáis, pues, pueblos hispanoamericanos, al ver tanta degradación! ¡Mirad que sois españoles, y la Inquisición educó así a la España! Esta enfermedad la traemos en la sangre.“ (Sarmiento 1845: 143). Ein anderes Mal richtet sich die Erzählinstanz konkret an die chilenischen Leser: „Porque han de saber mis lectores chilenos […]“ (Sarmiento 1845: 146). Das Wir scheint zumindest im Schlusskapitel jenes Kollektiv der neuen Generation zu sein, das sich für die oben dargelegte neue Nation einsetzt: „[…] fueron los jóvenes; en una palabra: ¡fuimos nosostros!“ (Sarmiento 1845: 265). Da ist aber auch die Rede von den españoles, in dessen Kollektiv sich die Erzählin-
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stanz einschließt und die paradoxerweise den Europäern86 gegenüberstehen: „Por otra parte, los españoles no somos ni navegantes ni industriosos, y la Europa nos proveerá por largos siglos de sus artefactos, en cambio de nuestras materias primas […]“ (Sarmiento 1845: 270). An manchen Stellen kann das Wir nur die Argentinier umfassen, da es auf die Geschichte der Nation bezogen ist: „El vandalaje nos ha devorado, en efecto, y es bien triste gloria el vaticinarlo en una proclama y no hacer el menor esfuerzo por estorbarlo.“ (Sarmiento 1845: 151). Angemerkt werden soll schließlich, dass sich die Erzählinstanz an mehrere fiktive Adressaten wendet, meist um diese mit Anschuldigungen und Vorwürfen zu konfrontieren. Angesprochen werden in der zweiten Person Singular Facundo, Rosas, aber auch General Paz, an den sich die Erzählinstanz hoffnungsvoll und lobend wendet (Sarmiento 1845: 15, 17, 161, 207, 276, 287). Aufgrund der beschriebenen Charakteristika der Erzählerrede lässt sich sagen, dass diese – auch was ihr Verhältnis zum impliziten Leser betrifft – stellenweise einer passionierten, politischen Rede in mündlicher Form nachempfunden ist. Bewertungsstrategien Die Erzählinstanz bedient sich sowohl explikativer als auch evaluativer Äußerungen zur Kommentierung von Geschehen und Figuren. Die Figuren selbst liefern dem impliziten Leser keine Bewertung des Geschehens. Die omnipräsenten Kommentare der Erzählinstanz beziehen sich stets auf die erzählte Welt der Nation und dienen ihrer Analyse und Bewertung. Der gesamte erste Teil des Facundo (1845), in dem u.a. erklärt wird, weshalb der Landbewohner gewalttätig und barbarisch ist, ist eher explikativ angelegt. Es ist jener Teil des Textes, der durch Selektion, Kombination und Bewertung bestimmter Elemente ein Bild der Nation konstruiert. „Esta inseguridad de la vida, que es habitual y permanente en las campañas, imprime, a mi parecer, en el carácter argentino, cierta resignación estoica para la muerte violenta, que hace de ella uno de los percances inseparables de la vida, una manera de morir como cualquiera otra, y puede, quizá, explicar en parte la indiferencia con que dan y reciben la muerte, sin dejar en los que sobreviven impresiones profundas y duraderas.“ (Sarmiento 1845: 32)
Die Weltsicht und Einstellung der Erzählinstanz bezüglich Freiheit und Nation, Zivilisation und Barbarei im Facundo (1845), entspricht der oben ausgeführten Darstellung zu Freiheit und Nation im Gesamtwerk. Dem impliziten Leser, der ausschließlich Zugang zur Perspektive der Erzählinstanz erhält, wird dadurch nahegelegt, die Weltsicht der wertenden Erzählinstanz zu übernehmen87. Mit welchen Mitteln erfolgt also die Bewertung durch die Erzählinstanz? Ihre Argumente untermauert sie mit Zeugen – sich selbst oder solchen, die sie angibt, befragt zu haben sowie mit Manuskripten, die ihr über die Figur des Facundo vorliegen. „Pues bien; veamos el estado de La Rioja, según las soluciones dadas a uno de los muchos interrogatorios que he dirigido para conocer a fondo los hechos sobre que fundo mis teorías. Aquí
86 Wenn im Facundo (1845) von Europa die Rede ist, so ist Spanien nicht inbegriffen. 87 Alvarado B. (2000) meint: „Es una invitación a civilizar en un futuro posible, del cual el propio lector puede formar parte [...]“(Alvarado B. 2000: s.p.).
394 | F REIHEIT UND N ATION es una persona respetable la que habla, ignorando siquiera el objeto con que interrogo sus recientes recuerdos, porque sólo hace cuatro meses que dejó La Rioja.“ (Sarmiento 1845: 81)
Auf das obige Zitat folgen Fragen über den Zustand der Provinz, etwa wie hoch die Bevölkerungszahl sei, wie viele Rechtsanwälte, Ärzte, Richter dort lebten, wie viele sich in Frack kleideten, wie viele junge Menschen aus La Rioja in Buenos Aires studierten, etc., die jedes Mal mit ninguno oder sólo sé de uno beantwortet werden. Im Anschluss an die Befragung folgt eine Bewertung der Erzählinstanz, die sich angesichts des geringen Zivilisierungsgrades der Provinz empört: „Aquí los hechos hablan con toda su tristeza y espantosa severidad. Sólo la historia de las conquistas de los mahometanos sobre la Grecia presenta ejemplos de una barbarización, de una destrucción tan rápida. ¡Y esto sucede en América en el siglo XIX! ¡Es la obra de sólo veinte años, sin embargo!“ (Sarmiento 1845: 82)
Darüber hinaus zieht die Erzählinstanz aufgrund der Zustände in La Rioja Schlüsse für weitere Regionen, die von ähnlichen Missständen geprägt seien. „Lo que conviene a La Rioja es exactamente aplicable a Santa Fe, a San Luis, a Santiago del Estero, esqueletos de ciudades, villorrios decrépitos y devastados. En San Luis hace diez años que sólo hay un sacerdote y que no hay escuela, ni una persona que lleve frac.“ (Sarmiento 1845: 82)
Die Erzählinstanz ergreift Partei für die Gegenspieler Facundos, für jene, die gegen die caudillos kämpfen, allen voran für General Paz und Rivadavia. „Que le quede, pues, a este hombre, ya muerto, para su patria, la gloria de haber representado la civilización europea en sus más nobles aspiraciones, y que sus adversarios cobren la suya de mostrar la barbarie americana en sus formas más odiosas y repugnantes; porque Rosas y Rivadavia son los dos extremos de la República Argentina, que se liga a los salvajes por la pampa y a la Europa por el Plata. No es el elogio, sino la apoteosis la que hago de Rivadavia y su partido, que han muerto para la República Argentina como elemento político, no obstante que Rosas se obstine suspicazmente en llamar unitarios a aus actuales enemigos.“ (Sarmiento 1845: 131)
Mit dem hohen Lob Rivadavias, der für die Nation gestorben sei, schafft die Erzählinstanz ein noch größeres Gefälle zwischen Zivilisation und Barbarei88. Die explizite Gegenüberstellung der Figuren Rosas und Rivadavia kann aufgrund der aufgebauten Kontrastrelation als Mittel der Sympathielenkung gelten. Diese Kontrastierung ist nicht damit zu erklären, dass sich die Erzählinstanz selbst den Unitariern zuordnen würde. Sie sieht sich als Teil jener neuen Generation, die über den Streitparteien ste88 Ähnlich lobend hebt die Erzählinstanz das Werk der Unitarier in Mendoza hervor: „¡Mendoza, a su impulso, se ha anticipado a toda la América española en la explotación en grande de esta rica industria! ¡Pedidle al espíritu de Facundo y Rosas una sola gota de interés por el bien público, de dedicación a algún objeto de utilidad; torcedlo y exprimidlo, y sólo destilará sangre y crímines!“ (Sarmiento 1845: 187).
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he, den Unitariern aber zentrale Einsichten verdanke: „Pero, en medio de sus desaciertos y sus ilusiones fantásticas, tenía tanto de noble y de grande que la generación que le sucede le debe los más pomposos honores fúnebres.“ (Sarmiento 1845: 131). An einer der wenigen Stellen, an der im Facundo (1845) von einem Mord an der Barbarei erzählt wird, stellt sich die Erzählinstanz schützend vor den Täter und rechtfertigt dessen Handlung, so im Falle Lavalles und dessen Mord an Dorrego: „Lavalle, fusilando a Dorrego, como se proponía fusilar a Bustos, López, Facundo y los demás caudillos, respondía a una exigencia de su época y de su partido. […] Dorrego estaba de más para todos; para los unitarios, que lo menospreciaban; para los caudillos, a quienes era indiferente; para Rosas, en fin, que ya estaba cansado de aguardar y de surgir a la sombra de los partidos de la ciudad [...] [Kursivierung im Original]“ (Sarmiento 1845: 157)
Sie rechtfertigt die Tat vor dem Kontext der nationalen Situation und stellt sie als rationale Handlung dar – ganz im Gegensatz zu den Gewalttaten der caudillos, die stets als besonders grausam verurteilt und als Produkt ungezähmter Instinkte präsentiert werden: „Lo que Lavalle hizo fue dar con la espada un corte al nudo gordiano en que había venido a enredarse toda la sociabilidad argentina; dando una sangría quiso evitar el cáncer lento, la estagnación; poniendo fuego a la mecha hizo que reventase la mina por la mano de unitarios y federales preparada de mucho tiempo atrás.“ (Sarmiento 1845: 158)
In Verbindung mit der Kritik, die die Erzählinstanz an Rosas übt, greift sie zum Mittel der Ironie. Etwa im folgenden Beispiel, in der die Verhaftungen von Andersdenkenden, das totalitäre Regime Rosas’ sowie dessen Weigerung, eine Verfassung zu erlassen, kommentiert werden: „Por ejemplo, desde 1835 hasta 1840, casi toda la ciudad de Buenos Aires ha pasado por las cárceles. Había a veces ciento cincuenta ciudadanos que permanecían presos dos, tres meses, para ceder su lugar a un repuesto de doscientos que permanecía seis meses. ¿Por qué? ¿Qué habían hecho?... ¿Qué habían dicho? ¡Imbéciles!, ¿no veis que se está disciplinando la ciudad?... ¿No recordáis que Rosas decía a Quiroga que no era posible constituir la República porque no había costumbres? ¡Es que está acostumbrando a la ciudad a ser gorbernada; él concluirá la obra, y en 1844 podrá presentar al mundo un pueblo que no tiene sino un pensamiento, una opinión, una voz, un entusiasmo sin límites por la persona y por la voluntad de Rosas! ¡Ahora sí que se puede constituir una República! [Kursivierung im Original]“ (Sarmiento 1845: 116, 117)
Ein weiteres Mal in Verbindung mit der Kritik am Rosas-Regime heißt es: „Así, en una comunicación de un alto funcionario de Rosas, he leído en estos días ‚que es un signo que su gobierno ha mandado llevar a sus empleados en señal de conciliación y paz‘. Las palabras ‚Mueran los salvajes, asquerosos, inmundos unitarios‘, son por cierto muy conciliadoras, tanto, que sólo en el destierro o en el sepulcro habrá quienes se atrevan a negar su eficacia. [Anführungszeichen im Original]“ (Sarmiento 1845: 238)
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Die Ironie kann als Mittel impliziter Fremdcharakterisierung mit kritischer Distanz gelten. Sie ist ein weiteres Instrument der Evaluation seitens der Erzählinstanz, das die Identifizierung des impliziten Lesers mit der Figur unwahrscheinlich macht. Die Erzählinstanz des Facundo (1845) ist alles andere als neutral89 und lässt keinen Zweifel über ihr Normensystem hinsichtlich der erzählten Welt der Nation. Mithilfe der expliziten als auch der impliziten Fremdcharakterisierung durch Ironie charakterisiert sich die Erzählinstanz auch selbst als vehemente Gegnerin der Barbarei. Ein weiteres Beispiel die Figur Facundo betreffend, sei hier noch angeführt. „Este negocio de abastecer los mercados de carne lo ha practicado donde quiera que sus armas se presentaron en San Juan, en Mendoza, en Tucumán, cuidando siempre de monopolizarlo en su favor por algún bando o un simple anuncio. Da asco y vergüenza, sin duda, tener que descender a estos pormenores, indignos de ser recordados. Pero ¿qué remedio? En seguida de una batalla sangrienta que le ha abierto la entrada a una ciudad, lo primero que el general ordena es que nadie pueda abastecer de carne el mercado... En Tucumán supo que un vecino contraviniendo la orden, mataba reses en su casa. El general del ejército de los Andes, el vencedor de la Ciudadela, no creyó deber confiar a nadie la pesquisa de delito tan horrendo. Va él en persona, da recios golpes a la puerta de la casa, que permanecía cerrada y que, atónitos los de adentro, no aciertan a abrir. Una patada del ilustre general la echa abajo, y expone a su vista esta escena: una res muerta que desollaba el dueño de casa, que a su vez cae también muerto a la vista terrífica del general ofendido. [Kursivierung VÖ]“ (Sarmiento 1845: 114, 115)
Die Erzählinstanz listet eine Schandtat des Facundo nach der anderen auf und bedient sich hierbei, wie auch im obigen Zitat, in dem ein Bürger aus Tucumán beim Anblick des furchteinflößenden Facundo stirbt, des Mittels der Übertreibung. Der zweite Teil des Buches ist geprägt von einer raschen Aneinanderreihung immer noch abscheulicherer Anekdoten. Die Erzählinstanz scheint nur widerwillig von den Taten erzählen zu wollen, so abstoßend sind diese (vgl. die Kursivierung im Zitat). Über all dem suggeriert die Erzählinstanz, dass dies bei Weitem nicht alles ist, was noch an schrecklichen Vorfällen erzählt werden könnte: „No me detengo en estos pormenores a designio. ¡Cuántas páginas omito! ¡Cuántas iniquidades comprobadas, y de todos sabidas, callo! Pero hago la historia del gobierno bárbaro, y necesito hacer conocer sus resortes.“ (Sarmiento 1845: 115). Das Ungleichgewicht zwischen der detailreichen Schilderung von Gräueltaten der caudillos, v.a. Facundos und jener von positiven Ereignissen (gleich welcher Figurengruppe), die Klimax und die zunehmende Geschwindigkeit, in der diese aneinandergereiht werden, lenken die Rezeption des Textes. Die deutliche Positionierung der scheinbar widerwillig erzählenden und sich empörenden Erzählinstanz, die ihre Emotionen offen zeigt, ist als Aufruf des impliziten Lesers zur Solidarisierung mit der Erzählinstanz zu verstehen. Dieser soll sich angesichts der Unmenge an zur Schau gestelltem Unrecht und Grausamkeit empören, schockiert zeigen oder betroffen fühlen. Dies zeigt auch die folgende Stelle im Facundo (1845), an der die Erzählinstanz selbst die Wirkung ihrer Erzählung auf den impliziten Leser zur Sprache bringt. Zunächst bekräftigt die Erzählinstanz ihren Unwillen, das Schreckliche erzählen zu müssen: 89 Darauf hat auch Alvarado B. (2000) hingewiesen: „[...] Sarmiento no es ni neutral ni ajeno a los hechos es parte y parte fundamental.“ (Alvarado B. 2000: s.p.).
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„Me detengo en estos detalles porque, en medio de tantos horrores como los que estoy condenado a describir, es grato pararse a contemplar las hermosas plantas que hemos visto pisoteadas por el salvaje inculto de las pampas; me detengo con placer [...]“ (Sarmiento 1845: 188)
Die Erzählinstanz wendet sich mit Vergnügen erfreulicheren Dingen zu und stellt Überlegungen dazu an, was am System Rosas’ geändert werden müsste, damit die nachfolgenden Generationen bessere Zeiten erleben können, um bereits kurz darauf einen Schwenk zu Facundo und der Schilderung dessen brutaler Methoden zurück zu machen, den sie wie folgt begründet: „Si el lector se fastidia con estos razonamientos, contaréle crímenes espantosos.“ (Sarmiento 1845: 188, 189). Die Faszination des Bösen und Grausamen90 ist es, die im Zentrum des Buches steht und den impliziten Leser fesseln soll, sodass ihm die Lektüre nicht lästig ist (se fastidia). Obwohl die Taten und der Charakter des caudillo Facundo den Hauptteil des Buches ausmachen – meist ein Hinweis auf die Sympathielenkung zugunsten einer Figur – ist eine Identifikation des impliziten Lesers mit der Hauptfigur unwahrscheinlich. Dem steht die ausgeprägte Antipathielenkung mithilfe des Aufrufs der Erzählinstanz, Missgunst gegen den caudillo zu entwickeln, entgegen91. Dazu trägt bei, dass die Erzählinstanz über eine überlegene Position verfügt und über den Figuren steht. Die kritischen Werturteile der Erzählinstanz bilden so die zentrale Bewertungsperspektive für den impliziten Leser. Da diese sehr explizit formuliert sind, sieht sich der implizite Leser herausgefordert, sich mit ihr auseinanderzusetzen und sich zu ihr zu positionieren. Zur Gattungsebene Wie die Diskussion der Gattungsfrage in der Sekundärliteratur zeigt, ist die Gattungszuordnung des Facundo (1845) höchst umstritten. Nach Noé Jitrik ist der Facundo (1845) ein soziologisches, historisches Werk, ein Roman, eine Biographie und von alle dem doch nichts allein. Palcos fügt dem das epische Gedicht und den soziologischen Essay hinzu. (Jitrik 1994: 174). Marina Kaplan (1994: 314) bezeichnet den Facundo (1845) als romantisches Hybrid. Für González Echevarría (1994: 224) ist der Facundo (1845) eine soziologische Studie zur argentinischen Kultur, ein politisches Pamphlet gegen Rosas, eine philologische Studie zu den Ursprüngen der argentinischen Literatur92 sowie eine Biographie, aber auch ein Roman über Facundo. Zur Einordnung des Werks als wissenschaftliches Buch, ganz gleich ob aus dem Gebiet der Historiographie, Soziologie oder Anthropologie, wurde schon von den Zeitgenossen Sarmientos eingewandt, dass der Facundo (1845) seinen deklarierten 90 Hält sich die Erzählinstanz hier an die getroffene Feststellung in Bezug auf Facundo, dass Terror, Angst und Schrecken (bzw. in diesem Falle die von ihr ausgehende Faszination) ein noch effektiveres Mittel zur nationalen Einigung sei als Patriotismus? 91 Ähnlich dazu Dill (1994): „Sarmiento quiso, mediante la publicación de la biografía del individuo Facundo, producir en el lector el rechazo de la amoralidad primitiva, cruel y sin escrúpulos de los caudillos.“ (Dill 1994: 69). 92 González Echevarría (1994) bezieht sich hier wohl auf jene Stellen im Facundo (1845), an denen die Beschaffenheit der Pampa und ihrer Bewohner als Ausgangpunkt für eine Nationalliteratur gezeichnet werden.
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Anspruch auf Wahrheit nicht erfülle. Bartolomé Mitre etwa meinte, dass kein gaucho einen Stier aus der Distanz von 40 pies einfangen könne, da es kein Lasso gebe, das so lang sei. Sarmiento habe auf unrealistische Weise übertrieben. (Kaplan 1994: 317) Dass der Facundo (1845) zahlreiche Stellen aufweist, die einem Anspruch auf Wahrheit nicht Genüge leisten, wurde laut Piglia (1994) auch von Valentín Alsina, Alberdi, Gutiérrez und Echeverría angemerkt, die in genau jenem Charakteristikum des Textes aber die literarische Wirkung ausmachen: „From the detailed revisions made by Valentín Alsina up to the opinions of Alberdi, Gutiérrez, and Echeverría, all criticism tends to agree that the book fails to obey the norms of truth that it posits. At the same time, everyone recognizes that this incongruity is the basis of its literary effectiveness.“ (Piglia 1994: 136)
Auch De Gandía (1962) zeigt jene Stellen des Facundo (1845) auf, die dem Anspruch auf Wahrheit nicht genügen. Und selbst wenn diese bereinigt würden, so de Gandía (1962), so sei mit einer historiographischen Abhandlung zu Facundo die Resonanz des Buches nicht erklärbar. Es sei vielmehr die Vision Sarmientos eines gegenwärtigen und zukünftigen Argentiniens, die den Reiz des Facundo (1845) ausmache. (de Gandía 1962: 68, 69) Auch Carilla (1964) räumt ein, dass die Darstellungen im Facundo (1845) nicht immer der Wahrheit entsprechen; für ihn ist dies aber kein Grund, das Werk deshalb als Roman einzustufen: „Aclaro: el Facundo no es una novela; es un valioso testimonio sociológico, sin alcanzar a ser —¿lo pretendía, en realidad, Sarmiento?— una biografía certera.“ [Kursivierung im Original] (Carilla 1964: 25). Diese Frage, ob der Facundo (1845) eine Biographie des caudillo Facundo Quiroga93, wenn auch nicht immer der Wahrheit entsprechend, sei, verneint Jitrik (1994), mit dem Hinweis, dass das Buch keine lineare Abfolge kennt, die selbst für die fiktionale Biographie charakteristisch sei. Obwohl Selektionsmechanismen auch für die Gattung der Biographie eine Rolle spielen, so bedingen diese im Facundo (1845) eine Verlagerung des Akzents hin zur politischen Dimension des Werks und werden zum „instrument for the construction of a modern society“ (Jitrik 1994: 183). Die Einordnung als Romanbiographie ließe sich wiederum ausschließlich auf den zweiten Teil des Buches anwenden, denn im ersten Teil kommt Facundo als Figur nicht vor. Das Buch ließe sich auch als Autobiographie Sarmientos lesen, so ein weiterer Vorschlag (González Echevarría 1994: 224). Der Facundo (1845) ist v.a. aufgrund seines Beginns als Autobiographie verstanden worden. Das Ich und seine erlebten Erfahrungen, die den Text eröffnen, würden den Rahmen für das Verhältnis zwischen Subjekt und Wahrheit definieren und gemäß der Autobiographie die Erwartungshaltung nach Wahrheit hervorrufen. (Piglia 1994: 133, 137) Demgegenüber muss gesagt werden, dass sich die Informationen über das Ich im Text auf die wenigen besprochenen Hinweise beschränken. Selbst, wenn man das Werk als Autofiktion klassifizieren wollte, so bleibt der Einwand, dass das Leben Sarmientos nicht den Gegenstand des Werks bildet. Caillet-Bois (1973: 335) sieht Facundo als literarische Figur an. Und Dill (1994: 68) weist darauf hin, dass Sarmiento in einem Brief an Alsina schrieb, dass der 93 Für einen Abgleich zwischen Fiktion und Realität vgl. de Gandía (1962).
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Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei ein poetischer sei und er literarische Ambitionen gehabt habe. Dennoch wird von den meisten Forschern die Ansicht vertreten, dass der Facundo (1845) kein Roman sei. Zugleich ist die Auffassung konsensfähig geworden, dass im Facundo (1845) dennoch Techniken des Romans und des fiktionalen Erzählens verwendet werden. „Nos parece importante analizar al Facundo como un ensayo sociológico que recurre a herramientas narrativas propias de la novela, por lo cual resulta fundamental desentrañar estas estrategias si nuestro objetivo es dar cuenta de cómo representa un modelo seguido tanto en las ciencias sociales como en la literatura de nuestro continente.“ (Alvarado B. 2000: s.p.)
Der Facundo (1845) sei ein historischer Essay94, der sich bedeutende Mittel des Romans zunutze mache, etwa die Beschreibung der Natur, den Dialog und das romanhafte Erzählen (Alvarado B. 2000: s.p.). Die ästhetische Freiheit, von der das Werk und die Unmöglichkeit seiner Gattungszuordnung zeugen, hat Carilla (1964) dazu bewogen, im Facundo (1845) eine neue Gattung zu erblicken. „Tampoco debe haber premura en tratar de situar al Facundo dento de uno de los casilleros retóricos. El título y lo que en la obra pesa la vida de Quiroga nos lleva perezosamente a la biografía. Pero no biografía a secas: recordemos que ya el autor, al marcar su preferencia por la biografía, agregaba de inmediato: ‚es la tela más adecuada para estampar las buenas ideas‘. Pero sigamos también aquí la pista que nos dejó el propio Sarmiento, cuando mucho años después de la primera edición lo consideró ‚una especie de poema, panfleto, historia‘. Con esto no hace sino destacar su factura, al margen de géneros tradicionales o poéticas clasicistas. En verdad, el Facundo [...] crea su propio género. No es ésta una explicación de Perogrullo, sino la necesidad romántica y americana (romanticismo y americanismo fundidos) de llevar a las letras su sello continental y diferenciador. [Kursivierungen und Anführungszeichen im Original]“ (Carilla 1964: 36, 37)
Auch Jitrik (1994) deutet die scheinbare Formlosigkeit des Facundo (1845) als romantisches Aufbegehren gegen die etablierten Normen des Schreibens. Romantische Züge macht er zudem in der politischen Dimension des Werkes aus: „Romanticism, nevertheless, would take the lead insofar as it provided an up-to-date, applicable model, an interpretation of the world apt for thinking about that luminous future of a class destined to build power, the Republic, and civilization.“ (Jitrik 1994: 179).
94 Für den Essay spricht auch die Subjektivität des Urteils, die eine klare Zuordnung zu Fiktion und Fakt schwierig macht. Andererseits sind im Facundo (1845) auch klar romanhafte Passagen mit Figureninventar, Einblick in das Innenleben der Figuren, etc. enthalten. Ob der Facundo (1845) als Essay zu bezeichnen ist, ist in der Sekundärliteratur umstritten. Die Unsicherheit bezüglich der Gattungszuordnung ist eine Variable in der hier durchgeführten Analyse, was – neben der Vergleichbarkeit mit den weiteren Textanalysen – eine narratologische Analyse des Textes rechtfertigt, obwohl der Text auch mit den Kriterien einer der ihm zugeschriebenen Gattungen analysiert werden könnte. Gerade die Charakteristika des Textes aus Sicht der Narratologie sind aus Sicht des hier gewählten Ansatzes interessant.
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Es ist nicht das Anliegen dieser Arbeit, eine weitere Antwort auf die Gattungsfrage des Facundo (1845) zu formulieren, sondern einerseits zu zeigen, dass eines der einflussreichsten Bücher zum nation-building Argentiniens des 19. Jahrhunderts kein (ausschließlicher) Roman ist und andererseits zu argumentieren, dass die literarische Inszenierung von Nation und Freiheit im Facundo (1845) auf die Beeinflussung des impliziten Lesers zielt, wofür unterschiedliche Mittel unabhängig von der Gattung eingesetzt werden. In ähnlicher Weise hat dies bereits Jitrik (1994) formuliert: „[…] I wrote that the literary character of the text could not be defined from the angle of genres, but had to be discerned from the effects of the reading. Facundo, I concluded, is less a question of demonstrating than of convincing, for which purpose Sarmiento appealed to his public with every available means. [Kursivierung im Original]“ (Jitrik 1994: 174, 175)
Das Spiel zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen95 erscheint geradezu als Strategie des literarischen nation-building. Der Text enthält keine eindeutigen Marker, die dem impliziten Leser andeuten könnten, welche Stellen Teil der faktualen, welche Teil der fiktionalen Erzählung sind. Vielmehr wird das fiktionale Erzählen in eine faktuale Erzählung – die Beschreibung der geographischen, demographischen, ökonomischen, etc. Bedingungen des Landes – verpackt. Dass die zitierte Figurenrede im Facundo (1845) sehr sparsam eingesetzt wird und die Erzählung durch die Erzählinstanz überwiegt, bringt den Text wiederum in die Nähe der Biographie oder des historiographischen Textes. Jitrik (1994) hat gezeigt, dass Historiographie und Literatur nicht einfach nur den verschiedenen Teilen des Buches zuordenbar sind, sondern deren Vermischung die Struktur jedes Absatzes als essenziellem Charakterzug des Schreibens im Facundo (1845) kennzeichnet. Er zeigt anhand eines Beispielabsatzes auf, dass philosophische Überlegungen in eine costumbristische Schilderung übergehen, gefolgt von einer wissenschaftlichen Bemerkung hin zu einem journalistischem und einem politischen Kommentar, die ins Anekdotenhafte münden. (Jitrik 1994: 176, 177) Immer wieder betont die Erzählinstanz den Wahrheitsgehalt ihres Diskurses. Folgende Beispiele seien angeführt. Dass die Erzählinstanz mehrere Interviewpartner als Auskunftspersonen, als Zeugen, heranzieht, wurde weiter oben bereits in Bezug auf den Zivilisationsgrad von La Rioja besprochen. Darüber hinaus zitiert die Erzählinstanz einen Zeitungsartikel aus London, um zu belegen, dass europäische Einwanderer vom Zivilisationsgrad der Stadt Buenos Aires beeindruckt sind (Sarmiento 1845: 85). Ein weiteres Mal zitiert sie ein Manuskript, das ihr zur Kindheit Facundos vorliegt, um die Beschreibung seines Charakters mit einer Quelle zu untermauern (Sarmiento 1845: 99). So auch auf Seite 101, wo es heißt: „Un hombre iliterato, un compañero de infancia y de juventud de Quiroga que me ha suministrado muchos de los hechos que dejo referidos, me incluye en su manuscrito, hablando de los primeros años de Quiroga, estos datos curiosos [...]“ (Sarmiento 1845: 101). Es folgt ein direktes Zitat aus dem Manuskript. Die Erzählinstanz bewertet ihre Textgrundlagen und bereinigt die Manuskripte um Stellen, die ihr übertrieben scheinen, um kein falsches Bild von Facundo abzuliefern: „Me fatigo de leer infamias, contestes en todos los manuscritos que consulto. Sacrifico la relación de ellas a la vanidad 95 Auch Dill (1994: 62) hat den Facundo (1845) als Text zwischen Faktizität und Fiktionalität verstanden.
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de autor, a la pretensión literaria. Diciendo más, los cuadros saldrían recargados, innobles, repulsivos.“ (Sarmiento 1845: 119). Die Erzählinstanz tut ganz so, als sei ihre Erzählung ein Faktenbericht, für den sie ihre Quellen bereinigen müsste, etwa wenn die Zeugen ihrem Bericht zu ambitionierte, literarische Züge verliehen. Darüber hinaus tritt auch sie selbst als Zeugin auf, die zu den Ereignissen in der Nation aussagt: „Le he oído yo mismo los horribles pormenores del asesinato, cometido en su propia casa, apartando a la mujer y los hijos para que dejasen paso a las balas y a los sablazos.“ (Sarmiento 1845: 167). All das kann als Strategie verstanden werden, die auf die Glaubwürdigkeit und Authentizität der Darstellung des Erzählten abzielt, als Erzählung belegter Tatsachen, die – im Gegensatz zu so mancher Stelle in den der Erzählinstanz vorliegenden Manuskripten – nicht bloß Fiktion ist. Bei gleichzeitiger Verschleierung der Instanzen (Autor = Erzählinstanz?) kann die Beweisführung, die Integration faktischer Dokumente96 in den Text, als Authentizitätsstrategie verstanden werden. Dies ist für die Rezeption von großer Relevanz, ist doch nicht eindeutig geklärt, ob das Erzählte in direktem Verhältnis zur extraliterarischen Welt steht oder nicht. Immerhin kann kein Fiktionalitätsvertrag zwischen Autor und Leser/in zustande kommen. Wollte der Text umgekehrt tatsächlich nach dem Kriterium der Wahrheit bemessen werden, so müsste er die Mittel zur empirischen Überprüfbarkeit zur Verfügung stellen, was Sarmiento in den Comentarios de la Constitución (1853a) auch tut97. Dass im Text kaum Einblicke in das Innenleben der Figuren gewährt wird, die explikativ-argumentativen Kommentaren der Erzählinstanz viel Raum einnehmen und ausschließlich (?) historische Figuren vorkommen, könnte dazu beitragen, dass beim Rezipienten/der Rezipientin Unsicherheit bezüglich des fiktionalen Status’ des Werks entsteht. Zum anderen sind, wie Alvarado B. (2000: s.p.) anmerkt, weite Teile des Buches nicht in argumentativem, sondern in einem ästhetisch-deskriptivem Stil gehalten, der narrative Züge trägt. Von Dill (1994) wird auch das Verhältnis zwischen Erzählinstanz und impliziten Leser im Facundo (1845) als untypisch für faktuale Erzählungen aufgefasst: „Por ejemplo hay un narrador en la segunda parte que se asemeja mucho al narrador omnisciente decimonónico, que establece un diálogo con el lector, hablando de su propia tarea de narrar e insultando al protagonista.“ (Dill 1994: 72). Das Interesse des impliziten Lesers wird im Facundo (1845) weniger auf die Fakten gelenkt als vielmehr auf die detailreiche Schilderung des Grausamen98, die die emotionale, nicht vordergründig die rationale Ebene des impliziten Lesers anspricht. Wir haben mit Genette (1990) den Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt von Figuren als einen von mehreren Fiktionalitätsmarkern diskutiert. Die
96 Darunter z.B. das Gründungsdokument der Asociación de Mayo im Original: „Tengo, por fortuna, el acta original de esta asociación a la vista, y puedo con satisfacción contar los nombres que la suscribieron.“ (Sarmiento 1845: 262). 97 Zwar ruft die Erzählinstanz im Facundo (1845) den impliziten Leser an einer Stelle dazu auf, selbst nachzulesen: „Leed la Gaceta Mercantil, y podréis juzgar del rumbo semibárbaro que tomó entonces la Prensa de Buenos Aires. [Kursivierung im Original]“ (Sarmiento 1845: 179), doch bleibt der Quellenhinweis unspezifisch. In den Comentarios de la Constitución (1853a) gibt Sarmiento die benutzten Quellen mit vollständigem Zitat an. 98 Dass die Erzählinstanz dies selbst formuliert, wurde weiter oben bereits diskutiert.
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sich über drei Seiten erstreckende Erzählung der Todesszene Facundos99 ist ein Beispiel für eine romanhafte Episode des Buches, die Einblick in das Innenleben der Figuren verschafft. „La noche que pasaron los viajeros de la posta del Ojo de Agua es de tal manera angustiosa para el infeliz secretario, que va a una muerte cierta e inevitable y que carece del valor y la temeridad que anima a Quiroga, que creo no deber omitir ninguno de sus detalle, tanto más cuanto que, siendo, por fortuna, sus pormenores tan auténticos, sería criminal descuido no conservarlos, porque si alguna vez un hombre ha apurado todas las heces de la agonía, si alguna vez la muerte ha debido parecer horrible, es aquella en que un triste deber, el de acompañar a un amigo temerario, nos la impone, cuando no hay infamia ni deshonor en evitarlo. [Kursivierung VÖ]“ (Sarmiento 1845: 226, 227)
Die zitierte Passage zeigt die Doppelstrategie des Textes, der Faktizität vorgibt und zugleich Charakteristika des fiktionalen Erzählens aufweist (hier insbesondere den Einblick in die Gefühlswelt des Sekretärs). Sie zeigt darüber hinaus noch einmal die Präsenz der Erzählinstanz auf, die als Ich (creo) vertreten ist und eine Deutung des Geschehens (vgl. Kursivierung im Zitat) sowie eine Bewertung der Figuren (el infeliz secretario) abliefert, die in diesem Fall Mitgefühl des impliziten Lesers für die Figur provoziert und den impliziten Leser in die Deutung miteinschließt (nos la impone). Diese Kombination an faktualem und fiktionalem Erzählen lässt sich vor dem Anliegen des Textes erklären. Die Erzählinstanz pocht auf Glaubhaftigkeit, Authentizität und zielt auf die Überzeugung des impliziten Lesers von der präsentierten Deutung der Ereignisse; sie zieht dazu nicht näher spezifizierte Quellen heran, bezeugt das Erzählte mit der eigenen Wahrnehmung und liefert ein eigenes Geschichtsbild, aus dem sie Gründe, weshalb Argentinien noch keine geeinte, freie und zivilisierte Nation ist sowie eine Vision für die Zukunft der Nation ableitet. Neben dieser argumentativ angelegten Erzählstrategie lässt der Text aber auch einen Appell an die Emotionen des impliziten Lesers erkennen. Nicht die Überzeugung des impliziten Lesers, sondern das Wecken seiner Betroffenheit und Empörung steht dann im Vordergrund. Aufgrund dessen, dass im Facundo (1845) ästhetische Freiheit und das Erfordernis politischer Wirksamkeit einer gemeinsamen Form zugeführt wurden, sieht Piglia (1994: 138) Sarmiento als den Gründer der argentinischen Literatur an. Er setze die einzelnen Gattungen gemäß ihrem Fiktionalitäts- oder Faktualitätsmodus ein: „[…] each genre has its system of evidence, its legitimacy, its method of making credible. [Kursivierung VÖ]“ (Piglia 1994: 138). Eben diesen Aspekt habe schon Alberdi am Facundo (18459 kritisiert: Sarmiento verwende die Mischung von Fiktion und Politik zu seinen persönlichen Gunsten (Piglia 1994: 142). Und Piglia (1994) führt sogar den späteren politischen Erfolg Sarmientos auf seine Fähigkeit zurück, Bilder im kollektiven Gedächtnis zu verankern: „Sarmiento reminds one of the serial writers of the nineteenth century who, as Walter Benjamin said, had made a political career out of their ability to illuminate the collective imaginary.“ (Piglia 1994: 142).
99 Es ist dies eine der seltenen Stellen, an denen ein Dialog der Figuren in Form des direkten Zitats zu finden ist – ein für eine historiographische Abhandlung undenkbares Mittel, um vom Tod einer historischen Persönlichkeit zu erzählen.
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Ist dies tatsächlich eine literarische Strategie des nation-buildings? Oder sind die romanhaften Züge im Facundo (1845) einfach dem Stil des Autors geschuldet? Wie aus den Zitaten der politischen Schriften hervorgeht, scheint die Anrede des Lesers in der zweiten Person Plural im Imperativ zu dieser Zeit durchaus für journalistische und politische Schriften geläufig gewesen zu sein. Allerdings wird in den Texten aus Korpus 1 der Leser nicht als solcher angesprochen, sondern stets in Form eines nicht näher bestimmten ‚Ihr‘, das aus der Konjugation der Verben ablesbar ist. Er wird weder als el lector angesprochen, noch in ein gemeinsames ‚Wir‘ integriert. Fiktionales Erzählen kann in diesen Texten nicht identifiziert werden. In Sarmientos Comentarios de la Constitución (1853a) ist der Inhalt bezüglich Freiheit und Nation jenem des Facundo (1845) ähnlich, doch dominiert hier die sachliche Argumentation. Weder ist eine Präsenz der Erzählinstanz in der ersten Person Singular auszumachen, noch werden Figuren eingeführt, charakterisiert oder für das Argument des Textes herangezogen. Und auch die oben beschriebenen Bewertungsstrategien und Mittel der Sympathielenkung fehlen hier. Folgendes spricht dafür, dass die Gattungsebene Teil der nation-buildingStrategie des Textes ist: Wie oben dargestellt, wird der Plot des Werkes nicht etwa durch eine Handlungskette einer oder mehrerer Figuren gebildet – sie, die Auswahl des Figureninventars und deren Konstellation sind vielmehr von den Bedingungen des Raumes, d.h. der argentinischen Republik und deren Charakteristika, bestimmt. Dies unterscheidet das Werk von der Gattung der Biographie, die auf das Leben einer Figur oder Person fokussiert ist. Es unterscheidet den Facundo (1845) auch von einem historiographischen Werk, obgleich auch Gemeinsamkeiten mit dieser Gattung gefunden werden können. Im Facundo (1845) steht nicht die möglichst korrekte, objektive Darlegung von Fakten, sondern die Überzeugung des impliziten Lesers vom gezeichneten Bild der Nation im Vordergrund. Dementsprechend werden Aspekte überzeichnet, Übertreibungen eingewebt, Gegenargumente ausgespart, was Sarmiento bereits von seinen Zeitgenossen vorgeworfen wurde. Dieser Vorwurf kann nur einem als faktuale Erzählung rezipierten Text gemacht werden, der einen Anspruch auf Wahrheit stellt. Doch erscheint die wiederholte Betonung von Authentizität durch die Erzählinstanz vielmehr als Strategie im Sinne des von Piglia (1994) erwähnten making credible, nicht als Hinweis auf eine faktuale Erzählung. Da der Text kaum Fiktionalitätssignale aufweist, kann sich der implizite Leser umgekehrt aber auch nicht auf einen Fiktionalitätsvertrag einlassen, obwohl dieser über weite Strecken romanhafte Züge aufweist. Dass kein Fiktionalitätsvertrag zustande kommt, aufgrund dessen der implizite Leser den Text zwar als authentische, wirksame Rede auffassen könnte (und dadurch emotional am Schicksal von Figuren teilhaben könnte), doch diese nicht unmittelbar auf die extraliterarische Welt beziehen würde, da er um ihre Fiktivität Bescheid wüsste, kann als Teil des politischen Anliegens des Textes – der Prägung eines Bildes der Nation für die Vergangenheit ab 1810, die Gegenwart und die Zukunft, das von den Nationsangehörigen als kollektives Gut geteilt werden soll – verstanden werden. Der unmittelbare Bezug des Textes auf die extraliterarische Wirklichkeit bleibt dadurch eine Möglichkeit der Rezeption. Dass der Facundo (1845) auch in der tatsächlichen (nicht nur der im Text angelegten) Rezeption dementsprechend gelesen wurde, darauf macht Carilla (1964) aufmerksam, wenn er darauf hinweist, dass das Bild der Nation aus dem Facundo (1845) teilweise in Schulbücher übernommen wurde:
404 | F REIHEIT UND N ATION „Con el Facundo ocurre también un hecho poco común: la discutible ‚verdad‘ de su tesis fundamental. (Diremos que es casi un lugar común en la crítica sobre Sarmiento, y que Alberdi fue de los primeros en ahondar tal problema). Y, sin embargo, qué extraordinarios aciertos parciales, más allá de las dos o tres semblanzas que, a manera de figuritas repetidas, copian los libros escolares? [Kursivierung im Original]“ (Carilla 1964: 25, 26)
Darauf, dass die literarische Dimension des Textes der politischen untergeordnet ist, haben bereits mehrere Autoren aufmerksam gemacht. Schon Carilla (1964) hat auf diesen Aspekt hingewiesen: „Escribe el Facundo para mostrar una organización política primitiva, bárbara, y para convencer de la necesidad de luchar con más ahinco contra ese estado social. [Kursivierung im Original]“ (Carilla 1964: 24). Laut Shumway (2008) ist der Facundo (1845) folgendermaßen zu beschreiben: „A mixture of biography, history, anthropology, cultural analysis, and political platform, the book is ultimately a sustained attack on the Argentina that produced Rosas and Rosismo, followed by policy recommendations that would ultimately constitute many of Sarmiento’s goals for Argentina. [Kursivierung VÖ]“ (Shumway 2008: 296, 297)
Shumway (2008) weist – wie auch der Vergleich der Comentarios de la Constitución (1853a) mit dem Facundo (1845) gezeigt hat – darauf hin, dass im Facundo (1845) bereits viele der politischen Ziele Sarmientos enthalten sind. Arnolfo (2005) versteht die literarischen Elemente des Textes als Teil der auf den Leser/die Leserin ausgerichteten Überzeugungsstrategie: „[...] en el conjunto de la obra, las fábulas, las anécdotas están consagradas a persuadir al lector; se ordenan en torno a la convicción política del autor. En este sentido la escritura sarmientina es, a la vez, literaria y política.“ (Arnolfo 2005: 9). Dass diese im Text angelegt ist (daher der Begriff des impliziten Lesers), aber keine Schlüsse auf die tatsächliche, individuelle Rezeption des Textes durch reale Leser aussagt, muss an dieser Stelle nochmals betont werden. So auch Jitrik (1994): „In regard to the second aspect, literature doubtless becomes an assistant to the ‚action‘, serving a determined content; for Sarmiento, this could have been the construction of a different society, although for some of his readers it might only have been the consolidation of a social class. [Anführungszeichen im Original]“ (Jitrik 1994: 180, 181)
Piglia (1994) liest den Facundo (1845) als parallele, auf die Zukunft gerichtete Formung von Roman und Staat. Auch er sieht eine doppelte Strategie im Text angelegt, die sich weder auf den Roman alleine (wie bei Amalia (1855)) noch auf den politischen Essay (wie den Bases (1852) von Alberdi) reduzieren lässt und versteht die literarische als der politischen Dimension untergeordnet. „We do not read Facundo as a novel (which it is not) but rather as a political use of the genre. (Facundo is a proto-novel, a novel machine, a museum of the future novel. In this sense it establishes a tradition.) The argument with the genre stands implicit in the book. Facundo is written prior to the consolidation of the novel in Argentina and prior to the constitution of the state. The book is situated in relation to these two future forms. It both discusses the conditions that the government should possess (chap. 15) and the possibilities of a New World novel in the fu-
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ture (chap. 2). […] Facundo is neither José Mármol’s Amalia nor Juan Bautista Alberdi’s Bases: it is composed of the same but transformed material, like a crossbreed or a double form. The key to this form (the invention of a genre) resides in the fact that the novelistic representation does not gain autonomy by itself but is, instead, controlled by the political world. [Kursivierungen im Original]“ (Piglia 1994: 135, 136)
Alvarado B. (2000) will den Facundo (1845) im Gegensatz zu Piglia (1994) nicht als neue Gattung verstanden wissen, sondern führt die Mischung von faktualem und fiktionalem Erzählen auf das Anliegen des Buches, der Transformation der Realität, dem Einwirken auf die extraliterarische Welt, zurück. „Tiene preocupaciones más urgentes: en términos modernos, desde una ideología fundamentada en la metafísica de la conciencia, desea generar movimiento social. [...] No le preocupa inaugurar géneros; en su contexto le interesa transformar la realidad.“ (Alvarado B. 2000: s.p.)
Dieses Einwirken auf die extraliterarische Welt, das Schaffen eines gemeinsamen Bildes der Nation und der dringliche Aufruf der Erzählinstanz dem impliziten Leser gegenüber, sich diesem und der Vision einer neuen Nation anzuschließen, geht über eine pädagogische Grundhaltung hinaus und kann mithilfe einer solchen nicht erklärt werden. Im Gegenteil: Weite Teile des Buches zielen gerade nicht auf die Bildung einer selbstständigen Meinung, sie zeugen nicht vom Grundsatz, das bessere Argument möge sich durchsetzen und sie fordern den Leser auch nicht auf, sich ein verstandesmäßiges Urteil zu bilden. Dadurch, dass der Text kaum Figurenrede aufweist, kann keine Illusion konkurrierender Meinung erzeugt werden: Dem implizite Leser bietet sich ausschließlich die Sichtweise der Erzählinstanz auf das Geschehen. Der Text zeigt vielmehr das oben diskutierte making credible, das sowohl auf rationaler (Überzeugung) als auch auf emotionaler Ebene (Betroffenheit, Empörung) angelegt ist. In ähnlicher Weise hat dies auch Alvarado B. (2000) in seiner Analyse formuliert: „Sin embargo, este texto no posee toda la pretensión pedagógica que podría suponerse según la trayectoria de su autor; es ante todo un texto de agitación, ‚un panfleto‘, en el profundo sentido del término, un panfleto que intenta antes que nada seducir, por ello la coexistencia de las textualidades novelística y ensayística guarda relación estrecha con el fin instrumental que persigue. Intenta seducir desde una estrategia en la cual elabora una pirámide, en cuya cúspide está Facundo, seguido de cerca por el autor-actor-observador directo de los hechos, acompañado en el escaño inmediatamente inferior por la multiplicidad de personajes presentes en la obra bajo la cobertura de estereotipos culturales, teniendo como base la promesa de un tiempo futuro vencedor del pasado salvaje. [Anführungszeichen im Original]“ (Alvarado B. 2000: s.p.)
Anstatt des Begehrens, ein Begriff der Sommer (1991) für ihre Analyse von Liebesplots in nation-building-Romanen vorbehalten sein soll, ist es hier vielmehr Betroffenheit und Empörung, die nicht nur zur Übernahme des Bildes der Nation führen, sondern auch zu Engagement anstiften sollen. Die Textstrategie zielt auf den Gerechtigkeitssinn des impliziten Lesers ab. Bei so viel ausgestelltem, akkumuliertem und immer noch brutaler dargestelltem Unrecht, so lässt sich die Strategie des Textes verstehen, kann der implizite Leser nicht in einer Position der Gleichgültigkeit verharren. Der Appell an das Unrechtsbewusstsein fordert den impliziten Leser auf, sich zu
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positionieren. Wenn der implizite Leser sich selbst nicht der Barbarei zuordnen möchte, wenn er gemäß der Antipathielenkung die Grausamkeit der caudillos ablehnt, so kann er nicht indifferent oder untätig bleiben. Nimmt er emotional am Schicksal der Figuren teil und akzeptiert der implizite Leser das ihm dargebotene Bild der Nation sowie die Ursachen für den gegenwärtigen Zustand derselben, so wird ihm darüber hinaus am Ende des Textes eine Lösung nahegelegt, die auf diesen Prämissen aufbaut. Konklusion Freiheit und Nation sind, wie in den nicht-literarischen Comentarios de la Constitución (1853a) auch im Facundo (1845) zwei wichtige Säulen, auf denen das Werk ruht. Das Thema der Nation bestimmt den gesamten Aufbau des Werks, dessen Plot, die Auswahl des Figureninventars, dessen Konstellation sowie Charakterisierung. Raum und Zeit stehen in Abhängigkeit zur Nation, ja die demographischen und geographischen Bedingungen des Raumes bestimmen den Charakter der Figuren. Die Selektion von Raum, Zeit, Figuren, deren Konstellation und Charakterisierung scheint vom Anliegen des Textes bestimmt zu sein: der Konstruktion einer zukünftigen, zivilisierten Nation, die wirtschaftlichen Fortschritt, Einwanderung, Bildung und rechtlich gesicherte Freiheit gewährleistet, die im Gegensatz zur natürlichen Freiheit100 der gauchos steht, die wiederum im System der caudillos nur allzu leicht zur Negation von Freiheit führt. Die Einheit der Nation wird als oberstes Ziel gesetzt – die Geographie Argentiniens erlaube gar keine andere Form der politischen Organisation –, aber die nationale Einheit alleine ist es nicht, die der Text favorisiert. Sie sei von der Barbarei bereits geschaffen worden, was ihr fehlt seien Zivilisation und gesicherte Freiheit. Eine Lesart der scheinbaren Dichotomie von Zivilisation und Barbarei vor dem Kontext der Begriffe Freiheit und Nation und ihrem Verhältnis zueinander kann indes manche bislang als Widerspruch aufgefasste Textstelle im Facundo (1845) erklären. Der seine natürliche Freiheit auslebende gaucho, dem durchaus positive Seiten und Talente abgewonnen werden, erscheint so als erziehbar und in die Nation integrierbar: durch Bildungsmaßnahmen, die ihn zu bürgerlicher Freiheit in der gemeinsamen mittels einer Verfassung konstituierten Nation befähigen. Und ist zwar die Zivilisation vorrangig in den Städten101 angesiedelt, so wird mit dem zivilisierten gaucho als Landbewohner die Versöhnung der Nation und ihre Einigung möglich, ja als binnen zehn Jahren realisierbar dargestellt (aus Widerstand gegen Rosas sei dies bereits zum Teil erfolgt). Die Bewertung der Figuren erfolgt weniger gemäß einer Dichotomie zwischen Zivilisation und Barbarei (= Stadt und Land / gut und böse), sondern folgt vielmehr der ideologischen Linie von Freiheit und Nation. Enthält das Begriffspaar Zivilisation und Barbarei eine Exklusion, so bezieht sich diese auf die als salvaje dargestellten Indigenen. 100 Während die restlichen inhaltlichen Elemente auch in den Comentarios de la Constitución (1853a) wiedergefunden werden können, so spielt in diesen natürliche Freiheit keine Rolle (mehr). Auch der gaucho kommt darin nicht vor. 101 Auch hier gilt, dass die Stadt nicht per se fortschrittlich und zivilisiert ist, sondern je nach Freiheitsverständnis als mehr oder weniger zivilisiert dargestellt wird, wie am Beispiel Córdoba versucht wurde zu zeigen.
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Wie wird im Facundo (1845) diese Vision der zivilisierten Nation propagiert? Zunächst ist festzuhalten, dass die zivilisierte, freiheitssichernde Nation überwiegend ex negativo gezeichnet wird: Der Fokus liegt auf den Figuren der Barbarei und der Darstellung ihrer Grausamkeit, die jeglicher Zivilisation entgegenstehen, sie dies in Form von politischen und juristischen Institutionen, der Sicherung von Leben, Eigentum und Freiheit, sei es wirtschaftlicher Fortschritt. Die Analyse der Perspektivenstruktur des Textes ergibt indes Folgendes: Die Wissensverteilung zeigt, dass der implizite Leser im Facundo (1845) keine Informationen vonseiten einer Figur erhält und alles Wissen von der Erzählinstanz vermittelt wird. Es besteht ein starkes Informationsgefälle zwischen Erzählinstanz und den restlichen Instanzen – die Erzählinstanz weiß mehr als die Figuren. Die Einstellung der Figuren zu Freiheit und Nation wird nicht (scheinbar) von ihnen selbst, sondern in Form der Erzählerrede formuliert. Entwickelt v.a. die Figur des Facundo durch Erzählerrede – wie jede umfassend gezeichnete Figur – ein gewisses ‚Eigenleben‘, so entsteht hingegen kein Effekt der Autonomie. Konstrast- und Korrespondenzrelationen werden nicht mittels einer gegenseitigen Bewertung der Figuren aufgebaut, sondern erfolgen ausschließlich durch die Erzählinstanz. Der Erzählung der Taten Facundos und der Beschreibung seines Charakters folgt meist eine eindeutige Bewertung durch die Erzählinstanz. Den Figuren der Barbarei stehen nicht so sehr die (wenigen) Figuren der Zivilisation gegenüber, die gegenüber den barbarischen Figuren kaum Präsenz in der erzählten Welt erlangen – die Erzählinstanz stellt sich ihnen vielmehr selbst gegenüber. Die politische Meinung des Protagonisten und der überwiegenden Mehrheit der Figuren steht klar im Kontrast zu jener der Erzählinstanz. Was ihre eigene Werthaltung zu Freiheit und Nation betrifft, positioniert sie sich explizit als Gegnerin der Barbarei und lässt im Vergleich mit den Figuren überproportional an ihrer eigenen Gedanken- und Gefühlswelt teilhaben, wenn sie sich angewidert, empört oder von der Gegenseite gerührt zeigt – Strategien, die auf Solidarisierung des impliziten Lesers mit der Erzählinstanz zielen. Ihre explikativen Äußerungen gibt die Erzählinstanz vor zu belegen – sie werden als Fakten präsentiert; ihre (implizite und explizite) Bewertung des Geschehens und der Figuren folgt den Prämissen, auf denen ihr Bild der Nation aufbaut. Mithilfe einer losen Verknüpfung von Figuren und Schauplätzen, die nur durch den Raum der Nation zusammengehalten werden, erscheint das Nationalvolk in der Erzählerrede als kollektiver Protagonist. Die Übereinstimmung der explikativen mit den evaluativen Äußerungen der Erzählinstanz erlaubt die Konstruktion einer harmonischen Werteund Normenwelt, in die sich die Figurenkonstellation und -charakterisierung gemäß der Einstellung der Figuren zu Freiheit und Nation einfügt. Als sympathielenkende Mittel können die Kontrastrelation, die zwischen Figuren der Zivilisation und der Barbarei etabliert wird, die Antipathielenkung auf Figuren der Barbarei durch explizite, negative Fremdcharakterisierung und Wertung (sowie die Sympathielenkung auf die Nebenfiguren der Zivilisation), die detailreiche Schilderung ihrer Grausamkeit unter Verwendung von Hyperbeln, die implizite, Ablehnung und Distanz schaffende Fremdcharakterierung Rosas’ durch das Mittel der Ironie sowie die rasche, in einer Klimax angeordnete Aneinanderreihung immer noch abscheulicherer Episoden aus dem Leben des caudillos Facundo Quiroga, die die Erzählinstanz wegen ihrer Brutalität scheinbar nur widerwillig wiedergibt, angeführt werden.
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Die kritischen Werturteile der Erzählinstanz bilden die zentrale Bewertungsperspektive für den impliziten Leser und schaffen ihm Beurteilungskontexte, die die Entwicklung von Missgunst gegen die caudillos fördern102. Die Zurschaustellung von Grausamkeit und Unrecht zielt im Sinne der poetic justice auf Identifizierung mit den Gegnern der Barbarei ab, spricht das Unrechtsbewusstsein des impliziten Lesers und damit eine emotionale Ebene an, die mit Betroffenheit oder Empörung gefasst werden könnte. Zugleich erscheint die Schilderung von Unrecht nicht nur als Mittel der Rezeptionslenkung, sondern die Faszination der Lektüre auszumachen. So bevorzugt die Erzählinstanz die Erzählung schrecklicher Verbrechen, damit dem Leser die Lektüre nicht lästig werde. Wir können die Faszination des Grausamen als eine Strategie im Sinne eines pleasure as a mode of power verstehen. Dass die beschriebenen Mittel mit Blick auf den impliziten Leser eingesetzt werden, darauf deutet auch die Analyse der Redesituationen hin. Der implizite Leser wird an mehreren Stellen, die über den Gesamttext verteilt sind, von der Erzählinstanz direkt angesprochen, teils in fiktiven, der mündlichen Erzählung ähnelnden Gesprächssituationen, teils in Form suggestiver, rhetorischer Fragen, die eine Zustimmung des impliziten Lesers vorbereiten, teils, um ihn an wichtige, bereits erzählte Ereignisse zu erinnern oder an ihn in Form des Imperativs zu appellieren. Bisweilen nimmt die Erzählinstanz den impliziten Leser ‚an der Hand‘, etwa, wenn sie sich mit ihm gemeinsam auf einen Stadtspaziergang durch Córdoba begibt oder ihn auffordert, ihr an den Ort der Ermordung Facundos zu folgen. Sie schließt den impliziten Leser an manchen Stellen in ein gemeinsames ‚Wir‘ ein. Zur rezeptionssteuernden Wirkung kann auch die Gattungsebene gezählt werden. Der unkonventionelle Umgang mit Elementen der faktualen wie der fiktionalen Erzählung zeugt von der ästhetischen Freiheit des Textes, die meist als typischer Zug der beginnenden Romantik in Argentinien gedeutet wurde. Diese gattungsmäßig schwer zu klassifizierende Textorganisation wird hier als Spiel zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen verstanden, das stets vom politischen Anliegen des Textes geleitet ist und Mittel der einen wie der anderen Art des Erzählens für ein making credible einsetzt. Die Erzählinstanz suggeriert zu Beginn des Textes, dass es der Autor selbst ist, der spricht (die Parallelen der biographischen Auszüge deuten darauf hin) und sich als Zeugin gibt, die den Wahrheitsgehalt ihrer Darstellung und der ihrer Quellen versichert bzw. für diesen sorgt, indem sie diese um fiktionale Stellen bereinigt. Damit eröffnet sich eine Rezeptionsmöglichkeit des Textes mit direktem Bezug zur außerliterarischen Welt. Die Aufnahme des im Facundo (1845) gezeichneten Geschichts- und Nationenbildes in Schulbücher sowie der zeitgenössische Vorwurf der Übertreibung und Täuschung deuten darauf hin, dass der Text tatsächlich auch als faktuale Erzählung rezipiert wurde. Der an den Gerechtigkeitssinn des impliziten Lesers appellierende Text, fordert den impliziten Leser jedoch nicht nur zur Positionierung auf, sondern zielt auf Betroffenheit, Empörung, ja zum Engagement im Sinne des am Ende des Buches vorgestellten Lösungsweges ab.
102 Dadurch, dass sich die Figuren nicht (scheinbar) selbst zum Geschehen äußern und dieses bewerten, ist es die einzige Bewertungsperspektive, die sich dem impliziten Leser bietet.
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B ARTOLOMÉ M ITRE Einordnung und Struktur des Werks Soledad wurde erstmals 1847 als folletín in der bolivianischen, von Mitre geleiteten Zeitung La Época103 veröffentlicht. Der kurze, etwa 70 Seiten umfassende Roman entstand im bolivianischen Exil. Zwischen 18. Juli und 1. August 1848 erschien Soledad auch in El Comercio de Valparaíso (Lichtblau 1959: 36). Bis 1907 galt der Roman als vergessen, ab dann wurde er mehrfach publiziert (Lichtblau 1959: 36). Hier liegt er in der Ausgabe von Juan Millé y Giménez von 1928 vor, die sich auf die Erstauflage stützt. (Millé y Giménez 1928: 91) Das Werk ist formal in 15 Kapitel gegliedert, wovon das letzte einen Epilog bildet. Der Titel des Werks verweist auf die im Zentrum des Werks stehende Figur Soledad und deren Konflikt, der in der Folge näher erläutert wird. In der literaturgeschichtlichen, ästhetischen Bewertung wird meist darauf verwiesen, dass Soledad (1847) eine einfache Handlung und Figurenkonstellation aufweise, die typisch romantisch als idealisierte, nostalgische Liebesgeschichte gestaltet sei (Unzueta 2006: 243, 244). Analyse von Soledad nach einzelnen narratologischen Kategorien Soledad (1847) ist in einem ländlichen Ambiente am Fuße des Illimani der bolivianischen Anden angesiedelt, beginnt im Sommer 1826 und endet etwa ein Jahr später (Mitre 1847: 97, 167), spielt also kurz nachdem das Heer von Antonio José de Sucre die Unabhängigkeit des Landes (1825) erkämpft hatte104. Auf einer „linda hacienda“ (Mitre 1847: 98) inmitten der als üppig und wohlduftend beschriebenen Landschaft leben die schöne, in etwa 19-jährige Protagonistin Soledad und ihr über 58-jähriger Ehemann. Die als außerordentlich schön beschriebene Soledad wird als feinfühlige, gefühlsbetonte Figur gezeichnet: „Soledad […] era una de aquellas cabezas poéticas é impresionables, estaba absorta y encantada.“ (Mitre 1847: 114). Neben den erwähnten Figuren bilden Cecilia und Eduardo, Tochter und Neffe der Nachbarn D. Manuel Alarcon und Da. Antonia de Alarcon sowie der Cousin Soledads, Enrique, weitere zentrale Figuren des Romans. Enrique, der gemeinsam mit Soledad aufgewachsen ist, sie aber erst im Laufe der Erzählung wiedersehen sollte, ist ihr einziger Verwandter und Freund, wie sie zu Beginn des Romans sagt. Als Nebenfiguren sind die beiden auf der hacienda lebenden Dienstboten Marta und Antonio sowie eine junge indigene Dienstbotin105 zu erwähnen. (Mitre 1847: 104, 106, 139) 103 Laut Unzueta (2005: 12) hatte die Zeitung in den ersten Monaten nach ihrer Gründung 1845 in etwa 200 Abonnenten, erreichte aber in Form öffentlicher Lesung ein größeres Publikum. 104 Auch wenn der Roman in Bolivien angesiedelt ist und die Unabhängigkeitskämpfe in Perú und Bolivien thematisiert, könnte er ohne Weiteres auch in anderen hispanoamerikanischen Ländern spielen, wie Mitre (1847) selbst im Vorwort anmerkt: „Su accion es muy sencilla, y sus personajes son copiados de la sociedad americanas [sic] en jeneral.“ (Mitre 1847: 95). 105 Diese spricht in der erzählten Welt Aymara und bleibt namenslos: „Un ligero ruido la sacó de ellas, y vió entrar á una joven india que la servia, con una carta en la mano. — Se-
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Wie stehen nun die skizzierten Figuren zueinander und wie wird ihre Geschichte zu einem Plot verknüpft? Die einsame und in ihrer Ehe unglückliche Soledad erwartet den Besuch ihres Cousins Enrique, den sie seit ihrer Kindheit zum ersten Mal wiedersehen sollte. Der vor Eifersucht kranke Ehemann willigt nur ungern in das Treffen ein. Bei einem kurz zuvor stattfindenden Besuch durch die Nachbarn, bei dem diese ihren aus La Paz zurückgekehrten und mit deren Tochter Cecilia liierten Neffen Eduardo vorstellen, beschließt letzterer, die schöne Soledad zu erobern. Er besucht die Eheleute fortan immer häufiger und versteht es, geschickt die Gunst des Ehemannes sowie zunehmend auch die Bewunderung Soledads zu erwerben. Als sich Soledad in Eduardo zu verlieben beginnt und gerade als sich die beiden einander annähern, erscheint Enrique auf der hacienda. Soledad scheint hin- und hergerissen zwischen den beiden. Im Anschluss an ihr Geburtstagsfest droht die Situation zu eskalieren. Cecilia erwartet ein Kind von Eduardo und beschließt sich aufgrund des zunehmenden Desinteresses Eduardos an ihr im Teich der hacienda zu ertränken. Enrique, der den Streit zwischen den beiden mitgehört hat, rettet Cecilia das Leben. Das Kind überlebt den Suizidversuch nicht. Nachdem Enrique im Duell mit Eduardo verletzt wird, Letzteren aber in einer versöhnenden Geste am Leben lässt, lenkt Eduardo ein und kehrt zu Cecilia zurück. Der Gesundheitszustand des Ehemannes verschlechtert sich indes. Er besinnt sich kurz vor seinem Tod, zeigt sich von der liebevollen Fürsorge Soledads und Enriques gerührt und gibt den beiden seinen Segen: „— Hijos mios, les dijo con esfuerzo, yo he separado lo que Dios habia hecho para unirse […]“ (Mitre 1847: 163)106. Ein Jahr später heiraten Soledad und Enrique; Cecilia und Eduardo erwarten ein Kind, sodass die Protagonistin am Ende des Romans feststellt: „— Todos son felices […]“ (Mitre 1847: 168). Freiheit und Nation Unzueta (2005) sieht die nationale Dimension in Soledad (1847) folgendermaßen angelegt: „Empero, para poder ver el ‚imaginario nacional‘ en la práctica es necesario establecer relaciones simbólicas entre el romance familiar y el romance de la historia nacional. En tal lectura, el héroe representa el pueblo y un nuevo movimiento nacional (ya que recién ha derrotado a las leales tropas coloniales españolas); Soledad, el objeto del deseo, está relacionada con la nación, la tierra y la cultura; los antagonistas quieren apropiarse de lo nacional para sí mismos, representan fuerzas del pasado y formas abusivas de poder, o bien de un criollismo conservador e irresponsable. Al hacer el romance colectivo, la misión del héroe consiste en rescatar una nacionalidad usurpada al objeto de devolverla a su legítimo dueño, es decir, él mismo (y por sinécdoque integradora, el pueblo). El matrimonio puede ser interpretado, en consecuencia, como la unión por la cual el pueblo, la tierra y la cultura se fusionan en el proceso de formación nacional. [Anführungszeichen im Original]“ (Unzueta 2005: 9)
ñorita, dijo la indijena en la lengua aymará, esta carta me han dado para U.“ (Mitre 1847: 103). Die Figur kommt nur an der zitierten Stelle vor. 106 Soledad (1847) weist dadurch zahlreiche Parallelen zu El sí de las niñas (1806) von Leandro Fernández de Moratín auf.
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Er zitiert in einer Fußnote eine weitere Deutung von Bradford B. Burns (1982), die hier leider nicht im Original vorliegt und nach Unzueta (2005: 23, Fußnote 53) zitiert wird: „Soledad encapsules the Latin American people, while Don Ricardo Pérez represents the Iberians, master of the land and people. In Enrique and Eduardo, the reader encounters the two major divisions of the creoles, the liberal and the conservative.“. Wie in der Folge zu zeigen sein wird, sind im Text keine konkreten Hinweise auf Eduardos ideologische Zugehörigkeit zur konservativen Partei zu finden, wenn diese Lesart auch plausibel erscheint. Und sowohl Soledad als auch Enrique und Eduardo werden mit Kunst und Kultur in Verbindung gebracht. Im Unterschied zu Burns (1982) und Unzuetas (2005) allegorische Lesart der Nation, wird in der Folge nach der Bedeutung von Freiheit und Nation für den logisch-kausalen Aufbau des Erzähltextes gefragt. Es handelt sich um einen Liebesplot, der ohne Bezug auf Nation und Freiheit wiedergegeben werden kann, wie es zunächst scheint. Doch stellt man sich, gemäß der Definition eines Plots, die Frage nach den kausalen Zusammenhängen, so ist nicht evident, weshalb am Ende Soledad und Enrique sowie Cecilia und Eduardo (und nicht Cecilia-Enrique und Soledad-Eduardo) ein Paar werden (müssen). Und weshalb kann Soledad mit ihrem Ehemann nicht glücklich werden? Ist es nur der Altersunterschied? Bereits im ersten Kapitel des Romans kommt es zum Konflikt zwischen Soledad und ihrem Ehemann. Diesen kränkt, dass Soledad mit ihm einsam und traurig ist, ihn nicht liebt. Als er sie darauf anspricht, besteht Soledad auf dem einzigen Recht, das ihr verblieben ist und das sie sich von niemandem nehmen lässt: ihrer emotionalen Freiheit. „— Señor, aun cuando me quejase no haria sino usar del único derecho que tengo, y del que nadie me puede despojar, pero si ofendo á U., me callaré. No soy soberbia porque es U. el amo aqui, y obedezco.“ (Mitre 1847: 100). Als der Ehemann nicht locker lässt, verteidigt sie ihr Recht auf die libertad del corazón: „— No tiene U. derecho á exigir mas. Mi madre entregó mi mano forzada por la necesidad, pero jamas me pidió U. mi corazon. […] Estimo y respeto á U., puede disponer de mi persona á su voluntad, pero al menos quiero conservar la libertad del corazon que es la única que no han podido arrebatarme.“ (Mitre 1847: 101)
Der Ehemann will ihr auch diese nicht zugestehen, setzt sie unter Druck („Sabes que soy capaz de matarte.“ (Mitre 1847: 101)), schlägt sie und muss am Widerstand der Heldin scheitern: „— Señor, el que maltrata a su muger es un infame que no tiene derecho á exigir nada de ella, pero permito ser pisoteada con tal de que se me deje al menos la libertad del corazon.“ (Mitre 1847: 102). Der Hauptgrund für Soledads Einsamkeit und Unglück ist, dass sie ihren Ehemann nicht gemäß der Freiheit ihres Herzens wählen konnte. Sie verteidigt ihre emotionale Freiheit so vehement, dass der Ehemann sein Verhalten bedauert und ihr ihre Freiheit zugesteht (eres libre): „— Soy un torpe, perdóname Soledad, tienes derecho para echármelo en cara. Eres libre : despues de lo que he hecho comprendo bien que ya no debo pedirte amor, pero al menos no me guardes rencor.“ (Mitre 1847: 102). Die Erzählinstanz weist darauf hin, dass sich vergleichbare Szenen fast jeden Tag auf der hacienda abspielen (Mitre
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1847: 103), der Kampf um ihre emotionale Freiheit107 also den zentralen Konflikt zwischen den Eheleuten darstellt, sodass die Protagonistin zu dem Schluss kommt: „— Necesito expansir [sic] mi corazon, y tener algo que amar.“ (Mitre 1847: 103). Und noch eine weitere Figur des Romans wird mit Freiheit verbunden: Es handelt sich um Enrique, der das Elternhaus Soledads, in dem er aufgewachsen ist, verlassen hat, um für die Freiheit der Nation zu kämpfen: „Un dia se presentó a la madre de Soledad, a quien él tambien llamaba su madre, y la dijo que estaba resuelto á irse a incorporar al Jeneral Lanza para pelear por la independencia de su patria.“ (Mitre 1847: 138). Als er nach Jahren Soledad wiedertrifft, ist er ein Freiheitsheld, der in den entscheidenden Schlachten gegen die Spanier gekämpft hat: „[...] ha vuelto por fin á la Paz con el grado de capitan, después de haberse hallado en las batallas de Junin y Ayacucho.“ (Mitre 1847: 138). Der Grund für die unglückliche Vereinigung Soledads mit ihrem Ehemann sowie das glückliche Ende in Form der neuen Ehe mit Enrique kann nicht nur darin erblickt werden, dass Soledad mit Enrique ihrer emotionalen Freiheit folgt (die von ihrem ersten Ehemann unterdrückt wurde), um sich mit dem Freiheitshelden schlechthin zu vermählen, sondern auch in der Einstellung der Figuren zur Nation. Betrachten wir diese etwas näher in Bezug auf die Hauptfiguren des Romans. Dass Enrique aufseiten der unabhängigen Nation steht, wurde bereits thematisiert. Dem steht die politische Überzeugung des Ehemannes gegenüber: Es finden sich im Text mehrere Hinweise darauf, dass der Ehemann Soledads ein Anhänger der spanischen Monarchie ist. Zunächst ist dies an der farblichen Beschreibung seines Hauses und dessen Einrichtung erkennbar: „Las puertas y ventanas estaban adornadas con anchas cortinas de damaso punzó con franjas de oro […] En el techo se veian las armas nobiliarias de la familia del marido de Soledad, porque en aquella época aun no se habia despojado del todo de la añeja preocupación de querer formar una aristocracia en el centro de una república, y de la que por fortuna quedan ya muy pocos restos. Lo único que indicaba que se vivia en una época mas reciente era un hermoso piano de ébano incrustado de adornos de bronce.“ (Mitre 1847: 105)
Der farblichen Anspielung auf die Monarchie (Rot und Gold) folgt der Hinweis der Erzählinstanz, dass die Familie des Ehemannes Befürworter der Aristokratie sind. Die hacienda sieht aus als wäre sie mitten aus dem 18. Jahrhundert, so die Erzählinstanz (Mitre 1847: 105). Einige Seiten später folgt der explizite Hinweis auf die politische Einstellung des Ehemannes108: Er hat sich offen als Feind der Unabhängigkeit 107 Die emotionale Freiheit scheint aber ihre Willensfreiheit einzuschränken. So ist Soledad gegen ihre Gefühle machtlos, als sie beginnt, sich in Eduardo zu verlieben: „Acostumbrada á la lucha pasiva á que se veia condenada respecto de su marido para repeler la tirania y la injusticia, sintió por la vez primera que le faltaban las fuerzas para luchar contra el sentimiento que la invadia […]“ (Mitre 1847: 115). 108 „Don Ricardo Perez, marido de Soledad, pertenecia á una antigua familia del pais, que habia adquirido una inmensa fortuna en la explotacion de minas de Potosi, y siendo el hijo mayor de la familia le habia tocado una herencia considerable. Apegado á los intereses de la madre patria, por efecto de su posicion y de sus relaciones, asi que estalló la lucha de la independencia se declaró contra ella, y aunque no habia obrado activamente para
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Boliviens deklariert, wenn auch nicht aufseiten der Spanier gekämpft und sich nach der Konstituierung der Republik Boliviens resigniert auf das Land zurückgezogen und von dort aus heimlich die Rückeroberung unterstützt. Und auch der Nachbar, Manuel Alarcon, trauert der spanischen Kolonialzeit nach: „— En mi tiempo, dijo D. Manuel, cuando todas estas tierras pertenecian al Rey de España, no habia estas disputas de territorio, todos vivian en santa paz como hermanos, y nadie se acordaba de buscar peleas á su vecino. Ah ! qué tiempo aquel de los Vireyes! Entonces si se podia vivir, pero la patria ha venido á acabar con todo.“ (Mitre 1847: 121)
Dem widerspricht sein Neffe, Eduardo: „— Permítanme U. tio que le diga que no estoy del todo de acuerdo con su opinion. No dudo que aquellos eran muy buenos tiempos, pero es indudable que algo hemos ganado en el cambio de cosas que se ha ejecutado. De colonos hemos pasado á ciudadanos nos hemos constituido en nación soberana é independiente, los hijos del pais ocupan los primeros destinos, hemos adquirido derechos preciosos, y aunque luchando con mil dificultades, nos hemos puesto en el camino de los adelantos y de las mejoras.“ (Mitre 1847: 121)
Er hebt lobend hervor, dass der Übergang von Untertanen der spanischen Monarchie zu Staatsbürgern in der souveränen und unabhängigen Nation erfolgt ist und diese nun über wertvolle Rechte verfügen. Es ist allerdings nicht ganz klar, wie die Figur tatsächlich zu Freiheit und Nation steht, da sie dieses Lob auf die freie Nation laut Erzählinstanz nur ausspricht, um den Ehemann Soledads in ein Gespräch zu verwickeln, das seine Meinung offenbart, um ihm anschließend besser schmeicheln zu können und so seine Annäherung an Soledad voranzutreiben: „Este elogio de Eduardo por los resultados que habia producido la revolucion americana era habilmente calculado para estimular á D. Ricardo á desembozarse.“ (Mitre 1847: 121, 122). Der Plan gelingt und Ricardo, der Ehemann Soledads, bringt offen seine Ablehnung der Nation zum Ausdruck109:
contrarestarla, siempre fué su enemigo declarado. Sancionada la independencia del Alto Perú, y constituida la República Boliviana, se habia retirado al campo resignándose al nuevo orden de cosas como a una necesidad fatal, pero haciendo siempre votos secretos por el triunfo de la reaccion.“ (Mitre 1847: 120, 121). 109 An der Misere Soledads, ihrer unfreiwilligen Ehe mit Ricardo, waren nach dem Verlust des Vermögens, das D. Pedro, der Vater Soledads, seiner Familie überlassen hätte können, indirekt auch die Spanier beteiligt, so die Erzählinstanz: „La fortuna que D. Pedro dejó á su familia era muy pequeña, porque aun cuando antes habia sido rico, la guerra lo habia arruinado, habiendo hecho grandes gastos en favor de los patriotas, por lo que era mal mirado de los españoles.“ (Mitre 1847: 137). Nach seinem Tod übernahm D. Ricardo die Testamentsverwaltung der Güter D. Pedros. Der Vater Soledads sei aufgrund der Erziehung und der Ideen, die er Enrique zukommen ließ, maßgeblich an dessen Begeisterung für die Nation beteiligt gewesen. Er habe gehofft, Soledad und Enrique würden eines Tages heiraten. (Mitre 1847: 137, 138)
414 | F REIHEIT UND N ATION „— Dice U. que hemos ganado en el cambio de cosas que se ha ejecutado?, y qué es lo que hemos ganado? Pasar á ser esclavos de otros tiranos mayores que los que teniamos antes, que disponen á su antojo de nuestras vidas y propiedades ; tener derechos escritos en el papel, siendo la voluntad del caudillo la única que impera ; entrar en el camino del desórden y la anarquia en vez del de los adelantos y de las mejoras, y por último ser nacion soberana é independiente solo para buscar querellas a nuestros vecinos ! Vivimos en medio del desórden, de la pobreza y de la sangre. Eh ! para llegar a semejantes resultados no merecian la pena de tan inmensos sacrificos como se han hecho, asolando el pais é inmolando millares de víctimas.“ (Mitre 1847: 122)
Wenn auch nicht aktiv, so kann Soledad110 dennoch passiv als eng mit der Nation verbunden gelesen werden. Die Figur ist wie keine andere an die Darstellung des Raumes gekoppelt, ihre Gefühlswelt an die sie umgebende Landschaft und Natur gebunden: „La joven parece que no oia ni sentia nada que no perteneciese al magnífico panorama que se desenvolvia ante sus ojos.“ (Mitre 1847: 99). Die Natur spiegelt – typisch romantisch – den Seelenzustand der Protagonistin und umgekehrt: „Soledad echó una mirada hácia la bóveda celeste y la tranquilidad que reinaba en ella se comunicó á su alma […]“ (Mitre 1847: 152); „El cielo estaba azul y sereno, y la atmósfera tibia y perfumada parecia que acariciaba con su contacto, como si Dios quisiera festejar el aniversario del nacimiento de una de sus mas bellas hechuras.“ (Mitre 1847: 147). Die neu entstandene Nation ist dünn besiedelt. Der Name der Protagonistin kann nicht nur im Hinblick auf ihre innere Einsamkeit, sondern auch auf die fehlende Gesellschaft verstanden werden. So sagt sie: „— Cierto que esta mansion es agradable. El clima, las flores, los frutos, las vistas de que se goza, todo contribuye al bienestar del cuerpo, pero el alma y la imaginacion carecen de alimentos por falta de sociedad.“ (Mitre 1847: 109). In einem Gespräch zwischen dem Nachbarn und dessen Neffen Eduardo wird diese Verbindung explizit gemacht: „— Amigo mio, dijo Alarcon dirigiéndose al marido de Soledad, es necesario confesar que esto marcha para atras. En mi tiempo he visto poblado este valle de jóvenes y muchachas, y no habia dia sin convite, ni noche sin baile. Pero en el dia es una soledad. — Asi será, pero tambien convendrá U. conmigo que hay ciertas personas, que aunque en pequeño número, pueblan agradablemente la soledad, dijo Eduardo con intencion, acentuando sobre la última palabra y mirando a la hermosa castellana. [Kursivierung im Original]“ (Mitre 1847: 107, 108)
Über die Verbindung Soledads mit (der Besiedelung) der freien Nation hinaus111, nimmt sich Eduardo vor, Soledad zu erobern. Er verwendet dafür vorzugsweise militärisches Vokabular, wodurch Soledad abermals mit der umkämpften Nation in Verbindung gebracht wird: „La conversacion que tuvo [Soledad] con Eduardo fué casi íntima, y él conoció inmediatamente el terreno que habia ganado.“ (Mitre 1847: 119); „Me he propuesto amar à esa muger, es decir, me he propuesto enamorarla, y esa conquista que yo juzgaba facil me presenta hoy mas de un obstáculo.“ (Mitre 1847: 110 Für die Darstellung Soledads und ihre Einordnung in die gezeichnete liberale und nationale Gesellschaftshierarchie nach Genderaspekten vgl. Österbauer (2017). 111 Eduardo bekräftigt diese Verbindung an einer weiteren Stelle: „A fé mia que no esperaba encontrar en este desierto una muchacha tan linda.“ (Mitre 1847: 116).
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127); „Estoy resuelto a dar el golpe desisivo, y para el efecto he preparado mi plan de ataque.“ (Mitre 1847: 127); „Eduardo solo esperaba una oportunidad para empezar su ataque. Esta se presentó.“ (Mitre 1847: 131). Dieser Aspekt unterscheidet Eduardo von Enrique, dem Freiheitskämpfer und Helden, der keine ähnlichen Formulierungen mit Soledad in Verbindung bringt. Eduardo und Enrique sind einander von ihrer ersten Begegnung an unsympathisch, ja sie stehen sich feindlich gegenüber: „Los dos jóvenes se reconocieron inmediatamente por dos enemigos, y desde la primera mirada que cambiaron una antipatía recíproca se despertó en ellos.“ (Mitre 1847: 143). Soledad ist zwischen den beiden hin- und hergerissen: „¿Será que pueda amarse á dos hombres á la vez?“ (Mitre 1847: 146); „En el fondo de su corazon habia una lucha cuya causa aparente no se la habia revelado aun.“ (Mitre 1847:144). Doch sie beginnt an der moralischen Integrität Eduardos zu zweifeln – „Creo que Eduardo no me ama del modo que yo habia soñado ; me parece que su pasion no es tan pura y desinteresada como yo me lo habia imaginado.“ (Mitre 1847:145) – und die Tugenden Enriques zu erkennen. Dass er die Familie verlassen hat, scheint ihr angesichts seiner glorreichen Taten gerechtfertigt: „Tú [Enrique] fuiste á llenar un deber mas sagrado aun, y hoy vuelves cubierto de gloria, despues de haberlo cumplido con honor. Siento un verdadero orgullo al volverte á ver asi […]“ (Mitre 1847: 142). Sein erfolgreicher Einsatz für die Patria erfüllt sie mit Stolz und weckt in ihr Gefühle: „Qué hermoso debe ser el ser amada por un héroe.“ (Mitre 1847: 146). Das mit Nation und Freiheit verbundene Paar Soledad und Enrique trägt in der erzählten Welt stets die mit mehreren unabhängigen Nationen Hispanoamerikas112 verbundenen Farben Blau und Weiß. Gleich zu Beginn, als Soledad in die erzählte Welt eingeführt und charakterisiert wird, ist dies der Fall: „Estaba vestida de blanco, y una ligera pañoleta celeste hacia adivinar las voluptuosas formas de su seno.“ (Mitre 1847: 98). Später, als Enrique bereits auf der hacienda eingetroffen113 ist, wird sie in weißen Kleidern, er in blauem Gewand beschrieben: „Soledad estaba vestida de blanco, como de costumbre.“ (Mitre 1847:148); „Entre los hombres descollaban Enrique y Eduardo. El primero sencillamente vestido con un uniforme todo azul, sin mas adorno que las condecoraciones que habia ganado en el campo de batalla, pendientes sobre el pecho.“ (Mitre 1847: 148). Soledad und Enrique sind jene Figuren des Romans, die am deutlichsten mit Freiheit und Nation assoziiert werden. Soledad kämpft für ihre emotionale Freiheit, Enrique für die Freiheit (Unabhängigkeit) von Spanien, während an Eduardos Einstellung zur (Freiheit der) Nation wie zur emotionalen Freiheit Soledads (me he propuesto enamorarla) Zweifel bestehen. Die libertad del corazón der mit der Nation in Verbindung gebrachten Soledad wird von ihrem gegen die freie Nation und für die spanische Monarchie stehenden Ehemann unterdrückt. Mit Enrique, dem Nationalhelden und Unabhängigkeitskämpfer, ist sie am Ende durch Liebesheirat verbunden. 112 Neben den Provincias Unidas del Río de la Plata wählten auch die Provincias Unidas de Centroamérica celeste und blanco als Farben in ihrer Flagge. Auch Perú nahm die Farbe Blau in die Flagge auf. 113 Bei seiner Ankunft trägt er eine blaue Uniform: „Estaba sencillamente vestido con un uniforme azul de caballeria, unas largas botas granaderas, una gorra redonda con un galon de oro, su espada al costado y un pequeño poncho de seda verde forrado en paño de grana.“ (Mitre 1847: 139).
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Man könnte sagen, Enrique ist der aktive Freiheits- und Nationalheld, Soledad die passive Freiheits- und Nationalheldin: „— Todos son felices, dijo Soledad, y toda esta felicidad que siento en mí y que gozan todas las personas que amo es obra tuya, mi querido Enrique.“ (Mitre 1847: 168). Kunst und Freiheit und Nation Nicht verschwiegen werden soll, dass auch die Kunst ein die Figurenkonstellation bestimmender Faktor in Soledad (1847) ist. Die jungen Figuren unterscheiden sich von den älteren, der spanischen Monarchie zugewandten Figuren in ihrem Kunstgeschmack. Sowohl Eduardo als auch Enrique sind künstlerisch begabt – Eduardo als Klavierspieler114, Enrique als Dichter115. Nachdem Soledad ihren Gästen ein Lied vorgesungen und -gespielt hat, das Enrique für sie vor seinem Abschied geschrieben hat und von der Hoffnung handelt, dass Soledad ihn nicht vergisst, während er für die Freiheit der Patria kämpft, bringt der Nachbar zum Ausdruck, dass dem Lied der alten Zeit der Monarchie der Vorzug zu geben sei116. Er zeigt sich hocherfreut, als auf dem Tanzabend, der zu Soledads Geburtstag auf der hacienda gefeiert wird, zunächst ein Menuett117 gespielt wird, bevor der Walzer folgt: „Cada cual fué a tomar á su compañera para bailar el primer menué, con gran regocijo de D. Manuel, que veia en este baile un monumento de los antiguos tiempos […]“ (Mitre 1847: 149). Zum Verhältnis zwischen Autor und Erzählinstanz Die erzählte Welt in Soledad (1847) wird dem impliziten Leser durch eine nicht näher beschriebene auktoriale Erzählinstanz vermittelt, die ihm in Ich-Form („[…] y yo diré simplemente […]“ (Mitre 1847: 98) entgegentritt. Im Vorwort zu Soledad (1847) schreibt der Autor, er habe Bolivien als Schauplatz gewählt, um dem Land für seine Gastfreundschaft zu danken (Mitre 1847: 95). Die Deckungsgleichheit zwischen der räumlichen Situierung des Romangeschehens und des Aufenthaltsorts des Autors kann als Parallele zwischen dem Autor und dem erzählenden Ich im Roman betrachtet werden, das sich als unbeteiligter Beobachter positioniert. Auch die im Rahmen der Informationsverteilung zu diskutierenden Erläuterungen der Erzählinstanz zu den Gepflogenheiten und Bräuchen der bolivianischen Nationsangehörigen könnten den Eindruck erzeugen, dass das sprechende Ich, genau wie der Autor, nicht Bolivianer ist, wenngleich keine Hinweise auf Name, Biographie, Geschlecht, Alter oder Nationszugehörigkeit der Erzählinstanz im Romantext zu finden sind.
114 Soledad bemerkt bewundernd: „— No esperaba oir en este valle á un artista tan hábil.“ (Mitre 1847: 110).
115 Zu ihrem Geburtstag erhält sie von Enrique einen Strauß Veilchen und ein Gedicht: „Soledad desenvolvió el papel y leyó en él los siguientes versos escritos por Enrique, que como hemos visto ya, solia quemar incienso en el altar de las musas.“ (Mitre 1847: 147). 116 „Sin poderse contener [el marido de Soldad] se puso á pasear por la sala con aire de mal humor, mientras que Alarcon hacia un paralelo entre el canto antiguo y el moderno, resultando la ventaja, como era de esperase, á favor del primero.“ (Mitre 1847: 112). 117 Auch in Amalia (1855) kommt das Menuett als Lied der Vätergeneration vor (vgl. Mármol 1855: 194).
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Zum Verhältnis zwischen Erzählinstanz, Figuren und implizitem Leser Informations- und Wissensverteilung Der implizite Leser weiß so viel wie ihm die Erzählinstanz verrät und das ist meist mehr als die einzelnen Figuren wissen118: „Soledad se entregaba al encanto de aquella conversacion, sin ver lo peligrosa que era […].“ (Mitre 184: 133, 134). Wie in den Abschnitten Redesituationen und Bewertungsstrategien noch näher ausgeführt wird, hat die Erzählinstanz eine allen anderen Instanzen übergeordnete Position inne und sie steuert offen die Informationsvergabe. Die ansonsten dominierende Nullfokalisierung wird an mehreren Stellen zugunsten der internen Fokalisierung aufgegeben. Diese lässt sich aufgrund des von der Figur selbst erzählten Einblicks in ihr Innenleben als Technik der Leseridentifikation verstehen. Die interne Fokalisierung liegt ausschließlich auf jenen vier Hauptfiguren, von denen suggeriert wird, dass ihnen eine glückliche Zukunft in der freien Nation bevorsteht. Es handelt sich um folgende Textstellen: Zum einen wird ein an Eduardo adressierter Brief Cecilias in den Text integriert. Sie schildert darin ihr Leid – sie bekommt ihn kaum noch zu Gesicht, seit er Soledad kennengelernt hat –, bringt ihre Liebe und ihre bittere Enttäuschung zum Ausdruck, sollte sich Eduardo von ihr abwenden. Ein zweiter Brief Cecilias ist am Ende des Romans an Soledad gerichtet und enthält Glückwünsche zur Hochzeit und die Nachricht, dass sie mit Eduardo glücklich ist und ein Kind erwartet. (Mitre 1847: 125, 167, 168) Auch über das Innenleben von Eduardo erfährt der implizite Leser aus einem Brief, den er als Antwortschreiben an seinen in La Paz lebenden Freund Adolfo verfasst (Cecilias Briefe lässt er hingegen unbeantwortet). Er erzählt diesem von seiner neuen Bekanntschaft und seinen Plänen, Soledad zu erobern und gibt darin Dialoge, die er mit Soledad geführt hat, wieder. Und auch der Rückzug von Soledad nach seiner Läuterung wird in einem Brief an Soledad (und dadurch mit interner Fokalisierung auf Eduardo) erzählt. (Mitre 1847: 126-129, 160, 161) Über Soledads internen Konflikt und ihre Hin- und Hergerissenheit zwischen Eduardo und Enrique erfährt der implizite Leser mithilfe von Auszügen aus deren Tagebuch (Mitre 1847: 144-146). Und als es nachts zum Streit zwischen Cecilia und Eduardo kommt, woraufhin diese beschließt zu sterben, erfolgt im Text ein kurzer Fokalisierungswechsel auf Enrique, der den Dialog der beiden Figuren unbemerkt mithört: „Apenas habia dado Enrique algunos pasos cuando sintió un ligero rumor entre los árboles. Avanzando un poco mas oyó distintamente la voz de algunos que hablaban, y muy luego se le presentaron dos personas. […] Enrique creyó que habia oido demasiado y se retiró discretamente con direccion hacia el estanque para entregarse a sus meditaciones.“ (Mitre 1847: 154)
Es ist jene Stelle, die Enrique den Ruhm als Lebensretter einbringen sollte.
118 Über Cecilias Selbstmordpläne erfährt der Leser vorab nichts. Dies ist einer der wenigen Fälle, in denen die Figur mehr als der implizite Leser weiß.
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Neben diesen mit Fokalisierungswechsel verbundenen Übergängen der Erzählinstanz auf eine der Figuren119, ist in Soledad (1847) noch ein weiterer Wechsel der Erzählinstanz zu beobachten. Es handelt sich um Soledads Kindermädchen Marta, das Antonio, einem Dienstboten, emotional berührt von der Vorgeschichte Enriques und Soledads sowie den Gründen für die Heirat zwischen Soledad und D. Ricardo erzählt (Mitre 1847: 136-139). Diese Stelle ist insofern wichtig für die Leseridentifikation als die emotionale Betroffenheit der beiden Gesprächspartner über Soledad und Enriques Schicksal das Mitgefühl des impliziten Lesers ansprechen soll. Welches Wissen wird schließlich beim impliziten Leser vorausgesetzt? Die Erzählinstanz setzt kaum Wissen beim impliziten Leser voraus und erklärt diesem vieles von Grund auf. Es ist daher auch nicht möglich, auf die vorgesehene Nationsangehörigkeit des impliziten Lesers zu schließen. Bevor das politische Gespräch zwischen D. Ricardo und den Nachbarn einsetzt, liefert die Erzählinstanz Basisinformationen zur Situation Boliviens, die sie an den impliziten Leser richtet. Erkennbar ist dies an der Opposition zwischen entonces und hoy, die nur auf das Jahr, in dem die Geschichte spielt (1826) und dem Jahr (1847), in dem Soledad als folletín abgedruckt wurde, bezogen sein kann120. „Entonces Bolivia no era lo que es hoy : una nación homogénea, que no comprende ni puede comprender otro sistema que el representativo republicano. Habia vencedores y vencidos : la nacion estaba dividida en dos grandes partidos que se distinguian perfectamente, y las pasiones estaban todavia vivas y palpitantes.“ (Mitre 1847: 121)
Könnte die Notwendigkeit, bolivianischen Lesern diese Information zukommen zu lassen, mit den gut 20 Jahren Zeitunterschied erklärt werden, so lassen sich damit nicht die ebenfalls im Text enthaltenen Informationen zu Natur und nationalen Bräuchen erklären. Beispielsweise erläutert die Erzählinstanz, dass Kaffee ein typisches Produkt der Region sei („En la mesa se veian las frutas de los estrópicos, el café, producto del mismo local, y los helados hechos con la nieve del Illimani.“ (Mitre 1847: 148)), Tee ein außergewöhnliches Luxusprodukt dieser Zeit gewesen sei („[...] pues el thé era casi desconocido en Bolivia.“ (Mitre 1847: 112)), dass alle haciendas am Land über Hauskapellen verfügen („La capilla de la casa de D. Ricardo estaba toda enlutada, pues todas las haciendas de campo en Bolivia tienen indispensablemente su oratorio.“ (Mitre 1847: 162)) oder die Beschaffenheit von Stürmen in der Region („Era una de aquellas tempestades de verano tan comunes é imponentes en las regiones montañosas.“ (Mitre 1847: 113)). Zwei mögliche Gründe könnten für diese Erläuterungen vorliegen: Zum einen, dass der Roman nicht (nur) an bolivianische Nationsangehörige gerichtet ist und zum anderen, dass es sich hierbei um eine Möglichkeit, das Eigene zu schaffen, handelt. Das Eigene im Bild der Nation wird im zitierten Absatz ja nicht nur im Hinblick auf 1826, sondern auch auf 1847 konstruiert: Bolivien als homogene Nation, die ausschließlich als repräsentative Republik verfasst sein könne.
119 Ausgenommen davon ist die interne Fokalisierung auf Enrique, die nicht mit einem Wechsel der Erzählinstanz einhergeht.
120 Siehe dazu auch Unzueta (2005: s.p.).
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Redesituationen In Soledad (1847) dominiert die als autonom geltende zitierte Figurenrede, die an zahlreichen Stellen eingesetzt wird. Die Informationvergabe bezüglich Freiheit und Nation geht sowohl von der Erzähler- als auch der Figurenrede aus. Es kommen viele unterschiedliche Figuren zu Wort, die ihre Vorstellungen von Freiheit und Nation scheinbar selbstständig formulieren. Dabei erlauben sie dem impliziten Leser Einblicke in ihre Gefühls- und Gedankenwelt. Bisweilen erfährt der implizite Leser durch den Kommentar der Erzählinstanz mehr als sie selbst über sich wissen. Die Figurenrede kann in Soledad (1847) dennoch nicht als ‚unabhängig‘ bezeichnet werden. Denn sie fügt sich ganz und gar in die Perspektive der Erzählinstanz ein. Es ist im Roman keine Stelle zu verzeichnen, an der die Sicht von Erzählinstanz und Figur in ein konkurrierendes Verhältnis zueinander treten würden. Die essenzielle, eine Deutung beinhaltende Information geht meist von der Erzählinstanz aus, wie in folgendem Beispiel deutlich wird: „— Será U. obedecido, señor, contestó Soledad, fiel á su propósito de hacer notar á su marido todos los actos de tirania con que le atormentaba, conservando á la vez la dignidad de la victima. [Kursivierung VÖ]“ (Mitre 1847: 115). Ein Widerspruch zur idealen Wertewelt (der allerdings nicht durch Divergenz mit der Figurenrede zustande kommt) kann dennoch gefunden werden: Denn entspricht zwar die Heirat zwischen Soledad und Enrique dem Ideal der freien Liebesheirat, so können Zweifel an Eduardos Gefühle für Cecilia angebracht werden. In einem möglichen Widerspruch zum propagierten Ideal der Liebesheirat heiratet er sie, weil es, wie es im Text heißt, seine heilige Pflicht, seine moralische Aufgabe ist, wenn er auch im Brief an Soledad schreibt, dass er Cecilia liebt. Auch in Soledad (1847) wird der implizite Leser (ausschließlich) von der Erzählinstanz angesprochen, meist in der dritten Person, an einer Stelle auch in der zweiten Person Plural, d.h. direkt an ein Leserkollektiv gewandt: „Hablaban de sus padres, de los recuerdos de su infancia, de sus proyectos para el porvenir, y de otras mil cosas sin interes ninguno para el lector, pero que para ellos era todo un mundo, en que vivian, gozaban y amaban.“ (Mitre 1847: 163); „Cuando veais dos personas tristes á solas, estad seguro de que se hablan de amor. [Kursivierungen VÖ]“ (Mitre 1847: 165). Neben der direkten Anrede lassen sich mehrere leserbezogene Stellen im Text ausmachen. Dies zeigt sich gleich zu Beginn des Romans, als dem impliziten Leser das Haus, in dem Soledad mit ihrem Ehemann lebt, vorgestellt wird: „A esta casa es á donde queremos introducir á nuestros lectores.“ (Mitre 1847: 98); „Este huerto es el que daba precisamente al pie de la galeria donde han pasado las escenas que hemos descripto. [Kursivierung VÖ]“ (Mitre 1847: 117); „En aquel momento entraron todas las personas restantes con quienes hemos hecho ya conocimiento. [Kursivierung VÖ]“ (Mitre 1847: 120); „En el momento de que hablamos estaban sentados frente á su puerta dos personas ancianas de distinto sexo.“ (Mitre 1847: 136). Die zitierten Stellen lassen auf eine starke Einbeziehung des impliziten Lesers in die erzählte Welt schließen. Die Erzählinstanz spricht dem impliziten Leser zugewandt: „Un año despues de los sucesos que acaban de leerse, se veian en la misma galeria que ha sido teatro de algunos de ellos, á dos jóvenes de distinto sexo, sentados uno junto al otro con sus brazos amorosamente entrelazados.“ (Mitre 1847: 167). Bisweilen wird der
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implizite Leser auch in ein gemeinsames, nationales (?)121 ‚Wir‘ eingeschlossen: „Como se ve D. Manuel Alarcon pertenecia al número de aquellos originales fósiles, tan comunes entre nosotros, que solo hallan bueno lo de su tiempo [...] [Kursivierung VÖ]“ (Mitre 1847: 108). Anders als in El matadero (1839) und im Facundo (1845) ist die Leseranrede jedoch nicht unbedingt an jene Stellen gekoppelt, in denen Freiheit und Nation inszeniert werden. Sie steht allgemein mit dem Liebesplot in Verbindung. Die Erzählerrede entfaltet aufgrund der diskutierten Merkmale einen auf den impliziten Leser gerichteten demonstrativen, bisweilen belehrenden Charakter. Im Gegensatz zum Facundo (1845) und zu El matadero (1839) findet sich in Soledad (1847) eine Stelle, an der sich die Erzählinstanz ausdrücklich an die Leserinnen122 wendet: „Soledad y su marido entraron por una puerta situada al fondo del salon y casi al mismo tiempo se abrió otra que daba á la galeria interior que daba al patio, y aparecieron los vecinos convidados, con quienes vamos á hacer conocimiento, encargandome en mi calidad de folletinista de presentar á mis amables lectores y lectoras, asegurandoles de que serán bien recibidos, especialmente por las últimas. [Kursivierung VÖ]“ (Mitre 1847: 106)
Bewertungsstrategien Die Erzählinstanz in Soledad (1847) gibt sowohl explikative123 als auch evaluative Kommentare zum Geschehena ab. Sie ist die zentrale Bewertungsinstanz von Figuren und Geschehen124, bereitet den impliziten Leser auf das nachfolgende Geschehen vor, lenkt dadurch dessen Interpretation schon, bevor die Figur handelt und legt ihm bereits vorab eine Deutung des Geschehens nahe. Die Erzählinstanz versucht auf diese Weise, den impliziten Leser zu ihrem Komplizen zu machen. Folgende Strategien können dabei unterschieden werden: 1. Explizite Wertungen und Deutungen, die auf die erzählte Welt bezogen sind, 2. die Wahl des Zeitpunkts, wann Figuren näher charakterisiert werden sowie 3. allgemeine Kommentare mit Gültigkeit über die erzählte Welt hinaus. 4. Muss gefragt werden, in welchem Ver-
121 Das im folgenden Zitat vorkommende ‚Wir‘ könnte sich auf die Gemeinschaft der Bolivianer genauso wie jene der Hispanoamerikaner beziehen.
122 Ob dies in Verbindung mit der Gattung des Liebesromans steht – als v.a. an Frauen gerichtete Lektüre – kann auf Textbasis alleine nicht beantwortet werden. Unzueta (2006: 248) meint, dass viele der in Zeitungen veröffentlichen literarischen Texte besonders an Frauen gerichtet waren. 123 Darunter die oben erwähnten Erklärungen zu Geschichte, Natur und Bräuchen, die eine Version der Nation konstruieren. 124 Im Falle der titelgebenden Heldin, die als außergewöhnlich schön beschrieben wird, lässt sich die Erzählinstanz zu einem persönlichen Kommentar hinreißen, der aufgrund seines Einzelfalles als sympathielenkend bezeichnet werden kann: „Un pintor hubiera dicho de la joven que era una imagen escapada de las telas de Rafael, un poeta la hubiera creido un serafin bajado del trono del Señor, y yo diré simplemente que era una de aquella obras acabadas salidas de las manos del Creador que hacen admirar su poder y adorar la vida.“ (Mitre 1847: 98).
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hältnis die Wertungen der Erzählinstanz zu jenen Textstellen steht, in denen eine Figur zur Erzählinstanz wird. Um mit dem ersten Aspekt zu beginnen, lässt sich ganz allgemein sagen, dass es Figuren gibt, die ausschließlich positiv bewertet werden und solche, deren Bewertung gemischt ausfällt. Ausschließlich negativ wird keine Figur gezeichnet. Es fällt auf, dass sich die Werturteile der Erzählinstanz vorwiegend auf den Aspekt der Moral beziehen125. Wer als moralisch erhaben gilt, geht aus der expliziten Wertung eindeutig hervor: Es handelt sich um Soledad und Enrique sowie – da der implizite Leser weniger über sie erfährt – in etwas geringerem Maße Cecilia. Diese Figuren sind hinsichtlich ihrer moralischen Beschaffenheit als statische Figuren angelegt. D. Ricardo und Eduardo können als dynamische und moralisch gemischte Charaktere bezeichnet werden; die restlichen Figuren werden diesbezüglich kaum in den Fokus genommen. Bei D. Ricardo handelt es sich um eine Figur, die sich gegen die freie Nation positioniert und zudem die libertad del corazón Soledads bedroht. D. Ricardo wird von der Erzählinstanz dafür verurteilt (verdugo, barbarie). Dessen negative Bewertung durch die Erzählinstanz lenkt Antipathie auf die Figur: „Soledad cayó al suelo aturdida por el golpe : al chocar sus labios sobre las baldosas del piso brotaron sangre, y exhaló un gemido doloroso. Ese gemido llegó al fondo del alma del verdugo [su marido] y se arrepintió de su barbarie. Se inclinó hácia su muger y quiso levantarla en sus brazos, pero ella que habia recuperado sus sentidos se incorporó rechazándolo con dignidad.“ (Mitre 1847: 101)
Dadurch, dass die Erzählinstanz auch Einblick in die Gefühlswelt D. Ricardos und dessen Reue gewährt, wirbt sie gleichzeitig um ein gewisses Verständnis für den Ehemann. Es wird so von Anfang an die Option der Figurenentwicklung angekündigt, die schließlich am Sterbebett bestätigt wird, als diese Soledad und Enrique ihren Segen erteilt. „El anciano se acercó á su muger, la tomó una mano que ella le entregó, y apretándola con ternura se retiró sin decirle una palabra. Los remordimientos lo ahogaban y queria substraerse á la presencia de aquella victima á quien habia atado á su destino como á una criatura llena de vida y juventud encadenada á un cadáver.“ (Mitre 1847: 102)
Anhand von Eduardo kann gezeigt werden, auf welche Weise in Soledad (1847) ein harmonisches Wertesystem in der erzählten Welt etabliert wird. Eduardo wird von der Erzählinstanz schon bei seiner Einführung in die erzählte Welt als moralisch zwiespältig beschrieben: „Unos ojos grandes y negros, una nariz recta y bien formada, una frente espaciosa y una boca pequeña, aunque de labios muy delegados, unido todo á una tez pálida, parecia anunciar una inteligencia despejada, un temperamento nervioso y una profunda disimulación, á la par que un alma susceptible de los mas lastimosos descarríos una vez lanzado en la senda del mal. [Kursivierung im Original]“ (Mitre 1847: 107)
125 Die äußerliche Beschreibung der vier Protagonisten ist hingegen ähnlich: Alle vier Figuren werden als außergewöhnlich schön dargestellt.
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Bereits in dieser einführenden Bemerkung wird die Möglichkeit der moralischen Erziehung der Figur eröffnet, abhängig vom Weg, den Eduardo einschlägt126. Während sich Enrique stets tugendhaft und heldenhaft verhält, muss Eduardo moralisch noch gebildet werden. „Eduardo era hijo de padres ricos, y que en razon de su origen se habian adherido á la causa de la madre patria en la lucha de la emancipacion americana […]. Eduardo criado entre la ociosidad y la molicie perdió la mayor parte de las nobles calidades que habia recibido en dote, las que fueron sofocadas por el egoismo, como la simiente por la maleza, y quedaron solas las que debian degradar su naturaleza, y entonces sus poderosas facultades se contrageron al mal. Sus vicios eran el resultado de su educacion y de la sociedad que le rodeaba, pero su corazon habia sido formado para la virtud. Muy niño fué enviado por sus padres á España, y volvió ya joven á su pais, donde se encontró muy superior á la juventud con quien se puso en contacto. Lanzado en el torrente de la vida se entregó desenfrenadamente á todos los placeres, y solo vió en los demas los instrumentos de ellos. El honor y tranquilidad de las familias fueron para él un juguete, y haciendose gefe de un circulo de depravados se constituyó apostol de la corrupcion.“ (Mitre 1847: 116)
Die Erzählinstanz suggeriert, dass Eduardo aus seinem guten, für die Emanzipation der Patria eingestellten Elternhaus die besten Voraussetzungen mitbekommen hat und im Grunde noble Züge trägt, doch Bildung und die ihn umgebende Gesellschaft127 ihn auf Abwege gebracht hätten. Als besonders schlechter Charakterzug wird im Text mehrmals der ihn dominierende Egoismus hervorgehoben. Von diesem angetrieben, erwirbt er langsam die Gunst des Ehemannes, um sich Soledad nähern zu können: „Se propuso continuar el plan con teson y hacerse necesario á la ida de aquel hombre, de quien tanto necesitaba para introducir el deshonor, y tal vez la muerte en el seno de una familia.“ (Mitre 1847: 123). Die Erzählinstanz kündigt dem impliziten Leser in diesem Zusammenhang bereits mögliche Konsequenzen seines unmoralischen Handels an. Wird also die negative Seite der Figur von Anfang an von der Erzählinstanz hervorgehoben, noch bevor die Figur handelnd und sprechend auftritt, und von der Erzählinstanz angedeutet, dass das Verhalten der Figur ein unglückliches Ende herbeiführen könnte – was beides als rezeptionslenkend gelten kann – so erscheint der Brief Eduardos nur als weitere Bestätigung dessen, was der implizite Leser bereits durch die Erzählinstanz vermittelt bekam. Der Brief ist gewissermaßen der Beweis für Eduardos Vorhaben und Charakter. Die Figur, die nun zur Erzählinstanz wird, bestätigt die Richtigkeit der Werturteile, die von der Erzählinstanz ausgehen.
126 Als Enrique in der erzählten Welt vorgestellt wird, lässt die Erzählinstanz im Gegensatz zur Beschreibung Eduardos keinen Zweifel an der moralischen Erhabenheit der Figur: „Su pelo negro, el arco de ébano de su bigote, y las pobladas patillas que rodeaban su rostro acababan por imprimirle el sello de aquella belleza varonil que casi siempre es el distintivo de las almas bien templadas.“ (Mitre 1847: 139). 127 Wenn auch nicht ausdrücklich so formuliert, deutet die Erzählinstanz an, dass es sich um die spanische Gesellschaft handelt, die schlechten Einfluss auf die Figur hatte.
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„Me he propuesto amar à esa muger, es decir, me he propuesto enamorarla, y esa conquista que yo juzgaba facil me presenta hoy mas de un obstáculo. Su propia inocencia me guarda de mis acechanzas. Pero con todo creo que está muy cercana la hora de su rendicion. Unida á un viejo, á un cadáver ambulante, ella no es ni puede ser feliz, y conozco (sin fatuidad) que he ganado inmenso terreno en su corazon.“ (Mitre 1847: 127)
Das Kapitel wird mit einer Bemerkung der Erzählinstanz abgeschlossen, die auf dem Egoismus der Figur beharrt. „Concluida esta carta se acostó en su cama, y se durmió tranquilamente, con el sueño no del justo sino del egoista.“ (Mitre 1847: 129). Zudem wird die Wertung der Erzählinstanz von anderen Figuren gestützt. Cecilia versucht zunächst, wenn Eduardo sie schon nicht zu lieben scheint, so zumindest an das Pflicht- und Ehrgefühl der Figur zu appellieren128: „— No te pido ya tu amor, ni te hablo en nombre de él, me dirijo solo á tus sentimientos de honor, y te hablo en nombre de tu deber.“ (Mitre 1847: 130). Eduardo hält zwar inne, sein Egoismus ist jedoch stärker: „Se sintió avergonzado por su infame conducta, pero no conmovido por la situacion de aquella muger que se habia sacrificado por él. Una chispa de generosidad se encendió en su alma, pero pronto fué apagada por el helado egoismo que lo dominaba.“ (Mitre 1847: 131). Die Erzählinstanz tritt wieder stark wertend auf und gibt die Deutung des Verhaltens der Figur als infame conducta vor. Als Eduardo selbst die Nachricht über die Schwangerschaft Cecilias kalt lässt, gibt sie auf: „— Bien está, dijo Cecilia levantandose con calma y dignidad, me equivoqué dirigiendome á tus sentimientos de honor. No habias tenido alma ni corazon, eres un infame, un miserable…“ (Mitre 1847: 153). Das schlechte Gewissen plagt Eduardo, als er vom Selbstmordversuch Cecilias erfährt (Mitre 1847: 157). Doch erst das Duell zwischen Enrique und Eduardo, aus dem Enrique als besonders tugendhaft und großmütig hervorgeht, bewirkt eine Änderung Eduardos. Es ist also der Held, der Eduardo zurück auf den ‚richtigen‘ Weg bringt. „La puntería habia sido al corazon. Luego que Enrique se hubo sobrepuesto á sus dolores, volvió a tomar su actitud tranquila, y marchó sobre Eduardo con aire amenazador, quien habia quedado como clavado en su puesto. Cuando estuvo á su lado, Eduardo casi tuvo miedo, é iba á exclamar ya : Es un asesinato, cuando Enrique hablo : — No es mi objeto abusar de la ventaja que la casualidad me ha dado, y por otra parte quitandole á U. la vida sumiria á toda una familia en el dolor. Viva U. para reparar su falta y llenar el deber sagrado que esa desgracia exige de U. Al decir estas palabras disparó su pistola al aire. — Caballero, contestó Eduardo con visible conmoción, quiero que U. crea que la resolucion de reparar mi falta la habia hecho antes de ahora, y su generoso proceder de U. es un motivo mas para que persista á ella.“ (Mitre 1847: 160)
128 Cecilia wird im Normensystem der Erzählinstanz Recht gegeben. Die Beurteilung von Eduardos Verhalten vonseiten der Erzählinstanz und Cecilia ist kongruent. Durch den Einblick in die gemäß dem Normensystem der erzählten Welt rechtmäßig handelnden und fühlenden Cecilia in deren Gefühlswelt (in Form der Figurenrede sowie des Wechsel in die interne Fokalisierung mittels Briefform) wird nicht nur die Beurteilung Eduardos bestärkt, sondern auch Mitgefühl für die ungerecht behandelte Cecilia erzeugt. Die Erzählinstanz verstärkt diese Rezeption, indem sie Cecilia ihre Anteilnahme zukommen lässt: „[…] sin echar ni una mirada sobre la pobre Cecilia.“ (Mitre 1847: 149).
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Die Reue Eduardos, die er in einem an Soledad gerichteten Brief in eigenen Worten formuliert, kann wiederum als Bestätigung dessen gelten, was zuvor im Dialog zwischen Eduardo und Enrique gesagt wurde. „Un deber sagrado é imperioso me lleva hoy á pedir á sus padres la mano de mi prima Cecilia, á quien amo. Quiere U. olvidar todo lo que ha pasado entre nosotros, y perdonarme este momento de error, á que fui arrastrado por un deseo culpable? Deseo que sea U. tan feliz como lo merece, y que conserve de mí un recuerdo grato.“ (Mitre 1847: 160, 161)
Die Erzählinstanz bemerkt abschließend: „Las virtudes nativas que Dios habia arrojado en su corazon germinaban al fin, y el hombre de mundo se despojaba de los vicios facticios que la sociedad le habia inoculado.“ (Mitre 1847: 161). Dass Eduardo trotz Antipathie hervorrufender Kritik der Erzählinstanz zu einer sympathischen Figur wird, ist von Beginn an in der Rezeptionslenkung der Erzählinstanz angelegt, die stets den Egoismus der Figur verurteilt und doch dessen ‚guten Kern‘ hervorstreicht. Eduardo kann sich aufgrund seiner moralischen Entwicklung in jene Figurengruppe einreihen, für die eine glückliche Zukunft in der freien Nation vorgesehen ist129. Mithilfe der starken Präsenz der wertenden Erzählinstanz, Figuren, die die Sicht der Erzählinstanz – teils in denselben Worten und ähnlichen Formulierungen – bestätigen sowie dem Authentizität vorgebenden Einblick in die Gedanken und Wahrnehmung der Figur durch Fokalisierungswechsel, die als Bestätigung für die wahrheitsgetreue Darstellung der Erzählinstanz gelten können, wird in Soledad (1847) ein Normenund Wertesystem innerhalb der erzählten Welt konstruiert, das kohärent und in sich vollkommen harmonisch ist. Zum zweiten Aspekt kann gesagt werden, dass die auffällig späte Nennung des Namens von Soledads Ehemann ein weiteres Mittel der Antipathielenkung darstellt. Erst nach etwa dem ersten Drittel des Romans, in dem die Figur aber ihre stärkste Präsenz zu verzeichnen hat, werden der Name des Ehemannes sowie sein biographischer Hintergrund verraten. Bis dahin ist stets von el marido de Soledad die Rede, obwohl selbst die Nachbarn dem impliziten Leser eingehend vorgestellt wurden und Eduardo längst um die Gunst von Soledad wirbt. Die Kommentare der Erzählinstanz beanspruchen bisweilen – das ist der dritte Aspekt – Gültigkeit über die erzählte Welt hinaus und könnten als verallgemeinernde Aussagen über das Menschsein an sich bezeichnet werden. Beispielhaft können folgende Stellen angeführt werden: „D. Ricardo veia por otra parte con gusto las atenciones de Eduardo hácia Soledad, porque los maridos celosos es muy frecuente que sean ciegos únicamente para el único hombre de quien debieran temer.“ (Mitre 1847: 124); „Eduardo leyó aquella carta con hastío, como sucede siempre que una muger llega á manifestar imprudentemente toda la profundidad de su amor á un hombre egoista.“ (Mitre 1847: 125); „Hay dos momentos hermosos en la vida : el momento en que uno se separa de una persona que aborrece, y el momento en que vuelve á unirse con otra persona que quiere.“ (Mitre 1847: 140). Sie beziehen sich weniger auf das Thema der Freiheit und Nation als vielmehr auf die Liebe. Erwähnt werden soll,
129 Diese Option wird ja bereits durch den Kommentar der Erzählinstanz, dass sich die Eltern Eduardos für die Nation engagiert hätten, eingeführt.
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dass sie teilweise mit intertextuellen Verweisen auf literarische Figuren unterstrichen werden, so etwa auf Dantes Francisca de Rimini oder auf Rousseaus Julie.130 Der vierte Aspekt wurde bereits beantwortet: Jene Stellen, an denen eine Figur zur Erzählinstanz wird, unterstreichen die Sicht der allgemeinen Erzählinstanz. Im Falle Soledads wird in Form des Tagebuchauszugs ein scheinbar unvermittelter und dadurch noch authentischerer und intimerer Einblick in deren Gefühlsleben gewährt, der die Urteile der Erzählinstanz bestätigt. Der bereits diskutierte Wechsel zur Dienstbotin Marta als Erzählinstanz bietet über die Bestätigung der etablierten Normen- und Wertewelt hinaus die Möglichkeit, diese mit den Emotionen der Dienstbotenfiguren zu koppeln, deren Ergriffenheit angesichts der Lebensgeschichte Soledads für noch mehr Sympathie beim impliziten Leser für die Heldin wirbt: „— Ay, Antonio, nunca lo he hecho, porque cada vez que me acuerdo de esas cosas no puedo contener las lágrimas y padezco mucho. Con todo, voy á darte gusto porque es necesario que conozcas á tus patrones.“ (Mitre 1847: 137). Antonio wirft in die Erzählung Martas immer wieder die Rezeptionslenkung bestätigende Kommentare ein: „— Nunca me olvido de D. Enrique. Qué hermoso muchacho!“ (Mitre 1847: 137). Zur Gattungsebene Soledad (1847) wird im Untertitel als „novela orijinal“ (Mitre 1847: 97) bezeichnet. Diese Bezeichnung lässt sich nicht nur als klarer Fiktionalitätsmarker verstehen, sondern auch als Etablierungsversuch einer Gattung. Wie Mitre (1847) im Vorwort ausführt, versteht er unter novelas orijinales all jene Romane, die Sitten und Bräuche der südamerikanischen Völker bekannt machen („los costumbres originales y desconocidos de los diversos pueblos de este continente“ (Mitre 1847: 95)). Diese Gattung sei nicht nur schwierig, sondern in Südamerika wenig gepflegt worden, da sie der vollkommenste Ausdruck zivilisierter Völker sei (Mitre 1847: 93): „Cuando la sociedad se completa, la civilización se desarrolla, la esfera intelectual se ensancha entonces, y se hace indispensable una nueva forma que concrete los diversos elementos que forman la vida del pueblo llegado á ese estado de madurez.“ (Mitre 1847: 94). Dass Mitre (1847) eine novela orijinal verfasst, deute weniger darauf hin, dass die südamerikanischen Völker, die den Gegenstand des Romans bilden sollen, bereits die höchste Stufe der Zivilisation erreicht hätten, sondern entspringt laut Mitre (1847) u.a. dem Ansinnen, das Volk erst zu zivilisieren („en el momento de su transformación“ (Mitre 1847: 95)) und es mit seiner Geschichte, seinen Bräuchen und Sitten bekannt zu machen, d.h. diese auch ein Stück weit erst zu definieren: „Es por esto que quisiéramos que la novela echase profundas raices en el suelo virgen de la Amèrica. El pueblo ignora su historia, sus costumbres apenas formadas no han sido filosòficamente estudiadas, y las ideas y sentimientos modificadas por el modo de ser polìtico y social no han sido presentadas bajo formas vivas y animadas copiadas de la sociedad en que vivimos. La novela populariza nuestra historia echando mano de los sucesos de la conquista, de la época colonial, y de los recuerdos de la guerra de la independencia.“ (Mitre 1847: 94, 95)
130 Soledad liest Rousseaus Julie ou La Nouvelle Héloïse (1761) und wird teils von Eduardo, teils von ihr selbst mit Julie verglichen. Zur Bedeutung von fiktionalen Lesesituationen für die Konstruktion der Nation vgl. Unzueta (2005).
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Mitre (1847) gibt an, mit seinem Roman andere Schriftsteller ermutigen zu wollen, novelas orijinales, die Geschichte, Politik und Gesellschaft der südamerikanischen Völker mit ihren Leser/innen bekannt machen, zu verfassen: „Soledad es un debilìsimo ensayo que no tiene otro objeto sino estimular á las jóvenes capacidades a que esploten el rico minero de la novela americana.“ (Mitre 1847: 95). Obwohl Soledad (1847) für einen Roman recht kurz gehalten ist, weist er sämtliche diskutierte Merkmale der Gattung auf, darunter die Selbstreflexion des fiktionalen Status’ und des Erzählvorganges im Werk: „Antes de pasar mas adelante, seria muy del caso que mis lectores hiciesen un conocimiento mas intimo con D. Eduardo Lopez, y usando de las prerogativas del novelista, que todo lo sabe, vamos á ponerlo al corriente de sus antecedentes, como lo hemos hecho ya con sus pensamientos.“ (Mitre 1847: 116)
Es werden andere Gattungen in den Text integriert, v.a. lyrische Texte, die teilweise auf der diegetischen, teilweise auf der extradiegetischen Ebene angesiedelt sind. Bei letzteren ist davon auszugehen, dass sie an den impliziten Leser gerichtet sind, denn die Welt der Figuren bleibt von diesen unberührt. Sie können wiederum als Strategie, das Eigene zu definieren, verstanden werden. An zwei Stellen werden Verse von spanischsprachigen Dichtern zitiert, die das Erzählte illustrieren sollen und zugleich den impliziten Leser mit ihnen bekannt machen: „Como se ve D. Manuel Alarcon pertenecia al número de aquellos originales fósiles, tan comunes entre nosotros, que solo hallan bueno lo de su tiempo, y para quienes parece que han sido escritos aquellos versos de Mora: Hasta el dormir de entonces Era mas descansao, Los sombreros qué airosos Qué fresco el bacalao ! Oh, qué tiempos aquellos, Qué tiempos los pasados !“ (Mitre 1847: 108) „A su luz se descubria la encanecida cabeza del Illimani, que de noche brilla en aquellos lugares con un fulgor tan tibio y misterioso, que ha hecho decir a un jóven poeta boliviano, hablando de èl: — Como una infinita perla Colgada en la inmensidad.“ (Mitre 1847: 114)
Der Roman folgt der Ästhetik der Romantik mit Soledad und Enrique als idealisierten Helden und der für die Romantik typischen wechselseitigen Spiegelung von Natur- und Gefühlsvorgängen. Die Sprache der Figuren sowie jene der Erzählinstanz sind weitgehend einheitlich, ohne diastratische oder diatopische Variation. Als romantische, tugendhafte und noble Helden sind die Figuren nicht besonders nahe an der extratextuellen Alltagswirklichkeit angesiedelt. Dennoch weist der Roman deutlich extratextuelle Bezüge auf, die nicht nur auf Bolivien, sondern ganz Südamerika
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bezogen werden können, etwa die Referenz auf die Unabhängigkeitskriege131 und Emanzipation der Nationen von Spanien. Diese Referenzen durchbrechen an der oben bereits zitierten Stelle die Fiktion132, indem sie scheinbar auf die Lebenswirklichkeit und Epoche der zeitgenössischen LeserInnen Bezug nehmen: „Entonces Bolivia no era lo que es hoy : una nación homogénea, que no comprende ni puede comprender otro sistema que el representativo republicano. Habia vencedores y vencidos : la nacion estaba dividida en dos grandes partidos que se distinguian perfectamente, y las pasiones estaban todavia vivas y palpitantes. [Kursivierung VÖ]“ (Mitre 1847: 121)
Soledad (1847) ist außerdem mit Sommer (1991) als national romance klassifizierbar. Laut Unzueta (2005: 11) ist Soledad (1847) sogar ein prototypischer romance nacional. Sommers (1991) bereits diskutierte These ist, dass in den national romances das Nationenbildungsprojekt nicht über Zwang, sondern über Liebe vorangetrieben wird. Dadurch, dass der implizite Leser mit dem Schicksal der Liebenden133, in diesem Fall Soledad und Enrique sowie Cecilia und Eduardo mitfühlt, wünscht er oder begehrt er zugleich politische Verhältnisse, die eine glückliche Zukunft der Paare erlauben. „To read on, to suffer and tremble with the lovers’ drive toward marriage, family, and prosperity, and then to be either devastated or transported in the end, is already to become a partisan.“ (Sommer 1991: 27). Identifiziert sich der Leser mit den liebenden Figuren, so sehne er sich zugleich nach der Konsolidierung der Nation. Darin – in der Allegorie von Eros und Polis – sieht Sommer (1991) das nation-building-Potenzial der Liebesromane angelegt. Unzueta (2006) formuliert dies in Übereinstimmung mit Sommers (1991) These und in Bezug auf Soledad (1847) folgendermaßen: „La seducción de la imaginación y los corazones de los lectores, por otro lado, es una característica fundamental de los romances nacionales; seguramente su principal mecanismo de subjetivación. [Kursivierung im Original]“ (Unzueta 2006: 248). Das von Sommer (1991) und Dillon (2004) erwähnte bürgerliche Ideal der freien Liebesheirat ist ein in Soledad (1847) zentrales Thema. Die Sympathielenkung auf und potenzielle Identifizierung mit den liebenden Figuren (Soledad, Enrique, Cecilia und Eduardo) ist im Romantext klar angelegt, wie oben gezeigt wurde. Dennoch kann mit Sommer (1991) nicht erklärt werden, weshalb gerade Soledad und Enrique sowie Cecilia und Eduardo ein Paar werden. Um die nationale Dimension des Romans erfassen zu können, müssen Freiheit und Nation als der zentrale Konflikt (Soledad vs. Ricardo) sowie die Figurenkonstellation bestimmender Faktor in den Blick genommen werden. Der Liebesplot wird in dieser Arbeit daher, neben den oben diskutierten Strategien, als ein Mittel der Sympathielenkung und als Identifizierungsstrategie, das mit Sommer (1991) auf der Ebene des Begehrens angesiedelt ist, verstanden, das aber für sich genommen den Plot des Romans nicht erklären kann.
131 In diesem Zusammenhang werden auch historische Persönlichkeiten genannt. 132 Hoy ist dann nicht mehr auf die erzählte Welt bezogen, sondern auf die außerliterarische Welt.
133 In Soledads (1847) Fall handelt es sich um keine ethnizitätsübergreifende Liebe, ein Merkmal, das laut Sommer (1991) in der hispanoamerikanischen nation-buildingLiteratur häufig vorkommt.
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In geringerem Ausmaß als im Facundo (1845) und El matadero (1839) wird auch in Soledad (1847) mit Faktizität gespielt (vgl. die oben zitierte Stelle mit direkter Bezugnahme auf die scheinbar heutige Nation). Wie schon im Falle von Facundo (1845) und El matadero (1839) wird dies in der Sekundärliteratur mit dem Hinweis auf das politische Anliegen des Textes erklärt: „El carácter ‚interesado‘ de la novela del siglo XIX, el intento de provocar un impacto en la vida de los lectores, permea varias de las características que la definen, incluyendo una apertura hacia el mercado y hacia audiencias más vastas, marcado didacticismo y un contenido político, social y ‚extra-literario.‘“ [Anführungszeichen im Original] (Unzueta 2005: 12)
Konklusion Nimmt man, wie Sommer (1991) und Unzueta (2005), Liebe und Nation in den Blick, so scheint Soledad (1847) ein typischer romance nacional zu sein, der über die Identifikation des impliziten Lesers mit dem Heldenpaar das Begehren nach der glücklichen Zukunft des Paares wie der künftigen Nation weckt. Der Liebesplot bildet ein wichtiges Mittel zur Identifikation des Lesers und kann die Projektion der Nation in die Zukunft mithilfe der Ebene des Begehrens erklären. Dennoch erklären das allegorische wechselseitige Zusammenspiel von Liebe und Nation in Soledad (1847) die kausale Struktur des Plots nicht hinreichend. Dass Soledad und Enrique füreinander bestimmt sind und der Plot mit der glücklichen, freien Liebesheirat zwischen den moralisch erhabenen Helden endet, wird, so die These, vor allem dann plausibel und als kausal verknüpft erklärbar, wenn die Dimension der Freiheit in den Blick genommen wird. Soledad, ‚passive‘ Heldin, die ihre libertad del corazón verteidigt, wird nicht nur von ihrem dem Kolonialregime zugewandten, sondern auch ihre emotionale Freiheit bedrohenden Ehemann unterdrückt. Enrique ist dahingehend mit der Nation verknüpft als er für ihre Freiheit (Unabhängigkeit) kämpft. Die für die Konstruktion der Nation zentralste Figur scheint jedoch Eduardo zu sein. Die Schaffung einer neuen, jungen Generation mit glücklicher Zukunft in der freien Nation wird dadurch erreicht, dass Eduardo zum Nationsangehörigen ‚erzogen‘ wird. Es stehen sich dadurch nicht einfach Figurengruppen, die sich nach ihrer Einstellung zu Freiheit und Nation differenzieren lassen, einander gegenüber. Vielmehr wird der Vorgang der Einigung der Nation (d.h. der jungen Figuren) exemplarisch an der moralischen Bildung Eduardos durchgespielt, ja ein Weg aufgezeigt, wie die ersehnte ‚homogene‘ Nation geschaffen werden kann. Eduardos Figur wird in Soledad (1847) bedeutend mehr Präsenz zugestanden als Enrique, die Überwindung seines Egoismus kann als das zentrale Nebenthema des Textes bezeichnet werden. Die Erzählinstanz wendet sich demonstrativ dem impliziten Leser zu, als sie die Figur in die erzählte Welt einführt. Das betreffende Zitat sei hier nochmals angeführt: „Antes de pasar mas adelante, seria muy del caso que mis lectores hiciesen un conocimiento mas intimo con D. Eduardo Lopez, y usando de las prerogativas del novelista, que todo lo sabe, vamos á ponerlo al corriente de sus antecedentes, como lo hemos hecho ya con sus pensamientos.“ (Mitre 1847: 116)
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Und der moralische Konflikt Eduardos ist Thema mehrerer vertiefter Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt der Hauptfiguren (Cecilias Brief, Eduardos Brief an Adolfo, Soledads Tagebuch, Eduardos Brief an Soledad) sowie des Höhepunkts des Romans, dem Duell zwischen Enrique und Eduardo134. In Enriques Gedankenwelt kann der implizite Leser hingegen nicht in vergleichbarer Weise eintauchen. Und Soledad scheint ein Teil (ihrer Zukunft) zu fehlen, als Eduardo sich auf den Weg macht: „La joven le miraba con encanto, y cuando le vió desaparecer le pareció que le faltaba algo, como si le arrebatasen la mitad de su porvenir. [Kursivierung VÖ]“ (Mitre 1847: 123). Das Thema der moralischen Erziehung als wichtiger Aspekt bei der Konstruktion der Nation ist also in Mitres Soledad (1847) wie in seinen Profesiones de fe y otros escritos (1852) präsent. Ist die allegorische Verbindung von Liebe und Nation ein zentrales Mittel der Rezeptionssteuerung, so konnten darüber hinaus weitere Strategien der literarischen Inszenierung von Freiheit und Nation in Soledad (1847) identifiziert werden. Davon ist wohl die Etablierung eines harmonischen, in sich kohärenten Normen- und Wertesystems durch die explikativ135 und evaluativ kommentierende Erzählinstanz sowie die Übereinstimmung von ihren Werturteilen mit der Figurenrede am markantesten. Die als erstrebenswert gezeichneten Normen und Werte bleiben in der erzählten Welt unhinterfragt136. Wenn auch die Erzählinstanz ihre eigene Meinung zu Freiheit und Nation nicht explizit kundtut, so bewertet sie die Meinungen der Figuren auf eindeutige Weise. Diese Bewertungen geben dem impliziten Leser in Kohärenz zur Sympathielenkung und der Figurenkonstellation einen Wertekonsens als Beurteilungskontext vor und sind in Form der Leseranrede direkt an diesen adressiert. Die Perspektivenwechsel in Form von Briefen und Tagebuch bestätigen dieses Weltbild in einem scheinbar authentischen, intimeren Zugang zur Gefühlswelt der Figuren, während der Wechsel der Erzählinstanz zur Dienstbotin Marta dem impliziten Leser die tiefe Bewegtheit der Figuren über das Schicksal der Heldin vor Augen führt137. Diese rezeptionslenkenden Mittel legen dem impliziten Leser die Identifikation mit den sympathischen, heldenhaften Figuren, die zugleich die Repräsentanten von Freiheit und Nation sind, nahe. 134 Der moralisch entwickelte Eduardo als wichtiges Element zum Aufbau der freien Nation ist es auch, der den Blick in die Zukunft formuliert: „Lucirán para la América dias mas hermosos, y entonces nuestros nietos bendecirán la obra de nuestros abuelos […]“ (Mitre 1847: 122). Allerdings ist zu diesem Zeitpunkt der Erzählung noch nicht ganz klar, ob diese Aussage Teil Eduardos Annäherungsstrategie ist oder tatsächlich dessen Meinung entspricht. 135 Die Erklärungen der Erzählinstanz dienen mitunter der Definition und Konstruktion des Eigenen (Natur, Bräuche, Geschichte, Nationenbild), sowohl im Hinblick auf die Geschichte (1826) als auch auf den zeitgenössischen Leser (1847). 136 Dies impliziert noch keine Schlüsse auf die reale Rezeption des Textes, die z.B. aufgrund der Vielstimmigkeit in literarischen Texten, die ja durch die zitierte Figurenrede in Soledad (1847) ausgeprägt ist, die immer auch die Deutungsmöglichkeiten multipliziert, die monarchistische Sicht Ricardos und seine Kritik am kriegerischen Zustand der Nation aufgrund der caudillo-Herrschaft als zutreffender beurteilen könnte. 137 Die späte namentliche Nennung des Ehemanns kann hingegen als gegen die Figur gerichtete Rezeptionslenkung verstanden werden.
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J OSÉ M ÁRMOL Einordnung und Struktur des Werks Amalia wurde ab 1851 in La Semana als folletín im uruguayischen Exil veröffentlicht. Als die Entscheidung der Schlacht von Caseros und der Sieg über Rosas bekannt wurden, unterbrach Mármol die Herausgabe der Zeitung und damit die Arbeit am Roman und kehrte nach Buenos Aires zurück. Sein frühzeitiges Ende fand der Roman am 9. Februar 1852 im zwölften Kapitel des letzten Teils (Teil 5). Erst 1855 erschien der gesamte Romantext138. (Fernández 2010: 41) Hier wird die Ausgabe von Teodosio Fernández konsultiert, die 2010 im Cátedra-Verlag erschien. Sie stützt sich auf die Ausgaben von 1862 aus Leipzig (F.A. Brockhaus) und von 1874 aus Paris (Garnier), die weitgehend der 1855 von Mármol vorbereiteten Publikation der Imprenta Americana entsprechen. Der etwa 775 Seiten umfassende Roman ist in fünf große Teile gegliedert, die in insgesamt 77 Kapitel unterteilt sind und von einer Explicación und einer Especie de epílogo umrahmt werden. Wie in Soledad (1847), bildet in Amalia (1855) der Name der Heldin den Titel des Werks139. César Aira (2001) schreibt über Amalia (1855): „[…] es un clásico indiscutible de la literatura argentina y una de las más legibles novelas románticas americanas.“ (Aira 2001: 345). Analyse von Amalia nach einzelnen narratologischen Kategorien Der Roman beginnt am 4. Mai 1840, endet am 6. Oktober 1840 und spielt mit Ausnahme eines Schauplatzwechsels des Helden, der nach Montevideo übersetzt, um sich mit der Anti-Rosas-Bewegung zu treffen, in Buenos Aires. Zu jener Zeit erhebt sich die Opposition zum Rosas-Regime und vereint sich zum bewaffneten Widerstand u.a. im Heer von Lavalle. Die Repression durch das Regime erfährt indes eine deutliche Verschärfung, was viele zur Emigration bewegt. Vor diesem Ambiente spielt die Geschichte einer fiktiven Gruppe junger, gut aussehender, gut gebildeter, intelligenter und moralisch erhabener Figuren – der Held Daniel, dessen Cousine Amalia, sein Freund Eduardo sowie Daniels Geliebte Florencia –, die gegen das föderale Rosas-Regime ankämpft und versucht, ihrem Schicksal zu entrinnen. Die föderalen Figuren sind weitestgehend historischen Persönlichkeiten nachempfunden: Rosas, dessen Tochter Manuela, dessen Schwägerin María Josefa Ezcurra sowie seine Geschwister, die Mashorca und die Sociedad Popular Restauradora, sämtliche Vertraute, Minister und Unterstützer des Regimes, darunter die fiktive Figur eines Priester (el cura Gaete), der das Haus von Doña Marcelina frequentiert140. Des Wei138 Zu den teils erheblichen Unterschieden zwischen der Fassung von 1851 und jener von 1855 vgl. Curia (2010a).
139 Anders aber als in Soledad (1847), steht Amalia (1855) nicht alleine im Mittelpunkt, wie in der Folge gezeigt wird, denn Daniels Präsenz als Held des Romans ist mindestens so stark ausgeprägt. Mit der Titelgebung erfolgt daher eine Akzentsetzung auf Amalias Konflikt und deren Liebesgeschichte mit Eduardo. 140 Der Klerus und dessen Verbundenheit mit dem föderalen Regime wird in Amalia (1855) einer harschen Kritik unterzogen: „En los brazos de los federales, de los federales dignificados con la casaca de nuestros generales, o con el bastón de nuestros magistrados, pero
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teren sind die in Buenos Aires residierenden Botschafter Frankreichs, Großbritanniens141 und der USA142 zu erwähnen. Im Umfeld der ersten Figurengruppe sind der Vater Daniels, Antonio Bello, die Mutter Florencias, Madama Dupasquier, der maestro de primeras letras Daniels und Eduardos, Don Cándido, ihr Universitätslehrer doctor Alcorta, die Exil-Unitarier in Montevideo, die Unterstützerin der RegimeGegner und Kupplerin Doña Marcelina sowie die treuen Diener Amalias (Pedro und die kleine Luisa) sowie Daniels (Fermín) zu nennen. Der Plot setzt mit dem Fluchtversuch von fünf Gestalten ein, die dem Regime über den La Plata nach Montevideo entkommen wollen. Wie sich später herausstellen sollte, ist eine der fünf Gestalten Eduardo. Sie werden von Merlo, einem Mitglied der Sociedad Popular Restauradora in eine Falle geführt und von den Föderalen plebeyos y corrompidos de corazón, el retrato del dictador fue conducido hasta los templos, y recibido en la puerta de ellos por los sacerdotes en sobrepelliz; [...]“ (Mármol 1855: 552); „Así: el clero se prostituía. El sentimiento religioso se pervertía en la sociedad. […]“ (Mármol 1855: 554). Am eindrucksvollsten geschieht dies mithilfe der Figur des cura Gaete, die aufs Korn genommen wird. Daniel und Dón Cándido treffen unerwartet im Haus von Doña Marcelina aufeinander. In der Dunkelheit kann Gaete die beiden Figuren nicht erkennen. Als es Daniel gelingt, Gaete zu überwältigen, lässt er seiner Meinung über den cura freien Lauf: „—Usted, mal sacerdote, federal inmundo, hombre canalla: usted a quien yo debería ahora mismo pisarlo como a un reptil ponzoñoso y libertar de su aspecto a la sociedad de mi país, pero cuya sangre me repugna derramar, porque me parece que su olor me infectaría. Os siento temblar, miserable, mientras mañana levantaréis vuestra cabeza de demonio para buscar sobre todas las otras la que no podéis ver en este momento, y que, sin embargo, es bastante fuerte por sí sola, pues que os hace temblar, a vos que subís a la cátedra del Espíritu Santo con el puñal en la mano, y lo mostráis al pueblo para excitarlo al exterminio de los unitarios, de quienes el polvo de su planta es más puro y limpio que vuestra conciencia...“ (Mármol 1855: 259). Doch Gaete sollte Daniel später bei einem zufälligen Treffen auf der Straße an seiner Stimme wiedererkennen. Um der Denunzierung Daniels durch den cura Einhalt zu gebieten, stellt Daniel ihm später eine Falle. Die Erzählinstanz nimmt aus ihrer Kritik lediglich die Jesuiten aus: „En el cataclismo a que habían caído, arrojados por la mano de Rosas, todos los principios de la constitución moral social y política del cuerpo argentino, la religión no podía librarse del sacudimiento universal, porque sus representantes en la tierra son hechos, por desgracia, de la misma cera modificativa que los profanos. Exhaustas las fuentes purísimas del cristianismo, la justicia, la paz, la fraternidad, la tolerancia, la religión divina no encontró en Buenos Aires otros hijos dignos de su severo apostolado, que los padres de la Compañía de Jesús.“ (Mármol 1855: 551). 141 Der britische Botschafter wird als ergebener und unterwürfiger Diener Rosas’ dargestellt (vgl. v.a. Kapitel VII des ersten Teils und Kapitel XII des dritten Teils). Die jungen Protagonisten kritisieren, dass für Europa die Situation am La Plata keine Priorität hat. Die fehlende Unterstützung aus Europa bemängelt Daniel auch in einem Brief an M. Martigny: „[…] son otros tantos títulos de reconocimiento hacia esas excepciones nobles de la Europa, que tan mal nos comprende y peor nos quiere.“ (Mármol 1855: 657). 142 Die USA gilt Daniel als Vorbild für Argentinien. Zum US-Botschafter, Mr. Slade, sagt er anerkennend: „—Es usted el tipo más perfecto de la nación más libre y más democrática del siglo XIX.“ (Mármol 1855: 797).
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überrascht. Eduardo kann aufgrund seiner heldenhaften Verteidigungsversuche, v.a. aber aufgrund des plötzlich wie aus dem Nichts auftauchenden Daniels, als einzig Überlebender entkommen, ist jedoch schwer verwundet und von nun an Ziel der föderalen Vergeltung143. Zunächst im Haus von Daniels Cousine Amalia untergebracht, die von Tucumán nach Buenos Aires zog und einsam und verwitwet im Stadtteil Barracas lebt, befinden sich die Protagonist/innen in höchster Gefahr. Es beginnt eine gegenseitige Spurenaufnahme. María Josefa und die Mashorca stellen Untersuchungen zum Aufenthaltsort des flüchtigen Eduardo an, während Daniel herauszufinden versucht, auf welchem Wissenstand sich die Ermittlungen bereits befinden. Daniel unterhält aufgrund seines Vaters gute Kontakte zu ranghohen Föderalen. Mithilfe seines Scharfsinns, Geschicks und seiner Eloquenz schafft er es stets, wichtige Informationen zu erlangen144 und seine Freunde aus lebensbedrohlichen Situationen zu befreien145. Als engste Unterstützer gelten neben seinen Freunden sein Diener, der gaucho Fermín, sowie die aufgrund ihrer übermäßigen Angst und ihres Wortwitzes komische Figur Don Cándido146, dem maestro de primeras letras Daniels. Daniel arbeitet, so die Erzählinstanz, trotz seiner Isolation einen Gesamtplan zur Verschwörung gegen Rosas aus (Mármol 1855: 216). Der Held arbeitet an der Verschwörung gegen Rosas, etwa als Informant für die Exil-Argentinier in Uruguay147, organisiert 143 Dass Rosas aufgrund eines einzigen Entkommenen eine groß inszenierte Jagd beginnen
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lässt, rechtfertigt er selbst folgendermaßen: „—Sí, señor, es preciso hallarlo, porque una vez que la mano del gobierno toque la ropa de un unitario, es necesario que el unitario no pueda decir que la mano del gobierno no sabe apretar. En estos casos, la cantidad de hombres poco importa; tanto mal hace a mi gobierno un hombre solo que se burle de él, como doscientos, como mil.“ (Mármol 1855: 147). So schickt er seine geliebte Florencia, die mit María Josefa Ezcurra verwandt ist, am Tag nach dem Vorfall des 4. Mai ins Haus der Schwägerin Rosas’, damit diese herausfinde, was die wohl eifrigste Verfolgerin der Unitarier bereits über den Verletzten in Erfahrung bringen konnte oder er setzt Don Cándido als Schreiber des Außenminister und späteren gobernador delegado Felipe Arana ein, um an Abschriften offizieller Dokumente zu kommen. Ein Schreiben, das Daniel zum Schutz Amalias von Manuela Rosas erbittet, sollte beispielsweise föderale Truppen in letzter Sekunde vom Stürmen des Hauses, in dem sich Amalia, Eduardo, Pedro und Luisa befinden, abhalten, nachdem diese bereits die Fenster eingeschossen und beinah die Tür eingebrochen hatten. Es ist Luisa, die sich nach einem Gebet an das rettende Schreiben erinnert. (Mármol 1855: 744-749) Es sei an dieser Stelle auf den intertextuellen Bezug zu Voltaires Candide ou l’optimisme (1759) aufmerksam gemacht. In Amalia (1855) ist mit Don Cándido ebenfalls eine tollpatschige, moralisch gute Figur zu finden, die sich eher zufällig in brenzlige Situationen bringt und diesen auf dieselbe Art und Weise entkommt. Damit ist Don Cándido das Gegentstück zum verantwortungsbewussten, selbstbewussten, seriösen und selbstbeherrschten Daniel. „—Olvidáis, señor Martigny, que hace un año os suministro a vos, y, como debéis saberlo, a la Comisión Argentina y a la prensa, todo cuanto es necesario para ilustraros, no sólo sobre la situación en Buenos Aires, sino sobre los actos más reservados del gabinete de Rosas.“ (Mármol 1855: 371). Die Comisión Argentina war eine Art unitarische Exilregierung der Republik Argentinien in Montevideo (Fernández 2010: 371, Fußnote 192); Bou-
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heimliche Überfahrten nach Montevideo, versammelt junge Oppositionelle in Geheimtreffen und versteht es, in zahlreichen persönlichen Gesprächen und öffentlichen Reden ein Intrigennetz in den föderalen Kreisen zu spinnen, von dem er hofft, dass es zu gegenseitigem Misstrauen und zur Selbstzerstörung der föderalen Elite führt148. In der Zwischenzeit entwickelt sich zwischen dem verletzten Eduardo und Amalia, die ihn in ihrem Haus versteckt und pflegt, eine Liebesgeschichte. Die beiden Liebespaare (Daniel und Florencia sowie Eduardo und Amalia) träumen davon, in der Zukunft glücklich unter einem Dach in einer freien argentinischen Nation ohne Einschüchterung, Repression, Terror und Blutvergießen zu leben. Daniel kann seine Florencia, die er bald heiraten soll, und deren Mutter nach Montevideo bringen und den beiden das Leben retten. Lavalle befindet sich mit seinem Heer kurz vor Buenos Aires und die Befreiung der Stadt steht unmittelbar bevor, während der föderale Terror wächst. Doch die Nachricht, Lavalle habe sich zurückgezogen, führt auch bei dem unermüdlich für seine Nation kämpfenden Daniel zur Einsicht, dass nur die Emigration als Ausweg bleibt. Als Daniel Amalia, Eduardo und sich selbst in Sicherheit bringen will, stürmen die Föderalen das Haus der am selben Abend Vermählten (Amalia und Eduardo) – die Ermittlungen der Föderalen und das Misstrauen gegen Daniel sind mittlerweile so stark angewachsen, dass seine brillanten Reden nicht mehr von Nutzen sind – und richten ein Blutbad an. Amalia muss mitansehen, wie Eduardo vor ihren Augen geköpft wird, Daniel wird wird schwer am Kopf verletzt und sein Diener Pedro wird getötet. Daniels Vater, der bislang nur in Erzählungen vorgekommen ist und auf dem Land lebt, steht plötzlich am Ort des Geschehens und schlägt die Angreifer im Namen des Restaurador in die Flucht. Daniel sinkt in die Arme seines Vaters und bittet ihn um die Rettung Amalias. Ob der Held seinen Verletzungen erliegt, wird im Roman offen gelassen. Aufgrund des umfangreichen Figureninventars können hier nur einige Figuren exemplarisch dargestellt werden. Daniel Bello als den Helden des Romans zu bezeichnen, liegt nicht nur aufgrund des dargestellten Plots nahe, sondern auch aufgrund der Rolle, die ihm im Roman explizit zugewiesen wird149. Noch bevor die Figuren vorgestellt werden – es ist zunächst nur das Gespräch zwischen zwei der fünf Figuren, die zu Beginn des Romans ins Exil fliehen wollen zu verfolgen – heißt es in chet Martigny war „Cónsul General, Encargado de Negocios y Plenipotenciario de Su Majestad el Rey de los Franceses, y la Comisión Argentina [Kursivierung im Original]“ (Mármol 1855: 522). 148 Auf einem Ball zu Ehren der Tochter Rosas’, Manuela Rosas, hält Daniel z.B. eine flammende Rede vor den föderalen Größen und stachelt sie dazu an, die versteckten Unitarier unter ihnen ausfindig zu machen: „—Señores, bebo por el primer federal que tenga la gloria de teñir la puñal en la sangre de los esclavos de Luis Felipe que están entre nosotros, de espías unos, de traidores otros, y de salvajes unitarios todos, esperando el momento de saciar sus pasiones feroces en la sangre de los nobles defensores del héroe de la América nuestro Ilustre Restaurador de las Leyes.“ (Mármol 1855: 352). Er ist dabei so überzeugend, dass selbst der einstige Unitarier General Mansilla keinen Zweifel an der politischen Gesinnung Daniels hat und eine andere Absicht hinter seiner Rede vermutet als jene, die föderale Sache voranzutreiben. 149 „Y mientras nuestro héroe sigue corriendo y riéndose como un muchacho, [...]“ (Mármol 1855: 607).
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der Figurenrede einer der Gestalten in Bezug auf Daniel150: „—Ni lo uno, ni lo otro. Al contrario, su valor raya en temeridad, y su corazón es el más puro y noble de nuestra generación.“ (Mármol 1855: 66). Daniel ist 25 Jahre alt und wird als außerordentlich gut aussehend und intelligent beschrieben: „[…] este joven, de una fisonomía en que estaba el sello elocuente de la inteligencia, como en sus ojos la expresión de la sensibilidad de su alma […]“ (Mármol 1855: 104). Er ist der Sohn von Antonio Bello, einem reichen Landbesitzer aus dem Süden, dessen gemeinsame Interessen ihn mit der Familie Anchorena verbinden. Diese wiederum ist aufgrund ihres unermesslichen Reichtums, politischer und verwandtschaftlicher Beziehungen eng mit Rosas verbunden. Obwohl ein hombre de campo, wird Daniels Vater als aufrichtiger, ehrlicher Mann beschrieben, der schon lange vor Rosas föderale Ideen vertrat und dem die Liebe zu seinem Sohn wichtiger ist als die Liebe zur Föderation. Daniel ist sehr gut gebildet, verfügt über eine umfangreiche Bibliothek und genießt eine universitäre Ausbildung u.a. unter Diego Alcorta151 im Fach Rechtswissenschaften, setzt seine universitäre Tätigkeit aber seit einigen Monaten aus. (Mármol 1855: 104, 105) Schwierige Situationen löst er mithilfe von Ironie und Humor: „Y así se le veía en las circunstancias más difíciles, en los trances más apurados, mezclar a lo serio la ironía, a lo triste la risa, y lo más grave, aquello que era la obra misma de su alta inteligencia, picarlo un poco con los alfileres del ridículo.“ (Mármol 1855: 271). In Gefahrensituationen behält er die Ruhe, ist mutig und verfügt über ein hohes Vorstellungsvermögen; in der Liebe ist er jedoch schwach und leidenschaftlich (Mármol 1855: 271). Er ist sehr von sich überzeugt152 und strahlt daher inmitten all der Angst und Unsicherheit, die in Buenos Aires unter den Regimegegnern herrscht, Sicherheit und Schutz aus. Während Amalia, die weibliche Heldin des Romans, im ersten Teil keine hohe Präsenz aufweist, entwickelt sie sich parallel mit ihrer Liebe zu Eduardo zur mutigsten weiblichen Figur der Rosas-Opposition153. Amalia ist 20 Jahre alt und ihre umwerfende Schönheit wird ihr von sämtlichen Figuren bestätigt. „En ese momento, Amalia no era una mujer: era una diosa de ésas que ideaban la poesía mitológica de los griegos. Sus ojos entredormidos, su cabello suelto, sus hombros y sus brazos descubiertos, todo contribuía a dar mayor realce a su belleza.“ (Mármol 1855: 242). Sie ist die Tochter des coronel Sáenz; ihr Diener Pedro hatte unter ihm von der Schlacht von Salta bis Junín gedient, wo Sáenz fiel. (Mármol 1855: 88) Mit sechzehn Jahren 150 Nicht nur an dieser Stelle, sondern unzählige Male wird die Charakterisierung Daniels durch die Erzählinstanz von anderen Figuren, sowohl föderalen als auch unitarischen, bestätigt. Stets wird sein Talent hervorgehoben. 151 Alcorta lehrte Recht und Medizin und gab seinen Lehrstuhl in Philosophie an der Universität Buenos Aires auf, nachdem Rosas zum mit allumfassender Macht ausgestatteten Herrscher ernannt wurde (Fernández 2010: 89; Fußnote 26). 152 „Este hombre [der Präsident der Sociedad Popular Restauradora] y todos los demás de su especie, devorarían a Rosas sin saberlo ellos, si solamente hubiera tres hombres como yo que me ayudasen a conducirlos: uno en la campaña, otro en el ejército, otro cerca de Rosas y yo en todas partes como Dios, o como el diablo…“ (Mármol 1855: 109). 153 Für die Darstellung Amalias und der anderen weiblichen Figuren im Roman sowie deren Einordnung in die gezeichnete liberale und nationale Gesellschaftshierarchie nach Genderaspekten vgl. Österbauer (2017).
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heiratete Amalia auf Wunsch ihrer Mutter den señor Olavarrieta, der ein Freund der Familie war und den Amalia als Freund und Beschützer ansah. Ein Jahr nach der Hochzeit verstarb ihr Mann und bald darauf auch ihre Mutter154. Sie wird als einsam und allein in der Welt und mit melancholischem Gemüt beschrieben. (Mármol 1855: 240, 241) Daniel und Eduardo pflegen eine sehr enge, brüderliche Freundschaft (Mármol 1855: 76). Eduardo ist ein Neffe von Manuel Belgrano155, der schon 1806/07 gegen die englischen Truppen gekämpft hatte und sich später in den Unabhängigkeitskriegen einen Namen machte (Mármol 1855: 88). Auch er gilt als melancholisch156 und impulsiv. Nicht nur aufgrund seiner Verletzungen muss er sich im Kampf gegen Rosas zurückhalten. Eduardos Verstand reicht auch nicht an den herausragenden Scharfsinn Daniels heran. Ähnlich ist das Verhältnis zwischen Amalia und Florencia, die als nicht weniger schön beschrieben wird157, aber nicht in Tapferkeit und Mut, den Amalia an Eduardos Seite beweist, vergleichbar ist. Ganz im Gegensatz dazu fällt die Charakterisierung der föderalen Figuren aus. Rosas158 wird als dictador argentino vorgestellt und als Figur hauptsächlich im Dialog charakterisiert, etwa in den folgenden beiden Stellen: „—¿Y vio si tenían papeles? —preguntó Rosas, en cuyo semblante no pudo conservarse por más tiempo la careta de la hipocresía, brillando en él la alegría de la venganza satifecha, al haber arrancado con maña la horrible verdad que no le convenía preguntar de frente.“ (Mármol 1855: 138)
154 Amalia (1855) wird für ihre elegante und teure Kleidung von anderen Frauen bewundert,
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die ihr erster Ehemann aus Frankreich importieren ließ. Sie scheint aufgrund ihrer ersten Ehe gut situiert. Belgrano war es auch, der die argentinische Flagge schuf (Fernández 2010: 69, Fußnote 11). „El joven levantó al cielo unos grandes y rasgados ojos negros, cuya expresión melancólica se convenía perfectamente con la palidez de su semblante, iluminado con la hermosa luz de los viente y seis años de la vida.“ (Mármol 1855: 67). „Y era esta joven de diecisiete a dieciocho años de edad, y bella como un rayo del alba, si nos es permitida esta tan etérea comparación. Los rizos de un cabello rubio y brillante como el oro [...]. Frente espaciosa e inteligente, ojos límpidos y azules como el cielo que los iluminaba [...]“ (Mármol 1855: 177); „La señorita Dupasquier estaba encantadora, pero era una belleza conocida ya, en tanto que Amalia era la primera vez que se presentaba en público. Y la novedad, esta reina despótica de la sociedad, hacía alianza con la radiante hermosura de Amalia para cautivar la mirada y el entusiasmo de todos.“ (Mármol 1855: 303). Er wird folgendermaßen in die erzählte Welt eingeführt: „El primero era un hombre grueso, como de cuarenta y ocho años de edad, sus mejillas carnudas y rosadas, labios contraídos, frente alta pero angosta, ojos pequeños y encapotados por el párpado superior, y de un conjunto, sin embargo, más bien agradable pero chocante a la vista.“ (Mármol 1855: 119).
436 | F REIHEIT UND N ATION „—¿Y por qué no vio? —dijo Rosas con un acento de trueno, y dominando con el rayo de sus ojos la fisonomía de Cuitiño, en que estaba la abyección de la bestia feroz en presencia de su domador.“ (Mármol 1855: 139)
Die föderalen Figuren werden häufig mit Schlachtern159 und mit dem Fleischkonsum160 assoziiert, manche von ihnen werden auch als besonders schwer von Begriff gezeichnet, so etwa der Präsident der Sociedad Popular Restauradora. „Estaba en la pieza contigua a la sala, sentado a los pies de un gran catre que le servía de cama, aprendiendo de memoria una especie de discurso de veinte palabras que le repetía por la vigésima vez un hombre que era precisamente el antítesis en cuerpo y alma del coronel Salomón; y este hombre era Daniel [...]“ (Mármol 1855: 228, 229)
Freiheit und Nation Aus dem oben Dargestellten ist bereits deutlich geworden, dass Amalia (1855) einen Liebesplot aufweist, der mit dem Kampf der moralisch guten Figuren gegen das Rosas-Regime verknüpft ist. So verstanden, ist die allegorische Verbindung von Eros und Polis (vgl. dazu weiter unten) nicht notwendigerweise auf die Nation bezogen, sondern mit dem Widerstand gegen ein tyrannisches Herrschaftssystem, das es zu überwinden gilt, damit das ungetrübte Glück der Liebenden möglich wird. In der Sekundärliteratur161 ist darauf hingewiesen worden, dass der eigentliche Plot auch ohne die ergänzenden Kommentare zur Nation auskäme. Demgegenüber soll hier in der Folge den im Text enthaltenen Dimensionen von Freiheit und Nation nachgegangen und gefragt werden, inwieweit sie mit Plot und Figuren der erzählten Welt verknüpft sind. Um mit Freiheit zu beginnen, ist anzumerken, dass Libertad ein äußerst häufig benutzter Begriff innerhalb des umfassenden Romantextes ist. Zum einen lässt sich eine Verwendung des Freiheitsbegriffes ohne nähere Spezifizierung feststellen, die mit dem Wunsch, Rosas zu besiegen einhergeht, d.h. im Sinne von ‚Befreiung von der Tyrannei‘. Ironisch wird dieser, eigentlich der Föderation entgegengesetzte Freiheitsbegriff, im folgenden Zitat mit der Unterdrückung von Freiheit (die symbolisch im roten Band der Föderation zum Ausdruck kommt) gleichgesetzt: „[…] la cintita roja, adorno oficial impuesto bajo terribles penas por el Restaurador de las libertades argentinas.“ (Mármol 1855: 303). Diese Begriffsverwendung stellt ‚Freiheit‘ dem 159 So etwa Merlo, der carnicero war (Mármol 1855: 145). Im Figurendialog zwischen einer vehementen Unitarierin und Amalia auf dem Ball, bringt erstere die Verbindung von Schlachten, Fleischkonsum und Mord zum Ausdruck: „—¿Aquellos? ¡Ah!, el primero es el coronel Santa Coloma, carnicero a la vez que coronel. —¿Sí? —Carnicero de animales y de gente.“ (Mármol 1855: 311). 160 In einer Szene des gemeinsamen Abendessens von Rosas, seiner Tochter und seinem bufón, einem kleinwüchsigen ‚Mulatten‘ („[…] en cuyo conjunto de facciones informes estaba pintada la degeneración de la inteligencia humana“ (Mármol 1855: 126)), den er als Priester einkleiden ließ und mit Su Paternidad anspricht, wird Rosas als fleischhungrig gezeichnet: „[…] su padre comía tajada sobre tajada de carne, rodando los bocados con repetidos tragos.“ (Mármol 1855: 130). 161 Vgl. dazu etwa Oviedo (2001: 42, 43).
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Despotismus Rosas’ gegenüber und ist die am häufigsten im Roman verwendete Form des Bezuges auf Freiheit. In Daniels Figurenrede ist die erwähnte Gegenüberstellung von ‚Freiheit‘ und ‚Despotismus‘ nachzuvollziehen. Dass ein freiheitsvernichtendes Regime in einem Volk möglich ist, das 1810 so vehement für seine Freiheit gekämpft hat, führt Daniel auf den unreifen Charakter des Volkes, v.a. jenes von Buenos Aires, zurück: „Además, Eduardo, yo soy porteño; hijo de esta Buenos Aires cuyo pueblo es por carácter el más inconstante y veleidoso de la América, donde los hombres son, desde que nacen hasta que se mueren, mitad niños y mitad hombres, condición por la cual buscaron el despotismo por el gusto de hacer una inconstancia a la libertad.“ (Mármol 1855: 331)
Nicht nur Rosas und dessen Konzept der föderalen Herrschaft zeichnet also in der Kritik des Helden für die freiheitsfeindliche Situation in Buenos Aires und Argentinien verantwortlich, sondern auch die moralische Beschaffenheit des Volkes. Immer wieder kehrt das Thema des in Buenos Aires herrschenden Egoismus als Feind von Freiheit wieder, hier in der Figurenrede Daniels, der erste Zeichen von Egoismus bei seinem Freund Eduardo ausmacht: „¿Quieres que te pruebe cómo las inteligencias más altas descienden de las ideas más sociales a un sentimiento de individualidad y de egoísmo?“ (Mármol 1855: 331). Buenos Aires als Kopf der Nation scheint Daniel für die Zukunft ganz Argentiniens entscheidend zu sein: „[…] Buenos Aires es la República Argentina para la libertad como para la tiranía […]“ (Mármol 1855: 379). Dies ist auch der Grund, weshalb er nicht schon früher versucht zu emigrieren und seine gleichgesinnten Freunde davon überzeugen will, von Buenos Aires aus für die Befreiung der Patria zu kämpfen, nicht durch Emigration oder Anschluss an das Heer Lavalles. Zusätzlich zu einer dem Despotismus gegenübergestellten Freiheit werden in der Figurenrede jener Gestalten, die versuchen, das Land zu verlassen, individuelle Freiheiten in den Vordergrund gerückt (u.a. Meinungsfreiheit): „[…] Pero dejemos esto porque en Buenos Aires el aire oye, la luz ve, y las piedras o el polvo repiten luego nuestras palabras a los verdugos de nuestra libertad.“ (Mármol 1855: 67). Die Freiheit der Patria wird an zahlreichen Stellen des Romans mit den leyes in einem Atemzug genannt: Es geht den jungen Protagonisten um die Etablierung gesetzlich162 (oder konstitutionell163) gesicherter Freiheit (Freiheit vom Staat). Dass damit nicht nur eine 162 „—Así —dijo [Daniel] después de una breve pausa—. ¡Así!, sacrílego: ministro de ese culto de sangre con que hoy profanan en mi patria la libertad y la justicia.“ (Mármol 1855: 259). 163 Dass die verfassungsmäßig gesicherte Freiheit eine Priorität der Unitarier ist, wird in einem Brief von Tomás Brizuela deutlich: „Nos falta mucho, es verdad, pero sabed que la sinceridad y la buena fe son preferibles a las letras dolosas y la filosofía armada: premunidos con aquella cualidades, arrojémonos a plantar el árbol santo de la libertad, garantizada por una constitución, ante la cual el grande, el pequeño, el fuerte, el débil, queden asegurados en sus derechos y propiedades.“ (Mármol 1855: 468). Brizuela ist Gouverneur und capitán general der Provinz La Rioja und Teil der Verschwörung gegen Rosas, dem dieser Brief von Mandeville, dem britischen Botschafter, in die Hände gespielt wird (Mármol 1855: 467, 468).
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Befreiung der Patria aus der Unterdrückung durch Rosas gemeint ist, wird auch an jener Stelle des Textes deutlich, an der kritisiert wird, dass es mit Freiheit der Nation (d.h. Unabhängigkeit der Nation) alleine nicht getan sei: „La asociación de las ideas, de las virtudes, de los hombres, en fin, no existía en ese pueblo, que creía, con el candor del niño, que bastaba para ser libre, grande y poderoso, y haber sido valiente en las batallas.“ (Mármol 1855: 181). Gerade die Ausschaltung des Gesetzes, die Aufhebung von Freiheitsrechten ist es, die das Zentrum der Kritik an Rosas bildet: „[…] porque el ser clasificado de unitario en Buenos Aires importaba estar puesto fuera de toda ley, y bajo el imperio de todo insulto, de toda desgracia, de todo crimen.“ (Mármol 1855: 722). Als Unitarier, d.h. Regimegegner gleich welcher – nicht unbedingt unitarischer – Gesinnung bezeichnet zu werden, käme einer Aberkennung des Status’ als Rechtssubjekt gleich. Das Individuum kann infolgedessen keine Freiheitsrechte geltend machen; das Regime ist so die Negation von Freiheit schlechthin. Kritisiert wird zudem die Abschottung Rosas’ von Europa sowie die Einschränkung des Handels durch die französische Hafensperre, was für die Befürwortung von wirtschaftlicher und Handelsfreiheit spricht. Als sich Daniel auf seine heimliche Überfahrt von Buenos Aires nach Montevideo begibt, um sich dort mit Exil-Unitariern und anderen Unterstützern des Widerstandes zu treffen, erklärt die Erzählinstanz, dass Daniel und die junge RosasOpposition in Montevideo das pure Gegenteil von Buenos Aires erblicken. In Montevideo sei Freiheit verwirklicht worden: „Pero no era simplemente la bella perspectiva de la ciudad lo que absorbía la atención de ese hombre [Daniel], sino los recuerdos que en 1840 despertaba en todo corazón argentino la presencia de la ciudad de Montevideo: contraste vivo y palpitante de la ciudad de Buenos Aires, en su libertad y su progreso [...]“ (Mármol 1855: 366)
Dort sei infolgedessen ein hoher Bevölkerungszuwachs zu verzeichnen, Handel und Wirtschaft florieren: „[…] en ese Montevideo en donde sólo con dejar hacer, la población se había triplicado en pocos años, desenvuéltose un espíritu de comercio y de empresas sorprendente, y amontonádose cuanto elemento parecía suficiente para dar en tierra con la vecina dictadura.“ (Mármol 1855: 367)
Freiheit sei durch Institutionen gesichert, Montevideo habe sich für Einwanderer geöffnet und frage nach der Leistung seiner Bewohner, nicht nach deren Herkunft, so die Gedanken Daniels, als er in Montevideo ankommt: „[…] allí no se pregunta al hombre de dónde es, sino qué es lo que sabe, y el hombre de cualquier punto del mundo llega allí, las instituciones le protegen, y el comercio o la industria le abren sus copiosos canales al momento: y es así como se han hecho fuertes y ricos. La dictadura argentina les es fatal a su paz, a su libertad y a su comercio, y todos se han unido y marchan juntos contra el obstáculo común [...]“ (Mármol 1855: 367)
‚Freiheit‘ als Begriff ist nicht den Gegnern Rosas vorbehalten. Die Bezugnahme föderaler Figuren auf Freiheit ist zwar ausnehmend gering und steht in keinem Ver-
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hältnis zur Begriffsverwendung der Protagonisten, doch auch Rosas beruft sich auf Freiheit, nicht aber auf gesetzlich gesicherte, individuelle Freiheit, sondern auf Ehre und Freiheit. In einem Brief Rosas’ heißt es: „Altamente complacido el infrascrito por los espléndidos triunfos con que la divina providencia se ha dignado enlucir las armas de nuestra libertad y honor, quedando exterminados los feroces salvajes unitarios [...] [Kursivierung im Original]“ (Mármol 1855: 554)
In der Darstellung im Roman erscheint der Freiheits- und Nationsbegriff der Föderalen stets als den Interessen des Regimes entsprechend ausgerichtet, wobei als oberstes Interesse die Vernichtung der Unitarier inszeniert wird. In der Figurenrede des Abgeordneten García wird ‚Freiheit‘ den Unitariern zugeordnet und deren Freiheitsfieber als schädlich für die Föderation dargestellt: „—¡Ése será el día grande de la patria, el día que se apague esta fiebre de libertad que nos devora —continuó el orador—. Fiebre santa que no se apagará sino con la sangre de los esclavos unitarios.“ (Mármol 1855: 591). Patria wird in der Figurenrede der Föderalen auf das RosasRegime reduziert; der Patria164 zu dienen, bedeutet demnach, Rosas treu zu sein, die Ideale der Föderation zu unterstützen und dem ‚Vater‘ der Föderation zu gehorchen, so etwa in der Figurenrede María Josefas: „—Dicen que va a invadir Lavalle, y es preciso que todos defiendan la Federación, porque todos son sus hijos. Juan Manuel ha de ser el primero que ha de montar a caballo, porque él es el padre de todos los buenos defensores de la Federación.“ (Mármol 1855: 411)
Neben dieser mit dem Plot (dem Kampf gegen das Regime, von dem auch das Glück der Liebenden abhängt) verknüpften Dimension von Freiheit, wird libertad auch an einzelne Figuren gekoppelt, allen voran an den Helden Daniel. Bereits zu Beginn des Romans wird Daniel als libertador165 bezeichnet, weil er Eduardo das Leben rettet. Die Erzählinstanz spricht von Daniel als „[…] aquel joven consagrado con toda su organización a la liberación de su patria […]“ (Mármol 1855: 352, 353), der in diesem Fall mit der ersten genannten Freiheitsdimension, der Befreiung der Nation von der Tyrannei, assoziiert wird. Daniel selbst führt die Freiheitsliebe seiner Generation auf die Bildung, die dieser an der Universität zuteilwurde, v.a. durch seinen Lehrer Diego Alcorta166, zurück, als er mit Eduardo spricht: „Oye: tú, yo, cada joven de nuestros amigos, cada hombre de la generación a que pertenecemos, y que ha sido educado en la universidad de Buenos Aires, es un compromiso vi-
164 Auch Patria wird häufiger von den Regimegegnern verwendet. Die föderalen Figuren benutzen meist den Begriff der ‚Föderation‘.
165 „[…] Daniel cargó de nuevo a Eduardo, que, vuelto en sí de su primer desmayo, hacía una débil fuerza sobre los hombros de su libertador […]“ (Mármol 1855: 76).
166 Alcorta zählt Daniel und Eduardo zu seinen Lieblingsschülern: „—Sí, creamos en Dios y en el porvenir! —dijo Alcorta paseando sus miradas de Eduardo Belgrano a Daniel Bello, dos de sus más queridos discípulos de filosofía, tres años antes, y en quienes veía en ese momento brotar los frutos de virtud y de abnegación que en el espíritu de ellos habían sembrado sus lecciones.“ (Mármol 1855: 99).
440 | F REIHEIT UND N ATION vo, palpitante, elocuente del doctor Alcorta. […] Desde la cátedra, él ha encendido en nuestro corazón el entusiasmo por todo lo que es grande: por el bien, por la libertad, por la justicia.“ (Mármol 1855: 90)
Auch an dieser Stelle wird wieder die Verbindung von Freiheit und dem Guten (el bien) deutlich, so wie die gut gebildete junge Elite generell als moralisch gut und freiheitsliebend inszeniert wird. Auf der von ihm organisierten Geheimversammlung der jungen, noch in Buenos Aires verbleibenden Generation mahnt Daniel ein, dass die Freiheit der Nation nur innerhalb des Landes erkämpft werden könne: „[…] creedme, pues, que el peor sistema que la juventud de Buenos Aires puede adoptar en el deseo que la anima de la libertad de su patria, es el ausentarse de ella.“ (Mármol 1855: 320). Er schwört sein Publikum auf einen unermüdlichen Einsatz für die Freiheit der Patria ein: „—Trabajar, trabajar siempre: un hombre que se consiga ganar para la libertad y la civilización, es al fin un triunfo por pequeño que sea.“ (Mármol 1855: 328). Aber auch die Titelheldin, Amalia, betont immer wieder in ihrer Figurenrede, dass sie frei ist. In diesem Fall ist weniger die Freiheit der Nation gemeint als vielmehr ihre innere Freiheit, worin eine Parallele zu Soledad167 gesehen werden kann: „Y bien —continuó volviendo a levantar su preciosa cabeza—, yo soy libre, señor, perfectamente libre; no debo a nadie cuenta de mis acciones […]“ (Mármol 1855: 281). Aus Kummer, dass ihre geliebten Menschen auf schicksalshafte Weise frühzeitig versterben, zieht sie sich zurück und will ‚frei‘, alleine und unabhängig in ihrem Haus leben. Sie ist eine mutige, für das Leben ihres Eduardo kämpfende Heldin, die sich in ihrem häuslichen Rahmen für die Freiheit der Nation engagiert. Ist sie zunächst zwar frei, aber einsam168, so bezeichnet sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben als glücklich, als sie Eduardo zu lieben beginnt. Die von ihr stark gemachte Freiheit kann so als Freiheit, jenen Mann heiraten zu dürfen, den sie liebt, verstanden werden. „—¡Sí, soy feliz! ¿Por qué negarlo? —prosiguió Amalia —. Un destino cruel parece que esperó mi nacimiento para conducirme en el mundo. Todo cuanto puede hacer la desgracia de una mujer en la vida, lo selló en la mía la naturaleza. La intolerancia de mi carácter con las frivolidades de la sociedad; los instintos de mi alma a la libertad y a la independencia de mis acciones; [...] pero en nuestra sociedad americana tan atrasada, tan vulgar, tan aldeánica puedo decir, es más que un mal, es una verdadera desgracia.“ (Mármol 1855: 359)
167 Diese Parallele wird v.a. im folgenden Zitat deutlich: „Amalia aspiró hasta en lo más delicado de su alma todo el perfume poético que se esparce en el aire de su tierra natal, y cuando a los diecisiete años de su vida dio su mano, por insinuación de su madre, al señor Olavarrieta, antiguo amigo de la familia, el corazón de la joven no había abierto aún el broche de la purísima flor de sus afectos, y los hálitos de su aroma estaban todavía velados entre las lozanas hojas mal abiertas. Más que un esposo, ella tomó un amigo, un protector de su destino futuro.“ (Mármol 1855: 240). 168 „Yo soy libre; vivo completamente aislada, porque mi carácter me lo aconseja así; recibo rara vez las visitas de mis pocas amigas […]“ (Mármol 1855: 92).
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Dass Amalia das Liebesglück am Ende des Romans verweigert wird, kann auch als ein Angriff der rückständigen amerikanischen Gesellschaft (nuestra sociedad americana tan atrasada) auf ihre (innere) Freiheit, die in ihrem Charakter angelegt zu sein scheint, verstanden werden. Im Kontrast zur alleine lebenden und ihrer Freiheit folgenden Amalia steht die von ihrem Vater unterdrückte Manuela Rosas, die sich von Amalia beeindruckt zeigt und eine Freundschaft mit ihr aufbauen möchte: „—La [Amalia] recibiré sola… Pero no, yo no tengo libertad para estar sola.“ (Mármol 1855: 599). Wie werden nun Freiheit und Nation miteinander verknüpft? Es ist in der Sekundärliteratur169 oftmals darauf hingewiesen worden, dass die Struktur des Romans von Antithesen geprägt ist. Im Falle des Freiheitsbegriffes ist eine antithetische Zuordnung zu den Figurengruppen möglich. Die freiheitsliebenden Regimegegner stehen dem Regime und seinen Unterstützern gegenüber. Daniel stellt schon zu Beginn des Romans fest: „La sociedad de nuestro país ha empezado a dividirse en asesinos y víctimas […]“ (Mármol 1855: 92)170. Nun ist diese Antithese oftmals mit der Parteizugehörigkeit der Figuren gleichgesetzt worden im Sinne einer Opposition von föderalen und unitarischen Figuren171. Dass die Gegenüberstellung von Regimeunterstützern (= Föderale) vs. Regimegegnern (= Unitarier) allerdings zu kurz greift, darauf haben auch González (2006: 233) und Fernández (2010)172 hingewiesen. Tatsächlich sind jene Figuren, die mit Libertad und Patria assoziiert werden, d.h. die Gruppe der jungen Regimegegner/innen, nicht ohne Weiteres mit den Unitarier/innen gleichzusetzen. Der Freiheits- und Nationalheld173 schlechthin, Daniel, hält sich über seine Parteizugehörigkeit lange bedeckt174. Er steht als Figur gewissermaßen zwischen den 169 Cornejo Parriego (2010) macht mit Bezug auf JanMohamed (1986) eine Reihe von Di-
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chotomien aus: weiß vs. ‚schwarz‘, gut vs. böse, unitarisch vs. föderal, Überlegenheit vs. Unterlegenheit, Zivilisation vs. Barbarei, Intelligenz vs. Emotion, Rationalität vs. Sinnlichkeit, etc. Vgl. dazu auch Varela Jácome (2000). An einer weiteren Stelle meint er, die Guten müssten zu den Guten, die Gauner zu den Gaunern helfen: „[…] hoy estamos todos en un duelo, en que los buenos nos debemos a los buenos, y los pícaros se deben a los pícaros.“ (Mármol 1855: 90). Vgl. dazu z.B. Katra (1996: 187), Varela Jácome (2000), Kersen (1989), Lichtblau (1959: 47). Fernández (2010: 45) ist einer der wenigen Autoren, die auf den dritten Weg, den Daniel einschlägt, aufmerksam macht und die Figur nicht den Unitariern zuordnet. Auch er sieht die föderalen Kontakte Daniels sowie die föderale Gesinnung dessen Vaters als dieser Haltung geschuldet an und stellt eine Verbindung zu den Ideen der Asociación de Mayo her. Daniel wird von der Erzählinstanz stets als höchst engagierter Patriot gezeichnet: „Reflexionando iba Daniel sobre las raras condiciones de su primer maestro, más que sobre otros asuntos de mayor importancia que le preocupaban después de algunos días, en la vida agitada a que lo conducía su organización, a la vez que su entusiasta patriotismo.“ (Mármol 1855: 271). Für die Patria riskiert Daniel selbst seinen guten Ruf: „—No, es nada —la contestó el joven—, acabo de jugar mi nombre a la salud de mi patria.“ (Mármol 1855: 353). Zu Doña Marcelina sagt er: „—Aquí no se habla de unitarios, ni yo le he dicho a usted nunca lo que soy.“ (Mármol 1855: 201).
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Parteien, ist zwar eindeutig gegen das Rosas-Regime, unterhält aber aufgrund der Parteizugehörigkeit seines Vaters zahlreiche Kontakte zu Föderalen. Er schätzt das Talent einiger dieser Figuren (allen voran jenes von Manuela Rosas175) und berichtigt allzu überzogene Kritik vonseiten der Unitarierinnen176 an den Föderalen177, bildet also gewissermaßen eine Brücke zwischen den Parteien178, bleibt dabei aber stets seinen Idealen in Bezug auf Freiheit und Nation treu. Den Unitariern, die 1829 ausgewandert sind, bringt er – wie die junge Generation im Allgemeinen – große Bewunderung entgegen179. Als Daniel bei seinem Kurzbesuch in Montevideo zufällig die Gelegenheit bekommt, Julián Agüero, Minister von Rivadavia und Florencia Varela180 zu treffen, ist der ansonsten selbstsichere Daniel schüchtern. „La legislación, la literatura, la política, todo tenía sus representates legítimos entre los emigrados unitarios; y con el candor característio de su edad, creían los jóvenes que de la boca de aquéllos no se desprendía una palabra que no fuese una sentencia, una ley en política, o en literatura, o en ciencia, todos deseaban conocer de cerca a esos varones monumentales de la ilustración argentina, y todo temían, sin embargo, el caso de tener que habérselas con ellos en cualquier asunto que hiciese relación a los intereses de su país, o más bien todos temían el tener que pronunciar una palabra delante de ellos, tan persuadidos estaban de su indisputable suficiencia.“ (Mármol 1855: 381)
175 Daniel sagt zu Amalia über Manuela: „—Manuela es lo único bueno de toda la familia de
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los Rosas, quizá lleguen a hacerla mala, pero la naturaleza la ha hecho excelente […]“ (Mármol 1855: 337). Die Unitarierinnen werden mutiger als ihre Ehemänner gezeichnet. Zu dieser Zeit traue sich niemand als Unitarier zu bekennen, doch einzelne Frauenfiguren scheuten es nicht, ihre politische Meinung zu deklarieren, wie an mehreren Stellen des Romans deutlich wird. Die Kritik der vehementen Unitarierin, der señora de N…, die über jeden der Anwesenden auf dem Ball Bescheid weiß und Amalia über deren Biographien aufklärt, berichtigt Daniel im Anschluss: „—No, no, Amalia; son invenciones de las unitarias, cuya imaginación está irritada. No tienen otras armas que el ridículo, y se valen de ello a las mil maravillas.“ (Mármol 1855: 337). Für seine Generation hält er besonders viele Sympathien bereit, wie aus der folgenden Gedankenrede hervorgeht, in der Daniel abwägt, ob das, was ihm Don Cándido erzählt, valide Informationen sind: „‚A los veintidós años un hombre no es comúnmente malo. Un hijo que atiende a su madre desde lejos, es un hombre de corazón. [...] [Anführungszeichen im Original]“ (Mármol 1855: 210). „Así, los nombres de los viejos emigrados en 1829, en los que figuraban en primer línea los Varelas, los Agüeros, eran los favoritos a la admiración y al respeto de todos los jóvenes de Buenos Aires, no tanto por lo que habían hecho ya, sino por lo que eran capaces de hacer, según la opinión popular, llegado el día de la regeneración argentina.“ (Mármol 1855: 381). Dessen Bruder wird als „[...] el primer literato del numeroso e ilustrado partido que se llamó unitario." (Mármol 1855: 382) bezeichnet.
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Umso größer ist die Enttäuschung Daniels, als er feststellen muss, dass ihm Agüero und Varela keinen Glauben schenken, was die Lage in Buenos Aires betrifft und stattdessen der verzerrten Welt des Exil vertrauen. „Varela, uno de los hombres a quien más quería [Agüero], acababa, según él, de tronchar por su base el discurso de ese joven que se atrevía a pensar de diferente modo que como pensaba el señor Agüero y el señor Varela; porque unitarios y federales viejos, todos han sido lo mismo en cuanto a esa ridícula aristocracia con que han querido presentarse siempre ante los jóvenes.“ (Mármol 1855: 386)
An dieser Stelle des Romans wird die bislang undefinierte Parteizugehörigkeit des Helden geklärt: „Daniel, además no era unitario, usando esta voz como distintivo del partido rivadavista, y no podía comprender todo el orgullo de los miembros de ese partido, que no sirvió sino para perderlos.“ (Mármol 1855: 389). Der Held rechnet sich einer neuen Generation zu, die weder föderal noch unitarisch ist: „[...] la nueva generación, que ni era federal ni unitaria, y a que Daniel pertenecía por su edad y por sus principios.“181 (Mármol 1855: 380). Deren Lösung, um die Ideale von Freiheit und Nation zu verwirklichen, ist im Begriff der asociación konzentriert. Wie oben bereits angesprochen, steht der Freiheitsbegriff der jungen Protagonisten in Verbindung mit Moral, v.a. einer Kritik der Vereinzelung und des Egoismus. Den Grund für den Erfolg des Terrorregimes sehen sie in der Vereinzelung der Individuen182, die wiederum auf die fehlerhafte Erziehung des Volkes zurückzuführen sei („nuestra vieja educación“ (Mármol 1855: 322)183. Die Theorie der asociación, die sie für den Fortschritts Europa verantwortlich machen (Mármol 1855: 322), verspricht es laut Daniel und Eduardo – wobei Daniel als Wortführer und engagiertester Verfechter der neuen Generation gilt – Rosas zum Sturz zu bringen und eine vereinigte, versöhnte, freiheitssichernde Nation aufbauen zu können. Worin besteht nun die asociación laut Daniel? Auf der Geheimversammlung definiert er sie folgendermaßen: „—La asociación mañana —dijo Daniel, alzando por primera vez la voz, y sacudiendo su altiva, fina e inteligente cabeza—: la asociación mañana para organizar la sociedad de nuestra patria. ‚La asociación en política para darla libertad y leyes. ‚La asociación en comercio, en industria, en literatura y en ciencia para darla ilustración y progreso. ‚La asociación en todas las doctrinas del cristianismo para conquistar la moral y virtudes que nos faltan. ‚La asociación en todo y siempre para ser fuertes, para ser poderosos, para ser europeos en América. ‚La aso-
181 Varela steht aufgrund seines Alters zwischen den Unitariern und der neuen Generation, wie die Erzählinstanz ausführt (Mármol 1855: 380).
182 Dies geht aus der Rede Eduardos auf der Geheimversammlung hervor: „‚Un partido no es poderoso por el número de sus hombres, sino por la asociación que lo compacta. Un millón de hombres individualizados no vale más, señores, que dos o tres hombres asociados por las ideas, por la voluntad y por el brazo. ‚Estúdiese como se quiera la filosofía de la dictadura de Rosas y se averiguará que la causa de ellas está en la individualización de los ciudadanos. [Anführungszeichen im Original]“ (Mármol 1855: 321). 183 Abgesehen von der Bildung wird Spanien in Amalia (1855) von der Erzählinstanz dafür kritisiert, von Beginn der Eroberung an die Bevölkerung zu ‚Sklaven‘ gemacht zu haben (Mármol 1855: 577).
444 | F REIHEIT UND N ATION ciación de los individuos y de los pueblos para estudiar filosofía y prácticamente, si esta república que improvisó la Revolución de Mayo fue una inconveniencia política, hija de las necesidades del momento, o si debe ser un hecho definitivo y duradero. ‚Asociación de estudio sobre los elementos constitutivos del país para alcanzar a saber exactamente si fue un error de la Revolución de Mayo el excomulgar el principio monárquico, cuando esa revolución desprendió a estos pueblos del yugo de fierro que le imponía un rey extraño; para estudiar en fin los efectos por que hemos pasado, en las causas generales que los han motivado. ‚Queréis patria, queréis instituciones y libertad, vosotros que os llamáis herederos de los regeneradores de un mundo? [...] Porque, creedme: nos falta la religión, la virtud y la ilustración, y no tenemos de la civilización sino sus vicios. [Anführungszeichen im Original]“ (Mármol 1855: 324, 325)
Eine gesellschaftliche Neuorganisation der Nation, gesetzlich gesicherte Freiheit, Fortschritt und Aufklärung in den Bereichen Handel, industria, Wissenschaft und Literatur, christliche Moral, Europa nach Amerika zu bringen, der Bezug zur Mairevolution sowie die Form, wie diese Ideen vorgetragen werden, all das erinnert an die palabras simbólicas, die Echeverría im Dogma Socialista (1837) veröffentlicht hat und die ebenfalls in einem geheimen Treffen verkündet wurden. Nur die offen gehaltene Frage nach der Staatsform scheint sich von diesen zu unterscheiden. Die Rede Daniels ist auf die Zukunft der Nation ausgerichtet und von der Gewissheit getrübt, dass es nicht seine Generation sein wird, die Freiheit und Nation etablieren kann184. Ohne die Vereinigung in der asociación und der Überwindung von Egoismus185 seien weder Libertad noch Patria möglich, so Daniel. „Será siempre mentira la libertad; mentira la justicia, mentira la dignidad humana; y el progreso y la civilización, mentiras también, allí donde los hombres no liguen su pensamiento y su voluntad para hacerse todos solidarios del mal de cada uno, para congratularse todos del bien de cada uno, para vivir todos, en fin, en la libertad y en los derechos de cada uno. [...] Es preciso que haya patria para nuestros hijos siquiera.“ (Mármol 1855: 761, 762)
Gerade dieser Aspekt bildet die zentrale Kritik an den Unitariern. Als Daniel in Montevideo von M. Martigny von deren inneren Zerstrittenheit, den anarchischen Zu184 „[…] pero esa asociación que las ha de germinar en el Plata no será, no, la obra de nuestra generación, ni de nuestros hijos; y mis lágrimas nacen de la terrible creencia que me domina de que no seré yo ni vosotros los que veamos levantarse en el Plata la brillante aurora de nuestra libertad civilizada, porque nos falta para ello naturaleza, hábitos y educación para formar esa asociación de hermanos que sólo la grandeza de la obra santa de nuestra independencia pudo inspirar en la generación de nuestros padres.“ (Mármol 1855: 326). 185 Als sich das Heer von Lavalle zurückzieht und ein Sturz von Rosas für Jahre in die Ferne gerückt ist, ermutigt Daniel die wenigen verbliebenen Mitglieder der Geheimversammlung, zu emigrieren: „Aquel que sobreviva de nosotros, cuando la libertad durará poco, si la sociedad no es un solo hombre para defenderla, ni tendrán patria, libertad, ni leyes, ni religión, ni virtud pública, mientras el espíritu de asociación no mate al cáncer del individualismo, que ha hecho y hace la desgracia de nuestra generación. Abracémonos y despidámonos hasta el extranjero.“ (Mármol 1855: 762).
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ständen innerhalb der Befreiungsheere und ihrer gegenseitigen Rivalität186 erfährt, ist seine Enttäuschung groß187. „El telón de un escenario nuevo se levantaba a los ojos de Daniel. Por su cabeza jamás había pasado ni una sombra de las realidades que le refería el señor Martigny. Él, cuyo sueño de oro era la asociación política, como la asociación en todo; él que hacía poco creía que Montevideo, con todos los hombres que lo habitaban, no encerraba sino un solo cuerpo con una sola alma política para la guerra a Rosas; él, que creía llegar a una ciudad donde los intereses del pueblo tenían voz más poderosa que los intereses de caudillo y de círculo, se encontraba de repente con que todas sus ilusiones se evaporaban [...]“ (Mármol 1855: 377, 378)
Mit Daniel als den im Zentrum stehenden Helden des Romans lässt der Text keine vorbehaltlose Befürwortung der unitarischen Ideen erkennen, sondern vielmehr einen auf der asociación, auf Freiheit und Nation gestützten dritten, neuen Weg zwischen Föderalen und Unitariern, wenngleich die Ideologie der Unitarier der neuen Generation wesentlich näher steht als jene der Föderalen. Ausdruck dessen ist neben Daniels Einstellung die Gesinnung der weiblichen Heldin Amalia, die sich zu den Unitarierinnen bekennt188. Wer wird in Amalia (1855) als Teil der neuen, mittels asociación zu konstruierenden, freiheitssichernden Nation definiert? Zum einen ist dies die erwähnte junge Elite, die mit Daniel, Amalia, Eduardo und Florencia im Zentrum des Romans steht. Die Mitglieder des Geheimtreffens, als Hoffnungsträger für den Aufbau der neuen Nation, sind allesamt jung, gebildet und männlich: „Un minuto después, el señor don Daniel Bello ocupaba la silla colocada delante de la mesa de pino, teniendo a su derecha al señor don Eduardo Belgrano; ocupados los demás asientos por
186 M. Martigny erklärt Daniel: „—¿Entonces? Eso es menos grave para el general Rivera que un triunfo del general Lavalle sobre Rosas. Es una escisión espantosa, señor, la que hay entre cierto círculo de orientales amigos de Rivera, y la emigración argentina.“ (Mármol 1855: 376); „—Vos lo veis —continuó M. Martigny—, los intereses generales, lejos de estar asociados en estos países, están en anarquía permanente, y no hay que contar sino con el esfuerzo parcial de cada fracción.“ (Mármol 1855: 377). 187 An M. Martigny schreibt Daniel später: „Este aparente contrasentido en un pueblo cuya mayoría maldice las cadenas que le oprimen, y espera con toda la efusión de su alma la regeneración de la libertad patria, yo sé bien que los unitarios se empeñan en separarlo de su consideración, porque ellos no quieren convenir con que el pueblo de Buenos Aires no sea, en 1840, lo que en 1810. Es un honroso error, pero es error al fin, y pues que los hechos que están ya bajo el dominio histórico y que han acaecido en todo el norte de la provincia destruyen la mitad de las ilusiones unitarias, y arguyen muy alto contra las que se tienen fundadas en la ciudad, yo creo de una innegable conveniencia el no contar con otros recursos que lo que tiene propios el ejército. Es imposible, materialmente imposible, establecer hoy la asociación de diez hombres en Buenos Aires: el individualismo es el cáncer que corroe las entrañas de este pueblo.“ (Mármol 1855: 658). 188 Dafür spricht nicht nur die Einrichtung ihres Hauses, die v.a. in den Farben Weiß und Celeste gehalten ist. Sie bekennt sich vor dem Polizeichef, der ihr Haus nach Eduardo durchsucht, offen zu ihrer Haltung (Mármol 1855: 493).
446 | F REIHEIT UND N ATION veintiún hombres, de los cuales el de más edad contaría apenas veintiséis o veintisiete años, y cuyas fisonomías y trajes revelaban la clase inteligente y culta a que pertenecían.“ (Mármol 1855: 316)
Und auch Lavalles Heer besteht aus dieser Elite: „Ejército compuesto de la parte más culta y distinguida de la juventud argentina […]“ (Mármol 1855: 509). Ihr steht das Volk gegenüber, das laut Daniel auch zum Funktionieren der Tyrannei Rosas’ beiträgt189. Auch in Amalia (1855) fällt das Begriffspaar civilización und barbarie190, allerdings nicht in Bezug auf Land- und Stadtbewohner191, sondern im Kampf zwischen den Befreiungsheeren und Rosas. Es wird nicht ausdrücklich festgelegt, wer Teil der späteren Nation sein soll und wem in dieser Freiheitsrechte zukommen. Erkennbar ist aber eine deutliche Bewertung einzelner Bevölkerungsgruppen. Gemeinsam mit den Mitgliedern der Mashora192 werden ‚Schwarze‘, ‚Mulatten‘, v.a. aber ‚Mulattinnen‘193 am negativsten gezeichnet. Die Gegenüberstellung von gebildeten und gut aussehenden Rosas-Gegner/innen und ungebildeten, teils hässlichen RosasUnterstützer/innen ist eine häufig im Text vorkommende194. Umgekehrt spricht María Josefa im Dialog mit Florencia den Unitariern den Status als Mensch ab und versichert sich der Unterstützung der ‚schwarzen‘ Frauen mit Betonung auf deren Gleichheit mit allen anderen Föderalen im Regime ihres Schwagers195: „—Pero los 189 „—Sí, el pueblo, señor, el pueblo, cómplice hasta cierto punto de la bárbara tiranía que le
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oprime, ha de pagar con su sangre, con su libertad y con su nombre, las trepidaciones de los enemigos armados del tirano, y el egoísmo de los ciudadanos, indolentes a la suerte de su patria y a la suya propia. Correrá sangre, mucha sangre si Lavalle se retira, y no habrá por muchos años qu pensar en la caída de Rosas.“ (Mármol 1855: 709). „Era un duelo a muerte entre la libertad y el despotismo, entre la civilización y la barbarie; y estaban ya sobre el campo los dos rivales con la espada en mano, prontos a atravesarse el corazón, teniendo por testigos de su terrible combate a la humanidad y la posteridad.“ (Mármol 1855: 508). Für die Darstellung des gaucho in Amalia und seine Einordnung in die gezeichnete liberale und nationale Gesellschaftshierarchie nach Ethnizitätsaspekten vgl. Österbauer (2017). „Y, del mismo modo que el traje, las caras de aquellos hombres parecían también uniformadas; bigote espeso; patilla abierta por bajo de la barba, y fisonomía de ésas que sólo se encuentran en los tiempos aciagos de las revoluciones populares […]“ (Mármol 1855: 228). Für die Darstellung der Figuren in Amalia und ihre Einordnung in die gezeichnete liberale und nationale Gesellschaftshierarchie nach Gender- und Ethnizitätsaspekten vgl. Österbauer (2017). So etwa gleich zu Beginn des Romans: „Aquel que iba delante de todos, era Juan Merlo: hombre del vulgo; de ese vulgo de Buenos Aires que se hermana con la gente civilizada por el vestido, con el gaucho por su antipatía a la civilización, y con el pampa por sus habitudes holgazanas. Merlo, como se sabe, era el conductor de los demás. A pocos pasos seguíalo el coronel don Francisco Lynch, veterano desde 1813; hombre de la más culta y escogida sociedad, y de una hermosura remarcable.“ (Mármol 1855: 69). „—Bien: es necesario que espíes bien cuanto pasa en esa casa, y que me lo digas a mí, porque con eso haces un gran servicio a la causa, que es la causa de ustedes los pobres,
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salvajes unitarios no son hombres, niña. —¿No son hombres? —No son hombres; son perros, son fieras, y yo andaría pisando sobre su sangre sin la menor repugnancia.“ (Mármol 1855: 187). Zum Verhältnis zwischen Autor und Erzählinstanz In Amalia (1855) geht die Vermittlung von einer anonymen Erzählinstanz als unbeteiligter Beobachterin aus, die sich aber in den Kreis der Betroffenen einordnet, indem sie bisweilen von unserem Land196, unserem Volk, unserer Revolution (Mármol 1855: 141) und deren Charakteristika spricht197. Sie tritt, wenn auch selten, als yo198 in Erscheinung, bleibt aber als Instanz wenig bestimmt. Es finden sich keine Hinweise auf Name, Biographie, Geschlecht, Alter, Nationszugehörigkeit, etc. im Text. Dennoch wird an einer Stelle suggeriert, dass das erzählende Ich mit dem Autor ident ist. Wie in der dem Werk vorangestellten Explicación ausgeführt wird, ist der Roman an die künftigen Generationen gerichtet. Aus diesem Grund wurde die Vergangenheitsform gewählt, obwohl gegenwärtige Ereignisse Gegenstand des Romans sind: „La mayor parte de los personajes históricos de esta novela existe aún, y ocupa la posición política o social que al tiempo en que ocurrieron los sucesos que van a leerse. Pero el autor, por una ficción calculada, supone que escribe su obra con algunas generaciones de por medio entre él y aquéllos. Y es ésta la razón por que el lector no hallará nunca los tiempos presentes empleados al hablar de Rosas, de su familia, de sus ministros, etc. El autor ha creído que tal sistema convenía tanto a la mejor claridad de la narración, cuanto al porvenir de la obra, destinada a ser leída, como todo lo que se escribe, bueno o malo, relativo a la época dramática de la dictadura argentina, por las generaciones venideras; con quienes entonces se armonizará perfectamente el sistema aquí adoptado, de describir bajo una forma retrospectiva personajes que viven en la actualidad.“ (Mármol 1855: 61)
Gezeichnet ist die Explicación mit „Montevideo, mayo de 1851“ (Mármol 1855: 61). Der deklarierte Anspruch einer sich als Autor ausgebenden Sprechinstanz, für die nachfolgenden Generationen zu schreiben sowie die Datierung und Ortsangabe können als Parallelen zwischen Autor und Erzählinstanz199 angeführt werden. Noch deut-
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porque en la Federación no hay negros ni blancos, todos somos iguales, ¿lo entiendes?“ (Mármol 1855: 418). „Nuestro indomable toro correría, arqueando su potente cuello, a apagar su sed, nunca saciada, en las aguas casi heladas de nuestros arroyos. Nuestros pájaros meridionales, menos brillantes que los del trópico, pero más poderosos uno y más tiernos otros, saltarían desde el nido a la copa de nuestros viejos ombués, o de nuestros erizados espinillos, a saludar los albores primitivos del día [...]“ (Mármol 1855: 507). An einer Stelle bezieht sich das ‚Wir‘ auch auf die americanos: „[…] con esta desconfianza que marca siempre el carácter de la política internacional de la Europa, de que los americanos no podemos aprender sino lecciones [...]“ (Mármol 1855: 156). „[…] que ponen en trepidación a los ojos, y en cierto no sé qué de disgustamiento al espíritu. [Kursivierung VÖ]“ (Mármol 1855: 171). Auf das besondere Verhältnis zwischen Autor, Erzählinstanz und Leser hat auch Curia (2010b) hingewiesen, die sich zudem mit den ‚faktualen‘ Dokumenten in Amalia (1855)
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licher wird die Verbindung zwischen erzählendem Ich und Autor aber in einer Fußnote200, in der das Ich erklärt, weshalb der Polizeichef Victorica auch mit positiven Zügen gezeichnet wird: Er habe die Sprechinstanz bei ihrem Gefängnisaufenthalt mit Büchern versorgt und Milde gezeigt. Dort seien die ersten Verse gegen Rosas entstanden201. (Mármol 1855: 487) Aufgrund der biographischen Parallelen wird eine Möglichkeit der Rezeption suggeriert, Autor und Erzählinstanz gleichzusetzen. Zum Verhältnis zwischen Erzählinstanz, Figuren und implizitem Leser Informations- und Wissensverteilung Fragt man zunächst, welche Informations- und Wissensverteilung zwischen den narrativen Instanzen besteht, so ergibt sich ein gemischtes Bild. In Amalia (1855) geht die Informationsvergabe von einer allwissenden Erzählinstanz aus. Die Perspektive der Nullfokalisierung lässt einen Fokus auf dem Helden Daniel erkennen, der jedoch weniger weiß als die Erzählinstanz202. Die für diese Arbeit zentralere Frage ist aber, wie die Informationsverteilung zwischen dem impliziten Leser und den anderen narrativen Instanzen gestaltet ist. Daniel, der das Geschehen maßgeblich beeinflusst, weiß mehr als die anderen Figuren203. Und wenn der implizite Leser von der Erzählinstanz auch bisweilen mehr Wissen vermittelt bekommt als Daniel zur Verfügung steht – etwa, wenn Ereignisse und Dialoge zwischen ausschließlich föderalen Figuren beschrieben werden – so kommt es immer wieder vor, dass Erzählinstanz204 und Daniel dessen Wissen (v.a. seine Pläne gegen Rosas) nicht (sofort) preisgeben und die Figur einen Informationsvorsprung gegenüber dem impliziten Leser innehat. So manche zentrale Information erhält der implizite Leser von Daniel, nicht von der Erzählinstanz205. So wie alle anderen ‚guten‘ Figuren muss sich auch der implizite Le-
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beschäftig, die beiden Aspekte allerdings nicht mit dem nation-building in Verbindung bringt. Die Vermerke in der Fußnote sind hinsichtlich der Faktizitätsstrategie des Textes sehr relevant. So berichtigt die Sprechinstanz auf Seite 798 das in der Öffentlichkeit gezeichnete Bild des US-Konsul Mr. Slade. Tatsächlich kam Mármols Abschluss in Rechtswissenschaften eine Verhaftung durch das Rosas-Regime zuvor. 1839 verbrachte er so mehrere Tage in Haft, wo er zu schreiben begann. (Aira 2001: 344, 345) Manche Kapitel kommen ganz ohne die Figur Daniel aus, etwa Kapitel VII des ersten Teils, in dem das Gespräch zwischen Rosas und Mandeville im Vordergrund steht. Eduardo fragt Daniel, nachdem er von ihm gerettet wurde, woher er von dessen Aufenthaltsort gewusst habe, was dieser – und damit der implizite Leser – erst gute 350 Seiten später erfährt, denn auch die Erzählinstanz hält sich diesbezüglich bedeckt: „—Pero, tú ¿cómo has sabido el lugar de mi embarque? —Eso es para despacio —contestó Daniel sonriéndose.“ (Mármol 1855: 86). „[...] en cuya cabeza [Daniel], a pesar de su aislamiento, se desenvolvía, después de algunos meses, un plan todo él de conspiración activa contra Rosas, que irá conociéndose más tarde [...]“ (Mármol 1855: 216). So in folgender Figurenrede Daniels: „Después de la acción de Don Cristóbal, en que se ganó la batalla y se perdió la victoria, el Ejército Libertador se encuentra en las puntas del
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ser auf Daniel verlassen, da dieser bereits zwei Schritte vorausdenkt und über ‚Insiderwissen‘ verfügt, das dem impliziten Leser nicht zur Verfügung steht. Welches Wissen wird umgekehrt beim impliziten Leser vorausgesetzt? Wie in der Folge genauer erläutert wird, stellt die Erzählinstanz umfangreiche Informationen zur Geschichte der Nation, ihren wichtigsten Persönlichkeiten, zur politischen Situation, den geographischen Bedingungen, Sitten und Bevölkerungsgruppen, die in Argentinien, v.a. aber in Buenos Aires leben, zur Verfügung. Sie klärt den impliziten Leser selbst darüber auf, wie die Straßennamen zur Zeit, in der die Geschichte spielt, hießen206. Der Leserkreis ist demgemäß grundsätzlich offen gehalten, wenngleich die umfangreiche Liste an historischen Persönlichkeiten eine Hürde für Leser/innen, die nicht über das Wissen eines politisch interessierten Zeitgenossen verfügen, darstellen könnte. Wie erwähnt, ist der Text laut der dem Werk vorangestellten Explicación v.a. an die künftigen Generationen gerichtet (Mármol 1855: 61). Redesituationen In Amalia (1855) sind sehr viele zitierte Figurenreden enthalten – das betrifft beide einander gegenüberstehende Figurengruppen. Es ist zu bemerken, dass die Erzählinstanz oder Daniel ab und an die Figurenrede der Föderalen berichtigen. Daneben gibt die Erzählinstanz auch zahlreiche Dialoge scheinbar objektiv wieder – der implizite Leser wird dann zum Zeugen. Obwohl sich die Werte- und Normenwelt in Amalia (1855) aus einer Vielzahl an Stimmen zusammensetzt und die Figuren ihre Vorstellungen von Freiheit und Nation auch selbst formulieren, kommt es zu keiner namhaften Divergenz zwischen den verschiedenen Perspektiven des Textes. Dass die Figuren, v.a. die Opposition zum Regime, einen scheinbar hohen Grad an Autonomie erlangen, erzeugt aber einen Objektivierungseffekt hinsichtlich des von der Erzählinstanz konstruierten Bildes der Nation sowie der von ihr bewerteten erzählten Welt. Die Figuren übernehmen teilweise die Erzählung von Ereignissen207, sie bestätigen die Bewertung der Erzählinstanz in ihrer Figurenrede208, Nebenfiguren treten als
Arroyo Grande, sitiando al ejército de Echagüe arrinconado en las Piedras, todo esto, a pocas leguas de la Bajada, y todas las probabilidades parecen estar en favor del general Lavalle, en el caso de una nueva batalla.“ (Mármol 1855: 318). 206 „[…] a la prolongación de la calle de Balcarce, cuya línea irregular son los tres últimos ángulos de las calles de San Lorenzo, de la Independencia y de Luján, según se llamaban entones.“ (Mármol 1855: 252). 207 So erfährt der implizite Leser beispielsweise im Figurendialog zwischen Luisa und Amalia, was Eduardo in der Zwischenzeit gesagt und erlebt hat (Mármol 1855: 246, 247). 208 Dies betrifft auch die Figurencharakterisierung, die im Falle Daniels von Eduardo bestätigt wird: „—Lo juraría. Tienes una facilidad inaudita para dejar tu pensamiento en los sucesos que quedan tras de ti, y fijarlo a tu antojo en los sucesos nuevos que procuras. Juegas tu vida; te entregas en cuerpo y alma a la intriga política, a los peligrosos acontecimientos del día; tu espíritu se levanta, hace grande, altiva, dominatriz, tu inteligencia; y dos minutos después de ser el primero en el poder de tu voluntad y en la grandeza de tus ideas, pasas con una puerilidad, con una hilaridad sorprendente, de lo más alto de la vida a las vulgaridades de ella. [...]“ (Mármol 1855: 330).
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Zeugen209 auf, die das Erzählte bekräftigen. Nicht nur die Erzählinstanz, sondern auch die Figuren (v.a. Daniel) rufen dazu auf, Missgunst gegen die Anhänger/innen des Regimes zu entwickeln. Insgesamt ist die Anzahl an Dialogen zwischen ausschließlich föderalen Figuren gemessen am Umfang des Romans gering. Die Gedankenrede ist bei föderalen Figuren eher selten; dem impliziten Leser wird vorzugsweise Einblick in das Innenleben von Daniel210 und Amalia211 gewährt, was die Leseidentifikation mit den beiden Helden212 begünstigt. Zudem ist zu bemerken, dass die föderalen Figuren kein Bild der Nation entwickeln, das eine Alternative zur Werte- und Normenwelt der Erzählinstanz und den sympathischen Figuren darstellen würde. Nur an einer Stelle entwickelt María Josefa eine Idee von Gleichheit, die eine Alternative zur Meinung der Helden bietet. Sie betont in ihren Verhören stets, dass in der Föderation alle gleich sind und der Elitenbegriff der Unitarier keine Rolle spielt. „— Y ser todos iguales, los pobres como los ricos, eso es Federación, ¿no es verdad? —Sí, señora213. —Pues eso no quieren los salvajes unitarios; y por eso, todo el que descubre sus manejos es un verdadero federal, y tiene siempre abierta la casa de Juan Manuel y la mía, para poder entrar y pedir lo que le haga falta; porque Juan Manuel no niega nada a los que sirven a la patria, que es la Federación; ¿entiende, paisano?“ (Mármol 1855: 412)
209 Hier ist v.a. Don Cándido zu nennen, der Daniel mit zahlreichen Informationen versorgt.
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Aber auch neue Figuren, die nur aufgrund ihrer Zeugenfunktion in die erzählten Welt eingeführt werden, gehören dazu, so etwa der Sohn der Haushälterin von Don Cándido, der dieser von La Madrids Entschluss, gegen Rosas zu kämpfen, berichtet (Don Cándido hört das Gespräch heimlich mit) und wenig später dem Regime zum Opfer fällt (Mármol 1855: 209-211). Bei Daniel dienen die Gedankenreden entweder der Information des impliziten Lesers über dessen Beweggründe oder der Provokation von Mitgefühl und Identifizierung. Für ersteren Fall sei hier ein Beispiel angeführt (zweiterer wird im Abschnitt ‚Gattungsebene‘ deutlich). Daniel überzeugt den Präsidenten der Sociedad Popular Restauradora alle Namen der Mitglieder, nicht nur der Anwesenden, vorzulesen: „‚¡Bravo! Ahora ya nos conocemos todos, aun cuando en esa lista hay hombres por fuerza‘, dijo Daniel para sí mismo, luego que el secretario concluyó la lectura de los socios [...] [Anführungszeichen im Original]“ (Mármol 1855: 231). Amalias Innenleben wird entweder durch erzählte Rede oder zitierte Gedankenrede dargestellt. Hier ein Beispiel für erstere: „Hospitalidad, peligros, sangre, abnegación, trabajo, compasión, admiración, todo esto había pasado por su espíritu en el espacio de una hora; y era demasiado para quien no había sentido en toda su vida impresiones tan improvisas y violentas; y a quien la naturaleza, sin embargo, había dado una sensibilidad exquisita, y una imaginación poéticamente impresionable, en la cual las emociones y los acontecimientos de la vida podían ejercer, en el curso de un minuto, la misma influencia que en el espacio de un año sobre otros temperamentos.“ (Mármol 1855: 97). In Bezug auf die Liebe wird auch Einblick in das Gefühlsleben von Florencia und Eduardo gewährt. María Josefa verhört in diesem Zitat einen ehemaligen criado Amalias.
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Dieser Figurenmeinung wird jedoch die Wertung durch die Erzählinstanz entgegengestellt, die dem impliziten Leser nahelegt, dass die deklarierte Gleichheit aller Föderalen eine rhetorische Strategie der Disziplinierung des despotischen Regimes ist, um mithilfe des Spitzelwesens an private Informationen zu gelangen. Ansonsten vertreten die föderalen Figuren vielmehr das, was ihnen die in der Figurenkonstellation gegenüberstehenden Figuren oder die Erzählinstanz vorwerfen. Insofern passen sie sich in das rezeptionslenkende Werte- und Normensystem ein. Einige Beispiele dafür seien angeführt214. Rosas’ Erklärung für die anarchischen Zustände in Argentinien entspricht der Kritik, die Erzählinstanz und die Figuren am Rosas-Regime üben: „¿Sabe usted por qué ha estado el país siempre en anarquía? Porque cada uno sacaba el sable para pelear con el gobierno el día que se le antojaba. ¡Pobre de usted, y pobres de todos los federales, si yo doy lugar a que los unitarios los peleen cuando van a cumplir una orden mía!“ (Mármol 1855: 147)
Der Präsident der Sociedad Popular Restauradora eröffnet eine Mitgliederversammlung mit den bekannten Parolen des Regimes: „¡Viva la Federación! ¡Viva el Ilustre Restaurador de las Leyes! ¡Mueran los inmundos asqueroso franceses! ¡Muera el rey guardachanchos Luis Felipe! ¡Mueran los salvajes asquerosos unitarios, vendidos al oro inmundo de los franceses! ¡Muera el pardejón Rivera!“ (Mármol 1855: 229, 230)
Daniel, der Zwietracht unter den Mitgliedern säen will, bietet dem Präsidenten seine Hilfe beim Verfassen dessen Rede an. Der Held legt hier dem Präsidenten der Sociedad Popular Restauradora also explizit seine Worte in den Mund und hilft ihm als Souffleur beim Vortragen der Rede215: „—Señores —continuó el presidente—, para que nuestro Ilustre Restaurador pueda salvar la Federación del... pueda salvar la Federación del... para que nuestro Ilustre Restaurador de las Leyes pueda salvar la Federación del... —Del eminente peligro —le dijo Daniel casi al oído. — Del eminente peligro en que se halla, debemos perseguir a muerte a los unitarios, luego todo unitario debe ser perseguido a muerte por nosotros.“ (Mármol 1855: 231)
Der implizite Leser wird außerordentlich stark von der Erzählinstanz in die erzählte Welt einbezogen. Die Textstellen, an denen sie sich an den lector oder die lectores wendet, sind zahlreich. Jene, die von einer besonders deutlichen Einbeziehung des impliziten Lesers zeugen, seien in der Folge kurz diskutiert. Die Erzählinstanz macht die Figuren mit dem impliziten Leser eigens bekannt216: „Nuestros prófugos caminaban sin cambiarse una sola palabra; y es ya tiempo de dar 214 Vgl. etwa die Reden der Föderalen auf dem Ball (Mármol 1855: 347-349). 215 Wie oben bereits angemerkt, wird die Figur dadurch als ungebildet und dumm dargestellt. 216 Auch an den folgenden Stellen macht sie den impliziten Leser mit den Figuren bekannt: „Éste es el joven de los ojos negros y melancólicos que conocen ya nuestros lectores.“ (Mármol 1855: 70); „Cuando Daniel colocó a Eduardo sobre el sofá, Amalia, pues y dis-
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a conocer a sus nombres.“ (Mármol 1855: 69). Sie wendet sich nicht nur dem impliziten Leser ausdrücklich zu, sondern schließt ihn darüber hinaus in ein gemeinsames ‚Wir‘ ein (nuestros prófugos). Sie bezieht den impliziten Leser auch in die Beschreibungen der erzählten Welt ein: „Los que alguna vez hayan tenido la fantasía de pasearse en una noche oscura a las orillas del Río de la Plata, en lo que se llama el Bajo en Buenos Aires, habrán podido conocer todo lo que ese paraje tiene de triste, de melancólico y de imponente al mismo tiempo.“ (Mármol 1855: 68)
Sie inszeniert sich mithilfe der Leseranrede auch als Instanz der Informationsvergabe und des Spannungsaufbaus. „Y diciendo esto [Daniel], se dirigió al gabinete, pestañeando rápidamente para enjugar con los párpados una lágrima que, al ver las de su amigo, había brotado de la exquisita sensibilidad de este joven, que más tarde haremos conocer mejor a nuestros lectores.“ (Mármol 1855: 91)
Die Erzählinstanz führt den impliziten Leser gewissermaßen durch die erzählte Welt, der sich an die Erzählinstanz sowie an Daniel halten muss, um die nötige Information zu erlangen. Ganz deutlich wird diese, den impliziten Leser leitende, Rolle der Erzählinstanz an jener Stelle, an der sie mit dem impliziten Leser eine Hausführung durch Amalias Zuhause macht, während diese Daniel Eduardos Zimmer zeigt: „Pero antes de seguir nosotros el paso y el pensamiento de Amalia, echemos una mirada sobre estas dos últimas habitaciones.“ (Mármol 1855: 93). Sie beendet die Führung mit folgenden Worten: „Ahora, sigámosla que entra al aposento de Luisa, dormida dulce y tranquilamente, y que tomando una llave de sobre una mesa, abre la puerta de ese aposento que da al patio [...]“ (Mármol 1855: 94), mit denen sich Erzählinstanz und impliziter Leser wieder Amalia und Daniel anschließen. An anderer Stelle lassen die Erzählinstanz und der implizite Leser Amalia mit ihren Gedanken über das Erlebte zurück, um nach Eduardo zu sehen: „Y mientras ella comienza a darse cuenta de cuanto acaba de pasar por su espíritu, pasemos nosotros al aposento de Eduardo.“ (Mármol 1855: 97). Diese verharrt in der Zwischenzeit an ihrem Platz: „Amalia estaba en el mismo sillón en que la dejamos, apoyada su cabeza en su pequeña mano, cuyos dedos de rosa se perdían entre los rizos de su cabello castaño claro.“ (Mármol 1855: 100). Die Partizipation des impliziten Lesers an den Ereignissen und Gedanken der jungen Protagonist/innen, die auf den Effekt des ‚Miterlebens‘ mit den sympathischen Figuren zielt, geht in den oben diskutierten Stellen, an denen die Erzählinstanz abseits des Plots mit ihren Kommentaren ein Bild der Nation erzeugt, über in eine Instruktion des impliziten Lesers. Die Bezugnahme auf den impliziten Leser erlaubt so die Verbindung der eigentlichen Geschichte mit den ergänzenden Informationen zur Nation217: tinguiremos por su nombre a la joven prima de Daniel, pasó corriendo [...]“ (Mármol 1855: 84). 217 So auch an folgender Stelle, die auf eine Beschreibung des Volkes von Buenos Aires folgt: „Así era la situación moral del pueblo de Buenos Aires en los momentos en que comenzamos nuestra historia.“ (Mármol 1855: 175). Oder auch an jener Textstelle, an der auch die Sympathielenkung durch explizite Bewertung der Erzählinstanz nochmals deut-
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„A la vez que ocurrían los sucesos que se acaban de conocer, en la noche del 4 de mayo, otros de mayor importancia tenían lugar en una célebre casa en la calle del Restaurador. Pero a su más completa inteligencia, es necesario hacer revivir en la memoria del lector el cuadro político que representaba la república en esos momentos.“ (Mármol 1855: 112)
Die Solidarisierung der Erzählinstanz mit dem impliziten Leser rechtfertigt darüber hinaus die Eingliederung von Szenen, von denen die jungen Protagonisten nie erfahren und die sich ausschließlich zwischen den föderalen Figuren abspielen: „[…] pues tal era su situación en la noche en que acaecieron los sucesos que se conocen ya. Y es durante ellos, es decir, a las doce de la noche del 4 de mayo de 1840, que nos introducimos con el lector a una casa, en la calle del Restaurador.“ (Mármol 1855: 118). Der implizite Leser wird hier zum Komplizen der Erzählinstanz, ist an anderen Stellen aber ganz auf Daniel angewiesen, um das Erzählte nachvollziehen zu können. Sich weniger als bestimmende, mit alleiniger Deutungshoheit218 ausgestattete Erzählinstanz inszenierend, führt sie den impliziten Leser durch Zeit und Raum219 und steuert dessen Neugierde mithilfe einer partiellen Informationsvergabe220. Das macht sie jedoch nicht weniger zentral für die Rezeptionslenkung, die dadurch nur etwas subtiler als beispielsweise in Soledad (1847) ausfällt und aufgrund ihres objektiveren Scheins und weniger manipulierend wirkenden Aufbaus eines Normen- und Wertesystems sogar noch überzeugender wirken kann. Die Erzählinstanz nimmt den impliziten Leser sozusagen am Arm und führt ihn durch die erzählte Welt, nicht ohne ihm ihre Deutung derselben nahezulegen. „Pero antes de que los primos y los amantes se cambien una palabra, salgamos del baile con el lector y vamos un momento a recoger los pormenores de otra escena bien diferente en otra
lich wird: “Si los capítulos anteriores han podido dar una ligerísima idea de la ferocidad de Rosas, también habrán hecho reflexionar, es probable, sobre el modo como se ocupaba de la defensa de su causa, frente del enemigo que le invadía, y la amenazaba.“ (Mármol 1855: 691). 218 Dazu trägt auch die Auslagerung der Informationsvergabe und der Bewertung des Geschehens auf den Helden bei. 219 Die Erzählinstanz erzählt die Geschichte nicht rein chronologisch, sondern unterbricht sie durch ihre Ausführungen, springt einige Tage zurück, um zu berichten, was in der Zwischenzeit anderen Figuren widerfahren ist, stets den impliziten Leser bittend, ihr zu folgen: „Ahora el lector tendrá la bondad de volver con nosotros a nuestra conocida quinta de Barracas, en la mañana del 24 de mayo, y una hora después de aquella en que dejamos a la señora Amalia Sáenz de Olavarrieta acabando de arreglar su traje de mañana en su primoroso tocador.“ (Mármol 1855: 280); „[…] no podemos menos de pasar con el lector a ciertos días anteriores a éste, para poder tomar y seguir el hilo de esta historia.“ (Mármol 1855: 607). 220 Dies wird selbst von der Erzählinstanz thematisiert: „No será largo el tiempo que sostengamos la curiosidad del lector sobre el nuevo personaje que acaba de introducirse en nuestros asuntos.“ (Mármol 1855: 176); „El lector querría saber qué clase de negocios tenía doña María Josefa con las negras y mulatas de que estaba invadida su casa.“ (Mármol 1855: 180).
454 | F REIHEIT UND N ATION parte, en nada parecida a la que dejamos; y del brazo con el lector hagamos también lo posible para volver pronto a los salones de nuestro viejo fuerte.“ (Mármol 1855: 314)
Es scheint als bewege sich der implizite Leser ebenfalls in der erzählten Welt, etwa, wenn er gerade noch die Figurenrede von Felipe Arana hört, als er in den Raum eintritt: „—Pero si no ha habido declaración de guerra, señor Mandeville —decía el señor don Felipe a tiempo que nos entramos con el lector a su gabinete.“ (Mármol 1855: 520). Oder wenn sich der implizite Leser mit der Erzählinstanz dem Ort nähert, an dem Amalia sich gerade befindet: „En el momento en que nos acercamos estaba parada delante a uno de sus guardarropas, en cuya puerta de espejo había colgado un magnífico vestido de blondas […]“ (Mármol 1855: 776). Von den Figuren bleibt der implizite Leser unbemerkt.
Bewertungsstrategien Zunächst sei vorweg geschickt, dass die Bewertungsstrategien in Amalia (1855) komplex sind, da zur Bewertung durch die Erzählinstanz die ‚autonome‘ Bewertung durch Figuren in deren zitierter Figurenrede hinzukommt, auch, was das Thema der Freiheit und Nation betrifft. Um mit der Erzählinstanz zu beginnen, kann wieder zwischen explikativen und evaluativen Äußerungen unterschieden werden, die beide in hoher Zahl vorhanden sind. Darüber hinaus bietet sich eine Differenzierung des Erzähltextes nach Wertungen der Erzählinstanz, die auf Plot und Figuren bezogen sind und solchen, die als ergänzende Kommentare der Erzählinstanz bezeichnet werden können, an. Letztere sind insofern von Interesse als in Amalia (1855) abseits des Plots teils seitenlange Erläuterungen der Erzählinstanz der Darstellung von Geschichte, Politik, Geographie, Natur221, etc. Argentiniens oder Südamerikas gewidmet sind. Die Erzählinstanz konstruiert ein umfassendes Bild der Nation, ihrer Vergangenheit und Gegenwart, in dem sie nationale Spezifika und Probleme definiert und analysiert und sich so der Auseinandersetzung – und hinsichtlich des impliziten Lesers der Vermittlung – mit dem Eigenen widmet. Dabei handelt es sich um kein objektives, sondern ein von Selektion und Wertung durchsetztes Bild, wobei die Wertungen der Erzählinstanz parallel mit den sich zuspitzenden Geschehnissen in der Welt der Figuren zunehmend deutlicher ausfallen222. Auf den Seiten 112 bis 118 ruft die Erzählinstanz dem impliziten Leser die gegenwärtige Lage der Republik in Erinnerung, bevor sie mit der Erzählung fortfährt. Sie definiert die Machtbasis des Regimes, nennt bedeutende histori221 Zu Tucumán äußert sie sich u.a. folgendermaßen: „Todo cuanto sobre el aire y la tierra puede reunir la naturaleza tropical de gracias, de lujo y poesía se encuentra confundido allí, como si la provincia de Tucumán fuese la mansión escogida de los genios de esa desierta y salvaje tierra que se extiende desde el Estrecho hasta Bolivia, y desde el Andes al Uruguay.“ (Mármol 1855: 239). 222 Beispielhaft kann folgende Stelle einer empörten Erzählinstanz angeführt werden: „¡Toda la naturaleza, sí, menos el hombre! ¡Porque llegado era el momento en que la luz del sol no servía en la infeliz Buenos Aires, sino para hacer más visible la lóbrega y terrible noche de su vida, bajo cuyas sombras se revolvían en caos las esperanzas y el desengaño, la virtud y el crimen, el sufrimiento y la desesperación!“ (Mármol 1855: 507).
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sche Ereignisse der sich formierenden Widerstandsbewegung in den Provinzen und in Uruguay, erklärt die Entstehung und Funktion der Mashora sowie das Verhältnis zwischen Frankreich und dem Regime. Auf den Seiten 180 und 181 erläutert sie die Stellung der Frau im Rosas-Regime, v.a. Rosas’ Gattin und seiner Schwägerin mit eindeutig negativer Bewertung der beiden weiblichen Figuren. Auf den Seiten 555 bis 560 erklärt die Erzählinstanz, dass die Föderation keine wahre Republik sei, sondern ein lasterhaftes System der caudillos, das durch das Desinteresse der Allgemeinheit ermöglicht wurde. Dieses zum Anlass nehmend, rollt die Erzählinstanz die Geschichte der Republik seit 1811 auf und erläutert die Ideen der Republik von Moreno und der Monarchie von Belgrano sowie das Scheitern der Einheit und die Machtausweitung der caudillos. Sie hebt die Jesuiten lobend für ihren Widerstand gegen Rosas hervor und kritisiert die Verbindungen zwischen katholischer Kirche und Föderation. Ohne diese und zahlreiche weitere Stellen genauer erläutern zu können, werden in der Folge jene Abschnitte näher betrachtet, die für das Verhältnis von Freiheit und Nation wichtig sind. Die Väter der Revolution von 1810 hätten sich, so die Erzählinstanz, anstatt ihren Verfassungsträumen und ihrer phantastischen Republik nachzugehen, der (politischen) Erziehung des Volkes widmen sollen, damit dieses nicht mehr der Ignoranz und den Instinkten der ‚Rasse‘ folge, sondern Moral und Sitten entwickle. Bislang hätten sich aufgrund der spanischen Tradition nur Religion und Thron223 in dessen Gewissen verankern können. Dieses Volk, das sie ‚frei‘ nannten, war in Wirklichkeit „salvaje“ (Mármol 1855: 141): „[…] a quien llamaron pueblo libre porque había roto a patadas, no el cetro, sino la cadena del rey de España; no la tradición de la metrópoli, sino las imposiciones inmediatas de sus opresores; no por respirar el aire de libertad que da la civilización y la justicia, sino por respirar el viento libre que da la naturaleza salvaje.“ (Mármol 1855: 141)
Das Volk hätte die Zivilisation und die Gerechtigkeit mit Füßen getreten, weil ihren natürlichen Instinkten dadurch Grenzen gesetzt worden wären. „Rosas lo comprendió, y, sin la corona de oro en su cabeza, puso su persona de caudillo donde faltaba el monarca, y un ídolo imaginario con el nombre ‚Federación‘ donde faltaban el predicador y el franciscano. [Anführungszeichen im Original]“ (Mármol 1855: 141). Am 24. Mai 1840, am Vorabend des 30-jährigen Jubiläums der Mairevolution, erinnert die Erzählinstanz an die Vertreibung des Vizekönigs durch den Willen des Volkes: „Treinta años antes se había despedido de la tierra, viendo desaparecer para siempre la autoridad del último de nuestros virreyes, de quien, en tal día como ése en 1810, el cabildo de la ciu-
223 Die Abgrenzung von Spanien kommt an einer Stelle auch in Bezug auf den Sprachstil zum Ausdruck: „Una mujer, a quien no haremos injusticia en atribuirla cincuenta inviernos, pues que las primaveras no se dinstinguían en ella, y a quien un buen español llamaría ama de llaves, pero a quien nosotros, buenos americanos, distinguiremos con el nombre de señora mayor, alta, flaca y arrebozada en un gran pañuelo de lana, abrió la puerta, y echó sobre Daniel su correspondiente mirada de mujer vieja: es decir, mirada sin egoísmo, pero curiosa.“ (Mármol 1855: 264).
456 | F REIHEIT UND N ATION dad había hecho un presidente de una junta gubernativa, y cuya autoridad limitada descendió más, pocas horas después, contra la voluntad del cabildo, pero por la voluntad del pueblo.“ (Mármol 1855: 293)
Am 25. Mai 1810 sei das erste Wort der Freiheit des argentinischen Volkes gesprochen worden (Mármol 1855: 578). Die „raza americana“ (Mármol 1855: 578) hätte bereits im 18. Jahrhundert ein Bewusstsein über ihre unglückliche Lage erlangt. Die Ideen, die von Europa nach Amerika gelangt seien, seien eine erste Saat für die Revolution gewesen. „La conciencia estaba hecha; el convencimiento estaba hecho; los instintos eran uniformes; no faltaba sino la decisión y la oportunidad.“ (Mármol 1855: 578). Die Französische Revolution hätte diese Gelegenheit geboten; Fernando VII sei vom Volk vom Thron gestoßen worden (Mármol 1855: 578). Buenos Aires habe eine Vorreiterrolle in der Befreiung Amerikas gespielt: „Su espada da la libertad, o contribuye a ella, en todas partes: sus ideas, sus hombres, sus tesoros, no faltan en ninguna; […]“ (Mármol 1855: 579). Die Unabhängigkeitskriege hätten den Charakter einer umfassenden Revolution gehabt: „Una revolución reformadora de la sociedad educada por la España de la Inquisición, del absolutismo y de las preocupaciones hereditarias de tres siglos, en política, en legislación, en filosofía y en costumbres.“ (Mármol 1855: 579). Die Mairevolution habe in Buenos Aires schließlich alle ihrer Grundsätze verankert: „La república; el gobierno representativo; el ministerio responsable; el sistema electoral, la libertad de la conciencia, del pensamiento, del comercio; la igualdad democrática; la inviolabilidad de los derechos; [...]“ (Mármol 1855: 580). Geblieben sei jedoch nur die politische Unabhängigkeit (Freiheit des Staates): „Libres en política, y colonos en tradiciones sociales, legislativas y filosóficas, habría sido una anomalía monstruosa.“ (Mármol 1855: 579). Der Grund dafür sei ein schlecht vorbereitetes Volk für die politischen Innovationen gewesen, das die nötige Aufklärung und Tugenden nicht ausbilden konnte (Mármol 1855: 581): „[…] y la planificación repentina de ideas y de hábitos civilizados, en pueblos acostumbrados a la cómoda inercia de la ignorancia, eran una utopía magnífica pero impracticable, con la cual la barbarie daría en tierra; hasta que una enseñanza más prolija, en la escuela misma de las desgracias públicas, crease una generación que la levantase y la pusiese en práctica tal cosa debía suceder; y así ha sucedido, por desgracia.“ (Mármol 1855: 581, 582)
Dass das System Rosas’ eine Föderation sei, bezweifelt die Erzählinstanz. Die Föderation entspreche nicht dem Willen des Volkes, das sich für die unitarische Verfassung ausgesprochen habe. „La Federación, como sistema, jamás ha sido practicada en la república, ni los pueblos la exigieron nunca. Una sola vez fueron consultados, y fue cuando aceptaron la constitución unitaria… ‚Los unitarios son demasiado ilustrados relativamente a nuestros pueblos‘, decían los federales en tiempo del debate constitucional; ‚y no pueden mandarlos, porque los pueblos no entenderían su civilización‘. Pero los federales al mismo tiempo pedían que esos pueblos se gobernasen y legislasen por sí solos... ¡Como si el pueblo, atrasado para comprender la ilustracion ajena, pudiera a la vez ser bastante civilizado para darse lo más difícil de la existencia pública: su legislación, y sus principios de gobierno! [Anführungszeichen im Original]“ (Mármol 1855: 555)
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Die zitierten Stellen stehen abseits des Plots: Es kommen keine der Protagonist/innen in ihnen vor. Dennoch werden sie mit diesem verwoben224. Kommen wir also zu Beispielen für explikative und evaluative Äußerungen der Erzählinstanz mit Bezug auf Plot und Figuren. Die Kommentare der Erzählinstanz zur Geschichte und Politik der Nation unterbrechen den Plot immer wieder, bilden aber zugleich dessen Kontext. Die explikativen Äußerungen der Erzählinstanz stellen demgemäß die Bedingungen auf, vor denen die Figuren handeln: „[el pueblo] […] estaba próximo a ser descargado sobre su cabeza por la mano inapiadable de la tiranía; y para contenerla él, el pueblo de Buenos Aires, no tenía, ni los medios, ni siquiera el espíritu para procurarlos. El terror, esa terrible enfermedad que postra el espíritu y embrutece la inteligencia [...] empezaba a introducir su influencia magnética en las familias. Los padres temblaban por los hijos. Los amigos desconfiaban de los amigos, y la conciencia individual, censurando las palabras y las acciones de cada uno, inquietaba el espíritu, y llenaba de desconfianzas el ánimo de todos. [Kursivierung im Original]“ (Mármol 1855: 173)
Diese werden im Laufe des Romans immer wieder aufgenommen und in Varianten wiederholt, so etwa die Angst vor dem Terror. „Los que no habían dado jamás pruebas prácticas de su entusiasmo federal, motivo suficiente para la clasificación de unitario, sufrían la inquietud consiguiente a la incertidumbre de los sucesos pendientes: y temblaban por la patria y por ellos, al imaginarse una desgracia en el Ejército Libertador.“ (Mármol 1855: 650)
Die evaluativen Äußerungen der Erzählinstanz entsprechen dem gezeichneten Werteund Normensystem sowie deren politischen Positionierung in den explikativen Kommentaren: „¡Pero parece increíble! Este mismo trastorno de lo natural, esta misma vulgaridad e ignorancia de Rosas, servía para que la fanática plebe de su partido, y muchos tambien que no eran plebe, dijesen y creyesen que todo aquello que veían y los sorprendía era efecto del genio del Restaurador, que se escapaba a la penetración de los demás. —Él sabe lo que hace —decían. Y sin embargo, la verdad es que el genio no sabía una palabra de lo que estaba haciendo, o de lo que debía hacer, en orden a la defensa militar; y se lo llevaba en un trabajo asiduo y laborioso, dentro de sí mismo, pensando y combinando los medios de satisfacer sus bárbaras venganzas den el caso de triunfar, que ya empezaba a ver como muy probable, sin más ciencia que sus instintos y su sagacidad, puramente orgánicos, puramente animales; ora combinando nombres para encontrar víctimas, sea combinando en su idea el medio de arrojar a la mendicidad la mitad de la población: nuevo y el más espantoso de sus delitos, que debía convertirse en ley dentro de pocos días. [Kursivierungen im Original]“ (Mármol 1855: 692)
224 Ein Beispiel dafür sei hier angeführt: „Entretanto, maestro, discípulo y criado habían enfilado, a gran galope, la oscura y desierta calle Larga, y subiendo a la ciudad por aquella barranca de Balcarce que, doce años antes, había visto descender los escuadrones del general Lavalle para ir a sellar con sangre el origen de los males futuros de la patria [Exekution von Manuel Dorrego], tiraron as riendas de sus caballos a la puerta de la casa del señor Alcorta, tras de San Juan, en la calle del Restaurador.“ (Mármol 1855: 102, 103).
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Neben stark negativen Bewertungen der Figuren der Rosas-Unterstützer225 und stark positiven Bewertungen der Rosas-Gegner226 bedient sich die Erzählinstanz auch des Mittels der Ironie227 und der Übertreibung228 und gibt föderale Figuren der Lächerlichkeit preis229. Die explizite Wertung der Erzählinstanz steigert sich im Laufe des 225 „—¿Y por qué no vio? —dijo Rosas con un acento de trueno, y dominando con el rayo de
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sus ojos la fisonomía de Cuitiño, en que estaba dibujada la abyección de la bestia feroz en presencia de su domador.“ (Mármol 1855: 139). Cuitiño wird an anderer Stelle als „[...] guillotina humana que se movía al influjo de su [Rosas] voluntad terrible, y cuyo puñal, levantado siempre sobre el cuello del virtuoso y el sabio, del anciano y el niño, del guerrero y la virgen, caía, sin embargo, a sus plantas, al golpe fascinador y eléctrico de su mirada.“ (Mármol 1855: 140) beschrieben. „[…] Florencia no se dignó de volver sus ojos hacia aquellas tan extrañas visitas de la hermana política del gobernador de Buenos Aires, o más bien, a aquellas nubes preñadas de aire malsano que hacía parte del cielo rojo-oscuro de la Federación.“ (Mármol 1855: 179); „[...] y era la casa de la hermosa Amalia, en que había recibido hospitalidad y vuelto a la vida, donde ahora se dirigía el valiente y generoso Daniel.“ (Mármol 1855: 236). Laera (2011) hat darauf hingewiesen, dass den föderalen Figuren, dadurch, dass sie der Lächerlichkeit preisgegeben werden, der Schrecken genommen wird: „La mezcla entre lo sublime y lo grotesco postulada por Víctor Hugo como principio romántico -y sus vinculaciones con lo trágico y lo cómico de la literatura anterior- no alcanza para representar eficazmente (propagandísticamente) la realidad rioplatense. Lo grotesco, que rodea tanto a los protagonistas de la ficción (don Cándido, doña Marcelina) como a los personajes históricos (el padre Viguá y aun doña María Josefa Ezcurra) no sirve para presentar a Rosas: la arista cómica anularía su peligrosidad. Despojada de lo grotesco, la representación seria de la política (cuyo rival ‚sublime‘ es la ficción amorosa) asume matices realistas. Así, el tono realista que se impone en algunos pasajes del texto es más la consecuencia de sustraerse a los riesgos de una formulación convencionalmente romántica que una búsqueda en sí misma.“ (Laera 2011: s.p.). Der Präsident der Sociedad Popular Restauradora wird wie folgt beschrieben: „Era este hombre como de cincuenta y ocho a sesenta años de edad, alto y de un volumen que podría muy bien poner en celos al más gordo buey de los que se presentan en las exposiciones anuales de los Estados Unidos: cada brazo era un muslo, cada muslo un cuerpo y su cuerpo diez cuerpos.“ (Mármol 1855: 226). „El enemigo debía ser inmundo, sucio, asqueroso, chancho, mulato, vendido, asesino, traidor, salvaje. Y el héroe de la Federación, en boca de los aseados federales, para quienes el oro francés era inmundo, pero el oro argentino muy limpio y muy pulido para dejar de robárselo a manos llenas, era ilustre, grande, héroe, como ilustres, grandes y héroes eran todos ellos en la prostitución y el vicio que allí representaban.“ (Mármol 1855: 518). Hier ein Beispiel für eine Stelle, an der die Erzählinstanz Rosas der Lächerlichkeit preisgibt: „Metió luego la mano por entre la pretina de los calzones, y levantando una finísima cota de malla que le cubría el cuerpo hasta el vientre, llevó la mano hasta el costado izquierdo, y se entretuvo en rascarse esa parte del pecho, por cuatro o cinco minutos a lo menos; sintiendo con ello un verdadero placer, esa organización en quien predominan admirablemente todos los instintos animales.“ (Mármol 1855: 129). Die positiv bewerteten Figuren erfahren keinen Spott der Erzählinstanz, sondern eine wohlwollende Ironie, hier allen voran der ängstliche Don Cándido: „—¿Quién es? Conteste porque le
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Romans, wovon die Schlussszene des Romans, in der die föderalen Truppen das Haus Amalias stürmen, zeugt: „[…] un tremendo golpe dado en la puerta de la sala hizo saltar el pestillo y abrirse las hojas de par en par, entrándose en tropel una banda de aquellos demonios, de que se rodeó un gobierno nacido del infierno y maldito para siempre jamás en la historia de las generaciones argentinas.“ (Mármol 1855: 832)
Es ist also eine Ko-Präsenz von sympathie- und antipathielenkenden Mitteln, die von der Erzählinstanz ausgehen, bemerkbar, die sich klar nach Figurengruppen differenzieren lassen, also sowohl der Figurenkonstellation als auch ihrer -charakterisierung entsprechen. Sie decken sich mit der Haltung zu Freiheit und Nation, die von der Erzählinstanz und dem sympathischen Helden eingenommen wird. Wie bereits angekündigt, ist die Erzählinstanz in Amalia (1855) nicht die einzige Bewertungsinstanz. Die Figuren geben in Amalia (1855) ihre eigenen Wertungen ab, wobei Daniel als Bewertungsinstanz neben der Erzählinstanz hervorsticht. Der Held bewertet nicht nur andere Figuren und deren politische Einstellung230, sondern er berichtigt, wie die Erzählinstanz, Aussagen von föderalen Figuren: „—En ese parte —dijo Daniel, luego que el señor Martigny hubo acabado su lectura—, hay todas las exageraciones y toda la insolencia que caracterizan los documentos del gobierno de Rosas, pero en el fondo de él hay una verdad: que la batalla ha sido perdida por el general Lavalle.“ (Mármol 1855: 373)
Darüber hinaus tragen sämtliche Figuren und Nebenfiguren der Rosas-Opposition zum Aufbau eines Werte- und Normensystems bei, das der Perspektive der Erzählinstanz und Daniels entspricht. In ihren Figurenreden bestätigen sie die Bewertung föderaler Figuren, der politischen Lage, etc., die von den beiden zentralen Bewertungsinstanzen (Daniel und Erzählinstanz) ausgehen. Folgendes Beispiel sei dafür angeführt: Dass Amalia erst vor acht Monaten nach Buenos Aires gezogen ist, erlaubt es der señora de N…, eine Charakterisierung föderaler Figuren zu Amalias Information vorzunehmen. „Se llama Nicolás Mariño. Es el que predica el degüello de los unitarios. El 1 de diciembre de 1828, lo vi desde los balcones de mi casa andar por las calles prodigando abrazos a los revolucionarios. Después entró de oficial en el ministerio Guido, bajo la administración de Viamonte. En 1833, escribió algunos mamarrachos en El Clasificador. Después escribió El Restaurador de las Leyes. A esa época ya no abrazaba sino a los federales. Ahora escribe La Gaceta, y abramato —repitió el amable interrogador […] —Servidor de usted, mi distinguido y estimado señor, a quien no tengo el honor de conocer, pero a quien aprecio muchísimo — contestó don Cándido con un voz tan trémula y meliflua que inspiró al desconocido todo el valor que le faltaba y de que había querido hacer alarde un momento antes. [Kursivierung VÖ]“ (Mármol 1855: 257). 230 Neben der Zurückweisung föderaler Figuren bewertet er auch Eduardo: „[…] llegó a creer que tenía delante de sus ojos una personficación de la actualidad, en cuya suerte podría estudiar el destino de la generación a que pertenecía.“ (Mármol 1855: 657).
460 | F REIHEIT UND N ATION za al diablo. ¡Qué ojos! ¿Le ha reparado usted los ojos? —Sí, señora —contestó Amalia riendo de la pregunta, del calor y de las indiscreciones de la señora de N..., una de aquellas instransigibles unitarias con quienes la dictadura no pudo jamás, y que las súplicas y el llanto de sus maridos arrastraban a las fiestas federales, donde ellas se desquitaban de la violencia que se hacía en estar en ellas midiendo con su inflexible rigorismo las categorías de la nueva época que se presentaba a sus ojos. [Kursivierungen im Original]“ (Mármol 1855: 310)
Im Anschluss an die zitierte Textstelle rückt Daniel die Darstellung der vehementen Unitarierin und das Bild, das sie von den Föderalen zeichnet, zurecht231 und distanziert sich zugleich von den Unitarierinnen, ohne dass dies (ausschließlich) von der Erzählinstanz gesteuert werden müsste. Doch die wohl zentralste Bewertungsstrategie im Sinne des Aufbaus einer kohärenten Perpektivenstruktur ist in Amalia (1855) im Zusammenspiel der Erzählinstanz und des Helden zu finden. Daniels Haltung zur Nation eines dritten Weges zwischen Föderalen und Unitarier mittels der asociación, die den im Volk dominierenden Egoismus überwinden soll, entspricht exakt jener Idee, die die Erzählinstanz vertritt232. Die Erzählinstanz tritt nicht als oberste Autorität auf, die ihre Perspektive zu Freiheit und Nation, die in der Figurenrede bestätigt wird, wie in Soledad (1847) bereits vorab dem impliziten Leser vermittelt, sondern sie lässt Daniel als scheinbar autonome Instanz auftreten, die ihre Ideen selbstständig entwickelt. Sie greift an anderen Stellen des Romans als Daniel dessen Perspektive wieder auf und setzt sich für diese ein. So meint sie bereits gegen Ende des Romans: „La ausencia de todo espíritu de comunidad y asociación había conservado hasta entonces el mal gobierno de don Juan Manuel Rosas, como habían servido en gran parte a la anarquía que lo produjo.“ (Mármol 1855: 752). Die beiden zentralen Informations- und Bewertungsinstanzen beziehen sich unablässig indirekt aufeinander, indem sie identische Meinungen vertreten233 und ähnliche Formulierungen wählen. Biswei231 Er berichtigt hinsichtlich des impliziten Lesers aber auch jene Stellen, an denen er den föderalen Figuren etwas vortäuscht – diese Funktion übernimmt nicht nur die Erzählinstanz: „—¡Ah, mi buen don Felipe! —exclamó Daniel, riéndose como un niño después de la lectura de esta carta—, ¡quién te diría alguna vez que, ni en chanza, te hablarian de actividad y de talento! Pero no hay nadie inútil en este mundo, y tú me has de servir para grandes cosas todavía.“ (Mármol 1855: 108). 232 Auch die Erzählinstanz distanziert sich von Föderalen wie Unitariern: „Todo esto, en cuanto al lugar del baile, pues que en esos salones no se habían encontrado nunca sino las personas de esa sociedad elegante de Buenos Aires, tan democrátia en política, y tan aristocrática en tono y en maneras.“ (Mármol 1855: 298). Sie schlägt sich auch in der Bewertung von Agüera und Varela aufseiten des Helden: „Parece increíble que hombres de la altura de Agüero y de Varela llegasen a creer que el protocolo que firmaban en 22 de junio de 1840 pudiera nunca servir sino a uno de los dos objetos que se proponían con ese paso, y que sin duda era el más importante para ellos.“ (Mármol 1855: 530). 233 Wirbt Daniel schon von Beginn und vor allem seit seiner Überfahrt nach Montevideo dafür – entgegen der Meinung der Unitarier – Buenos Aires als entscheidend für Sieg oder Niederlage des Heeres von Lavalle anzusehen, so nimmt die Erzählinstanz auch diese Meinung auf: „El gran problema estaba en Buenos Aires. El triunfo, o la derrota general, estaban pendientes del resultado de la expedición libertadora en la provincia de Buenos Aires.“ (Mármol 1885: 664).
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len zitiert die Erzählinstanz in ihren Beschreibungen ihren Helden (aber auch Don Cándido234): „[…] y un enorme puñal a la cintura, cuyo mango salía por sobre la chaqueta un poco hacia el costado derecho: espada de la Federación, como lo llama Daniel.“ (Mármol 1855: 228). Und selbst in ihrer ironischen Grundhaltung ähneln sich die beiden Instanzen235. Zur Gattungsebene Amalia (1855) weist, wie bereits thematisiert, einen Liebesplot auf. Das Schicksal der Patria wird in Amalia (1855) mit jenem des Familienglücks parallel gesetzt. Diese Verknüpfung wird schon zu Beginn durch die Erzählinstanz thematisiert, noch bevor sich Amalia und Eduardo ineinander verlieben und von der glücklichen Verbindung zwischen Daniel und Florencia berichtet wird: „Pero aquellos que hayan llegado a ese paraje, entre las sombras de la noche, para huir de la patria cuando el desenfreno de la dictadura arrojó a la proscripción centenares de buenos ciudadanos, ésos solamente podrán darse cuenta de las impresiones que inspiraba ese lugar y en esas horas en que se debía morir al puñal de la Mashorca si eran sentidos; o decir ¡adios! a la patria, a la familia, al amor, si la fortuna les hacía pisar el débil barco que debía conducirlos a una tierra extraña, en busca de un poco de aire libre, y de un fusil en los ejércitos que operaban contra la dictadura.“ (Mármol 1855: 68)
Amalias und Eduardos Schicksal scheint durch die politische Verfolgung bereits mit dem Eintritt Eduardos in Amalias Haus besiegelt zu sein, worüber sich Eduardo im Klaren ist: „La policía de Rosas tiene tantos agentes cuanto hombres ha enfermado el miedo. Hombres, mujeres, amos y criados, todos buscan su seguridad en las delaciones. ¡Mañana sabrá Rosas dónde estoy, y el destino de esta joven se confundirá con el mío!“ (Mármol 1855: 86). Das Rosas-Regime gilt als Zerstörer des Liebesglücks. An der folgenden Stelle werden Liebe und Patria und deren gemeinsamer Feind zusammengebracht: „La mano de Rosas interrumpía en el corazón de esos jóvenes el curso natural de las afecciones más sentidas: la de la patria y la del amor.“ (Mármol 1855: 272). Liebe und Patria deshalb, weil sie die höchsten Gefühle seien. Daniel ist in dieser Hinsicht zunächst noch glücklich: „Pero en este sentido Daniel era feliz. Él, el más devorado por el deseo de la libertad de su patria, el más dolorido por sus desgracias, el más activo por su revolucion, podía, sin embargo, a
234 In diesem Falle imitiert die Erzählinstanz den Stil Don Cándidos, der gerne Adjektive aneinanderreiht: „El marido se resistía a tomar y leer el misterioso canto; y una gresca al oído, pero que parecía ser terrible, furibunda, espantosa, como diría el señor don Cándido Rodríguez, tenía lugar entre aquellos cónyuges modelo de contraste.“ (Mármol 1855: 350). 235 So bezeichnet sich Daniel scherzhaft folgendermaßen: „—¡Protegido de los señores Anchorenas, consejero de Su Excelencia el señor ministro don Felipe y miembro corresponsal de la Sociedad Popular Restauradora! —dijo Daniel con tan afectada gravedad que no pudieron menos de soltar la risa Amalia y el doctor Alcorta.“ (Mármol 1855: 102).
462 | F REIHEIT UND N ATION los veinticinco años de su vida respirar paz y felicidad en el aliento de su amada [...]“ (Mármol 1855: 273)
Die Liebe zu Florencia ist sein Halt in den politisch bewegten Zeiten, selbst als er maßlos enttäuscht und ernüchtert aus Montevideo zurückkehrt, nachdem er von den anarchischen Zuständen und egoistischen Tendenzen innerhalb der Rosas-Opposition im Exil unterrichtet wurde. „‚Sí, tengo fe; pero fe en tiempos muy lejanos de los nuestros. ¡Patria! ¡Patria! ¡La generación presente no tiene sino el nombre de sus padres! ‚¡Y tú, Florencia, ídolo amado de mi corazón; tú, ángel conciliador de mi alma con la vida, de mi corazón con los hombres, de mi destino con la patria; tú, hebra de luz que me pones en la relación con Dios, extendida desde el cielo al lodo terrenal en que me ahogo; tú, tú eres el único ser de todos los que he visto sobre la tierra a quien quisiera volver a hallar en el cielo, para que nuestras almas volviesen de cuando en cuando, entre los rayos pálidos de la luna, a contemplar la tierra que fue testigo de nuestro amor, como es testigo de tanto desengaño, de tanta virtud mentida, de tanto crimen y miserias reales!‘ [Anführungszeichen im Original]“ (Mármol 1855: 408)
Neben Daniel236 ist es Amalia, die Nation und Liebe zusammenbringt: „Media hora después, Daniel se recostaba sin desvestirse en el aposento de Eduardo; y Amalia oraba de rodillas delante de su crucifijo de oro incrustado en ébano, y rogaba al Dios de las bondades eternas por la seguridad de los que amaba y por la libertad de su patria.“ (Mármol 1855: 460)
Das Glück der beiden Paare in der freien Nation, die gemeinsam unter einem Dach leben wollen, ist es, das die jungen Protagonist/innen anstreben, so Daniel: „—Lo creo, y creo más: creo que antes de un año habrá cuatro personas verdaderamente felices en Buenos Aires: Amalia y tú, Florencia y yo.“ (Mármol 1855: 332). Dass es jedoch keine bloße gegenseitige Allegorie von Eros und Polis ist, die in Amalia (1855) aufgebaut wird, geht aus der folgenden Figurenrede Daniels, wie auch bereits aus den zitierten Stellen, hervor: „—Sí, Eduardo, y más que ésa todavía, oye: dentro de poco tendremos libertad, y con ella un campo inmenso a los trabajos de la inteligencia. La felicidad la buscaremos en nuestra familia, la gloria la buscaremos en la patria. Viviremos juntos. Haremos en Barracas una magnífica casa, en una parte de ellas vivirás tú y Amalia; en la otra mi Florencia y yo [...]“ (Mármol 1855: 333)
Sommer (1991: 47) ist also zuzustimmen, dass die Liebenden jenen Staat wünschen, der ihre Verbindung erlaubt. Es ist in Amalia (1855) jedoch nicht die Nation alleine, 236 Daniel thematisiert den Zusammenhang zwischen Eros und Polis im Gespräch mit Eduardo: „Acabas de pensar en la patria, y estás pensando en Amalia. Acabas de pensar cómo conquistar la libertad, y estás pensando cómo conquistar el corazón de una mujer. Acabas de echar de menos la civilización en tu patria, y echas de menos los bellísimos ojos de tu amada.“ (Mármol 1855: 332).
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von der das Glück der Liebenden abhängt, sondern die zivilisierte, freie Nation: Rosas steht ihrem Glück entgegen, weil er Freiheit und Nation unterdrückt. Und es ist nicht allein der Liebesplot, der die nation-building-Strategie des Textes ausmacht. Aufgrund von Amalia und Eduardo wird weder ein Bild der Nation vermittelt, noch konkretisiert, um welche Nation es sich dabei handeln soll. Die entscheidende Figur ist neben der Erzählinstanz Daniel, der Eduardo gleich zu Beginn des Romans als Helden ablöst: Eduardo ist aufgrund seiner Wunde auf den häuslichen Bereich beschränkt und aus dem politischen ausgeschlossen. Held und Heldin, Daniel und Amalia, bilden nicht das Liebespaar des Romans. Ist in Amalia (1855) auch unverkennbar das von Sommer (1991) beschriebene Begehren angelegt, das den impliziten Leser dazu bringt, neben dem Glück der Liebenden, mit denen er sich identifiziert, auch die Nation herbeizusehnen, so macht das Begehren nur einen Teil der nation-buildingStrategie Amalias (1855) aus. Fragen wir neben der Zuordnung Amalias (1855) zum national romance nach anderen Gattungszuschreibungen, die der Roman erfahren hat, so dominiert hier die Subgattung des politischen oder historischen Romans. Lichtblau (1959: 46, 47) erscheint es sinnvoller, den Roman als politischen Roman zu klassifizieren237, da er die Ereignisse der Gegenwart zur Grundlage hat, nicht die Vergangenheit. Das Werk wurde auch der Gattung des Diktatorenromans zugeteilt238. Weitgehende Einigkeit besteht darüber, dass Amalia (1855) der Ästhetik der Romantik folgt. „Amalia es un complejo ejemplo de novela romántica. El juego mnemónico de algunos clisés descriptivos, la proyección subjetiva, la exaltación sentimental, las funciones folletinescas, las pulsiones efectistas, impuestas por la publicación en entregas sucesivas, las perspectivas internas del proceso amoroso, tienen un claro parentesco con los distintos metagéneros narrativos de la corriente romántica. [Kursivierung im Original]“ (Varela Jácome 2000: s.p.)
Es wurde darauf hingewiesen, dass v.a. die Liebesszenen typisch romantisch239 gehalten seien (vgl. auch Kersen 1989), das Werk aber auch Züge des Realismus trage 237 Dem stimmt auch Laera (2011) zu: „Amalia se configura así como la primera novela política, el primer texto que hace un uso político de la ficción. [Kursivierungen im Original]“ (Laera 2011: s.p.).
238 „Amalia también se sitúa en los orígenes del subgénero que se conoce con el nombre de ‚novela de dictador‘ o ‚novela de dictadura‘, dado que la narración gira en torno al régimen dictatorial de Juan Manuel Rosas (1829-1852). [Kursivierung und Anführungszeichen im Original]“ (Cornejo Parriego 2010: s.p.). 239 Auch die Spiegelung in der Natur ist in Amalia (1855) an zahlreichen Stellen vorzufinden, oftmals nicht nur in Bezug auf Gefühlszustände einzelner Figuren (v.a. Amalias), sondern des Zustands der Nation: „Porque el invierno de 1840, como si hasta la naturaleza hubiese debido contribuir en ese año a la terrible situación que comenzaba para el pueblo, había empezado sus copiosas lluvias desde los primeros días de abril.“ (Mármol 1855: 172); „[…] uno de esos días del mes de mayo en que el azul celeste de nuestro cielo es tan terso y brillante que parece, propiamente hablando, un cortinaje de encajes y de raso […]“ (Mármol 1855: 176). An manchen Stellen scheint die Natur indifferent gegenüber den brutalen Zuständen in der Nation zu sein: „Como la naturaleza, la humanidad también debía aparecer indiferente a las desgracias que se acumulaban sobre la cab-
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(Lichtblau 1959: 50). Vor allem die Beschreibung der Föderalen und das historische Portrait zählten zu letzterem (Lichtblau 1959: 50). Oviedo (2001) meint dazu: „Como en tantas novelas románticas hay una constante contradicción entre la flagrante idealización y la declarada fidelidad a los hechos, entre la tendencia a la fantasía y el obligado análisis social.“ (Oviedo 2001: 42).240 Amalia (1855) geht jedoch über eine soziale Analyse hinaus. An der Fiktionalität des Werks bestehen keine Zweifel in der Sekundärliteratur. Amalia (1855) weist typische Fiktionalitätsmarker auf, wovon die allwissende Erzählinstanz, die das Innenleben sämtlicher Figuren kennt, nur einer ist. Und dennoch scheint Mármol mit Faktizität als literarischer Strategie zu spielen; ein Merkmal des Romans, das das gesamte Werk durchzieht. Zahlreiche Stellen könnten angeführt werden, es seien in der Folge nur die illustrativsten von ihnen diskutiert. An mehreren Stellen des Romans streicht die Erzählinstanz hervor, welche Ereignisse für die Nachwelt bedeutsam sein werden oder sie macht darauf aufmerksam, dass die Geschichtsschreibung so manches Detail später noch klären werde: „Rosas fue un tirano ignorante y vulgar. A ningún fin político iban sus pasos. Ninguna alta idea formaba el centro de sus acciones. Y tras su vida política no debía quedar sino un recuerdo repugnante de ella. Sólo el crimen fue sistemático en ese hombre.“ (Mármol 1855: 753)
Diese Kommentare beziehen sich auf die Rezeption durch die nachfolgenden Generationen. Die Erzählinstanz tut ganz so, als ob sie sich der Wahrheit verpflichtet hätte: „[…] y en obsequio de la verdad histórica, es preciso decir que Rosas no sacó de él [Mandeville] todo el provecho que esperaba sacar [...]“ (Mármol 1855: 155). Sie weist darauf hin, dass einige der von ihr erwähnten Aspekte und Dokumente Gegenstand der späteren Historiographie sein werden241.
eza de ese pueblo inocente que, como fue solo en las victorias y en la grandeza, solo y abandonado debía sufrir la época aciaga de su infortunio.“ (Mármol 1855: 173), was wiederum die Indifferenz der Nationsangehörigen widerzuspiegel scheint. 240 Auch Fernández (2010) betont den Kontrast zwischen realistischer und romantischer Darstellung: „Esa pretensión de exactitud acentúa la atmósfera realista de un relato que trataba de mostrar personajes reales y costumbres de Buenos Aires, atmósfera en la que parecen integrarse con dificultad los héroes imaginados por el autor, idealizados hasta resultar de algún modo inverosímiles.“ (Fernández 2010: 44). 241 „Esa pieza histórica tiene en sí misma el sello de dos verdades innegables, que más tarde serán temas de largas meditaciones en el historiador de estos países, como le servirá también de comprobante para justificar la lealtad y la moral de los emigrados argentinos, tantas veces acusados de vender y sacrificar los intereses y los derechos de su país, en sus relaciones con el extranjero. [Kursivierung im Original]“ (Mármol 1855: 530); „El primer día de setiembre de 1840 se extendió sobre el cielo de Buenos Aires oscuro, triste, cargado de vapores, como si en su aparición ese fatal mes quisiera ofrecerse a los ojos de los mortales tal como se ofrecería en la posteridad al estudio del historiador: triste, sombrío, cargado de horrores y preñado de la tormenta de sangre que debía estrellarse, romperse y diluviar sobre la frente argentina.“ (Mármol 1855: 663).
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Amalia (1855) ist gespickt mit Dokumenten aus der damaligen Zeit242. Neben fiktionalen Briefen (z.B. Daniels an den Präsidenten der Sociedad Popular Restauradora (Mármol 1855: 108)), finden sich in Amalia u.a. zahlreiche Briefe243 von historischen Persönlichkeiten beider Seiten, z.B. Kriegsberichte von secretarios militares (Mármol 1855: 372, 373), ein orden general vom April 1840 (Mármol 1855: 319), des unitarischen Brigadier Tomás Brizuela (Mármol 1855: 467, 468), einen Brief Lavalles an den Militärkommandanten von San Pedro (Mármol 1855: 699, 700), Zeitungsberichte wie jener über die fiesta de la parroquia de Monserrat vom 8. August 1839 in der Gaceta Mercantil244, das Protokoll einer Konferenz der Exil-Unitarier, das von Bouchet Martigny, Julián S. de Agüero, Juan J. Cernadas, Gregorio Gómez, Valentín Alsina, Ireneo Portela und Florencio Varela gezeichnet ist (Mármol 1855: 522-527), eine Stellungnahme von Valentín Alsina, dem Redakteur des Comercio del Plata in der Fußnote (Mármol 1855: 768-770) sowie eine zehnseitige Liste der Clasificaciones ab 1835, d.h. eine umfassenden Auflistung von insgesamt 9442 Namen von jenen, die als Regimegegner klassifiziert worden waren (Mármol 1855: 679689). Definiert die Erzählinstanz zunächst noch, was der Schriftsteller und was der Historiker zur Erklärung des Terrorregimes beitragen können245, so lässt sie später die Dokumente sprechen246 – hier mit explizitem Hinweis darauf, welchen Effekt dies auf den impliziten Leser haben soll: „Dejemos la palabra a los documentos, porque ellos de suyo han de reflejar sobre la conciencia del lector todo lo que hay de horrible y de repugnante en los hechos que fijamos como antecedentes de esa bacanal pública, que se llamó fiestas de las parroquias. [Kursivierung im Original]“ (Mármol 1855: 513)
Die Sprechinstanz beharrt in der Fußnote darauf, dass alle Dokumente authentisch seien: „Inútil es decir que todo documento publicado en esta obra es auténtico.“ (Mármol 1855: 562). An manchen Textstellen wird darauf aufmerksam gemacht, was Teil des Romans, was der Geschichtsschreibung sein soll247: „Y es para poder fijar 242 Auf eine Ko-Präsenz von fiktionalem und periodistischem Diskurs im Roman Amalia
243
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(1855) macht González (2006: 235) aufmerksam. Er nennt dies im Vergleich mit weiteren hispanoamerikanischen Romanen ley de disimulo – die Verstellung sei Ziel und Konstante des Romans, so seine These (González 2006: 236). Der Brief erfüllt in Amalia eine andere Funktion als in Soledad. Er erlaubt nicht sosehr Einblicke in die Gefühlswelt der Figuren und dient so nicht vorrangig der Konstruktion von Subjektivität, sondern hat vielmehr dokumentarischen Charakter und ist Teil einer Objektivierungsstrategie. Die Quellen werden im Roman jeweils detailliert in der Fußnote angegeben. „La pluma del romancista no puede entrar en las profundidades filosóficas del historiador; pero hay ciertos rasgos, leves y fugitivos, con que puede delinear, sin embargo, la fisonomía de toda una época [...]“ (Mármol 1855: 418, 419). So auch an dieser Stelle: „[…] pero que hablen los documentos.“ (Mármol 1855: 516). Ähnlich an folgender Stelle: „Entretanto, la pluma del romancista se resiste, dejando al historiador esta tristísima tarea, a describir la situación de Buenos Aires al comenzar los primeros días de setiembre.“ (Mármol 1855: 665).
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con claridad la filosofía de esta conclusión, que la novela ha tenido que historiar brevemente los antecedentes que se han leído. [Kursivierung im Original]" (Mármol 1855: 519). Das Bestehen auf diesen eigentlich dem historiographischen Diskurs zuzuschreibenden Methoden ist für den Rezeptionsvorgang nicht unerheblich, da sie einen Anspruch des Textes – oder zumindest bestimmter Teile des Textes – auf Wahrheit nahelegen. Ist zwar das Zustandekommen eines Fiktionalitätsvertrages wahrscheinlich, so suggeriert die Erzählinstanz, diesen stellenweise außer Kraft setzen zu wollen, wenn sie zwischen novela und historiar unterscheidet. Diese als solche markierte Trennung zwischen fiktionalem und scheinbar faktualem Diskurs ist ohnehin als solche nicht aufrechtzuerhalten, wird doch das Dokument ausdrücklich mit dem Plot verknüpft248. Die schriftlichen Zeugnisse sollen ja gerade die erzählte Welt bestätigen, diese mit zusätzlicher Information versorgen und v.a. den impliziten Leser für die erfolgte Darstellung gewinnen. Sie fügen sich harmonisch in das Werte- und Normensystem der erzählten Welt ein. Stellvertretend dafür kann folgende gegen Ende des Romans zu findende Textstelle angeführt werden, in der die Erzählinstanz die Authentizität des letzten Geheimtreffens mit der fiktionalen Figur Daniel betont und so endgültig Fiktion und fingierte Faktizität zur Vermischung bringt: „Al cerrar este capítulo, en que la novela ha sido una verdadera historia; pues que tal reunión tuvo lugar en efecto en la noche del 6 de setiembre de 1840, con algunos de los incidentes que se han referido, queremos apoyar las palabras del héroe sobre su gran tema de asociación, con lo que existe en Inglaterra en un solo ramo de las asociaciones inglesas; en ese imperio cuyo poder y grandeza no tiene otra base que la asociación en todo y para todo. [Kursivierungen im Original]“ (Mármol 1855: 763)
Dem folgt eine zweiseitige Aufzählung unterschiedlicher asociaciones, die in Großbritannien existieren. Lassen sich auf Textbasis auch keine Aussagen über den realen Rezeptionsvorgang treffen, so scheinen dieses Spiel mit Faktizität und der dokumentarische Charakter weiter Textabschnitte die Fiktion insgesamt ein Stück näher an die extratextuelle Welt zu rücken, mit möglichem Anspruch, Aussagen über diese zu treffen. Der implizite Leser wird mit der Infragestellung des Fiktionalitätsvertrags konfrontiert, erhält aber kein eindeutiges Signal, in welchem Verhältnis die als dokumentarisch bezeichneten Stellen im Werk zur extratextuellen Welt stehen. Scheinbar faktuales Erzählen im fiktionalen Erzähltext kann so als Strategie des literarischen nation-
248 Nach einer längeren Kommentierung der politischen Situation durch die Erzählinstanz schafft sie folgenden Übergang zurück zu den Figuren: „Los sucesos que se precipitan, anudándolos con los sucesos anteriores que se conocen ya, nos van a dar a comprender todo lo que tiene de terrible y de lúgubre esa verdad.“ (Mármol 1855: 756). Auch die folgende Textstelle zeugt von der Verwebung historischer Darstellungen mit dem Plot: „El lector tendrá que acompañarnos esta vez a un paseo de pocas horas a la parte septentrional del Plata, siguiendo con nosotros a uno de los actores principales de nuestra historia; y después volveremos a tomar el hilo de los acontecimientos históricos.“ (Mármol 1855: 365).
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building betrachtet werden249. Was Oviedo (2001) als defizitär an Amalia (1855) betrachtet, gilt aus Sicht dieser Arbeit als Teil der Textstrategie: „Pero el tono general de la obra es el panfletario y su tesis es de un determinismo que coincide con la visión sarmentina: el caudillismo es un producto directo de la vida bárbara de la pampa. Para Mármol esos bárbaros son los gauchos, los indios, los negros, la chusma que rodea a Rosas y a todo individuo ajeno a la cultura europeizante y sus tradiciones políticas.“ (Oviedo 2001: 43)
Es ist naheliegend, dass die Textstrategie gar nicht vom Anspruch zeugt, ein objektives Geschichtsbild zu zeichnen, sondern den impliziten Leser zur Übernahme des in Amalia (1855) gezeichneten Bildes der Nation zu bewegen, so fragmentarisch, deterministisch250 und verzerrt es auch sein mag. Gerade diese Charakteristika machen die Konstruktion der Nation aus. Fernández (2010: 52) hat Amalia (1855) aufgrund der Vermischung von Analysen der politischen Nation und Plot als novela-ensayo bezeichnet, während Laera (2011) darauf aufmerksam macht, dass novela und ensayo nicht nebeneinander stehen, sondern zu einer Textstrategie verschmelzen: „En Amalia no hay antagonismo: la conjunción de la ficción y la política garantiza una doble función que apuesta a potenciar la eficacia de la propaganda. [Kursivierung im Original]“ (Laera 2011: s.p). Dass die ästhetische Freiheit des Werks unter der Indienstnahme von Literatur für die Konstruktion der Nation leiden mag, soll damit nicht bestritten werden. Literatur und Nation in Amalia Bevor die einzelnen in Amalia (1855) enthaltenen Textstrategien zur rezeptionsorientierten Konstruktion einer Nation zusammengeführt werden, sei auf folgende im Erzähltext enthaltenen Anspielungen auf Literatur und Nation hingewiesen. Zum einen erwähnt Doña Marcelina Daniel gegenüber, dass Rosas nicht nur die Liebe zur Freiheit der/in der Nation vernichte, sondern auch die Liebe zur Literatur: „Eran los [versos] que le componían el año 33. Ese insulto lo recibí en tiempo de la primera administración de este gaucho asesino [Rosas] que me hizo víctima de mis opiniones políticas, y quizá también de mi amor a la literatura, porque este salvaje proscribió a todos los que nos dedicábamos a ella. Todos mis amigos fueron desterrados.“ (Mármol 1855: 196)
Im Text wird zudem die Polemik der generación del 37 aufgegriffen, ob nun das Schreiben oder die militärische Aktion das geeignetere Mittel zur Bekämpfung des Rosas-Regimes seien. Auf der letzten Geheimversammlung entbricht ein Streit zwischen den wenigen Verbliebenen über eben diese Frage:
249 Fernández (2010) vertritt die Meinung, dass Amalia (1855) auf die Konstruktion einer Vorstellung der Nation abzielt: „Por lo demás, Amalia compartía con las novelas históricas del romanticismo la pretensión de ofrecer lecciones moralizadoras a los lectores del momento, y su voluntad de construir un imaginario nacional.“ (Fernández 2010: 44). 250 Wie oben diskutiert, kann das Bild der ‚Barbaren‘ auch etwas differenzierter betrachtet werden, z.B. im Hinblick auf den gaucho.
468 | F REIHEIT UND N ATION „—Pero, señores, por el amor de Dios —dijo otro que no había hablado todavía—; ¿es posible que no podamos estar juntos cuatro argentinos, sin que nos pongamos en anarquía? ¿Todavía no hemos vencido a Rosas, y ya nos ponemos a disputar sobre si el elemento militar ha sido más poderoso, para derrocarlo, que la propaganda literaria?“ (Mármol 1855: 759)
Und als Daniel im Café Antonio in Montevideo verweilt, betreten plötzlich Alberdi, Echeverría, Gutiérrez und Irigoyen den Raum. Dessen Freude darüber, diesen Persönlichkeiten so nahe zu sein, ist groß251: „Los ojos del personaje de la capa de goma radiaron de alegría. —Alberdi, Gutiérrez, Irigoyen, Echeverría —dijo aquel individuo, siguiendo con los ojos a los cuatro que acaba de nombrar, no saciándose de mirarlos. —¿Los conoce usted, señor don Daniel? —le preguntó el hombre de la gorra. —¡Oh!, sí, sí, y crea usted, Mr. Douglas, que pocos esfuerzos más violentos he hecho en mi vida, que el que hago en este instante sobre mí mismo para contener mi deseo de abrazarlos.“ (Mármol 1855: 399, 400)
Konklusion Entgegen einer weitverbreiteten Annahme in der Sekundärliteratur, stehen sich in Amalia (1855) nicht Föderale und Unitarier unversöhnlich gegenüber. Wie auch von Fernández (2010) angemerkt, konnte gezeigt werden, dass der Held des Romans einen dritten Weg zwischen den beiden Streitparteien voranzutreiben versucht. Dieser und dessen Nationskonzept kann nicht ohne den Begriff der Freiheit auskommen. Neben der Befreiung der Nation (Freiheit der Nation) von der Tyrannei, setzt sich der Held Daniel für rechtlich gesicherte Freiheit des Individuums (Freiheit vom Staat) ein, darunter die Freiheit, seine (politische) Meinung zu äußern und zu vertreten, die Vereinigungsfreiheit, wirtschaftliche Freiheit252, die Freiheit zu lieben. Um diese in Argentinien verankern zu können, scheint ihm eine gesellschaftliche Reform, die Beseitigung des Egoismus (einer der zentralen Kritikpunkte des Helden an den Unitariern), als unumgänglich. Die asociación in sämtlichen Gesellschaftsbereichen 251 Daniels Verbundenheit – auch hinsichtlich der Einstellung zu Patria und Libertad – und Bewunderung gegenüber den vier Figuren wird folgendermaßen hervorgestrichen: „Pero antes de dejar aquel lugar, en que según sus matemáticas acababa de ganar algunos desengaños más, miró uno por uno, con los ojos enternecidos y el corazón desconsolado, sus cuatro amigos que quedaban hablando de la patria sin sospechar que había allí uno que corría por ellos y por todos en la orilla del resbaladizo precipicio en que estaban luchando brazo a brazo en ese instante la libertad y la tiranía, la prosperidad y la ruina de dos pueblos dormidos, el uno bajo el sopor de la desgracia, el otro bajo el beleño de una transitoria pero halagüeña felicidad; domidos al arrullo de las salvajes ondas del gran río, cuyo rumo debía pasar inapercibido en una próxima década, ahogada su poderosa voz por el estrépido de la pólvora, por el grito terrible del combate, y por el quejido lastimero de una sociedad expirante.“ (Mármol 1855: 402, 403). Zeigt sich Daniel von der Widerstandsbewegung in Uruguay enttäuscht, so ist seine Freude und Bewunderung gegenüber den erwähnten Figuren ungetrübt. 252 Die Hafensperre Frankreichs sowie die Abschottung Rosas’ von Europa sind zentrale Nebenthemen in Amalia (1855).
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wird als Lösung für das Problem von Freiheit und Nation in Argentinien präsentiert. Die Idee der asociación umfasst eine gesellschaftliche Neuorganisation der Nation, gesetzlich gesicherte Freiheit, Fortschritt und Aufklärung in den Bereichen Handel, industria, Wissenschaft und Literatur und christliche Moral. Europa solle nach Amerika gebracht werden. Die junge Generation bezieht sich auf die Mairevolution (Vergangenheit) und richtet ihr Programm zugleich in die Zukunft. Wie wird dieses Nations- und Freiheitsmodell im literarischen Text inszeniert? Zum einen verkörpert der Held des Romans die skizzierte politische Einstellung, für die er sich mit Leib und Leben einsetzt. Ihre politischen, an die künftigen Generationen gerichteten Ideen legt die Figur selbst in verschiedenen Situationen dar, sei es in Gesprächen mit Freunden, politischen Größen ihrer Zeit, sei es als Wortführer der Geheimversammlungen der männlichen Jugend in Buenos Aires. Daniel wird von der Erzählinstanz als die Verkörperung der Verschwörung gegen Rosas und der Patria bezeichnet. Unterstützt wird der Held von der wertenden Erzählinstanz, deren Ideen sich mit jenen Daniels decken253. Ergänzend liefert die Erzählinstanz ein umfassendes Bild der Nation, deren Vergangenheit und Gegenwart, in ausgiebigen Kommentaren abseits des eigentlichen Plots. Libertad und Patria seien mit der Mairevolution zum ersten Mal in Argentinien erkämpft worden, doch die Unabhängigkeit von Spanien alleine hätte nicht ausgereicht, um Freiheit vom Staat dauerhaft zu verankern. Das Volk wird als unvorbereitet für die neue ‚Zivilisation‘ dargestellt und hätte der caudillo-Herrschaft den Weg bereitet. Rosas sei nun das glatte Gegenteil von Libertad und Patria – ein freiheitsvernichtendes, despotisches Regime, das die Grundlagen der Patria zerstöre und das Recht mit Füßen trete, unterstützt von der ‚schwarzen‘ und ungebildeten Bevölkerung. In Amalia (1855) wird eine Wertewelt kreiert, die in sich kohärent ist und einen hohen Grad an Übereinstimmung zwischen den Perspektiven des Textes bezüglich Freiheit und Nation aufweist, der nicht zuletzt durch die Deckungsgleichheit der Einstellungen von Erzählinstanz und Helden, den beiden zentralen Instanzen der Informationsvergabe und der Bewertung des Geschehens, erreicht wird. Befördert wird diese durch die explizit wertende Kommentierung der Nation durch die Erzählinstanz, die neben ihrer klaren Verurteilung des Rosas-Regimes und deren Unterstützer/innen offen den Nationsentwurf des Helden befürwortet. Begleitet werden diese Strategien von einer starken Einbeziehung des impliziten Lesers, der von der Erzählinstanz ‚an der Hand‘ genommen wird und aufseiten der ihn mit Information und Wertung versorgenden Instanzen (Erzählinstanz und Daniel) zu ziehen versucht wird. Die Einbeziehung des impliziten Lesers ist es auch, die eine Verbindung zwischen dem Bild der Nation in den Kommentaren der Erzählinstanz mit dem eigentlichen Plot erlaubt: Der implizite Leser wird entlang der ideologischen Linien des Textes durch Kommentar und Plot gleichermaßen geführt. Mithilfe expliziter Wertungen und quantitativ wie qualitativ überwiegenden Einblicken in das Innenleben der beiden Helden, Daniel und Amalia (und in geringerem Ausmaß Eduardos und Florencias) sowie des von Sommer (1991) beschriebenen Liebesplots erfolgt eine klare Sym-
253 Erzählinstanz und Daniel ähneln sich darüber hinaus in ihrem Wechsel von Ernst und Ironie.
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pathielenkung254 und ein Identifikationsangebot mit den liebenden, jungen, schönen, gebildeten, intelligenten, freiheits- und nationsliebenden und moralisch guten Protagonist/innen, deren Glück der implizite Leser gemeinsam mit der neuen Nation begehren soll. Gleichzeitig ist eine deutliche Antipathielenkung255 gegen das RosasRegime und dessen Anhänger bemerkbar, die in Form von beißender Ironie, expliziten Wertungen und Verurteilungen sowie der Verkehrung der positiven Attribute der Helden ins Gegenteil erfolgt: V.a. die ungebildeten Figuren der Föderation werden als bestialisch, animalisch, blutrünstig und verlogen gezeichnet. Diskriminierende und rassistische Äußerungen v.a. gegenüber der ‚schwarzen‘, weiblichen Bevölkerung sowie der armen, ungebildeten Klasse gehen damit einher. Der gaucho zeugt aber davon, dass mithilfe von Bildung und der moralischen Erziehung durch ein ‚zivilisiertes‘ Umfeld eine Lernfähigkeit der Figur bezüglich Freiheit und Nation gegeben ist256. Aus dem Gesagten lässt sich ableiten, dass Daniel als der sympathische Held Freiheit und Nation verkörpert und ihm der Aufbau der Patria überantwortet wird. Dass es eine kleine Elite ist, die den befürworteten Nationsentwurf zur Umsetzung bringen soll, nicht etwa eine Volksbewegung, wird in den Geheimversammlungen derselben deutlich. Und auch innerhalb dieser Elite wird kein Ideal eines gleichberechtigten, öffentlichen Austausches zur gemeinsamen Meinungsfindung im Sinne liberaler Öffentlichkeit gezeichnet: Es ist Daniel257 (und in geringerem Ausmaß Eduardo), der das politische Programm der asociación vorträgt und verfasst, unterbrochen nur von wenigen und kaum inhaltlichen Kommentaren der Anwesenden. Ohne Abstimmung über das Programm verkündet Daniel am Ende der Versammlung: „Yo redactaré nuestro estatuto.“ (Mármol 1855: 326). Eine ähnliche Haltung kann bezüglich des impliziten Lesers konstatiert werden, der nicht zur Bildung einer eigenständigen, vernunftgegründeten Meinung angehalten wird, sondern eng an Erzählinstanz und Helden gebunden durch das ideologische Programm ihrer Nation geführt wird. Im Gegensatz dazu steht die Betonung der föderalen Figuren des Gleichheitsgrundsatzes ungeachtet von Ethnizität und Klasse, die jedoch sogleich von Erzählinstanz oder Daniel ironisiert wird und als bloße Strategie zur Verfolgung von Eigeninteressen der Föderalen diskreditiert wird258. Die Rezeptionssteuerung zugunsten des in Amalia (1855) entworfenen Nationenbildes erfolgt neben den erwähnten Mechanismen durch Objektivierungsstrategien, die den impliziten Leser vom Wahrheitsgehalt der favorisierten Sicht auf die Nation überzeugen sollen: Zum einen können die zahlreichen Figurenreden, die als selbstständig inszeniert werden und bei denen sich die Erzählinstanz zugunsten einer neu254 Don Cándido als komische Figur sowie die humorvolle Ironie des Protagonisten tragen dazu bei.
255 Mitunter kommt es dabei zu zwiespältigen Antipathielenkungen, etwa wenn die Erzählinstanz zu Mitgefühl für den von Rosas malträtierten bufón, der als außerordentlich dumm, hässlich und vulgär beschrieben wird, aufruft (vgl. Mármol 1855: 152). 256 Vgl. dazu Österbauer (2017). 257 Dass Daniel autokratische Züge trage, wird in der erzählten Welt nicht dargestellt. Eine solche Lesart wäre aber aufgrund der erwähnten Stelle möglich. 258 Trotz oder gerade aufgrund der Ironisierung kommt es hier aber zu einer Doppelung des Diskurses, die die realen Rezeptionsweisen vervielfachen kann.
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tralen Haltung zurücknimmt, als solche gelten. Die Figuren geben ihre Meinungen bezüglich der Nation ‚autonom‘ und stellenweise von der Erzählinstanz unkommentiert wieder. Zugleich besteht aber ein Ungleichgewicht der Figurenrede zugunsten der sympathischen Figuren. Die ‚Objektivität‘ der Figurenrede wird zudem dadurch getrübt, dass den föderalen Figuren die Sicht der Opposition auf die Föderation in den Mund gelegt wird oder diese stellenweise von der Erzählinstanz oder Daniel berichtigt werden259. Als weitere Objektivierungsstrategie kann die Bestätigung der Sicht der Erzählinstanz auf die Figuren und deren Charakter durch eine Vielzahl an Figuren und Nebenfiguren (im Falle Daniels wird dessen Talent u.a. von föderalen Figuren hervorgehoben) gesehen werden. Die Aufteilung der Informationsvergabe und Bewertung des Geschehens zwischen Erzählinstanz und Held trägt zu einer weiteren Objektivierung bei. Nicht zuletzt seien das Spiel mit Faktizität und die scheinbar authentische, objektive, wahrheitsgetreue Darstellung der politischen Situation durch das Sprechenlassen zahlreicher Dokumente sowie die Fingierung eines historiographischen Diskurses als Objektivierungsstrategie erwähnt. Die abschnittsweise Infragestellung des Fiktionalitätsvertrages wird durch Fußnoten, in denen eine Sprechinstanz auftritt, die sich auf biographische Daten des realen Autors bezieht, verstärkt. Die Rezeptionslenkung in Amalia (1855) ist daher nicht minder ausgeprägt als im Facundo (1845) oder in Soledad (1847), doch bedient sie sich teilweise anderer Mittel: An die Stelle einer alles dominierenden Erzählinstanz treten subtilere Mittel einer objektivierten Darstellung der erzählten Welt, die nicht weniger von Wertungen durchsetzt ist und nicht zuletzt dadurch überzeugend wirkt, dass sie scheinbar objektiviert wird.
J UAN B AUTISTA ALBERDI Einordnung und Struktur des Werks Peregrinación de Luz del Día o Viajes y aventuras de la Verdad en el Nuevo Mundo wurde 1874 veröffentlicht. Der Roman hebt sich aufgrund seines Entstehungsjahrs (1870/71) von den anderen literarischen Werken des Korpus’ ab: Während die anderen Autoren der generación del 37 die meisten ihrer literarischen Werke während des Rosas-Regimes verfassten – die hier untersuchten literarischen Erzähltexte stammen alle aus der Zeit zwischen 1838 und 1851 – schreibt Alberdi diesen Roman erst zwanzig Jahre nach dem Fall von Rosas260. Wie Mitre hat Alberdi keine literarische Erzählung gegen Rosas verfasst; im Unterschied selbst zu Mitre auch keine, die das 259 Diese Berichtigungen erfolgen in geringerer Anzahl auch im Hinblick auf unitarische Figuren (vgl. die señora de N).
260 Wie bei Laura Demaría (2001) nachzulesen, galt Alberdi infolge der Polemik mit Sarmiento und Mitre, v.a. ab 1860, als traidor de la patria und lebte kaum in Argentinien. Unter Urquiza war er zum Botschafter Argentiniens in Frankreich, Großbritannien und Spanien bestellt worden. Dieses Amt hatte er 1862 unter Mitre verloren. Alberdi war daraufhin in Frankreich geblieben und erst nach insgesamt vierzig Jahren wieder nach Argentinien zurückgekehrt, wo er Abgeordneter seiner Heimatprovinz geworden war. Bald darauf sollte er aber wieder nach Paris gehen, wo er 1884 starb. (Aira 2001: 19, 20)
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Thema der Nationenbildung zum Gegenstand hätte261. Ricardo Rojas, dessen Ausgabe von 1916 hier vorliegt und die Grundlage für die nachfolgende Analyse bildet, weist darauf hin, dass Peregrinación de Luz del Día als siebter Band der Obras completas veröffentlicht wurde, allerdings ohne Hinweis, ob diesen eine Publikation des Romans voranging (Rojas 1916: 14). Ortale (2014: s.p.) erklärt, dass die erste Auflage ohne Angabe von Autor und Erscheinungsjahr veröffentlicht wurde. Das Werk selbst ist mit „Londres, febrero de 1871“ (Alberdi 1874: 309) gezeichnet. Der etwa 280 Seiten umfassende Erzähltext besteht aus drei Teilen zu insgesamt 107 Kapiteln. Der Titel resümiert bereits die Handlung des Romans – die Reise und Abenteuer der Wahrheit in der Neuen Welt – verrät aber noch nicht, dass diese Reise eine Suche nach der Freiheit ist. César Aira (2001) bewertet den Roman folgendermaßen: „[…] una curiosa y no muy lograda novela alegórica [...]“ (Aira 2001: 20). Analyse von Peregrinación de Luz del Día nach einzelnen narratologischen Kategorien Im ersten Teil macht sich die Wahrheit, die sich auch Luz del Día nennt, von Europa auf in die ‚Neue Welt‘. Sie ist auf der Flucht vor Gestalten, die es mit der Wahrheit nicht gut halten und beschließt daher das Europa des 19. Jahrhunderts hinter sich zu lassen: „Dice el cuento que aburrida la Verdad de vivir en Europa en medio de un mundo y de generaciones formadas en los moldes de Tartufo, de Gil Blas, de Basilio, etc., y mortificada por la exhibición de los triunfos insolentes y cínicos, pero siempre afortunados de su indigna rival la Mentira, personificada en casi todos los papeles de la sociedad europea, no queriendo suicidarse tan joven (¡ y es más antigua que Aristóteles y Platón !), la Verdad se determinó un día de mal humor a emigrar al Nuevo Mundo, tan lindamente presentado a su imaginación siempre juvenil por su predilecto amigo el autor de París en América.“ [Kursivierungen im Original] (Alberdi 1874: 32)
Ihre Reise tritt sie inkognito an, verkleidet als Frau, wenngleich sie weder männlich noch weiblich ist, kein Geschlecht hat und meist nackt ist. Am Hafen ihrer Ankunft gilt sie als verrückt, da sie als Beruf angibt, jedem/r die Wahrheit zu sagen und das den Weisen und den Verrückten vorbehalten ist (und weise kann sie nicht sein, da sie eine Frau ist, so scherzen ihre ersten Gesprächspartner in der ‚Neuen Welt‘). Man einigt sich, dass Luz del Día wohl im Erziehungswesen tätig ist und empfiehlt sie an Tartufo, „[…] un gran liberal, una especie de apóstol de la instrucción popular, un partidario de la emigración europea en América.“ (Alberdi 1874). Zunächst erschrocken, auch in der ‚Neuen Welt‘ an Tartufo zu geraten, beschließt die als schöne, junge Frau beschriebene Wahrheit ihn dennoch aufzusuchen, um mehr über ‚Südameri-
261 Sein kurzer Roman Tobías o la cárcel a la vela. Producción americana escrita en los mares del Sud, der 1844 entstanden ist und 1851 als folletín in der chilenischen Zeitung El Mercurio veröffentlicht wurde (Rojas 1930: 488-490), handelt von den unzumutbaren Bedingungen einer Schiffsreise von Río de Janeiro nach Valparaíso und enthält u.a. beiläufige Kommentare des Protagonisten zu seiner von Rosas unterdrückten Patria.
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ka‘262 in Erfahrung zu bringen. Im Gespräch mit Tartufo erfährt sie, dass es um die Wahrheit in ‚Südamerika‘ nicht so gut bestellt ist wie erhofft: „Todos hacen profesión pública de rendir homenaje a la Verdad, pero cuidando en realidad de exterminarla en todas las ocasiones que se presentan de hacerlo impunemente y sin darlo a conocer.“ (Alberdi 1874: 38). Da sie die Bildung der neuen Gesellschaft nicht der Lüge überlassen kann, erklärt sie, trotzdem bleiben zu wollen: „Yo sería criminal ante mi propia conciencia, si por evadir este deber dejase envenenar la educación de esta nueva sociedad en manos de la mentira personificada.“ (Alberdi 1874: 37). Tartufo verbringt sein Mittagsmahl stets mit den Größen des Landes. So kommt es, dass Luz del Día bei einem ihrer Treffen mit Tartufo, in dem sie viel Wahres erfährt, auf Basilio stößt, der nicht weniger als Tartufo als Liberaler in der ‚Neuen Welt‘ sein Unwesen treibt und in ‚Südamerika‘ paradoxerweise für die Wahrheit in Person gehalten wird. Luz del Día glaubt einen Staatsminister, Kanzler oder Staatschef vor sich zu haben: „—Si yo no soy ministro, yo hago los ministros, o los hago hacer, que viene a ser lo mismo; y no sólo los hago, sino que los sostengo; y no sólo los sostengo, sino que los derribo cuando me conviene o cuando no me sirven. Yo no soy canciller, pero hago los cancilleres o los hago hacer, facilitándoles la tarea de sus conquistas, que motivan su elevación. Del mismo modo hago o hago hacer los generales, abriéndoles las puertas de las plazas enemigas por mis amistades en estas últimas.“ (Alberdi 1874: 81)
Von ihren bisherigen Gesprächspartnern enttäuscht, beschließt Luz del Día auf ihrer Suche nach ehrlichen Menschen die Bibliothek aufzusuchen: „La presencia de una mujer joven y bonita en la biblioteca pública, llamó la atención de los que allí estaban leyendo, porque las damas del país no acostumbran ir a las bibliotecas. Todos los que allí se encontraban eran jóvenes, lo que confirmó la esperanza de Luz del Día de hallarse entre la buena fe.“ (Alberdi 1874: 120)
Doch anstatt wissbegierige, literaturinteressierte junge Menschen zu treffen, findet sie dort nur Gil Blas vor, der aus dem folgenden Grund dort weilt: „Si va a la biblioteca, es para leer las causas de los criminales célebres, y las vidas y aventuras de otros caballeros de su clase, en que abundan las literaturas españolas, madre e hija, expresiones ambas de ambas sociedades.“ (Alberdi 1874: 129, 130). Zu allem Überdruss wird sie in der Bibliothek mit dem Verdacht auf Geldfälschung verhaftet und in einem Gerichtsprozess sogleich verurteilt. Im Gefängnis trifft sie auf zwei Damen, wovon eine die Freiheit und die andere die Gerechtigkeit ist. Befreit wird Luz del Día zu ihrer Überraschung von Basilio, der sie mithilfe einer Intrige aus Rache überhaupt erst in diese Lage gebracht hatte. Denn Luz del Día hatte sich ihm gegenüber in ihrem ersten Treffen nicht zu erkennen gegeben und konnte ihm auf diese Weise so manche Wahrheit entlocken. Von nun an unterhält sie Gespräche mit Gil Blas und 262 Der Wechsel in der Terminologie von ‚Südamerika‘, la América antes española und hispanoamerikanischem Volk sowie die Referenz auf alle von Spanien unabhängigen Republiken lassen darauf schließen, dass in Peregrinación de Luz del Día (1874) mit ‚Südamerika‘ ganz Hispanoamerika gemeint ist.
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gerät ein zweites Mal in die Falle von Basilio, der sie auch dieses Mal, gemeinsam mit Tartufo und Gil Blas wieder befreit. Der zweite Teil des Romans beginnt mit einem Gespräch zwischen Luz del Día und Tartufo über europäische Einwanderer in der ‚Neuen Welt‘, darunter Don Quijote, Sancho Panza, Fígaro, Don Juan Tenorio, Loyola263, El Cid und Don Pelayo, etc. Sie erfährt, dass Cid und Don Pelayo nach der Unabhängigkeitsbewegung zu caudillos geworden sind und nun im desierto leben264. Fígaro, der zu Tartufos Bekanntenkreis zählt, lernt Luz del Día persönlich kennen. Als diese schon erschüttert nach Europa zurückkehren will, schlägt ihr Fígaro vor, einen öffentlichen Vortrag über die Freiheit in ‚Südamerika‘ zu halten. Sie erklärt sich unter der Bedingung bereit, dass ihr Fígaro mehr zur Lage der Freiheit in ‚Südamerika‘ berichtet. Da erzählt ihr Fígaro von Don Quijotes Experiment, eine Republik in Patagonien zu gründen, die Quijotanía, von der der Rest des zweiten Teils handelt. Im dritten Teil hält Luz del Día ihren Vortrag über die Freiheit in ‚Südamerika‘, der gut besucht ist, von jungen Interessierten sowie von Empörten, angestachelt durch Basilios Intrigen. Doch ihre ausführliche Darlegung stößt auf Desinteresse und sie beschließt in Nordamerika ihr Glück zu versuchen. Abgehalten wird sie abermals von Fígaro in einem Gespräch über Freiheit in den USA, Europa und ‚Südamerika‘, das den Roman abschließt. Der allegorische Roman weist, wie an der Zusammenfassung ersichtlich geworden ist, kaum eine als Plot zu bezeichnende Struktur265 auf, wenn damit eine logisch263 Über Loyola sagt Tartufo Folgendes: „Usted sabe que fué siempre aficionado a las tres cosas: a la guerra, como que fué su primera profesión; a la hacienda, por su ardor de grandes empresas; y al gobierno, que era su afán de poseer y ejercer indirectamente. Así se explica que los que hoy pasan por liberales, no proceden en política sino por los mismos medios de que se servían cuando pasaban por jesuítas.“ (Alberdi 1874: 48). 264 „En la guerra de la independencia tomaron su parte sin duda, pero fué para defender la libertad que adquirieron de vivir sin sujeción a nadie ni a su mismo soberano.“ (Alberdi 1874: 156). Tartufo erzählt, wie es den epischen Helden nach der Unabhängigkeit in ‚Südamerika‘ ergangen ist: „Tal fué la alteración y degeneración que la América desierta produjo en los campeadores o campesinos del tiempo de la conquista de América, quedados en sus desiertos como colonos. Sus caracteres presentan una mezcla incomprensible de grandeza y de barbarie, de crimen y de heroicidad. Así es que de un lado tienen adoradores y secuaces fanáticos, y del otro violentos e implacables enemigos, siendo generosos y desinteresados las más veces, tanto sus amigos como sus enemigos. La dominación bastarda de la España, los llamó caudillos insurgentes; otras dominaciones posteriores, no menos bastardas, sin embargo de surgir de la tierra misma, les conservaron la misma ojeriza.“ (Alberdi 1874: 156, 157). Und weiter heißt es: „El suelo desierto tiene una acción embrutecedora, como el suelo cultivado y poblado tiene una acción civilizadora. Así los Pelayos y los Cid de la América del Sud se han vuelto flojos, perezosos, sedentarios; se han acanallado por efecto de la democracia, y han cobrado un apetito desordenado de los bienes del prójimo. Tienen mucho de comunistas, tal vez por lo que deben a Loyola de su educación primera. [Kursivierung im Original]“ (Alberdi 1874: 157). 265 Rojas (1916) meint dazu: „Dijérase una novela, aunque sus personajes—evidentes alegorías—carecen de vida concreta, como su asunto carece de continuidad y movimiento.“ (Rojas 1916: 14).
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kausal aufgebaute Handlungskette gemeint ist. Die Zusammenhänge werden vielmehr durch das in allen Teilen präsente und im Zentrum des Roman stehende Thema der Freiheit sowie formal durch das Gespräch zusammengehalten, sei es zwischen der Wahrheit und ihren Auskunftspersonen oder Gesprächen in Binnenerzählungen, die von diesen aufgespannt werden. Die allegorischen Figuren weisen ein ähnlich loses Beziehungsgeflecht auf und werden nicht näher charakterisiert, wenn man von ihrer Eigencharakterisierung im Gespräch mit der Wahrheit, die dadurch in den Fokus rückt, absieht. In diesen Dialogen beschreiben sie sich weniger als Gesamtfigur, sondern sie sprechen über ihr politisches Handeln und ihre Vorstellung von öffentlicher Moral. Äußerlich wird nur Luz del Día etwas näher charakterisiert; die anderen Figuren sind als Liberale verkleidet266. Luz del Día wird, wie oben erwähnt, als schöne, junge Frau getarnt beschrieben. Als sie das erste Mal Tartufo aufsucht, wird sie für eine Engländerin gehalten, weil sie weiße Haut, blondes Haar und blaue Augen hat (Alberdi 1874: 36). Will man von einer Figurenkonstellation sprechen, so ließen sich Luz del Día und Fígaro, der einzige, für den Luz del Día trotz allen Vorbehalten eine gewisse Sympathie hegt267 und die das Anliegen der Freiheit miteinander verbindet, den restlichen Figuren gegenüberstellen, von denen zumindest Tartufo mit Basilio und Gil Blas eine Gruppe bildet (Tartufo: „—Mis conocidos y viejos camaradas de la Europa feudal […]“ (Alberdi 1874: 47)). Die Gruppe habe Sitten und Charakter der Gesellschaft maßgeblich mitgeprägt: „Yo he contribuído como buen vecino a formar las costumbres y caracteres de mucha parte de esta sociedad ; con la cooperación eficaz de mis compañeros de emigración, es verdad.“ (Alberdi 1874: 47). Wer verbirgt sich in dieser Satire also hinter den allegorischen Figuren? Der Ankunftsort Luz del Días wird nicht näher bestimmt (‚Südamerika‘), doch verweisen die wenigen Ortsangaben innerhalb ‚Südamerikas‘ auf Argentinien: die Quijotanía ist in Patagonien angesiedelt, Cid und Don Pelayo leben im desierto und Fígaro nennt die Republik Argentinien als einziges Beispiel in seinen Ausführungen zu ‚Südamerika‘. In der Sekundärliteratur wurde in Tartufo268 als dem liberalen Bildungsapostel, der sich für europäische Einwanderung einsetzt, Sarmiento269 erkannt. Zu Basilio270 und Gil Blas271 gehen die 266 In Bezug auf Tartufo heißt es etwa: „—¡Una blusa garibaldina! ¡un casquete rojo! ¡Pues qué! ¿ha dejado usted de ser Tartufo? —exclama Luz del Día. —Es porque lo soy más que nunca que llevo esos vestidos del sacerdote armado de la libertad republicana. Yo sería un imbécil en pretender ocultarme hoy día con disfraces religiosos.“ (Alberdi 1874: 40, 41). 267 „Fígaro y Luz del Día, como hermanos en su horror a Basilio, simpatizaron en el acto, y sin embargo de todas las inconsistencias del enemigo de la calumnia, fué su contacto la ocasión del primer gusto que tuvo Luz del Día desde su llegada al Nuevo Mundo. Tener que consolarse con el contacto de un tunante, aunque amable y bueno, era una desgracia para Luz del Día, y una razón para que empiece a sentir el deseo de reemigrar de América.“ (Alberdi 1874: 162). 268 Tartufo scheint sich auf Molières Tartuffe ou L‘Imposteur (1664) zu beziehen. Parallelen werden im Roman aber nicht ausgeführt. 269 Als Seitenhieb an den Autodidakten Sarmiento kann dementsprechend gelten, dass Tartufo über Bildung spricht und schreibt, aber lieber lehrt wie gelehrt werden soll, ohne selbst zu lehren und Bildung genossen zu haben: „[…] pero no de darla [la educación], porque
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Meinungen hingegen auseinander. Ortale (2014: s.p.) führt für Basilio Bartolomé Mitre und für Gil Blas Adolfo Alsina an. Patrick O’Connell (2004) nennt für Basilio Bartolomé Mitre und für Gil Blas José Mármol272 (O’Connell 2004: 101). An einer Stelle ist es jedoch Gil Blas, der auf Bartolomé Mitre verweist, indem er auf den Titel von Mitres Publikation Profesión de fe anspielt: „Su corriente nos ha traído de la Europa de ayer y nos ha dado el dominio de este nuevo mundo a la moda, en que gobernamos a fuerza de dejarnos gobernar. He prolongada esta especie de profesión de fe […] [Kursivierung VÖ]“ (Alberdi 1874: 131). Zudem verweist Gil Blas auf den Titel jener Publikation Sarmientos, die zum Streit mit Alberdi führte, wenn er über sich sagt: „Mis hijos son mi ejército grande273.“ (Alberdi 1874: 140). Da auch in der Quijotanía zahlreiche Anspielungen auf Sarmientos Kolonisierungsprojekt in den indigenen Gebieten enthalten sind274, wird hier vorgeschlagen, in der Figurengruppe an sich die zwischen 1852 und 1870 in Argentinien an der Macht stehende liberale Elite275, allen voran Sarmiento und Mitre, zu sehen. Fígaro276, der mit der Figurengruppe Charakteristika teilt und sich zugleich von ihr abhebt, wurde meist als Alberdi selbst gelesen (Ortale 2014: s.p.)277. Wie im folgenden Abschnitt versucht wird zu zeigen, stehen die liberalen Patrioten ‚Südamerikas‘ in der Kritik. Im Gespräch mit der personifizierten Wahrheit denunzieren sie sich auf satirische Weise selbst.
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esto es oficio humilde, subalterno, y sobre todo para darla es preciso haberla recibido.“ (Alberdi 1874: 56). Basilio könnte auf Pierre de Beaumarchais‘ La Folle Journée ou le Mariage de Figaro (1778) bezogen sein, in der die Figur den skrupellosen Cembalo-Lehrer der Gräfin verkörpert; diese Verbindung wird im Text aber nicht explizit gemacht. Gil Blas könnte auf Alain-René Lesages Histoire de Gil Blas de Santillane (1715-1735) anspielen. Auch hierzu fehlen konkrete Hinweise im Text. Obwohl dies O’Connell (2004) nicht ausführt, könnte die Verbindung darin liegen, dass Luz del Día in der Bibliothek auf Gil Blas trifft und Mármol seit 1858 Direktor der Biblioteca Pública in Buenos Aires war. Der Titel lautet: Campaña en el Ejército Grande (1852). Die Hinweise erfolgen weiter unten an den betreffenden Stellen. Es scheint sich bei den allegorischen Figuren allesamt um Figuren aus der Literatur- und Kunstgeschichte zu handeln, die es mit der Wahrheit nicht genau nehmen. Sie sind schelmisch, betrügerisch, doch scharfsinnig und erreichen ihre Ziele nicht mit Aufrichtigkeit, sondern mit List. Fígaro könnte sowohl auf die Komödien von Pierre de Beaumarchais oder die Opern von Gioachini Rossini (Il barbiere di Siviglia, 1816) und Wolfgang Amadeus Mozart (Le nozze di Figaro, 1786) anspielen. Es ist aber auch bekannt, dass Alberdi zahlreiche Artikel in Anlehnung an Mariano José de Larra und dessen Pseudonym Figaro mit Figarillo zeichnete. Der Frage nach den sprechenden Namen in Alberdis Peregrinación de Luz del Día (1874) müsste in einer eigenen Untersuchung nachgegangen werden. Zum einen müssten umfassende Recherchen angestellt werden, wer sich hinter den allegorischen Figuren verbirgt (dazu konnten nur mehrere Vorschläge diskutiert werden) und zum anderen wie sehr die allegorischen Figuren ihren literarischen Namensgebern entsprechen.
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Freiheit Inwiefern werden Freiheit und Nation in Peregrinación de Luz del Día (1874) thematisiert? Zunächst seien die Freiheitsbegriffe der einzelnen Figuren(gruppen) besprochen, um dann deren Gemeinsamkeiten sowie die Verbindung zum Nationsbegriff zu diskutieren. Luz del Día im Gespräch mit Tartufo, Basilio und Gil Blas Der erste Gesprächspartner der Wahrheit ist Tartufo: „La libertad, el progreso, la educación, la civilización, como yo los tomo y practico, son mi fusil de aguja, mi cañón de acero, mi Chassepot, mis balas explosivas. Y mi palabra de orden, mi divisa, mi consigna de guerra, es: ¡Muera Tartufo! [Kursivierungen im Original]“ (Alberdi 1874: 41)
Tartufo, der sich zwar Freiheit, Fortschritt, Bildung und Zivilisation auf die Fahnen schreibt, zeigt sich, der Figur entsprechend, scheinheilig, denn Wort und Handlung treten auseinander, wenn er der Wahrheit seine Methoden, diese umzusetzen, erläutert: „Suprimir un pólipo o un insecto parásito que vieja la sangre del cuerpo social, no es sino dar la salud a la sociedad —dice Tartufo. —Pero eso es la moral del asesinato —observa espantada Luz del Día.“ (Alberdi 1874: 43, 44). Er will als Freund des Fortschritts278 gelten und ist sich sicher, mithilfe zweier Methoden Staatsoberhaupt zu werden (Alberdi 1874: 51): „—Son dos principalmente—responde Tartufo, —la propiedad y la familia; pero entendidos de un modo aparte, no como todo el mundo los toma. Quando digo la propiedad, hablo del egoísmo, que es la fuerza locomotora de cada hombre. [Kursivierungen im Original]“ (Alberdi 1874: 51). Das sei nichts andres als Bestechung, Korruption, Diebstahl und Vertrauensmissbrauch, wendet Luz del Día ein (Alberdi 1874: 52). Als Instrument gegen die Familie macht er sich untreue Dienstboten (Alberdi 1874: 53), Logen und Schulen zunutze, so fährt Tartufo fort. Die Logen seien in unfreien Ländern Instrumente der Freiheit, doch in freien Ländern dienten sie der Manipulation von Meinung279. Ihre Ziele seien ganz andere als in Großbritannien: „Ella [la logia] es en Sud América para ganar la fortuna sin trabajo ni capacidad, lo que es en Inglaterra la asociación comercial para ganarla por la industria y el trabajo.“ (Alberdi 1874: 54). Schulen seien nicht nur für Propaganda einsetzbar, das Schulkind sei ein idealer Spion280. Legitime Macht und morali-
278 „[…] pasar por amigo del progreso, que es todo lo que yo quiero.“ (Alberdi 1874: 56). 279 „Al orden de la familia, como instrumento de acción contra ella misma, pertenecen las logias y las escuelas o colegios—prosigue Tartufo. Las logias son instrumentos de libertad en países esclavos; pero en países libres, cuando no son máquinas de opresión, son meras sociedades cooperativas, compañías de asistencia mutua, de abjuración recíproca de toda opinión propia. Son verdaderas máquinas de opinión ficticia, fábricas o talleres de justicia convencional, manufacturas de verdad hechiza o contrahecha, laboratorios de atmósfera moral para dar vida a seres, a ideas, a cosas condenadas a morir, o a no nacer en su atmósfera natural verdadera.“ (Alberdi 1874: 53, 54). 280 „—La escuela, el colegio, como medios de propaganda y de proselitismo pueden ser muy útiles, pero yo los tomo de otro modo más práctico y más útil todavía—dice Tartufo.—El
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sche Autorität sei nichts anderes als Geld: „[...] porque con él se compra la obediencia, el respeto, el sufragio, las simpatías, las opiniones, las creencias, la fe, la esperanza, es decir, el mismo dinero.“ (Alberdi 1874: 61). Im Namen öffentlicher Projekte zum Aufbau von Häfen, Brücken, Eisenbahn, etc. ließen sich gute Kredite erwerben281, bediene man sich nur der Presse und des Dienstes des Schriftstellers: „Para alimentar esta credulidad y esta creencia de los prestamistas, que son vetas reales de plata pura, tengo mi sacerdocio y mi cátedra, que son los escritores y la prensa.“ (Alberdi 1874: 62). Denn das Ziel der Presse sei es, die Wahrheit zu vertuschen und Öffentlichkeit282 zu verhindern (Alberdi 1874: 67) und sie eigne sich, um die Realität zu verzerren oder gar ins Gegenteil zu verkehren283. Sie sei nicht anders als Dichtung oder ein Roman, denn ihr gehe es darum, Dinge glaubhaft zu machen: „Su incógnito es tan esencial que acusaría de calumnia la que la llamase por su nombre literario de poesía o de novela. Para el que cree y espera ¿qué importa la realidad? La felicidad de este mundo, no está en la realidad, está en la creencia; no está en ser feliz, sino en que lo crean a uno feliz. [Kursivierungen im Original]“ (Alberdi 1874: 62, 63)
Basilio, der sich nicht nur der Diplomatie284, der Spionage und der Verleumdung285 widmet, arbeitet auch für die Presse. „La prensa periódica, puesta al servicio de su máquina, es la bóveda en que se dilata al infinito en oscilaciones concéntricas, la menor insinuación, que Basilio cuida de verter al oído de uno de sus redactores.“ (Alberdi 1874: 74), so Tartufo. Im Gespräch mit Luz del Día verrät ihr Basilio, dass es
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niño es el ideal del espión, porque es inconsciente de su espionaje pueril, pero eficaz.“ (Alberdi 1874: 54). „A este interés oculto le pongo un nombre y un traje capaces por su magia de deslumbrar los ojos del prestamista, basta hacerle creer que en realidad atesora, cuando en realidad disipa. Ese nombre es el de trabajos de utilidad pública, o sea, muelles, puertos, puentes, ferrocarriles, canales, acueductos, diques y telégrafos. [Kursivierungen im Original]“ (Alberdi 1874: 62). Der Analyse von Öffentlichkeit und Volk u.a. in Peregrinación de Luz del Día (1874) widmet sich die Dissertation von Isabel Roces Guevara (2011). „La prensa hace atmósfera, hace luz, hace horizonte, hace mirajes de aguas abundantes en arenales secos, hace perspectivas que dejan a gran distancia los cuentos de las Mil y una noches. Tiene una literatura, una poesía, una retórica metálicas y monetarias, por decirlo así, porque sirven para hacer moneda. [Kursivierung im Original]“ (Alberdi 1874: 62). Diplomatie bedeutet nach Basilio dementsprechend, ein Bild vom eigenen Land zu zeichnen, das die Schattenseiten vertuscht und die Vorzüge überhöht oder fingiert: „Llenar de estas cosas los diarios de Europa y América, inducir a los emigrantes a que acudan al país de Cucaña, aunque allí se encuentren con la muerte y la ruina, que se les ocultó, eso es probar el verdadero amor a su país, a sus progresos, a su crédito, en la forma más capaz de asegurar para siempre la posesión de un empleo diplomático en que se encierra todo el éxito de una misión y toda la gloria de una larga y laboriosa carrera diplomática. [Kursivierung im Original]“ (Alberdi 1874: 103). Basilio erklärt der Wahrheit: „Yo no hablo de la calumnia mala, de que se sirve el vulgo ; yo hablo de mi calumnia especial, que es la calumnia buena, calumnia de civilización y de progreso.“ (Alberdi 1874: 83).
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mit der Verleumdung politischer Gegner in der Presse nicht getan ist. Er kümmere sich auch darum, gefährliche Regierungsgegner zu beseitigen286. „—Pero entendámonos—prosigue Basilio (sin dejar de comer y beber continuamente);— aunque el homicidio no sea un asesinato cuando es hecho con buena intención, no bastará que su mero fin político sea la prueba de esa buena fe ; importa esencialmente ocultar la mira política con dos objetos: 1.° prevenir discusiones impertinentes entre los partidos políticos, y 2°, asegurar al patriota ejecutor del crimen legal contra toda represalia o castigo vengativo.“ (Alberdi 1874: 86)
Mord sei kein Verbrechen, weder ein politisches, noch ein rechtliches, wenn er wirtschaftlichen Zielen diene. „El que incendia para civilizar, para servir al progreso, no comete crímenes, sino actos beneméritos.“ (Alberdi 1874: 85). Denn diene sie wirtschaftlichen Zielen, so zeuge die Tat von guter Absicht287: „ […] y un ministro puede matar como un juez puede hacerlo, sin ser un criminal. Estas son máximas en que estamos de acuerdo todos los liberales de nuestro tiempo.“ (Alberdi 1874: 85). In Zeiten der Freiheit seien Richter und Staatsanwalt die besten Mittel der offiziellen Verleumdung (Alberdi 1874: 89). Im Gefängnis erfährt Luz el Día von der Gerechtigkeit, dass die Freiheit von den Liberalen eingesperrt wurde, weil sie sich gegen deren Despotismus gestellt habe288. Gil Blas erläutert näher, dass sich die Freiheit in jede Regierungsangelegenheit eingemischt habe, diesen widersprochen oder sie sogar lächerlich gemacht habe. Die Gerechtigkeit habe der Regierung alle talentierten und treuen Mitarbeiter genommen und sie unter dem Vorwand eines unbedeutenden, an Regierungsgegnern verübten Mordes oder Diebstahles einsperren lassen289.
286 „Suponga usted que me encargo de suprimir a uno de esos hombres peligrosos y funestos, que se erigen en obstáculo de un gobierno, es decir, a uno de esos famosos culpables del crimen de no pensar como su gobierno.“ (Alberdi 1874: 88). 287 „—Es que hay un medio seguro de distinguir la buena intención de la mala—dice Basilio.—Por regla general toda intención es buena, cuando el hecho tiene un objeto político o industrial, porque la industria y la política son incompatibles con el crimen; quiero decir, que no es crimen el que se comete con una mira política. [Kursivierung im Original]“ (Alberdi 1874: 85). 288 „—Esa dama mustia y solitaria que ve usted en aquel rincón, es la Libertad. —¿Quién la ha puesto presa? —Los liberales, por el crimen de haberlos reprochado su despotismo, es decir, su libertinaje. Ella es más infeliz que yo, porque no solamente la han condenado a prisión sino que la han declarado loca, como para pasarla al hospital, después que cumpla su condena en esta cárcel.“ (Alberdi 1874: 126). 289 „La señora Libertad tiene la manía de mezclarse en todo, y la insolencia de querer tomar parte en las medidas del gobierno, metiéndose a discutirlas, a contradecirlas y a veces a ridiculizarlas. La señora Justicia tiene otra manía más ridicula y es la de quitarle al gobierno sus hombres más útiles, sus empleados más leales para mandarlos a los presidios, so pretexto de alguno que otro robo o asesinato insignificante, generalmente cometido contra enemigos del gobierno y las más veces en su servicio mismo. Ante esa conducta no le queda al gobierno otro medio de mantener el orden que tenerlas en la cárcel por orden permanente.“ (Alberdi 1874: 129).
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Tartufo nennt Luz del Día zwei Ursachen, warum es um die Wahrheit in ‚Südamerika‘ schlecht bestellt ist. Zum einen habe ‚Südamerika‘ alles Spanien zu verdanken, Gutes wie Schlechtes: „Lo cierto es que América, con sus defectos y cualidades, no es más que un reflejo de la Europa de más atrás, y nada contiene de bueno y malo, que no sea europeo de origen, de índole y carácter.“ (Alberdi 1874: 50). Zum anderen sei das Volk nicht reif genug: „La vida política, que es toda una comedia, cuando los pueblos son menores de edad por su inexperiencia, sería una realidad en Sud América, como lo es en la América del Norte, si el pueblo en el Sud estuviese tan maduro como lo está en el Norte.“ (Alberdi 1874: 161). Nicht der König, das Volk sei in ‚Südamerika‘ Souverän, es sei politisch frei, doch vorbereitet sei es für seine politische Freiheit (Freiheit im Staat) nicht: „—La Verdad no es amada como ella se lo figura— prosiguió Tartufo;—y la razón es muy sencilla, porque todo se vuelve debilidad e imperfección en este mundo naciente, en que todo emana del pueblo, vano por excelencia.“ (Alberdi 1874: 38, 39). Diese Beschaffenheit des ‚südamerikanischen‘ Volks und seiner Souveränität macht sich Gil Blas zunutze: „Me ocupo de lisonjear a mi amo el Soberano Pueblo, que es menos exigente que un simple cura, y paga soberanamente como los Papas-Reyes. No hay cosa que no le haga yo creer con tal que sea capaz de halagar su vanidad.“ (Alberdi 1874: 134). Er kümmere sich um Wahlen, Kandidaten, Präsidentschaften (Alberdi 1874: 134) und auch ihm gilt als ein wichtiges Mittel zur Erreichung des gewünschten (Wahl-)Ergebnisses die Presse290. Der schockierten Wahrheit, die in ‚Südamerika‘ die Monarchie in der verkleideten Republik zu erblicken glaubt (Alberdi 1874: 151), erklärt Gil Blas: „Si usted es la verdad, nosotros somos la realidad; si usted es el derecho, nosotros somos el hecho; si usted es la idea, nosotros somos la vida. [Kursivierungen im Original]“ (Alberdi 1874: 131). Luz del Día stellt folgende Reflexionen an: In ‚Südamerika‘ habe sie das Motto „gobernar es poblar“ (Alberdi 1874: 57) gehört. Dies scheint ihr richtig, wenn ‚poblar‘ bedeutet, ein Land zu erziehen, zu zivilisieren, es wachsen zu lassen, zu stärken und entwickeln, d.h. es mit fleißigen, zivilisierten, ehrlichen und intelligenten Einwanderern zu besiedeln. Doch, so meint sie, verkehre sich das Axiom ins Gegenteil, wenn der noch so ertragreiche Boden eines Landes mit Einwanderern aus dem korrupten und rückständigen Europa besiedelt wird. (Alberdi 1874: 58) Angesichts ihrer neuen Bekanntschaften in ‚Südamerika‘ denkt sie: „Aunque la Europa sea lo que hay de más civilizado en la tierra, no es civilizado por eso todo lo que es europeo. La Europa abriga en sus entrañas, bajo el esplendor de sus mismas capitales más brillantes, millares de salvajes y bribones de peor tipo que los peores indígenas de América.“ (Alberdi 1874: 57)
Gute Einwanderung mit schlechter zu verwechseln, scheint ihr Ausdruck einer schlechten politischen Ökonomie („economía política [Kursivierung im Original]“ (Alberdi 18171: 58)), dem wichtigsten Zweig einer Regierung, zu sein. Es bedeute, ein Land physisch und moralisch zu vergiften, führe zu Bevölkerungsrückgang und so zum Rückschritt noch hinter die barbarie (Alberdi 1874: 58). Die Kunst der Be290 „El instrumento de esta inoculación de mi voto en la voluntad del pueblo, para que parezca suyo, es la prensa.“ (Alberdi 1874: 136).
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siedelung liegt für Luz del Día in der Verteilung der Bevölkerung auf dem unbewohnten Staatsgebiet, ohne die Freiheit der Siedler zu missachten. Die Spanischen Könige hätten im Gegenteil dazu Siedler in den Städten versammelt, um sie unter despotische Kontrolle zu bringen (Alberdi 1874: 58), „[…] y los liberales de América imitan a los reyes de España, asimilando a la barbarie la vida de las campañas. [Kursivierung im Original]“ (Alberdi 1874: 58). „En vez de dejar esas tierras a los indios salvajes que hoy las poseen, ¿por qué no poblarlas con alemanes, ingleses y suizos? No son las razas de Gil Blas, ni de Basilio, ni de Tartufo, las que han de poblar ni mucho menos civilizar esos países de la América fría y austera por el clima.“ (Alberdi 1874: 59)
Die Quijotanía Wie es Don Quijote mit dem Freiheitsbegriff hält, erfährt Luz del Día in der Erzählung von Gil Blas, Tartufo und v.a. von Fígaro. Don Quijote ist genau wie Tartufo, Basilio und Gil Blas emigriert und lebt nun in ‚Südamerika‘, wo es eine ganze Schar an ‚Verrückten‘ gebe, die auf der Suche nach ihrer Dulcinea – ihrer Berühmtheit, ihrem Ruhm oder ihrer Freiheit – seien, so Gil Blas291. Im Falle Don Quijotes sei die Freiheit zur neuen Dulcinea geworden, so setzt Tartufo fort. Don Quijote habe in den amerikanischen Ritterbüchern von den Heldentaten eines San Martín und Bolívars, die die Unabhängigkeit (libertad exterior) erkämpft hatten, gelesen. Daraufhin machte es sich Don Quijote, der zum bekennenden Republikaner wurde und sich daher nur noch Quijote nennt, zur Aufgabe, die innere Freiheit zu erkämpfen292. „Don Quijote ha creído que el modo de introducir la libertad interior en Sud América era dejarla sin liberales por esta razón, que no es mala del todo, a saber: que los liberales mentidos son el mayor obstáculo de la libertad verdadera. Pero él olvidó que matarlos no es educarlos, y que enterrar la licencia es enterrar la libertad. Pero ¿es capaz don Quijote de matar de veras a hombre alguno? El mata carneros y vacas que toma por enemigos de la libertad, porque los carneros y las vacas no entienden de votaciones ni de discusiones parlamentarias, ni de opinión libre en los negocios de la estancia a que pertenecen; sin embargo, como loco pillo, no se descuida en vender los cueros y la carne salada de sus enemigos muertos y en guardar el dinero que recibe,
291 „Como don Quijote emigró también con nosotros y anda por estos países, abunda en ellos una casta de locos, que sueñan con su Dulcinea, y que para unos es la celebridad, para otros la gloria, para otros la libertad; y corriendo toda clase de aventuras por alcanzar sus imaginarias deidades, se hacen dar de palos, se hacen maldecir y desterrar, se dejan matar por fin, no solamente sin hacer un mal gesto, sino con el gozo estúpido de los mártires.“ (Alberdi 1874: 138). 292 „—El nuevo régimen los ha perdido enteramente, porque ellos lo han tomado a lo serio, como crédulos incurables y simples que son por naturaleza —dice Tartufo. Don Quijote ha hecho de la libertad su Dulcinea. Digo mal en llamarle don, porque como se ha hecho republicano, ahora se firma Quijote, liso y llano. Leyó en los libros y en los poetas de la caballería americana las proezas de un San Martín y de un Bolívar, y porque ellos conquistaron la independencia o la libertad exterior del país a punta de sablazos, Quijote ha descubierto que él podía conquistar la libertad interna o el gobierno del país por el país a punta de lanza. [Kursivierungen im Original]“ (Alberdi 1874: 153).
482 | F REIHEIT UND N ATION para no tener que vivir siempre de aventuras. Quijote así ha perdido todo su lustre; se ha hecho prosaico, calculador, común, egoísta, sin dejar de ser el mismo loco; [...]“ (Alberdi 1874: 154)
Fígaro erzählt weiter, dass Quijote, ähnlich wie er in Europa Windmühlen für Riesen gehalten hatte, in ‚Südamerika‘ nun Schafböcke für freie Staatsbürger hält (Alberdi 1874: 165). „Allá daba lanzadas a los odres creyéndoles vivientes; aquí decreta hombres libres, forma municipales, hace legisladores y electores, por la mera virtud de sus decretos escritos.“ (Alberdi 1874: 165). So schaffe er mit einem Federstrich die Verfassung und den sozialen und institutionellen Aufbau des Staates, die historisch gewachsen sind, ab und setze per Dekret jene eines nordamerikanischen Landes293 ein294. „A sus paisanos de origen y raza española un día los deroga como tales, y en vez de españoles los decreta ingleses de raza, de temperamento y de educación, […]“ (Alberdi 1874: 166). In Patagonien habe Quijote ein Besiedelungsprojekt aufgebaut, nachdem er sämtliche moderne Sozialdoktrin, politische Theorie und wissenschaftliche Neuheiten gelesen hatte, darunter Darwins On the Origin of Species, und genau wie in Europa sei er daraufhin verrückt geworden (Alberdi 1874: 167, 168): „Si el hombre es pariente del mono—se dijo él, —con doble razón se le debe creer pariente más cercano del carnero; y a fe que este parentesco hace más honor al hombre, pues el mono es bellaco, indecente, inútil, ladrón, inmoral, mientras que el carnero es el símbolo religioso de la mansedumbre y de la bondad: el carnero hace vivir al hombre, sin vivir del hombre, lo que de paso confirma que es el padre del hombre.“ (Alberdi 1874: 169)
Und da ihm der Mensch als perfektionierte Spezies des Schafbocks erschien, so hielt er es für möglich, dass sich der Schafbock in einen richtigen Menschen verwandle, so er nur die richtige Erziehung in den sozialen Sitten des Menschen erhalte (Alberdi 1874: 169). So gebar er die patriotische Idee, eine estancia in vier Tagen in einen föderalen Staat der gran confederación del Plata zu verwandeln (Alberdi 1874: 170). Einen Galizier machte er versehentlich zum Sancho, indem er ihn zum Staatssekretär und Minister ernannte (Alberdi 1874: 171). Die estancia wurde zur Siedlungskolonie nach dem Vorbild von William Penn; die Tiere zu den Siedlern (darunter homoovejas, homo-caballos und homo-varas) und er selbst zum Gouverneur des Pensilvania patagónica. Er gab dem Staat ein demokratisch-repräsentatives System, dessen Parlament eine Mehrheit der homo-ovejas aufwies. (Alberdi 1874: 171)
293 Dies kann als Seitenhieb auf Sarmiento gelesen werden, der sich in seinen Comentarios de la constitución (1853a) stark an der Verfassung der Vereinigten Staaten orientiert hatte. 294 „El suprime la historia del país y la complexión o constitución social que el país debe a su historia secular, por un decreto en el cual ordena que lo que ha sucedido, no sea lo que ha sucedido, sino lo que ha dejado de suceder. Así él deroga la constitución o construcción o forma o temperamento o estructuctura [sic], que el Estado ha recibido de los hechos que forman la historia de su vida, por un mero golpe de pluma; y decreta por el mismo acto para su país de constitución o complexión hispanoamericana, la constitución o complexión de un país de Norte América, [...]“ (Alberdi 1874: 165).
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„La soberanía debía ser ejercida por el pueblo en forma de plebiscitos, expresados por un sí o un no, en contestación a los proyectos interrogatorios propuestos por el gobernador libertador. Al cabo de dos años, la colonia asumiría el rango de Estado soberano y libre y se daría una constitución de tal, definitivamente. Sólo entonces entraría en relaciones con el gobierno nacional de la República o en caso necesario con los poderes extranjeros295. [Kursivierungen im Original]“ (Alberdi 1874: 172)
Als der galizische Staatssekretär einwirft, dass das Volk nicht sprechen, lesen und schreiben könne, weder sich zu Diskussion noch Wahlen versammeln und keine Waffen tragen könne (Alberdi 1874: 173, 174), antwortet Quijote: „Para distinguirlos de los nuestros, bastará decir, los otros o, si tú quieres, los sajones, porque todos los carneros políticos son o se tienen por sajones de origen liberal. Tanto mejor si nuestros demócratas de Quijotanía no saben leer ni escribir ni hablar. Así ejercerán mejor su soberanía, porque se verán forzados a ejercerla por nuestro conducto y nosotros la ejerceremos, como es natural, primero en nuestro provecho y después en el suyo. Para delegarla en nuestras manos y hacer a ese fin sus leyes fundamentales, no necesitan saber más que estas dos palabras: sí y no, o si quieres una sola, un mero sí. El sí de los pueblos modernos es el fiat del Génesis político: ellos hacen la ley, como Dios hizo la luz: con un vocablo. [Kursivierungen im Original]“ (Alberdi 1874: 174)
Großbritannien, die Patria der Freiheit, sei zugleich die Patria des Schafbocks, der Verkörperung von Freiheit. Und weil dieser keine Waffen trage, stehe er zudem für Frieden, so Quijote weiter zu den Bedenken seines Ministers (Alberdi 1874: 175). In der Quijotanía gelte das allgemeine Wahlrecht: „—Pero, ¿quién nos daría esos empleos? —El sufragio universal de nuestro pueblo de Quijotanía—dice don Quijote,— que para eso cabalmente sería soberano.“ (Alberdi 1874:180, 181). ‚Repräsentative Freiheit‘ habe den Vorteil, dass das Volk jene wählen müsse, die bereits an der Macht sind. Denn tue es das nicht, so ende sein Status als Schafbock296. Quijote und sein Sekretär arbeiten ein bürgerliches und soziales Gesetzbuch aus, das drei Wege des Fortschritts vorsieht: „—Para agrandar el poder del gobierno, que es el fin, por la grandeza del país, que es el medio, el Código social reconoce tres caminos: 1.°, el engrandecimiento del territorio nacional: 2.°, el aumento de su población: 3.°, el ensanche de la obediencia, que hace del pueblo el brazo del gobierno. [Kursivierungen im Original]“ (Alberdi 1874: 190)
295 Auch darin könnte eine Anspielung an Sarmiento gefunden werden, dessen Besiedelungsprojekt ähnliche Charakteristika aufwies, wie in den Consideraciones políticas (1853a) gezeigt. 296 „Dejarían de ser carneros si eligiesen para sus gobernantes a otros que no fuesen sus gobernantes actuales. Ellos elegirán ciertamente, desde que son libres de elegir, pero se guardarán de no ejercer su libertad sino por nuestro conducto; y nosotros tendremos entonces buen cuidado de no elegir sino a nosotros mismos. Es la ventaja natural de la libertad representativa.“ (Alberdi 1874: 181).
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Zur staatlich organisierten Bildung des Volkes, die für die in Punkt drei erwähnte Gehorsamkeit sorgen soll, gründen die beiden eine Akademie des Schweigens (Alberdi 1874: 187). „[...] don Quijote opinaba que después del carnero no había poblador más útil para un país que obedece a un gobierno libre, que el hombre salvaje. Dotado de la misma literatura que el carnero, la cual consiste en no hablar, ni escribir, ni leer, el salvaje, como el soldado de un país libre, es esencialmente obediente; su rol de ciudadano es esencialmente pasivo.“ (Alberdi 1874: 194)
Die Anwerbung von indigenen Immigranten scheint zunächst einfach, da die Quijotanía aufgrund ihrer Lage mit Einwanderungsströmen aus Patagonien, der Pampa und Feuerland versorgt wird (Alberdi 1874: 195). Ein Vorteil sei auch, dass die Liebe zum Diebstahl der salvajes der Liebe zu Gesetz und Patria ähnle297. Doch der Sekretär wendet ein, dass die Indigenen nicht sehr zahlreich seien und sich die Quijotanía, so wie jetzt die indigenen Gebiete, der ausländischen Habgier nach Land aussetze, wenn diese in der Quijotanía lebten. Da antwortet Quijote, sollte es an salvajes des amerikanischen desierto mangeln, so werbe er einfach jene des bevölkerten Europas an. Und er fügt hinzu: „—La parte más civilizada de la Europa contiene millones de hombres que no saben leer ni escribir mejor que un carnero o que un salvaje de la Pampa. La misma Londres y París están llenas de salvajes letrados, que no por saber leer y escribir son menos salvajes que los pehuenches.“ (Alberdi 1874:195)
Der Sekretär, ein Anhänger von Rousseaus Contrat social, kann die Vorschläge Quijotes nicht verstehen und gibt sich mit ihnen nicht zufrieden (Alberdi 1874: 216). Er schlägt vor, die Privilegien der Schafböcke, die die Quijotanía zu einem Staat im Staat machen, aufgrund der republikanischen Gleichheit und der Unversehrheit des Landes abzuschaffen (Alberdi 1874: 220). Er wird schließlich zum „Gobernador de un Estado confederado en la Unión de las provincias del Río de la Plata [Kursivierung im Original]“298 (Alberdi 1874: 226) ernannt. „El censo nacional fué levantado de la mitad de cien mil habitantes. Ya no eran 14, eran 15 las Provincias Unidas del Río de la Plata. [Kursivierung im Original]“299 (Alberdi 1874: 227). Die Quijotanía gilt als gescheitert, nachdem Quijote seinen Sekretär als Diplomaten nach Europa sandte, um dort die Quijotanía in schillernden Farben zu präsentieren und Einwanderer anzuwerben. Denn als sich junge Einwanderer ein Bild des zukunftsträchtigen Staates machen wollen, werden sie mit einer Herde von Schafböcken auf einer estancia konfrontiert: „Los reveladores insisten, pero el público se hace sordo; guarda todas sus ilusiones, y trata de traidores y de malos patriotas, que niegan los progresos del país, a los que quieren persuadirle del engaño insolente de que ha sido víctima.“ (Alberdi 1874: 232). 297 „El amor al robo en el salvaje, se confunde con el amor a la patria y a sus leyes.“ (Alberdi 1874: 197).
298 Wie im Analysekapitel der politischen Texte diskutiert, hatte sich Sarmiento für diese Namensgebung in Anlehnung an die USA eingesetzt.
299 Sarmiento ließ 1869 den ersten Zensus Argentiniens durchführen (INDEC 2016).
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Fígaro und Luz del Día Es ist Tartufo, der Luz del Día darüber informiert, warum auch Fígaro in der ‚Neuen Welt‘ anzutreffen ist: „[...] en los países libres no hay Fígaros, porque no hay Bártolos. Fígaro es un triste pero necesario soldado de los pueblos menores de edad, aunque soberanos, que viven en tutelaje compatible con la soberanía, así en lo político como en lo civil. Fígaro es el liberal favorito de Sud América. Es la crítica consolatoria del mal que no se puede remediar de pronto. En los Estados Unidos falta Fígaro porque allí no hay Bártolos.“ (Alberdi 1874: 161)
Fígaro sei so etwas wie ein Anleiter zu Freiheit in ‚Südamerika‘, in Worten, doch, so hofft dieser, auch bald in Taten300. Er beklagt im Gespräch mit Luz del Día den Unterschied zwischen der englischen und der ‚südamerikanischen‘ Freiheit: „La libertad entendida a la inglesa, es decir, como carga, como trabajo público, como contribución de plata, de sangre, de cuidados, de tiempo, de labor, es la prosa más detestable en esta América de poetas y de cantores. El libertador que la diese a sus compatriotas, sería asesinado por ellos en reivindicación de sus ilusiones de esclavos, que viven cantando su adorada libertad eternamente ausente o cautiva.“ (Alberdi 1874: 162, 163)
Doch für die Wahrheit ist es schon tröstlich zu hören, dass es in ‚Südamerika‘ eine Liebe zur Freiheit gibt, wenn sie auch noch nicht umgesetzt wird (Alberdi 1874: 163). Fígaro erklärt Luz del Día, dass es das Volk nicht kümmere, dass es über keine praktische Freiheit verfüge, obwohl es exklusiver Inhaber von Freiheit ist. Es sei ein Glück, dass ‚Südamerika‘ schon mit der Idee von Freiheit glücklich sei, denn für praktische Freiheit sei es noch nicht vorbereitet. (Alberdi 1874: 164) „El sufragio universal de una multitud universalmente imbécil, es el sufragio del bribón bastante astuto y audaz para hacer admitir fiel vulgo, como suyos, el candidato, el voto y el elegido, que son de él (del bribón), y no del vulgo. Nada es más individual y personal que el sufragio llamado universal. Un gobierno así nacido no puede tener límites en su autoridad, porque no hay quien se los ponga. El tirano es omnipotente, porque su tiranía es la del pueblo por el pueblo.“ (Alberdi 1874: 236, 237)
Fígaro sieht als einzigen Lösungsweg die Erziehung des Volkes zur Selbstregierung, die Ausdruck moderner Freiheit sei: „Entre gobernarse a sí mismo y gobernar a los otros, la diferencia es de número y cantidad, no de inteligencia y de ciencia —dice Fígaro.“ (Alberdi 1874: 237). Die Bildung des Menschen müsse daher auf das Erlernen der Fähigkeit, sich selbst zu regieren, zielen: „El que no sabe gobernar el mundo de su propia persona, tiene que dar a otro el encargo de gobernarlo. Darle este encargo es entregarle su libertad, tomar un tutor, constituirse en pupilaje, entregarse a un Bártolo, que tendrá buen cuidado de administrarlo como a su negro, es decir,
300 „[…] Fígaro es una especie de monitor de la América libre de palabra, que espera serlo de hecho.“ (Alberdi 1874: 161).
486 | F REIHEIT UND N ATION como a su cosa, a su pertenencia propia y no de otro. [Kursivierung im Original]“ (Alberdi 1874: 238)
Diese bedürfe mehr als des geschriebenen Wortes: „[…] es la reforma y transformación de los hombres, no de sus leyes escritas; por los hábitos, no por las ideas.“ (Alberdi 1874: 237). Schließlich bringt die Wahrheit ihre bislang gesammelten Erkenntnisse über die ‚südamerikanische‘ Freiheit in ihrem Vortrag folgendermaßen auf den Punkt: „La libertad es la primera necesidad del hombre, porque consiste en el uso y gobierno de las facultades físicas y morales que ha recibido de la naturaleza para satisfacer las necesidades de su vida civilizada, que es la vida natural del hombre por excelencia.“ (Alberdi 1874: 242). Frei zu sein, bedeute, sich selbst zu regieren (Alberdi 1874: 242). Die amerikanische Revolution habe, als sie Freiheit ermöglichte, einem bedeutenden Irrtum aufgesessen: Dass sich innere Freiheit, die innere Regierung des Landes durch das Land selbst (d.h. Freiheit im Staat), nicht mit den Mitteln der äußeren Freiheit (Freiheit des Staates) erlangen ließe301. Sie habe bislang keine innere Freiheit erlangt, weil versucht wurde, sie mit dem Schwert herzustellen302. „Fué su ignorancia natural y concebible [de los Libertadores] de las condiciones de la libertad interior. Se pusieron a construir una máquina de que no tenían idea. Ninguno de ellos conocía prácticamente la libertad interior o el gobierno del país por el país. Se habían educado en España, bajo el despotismo más absoluto y más indisputado, y no conocían más gobierno interior que el gobierno personal que los reyes absolutos pretendían tener de Dios mismo, y que ejercían sobre el país, sin la más remota participación del país en su gestión. Ellos entendían la libertad de la patria como la había entendido siempre España: consistía toda en no ser gobernados por los moros, ni por los franceses; en la simple independencia respecto del extranjero: la libertad exterior del país en una palabra.“ (Alberdi 1874: 252)
Die Vorstellung oder die Fiktion von Freiheit sei aber nichts anderes als eine Form der Tyrannei, denn sie impliziere, dass das Land nicht an der Regierung interessiert ist und aktiv an ihr teilhat, weil es sich schon mit der Vorstellung von Freiheit zufrieden gibt. Die Tyrannei sei daher ein Effekt der Ignoranz des Volkes, nicht im Tyrannen selbst begründet. Demnach seien Freiheit wie Tyrannei im Wesen des Volkes
301 „‚Así fué entendida la libertad interior por la revolución de América contra Europa. Para ella, crear y constituir la libertad fué sinónimo de crear y constituir el gobierno de América por América. Dar a la América el gobierno interior y exterior de sí misma, fué equivalente a darla su libertad. (Una voz: Verdades de Pero Grullo.) ‚Pero la política de la revolución americana perdió de vista un hecho inmenso, y es que no se crea ni constituye la libertad interior, o el gobierno interior del país por el país, por el mismo medio con que se produce y constituye la libertad exterior o el gobierno del país ejercido con independencia de todo poder extranjero. [Anführungszeichen und Kursivierung im Original]“ (Alberdi 1874: 244). 302 „‚La América del Sud ha dejado hasta hoy de encontrar su libertad interior, porque la ha buscado por el mismo camino que la condujo a la conquista de su libertad exterior, a saber: la guerra, la espada, las batallas. [Anführungszeichen im Original]“ (Alberdi 1874: 247).
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angelegt303. Der caudillo gilt Luz del Día als Indiz dafür, dass es einem Land an Freiheit fehlt und dieses unfähig ist, sich selbst zu regieren (Alberdi 1874: 255). „Si ese gobierno se aplaude y se defiende a sí mismo, lo hace por conducto de la prensa popular y de la opinión pública, falsificadas y contrahechas por los mil medios de influjo que le da la posesión del poder.“ (Alberdi 1874: 256). Neben den Befreiungskämpfern seien die Dichter die gefährlichsten Freunde der Freiheit in ‚Südamerika‘ (Alberdi 1874: 258): „El poeta no tiene ideas sino imágenes. Lo que no tiene cuerpo no existe a sus ojos ; y como la libertad es un hecho moral, que no tiene color ni figura física, ella es invisible para el poeta en su verdadera esencia.“ (Alberdi 1874: 258). Der Krieg schreibe die Unfähigkeit des Volkes, sich selbst zu regieren fest, da im Kriegszustand weder Bildung noch politische Kultur aufgebaut werden können und gebildete Einwanderer ferngehalten werden. Sie sind die einzigen, die dem Volk Freiheit lehren könnten. Stattdessen werbe ‚Südamerika‘ Abenteurer an, die den Zustand des Kriege und der Unfreiheit nur zu verewigen imstande sind304. „‚No hay sino un medio de crear el gobierno del país por el país, en que consiste la libertad (entendida a la inglesa o a la angloamericana): ese medio consiste en poner al país en camino de adquirir la inteligencia y la costumbre de la libertad, y de educarse por sí propio en la práctica del gobierno de sí mismo. [Anführungszeichen im Original]“ (Alberdi 1874: 262)
Die Erziehung des freien Amerikas sei vor wie nach der Unabhängigkeit durch Einwanderung von freien und zivilisierten Europäern erfolgt. Die USA zeugten mit ihrer modernen und freien Bevölkerung davon305. „‚El medio de poblar, es el medio de educar en Sud América, y no hay otro eficaz y pronto. La población en la América antes española no es mera cuestión de economía política. Es, antes que eso, cuestión moral y social, cuestión de educación espontánea, en una palabra, es cuestión política en el más alto sentido. Poblar el país es constituirlo políticamente, porque es educarlo, civ-
303 „‚Existe el simulacio, la imagen, la ficción de la libertad, pero la libertad ficticia es, a menudo, máscara de la tiranía, es decir, del gobierna ejercido por gobernantes de su propia hechura, que gobiernan sin la intervención del país, a causa de que el país ignora el gobierno de sí mismo. Así la tiranía no reside realmente en tirano. La tiranía, como la libertad, está en el modo de ser del pueblo mismo. La tiranía es la causa, el tirano es el efecto; [...] [Anführungszeichen im Original]“ (Alberdi 1874: 255). 304 „‚La guerra no tiene efecto más seguro y positivo en Sud América, que el de perpetuar la incapacidad del pueblo para el gobierno de sí mismo, porque ella interrumpe el trabajo de su educación y de su cultura polílica, espantando y alejando del país a los inmigrados sanos y cultos, que son los únicos que educan en la libertad; y atrayendo en su lugar a las inmigraciones de aventureros que no saben sino alquilar su brazo para matar por la espada, su único utensilio industrial, a los pueblos culpables de querer reivindicar su poder de manos del usurpador, que emplea esas turbas en perpetuar la usurpación.‘ [Anführungszeichen im Original]“ (Alberdi 1874: 261, 262). 305 „La emigración de la Europa libre y civilizada, ha educado a la América libre, antes y después de ser independiente. Los resultados felices se han producido en tal escala y con tal prontitud, que la experiencia hecha en los Estados Unidos ha llegado a ser recibida como la ley de formación natural de la población moderna y libre, en todo el mundo americano. [Kursivierung im Original]“ (Alberdi 1874: 262).
488 | F REIHEIT UND N ATION ilizarlo, además de enriquecerlo. Con la riqueza sucede lo mismo que con la libertad. ¿Queréis traer capitales extranjeros a nuestro suelo americano? La mejor forma o vía para hacer esa importación es traer trabajadores extranjeros, obreros extranjeros, para que planten y aclimaten el árbol del trabajo en el suelo americano. [Anführungszeichen im Original]“ (Alberdi 1874: 263, 264)
Die Einwanderung, die ‚Südamerika‘ brauche, werde sie aber nicht durch ungeplante Emigration erhalten, da die zivilisierten Immigranten reiche, sichere, freie und zivilisierte Länder als ihr Ziel wählen306. Es sei nicht der Fall, dass das Klima unterschiedliche ‚Rassen‘ hervorbringe, doch führte es zu einer unterschiedlich starken Entwicklung der gemeinsamen menschlichen ‚Rasse‘, sodass unterschiedliche Kulturen derselben ‚Rasse‘ entstehen können. Nichts anderes sei mit der Unterscheidung zwischen der raza latina und der raza sajona gemeint, die aufgrund ihres Bildungsunterschieds als zwei unterschiedliche ‚Rassen‘ erscheinen mögen. Die ‚Rassen‘ des kalten Nordens hätten Freiheit am besten entwickelt. Die Zivilisation sei aber das Ergebnis der Vermischung von Kulturen und der Mensch sei anpassungsfähig, was das Klima betrifft307. „‚Cada América ha sido y será lo que es la Europa de que procede y se nutre. Hay dos Europas como hay dos Américas: la Europa autoritaria y la Europa libre; la una latina, la otra sajona, por el genio, no por la raza. Cada Europa tiene su correspondiente América, poblada de su pueblo, civilizada de su civilización, y dotada de sus costumbres, creencias, leyes, gustos, servidumbres y libertades. [Anführungszeichen im Original]“ (Alberdi 1874: 271)
306 „‚Pero la América del Sud no tendrá jamás la inmigración que educa, si se atiene a la inmigración espontánea; es decir, a la inmigración que viene sin ser llamada. La población civilizada y libre no emigra espontáneamente sino a países libres y civilizados, ricos y seguros. [Anführungsezeichen im Original]“ (Alberdi 1874: 266). 307 „‚No es de creer que los climas diferentes produzcan diferentes razas de hombres; pero es visible que producen diferentes direcciones en el desarrollo de nuestra única raza humana. Una dirección de siglos, modifica nuestra raza al punto de hacer parecer como raza aparte, lo que es una cultura diferente de la misma raza. Este es todo el valor y sentido natural que para mí tiene la distinción entre raza latina y raza sajona, pues venidas ambas del septentrión, deben al curso de quince siglos las dos educaciones que las hacen pasar por dos razas diferentes. ‚Las razas dichas latinas, que representan el calor, son útiles como el calor de su suelo meridional; pero las razas del norte, que representan el temperamento frío de su origen, han servido mejor al desarrollo de la libertad. ‚Razas diferentes, o educaciones diferentes, la verdad es que la civilización resulta del cruzamiento de culturas como del cruzamiento de las castas. Si las plantas de un clima se aclimatan en clima diferente, ¿que no será del hombre, que lleva en su naturaleza fecunda, su clima nativo a todas partes? [Anführungszeichen und Kursivierungen im Original]“ (Alberdi 1874: 267, 268).
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Ohne sie deshalb auszuschließen, müsse die Einwanderung aus Südeuropa nicht länger aktiv gefördert werden, denn sie bestehe ohnehin seit Jahrhunderten308. Gefördert solle die Immigration aus Großbritannien werden: „La libertad política es una costumbre sajona en este siglo. ‚Pretender conservar el Sud de los dos mundos, para dominio exclusivo de las razas latinas, es querer excluir del hemisferio del Sud la libertad o el gobierno de sí mismo.‘ [Anführungszeichen im Original]“ (Alberdi 1874: 268)
Freiheit sei eine Art zu leben und sich selbst zu regieren, die mittels Bildung erwerbbar ist. Sie sei im Menschen angelegt, nicht auf dem geschriebenen Blatt309. Auch die koloniale Vergangenheit, die die Konstitution ‚Südamerikas‘ bestimme, könne nicht durch geschriebene Verfassungen geändert werden. „En efecto, deshacer esta manera de ser de Sud América es deshacer su historia, que es en gran parte la historia de España. Desde que la madre que nos dio el ser y molde arruinó y olvidó su propia industria y comercio, para correr tras la conquista y las minas de plata trabajadas por los vencidos, ya no vivió sino de la gloria y del patriotismo industrial [...]“ (Alberdi 1874: 287)
„El trabajo es dinero, y el dinero es libertad, porque el dinero es poder y fuerza. El ocioso que dice amar la libertad, miente: la libertad no le sirve para nada. La pobreza del ocioso le hace ser el siervo natural del que posee.“ (Alberdi 1874: 278). Frei könne nur ein reiches Land sein und reich werde es, wenn es in Freiheit der Arbeit nachgehen kann: „La libertad es poder, siempre que el poder nace de la riqueza ; pero la riqueza que nace del poder no es libertad.“ (Alberdi 1874: 285). ‚Südamerika‘ könne sich nicht auf seinem fruchtbaren Boden ausruhen, der für sich alleine keinen Reichtum bringt. Nur der arbeitsame Mensch könne Reichtum schaffen. Daher gebe es kein besseres Mittel, Reichtum und ausländisches Kapital in ein Land zu bringen als die Einwanderung intelligenter und arbeitsamer Menschen zu fördern. (Alberdi 1874: 286) Freiheit bedeute Aufwand, nicht Vergnügen: „‚El que renuncia a ejercer su libertad no renuncia a un placer; renuncia a su propiedad privada, a su honor, a su hogar, a todo lo más caro que el hombre posee en la tierra, pues la libertad o la intervención del ciudadano en la gestión de la política o del poder colectivo del país, no tiene más objeto en último resultado que asegurar y garantir aquellos beneficios.“ [Anführungszeichen im Original] (Alberdi 1874: 290, 291)
308 „La Europa del Sud no necesita ser llamada; vendrá sin que la busquen mediante la corriente ya formada, por la acción de los siglos; y si no debe jamás excluirla por sistema, tampoco debe buscarla por alicientes sistemados.“ (Alberdi 1874: 274). 309 „La libertad es una conducta, una educación, una dirección, una costumbre de vivir y conducirse. Vive arraigada en el hombre, no en el papel escrito, y la costumbre engendra la costumbre, como el hombre al hombre.“ (Alberdi 1874: 268).
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Da die Freiheit des Anderen die Grenze der eigenen Freiheit ist, könne niemand frei sein, wenn es nicht alle sind310. „‚No hay verdaderamente estado de libertad sino en el país en que el poder está diseminado en manos de todos sus ciudadanos por igual. En este sentido, igualdad significa libertad en todos por igual.‘ [Anführungszeichen und Kursivierungen im Original]“ (Alberdi 1874: 283). Auch die Freiheit der Regierung habe eine Grenze, nämlich dort, wo die Freiheit des Landes per Grundgesetz beginnt. Eine ehrliche, kluge Regierung erkenne ihre Opposition als Garantie ihrer eigenen Stabilität an. (Alberdi 1874: 281, 282) Die Verfassung regle Form, Umfang der Funktionen und Ziele der Volksrepräsentanten, ohne die kollektive Freiheit nicht umsetzbar sei311. Folgende Freiheiten (Freiheit im sowie vom Staat) machen den freien Menschen nach Luz del Día aus: „‚1.° La libertad o el poder de elegir a sus mandatarios, delegatarios o representantes; ‚2.° La libertad o el poder de discutir los actos y la conducta pública del poder delegado, de instruir, de aconsejar, de informar, de censurar, de desaprobar, de combatir sus medidas por todos los medios y vías de publicidad constitucional; ‚3.° El poder o la libertad de celebrar congresos o reuniones para discutir en público por la palabra, la conducta del gobierno, las medidas que el país desea, las cuestiones públicas que interesan a una institución, a una elección, a un trabajo, a un cambio o reforma de utilidad general; ‚4.° El poder o la libertad de perpetuar esas asociaciones como medio de mantener un espíritu público, una opinión general, siempre dispuesta a ser consultada y manifestada en los casos necesarios; ‚5.° La libertad o el poder de administrar los negocios locales o provinciales que no han sido ni deben ni pueden ser delegados al gobierno general o central de la nación; ‚6.° La libertad o el poder de pensar, de estudiar, de aprender, de creer, de enseñar, de educar, de instruir (de que hace parte la libertad de los cultos, simples medios populares de educar las almas y los corazones); ‚7.° La libertad o el derecho civil y social de gobernar y administrar su propia persona privada, su propia familia, su propio hogar, su propio peculio y su propia industria y trabajo privado, en que ese peculio tiene origen, sin intervención del país ni del gobierno, cuando ni el país ni el gobierno son ofendidos en ello ; ‚8.° La libertad o el poder de armarse voluntariamente, para componer la fuerza exigida por la defensa del país, contra toda usurpación de su derecho, tanto externa como interna; ‚9.° La libertad o el poder de irse del país o de venir al país, de circular en su territorio, de elegir su domicilio, de formar poblaciones, de crear establecimientos y poblarlos por inmigrados extranjeros, traídos por vía de industria privada; ‚10. La libertad o el poder de trabajar en toda industria, para comer, vivir y enriquecer, reservada por igual a todos los habitantes, sin desmentirla ni
310 „Ninguno es libre, donde no son libres todos, porque la libertad de los otros es el límite de nuestra libertad. El poder o la libertad del gobierno se acaba donde empieza el poder o la libertad reservada al país por la ley fundamental.“ (Alberdi 1874: 282). 311 „‚Pero es condición esencial de la libertad moderna que una parte de su ejercicio sea delegada por el país a un cierto número de mandatarios o representantes. Así, el gobierno del país por el país en que consiste la libertad verdadera, lejos de excluir la existencia de un gobierno delegado por el país gobernante, no puede un pueblo soberano gobernarse a sí mismo, sino por medio de delegados que desempeñan en su nombre la gestión de su poder o libertad colectiva en la forma, en el número de funciones y en los objetos determinados por una gran ley que se llama constitución. [Anführungszeichen im Original]“ (Alberdi 1874: 283).
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revocarla por monopolios y privilegios; ‚11. La libertad o el poder de adquirir, de poseer, de enajenar, de ceder y transmitir su bien en toda forma y por toda vía, sin limitación ni restricción. [Anführungszeichen im Original]“ (Alberdi 1874: 284, 285)
Als die enttäuschte Wahrheit nach ihrer Konferenz in die USA emigrieren will, klärt Fígaro sie darüber auf, dass es auch dort Tartufos und Basilios gebe: „—¡Cómo! exclamó Luz del Día, —¿la mentira, la hipocresía, la calumnia, la intriga, tendrían también carta de ciudadanía en la Gran República de Estados Unidos? —Es la condición dolorosa, pero inevitable de la libertad y de la civilización le observó Fígaro,—Cuánto más culto y rico es un país, más abunda en él esa mala familia; no abunda por razón de ser más civilizado, ni es más civilizado porque abunda esa familia ; sino porque la civilización, como el sol, alumbra para todos, y un país culto no puede abundar en buena gente, sino a condición de contener mucha mala al mismo tiempo.“ (Alberdi 1874: 293, 294)
Fígaro scheint die Schuld Spaniens an der politischen Situation ‚Südamerikas‘ abzuschwächen, wenn er das Vorhandensein eines Geists von Unfreiheit im Menschen selbst verortet, unabhängig von ‚Rasse‘, Land und Epoche: „La presencia de los hábiles maestros de la buena vida sin trabajo, en el nuevo continente, no es la metempsicosis de la Europa latina en la América latina, sino la transmigración de la vieja Europa en la moderna América. No dominan un mundo, sino un siglo, que abraza los dos mundos, porque representan aberraciones del hombre irregular de todas partes, sea cual fuere su raza, su país, su tiempo.“ (Alberdi 1874: 295)
Er wünscht sich, dass Luz del Día auch in Europa eine Rede hält. Denn, Europa übersehe, dass ‚Südamerika‘ seine offensichtlichen Probleme gut kompensiere. Das hispanoamerikanische Volk sei souverän, politisch frei; ‚Südamerika‘ regiere sich selbst, im Gegensatz zu weiten Teilen Europas312. Und das sei die beste Schule für Freiheit – das Erproben von Freiheit in der Praxis in Form regelmäßiger Wahlen, selbst wenn diese den Frieden gefährden (Alberdi 1874: 301): „La América se gobierna mal, pero se gobierna a sí misma, y en esto consiste toda la libertad política. Si no está por este hecho, en el goce pleno de su libertad, está al menos en la mejor escuela de la libertad; y aprende a manejarla por el mejor método, que es el de la naturaleza ; por la experiencia propia y directa. A fuerza de gobernarse mal, acabará por aprender a gober-
312 „Estas compensaciones felices de sus desventajas evidentes, son lo único que ignora la Europa; y la revelación de su verdad autorizada por la voz de Luz del Día, será una misión tan digna de ella, como placentera para los amigos europeos de la libertad de Sud América. Sabido es que la América antes española ha sido una colonia hasta principios de este siglo; que su pasado político, más que deplorable ha sido nulo y que su presente es digno de su pasado. Todo esto es verdad conocida. Pero al lado de esta verdad hay otra, y es que así con ese pasado y ese presente es un hecho que el pueblo hispanoamericano está en posesión de su soberanía y que bien o mal, él se gobierna por sí solo. Este hecho no tiene muchos ejemplos en Europa.“ (Alberdi 1874: 298).
492 | F REIHEIT UND N ATION narse bien. No se aprende la libertad sino como se aprenden los idiomas; por la mera repetición de los actos.“ (Alberdi 1874: 299)
Die Monarchien Europas hätten ‚Südamerika‘ einiges an Stabilität und Einheit voraus, während die Demokratie in den Republiken ‚Südamerikas‘ zwar existiere, aber schwach sei und noch nicht zu Frieden und Wohlstand geführt habe. Doch Fígaro scheint der Freiheit den Vorzug vor der Einheit zu geben: „La América del Sud republicana es débil comparativamente a la Europa monárquica, de resultas de su democracia, bastante desarrollada para existir, no lo bastante para existir pacífica y prósperamente. Bajo este aspecto, la Europa monárquica la excede en las ventajas de la estabilidad y de la unidad. Pero, si es verdad que estas ventajas faltan a la América republicana, no lo es menos que la Europa monárquica tiende a perderlas en fuerza de su mismo desarrollo democrático y liberal.“ (Alberdi 1874: 299)
Die Republik sei die natürliche und unvermeidbare Regierungsform ‚Südamerikas‘. Ist sie noch defizitär, so würden die ‚südamerikanischen‘ Länder lernen, sie nach dem Vorbild Nordamerikas zu praktizieren, das nicht nur ‚Südamerika‘ als Modell diene, sondern auch die Zukunft selbst der zivilisiertesten Teile Europas sein werde. ‚Südamerika‘ werde paradoxerweise mithilfe des monarchischen Europas lernen, seine Republiken zu entwickeln. Auch die USA versichere sich ihrer Einwanderer nicht durch die Garantie politischer Freiheit, sondern durch ‚soziale Sicherheit‘. Politische Freiheit sei deshalb kein Anreiz für Einwanderer, da ihnen diese im Status als extranjeros nicht zugestanden wird313. „La América del Sud es feliz en ser tan capaz de seguridad privada como los Estados Unidos, ya que no lo es de realizar como ellos la libertad política, que la diversidad de su pasado respectivo, en punto a educación gubernativa, hace posible a la una y muy difícil a la otra. La libertad, considerada como el gobierno del país por el país, es un bien difícil de poseer, porque
313 „La Europa monárquica no tiene derecho de reir y desesperar de la inexperiencia que presenta la república en Sud América, ante el respeto que infunde el ejemplo de la república en la América del Norte, al porvenir político, no solamente de la América del Sud, sino de la misma Europa monárquica, tanto del Sud como del Norte; a la Europa latina, lo mismo que a la Europa sajona, a la Europa de Gil Blas, lo mismo que a la Europa habitada por la raza de Franklin y de Washington. Si la América del Sud puede a veces merecer la risa, no es porque ignora la monarquía, sino porque no sabe realizar la república, que es y será sin embargo su gobierno natural e inevitable. Ella aprenderá a realizarla como la América del Norte, y lo que será curioso, es que lo hará con el auxilio de la misma Europa monárquica, servido por la naturaleza de las cosas de este modo: No es la libertad política sino la seguridad social, la garantía que da a los Estados Unidos sus millones de inmigrados y pobladores extranjeros. El extranjero no puede ser atraído por el aliciente de una libertad política de que no puede gozar por su calidad misma de extranjero, sin abdicar su nacionalidad propia, que él no desespera reasumir activamente un día en su propio país. Lo que le lleva principalmente es el incentivo de una seguridad que su calidad de extranjero no le estorba disfrutar a igual título que el indígena, desde el primer día que pisa el suelo que le ofrece mejor vida que su país.“ (Alberdi 1874: 305, 306).
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supone una educación de siglos en la práctica del propio gobierno, que los más de los países llamados libres sólo poseen platónicamente; pero de la seguridad civil, que es obra del gobierno más que del país, todos los pueblos son capaces, aun los menos adelantados, porque hasta el despotismo puede darla.“ (Alberdi 1874: 306)
Was meint Fígaro, wenn er von ‚sozialer Sicherheit‘ spricht? Allen voran, geht es ihm um die Garantie individueller Freiheit (Freiheit vom Staat) auch für Einwanderer: „En el desarrollo histórico y cronológico de las dos garantías, la seguridad social ha precedido siempre a la libertad política, aunque una correlación estrecha las haga ser dos hechos que se producen mutuamente. Es para la salud de Sud América el que así suceda, porque la seguridad del extranjero inmigrado, que se confunde con su libertad social y civil de vivir, residir, circular, trabajar, adquirir, poseer, disponer, contratar, casarse, asociarse, testar, pensar, creer, publicar, es no solamente el medio heroico de poblarla rápidamente de los habitantes civilizados de la Europa, sino que su cultivo y ejercicio regular es la mejor escuela preparatoria de la libertad política.“ (Alberdi 1874: 306, 307)
Diese könne auch mithilfe von Handelsverträgen, des internationalen Rechts und der Menschenrechte garantiert werden. Das sei der Weg, um Zivilisation in ‚Südamerika‘ herzustellen. (Alberdi 1874: 307) Den ehemaligen spanischen Kolonien in Amerika fehle es auch an einer verarbeitenden industria. Dieser Mangel bedinge aber gerade den Reichtum dieser Gebiete, die mit Europa verbunden sind, obgleich sie unabhängig sind. Denn Fígaro versteht die Aufteilung von Rohstoffproduktion und verarbeitender industria im Sinne der Arbeitsteilung und diese als Garant für Frieden in der Welt, da die Nationen gegenseitig aufeinander angewiesen sind314. Auch insofern erscheint es Fígaro vorteilhafter, ein großes Staatsgebiet zu besitzen und (noch) eine kleine Bevölkerungszahl als umgekehrt: „Las repúblicas de Sud América son pobres en población, pero ricas en territorio. Lo contrario sería menos ventajoso, porque la población pequeña puede dilatarse hasta alcanzar el tamaño del territorio grande, pero no un territorio chico hasta el de una población crecida. La República
314 „También falta a la América antes española una industria fabril; pero esta falta es cabalmente la que mejor garantiza el desarrollo de su riqueza. Al favor de esa circunstancia, la América antes española es un anejo industrial de la Europa más culta, sin dejar de ser independiente. Si no tuviera esa falta, sería preciso inventarla, como el mejor método económico de asegurarla la colaboración del mundo civilizado en la obra de su civilización propia. Con tal que el trabajo le produzca la riqueza de que necesita para vivir ¿ qué importa que el trabajo le produzca materia primera y no materia fabril? La paz del mundo estaría mejor garantizada, si cada nación tuviese que vivir de la producción especial de su vecina. La gran ley de la división del trabajo gobierna a las naciones como a los individuos. ¿Qué se diría de un individuo que por no depender de su semejante, se empeñase en ser su propio zapatero, su propio sastre, su propio arquitecto, su propio carnicero, su propio sirviente? [Kursivierung im Original]“ (Alberdi 1874: 300).
494 | F REIHEIT UND N ATION argentina podría ser un día del tamaño de la Francia; la Bélgica no podría serlo jamás, con su territorio actual.“ (Alberdi 1874: 301, 302)
Und noch einen Vorteil gegenüber Europa glaubt Fígaro in den natürlichen Ressourcen ‚Südamerika‘ ausmachen zu können: den Reichtum und die Schönheit der Natur, die ein großes Forschungsgebiet für europäische Geologen, Biologen, etc. darstellt. „Si el hombre de Sud América puede tener motivos de temer la luz capaz de revelar la deformidad y pobreza de su condición presente, la naturaleza física tan rica y tan hermosa de esta parte del nuevo mundo, no necesita sino de luz para ser vista y brillar. Aquí Galileo podría ofuscar al sol sin temer a la inquisición. La verdad natural y física podría surtir de un mar de luz útilísima al mundo entero, si el naturalista, el geólogo, el botánico de la Europa viniesen en su nombre a interrogarla sobre los arcanos de riqueza y de curiosidad científica, que se abrigan en su suelo, tan desconocido en sus entrañas como estuvo su superficie hasta que Colón la descubrió.“ (Alberdi 1874: 308)
In diesem letzten Punkt widerspricht die Wahrheit Fígaro, der im Roman das letzte Wort vorbehalten bleibt. Die Wahrheit ließe sich nicht in eine moralische, politische und eine physische, natürliche aufspalten, sondern sie sei eins: Ohne Garantie von Freiheit gebe es auch keine Freiheit der Wissenschaft. „Luz del Día, reconocida de los útiles avisos de Fígaro, no queriendo dejar sin retribuirle el regalo de esta última verdad personal, le recordó que Bompland había venido a estudiar la naturaleza, no la sociedad, pero que la sociedad, no la naturaleza, le confiscó su libertad natural y su persona. [...] No hay dos verdades en el mundo, una moral y otra física. La verdad es una, como la naturaleza; y el país en que cuesta la cabeza el decir y probar a un falso apóstol de la libertad, que es un liberticida, que se cree liberal sólo por haber muerto a la libertad sin conocerla, será el mismo país en que los reveladores de la verdad física y natural vivirán expuestos a la suerte de los Galileo, de los Colón, de los Lavoisier, de los Bompland. [Kursivierung im Original]“ (Alberdi 1874: 308, 309)
Freiheit und Nation Wie in der ausführlichen Darstellung der Vorstellungen von Freiheit nach Figuren(gruppe) deutlich wurde, wiederholen sich die zentralen Aussagen zu Freiheit in der Figurenrede. Dass die drei Teile des Buches hinsichtlich des Themas der Freiheit als zusammenhängend verstanden werden können, ist auch an der Zusammenführung der Figuren (carnero, Tartufo y Compañía) und ihres politischen Programms im Gespräch Fígaros mit der Wahrheit ersichtlich: „Las minorías son soberanas donde las mayorías son imbéciles; y las mayorías son imbéciles, cuando se forman de estas dos clases de entes: los que ignoran el gobierno de sí mismo en el grado en que lo ignoran los carneros, y los que sabiendo gobernarse, abdican por pereza y temor en manos de Tartufo y Compañía.“ (Alberdi 1874: 236)
Der liberalen Elite (im Stile eines Tartufo, Basilio und Gil Blas – d.h. (im Umfeld) von Sarmiento und Mitre), die Freiheit, gemeinsam mit Bildung, Zivilisation und Fortschritt, zu ihrem Schlagwort gemacht hat, wird in Peregrinación de Luz del Día
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(1874) Scheinheiligkeit und Selbstbereicherung vorgeworfen. Unter dem Deckmantel der rhetorischen Freiheit und mit der erklärten Absicht, der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes zu dienen, würden keine Mittel gescheut, um Eigeninteresse, Macht und Geld, zu verfolgen: Bestechung, Korruption, Diebstahl, Vertrauensmissbrauch, Beseitigung politischer Gegner, eine korrupte Justiz, die Unterdrückung öffentlicher Diskussion sowie Manipulation von Wahlen und öffentlicher Meinung durch Presse und Literatur sind wiederkehrende Elemente der satirischen Kritik an den Liberalen. Ein Thema, das in allen Teilen des Buches präsent ist, ist der Erwerb von Reichtum ohne Fleiß und Arbeit. Zumindest eine Teilschuld daran wird in der fehlenden Bildung von autonomen Individuen in einem auf Gehorsam ausgerichteten Kolonialsystem Spaniens gesucht, an dem die Liberalen ‚Südamerikas“ nichts geändert hätten. Als einziger Ausweg wird – ebenfalls in allen drei Teilen des Buches – die Anwerbung zivilisierter und freiheitsliebender europäischer Immigranten gezeichnet, die als Vorbild, wie Freiheit praktiziert und gelebt werden soll – frei sei, wer sich selbst regiert – das Volk der Republiken ‚Südamerikas‘ zu Freiheit erziehen sollen. Von der Wahrheit wird vorgeschlagen, die Gebiete der Indigenen mit Einwanderern aus Europa zu besiedeln. Eine gute Besiedelungspolitik verstehe es, die Siedler so zu verteilen, dass sie nicht nur in den Städten konzentriert sind und deren Freiheit gewahrt bleibt. Die Anwerbung schlecht qualifizierter Einwanderer führe ‚Südamerika‘ hingegen noch hinter den Zustand der Barbarei zurück. Quijote setzt ein solches Siedlungsprojekt in den indigenen Gebieten Patagoniens mit englischen Einwanderern (Schafböcken) um. Sie sind souverän, ihnen wird politische Freiheit bei allgemeinem Wahlrecht garantiert, doch können sie weder sprechen, lesen noch schreiben (auf Spanisch?), weshalb sie zu einer Ja-sagenden, von Despoten regierten Masse werden. Bevölkerungszuwachs in dieser die 15. Provinz Argentiniens bildenden Kolonie soll mithilfe der Anwerbung von Indigenen erreicht werden. Das Projekt scheitert u.a. aufgrund der Lügen von Diplomatie und Presse. Auch in der Quijotanía kehrt das im ersten Teil angesprochene Thema wieder, dass Freiheit, die nur per Dekret festgeschrieben wird, Freiheit ins Gegenteil verkehrt, wenn das Volk nicht vorbereitet ist. Im Diskurs der Wahrheit werden die Elemente des beißenden Spotts in eine Freiheitsdoktrin umgewandelt und bilden dadurch eine Kontinuität aus, die sich durch das gesamte Werk zieht. Die Wahrheit unterscheidet wie Quijote zwischen einer äußeren (Freiheit des Staates) und inneren Freiheit (Freiheit im Staat). Das Erkämpfen innerer mit den Mitteln der äußeren Freiheit (allen voran der in Spanien ausgebildeten caudillos) führe zu einem permanenten Krieg und Unfreiheit. Die caudillos seien neben den Dichtern die gefährlichsten Freunde von Freiheit. Letztere würden wieder nur Ideen von Freiheit zeichnen, die in die Irre führen und von praktischer Freiheit nichts verstehen. Freiheit im Staat bei allgemeinem Wahlrecht wird in Peregrinacion de Luz del Día (1874) uneingeschränkt befürwortet. Sie führe jedoch nur in Verbindung mit Freiheit vom Staat, die auch die Anwerbung zivilisierter Einwanderer gewährleiste, aus dem Zustand der nur zum Schein vorhandenen Freiheit des liberalen Despotismus heraus. Hält Fígaro auch die schlecht funktionierenden Republiken ‚Südamerikas‘ für besser als die stabilen (konstitutionellen) Monarchien Europas und betont er, dass die Praxis von Freiheit die beste Schule für Freiheit sei, so wird es nur verständlich, weshalb die Bildung und Vorbereitung der ‚südamerikanischen‘ Republiken für politische Freiheit dann ausschließlich mithilfe von europäischer (v.a. britischer) Einwanderung erreicht werden soll (und nicht etwa durch die praktische
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Übung), wenn das Zusammenspiel von Freiheit vom Staat und Freiheit im Staat in den Blick genommen wird. Die Kritik am liberalen System der Unfreiheit in ‚Südamerika‘ zielt stets auf einen Missbrauch von Freiheit im Staat (in Form eines ignoranten Volkes und tyrannischer Eliten), weil grundlegende Freiheiten vom Staat missachtet oder ignoriert werden: freie Meinungsäußerung, Freiheit der Presse, Freiheit der öffentlichen Diskussion und Vereinigungsfreiheit, Freiheit des Privatraums, Privateigentums und einer eigenständigen Arbeit nachzugehen, etc. Der oben zitierte Katalog wird von der Wahrheit in ihrer Konferenz aufgeschlüsselt. Eben jene Dimension von Freiheit sollten die europäischen Einwanderer dem Volk der ‚südamerikanischen‘ Republiken lehren. Diese als ‚soziale Sicherung‘ bezeichneten Garantien seien es zugleich, die Anreize für intelligente, zivilisierte Einwanderer bilden würden, nach ‚Südamerika‘ zu kommen, so wie dies im Vorbild USA geschehen sei. Sei ‚Südamerika‘ auch im Bereich der Freiheit im Staat den meisten Gebieten Europas voraus, so mangele es an der praktischen Umsetzung von Freiheit im und vom Staat und dem Engagement des Volkes, sowohl hinsichtlich Arbeit als auch politischer Partizipation. Englische Einwanderer, deren Land die Patria der politischen Freiheit (Freiheit im Staat) sei, sind daher die präferierte Gruppe an Immigranten. Der englische Fleiß solle dem Volk ein Vorbild sein, ausländisches Kapital anlocken und zu Reichtum und Wohlstand führen. Zivilisation und Barbarei werden so in Peregrinación de Luz del Día (1874) als Vorhandensein (Freiheit des Staates, vom Staat und im Staat) und Fehlen der grundsätzlich im Menschen angelegten praktischen Freiheit verstanden315. Dadurch können die ‚falschen‘ europäischen Einwanderer als barbarischer als die indigene Bevölkerung ‚Südamerikas‘ dargestellt werden. Dieses Konzept bildet die mögliche Grundlage für einen Homogenisierungsanspruch, der auch im folgenden Zitat deutlich wird: „La sociedad, al contrario, se compone de los mismos elementos que forman la sociedad más civilizada de la Europa actual.“ (Alberdi 1874: 304). Das führt zum Thema der Nation in Peregrinación de Luz del Día (1874). Im letzten Teil des Romans nimmt Fígaro eine Verteidigung ‚Südamerikas‘ gegen den Spott Europas vor. Diese lässt sich als Definition des Eigenen in Abgrenzung zu Europa lesen. Es ist aber nicht die Nation, die die Einheit des Eigenen bildet, sondern eben ‚Südamerika‘. Mehrmals erfolgt im Roman der Hinweis, dass auch Europa (und sogar die USA) ‚barbarische‘ Formen aufweisen. ‚Südamerika‘ habe Europa gegenüber folgende Vorteile: die Weite des Territoriums, die Fülle und der Reichtum an Bodenschätzen und der Natur sowie die in Europa weitgehend fehlende Garantie von Freiheit im Staat in der Republik. Dies sowie die folgenden Merkmale einen die Republiken ‚Südamerikas‘ in ihrer Zukunft: „La América del Sud está fraccionada en catorce Repúblicas, cuyos intereses se contradicen porque sus necesidades son idénticas; pero al lado de esta desventaja, reside un bien sin parale-
315 Freiheit ist zugleich das Mittel zur Erreichung von Zivilisation: „‚La vida civilizada es el fin; la libertad es el camino de ese fin. [Anführungszeichen im Original]“ (Alberdi 1874: 242).
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lo, y es que sus catorce repúblicas hablan un mismo idioma316, son una misma raza, vienen del mismo origen, tienen la misma historia, la misma edad, el mismo sistema de gobierno, el mismo culto religioso, el mismo derecho civil, la misma sociedad, la misma suerte actual, y probablemente los mismos destinos. Como el progreso de las naciones no es la obra de sus gobiernos, sino el resultado de su propia conducta, cuando los gobiernos no la contrarían, la prosperidad de América está asegurada por la ausencia de gobiernos bastante fuertes para contrariarla. Hasta el mal de la deuda en que está Sud América empeñada para con la Europa, por sus legados de Gil Blas, de Tartufo, de Basilio, etc., tiene su compensación en los retornos americanos de esos tipos, mejorados en el nuevo mundo al grado de poder ser tutores de sus abuelos.“ (Alberdi 1874: 302)
Gemeinsame Sprache, ‚Rasse‘, Herkunft, Geschichte, Alter, Religion, Regierungssystem, Bürgerrechte und Gesellschaft machen ‚Südamerika‘ zu einer Identitätsgemeinschaft, die in Peregrinación de Luz del Día (1874) im Zentrum steht. Auch hierbei sind die oben erwähnten Homogenisierungstendenzen erkennbar: Der Anspruch auf eine ‚Rasse‘, Geschichte, Alter, Religion, Sprache setzt eine Homogenisierung von z.B. indigenen Kulturen mit den kreolischen Subjekten voraus. Patria und Nation stehen indes im Zentrum der Kritik, da sie mit den regierenden Liberalen assoziiert werden. „Virreyes de la patria independiente y soberana, vivieron e hicieron vivir a los suyos de la industria de las guerras gloriosas y del patriotismo liberal, al revés de la América del Norte, que vivió de la agricultura, de la industria fabril y del comercio, como su madre patria, de quien recibió en herencia esa educación prosaica del trabajo, la única que sirve a la libertad.‘ [Anführungszeichen im Original]“ (Alberdi 1874: 288)
Die als Vizekönige der unabhängigen und souveränen Nation bezeichneten Liberalen hätten sich mit ihrem patriotismo liberal selbst bereichert. Die Liberalen lebten von der Nation und unterdrückten so die Freiheit. Die Verbindung von Freiheit und Nation wie sie die liberalen Patrioten vorgenommen hätten, ist es, die in Peregrinación de Luz del Día (1874) kritisiert wird: „El que vive de la patria no puede dejar de amar a la patria como a su vida misma. El que come de la libertad, no puede dejar de amar a su libertad como a su pan de cada día. Desde que patria y libertad quieren decir que sin gran trabajo, los patriotas y liberales se volverán naturalmente toda la población del Estado. [Kursivierung im Original]“ (Alberdi 1874: 287)
Sie führte deshalb zur Negation von Freiheit, weil die Personifizierung der Nation in der Regierung zur Unterdrückung jeder Regimekritik im Sinne des Verrats an der Nation führte: „La oposición al gobierno es declarada crimen de traición a la patria, por dos razones incontestables: 1.°, que la patria se personifica y refunde toda entera en el gobierno, por el estado de
316 Brasilien und das Portugiesische werden in Peregrinación de Luz del Día (1874) nicht thematisiert. Dies mag daran liegen, dass Alberdi mit ‚Südamerika‘ vielmehr ‚Hispanoamerika‘ meint.
498 | F REIHEIT UND N ATION guerra o de sitio; 2.°, que todo ataque hecho al gobierno es servicio hecho al enemigo.“ (Alberdi 1874: 279)
Die Nation werde so zum Synonym von Macht- und Habsucht, wie in dieser ironischen Textstelle kritisiert wird: „La traición a la patria puede ser perdonada, pero la traición a su propio bolsillo es un crimen que no perdona el patriotismo de hoy día.“ (Alberdi 1874: 109). ‚Patria‘ oder ‚nación‘ kommen dementsprechend in Peregrinación de Luz del Día (1874) kaum als Begriffe vor. Sie werden durch ‚país‘ oder gleich ‚Südamerika‘ ersetzt. Unter den ca. 30 Nennungen von ‚patria‘ sind bereits jene, die sich auf andere Nationen (z.B. Großbritannien) beziehen sowie der satirische Gebrauch. Kann aufgrund der inhaltlichen Dimension in Peregrinación de Luz del Día (1874) kaum von einer Konstruktion der Nation, sondern vielmehr von der Kritik der Verbindung von Freiheit und Nation wie sie gemäß der Darstellung im Roman in ‚Südamerika‘ (Argentinien?) im Laufe des 19. Jahrhunderts praktiziert wurde, gesprochen werden, so stellt sich nun die Frage nach der literarischen Inszenierung von Freiheit und dem politischen Anliegen des Textes – insbesondere danach, ob auch diese von den literarischen Erzähltexten des nation-buildings abweicht. Zum Verhältnis zwischen Autor und Erzählinstanz Die Erzählinstanz in Peregrinación de Luz del Día (1874) wird nicht näher charakterisiert und bleibt als unbeteiligte Beobachterin anonym. Der Text weist keine Hinweise auf Namen, Biographie, Nationszugehörigkeit, etc. der Erzählinstanz auf. Einzig, dass ihr Moral ein Anliegen ist, wird im Roman thematisiert: Im ersten Kapitel erklärt sie, dass die nachfolgende Erzählung eine Art „estudios de zoología moral“ (Alberdi 1874: 31) darstellt. An einer weiteren Stelle sagt sie: „No tardó Luz del Día en tener de visita a Gil Blas, y la primera visita dió lugar a una larga conversación de que daremos un resumen, por el grande interés moral que encierra.“ (Alberdi 1874: 132). Wenngleich die Erzählinstanz als yo spricht, lassen sich aufgrund der fehlenden Informationen keine Parallelen zwischen Autor und Erzählinstanz finden: „A pesar de su irritación, la Verdad, quiero decir, Luz del Día, no pudo comprimir la explosión de su risa indignada y colérica. [Kursivierung VÖ]“ (Alberdi 1874: 39). Erwähnenswert sind jedoch die zahlreichen inhaltlichen Parallen zwischen Fígaro und dem Autor. Für eine solche Lesart spricht, dass Alberdi zahlreiche Artikel unter dem Pseudonym Figarillo veröffentlichte. Zum Verhältnis zwischen Erzählinstanz, Figuren und implizitem Leser Informations- und Wissensverteilung Wie in den anderen literarischen Erzähltexten des Korpus’ ist auch in Peregrinación de Luz del Día (1874) eine Erzählinstanz mit Nullfokalisierung317 zu finden. Als In-
317 „Desde su entrada [Luz del Día] reconoció al genuino y verdadero Tartufo, y se quedó estupefacta de aquel hallazgo, que destruía todas las ilusiones de su viaje de refugio al
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formationsinstanz spielt sie jedoch eine untergeordnete Rolle, da sie zugunsten der sich über ganze Kapitel erstreckenden Figurendialoge zurücktritt. Im zweiten Teil verschwindet sie fast zur Gänze, denn Fígaro wird nun zur Erzählinstanz der Binnenerzählung über die Quijotanía. Und auch Fígaro überlässt rasch Quijote und dessen Sekretär das Wort. Aufgrund ihrer und Fígaros Absenz in diesem fast ein Drittel des Romans umfassenden Abschnitt scheint es nötig, in Erinnerung zu rufen, dass Fígaro noch immer die Erzählinstanz ist: „El lector recordará que todo este episodio relativo a Quijotanía ha sido parte de los datos que Fígaro suministraba a Luz del Día, para prepararla a dar su conferencia sobre la libertad y el gobierno libre en Sud América.“ (Alberdi 1874: 233). Obwohl die Erzählinstanz am meisten weiß, teilt sie ihr Wissen kaum mit dem impliziten Leser und hält ihn so außen vor. Dieser weiß auch weniger als die Figuren und muss sich auf die Informationsvergabe derselben in der Figurenrede verlassen. Die Reisesituation der Wahrheit erlaubt die Informationsvergabe durch Figuren, die sie in ‚Südamerika‘ trifft, ohne dass die Erzählinstanz Kontext und Figuren genauer beschreiben müsste. Bis auf kleinere Anmerkungen der Erzählinstanz (etwa zur Intrige Basilios, die die Zusammensetzung des Publikums erklärt) bleibt der implizite Leser auf dem Wissenstand einer der Figuren aus dem Publikum, als die Wahrheit ihre öffentliche Konferenz hält. Es besteht demnach ein starkes Informationsgefälle zwischen Erzählinstanz und implizitem Leser, das eine Komplizenschaft zwischen den beiden Instanzen unmöglich macht. Das Wissen, das beim impliziten Leser vorausgesetzt wird, ist sehr umfangreich. Die zahlreichen Anspielungen auf die politische Elite ‚Südamerikas‘ im 19. Jahrhundert, die in allegorischen Figuren verkleidet wird, sind in ihrem Detailreichtum wohl nur von einem zeitgenössischen, argentinischen Leser oder Leserin zu entschlüsseln318. Darüber hinaus müssen diese über literaturgeschichtliche Kenntnisse verfügen, um die intertextuellen Verweise auf literarische Figuren und Szenen in ihrer satirischen Dimension erfassen zu können. Der implizite Leser ist also ein/ gebildete/r Leser/in. Anders als in den Erzähltexten von Echeverría, Sarmiento, Mitre und Mármol wird der Roman Alberdis fast bis zur Gänze unverständlich, wenn dem/r Leser/in viele der erwähnten Informationen fehlen. Redesituationen In Peregrinación del Luz del Día (1874) erlangen die Figuren aufgrund der kaum von der Erzählinstanz kommentierten, ausgedehnten zitierten Figurenrede einen scheinbar hohen Grad an Autonomie. Sie legen ihre Sicht auf Freiheit und die Regierungspraxis der Liberalen in ‚Südamerika‘ selbst dar. Die Abschnitte, in denen sie dies tun, bestehen mitunter aus umfangreichen, ohne Intervention der Erzählinstanz auskommenden und nur ab und zu durch eine Rückfrage der Wahrheit unterbrochenen Reden, so wie im Falle der etwa von Seite 70 bis 112 reichenden Ausführungen BasiliNuevo Mundo, que ella creyó ser el de la verdad. El pensó que el rubor la detenía y la invitó con voz dulce y expresiva a llegar hasta su lecho...“ (Alberdi 1874: 36). 318 Martín García Merou (s.a.) meinte dazu: „Si contiene alusiones, como es indudable en algunos pasajes, ellas están acolchadas, disfrazadas, ocultas de tal manera, que es imposible descubrir su alcance y su intención.“ (García Merou s.a.: s.p). Und Katra (1996) merkt an: „No informed reader of the time would have erred in associating actual public figures with Alberdi’s caricatures.“ (Katra 1996: 271).
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os. Der Dialog als Hauptform der Vermittlung führt dennoch nicht zum Aufbau einer von Divergenz geprägten Perspektivenstruktur. Denn die satirische Grundhaltung, die den Liberalen in den Mund gelegte Kritik als Wahrheit zu deklarieren, lässt es nicht zu, dass diese eine eigenständige Sicht auf ihre Regierungstätigkeit oder ihr Verständnis von Freiheit äußern könnten. Der implizite Leser wird von der Erzählinstanz an ein paar wenigen Stellen in dritter Person (el lector) angesprochen, die ihn allerdings nicht zur Berücksichtigung oder Übernahme einer ideologischen Position auffordert, sondern um dessen Aufmerksamkeit wirbt, so etwa zu Beginn des Romans: „Su lectura es entretenida y fácil porque no tiene método ni plan lógico que esclavice la atención del lector ocupado.“ (Alberdi 1874: 31). Oder an der folgenden Stelle: „El lector notará que esta es la primera vez que Basilio deja caer su nombre en esta conversación, por un descuido propio de la mesa en que abundan los vinos exquisitos.“ (Alberdi 1874: 103). Bewertungsstrategien Da die Erzählinstanz so weit hinter die Figurenrede zurücktritt, dass bisweilen vergessen werden könnte, dass es sie gibt, kann sie nicht zur zentralen Bewertungsinstanz der Figuren werden, die kaum von ihr gezeichnet werden und sich in ihrer Figurenrede selbst bzw. gegenseitig charakterisieren. Die Erzählinstanz äußert sich nicht explizit zu Freiheit und kommentiert auch sonst keine politischen Fragen. Hinsichtlich der Figuren gibt sie aber, wenn auch in geringer Zahl, Wertungen ab, die die Sympathielenkung steuern. Die Sympathielenkung der Erzählinstanz zugunsten von Luz del Día wird durch zahlreiche Gedankenreden, die zwar keinen Einblick in deren Gefühlszustand, aber einen intimeren Blick auf ihre Meinung zur moralischen und politischen Situation ‚Südamerikas‘ erlauben, unterstützt. Luz del Día zeichnet sie an mehreren Stellen als traurig, empört oder schockiert (vgl. z.B. Alberdi 1874: 45, 85) über die neu erworbenen Informationen319: „Y Luz del Día se despidió de Tartufo, agobiada por tristes reflexiones sobre el porvenir de las generaciones del nuevo mundo, que se iniciaban en la civilización de la Europa por maestros como Tartufo, Basilio, Gil Blas, que venían a envenenar la tierra, que les daba asilo y alimento.“ (Alberdi 1874: 57)
319 Eine eindeutige Positionierung der Erzählinstanz für Luz del Día findet sich auch in der Bewertung der Reaktion des Publikums auf die Rede der Wahrheit: „Un coro de silbidos, una lluvia de insultos, un diluvio de pedradas hubiesen dado al amor propio del orador una satisfacción más grande que su dolor de verse despreciada con tanta benignidad e ingenuidad por ese terrible letargo universal de su auditorio. Ninguno de los asistentes podía comentar ni refutar lo dicho en el discurso, porque ninguno lo había escuchado. Si el primer triunfo del orador elocuente, consiste en llamar la atención de su auditorio, según Aristóteles, su más humillante derrota es verse desatendido hasta no hablar sino para adormecerlo. Un pueblo que insulta y aborrece a la verdad, no está distante de estimarla: el ultraje supone la estimación secreta del mérito envidiado. Pero el silencio de la indiferencia es el más cruel de los ultrajes, porque es el desprecio sincero que se escapa sin quererlo y sin mira de ofender.“ (Alberdi 1874: 292,293).
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Die Erzählinstanz ruft an diesen Stellen implizit zum Mitgefühl für Luz del Día auf. Basilios Figurenrede wird hingegen mit eindeutig negativer Wertung eingeführt: „Cediendo a una especie de delirio de perversidad y de gula, la boca de Basilio vomita estas máximas mezcladas con eruptos vinosos y sanchescos del olor más infecto [...]“ (Alberdi 1874: 93). Implizit, auf der Ebene der Textorganisation, lenkt sie die Sympathie auf die Figuren der Wahrheit (diese Sympathielenkung ist alleine schon moralisch begründet) und Fígaros, denen nicht nur der letzte Teil als Konklusion des Romans überlassen wird, sondern auch der Großteil der Figurenrede. Doch auch die Namen der Liberalen – die allesamt auf ihre Weise scheinheilige Figuren der Literaturgeschichte sind – enthalten eine implizite Wertung. Fígaro bezeichnet sie als Gegengift zu Tartufo und Basilio: „Fígaro es la disciplina amable que corrige y educa por la risa; por la risa, que merecen, no tanto los Tartufos y los Basilios, como los que se dejan gobernar por Basilios y Tartufos; es decir, los que llamándose gentes sensatas y liberales, ponen sus destinos, sus personas, sus vidas, sus familias, su honor, su libertad, en manos de hombres que ellos mismos tienen por los mayores bribones de su país para que se les guarden y administren sin responsabilidad ni cuenta alguna.“ (Alberdi 1874: 239)
Lachen als instruktives, pädagogisches Mittel kann nicht nur auf Fígaro, sondern auf die gesamten ersten beiden Teile des Romans bezogen werden. Nicht zuletzt aufgrund der zitierten Figurencharakterisierung ist Fígaro, neben seiner inhaltlichen Position, mit Alberdi selbst in Verbindung gebracht worden, obwohl dasselbe für die Figur der Wahrheit320 gesagt werden könnte. Ortale (2014) meint dazu: „[...] el autor se autopostula como la voz de la Verdad [Kursivierung im Original]“ (Ortale 2014: s.p.). Die satirische Grundhaltung hat den Effekt einer Distanzierung von der ideologischen Position der Figuren, die Ziel des Spotts sind. Diese denunzieren sich in ihrer Figurenrede selbst, indem sie die blanke Wahrheit aussprechen. Ähnliches lässt sich über die Quijotanía sagen, in der die Kolonisierungs- und Besiedelungsprojekte (Sarmientos?) ad absurdum geführt werden. Eine weitere Bewertungsstrategie erwächst aus der Struktur des Textes, die, wie im Abschnitt zu Freiheit deutlich wurde, von der variierten Wiederholung der zentralen ideologischen Positionen geprägt ist. Zur Gattungsebene Zur Gattungsfrage liefert der Roman gleich in seinem ersten Absatz folgende Hinweise: „De todos los cuentos atribuídos a la fantasía de las señoras viejas, ninguno ha llamado la atención como el cuento de un pretendido viaje de la Verdad desde Europa al Nuevo Mundo y de los desencantos chistosos que allí padece, encontrando a la América inundada de ciertos tipos y caracteres de que iba huyendo cabalmente, y por cuya razón principal emigraba del viejo mundo. Es casi una historia por lo verosímil, es casi un libro de filosofía moral por lo con-
320 Besonders deutlich wird dies in der langen Gedankenrede der Wahrheit, in der sie über das von Alberdi stammende Axiom gobernar es poblar reflektiert (Alberdi 1874: 57-59).
502 | F REIHEIT UND N ATION ceptuoso, es casi un libro de política y de mundo por sus máximas y observaciones. Pero seguramente no es más que un cuento fantástico, aunque menos fantástico que los de Hoffmann.“ (Alberdi 1874: 31)
Der Text selbst bietet eine Bandbreite an möglichen Zuordnungen vom cuento fantástico bis hin zum libro de filosofía moral und de política an321. Dieser Aspekt wurde auch in der Sekundärliteratur häufig betont. Für Ortale (2014) ist Peregrinación de Luz del Día (1874) „[...] un texto complejo, un híbrido genérico cuya trama farsesca contrasta con la incorporación final del discurso doctrinario de la Verdad.“ (Ortale 2014: s.p.) und Rössner (2002: 181) siedelt das Werk zwischen Roman und Pamphlet an. Eine Einordnung als Episodenroman scheint ebenfalls nicht ganz zutreffend, da die einzelnen Figurenreden lose miteinander verbunden sind und aufgrund des spärlichen Plots kaum von ‚Episoden‘ gesprochen werden kann. Rojas (1916) stellt in Frage, ob es sich bei dem Werk überhaupt um einen Roman handelt: „Este libro, en cambio, tiene apariencias de novela, aunque ya he dicho que no es una novela; pero también presenta aspectos de libro de viajes, de memoria, de fábula, de diálogo filosófico, de conferencia didáctica, de oratoria, de sátira, de polémica, de tratado político; de tantos géneros, en fin, que por su misma complejidad habría requerido una imaginación más fértil, un ingenio más plástico, y un estilo más poético en su potencia de creación, de evocación, de animación para las cosas imaginadas.“ (Rojas 1916: 21)
Ohne die Gattungszuordnung klären zu wollen, scheint die Unsicherheit bezüglich der Gattung des Werkes in der politischen Strategie des Textes begründet zu sein. Rojas (1916) gilt das Werk u.a. aufgrund der politischen Dimension des Textes als originell: „[...] es una de las más originales obras de nuestras letras. Lo es desde luego por su plan, por su contenido psicológico, y por la intención política del autor.“ (Rojas 1916: 14). Auch für Peregrinación de Luz del Día (1874) lässt sich sagen, dass der literarische Text dem politischen Anliegen unterstellt ist, doch aus seiner politischen Strategie ein Stück seiner ästhetischen Innovation und der Schwierigkeit seiner Gattungszuordnung erwächst. Anders als in manchen der in dieser Arbeit diskutierten literarischen Texte mit politischem Anliegen, erscheint in Peregrinación de Luz del Día (1874) Faktizität nicht als literarische Strategie, obgleich in so mancher langen Figurenrede beim impliziten Leser die fiktionale Redesituation, in die sie eingebettet ist, in Vergessenheit geraten könnte und weite Teile des Textes (etwa der Vortrag der Wahrheit) einem pragmatischen Text ähneln. Der Erzähltext weist zahlreiche Fiktionalitätsmarker auf. Wenn sich die Erzählinstanz auch im Verborgenen hält, so ist sie doch ganz unverkennbar als solche definiert. Sie sät keine Zweifel darüber, ob ihr Diskurs nicht doch ein faktischer sein könnte. Die allegorischen Figuren sind der wohl markanteste Fiktionalitätsmarker des Werks, abgesehen von dem oben zitierten Einstieg in den Erzähltext, in dem sein fiktionaler Status diskutiert wird. Die 321 Es ließen sich auch Parallelen zum roman philosophique anführen: Schließlich handelt es sich um einen satirischen, gesellschaftskritischen literarischen Erzähltext mit moralischem Anspruch. Insofern entspricht der inhaltlichen Rückbesinnung auch eine formale in Form des conte philosophique.
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zahlreichen intertextuellen Verweise können als weiteres Merkmal angeführt werden: Literarische Figuren, die zu literarischen Figuren werden, erfahren, so könnte man sagen, eine zweifache Distanzierung von einem möglichen extratextuellen Status, selbst, wenn sie auf der eigentlichen Ebene der Allegorie historische Personen charakterisieren sollen. Wie oben bereits diskutiert, wird im Text keine Auflösung der Allegorien vorgenommen, die über die patriotas liberales hinaus eine eindeutige Personenzuordnung zuließen, wenngleich zahlreiche Anspielungen gefunden werden können. Konklusion Peregrinación de Luz del Día (1874) ist nicht nur zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt entstanden als die anderen Erzähltexte des Korpus’, sondern unterscheidet sich auch hinsichtlich des Themas Freiheit und Nation und den literarischen Strategien von den anderen Werken. Nicht mehr die Verbindung von Freiheit und Nation, die Konstruktion eines Bildes der Nation und ihrer Geschichte, die nicht ohne Freiheitsbegriff auskommt, steht im Mittelpunkt des allegorischen Romans, sondern die Kritik an der praktischen Umsetzung von Libertad und Patria, die zur bloßen Rhetorik eines neuen, selbstbereichernden Despotismus geworden seien. Freiheit bleibt das zentrale Thema auch in diesem Erzähltext, der sich wie eine Verteidigung, eine Rückbesinnung auf die Grundprinzipien des Liberalismus liest und daran erinnert, dass neben der Freiheit vom Staat im Rahmen von Freiheit im Staat die aktive politische Partizipation, die öffentliche Diskussion, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und politische Opposition unerlässlich für die praktische Umsetzung von Freiheit seien. Der Konsens der Figuren in Peregrinación de Luz de Día (1874) besteht darin, dass es ein geeignetes Volk brauche, um diese zu gewährleisten, lässt aber eine Skepsis darüber erkennen, dass sich das Volk der ‚südamerikanischen‘ Republiken selbst zu Freiheit befähigen könne. Darin liegt der implizite Homogenisierungsanspruch, der dem Text zugrunde liegt, denn nur, wer die ‚richtigen‘ Eigenschaften ‚zivilisierter‘ Völker aufweise, sei zu einer Art von Freiheit fähig, die keine bloße Fassade der Tyrannei ist. Zwar nicht durch ‚Rasse‘, doch durch Bildung (von Sitten) bedingt, könne demnach nur das zivilisierte Europa (das in Anlehnung an das Vorbild der USA v.a. englische Einwanderer meint) die Erziehung des Volkes zur Selbstregierung übernehmen. Europäische Einwanderer sollen Fleiß, Arbeitswillen und Fähigkeit zur Selbstregierung in ‚Südamerika‘ verankern und ‚unbesiedeltes‘, indigenes Land bevölkern. Überzeugt vom allgemeinen Wahlrecht und von der Gleichheit vor dem Recht (einer inklusiven Haltung), zeugen die Figuren dennoch implizit von einer diskriminierenden Einstellung, nämlich hinsichtlich all jener, die dem Ideal des Freiheitssubjekts nicht entsprechen und deren Kultur sich der homogenisierenden Idealvorstellung von den Bedingungen für praktische Freiheit beugen soll. In den skizzierten Bedingungen, aber auch in den Aspekten ‚Rasse‘, Sprache, Religion, Geschichte, Herkunft, etc. erblickt Fígaro die Gemeinsamkeiten Hispanoamerikas – nicht der Nation, von der sich Fígaro abzuwenden beginnt –, das den Referenzrahmen des Romans bildet. In Abgrenzung zur Nation und zu den Monarchien Europas wird der Freiheit der Vorrang vor der Einheit gegeben. Die allegorischen Figuren ähneln allesamt einzelnen Vertretern der liberalen Elite viel stärker als den literarischen Namensgebern. Insofern lässt sich sagen, dass die Figuren des Romans ausschließlich
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Repräsentanten der Elite sind und das Volk nicht zu Wort kommt, auch wenn es sich um allegorische Figuren handelt. Das politische Anliegen des Romans, die praktische Umsetzung von Freiheit des, vom und im Staat durch die erwähnten migrationspolitischen Maßnahmen, wird mithilfe der allegorischen Satire, der Wiederholung der zentralen ideologischen Positionen in unterschiedlicher Form (Selbstdenunzierung der Liberalen, Ad-absurdumFühren der liberalen Besiedlungspolitik durch die Quijotanía, Konferenz der Wahrheit, Gespräch zwischen Fígaro und der Wahrheit), und dem Sprechenlassen der personifizierten Wahrheit bei gleichzeitiger Sympathielenkung zu den Figuren Luz del Día und Fígaro, die die zentralen Bewertungsinstanzen sind, literarisch umgesetzt. Die Figuren entwickeln dabei einen instruktiven Diskurs, nicht aber Identifikationspotenzial – immerhin handelt es sich um allegorische Figuren. Dadurch, dass die Figuren kaum als solche ausgeführt und gezeichnet sind, dass kaum ein Plot vorhanden ist, der den impliziten Leser am Schicksal der Figuren teilhaben lassen könnte und durch das Fehlen einer Erzählinstanz mit Informations- und Deutungshoheit, die sich zum Komplizen des impliziten Lesers322 machen würde oder sich mit diesem solidarisieren könnte, kann in Peregrinación de Luz del Día (1874) weder inhaltlich, noch formal von einem nation-building gesprochen werden323. Die dominante Bewertungsstrategie – die Satire – kann als weiteres Mittel der Distanzierung, nicht der (emotionalen) Einbeziehung des impliziten Lesers gesehen werden. Dieser behält dadurch seine Autonomie (die ja programmatisch ist), auch wenn ihn das harmonische Werte- und Normensystem der erzählten Welt sowie der Diskurs der Wahrheit überzeugen sollen und die Textstrategie eindeutig politisch und instruktiv angelegt ist. Letztere besteht nicht zuletzt darin, die zentralen ideologischen Positionen in den Mund der Wahrheit und Fígaros zu legen. Ironisch mag es anmuten, dass in Peregrinación de Luz del Día (1874) dem Dichter und Schriftsteller jegliche Autorität für den Freiheitsdiskurs324 abgesprochen wird325, doch der Roman selbst ein einziges Plädoyer für Freiheit darstellt, wenn es der Wahrheit auch nicht gelingt, ihr ‚ignorantes‘ Publikum zu bekehren.
322 Zwischen Erzählinstanz, Figuren und impliziten Leser besteht ein starkes Informationsgefälle, das seine solche Komplizenschaft ebenfalls verhindert. Die hohen Voraussetzungen, was Vorwissen des Lesers betrifft, sind ein weiterer Faktor, der eine Solidarisierung erschwert. 323 Sommer (1991) schloss das Werk aus dem folgenden Grund aus ihrem Korpus aus: „[…] the book was simply not so popular nor (therefore) so institutionally promising as to help reinforce love of country.“ (Sommer 1991: 50). 324 Darin könnte man einen platonischen Zug des Romans erkennen. 325 Der Dichter gilt den Figuren des Romans neben dem caudillo als der gefährlichste Freund der Freiheit und als Teil jener, die mit der bloßen Idee die Liebe zur Freiheit fördern, doch nichts von praktischer Freiheit verstehen. Gerade die Idee von Freiheit ließe das Volk in seiner passiven Haltung verharren und ermögliche den Despotismus der patriotas liberales.
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K ONKLUSION Die literarische Inszenierung von Freiheit und Nation im Vergleich Vorweg geschickt werden muss, dass in den literarischen Texten Freiheit und Nation nicht in gleichem Umfang vertreten sind. Während im Facundo (1845), in Amalia (1855) und in Peregrinación de Luz del Día (1874) ausgedehnte, argumentativ angelegte Erklärungen zu Freiheit und Nation enthalten sind, so finden sich in El matadero (1839) und Soledad (1847) nur narrative Inszenierungen der beiden Begriffe. Wie in den politischen Texten wird in El matadero (1839) die Rückständigkeit des Rosas-Regimes mit der Kolonialzeit in Verbindung gebracht und die Mairevolution als Beginn für Freiheit definiert. Auch in Amalia (1855) betont die Erzählinstanz, dass am 25. Mai 1810 zum ersten Mal Freiheit für das argentinische Volk proklamiert worden sei. In Peregrinación de Luz del Día (1874) wird zumindest eine Teilschuld daran, dass Freiheit keinen Bestand hat, in dem auf Gehorsam ausgerichteten Kolonialsystem Spaniens gesucht, an dem die Liberalen ‚Südamerikas‘ nichts geändert hätten. Einzig die Anwerbung zivilisierter und freiheitsliebender europäischer Immigranten könnten dagegen Abhilfe verschaffen, da sie dem Volk der ‚südamerikanischen‘ Republiken, wie Freiheit praktiziert und gelebt werden soll, als Vorbild dienten. Tartufo nennt der personifizierten Wahrheit zwei Ursachen, warum es um die Wahrheit in ‚Südamerika‘ schlecht bestellt sei: Zum einen habe ‚Südamerika‘ Gutes wie Schlechtes Spanien zu verdanken, zum anderen sei das Volk nicht reif genug. Die Probleme Argentiniens werden schon im Facundo (1845) auf die fehlende nationale Einheit, die koloniale Vergangenheit der Nation sowie die geringe Bevölkerungszahl zurückgeführt. Wie in den politischen Texten ist auch in den literarischen Texten individuelle Freiheit oder Freiheit vom Staat sehr präsent. In El matadero (1839) steht der Unitarier als hombre libre, der seine individuelle Freiheit verteidigt, den Föderalen gegenüber. Von der Erzählinstanz wird die Unterdrückung von Freiheit vom Staat durch die Kirche und das Rosas-Regime kritisiert, die Gewissensfreiheit, Gleichheit vor dem Recht sowie, in ironischer Weise von der Erzählinstanz überspitzt, die Freiheit zum Atmen und sich mit Freunden zu unterhalten, missachteten. Als Gegenfolie zu den grausamen Regimeunterstützern wird der freiheitsliebende Patriot (der Unitarier sowie jene, die nur als solche bezeichnet werden) inszeniert. Auch die Erzählinstanz im Facundo (1845) kritisiert das Fehlen der für die Anwerbung von Einwanderern zentralen Religionsfreiheit. Facundo hätte demgegenüber den Spruch ¡Religión o muerte! an den Toren der Stadt San Juan anbringen lassen326. Als eine weitere der Freiheiten vom Staat sieht die Erzählinstanz Pressefreiheit zur Bekämpfung des Rosas-Regimes und zur Etablierung von Freiheit vor. In Alberdis Peregrinación de Luz del Día (1874) wird ein Katalog aufgelistet, der sämtliche Freiheiten vom Staat enthält, darunter das Recht auf öffentliche Diskussion, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit, das Recht auf Bildung, Gewissensfreiheit, das Recht auf Ein- und Ausreise, Niederlassungsfreiheit, das Recht, ohne Privilegien einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, das Recht auf Privateigentum, das Recht, ohne Beschränkung Eigentum zu erwerben und zu verkaufen. Wie in den politischen 326 Eine ähnliche Passage findet sich in Amalia (1855).
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Texten wird bereits im Facundo (1845) kritisiert, dass Rosas die freie Schifffahrt und europäische Einwanderung unterbinde, die Provinzen nicht mit Gütern versorge und auf dem Monopol der Zolleinnahmen Buenos Aires’ beharre. Argentinien sei nicht zuletzt aufgrund seiner zahlreichen im Río de la Plata zusammenfließenden Flüssen eines der reichsten Gebiete Amerikas und könnte eine großen Zahl an Einwanderern anlocken, so sich die politische Lage änderte. Als das alles bestimmende Problem Argentiniens wird auch im Facundo (1845) die auf das Kolonialregime zurückzuführende zu geringe Besiedelung des Staatsgebiets genannt, deren Lösung in der Förderung von europäischer Einwanderung bestehe. Auch in Soledad (1847) wird die Nation als dünn besiedelt charakterisiert. Der Name der Protagonistin kann u.a. im Hinblick auf die fehlende Gesellschaft verstanden werden. In Amalia (1855) wird zudem die Abschottung Rosas’ von Europa sowie die Handelsbeschränkung aufgrund der französische Hafensperre kritisiert. Das Fehlen von Gesetzen, die Freiheit sichern könnten, ist ein Thema, das sich durch den gesamten Roman zieht. Die Ausschaltung der leyes durch Rosas, die Aufhebung von Freiheit vom Staat, bildet das Zentrum der Kritik am Regime. Gleich zu Beginn des Romans wird Kritik an der fehlenden Meinungsfreiheit geäußert. Montevideo habe sich im Gegensatz zu Argentinien für Immigranten geöffnet, Freiheit durch Institutionen gesichert und das Leistungsprinzip in der Gesellschaft verankert, so die Gedanken des Helden, als er dort ankommt. Was die Reife des Volkes betrifft, so finden sich sowohl im Facundo (1845), in Amalia (1855), in Soledad (1847) als auch, wie bereits angesprochen, in Peregrinación de Luz del Día (1874) betreffende Stellen. Mithilfe von Bildung und Erziehung, vor allem aber Zuwanderung aus Europa, so die Erzählinstanz im Facundo (1845), stünden sich Zivilisation und Barbarei nicht länger feindlich gegenüber – sie vereinten sich in der zivilisierten, freiheits- und wohlstandssichernden Nation mit ihren Eigenheiten in Kunst und Literatur, Geschichte, Natur, Volk, dessen Sitten und Nationaltypen. Die Erzählinstanz in Amalia (1855) betont, dass die Mairevolution alle ihrer Grundsätze in Buenos Aires verankert habe: die Republik, ein repräsentatives System, verantwortliche Ministerien, das Wahlsystem, die Gewissens-, Handels- und Meinungsfreiheit, die demokratische Gleichheit sowie die Unverletzlichkeit des Rechts. Dass davon nur die Freiheit des Staates geblieben sei, führt sie auf die im Volk weiterlebenden Traditionen der Kolonialzeit zurück. Das Volk sei für die politischen Innovationen unzureichend vorbereitet gewesen und hätte die für Freiheit nötige Aufklärung und Tugenden nicht ausbilden können. Die Väter der Revolution von 1810 hätten sich der politischen Erziehung des Volkes annehmen sollen, anstatt ihren Verfassungsträumen nachzugehen, damit sich dieses nicht mehr der Ignoranz und den Instinkten der ‚Rasse‘ entsprechend verhalte, sondern Moral und Sitten herausbilde. Das Thema der Moral ist aber v.a. in Soledad (1847) präsent. Die Schaffung einer neuen, jungen Generation und deren Glück in der freien Nation in Form des Doppelpaares wird an der moralischen Erziehung Eduardos durchgespielt. Die Erzählinstanz suggeriert, dass Eduardo aus seinem guten, die Unabhängigkeit der Patria unterstützenden Elternhaus die besten Voraussetzungen mitbekommen habe. Doch die ihn umgebende (u.a. spanische) Gesellschaft und (falsche) Bildung hätten ihn zu einem Egoisten gemacht. Egoismus als Hindernis der Nationenbildung und als Feind von Freiheit kommt auch in Amalia (1855) vor. Ein weiterer Schnittpunkt der literarischen mit den politischen Texten ist in der politischen Positionierung als Mittelweg zwischen Unitariern und Föderalen zu fin-
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den. Freiheit und Nation bilden eine Konstante in El matadero (1839), wobei diese sehr viel präsenter als eine etwaige Solidarisierung mit der parteipolitischen Ideologie der Unitarier ist. Die Ablehnung der Föderalen wird hingegen ganz deutlich. Auch in Amalia (1855) sind jene Figuren, die mit Libertad und Patria assoziiert werden, nicht mit den Unitariern gleichzusetzen, wenngleich die Heldin als Unitarierin gilt. Daniel steht als Figur zwischen den Parteien, ist zwar eindeutig gegen das Rosas-Regime, unterhält aber aufgrund der Parteizugehörigkeit seines Vaters zahlreiche Kontakte zu Föderalen und bildet eine Brücke zwischen den Parteien. Seinen Idealen in Bezug auf Freiheit und Nation bleibt er dabei treu. Der Held sieht sich als Teil einer neuen Generation, die weder föderal noch unitarisch ist: „[...] la nueva generación, que ni era federal ni unitaria, y a que Daniel pertenecía por su edad y por sus principios.“ (Mármol 1855: 380). In Amalia (1855) distanziert sich auch die Erzählinstanz von Föderalen wie Unitariern. Die Erzählinstanz im Facundo (1845) positioniert sich als Mitglied einer neuen Generation (deren Ideen im Schlussteil der Erzählung präsentiert werden), die zwar den Unitariern viel zu verdanken habe, sich jedoch nicht mit diesen solidarisiere. Die Synthese zwischen den politischen Extremen drückt sich im Facundo (1845) nicht zuletzt in der Vermittlung zwischen Zivilisation und Barbarei aus. Unter anderem ist dies an der Zivilisierung der Barbarei mithilfe von Bildung ablesbar, ohne diese zu ‚ersetzen‘. Denn sie mache die Spezifika der Nation in Bräuchen und Tradition aus. Im Facundo (1845) wird keine dichotomische Gegenüberstellung von Zivilisation und Barbarei vorgenommen. Sie entspricht keinem Gut-Böse-Schema und auch keiner reinen Gegenüberstellung von Stadt und Land. Zivilisation und Barbarei lassen sich vielmehr auf Grundlage der Befürwortung oder Ablehnung von Freiheit und Nation beschreiben. Zwar stünden die in den argentinischen Städten ausgeprägten Charakteristika der europäischen Zivilisation im Gegensatz zum von Barbarei geprägten Land. Die im Gegensatz zu Buenos Aires stehende Beschreibung Córdobas zeichnet die Stadt aber als rückständig und fortschrittsfeindlich – nicht alle Städte gelten als zivilisiert. Für ihr Verharren in der Kolonialzeit und der Scholastik, ihre altmodische Gelehrtheit, die bis in untere Gesellschaftsschichten dringt, wird Córdoba im Facundo (1845) belächelt. Das Leben der Landbevölkerung sei im Kontrast dazu von der Gefahr, die von den salvajes oder der Natur ausgeht, geprägt. Diese Lebensbedingungen hätten den Charakter der ländlichen Einwohner geformt und sie vor dem grausamen Tod resignieren lassen. Ihre Isolation in einem Leben ohne Gesellschaft stünde der Entwicklung von Zivilisation, Fortschritt und dem Funktionieren staatlicher Institutionen am Land entgegen. Die in der Natur des gaucho angelegte Freiheitsliebe könne indes in der Nation zur zivilisierten, bürgerlichen Freiheit werden. Schließlich sei auf die ähnliche Inszenierung des gaucho in Amalia (1855) und im Facundo (1845) hingewiesen. Wie im Facundo (1845) prägt die Einsamkeit und Weite der Natur auch in Amalia (1855) die Unabhängigkeit, Furchtlosigkeit und (natürliche) Freiheit des gaucho. Das Gegenbeispiel zu Rosas – der gute, zivilisierte gaucho – findet sich in Amalia (1855) im vertrauenswürdigen criado Daniels. Besonders der gaucho civilizado wird zur Leitfigur der Nationenbildung erkoren. Bezüglich der Mittel der literarischen Inszenierung von Freiheit und Nation scheinen sich die Inszenierungen von Freiheit und Nation in den ausgewählten literarischen Erzähltexten zunächst deutlich voneinander zu unterscheiden. In El matadero (1839) erfolgt sie vorwiegend über die Raumdarstellung des Schlachthofes als Ort
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der Grausamkeit und Brutalität, an dem weder Freiheit noch Nation Bestand haben können und der allegorisch mit der gesamten Föderation verknüpft wird. Einzelne, als Opfer der Föderation inszenierte ‚Individuen‘ (Engländer, Stier, Unitarier) werden in der Figurenkonstellation der brutalen Masse der Föderalen gegenübergestellt. Es steht nicht so sehr die Geschichte einzelner Figuren im Vordergrund der Erzählung, sondern vielmehr die Grausamkeit und Praktiken des Regimes und ihrer Unterstützer, die als barbarische, von ihren Instinkten geleitete Masse dargestellt werden. Freiheit und Nation werden neben dem Unitarier zudem in Form ironischer Kommentare im ersten Teil sowie in einem an den impliziten Leser gewandten Schlussabsatz von der Erzählinstanz verteidigt. Im Facundo (1845) wird das Thema der Freiheit und Nation vornehmlich anhand einer Figur, der Biographie des caudillo, inszeniert, der gemeinsam mit einer Vielzahl an weiteren Figuren der ‚Barbarei‘ für die Missstände in Argentinien verantwortlich gemacht wird, deren Charakteristika sich jedoch wiederum von der räumlich-demographischen Beschaffenheit der Republik Argentinien her bestimmen. Die Beschreibung des Raumes der Nation ist auch im Facundo (1845) ein zentrales Mittel zur Inszenierung. Das Schicksal der argentinischen Nation wird zwar exemplarisch an Einzelfiguren wie Facundo Quiroga, einzelnen Generälen wie Madrid oder Paz, etc. abgearbeitet, doch als eigentlicher Protagonist kann das argentinische Volk gelten. Die als barbarisch gezeichneten Figuren stehen kaum anderen Figuren gegenüber, sondern werden durch die Meinung der Erzählinstanz kontrastiert. Die Lösung für die Zukunft der Nation, die im Abschlusskapitel präsentiert wird, wird schließlich mit der neuen Generation, die sich im Salón Literario versammelt, verbunden. Ganz im Gegensatz dazu steht die Inszenierung von Freiheit und Nation in Soledad (1847), einer am Fuße der bolivianischen Anden angesiedelten Liebesgeschichte, die kurz nach Erlangung der Unabhängigkeit des Landes spielt. Der Name der titelgebenden Protagonistin verweist auf deren zentralen Konflikt: ihre innere Einsamkeit (die fehlende Freiheit zu lieben) sowie das Fehlen von Gesellschaft. Die Protagonistin wird durch Anbindung ihrer Gefühlswelt an die Natur sowie Eduardos Verwendung von militärischem Vokabular, wenn er von ihrer Eroberung spricht, mit der umkämpften Nation in Verbindung gebracht und schließlich mit dem für die Unabhängigkeit der Nation kämpfenden Freiheitshelden Enrique vermählt, nachdem ihr monarchistisch gesinnter Ehemann, der ihre innere Freiheit unterdrückt hat, verstirbt. Eduardo, in den sie sich zunächst zu verlieben beginnt, lässt hingegen eine ambivalente Einstellung zur Freiheit der Nation wie zur emotionalen Freiheit der Heldin erkennen. Inszeniert wird das mit Nation und Freiheit verbundene Paar, Soledad als passive Heldin und Enrique als aktivem Held, auch mithilfe der Farbgebung ihrer Kleidung: Das Paar trägt in der erzählten Welt stets die mit mehreren unabhängigen Nationen Hispanoamerikas verbundenen Farben Blau und Weiß. Nach der moralischen Läuterung Eduardos steht dem Glück des Doppelpaares Soledad-Enrique und Cecilia-Eduardo nichts mehr im Wege. Der Vorgang der Einigung der Nation (d.h. der jungen Figuren) wird an der moralischen Entwicklung Eduardos nachgezeichnet. In Amalia (1855) stehen sich im Buenos Aires der RosasDiktatur Unterstützer des Regimes und die von diesem verfolgten, freiheitsliebenden Patrioten antithetisch gegenüber. Allen voran werden Freiheit und Nation vom unermüdlich, v.a. mit den Mitteln der Rhetorik und seines Scharfsinnes für die Nation kämpfenden Daniel sowie der titelgebenden Amalia verkörpert, einer mutigen, für das Leben ihres Eduardo kämpfenden, unabhängigen Heldin. Die für Freiheit und
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Nation kämpfende Bildungselite wird jenen Gruppen gegenübergestellt, die Rosas treu sind, allen voran den mit höchster Geringschätzung charakterisierten ‚schwarzen‘ Frauen, föderalen Soldaten und der Mashorca. Neben der antithetischen Charakterisierung der genannten Figurengruppen werden Freiheit und Nation in Amalia (1855) mithilfe der ausgedehnten explikativen Kommentare der Erzählinstanz konstruiert, die vermeintlich abseits des Plots stehen, doch den Kontext, vor dem die Figuren handeln, bilden. Bisweilen werden Ironie und Hyperbeln eingesetzt, um die Figuren des Regimes der Lächerlichkeit preiszugeben. Die Brutalität des Regimes verhindert schließlich das Liebesglück des Doppelpaares Amalia-Eduardo und Florencia-Daniel: Eduardo wird vor den Augen der Heldin ermordet; ob der schwerverletzte Held stirbt, bleibt offen. Noch einmal ganz anders werden Freiheitsideale in dem in Argentinien bzw. ‚Südamerika‘ angesiedelten allegorischen Roman Peregrinación de Luz del Día (1874) inszeniert. Der kaum einen Plot aufweisende Roman wird thematisch durch Freiheit, formal durch das Gespräch zwischen allegorischen Figuren327 zusammengehalten, in dem sich die liberalen Patrioten mit der personifizierten Wahrheit unterhalten und sich dabei auf satirische Weise selbst diskreditieren. Die Allegorie der Quijotanía auf die Besiedlungsprojekte in Patagonien dekliniert einige der Kritikpunkte an den Liberalen, die zwar allesamt die Ideale der generación del 37 vertreten, doch diese in ihrer zu Korruption und Despotismus neigenden praktischen Umsetzung verraten, anhand neuer Figuren durch. Neben der allegorischen Satire kann die Wiederholung der zentralen Aussagen zu Freiheit in der Figurenrede als freiheitsinszenierend gelten. Die allegorischen Figuren weisen ein loses Beziehungsgeflecht auf (einzig Luz del Día und Fígaro verbindet das Anliegen der Freiheit miteinander) und werden fast ausschließlich durch Eigencharakterisierung im Gespräch gezeichnet. Plot, eine umfassende Figurenzeichnung oder eine mit deutlichem Informationsvorsprung und Deutungshoheit ausgestattete Erzählinstanz fallen hier als Mittel der Inszenierung aus.
327 Neben Peregrinación del Luz del Día (1874) kommen in El matadero (1839) mit Matasiete und Soledad (1847) mit der Titelheldin sprechende Namen vor.
Konklusion
I NTERPRETATION UND DER E RGEBNISSE
THEORETISCHE
E INBETTUNG
Die beiden Korpora umfassen Schriften, die mit der Ausnahme zweier Texte Alberdis1, zwischen 1837 und 1855 veröffentlicht wurden, also entweder während der Rosas-Diktatur oder in den ersten Jahren nach deren Ende 1852, doch noch in der Zeit, bevor Mitre und Sarmiento jeweils das Präsidentschaftsamt übernahmen. Die Texte sind alle vor der Prämisse geschrieben, dass Argentinien weder eine Nation sei, noch die Freiheit ihrer Bürger garantiere, deren Beginn sie jedoch, ebenso wie die Existenz eines argentinischen Volkes2, bereits mit der Mairevolution von 1810 ansetzen. Als ihre Aufgabe sehen es die Mitglieder der generación del 37 nach Bürgerkriegen und Tyrannei an, die Maiideale im Sinne einer regeneración zur praktischen Umsetzung zu bringen. Argentinien habe zwar seine Unabhängigkeit (Freiheit des Staates) erlangt, diese reiche aber für sich genommen nicht aus, um Freiheit zu verwirklichen. Als Gründe dafür werden immer wieder das in den Traditionen weiterlebende Erbe der spanischen Kolonialzeit, die tyrannische Herrschaft Rosas’ sowie die dünne Besiedelung des argentinischen Territoriums genannt, die ihrerseits bisweilen auf die Kolonialpolitik zurückgeführt wird. Ein weiterer Grund wird in der moralischen Beschaffenheit des Volkes, v.a. dem um sich greifenden Egoismus, und in fehlender Bildung gesucht. In allen Texten außer in Peregrinación de Luz del Día (1874) ist die Vereinigung in der Nation Teil der präsentierten Lösung:Wirtschaftlicher Fortschritt, Zivilisation und Bevölkerungswachstum seien nur in der geeinten Nation zu erzielen, die europäische Einwanderer anlocken soll. Als wichtige Maßnahmen werden in diesem Zusammenhang immer wieder der Ausbau des Transport- und Kommunikationswesens, die freie Flussschifffahrt und die Abschaffung von Binnenzöllen genannt. Als zentrale Erkenntnis der Textanalyse kann gelten, dass ausnahmslos in allen Texten das konstruierte Nationsmodell mit dem Freiheitsbegriff verbunden wird, wobei individuelle Freiheit (sei es in Form bürgerlicher Freiheit oder im Rahmen 1 2
Alberdis Roman Peregrinación de Luz del Día wurde 1874 veröffentlich, La omnipresencia del Estado es la negación de la libertad individual entstand 1880. Als Ausnahme gilt hier Alberdi (1852), der mit Bezugnahme auf die Gruppe der Kreolen von einer Kontinuität des Volkes seit der Kolonialzeit ausgeht sowie Amalia (1855), in der die Erzählinstanz meint, die raza americana hätte bereits im 18. Jahrhundert Bewusstsein über ihre Lage entwickelt.
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des Verfassungsstaates garantierter Freiheit vom Staat) im Vordergrund steht. Stets wird die rechtliche Absicherung von Freiheit betont. Das befürwortete Nationsmodell soll die Freiheit des Einzelnen mit der Zusammenkunft der Individuen in der friedlichen, geeinten Nation erlauben, sei es in Form der asociación oder des Verfassungsstaates. Damit die Einigung der Nation und die Überwindung der Antagonismen und internen Konflikte Argentiniens gelingt, schlagen die Mitglieder der generación del 373 eine Synthese an unitarischen und föderalen Ideen vor, die kein Zentral- sondern ein föderaler Bundesstaat sein soll, damit die Autonomie der Provinzen mit der Einigung derselben in einem gemeinsamen politischen Verband mit einer nationalen Regierung gelinge. Die gemeinsame Erinnerung an die Mairevolution und deren Ideale solle zum einigenden Band zwischen den Nationsangehörigen werden, während die Verfassung (oder die Garantie von Freiheitsrechten) den Wertekonsens der politischen Gemeinschaft festschreiben soll. Die Textanalyse zeigt, dass die ideologische Dimension der Texte entlang von Freiheit und Nation verläuft. Staats- oder Kulturnation? Wie definiert sich nun die von der generación del 37 beschriebene Nation: aufgrund kultureller und/oder ethnischer Kriterien der Zusammengehörigkeit oder aufgrund einer Staatsbürgergemeinschaft? Diese Frage konnte in der Analyse der politischen Texte der generación del 37 eindeutig beantwortet werden: Die genannte Formel leitet sich nicht aus der vorhergehenden Existenz einer Gemeinschaft ab – gerade das Fehlen derselben wird von allen der Autoren beklagt. Für die Ausprägung der Staatsnation sprechen folgende Aspekte: Echeverría (1837) koppelt den Begriff der Patria an die Rechte der Staatsbürger. Das einigende Band der Nation solle auf den Prinzipien der Demokratie, der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit beruhen. Alberdis (1852) Nationsentwurf bringt Immigranten wie Nationsangehörige aufgrund der gemeinsamen, verfassungsmäßig gesicherten (Freiheits-)Rechte zur Nation zusammen. Gemeinschaft wird dann über das gemeinsame Territorium und die darin geltenden Freiheitsrechte, die in der Verfassung festgeschrieben sind, hergestellt. Für die Ausprägung der Staatsnation spricht bei Mitre (1852) die offene Haltung Einwanderern gegenüber sowie das Ziel der verfassungsmäßigen Absicherung von Freiheit als eine ihrer Grundlagen. Die Solidaritätsgemeinschaft leitet sich bei ihm aus der Einhaltung des Rechts und der Überwachung desselben durch die Gemeinschaft ab. Bei Sarmiento (1853a) gilt die Verfassung und das durch sie geschaffene freiheitssichernde System aus dem Zusammenspiel politischer Institutionen als Mittel zur Ausbildung von gegenseitigen Interessen, die die Nationsangehörigen miteinander verbindet (darunter ein nationales Justizwesen, das Postwesen, Transport- und Kommunikationswege etc.). Die Verfassung entfalte zudem einen erzieherischen Effekt hinsichtlich der Ausbildung von Freiheitsliebe. Einwanderern sollen ausdrücklich gleiche Rechte wie argentinischen Staatsbürgern bei Religionsfreiheit verliehen werden. Auch Mármol (1854) sieht
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Als Ausnahme kann Mármols (1854) Vorschlag eines Zentralstaates gelten. In Amalia (1855) wird indes die Synthese zwischen föderalen und unitarischen Ideen anhand des Helden Daniel sowie der Erzählinstanz inszeniert.
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Elemente der Staatsnation vor; sie gelten ihm aber als offene Fragen, die in der neuorganisierten Nation beantwortet werden sollen. Die entscheidende Frage im Verhältnis zwischen Staats- und Kulturnation ist nun, ob sich aus den genannten Elementen der Staatsnation In- und Exklusionsbestimmungen bezüglich der Gruppe jener, die Freiheit (im Staat) genießen, ableiten. Dazu geben die politischen Texte nicht immer im Detail Auskunft. Eine explizite Formulierung von Exklusion fand sich nur bei Echeverría (1837) bezogen auf den vorläufigen Ausschluss der masas ignorantes – Bildung ist hier also das entscheidende Kriterium. Bei Alberdi (1852) lässt die Exklusion der Frau aus der Sphäre der Öffentlichkeit auf einen politischen Ausschluss schließen – bei den anderen Autoren wird diese Exklusion nicht explizit formuliert. Zudem werden bei Alberdi (1852), Mitre (1852) und Sarmiento (1853a) die índigenas de frontera, für deren Gebiete zwar Souveränität beansprucht wird, denen aber kein Status als Rechtssubjekt zuerkannt wird, ausgeschlossen. Ist die letztgenannte Exklusionsbestimmung nun, wie dies Quijada Mauriño (2005b) mit Blick auf das geltende Recht (ab dem Wahlgesetz in Buenos Aires von 1821) formuliert hat, bei der generación del 37 auf das geltende Territorialprinzip zurückzuführen? Die oben genannten Aspekte sprechen für ein inklusiv angelegtes Territorialprinzip, v.a. hinsichtlich der Vergabe von Staatsbürgerschaft an Einwanderer. Das Prinzip des ius soli formulieren sie nicht konkret. Ließe sich nun der Ausschluss der indígenas de frontera mit dem Territorium, das offiziell nicht zum argentinischen Staatsgebiet zählte, argumentieren, so sind neben den erwähnten Aspekten der Staatsnation gleichermaßen Kriterien der Kulturnation in den politischen Texten der Autorengruppe präsent. Echeverría (1837) gelten all jene als Argentinier, die sich zur Patria, zur Mairevolution, zur dreißigjährigen Geschichte seit der Unabhängigkeit bekennen und sich als Teil des argentinischen Volkes mit ihrer Fahne und ihrer Geschichte sehen. Mithilfe einer Art Generalamnestie könnten alle in Folge der Unabhängigkeitskriege entstandenen Verwerfungen zwischen den künftigen Nationsangehörigen vergessen werden und der Friedenschluss für die Einigung der Nation in der Zukunft genutzt werden. Die Nation solle sich zudem auf christliche Werte berufen. Die künftige Regierung Argentiniens müsse die kulturellen Elemente des argentinischen Volkes berücksichtigen. In der Ojeada Retrospectiva (1846) fügt er dem hinzu, dass die Synthese der politischen Parteien in der nationalen Einheit sowie der Bezug auf die Mairevolution und deren Ideale ein Gefühl der Verbundenheit hervorrufen sollen. Auch bei Alberdi (1852) werden nicht nur die politische Wertegemeinschaft, sondern auch Faktoren wie gemeinsame Geschichte4, Bräuche (darunter die Erinnerung an die Mairevolution), Kultur (in christlicheuropäischer Tradition) und Ethnizität (Kreolen vs. Indigene) der Nation eingeschrieben. In den Bases (1858) scheint die Nationenbildung nur durchführbar, wenn die ‚hispanoamerikanische Rasse‘ teilweise ersetzt wird. Mitre (1852) macht neben der Solidaritätsgemeinschaft, die aus der gemeinsamen Einhaltung und Überwachung des Rechts (insbesondere der Verfassung) entsteht, einen christlich geprägten Gerechtigkeitsbegriff zur Grundlage seiner Nation und nennt geschichtliche und kulturelle Elemente, insbesondere die Mairevolution, sowie das symbolhafte Zelebrieren 4
Aus der Geschichte solle sich die politische Organisationsform insofern ableiten als sie die Vereinigung von Unitariern und Föderalen gewährleisten muss. Die Republik versteht er als historische Form, die als Ergebnis der Unabhängigkeitskriege gewürdigt werden müsse.
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der Verbundenheit mit der nationalen Gemeinschaft, als Bestandteile der Nation. Den 25. Mai setzt Mitre (1852) mit einem religiösen Feiertag gleich. Außer im Falle der indígenas de frontera wird bei ihm der Ausschluss von Freiheitsrechten nicht mit der Zugehörigkeit zur Kulturnation oder dem Bezug zu Ethnizität argumentiert. Bei Sarmiento (1853a) finden sich neben den genannten Elementen der Staatsnation auch Aspekte der Kulturnation mit Blick auf die indigene Bevölkerung: Indigene müssten durch Christianisierung zu ‚zivilisierten‘ Menschen gemacht werden und in sämtlichen kulturellen Bereichen angepasst werden. Bei Mármol (1854) beziehen sich die einigenden Elemente ohnehin vorrangig auf Aspekte der Kulturnation, etwa die gemeinsame Geschichte der Revolution, Sprache und Tradition. Die Gemeinschaft der Nationsangehörigen wird als Schicksalsgemeinschaft dargestellt, die Sorgen und Nöte, Tugenden und Laster, Erfolge und Leiden miteinander teilt und dadurch unzertrennlich wird. Die Elemente der Kulturnation, die Mármol (1854) anführt, geben aber, eventuell mit Ausnahme der Sprache, per se keine Exklusionsmechanismen vor, was die Definition des Souveräns, aber auch der Nationsangehörigen betrifft. Bis auf Alberdi (1852, 1858) nennen die Autoren zwar kulturelle Elemente, die ein Gemeinschaftsgefühl zwischen den Nationsangehörigen erzeugen sollen5, sie leiten aus diesen jedoch keine freiheitsrechtlichen Exklusionsbestimmungen ab. Auch bei Alberdi (1852, 1858) kann trotz der deutlich formulierten Diskriminierung von Indigenen nicht festgestellt werden, ob ihnen aufgrund des ethnischen Kriteriums Freiheitsrechte verweigert werden sollen. Eine entsprechende Formulierung enthält sein Verfassungsentwurf nicht6. Für die Definition der Gruppe der Staatsbürger scheinen bei der generación del 37 also eher Elemente der Staatsnation ausschlaggebend zu sein. Anders gestaltet sich die Frage nach der nationalen Gemeinschaft. Die Bestimmung des Verhältnisses von Freiheit und Nation in den Texten hat gezeigt, dass die Ideen des wirtschaftlichen Fortschritts, des Bevölkerungswachstums, der ‚Zivilisation‘, die mit der Nation untrennbar verbunden werden, eine klare Präferenz europäischer Immigranten gegenüber dem ‚argentinischen‘ Volk und insbesondere der Gruppe der Indigenen in sich tragen. Paradoxerweise weist die entworfene 5
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Laguado (2007: 305, 306) stellt fest, dass sich die Nation bei der generación 37 auf Elemente der Zivilisation stütze und auf Grundlage dieser erst konstruiert werden müsse. Eine Verbindung von Nation und Identität sei nicht zu erkennen, die Autoren hätten sich vielmehr auf den Aufbau politischer Institutionen konzentriert. Aufgrund der erwähnten kulturellen Elemente muss Laguado (2007) widersprochen werden, dass in der generación del 37 keine Verbindung zwischen Identität und Nation hergestellt worden wäre. Auch die Elemente der Staatsnation sollten zu einem Gefühl von Zusammengehörigkeit beitragen. Alberdis (1852, 1858) Bases könnten aber auch als Entwurf einer Kulturnation gedeutet werden, wenn auch nicht explizit formuliert. Denn auch wenn Indigenen das Recht auf Stimmabgabe zukommen sollte, so sieht Alberdi (1852) langfristig eine ‚zivilisierte‘ Nation vor; erst sie soll die volle Souveränität erhalten. Die Nation erscheint dann als Loyalitätsverband der Nationsangehörigen aufgrund ihrer kollektiven (proeuropäischen) Identität. Die Erteilung der Staatsbürgerschaft an Immigranten wird dementsprechend nicht mit der Integration von Einwanderern in die politische Gemeinschaft aufgrund deren geteilter politischer Werte, sondern mit deren ethnisch-kultureller Gemeinsamkeit mit einem Teil des Staatsvolkes, mit dem es zudem politische Werte teilt, argumentiert – es sollen ja bestimmte, nämlich europäische, freiheitsliebende und wirtschaftstüchtige Einwanderer kommen.
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Staatsnation dadurch eine deutliche ethnische Komponente auf, die zwar inklusiv nach außen (im Hinblick auf das ‚fortschrittliche‘ Europa), doch – wenn auch nicht exklusiv im Sinne der Aberkennung von Freiheit – diskriminierend nach innen wirkt. Bei Alberdi (1852) wird dies am deutlichsten: Sein Freiheits- und Nationsentwurf kann nicht ohne Einwanderung aus Europa auskommen, da er das argentinische Volk für unzureichend vorbereitet hält. Einige der genannten Elemente der Kulturnation sind hingegen durchaus inklusiv angelegt, etwa die gemeinsame Erinnerung an die Mairevolution, die Versöhnung von Unitariern und Föderalen, etc. Das Kollektiv der Nationsangehörigen bestimmt sich demnach in den politischen Texten der Autorengruppen sowohl durch die Verfassungsgemeinschaft (oder die asociación) – also den gemeinsamen Bezug auf Freiheit, die nur in der geeinten Nation garantiert werden kann – als auch durch kulturelle Elemente und gemeinsame Erinnerung, die eine Einigung der von internen Konflikten gespaltenen Bevölkerung in der Nation erleichtern sollen7. Es handelt sich um eine Ausprägung, die inklusiv gestaltet ist und sich nicht auf ethnische Exklusionskriterien stützt, was Freiheitsrechte betrifft, aber kulturelle Homogenitätsansprüche begründen kann, etwa im Hinblick auf die Kulturen, Sprachen und Religionen der indigenen und ‚schwarzen‘ Bevölkerung8. In den politischen Texten ist Freiheit ein integraler Bestandteil des Nationskonzepts. Alle Autoren gehen vom Individuum aus und wollen dessen Freiheitsrechte schützen. Den nötigen Schutz könne (so die meisten Ansätze) nur eine geeinte Nation (mit (verfassungs-)rechtlicher Garantie von Freiheit) bieten. Eine Trennung von Staat und Gesellschaft ist demnach in allen Nationskonzepten der Dichtergruppe vorgesehen. Dem Individuum wird der Vorrang vor dem Kollektiv gegeben, eine Ausrichtung am Gemeinwillen (wie sie in Rousseaus volonté générale zum Ausdruck kommt), ist in den Texten nicht erkennbar9. Keiner der Autoren vertritt eine Reinform der Kulturnation – bei allen Entwürfen handelt es sich um einen Ausgang von der Staatsnation, die um kulturelle Elemente ergänzt wird. Einheitsstiftend sollen sowohl die freiheitssichernde Verfassung als auch kulturelle Elemente wirken. Dass aber auch die Staatsnation eine deutliche ethnische Komponente in sich tragen kann, wurde oben erläutert. Man könnte sagen, die Staatsnation bezieht – entgegen dem eigentlichen Konzept – ihre Legitimität im Falle der generación del 37 auch aus ethnischen Argumenten (Einwanderung aus Europa, ‚Unfähigkeit‘ des argentinischen Volkes, besonders der indigenen Bevölkerung, etc.). Dies zeigt sich u.a. in der Frage der indígenas de frontera und im Anspruch auf Souveränität über deren Gebiete, ohne diesen die damit verbundenen Freiheitsrechte (etwa auf Eigentum und Boden) zu garantieren. Wie in den politischen so steht auch in den literarischen Texten das Individuum als partikuläre Figur im Zentrum. Das Kollektiv wird hingegen negativ gezeichnet, etwa in El matadero (1839) oder im Facundo (1855). Indigene kommen im literarischen Diskurs kaum vor und sind nicht als aktive, mit Subjektivität ausgestattete Figuren konzipiert.
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Wie weiter unten ausgeführt wird, sind diese Kollektive aber nicht deckungsgleich. Frauen scheinen indes stillschweigend aus dem Recht auf Freiheit ausgeschlossen zu werden. Aus diesem Grund wird hier im Zusammenhang mit der generación del 37 von der Nationenbildung, nicht von Nationalismus, gesprochen.
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Freiheit des Staates und Nation Hinsichtlich Freiheit des Staates und Nation ergeben sich keinerlei Widersprüche mit der Formel ‚Staat = Nation = Volk‘, sind die Autoren der generación del 37 doch allesamt gegen die Souveränitätsbestrebungen der Provinzen. Allerdings besteht ein Widerspruch zwischen der beanspruchten Souveränität Argentiniens über die indigenen Gebiete des Nordens und Südens und der Zugehörigkeit der indígenas de frontera zur Nation, die nicht als gesichert gelten kann. Die politischen Texte enthalten keine klaren Angaben, ob diese als Nationsangehörige gelten sollen. Es besteht ein Konsens zwischen den Autoren, dass die Freiheit des Staates/der Nation nicht zur Nationenbildung ausreiche und keine Freiheit im Inneren sichern könne. Die Freiheit der Nation ist hingegen eine der maßgeblichen Dimensionen in Soledad (1847), deren Freiheits- und Nationsheld Enrique an den zentralen Schlachten der Unabhängigkeitskämpfe teilnimmt. Natürliche vs. bürgerliche Freiheit und Nation Bei Echeverría (1837, 1846) werden dem Individuum vor dem Eintritt in die asociación natürliche Rechte zugestanden, die mit einer Art Gesellschaftsvertrag in bürgerliche Freiheit überführt werden sollen, bis das Volk für eine Verfassung bereit sei. Auch in zwei literarischen Texten wurde die Nation in Verbindung mit der Gegenüberstellung von natürlicher und bürgerlicher Freiheit inszeniert. Sowohl im Facundo (1845) als auch in Amalia (1855) wird der gaucho als mit natürlicher Freiheit ausgestattet beschrieben. Als ‚zivilisierter‘ gaucho könne er in den Kreis der bürgerlich Freien aufgenommen werden. Der literarische Erzähltext erlaubt die Darstellung eines fiktiven Naturzustandes, der nur für einen Teil des Staatsvolkes gilt: die Landbevölkerung. Dieser wird zur Legitimation für die ‚Zivilisierung‘ – den Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft durch Bildung – inszeniert. Freiheit vom Staat und Nation Da die Trennung von Staat und Gesellschaft in den Nationsentwürfen der generación del 37 aufrecht bleibt, so gilt zunächst ‚Staat ≠ Nation‘. Individuelle Freiheit (Freiheit vom Staat) kann dadurch als gesichert gelten, da die Trennung zwischen Individuum und Kollektiv erhalten bleibt. Dem Modell der Staatsnation entsprechend gehen die Nationsentwürfe in den untersuchten politischen Texten von einem Kollektiv aus, das sich aus der Summe an Individuen zusammensetzt. Die Formel lautet demnach: ‚Volk (Summe an Individuen) = Nation ≠ Staat‘, wobei die Nation auch kulturelle Elemente aufweist. Die beiden Kollektive sind insofern nicht ganz deckungsgleich als die Gruppe jener, die individuelle Freiheit genießen nicht mit jener übereinstimmen muss, die sich zu kulturellen Elementen wie der Erinnerung an die Mairevolution bekennt. Zu fragen ist daher, ob das Individuum der Nation übergeordnet ist oder umgekehrt. Die Frage stellt sich insbesondere im Hinblick auf ethnische Gruppen wie die ‚Schwarzen‘ oder die Indigenen und deren Kulturen. Bei Sarmiento (1853a) wird den Indigenen kein Recht auf Gewissensfreiheit (die Teil der Freiheit vom Staat ist) gewährt. Hier kommt es zu einer Konfrontation der Nation und deren kulturelle Elemente (insbesondere der Religion) mit individueller Freiheit, die zugunsten der Nation entschieden wird. Wird die Nation der Freiheit vom Staat der Individuen übergeordnet, so trägt sie mitunter einen kulturellen Homogenisierungsanspruch in sich. Unklar bleibt auch, wie sich in Alberdis (1852) Entwurf objektive
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positive Freiheit vom Staat – wirtschaftliche Freiheiten – zur subjektiven negativen Freiheit vom Staat verhalten, da er diese allen anderen Freiheiten als Bedingung voranstellt. Manche der von ihm aufgezählten wirtschaftspolitischen Maßnahmen können als gemeinschaftliche Freiheitsziele mit individuellen Rechten in Konflikt geraten und so zu einem Konflikt zwischen Individuum und Nation führen. Zudem lässt sich in der Ausgabe von 1858, in der die Kulturnation stärker ausgeprägt ist, fragen, wie sich die individuelle Freiheit jener, die nicht Teil der Kulturnation sind (also alle Nichteuropäer), zum Kollektiv verhält. Im Verfassungsentwurf, der in den Bases (1858) enthalten ist, leiten sich Freiheitsrechte jedoch immer vom Individuum, nicht vom Kollektiv ab. Freiheit vom Staat ist auch eine zentrale Freiheitsdimension in einigen literarischen Texten, man denke nur an die individuelle Freiheit des Unitariers in El matadero (1839) oder Daniels in Amalia (1855), Freiheit vom Staat10 als zentraler Bestandteil der zu konstruierenden Nation im Facundo (1845) oder das in verschiedenen Varianten vorgetragene Plädoyer für Freiheit vom Staat in Peregrinación de Luz del Día (1874). Freiheit im Staat und Nation Freiheit im Staat und Nation sind in den Nationsentwürfen der generación del 37 insofern miteinander verbunden als bei den meisten Autoren Verfassungen, neben Mittel und Bedingung für Freiheit, zur Herstellung nationaler Zusammengehörigkeit im Sinne der politischen Wertegemeinschaft dienen sollen. Sie folgen demnach der Idee der sich konstitutionell bildenden Nation. Werden dabei das souveräne Volk und die Nation zur Übereinstimmung gebracht? Wenn im Nationalstaat und in der Verbindung von Liberalismus und Nation die Begriffe ‚Staat(svolk)‘ und ‚Nation‘ zu verschmelzen drohen, ist es entscheidend, welcher der beiden als Legitimitätsgrundlage für politische Herrschaft herangezogen wird. In den analysierten politischen Texten geht Freiheit im Staat stets von der Souveränität des Volkes, nicht von der Zugehörigkeit zur Nation aus. Wäre die Nation dem Volk übergeordnet, so würde sich der Kreis an Wahlberechtigten erhöhen. Denn die Gruppe der hombres libres ist schon alleine aufgrund des Ausschlusses von Frauen vom Wahlrecht kleiner als jene der Nationszugehörigen. Bei Echeverría (1837) und Alberdi (1852) wird zudem Bildung als vorübergehende Voraussetzung für Freiheit im Staat genannt. Die Kollektive des souveränen Volks und der Nationsangehörigen decken sich im Falle der Freiheit im Staat in den Entwürfen der generación del 37 nicht, wobei die Gruppe der Nationsangehörigen größer ist, auch wenn auf Textbasis nicht hinreichend geklärt werden kann, ob bestimmte ethnische Gruppen und Einwanderer überhaupt als Teil der nationalen Gemeinschaft angesehen werden. Zweifel kommen diesbezüglich insbesondere in Alberdis Bases (1858) auf. Denn Alberdi (1852) sieht langfristig eine ‚zivilisierte‘ Nation vor und erst sie soll volle Souveränität erhalten. Diese ist als Loyalitätsverband der Nationsangehörigen aufgrund ihrer kollektiven (proeuropäischen) Identität gefasst, denn Einwanderer sollen die Staatsbürgerschaft nicht aufgrund der geteilten politischen Werte erhalten, sondern aufgrund ihrer ethnisch-kulturellen Gemeinsamkeit mit den Kreolen (mit denen es zudem politische Werte teilt). Dies 10 Im Facundo (1855) müsste man aber eher von bürgerlicher Freiheit sprechen. Denn ob die Verabschiedung einer Verfassung gelingen kann, darüber äußert die Erzählinstanz Zweifel.
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sowie die Bestimmungen zur Fortpflanzungspolitik deuten auf einen Homogenisierungsanspruch der Nationsangehörigen hin. Dennoch wird Freiheit im Staat in keinem der Entwürfe von der Zugehörigkeit zur nationalen Gemeinschaft abgeleitet. Die entsprechende Formel müsste also ‚Staatsbürgergesellschaft ≠ Nation (≠ Staat)‘ lauten. Freiheit im Staat wird in den literarischen Texten nicht explizit dargestellt. Ob sie Teil des Freiheitsbegriffes etwa im Facundo (1845) oder in Amalia (1855) sein soll, dazu finden sich keine konkreten Hinweise. Stark präsent ist sie im Kontrast dazu in Peregrinación de Luz del Día (1874). Metaphorische Freiheit und Nation Ähnlich wie dies im Theorieteil für die Jahre nach der Französischen Revolution festgehalten wurde, ist in zwei literarischen Texten (El matadero 1839 und Amalia 1855) eine Begriffsverwendung von ‚Freiheit‘ als Freiheit von Tyrannei oder Despotismus zu finden. In Frankreich wurde diese Verwendung in seiner moralischen Begründung zu einem Schlagwort, mit dem sich vieles legitimieren ließ und das selbst das Potenzial zum Despotismus in sich trug, weil es (moralisch) abweichendes Verhalten nicht zuließ. (Van den Heuvel 1996: 102) Für die Figur Daniel könnte eine Parallele hierzu gezogen werden: Immerhin tragen Daniel und Eduardo das politische Programm der asociación auf der Geheimversammlung der gebildeten Elite vor, ohne dass es zu einer Diskussion oder einer Abstimmung über das Programm käme. Daniel verkündet schließlich, dass er das Statut verfassen werde. Es wird in der literarischen Welt aber nicht ausgeführt, ob Daniel tatsächlich autokratische Züge entwickelt. In den politischen Texten findet sich keine Verwendung dieses Freiheitsbegriffes. Ästhetische Freiheit und Nation Wie im Analysekapitel zu den literarischen Texten dargelegt, sind die untersuchten literarischen Erzähltexte ihrem politischen Anliegen untergeordnet, weshalb keine Freiheit der Literatur erfüllt ist. Gerade diese Unterordnung bedingt jedoch einen Bruch mit Gattungskonventionen. Es handelt sich dann um eine Form von ästhetischer Freiheit im Dienst der Nation bzw. in Abgrenzung zur Nation bei Peregrinación de Luz del Día (1874). Emotionale Freiheit und Nation Als neue (unpolitische) Kategorie von Freiheit, die ausschließlich in literarischen Texten (konkret in Soledad (1847) und in Amalia (1855)) vorkommt, kann jene der emotionalen Freiheit, der libertad del corazón, dem Analyseschema hinzugefügt werden. Sie ist weiblichen, mit der Nation verbundenen Figuren, vorbehalten. Die Schriften der generación del 37 im Kreislaufmodell Der Konsens in den Texten, der sich sowohl aus den literarischen wie den politischen Schriften ergibt, kann mit Bezug auf das im Theorieteil der Arbeit entwickelte Kreislaufmodell zur Konstruktion nationaler Identität als Ergebnis mehrerer Selektionsund Bewertungsschritte gelten. Dieser kleinste gemeinsame Nenner der untersuchten Texte soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die einzelnen Texte in ihren Ideen
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voneinander abweichen11. Er darf darüber hinaus nicht mit dem Bild der Nation verwechselt werden, das die Nationsangehörigen schließlich übernommen, abgeändert oder abgelehnt haben und das sich über Generationen hinweg veränderte. Denn eine Analyse der Texte vermag es ausschließlich, die ‚Produktionsseite‘ nationaler Entwürfe zu erfassen, nicht aber die Rezeption durch deren Leser/innen. Wie in Kapitel ‚Nation – Identität – Erzählung‘ dargestellt, durchläuft der Kreislauf der Konstruktion nationaler Identität nicht nur verschiedene Stadien mit unterschiedlichen Akteur/innen unterschiedlichen Einflusses, die ihrerseits mehr oder weniger produktiv auf diesen einwirken, sondern er umfasst über politische und literarische Erzähltexte hinaus eine Vielzahl an ‚cultural productions‘, mündliche wie schriftliche, Texte wie Bilder u.v.m., die überdies in ihrer Fülle wohl kaum rekonstruierbar ist und darstellende Kunst, Feste, politische Reden, Denkmäler, Briefmarken, Feiertage, Geschichtsschreibung, Schulbücher etc. umfasst, um nur einige Elemente12 zu nennen13. Es gilt daher, die hier ausgewählten Schriften der generación del 37 mit ihren Verfahren der Selektion, Bewertung und gegebenenfalls der Fiktionalisierung in der Konstruktion der Nation zu verorten, nicht die Konstruktion der Nation auf die untersuchten Texte der generación del 37 zu beschränken14.
11 Ein Thema, das in dieser Deutlichkeit nur in Soledad (1847) vorkommt, ist jenes der homogenen Nation. In Amalia (1855) ist der Freiheitsbegriff im Gegensatz zu El matadero (1839), der Ojeada Retrospectiva (1846) und Soledad (1847) nicht den freiheitsliebenden Nationalhelden vorbehalten, denn auch Rosas beruft sich auf Ehre und Freiheit, nicht jedoch auf gesetzlich gesicherte, individuelle Freiheit. Sarmientos Facundo (1845) vertritt als einziger der untersuchten Texte die Idee, dass die Unabhängigkeitskriege ein zweifacher, unabgeschlossener Konflikt seien: zum einen der Kampf der spanisch-europäisch geprägten Städte gegen das Mutterland, zum anderen als Krieg der caudillos gegen die Städte. Peregrinación de Luz del Día (1874) unterscheidet sich von den anderen Texten gleich in mehrfacher Hinsicht. Der wohl bedeutendste inhaltliche Unterschied ist, dass sich der Roman gegen das Konzept der Nation stellt. Die Verbindung von Patria und Nation steht im Zentrum der Kritik des Erzähltextes, da sie mit den regierenden Liberalen assoziiert wird. Alberdi (1874) wendet sich in diesem Roman gegen andere Mitglieder der generación del 37 wie Mitre oder Sarmiento und deren Präsidentschaft. In Peregrinación de Luz del Día (1874) umfasst der Freiheitsbegriff (der Wahrheit) zudem auch die Freiheit der Wissenschaft. 12 Nicht alle dieser Elemente ‚produzieren‘ Bilder der Nation. Manche stehen symbolisch für eben diese. Vgl. dazu die Unterscheidung von zwei Ebenen im Theorieteil der Arbeit nach Symbol und interner Inszenierung der Nation. 13 Giordano (2009) widmet sich der Bedeutung von Bildern und darstellender Kunst für die Konstruktion der argentinischen Nation und ihrer Vorstellung. 14 Selbst wenn man sich auf die ‚cultural productions‘ der generación del 37 beschränken wollte, müsste man z.B. die Geschichtsschreibung eines Mitre, die Autobiographien eines Sarmiento oder auch die dramatischen und lyrischen Werke der Dichtergruppe sowie ihre politischen Reden untersuchen.
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Spezifische Bedingungen für den Kreislauf der Identitätsbildung in der generación del 37 Waren in der Jugend der Dichtergruppe Zeitungen in hoher Zahl entstanden und Meinungs- und Pressefreiheit garantiert worden und hatte sich auch ein Vereinswesen herausbilden können, so wurden Presse- und Meinungsfreiheit während der Rosas-Herrschaft abgeschafft und Zeitungen eingestellt. Mithilfe einiger weniger offizieller Zeitungen wurde die öffentliche Meinung zum Propagandainstrument. Im Bereich des Vereinswesens kam es zur Unterdrückung oppositioneller Vereine (so auch des Joven Argentina), doch auch zu einer Blüte regimefreundlicher Vereine, darunter die afrikanischen und sozioökomischen Gesellschaften (Quijada Mauriño 2005b: 838, 839). In dieser Zeit entstanden der Dogma Socialista (1837) als Gründungstext der Asociación, El matadero (1839), der aber erst 1871 veröffentlicht wurde sowie mehrere Texte, die im Exil veröffentlicht wurden: der Facundo (1845), die Ojeada Retrospectiva (1846), Soledad (1847) und Amalia15 (1855), also alle literarischen Texte des Korpus’ außer Peregrinación de Luz del Día (1874). Zensur und Repression gegen Oppositionelle lassen für die Zirkulation dieser Texte als Teil der im Modell als solche bezeichneten ‚cultural productions‘ den eingeschränkten (geheimen) Kreislauf B mit einem sehr kleinen Rezipientenkreis und/oder einen Leserkreis, der außerhalb der Nation verortet ist, vermuten: Der Dogma Socialista wurde 1838 erstmals in Montevideo veröffentlicht, der Facundo 1845 in Chile, die Ojeada Retrospectiva 1846 in Uruguay, Soledad 1847 in Bolivien und 1848 in Chile und Amalia 1851 in Uruguay. Sie konnten in dieser Schaffensperiode der Gruppe zu subversiven, u.a. an Exilargentinier/innen gerichtete, nicht aber das offizielle Bild der Nation (‚public versions‘) prägende Texte werden. Die Frage, warum die generación del 37 ihre politischen Ideen in Form literarischer Erzähltexte zu vermitteln versuchte, scheint demnach auch an Art und Beschaffenheit der Öffentlichkeit gebunden, die zur Verbreitung von Druckerzeugnissen zur Verfügung stand. Tatsächlich entstanden die wichtigsten Erzähltexte der Autorengruppe im Exil; viele gaben das Schreiben auf, nachdem Rosas gestürzt worden war. Der Vergleich der Analyseergebnisse der literarischen mit den politischen Texten zeigt, dass in den literarischen Texten bereits die zentralen politischen Ideen der Gruppe, wenn auch nicht immer argumentativ ausgeführt, vorhanden waren. Literatur konnte so auch als Medium politischer Gegenentwürfe und Teil der Widerstandsarbeit gelten. Das Beispiel Peregrinación del Luz del Día (1874), das als einziger der untersuchten literarischen Erzähltexte nach dem Fall Rosas’ 1874 veröffentlicht wurde, bestätigt dies. Denn Alberdi lebte im freiwilligen Exil in Paris, da er infolge der Polemik mit Sarmiento und Mitre, v.a. ab 1860, als traidor de la patria galt und verfasst so einen subversiven Text gegen die regierenden Liberalen. Wie die Beispiele Dogma Socialista (1837), Ojeada Retrospectiva (1846) sowie zahlreiche im Exil entstandene Zeitungsartikel zeigen, erfolgte der Widerstand in Worten jedoch nicht nur über literarische Texte16. Dass Literatur nach Auffassung der Autoren ganz bestimm-
15 Amalia wurde ab 1851 als folletín veröffentlicht und erst nach Ende des Rosas-Regimes in voller Länge publiziert.
16 Zu erwähnen gilt es zudem Texte, die nicht der Erzählliteratur zuzurechnen sind, etwa die umfangreiche gegen Rosas gewandte Lyrikproduktion der Dichtergruppe.
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te politische Funktionen erfüllen sollte, darauf lassen einige Stellen der untersuchten politischen wie literarischen Texte schließen. Exkurs: Literatur und Nation in Texten der generación del 37 Echeverría setzte auf die Macht des geschriebenen Wortes und v.a. der Literatur für politischen Wandel. Die erzieherische Funktion von Literatur liege darin begründet, nicht nur die Ideen der Zivilisation verbreiten zu können und Bürger über ihre Rechte und Pflichten aufzuklären, sondern deren Vorstellungskraft und Gefühle anzusprechen und über diesen Weg eine moralische, institutionelle und kulturelle Erneuerung einzuleiten (Poblete 2008: 322, 323). In der Ojeada Retrospectiva sieht Echeverría (1846) eine Möglichkeit zur Bildung der Nation in der moralischen Erziehung mithilfe einer unablässigen Propaganda des politischen Programms seiner Generation. Dazu zählen auch Kunst und Literatur, die sich der Nation unterordnen und ihr sowie den Maiidealen dienen sollten. Das Genie könne seine Inspiration nur in nationalen Überzeugungen finden und es sei eine Aufgabe der Kunst, Individuelles und Soziales zueinander zu bringen. Die Literatur müsse andere Wege als Spanien beschreiten, denn Amerika könne nicht politisch von Spanien unabhängig sein und es zugleich als literarisches Vorbild anerkennen. Im Facundo (1845) wird die Verbindung zwischen Literatur und Nation im poetischen Potenzial der argentinischen Natur und ihrer Bewohner verortet. Diese nationalen Eigenheiten würden eines Tages das Drama und den Nationalroman (romance nacional) verschönern und ihnen eine eigene Prägung geben. Literatur und Nation werden als Möglichkeit, eine eigene Nationalliteratur zu schaffen, verstanden. Mitre versucht seinem Vorwort in Soledad (1847) zufolge, mit diesem Roman eine neue Gattung zu begründen, die die Völker Südamerikas mit ihren nationalen Eigenheiten, Sitten und Bräuchen bekannt macht und zu deren ‚Zivilisierung‘ beiträgt. Sein erklärtes Ziel ist es, auch andere Schriftsteller zu ermutigen, sogenannte novelas orijinales zu schreiben. Eine Figur Amalias, Doña Marcelina, ist es, die klagt, dass Rosas nicht nur die Liebe zur Freiheit der/in der Nation, sondern auch die Liebe zur Literatur unterdrücke. Zwischen den jungen, liberalen Figuren entbricht zudem ein Streit darüber, ob das literarische Schreiben oder die militärische Aktion das geeignetere Mittel zur Bekämpfung des Rosas-Regimes seien. In Soledad (1847) werden monarchistische und nationale Ideen mit dem Kunstgeschmack verbunden, sodass das Menuett dem Walzer gegenübersteht. Ersteres kommt als Lied der Vätergeneration auch in Amalia (1855) vor. Die generación de 37 grenzt ihre Nationsideen also entweder von der Ästhetik der jüngeren Vergangenheit und der Art zu Schreiben ab oder spricht sich für die Schaffung von etwas Neuem – nicht nur in der Politik, sondern auch in der Literatur – aus. Nachdem Rosas gestürzt worden war, änderten sich die Bedingungen des öffentlichen Diskurses. Mit der Verfassung von 1853 wurden Presse-, Meinungs- und Vereinigungsfreiheit garantiert, das öffentliche Leben erfuhr einen Aufschwung und freie Wahlen sowie das repräsentative System wurden wiedereingeführt. Unabhängige Information und die Meinungsbildung freier Individuen sollte im Liberalismus die Basis für vernunftbasierte Entscheide bilden, auf denen politische Legitimität beruht.
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Bei der Verbreitung der politischen wie der literarischen Texte17 spielten Zeitungen eine herausragende Rolle, im Exil wie auch nach 1852. Der Dogma Socialista wurde 1838 erstmals in El Iniciador in Montevideo publiziert. Mitres Profesión de fe y otros escritos wurden 1852 in Los Debates veröffentlicht und umfassen eine Sammlung von 20 Zeitungsartikeln, die kurz nach der Schlacht von Caseros und dem Sturz Rosas’ (3. Februar 1852), etwa zeitgleich mit den Bases (1852) von Alberdi, erschienen. Mitres La Constitución debe examinarse y reformarse wurde in mehreren Artikeln in El Nacional im Jänner und Februar 1860 veröffentlicht. Und Sarmientos Examen crítico de un proyecto de Constitución de la Confederación Argentina por Juan B. Alberdi Sarmiento erschien in der chilenischen Zeitung La Crónica vom 19. und 26. November sowie vom 3., 10. und 17. Dezember 1853. Auch zur Rolle der Zeitung konnten zwei Stellen in den Texten der Korpora gefunden werden. Exkurs: Zeitung und Nation in Texten der generación del 37 Mitre (1852) erblickt in der Presse das geeignete Mittel, sich nach der Schlacht von Caseros für Freiheit einzusetzen. Die argentinischen Schriftsteller hätten der Nation bereits mit dem Schreiben im Exil einen wichtigen Dienst erwiesen. Die Aufgabe des öffentlichen Schriftstellers, so Mitre (1852), liege darin, Wahlgesetze zu analysieren und diese verständlich an das Volk zu vermitteln, dabei aber zugleich die Emotionen der Leserschaft ansprechen. Darüber hinaus solle er eine Kontrollfunktion gegenüber der Regierung ausüben. Demgegenüber zeigte sich Echeverría (1846) von der Zeitung als Medium zur Konstruktion der Nation und der politischen Bildung enttäuscht. Es richte sich vorwiegend an ohnehin gebildete Leser, da zu ihrem Verständnis Vorkenntnisse nötig seien. Er zog daher die Verbreitung von Handbüchern zur Erziehung des Nationalvolkes dem Medium der Zeitung vor. Neben der Zeitung sollte der Verein zur Neubestimmung des Individuums beitragen. Zusätzlich zur Exklusion von Frauen aus der politischen Öffentlichkeit und der Tatsache, dass, anders als im Falle von ‚Schwarzen‘, kaum Indigene Mitglieder in Vereinen waren oder eigene Zeitungen gründeten, ist zu bemerken, dass zwar Privateigentum und Bildung rechtlich keine Voraussetzungen für die Partizipation am öffentlichen Leben waren. Sie scheinen aber gesellschaftlich stark wirksam gewesen zu sein, da vorwiegend eine kulturelle Oberschicht in den Institutionen der Öffentlichkeit präsent war, wenn auch zunehmend populäre Formen von Öffentlichkeit entstanden. Einige der Mitglieder der generación del 37, darunter am deutlichsten Mitre und Sarmiento als Staatspräsidenten, wurden nach 1852 zu machtvollen Akteuren des offiziellen Diskurses. Ihnen standen wichtige Instrumente des Kreislaufes A zur Konstruktion nationaler Identität zur Verfügung (vgl. Graphik 4, Kreislaufmodell S. 151). Hinzu kommt, dass das liberale Programm, das nicht zuletzt von den Mitgliedern der generación del 37 in ihren hohen politischen Ämtern entworfen und durchgesetzt wurde, von einer hohen Einflussnahme des Staates, etwa im Bereich der Bildungspolitik (Alphabetisierung, Ausbau des öffentlichen Schulwesens, Bestimmung von Lehrinhalten, etc.), geprägt war. Auch die Medien zur Verbreitung von Nations17 El matadero wurde in der Revista del Río de la Plata publiziert. Als folletín erschienen der Facundo in El Progreso, Soledad in La Época und El Comercio de Valparaíso sowie Amalia in La Semana.
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entwürfen zählen zu den Einflussbereichen der Autoren- und Politikergruppe. Es kann angenommen werden, dass zumindest die Möglichkeit bestand, die literarischen Werke der Autorengruppe als Teil der ‚cultural productions‘ nun einem großen, nationalen Leserkreis (Kreislauf A) zugänglich zu machen. Dass die Presse während der Präsidentschaft Mitres und Sarmientos unter Kontrolle der Liberalen stand18, kritische Stimmen unterdrückt wurden und unliebsame Zeitungen verboten wurden, zeugt von einer hohen Dominanz des Kreislaufes durch die liberalen Eliten und lässt nicht auf eine Sphäre der Öffentlichkeit19 im liberalen Sinne schließen. Zudem wird in der Forschungsliteratur von brutalem Vorgehen gegen caudillos und Föderale, Inhaftierungen und Enteignungen im Zusammenhang mit der nationalen Einigung sowie dem Paraguay-Krieg, dessen vehementer Kritiker Alberdi war, berichtet. Der Machterhalt der Liberalen erfolgte nicht zuletzt mittels Wahlbetrug und Manipulation von Wahlergebnissen. Eben jene Aspekte der politischen Herrschaft einiger Mitglieder der liberalen generación del 37 bilden das Zentrum der Kritik in Alberdis Peregrinación de Luz del Día (1874), in der er seine ehemaligen Verbündeten in Form allegorischer Figuren der Lächerlichkeit preisgibt und deren scheinheilige Umsetzung des liberalen Programms kritisiert. Sowohl im erwähnten Roman als auch in der späten Schrift La omnipresencia del Estado es la negación de la libertad individual (1880) verteidigt er die liberalen Grundprinzipien der Trennung von Staat und Gesellschaft, öffentlich und privat und plädiert für eine praktische Umsetzung von Freiheit vom wie im Staat. Ein zentraler Kritikpunkt an den Liberalen ‚Südamerikas‘ ist in Alberdis allegorischem Roman das Fehlen einer unabhängigen Öffentlichkeit und der mangelhaften Umsetzung von Meinungs-, Presse- und Vereinigungsfreiheit. Das Ziel der Presse sei es, die Wahrheit zu vertuschen und Öffentlichkeit zu verhindern, so heißt es satirisch in Peregrinación de Luz del Día (1874). Die Zeitung verzerre die Realität oder verkehre sie ins Gegenteil, ähnlich wie dies Dichtung und Roman tun, die nicht der Wahrheit verpflichtet sind, sondern Dinge glaubhaft machen. In Peregrinación de Luz del Día (1874) wird auch die Rolle von Literatur bei der Nationenbildung kritisiert. Dichter seien mitunter die gefährlichsten Freunde der Freiheit, so die personifizierte Wahrheit in ihrem Vortrag. Ironischerweise wird das Plädoyer für Freiheit in Peregrinación de Luz del Día (1874) selbst in Romanform vorgetragen. Selektion und Bewertung Interessant erscheint im Bereich der Selektion, dass bestimmte Ideen zu Freiheit und Nation unabhängig von der Textsorte (sowie vom literarischen bzw. nicht-literarischen Diskurs) in den Schriften der Autoren (nicht unbedingt desselben Autors) präsent sind. Eine der Gemeinsamkeiten zwischen einzelnen politischen und literarischen Texten ist in Echeverrías Dogma Socialista (1837) und El matadero (1839) festzustellen. Die Kirche wird in beiden Texten für ihre Privilegien kritisiert, die dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Recht widersprächen. In Amalia (1855) ist wie in Echeverrías Dogma Socialista (1837) die Lösung zur Verwirklichung der Ideale von 18 1866 wurde beispielsweise die Zeitung La América verboten und deren wichtigste Journalisten verhaftet und ein Jahr später folgten weitere Zeitungen in Entre Ríos und Buenos Aires. 19 Inwieweit hier noch von einer Trennung von öffentlich und privat, von Staat und Gesellschaft, gesprochen werden kann, kann hinterfragt werden.
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Freiheit und Nation im Begriff der asociación konzentriert. Die Theorie der asociación, die zum Fortschritt Europas geführt habe, könne laut Daniel und Eduardo, Rosas zum Sturz bringen und den Aufbau einer vereinigten, freiheitssichernden Nation leiten. In Daniels Rede werden die wichtigsten Aspekte der im Dogma Socialista (1837) veröffentlichten Ideen aufgegriffen, etwa die gesellschaftliche Neuorganisation der Nation, gesetzlich gesicherte Freiheit, Fortschritt und Aufklärung in den Bereichen Handel, industria, Wissenschaft und Literatur, christliche Moral, Europa nach Amerika zu bringen, der Bezug zur Mairevolution. Selbst die Form, in der diese Ideen vorgetragen werden, ist an die palabras simbólicas, die Echeverría im Dogma Socialista (1837) veröffentlicht hat und die ebenfalls in einem geheimen Treffen verkündet wurden, angelehnt. Daniels Rede unterscheidet nur die offen gehaltene Frage nach der Staatsform vom Dogma Socialista (1837). Parallel zu Alberdis Bases (1852) wird auch in Peregrinación de Luz del Día (1874) das allgemeine Wahlrecht befürwortet. In beiden Texten wird darauf hingewiesen, dass das Volk für seine politische Freiheit (Freiheit im Staat) nicht vorbereitet sei. Fígaro sieht als einzigen Lösungsweg die Erziehung des Volkes zur Selbstregierung an. Wie in den Bases (1852) heißt es hier, dass es für praktische Freiheit mehr als des geschriebenen Wortes (etwa in Form der Verfassung) bedürfe. Gebildete Einwanderer seien die einzige Möglichkeit, dem Volk Freiheit zu lehren. Wie in den Bases (1852) sind englische Einwanderer, deren Land die Patria der politischen Freiheit (Freiheit im Staat) schlechthin darstelle, die präferierte Gruppe an Immigranten. Freiheit im Staat führe jedoch nur in Verbindung mit Freiheit vom Staat, die zivilisierte Einwanderer anwerbe, aus dem Zustand der nur zum Schein vorhandenen Freiheit des liberalen Despotismus’ heraus. Wie in La omnipotencia del Estado es la negación de la libertad individual (1880) wird schon in Peregrinación de Luz del Día (1874) die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft befürwortet: Der Freiheit der Regierung sei Grenzen gesetzt, wo die Freiheit des Landes per Grundgesetz beginnt. Und auch in Peregrinación de Luz del Día (1874) ist Freiheit nicht ohne Verfassung denkbar: Sie regle Form, Umfang der Funktionen und Ziele der Volksrepräsentanten; ohne sie sei kollektive Freiheit nicht umsetzbar. Schließlich sei auf die Parallelen in Sarmientos Facundo (1845) und den Comentarios de la Constitución (1853a) hingewiesen: In beiden Texten findet sich die Idee, Zivilisation über das Postwesen voranzutreiben, da der Wohlstand der Völker und sicherer Handel auf einem funktionierenden Nachrichtenwesen fußen. Im Facundo (1845) wird Rosas dafür kritisiert, den Briefverkehr seit 14 Jahren zum Erliegen gebracht zu haben. Der Maßnahmenkatalog, der im Schlussteil der Erzählung vorgestellt wird, ähnelt den späteren Comentarios de la Constitución (1853a): der Aufbau eines Postwesens und der freien Flussschifffahrt, die Schaffung von neuen Siedlungen an den Ufern der Flüsse, den Aufbau eines funktionierenden Pressewesens in der gesamten Republik sowie die Verbreitung von Lehrbüchern und Publikationen zu u.a. industria, Literatur und Kunst. Im Facundo (1845) bleibt allerdings noch offen, welche Staatsform mit der Verfassung etabliert werden soll. Das zentrale Anliegen Sarmientos, Bildung und Erziehung, ist schon im Facundo (1845) präsent: Die negativen Seiten der Barbarei könnten durch Bildung und Erziehung überwunden werden. Die Einheit der Nation wird als oberstes Ziel gesetzt – die Geographie Argentiniens erlaube gar keine andere Form der politischen Organisation –, aber die nationale Einheit alleine ist es nicht, die im Facundo (1845) befürwortet wird. Sie sei
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von der Barbarei bereits geschaffen worden, ihr fehle es jedoch an Zivilisation und (verfassungsmäßig) gesicherter Freiheit. Dass die Auswahl dessen, was Teil der Inszenierung der Nation, ihrer Geschichte, Probleme und Spezifika in den politischen wie literarischen Texten wird, einer starken Selektion aus einer unüberschaubaren Menge an ‚ways of life‘ unterliegt, könnte leicht vergessen werden, fand doch der Nationsentwurf der generación del 37 in den Folgejahren – z.T. bis heute – Eingang in Geschichtsschreibung als auch Schulbildung, um nur zwei Bereiche zu nennen, obwohl allgemein das kulturelle Gedächtnis angeführt werden könnte, und unterliegt sie einer ‚Naturalisierungsstrategie‘, also der Präsentation des Nationsentwurfs als natürlich gegeben und immer schon vorhanden. Da für das kollektive Gedächtnis erinnerte und nicht faktische Geschichte wirksam ist, drohen Elemente aus der Vergangenheit, die in dieser Version der kollektiven Erinnerung nicht verankert sind – und die durchaus existierten, wie Shumay (1991) zeigt –, vergessen zu werden. Fiktionalisierung und narrative Konfiguration Vergleicht man nun die Form der analysierten Texte miteinander, so sind die politischen Texte durchwegs argumentativ gehalten und enthalten keinerlei Fiktionalitätssignale. Am Wahrheitsanspruch dieser unterschiedliche Textsorten umfassenden Schriften (Politisches Programm/Gründungstext (Dogma Socialista), Verfassungsentwurf (Bases), zwei Verfassungskommentare (Comentarios de la Constitución und La Constitución debe examinarse y reformarse), ein Vortrag an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Buenos Aires (La omnipotencia del Estado es la negación de la libertad individual), Zeitungsartikel (Profesión de fe y otros escritos und Examen crítico de un proyecto de Constitución de la Confederación Argentina por Juan B. Alberdi) sowie ein politischer Kommentar (Consideraciones Políticas)) bestehen keine Zweifel. Die Texte geben selbst Hinweise auf ihre Textsorte. Ähnlichkeiten der literarischen mit den politischen Texten bestehen v.a. im Falle Facundos (1845) und Peregrinación de Luz del Días (1874). Während der Facundo (1845) umfassende argumentative Textteile enthält20, so halten in Peregrinación de Luz del Día (1874) einzelne Figuren so ausgedehnte Monologe oder Vorträge (im Falle der Wahrheit), dass ihr fiktionaler Kontext vergessen werden könnte, obgleich der Romans klar als Fiktion ausgewiesen ist. Beide Erzähltexte weisen neben narrativen, längere argumentative Textstellen auf. Dies betrifft auch Amalia (1855) im Falle jener Passagen, in denen die Erzählinstanz scheinbar abgekoppelt vom Plot Erklärungen zur Geschichte der Nation liefert und ihren Diskurs selbst bisweilen als historiar bezeichnet. Formal ähneln sich die politischen und literarischen Texte ansonsten nur in der Anrede des Lesers, wobei der lector in den politischen Texten nicht als solcher angesprochen wird, sondern in Form des Imperativs in der zweiten Person Plural, der genauso an politische Mistreiter wie Gegner gerichtet sein könnte und sich selten ausdrücklich an die Leserschaft wendet. Lassen die literarischen Texte auch keine Einordnung auf dem Kontinuum zwischen Staats- und Kulturnation zu21, so inszenie20 Nicht zuletzt deswegen ist er auch als pragmatischer Text rezipiert worden. 21 Das Kollektiv der Staatsbürger und die Frage danach, wie es sich bestimmt, ist kein Thema der literarischen Texte, wenngleich Frauen auf den häuslichen Bereich beschränkt werden und demnach in ihrer Inszenierung eher von politischer Partizipation ausgeschlossen sind.
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ren auch sie die Vorstellung von Zusammengehörigkeit sowie das Selbstverständnis ihrer Mitglieder mit den ihr eigenen Mitteln22. Die Analyse der Mechanismen der Selektion und Bewertung hat gezeigt, dass die politischen und literarischen Texte eine Auswahl und Bewertung nach ähnlichen Kriterien aufweisen. Während die politischen Texte aber Freiheitsrechte in ihrem Verhältnis zur Nation definieren und im Modus der Argumentation darlegen, unterscheiden sich die literarischen Erzähltexte von den politischen Texten neben deren Anspruch auf Wahrheit darin, dass sie Subjektivität anhand von partikulären Figuren im Modus der Fiktionalisierung durchspielen können, wobei Freiheit und Nation mithilfe sämtlicher narratologischer Kategorien inszeniert werden können, wie die Textanalyse gezeigt hat. Roman Wie in Kapitel ‚Liberalismus, Nation(alismus) und literarische Erzählung‘ dargelegt, wird vorzugsweise der Roman als Gattung innerhalb der fiktionalen Erzählliteratur sowohl mit der Konstruktion liberaler Subjektivität als auch der Nation in Verbindung gebracht. Anderson (2005) gilt der Roman als Medium, in dem die Geschichte der Nation, ähnlich einer Biographie, erzählt werden kann. Wie in allen biographischen Identitätsbildungsprozessen seien das Erinnern wie das Vergessen integrale Bestandteile. Auch die (Auto-)Biographie (Anderson (2005), Vázquez (2011), Stierle (2012) wurde im Zusammenhang mit der Nationenbildung als relevante Gattung genannt. Habermas (1969) gilt der Brief als relevante Gattung zur Konstruktion liberaler Subjektivität. In den literarischen Erzähltexten der generación del 37 kommen sowohl der Brief23 im Roman (Soledad 1847) als Mittel, das Zugang zur Subjektivität der Figuren verschafft, als auch die Biographie innerhalb der Erzählung (Facundo 1845) vor. Mit Soledad (1847) und Amalia (1855) sind zwei Liebesromane Teil des Korpus’ und mit Peregrinación de Luz del Día (1874) ein weiterer (allegorischer) Roman. Wie im Analyseteil diskutiert, konnten die meisten der literarischen Erzähltexte nicht (eindeutig) der Gattung des Romans zugeordnet werden. Während Soledad (1847) und Amalia (1855) gattungsmäßig vornehmlich als romance nacional und Peregrinación de Luz del Día (1874) in der Sekundärliteratur meist als allegorischer Roman eingestuft werden, so ergeben sich bei der Gattungszuordnung von El matadero (1839) und dem Facundo (1845) erhebliche Probleme, die nicht zuletzt auf den umstrittenen Fiktionalitätsstatus (Facundo) bzw. den seiner Zeit vorauseilenden Realismus (El matadero) zurückzuführen sind. Es scheinen auch Formen der Erzählung für das nation-buidling relevant zu sein, die nicht als Roman klassifiziert werden können. Nicht alle Texte entsprechen der Ästhetik der Romantik. Die im Theorieteil dis22 Die literarischen Texte inszenieren die Zugehörigkeit zu Freiheit und Nation der einzelnen Figuren anhand unterschiedlicher Arten von Subjektivität. Diese erlaubt gemäß der ideologischen Linie von Freiheit und Nation eine Hierarchisierung der Figuren nach Gender- und Ethnizitätsaspekten. Vgl. dazu Österbauer 2017. 23 In Amalia (1855) erfüllt der Brief hingegen eine Dokumentationsfunktion. Es werden politische Briefe der damaligen Zeit in den Roman integriert und als authentisch ausgewiesen. Daniels Briefe erlauben weniger Einblick in seine Gefühlswelt als vielmehr in sein politisches Kalkül.
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kutierte Verbindung von Roman, Romantik, Liberalismus und Nation muss etwas gelockert werden: Die betreffenden literarischen Erzähltexte können auch andere narrative Gattungen und ästhetische Formen umfassen. Einordnung der Ergebnisse in die Ansätze des literarischen nation-building Anderson (2005) nennt den Roman als geeignetes Mittel der Konstruktion der Nation, weil er die vorgestellte Verbundenheit einzelner Nationsangehöriger darzustellen vermag. Der Leser/die Leserin erkenne die Verbindungslinien zwischen einander unbekannten Figuren, die gleichzeitig handeln und stelle gedanklich deren Verbundenheit, die sie als Mitglieder der Nation aufweisen, her. Dabei werde der Leser/die Leserin in die Vorstellung nationaler Gemeinschaft eingeschlossen. Die Analyse der literarischen Texte aus dem Korpus lässt demgegenüber nicht den Schluss zu, dass der implizite Leser ‚allwissend‘ sein muss, damit nationale Zugehörigkeit inszeniert werden kann. In El matadero (1839) kann aufgrund der externen Fokalisierung im zweiten Teil, in Peregrinación de Luz del Día (1874) aufgrund des Informationsgefälles zwischen Erzählinstanz, Figuren und implizitem Leser (der den anderen Instanzen nachgereiht ist) und in Amalia (1855) aufgrund der komplexen Wissensverteilung, in der dem Helden teils mehr Wissen als dem impliziten Leser zukommt, nicht von einem ‚allwissenden Leser‘ gesprochen werden. Ein solcher ist nur in Soledad (1847) und im Facundo (1845) gegeben. Auch die Darstellung von gleichzeitig ablaufenden Handlungen kommt nur in Amalia (1855) und in geringerer Form im Facundo (1845) vor. Neben einer Vielzahl an Orten stelle auch die Vielfalt an Figurenrede eine Vorstellung von Gemeinschaft her, die über das Wissen und die Wahrnehmung des Einzelnen hinausgehe, so erläutert Culler (2007) Andersons Ansatz. Wie im Analyseteil der Arbeit gezeigt wurde, weisen die untersuchten literarischen Texte nicht alle eine Vielfalt an Figurenrede auf. Der Facundo (1845) kommt beispielsweise beinahe ohne Figurenrede aus, während jener Roman, der kein nation-building-Roman sein will, Peregrinación de Luz del Día (1874), fast ausschließlich aus Figurenrede besteht. Ein weiterer Ansatz ist jener Sommers (1991) und Unzuetas (2005), die die nation-building-Wirkung von Romanen jeweils mit der Leseridentifikation erklären. Unzueta (2005) meint, eine Identifikation mit den Figuren sei v.a. dann in der Textstruktur angelegt, wenn die Figuren ‚realistisch‘ dargestellt werden (etwa in der Wahl ihrer Sprache) und sie ein breites soziales Spektrum abdecken. Dadurch könne sich der Leser/die Leserin mit der einen oder anderen Figur identifizieren und die anderen indirekt oder direkt als Mitglieder derselben nationalen Gemeinschaft anerkennen. Auch dieser Ansatz kann mit den Ergebnissen der Analyse nicht bestätigt werden. Gerade die Helden der literarischen Erzähltexte sind bei der generación del 37 gemäß der Ästhetik der Romantik wenig ‚realistisch‘ dargestellt. Jene Figuren, deren Sprache am ‚realistischsten‘ ausfällt, sind in El matadero (1839) mit der brutalen Menge der sich am Schlachthof tummelnden Menschen zu finden. Diese weisen aber äußerst geringes Identifikationspotenzial auf. Sommers (1991) Ansatz der Leseridentifikation mit Protagonist/innen von Liebesplots fand hingegen zwei Bestätigungen in Soledad (1847) und Amalia (1855). Larsen (2001) sieht die Allegorie als narratives Mittel an, wie die Nation in literarischen Erzähltexten zur Darstellung kommen kann. Versteht man die Allegorie wie
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Sommer (1991) als gegenseitige Bezogenheit von Eros und Polis, so können zwei Beispiele dafür in Soledad (1847) und Amalia (1855) gefunden werden. In El matadero (1839) steht der Schlachthof und das Geschehen an diesem Ort allegorisch für das föderale Regime Rosas’ und dessen Praktiken. Der Facundo (1845) hingegen enthält keine Allegorien, der Titelheld ist aber eine exemplarische Personifikation des argentinischen Nationsvolks. Peregrinación de Luz del Día (1874) ist wohl das deutlichste Beispiel des Korpus’ für allegorische Darstellungen, jedoch kein nationbuilding-Roman. Schließlich wurde in der Forschungsliteratur die These formuliert, dass der Plot ausschlaggebend sei, wenn er nationale Inhalte inszeniere sowie umgekehrt, dass es weniger der Plot als vielmehr die Form literarischer Texte sei, die die Herstellung von nationaler Identität anregen könne. Als Vertreter der ersten These sei hier nochmals Unzueta (2005) zitiert: „Romances participate in nation-building processes because of their representations of a range of elements portrayed and perceived as national and, moreover, because of their contribution to the invention of modern individuals and sentimental subjectivities that are the targets of nationalist discourses.“ (Unzueta 2003: 160)
Die inhaltliche Inszenierung der Nation kann als notwendiges Element des nationbuilding-Potenzials der Texte begriffen werden. Diese muss nicht (nur) über den Plot erfolgen, sondern kann ihren Fokus auch auf den Schauplatz, eine Figur bzw. eine Figurengruppe, der Figurenkonstellation und ihre Charakterisierung sowie die Figurenrede legen. Die inhaltliche Inszenierung alleine erklärt jedoch nicht, weshalb die Leser/innen diese Inhalte stärker mit ihrer eigenen Identität in Verbindung bringen sollten als andere Inhalte. Sommers (1991) Ansatz, der Liebesplots mit der Leseridentifikation verbindet, liefert dafür gute Argumente. In Soledad (1847) wie in Amalia (1855) wird ein Liebesplot mit der Nation verbunden, wobei die Sympathielenkung wie der Zugang zur Gefühlswelt der liebenden Figuren stark ausgeprägt sind, was die Identifikation mit ihnen fördert. Der Fokus der hier dargebotenen Lektüre auf dem Verhältnis von Freiheit und Nation als wesentlichem Merkmal des nationbuilding der generación del 37 hat gezeigt, dass der Liebesplot alleine die kausale Struktur desselben nicht erklären kann, da ohne den Bezug auf Freiheit und Nation beispielsweise die Konstellation Soledad-Enrique nicht plausibel erscheint. In Amalia (1855) bilden nicht Held und Heldin, zu deren Gefühlswelt der meiste Zugang geschaffen wird, das Liebespaar. Das Glück des Doppelpaars hängt von der freien, zivilisierten Nation ab. Die inhaltliche Inszenierung der Nation (und hier von Freiheit und Nation) muss in den analysierten Beispielen also gemeinsam mit dem Liebesplot und der Leseridentifikation betrachtet werden. El matadero (1839) und der Facundo (1845) weisen hingegen keinen Liebesplot auf. Aber auch sie enthalten eine ausgeprägte Steuerung von Leseraffekten, die gerade nicht im Bereich der Leseridentifikation liegt, sondern im Gegenteil auf die Emotionen eines schockierten impliziten Lesers und dessen Betroffenheit zielt. In Peregrinación de Luz del Día (1874) fehlt die eindeutige Steuerung positiver wie negativer ausgeprägter Leseraffekte wiederum. Culler (2007) als Vertreter der zweiten These meint hingegen: „The contribution of the plots and themes of novels is likely to be considerably smaller, but their form may be the condition of possibility of the imagined communities that are energized
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by discourses of war.“ (Culler 2007: 71). Culler (2007) baut sein Argument in Abgrenzung zu Anderson auf, der davon ausgeht, dass der Adressatenkreis nationaler Romane ausschließlich auf Nationsangehörige beschränkt sei, die aufgrund ihres gemeinsamen Wissensstandes als Teil der nationalen Gemeinschaft Informationen (etwa zu Straßennamen oder kulturellen Elementen) einzuordnen wüssten. Culler (2007) zeigt hingegen, dass in nation-building-Romanen die Informationsvergabe gerade so angelegt ist, dass sie für Mitglieder der Nation redundant erscheinen muss. Er schließt daraus, dass diese Romane vielmehr an externe Leser/innen gerichtet seien, in denen das Begehren geweckt werde, an nationale ‚Insiderinformationen‘ zu kommen. Das betreffende Zitat sei hier nochmals wiedergegeben: „[I]t makes this sort of ‚insider information‘ into an object of readerly desire. For readers of Rizal’s novel, who may have never before taken any interest in the inhabitants of Manila, much less in its inhabitants of the late nineteenth century, it becomes desirable to be such an insider, to know about the types that constitute this nation.“ (Culler 2007: 60)
Auch in den in dieser Arbeit untersuchten literarischen Texten ist das beim impliziten Leser vorausgesetzte Wissen gering. Anders als bei Culler (2007) wird in dieser Arbeit aber die Vergabe von an sich bekannten Informationen als Definition und Selbstvergewisserung des Eigenen verstanden, als Aktualisierung, aber auch Schaffung eines Konsenses, was für die Nation als spezifisch gedeutet werden soll, mit der zugleich eine Abgrenzung der nationalen Gemeinschaft vom ‚Anderen‘ erfolgen kann. Das Beispiel Peregrinación de Luz del Día (1874) passt sich insofern in dieses Schema ein als es gerade nicht die Nationenbildung vorantreiben will und ein äußerst hohes Wissen beim impliziten Leser voraussetzt. Die diskutierten Ansätze zum literarischen nation-building legen ihren Fokus bereits seit den Studien von Anderson (2005) auf rezeptionslenkende Faktoren sowie den impliziten Leser. Von diesen ausgehend wurde in der Analyse der literarischen Erzähltexte die Art und Weise, wie der implizite Leser mit den genannten Aspekten (Wissensverteilung, Informationsvergabe, Figurenrede, Identifikationsstrategien, Sympathielenkung) verbunden wird, betrachtet. In Anlehnung an Nünnings (1989) Begriff der Perspektivenstruktur, die sich aus dem Verhältnis der Werte und Normen von Figuren untereinander sowie im Verhältnis zur Erzählinstanz ergibt, konnte ein weiterer Hinweis zum nation-building-Potenzial der Texte gefunden werden: Alle fünf der untersuchten Erzähltexte konstruieren auf je unterschiedliche Weise eine einheitliche Perspektivenstruktur, d.h. ein harmonisches Werte- und Normensystem, wenngleich dieses in El matadero (1839) im Schlussteil der Erzählung Risse bekommt. Die einheitliche Perspektivenstruktur scheint dem politischen Anliegen der Texte geschuldet zu sein, weist doch auch der ansonsten formal abweichende Roman Peregrinación de Luz del Día (1874) eine solche auf. Anders als in den nationbuilding-Texten ist in diesem Roman die Leseranrede weniger stark ausgeprägt und sie erfolgt nicht unbedingt an den zentralen ideologischen Stellen des Romans. Die vier anderen Texte zeichnen sich durch eine starke Einbeziehung des impliziten Lesers in die erzählte Welt aus, die u.a. in Form einer Solidarisierung oder Komplizenschaft mit der in allen Texten stark präsenten und wertenden Erzählinstanz erfolgt. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen El matadero (1839), dem Facundo (1845), Soledad (1847) und Amalia (1855) ist das im Analysekapitel näher erläuterte
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Spiel mit Faktizität, wenn dieses auch auf unterschiedliche Weise gestaltet wird. In allen vier Texten sind in weniger (Soledad) oder stärker (Facundo) ausgeprägter Form Stellen enthalten, die Zweifel bezüglich der Fiktionalität des Textes säen sowie darüber, ob das Dargestellte nicht doch einen Anspruch auf Wahrheit stellt. Im Gegensatz dazu ist Faktizität in Peregrinación de Luz del Día (1874) nicht Teil der literarischen Strategie. In der Sekundärliteratur wurde bisweilen argumentiert, dass zur Zeit der Entstehung der Texte in Hispanoamerika nicht immer klar zwischen Fakt und Fiktion differenziert worden wäre und die Trennung zwischen den Gattungen fließend war, die zudem in der Zeitung ein gemeinsames Medium hatten, etwa durch die gemeinsame Publikation von Zeitungsartikeln und Fortsetzungsroman. Carrillo Zeiter (2010) und Wink (2009) haben herausgefunden, dass auch in der Literaturgeschichtsschreibung bzw. in der Historiographie des 19. Jahrhunderts in Argentinien ‚fiktive‘ Elemente zu finden sind, die hier als ‚erfundene‘ Elemente bezeichnet werden. Und Sommer (1991) meint: „Novelists tried to insist that their work was ‚history‘ not fiction; and therefore not idle or fuel for fantasies. [Anführungszeichen im Original]“ (Sommer 1991: 36). Mag diese Trennung auch keine konsequente sein, so zeigt das Beispiel Amalia (1855) demgegenüber ganz deutlich, dass im Text markiert wird, was Fakt, was Fiktion ist – es wird im Text zwischen novela und historiar unterschieden –, also ein Bewusstsein für diese Differenzierung jedenfalls gegeben ist. Lässt sich die entstehende Historiographie auch nicht mit späteren Ansprüchen des wissenschaftlichen Diskurses messen, so kann dennoch davon ausgegangen werden, dass diese Texte einen Anspruch auf Wahrheit stellten und als solche rezipiert werden sollten. Die Integration erfundener Elemente lässt sich dann vielmehr auf den Anspruch, gemeinsame Erinnerung zu schaffen, zurückführen. Anhand von Amalia (1855) kann beobachtete werden, dass die Erzählinstanz bei ‚authentischen‘ Dokumenten auf deren Wahrheitsgehalt besteht, während sie dem impliziten Leser an anderen Stellen anzeigt, dass sie nun zurück zum Romandiskurs wechselt. Dass diese Markierungen im Roman keine Trennung zweier Diskurse sind, sondern vielmehr ineinander fließen, lässt sich vor dem Kontext des Bewusstseins über die Trennung von historiar und novela als Spiel mit Faktizität im fiktionalen Diskurs verstehen. Denn die deutlich erkennbaren Fiktionalitätssignale in Amalia (1855) und Soledad (1847), die schon im Untertitel mit der Bezeichnung novela orijinal auf ihren Anspruch verweist, lassen darauf schließen, dass die literarischen Erzählungen keinen Anspruch auf Wahrheit stellen und als fiktional gelesen werden wollen. Auch Sommer (1991) meint, dass es unwahrscheinlich sei, dass die national romances als faktual rezipiert wurden: „The possibility that hypostatized passion would be taken for empirical reality was hardly a ‚danger‘ at all but precisely their [der Schriftsteller] opportunity to construct a legitimating national culture. [Anführungszeichen im Original]“ (Sommer 1991: 46). Sie hält an anderer Stelle fest: „For the writer/statesman there could be no clear epistemological distinction between science and art, narrative and fact, and consequently between ideal projections and real projects. […] In the epistemological gaps that the non-science of history leaves open, narrators could project an ideal future.“ (Sommer 1991: 7)
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Anders als historiographische Texte können sich literarische Erzählungen dem Vorwurf der Täuschung oder der Lüge entziehen. Das Beispiel des Facundo (1845), der das Spiel mit Faktizität und Fiktionalität bis zur Unzuordenbarkeit des Textes treibt, wie die bereits bei seiner Publikation begonnene und bis heute anhaltende Gattungsdiskussion zeigt, gibt einen Hinweis darauf, dass auch in der Rezeption durchaus eine Differenzierung der Textsorte nach ihrem Wahrheitsanspruch erfolgt ist: Ihm wurde von den Zeitgenossen Unwahrheit und Übertreibung vorgeworfen. Mögen Historiographie und Literatur im 19. Jahrhundert auch näher beieinander liegen und beide sowohl faktuale als auch erfundene bzw. fiktionale Element aufweisen, so lassen sie sich doch nach ihrem Anspruch differenzieren, der in den Texten mit dementsprechenden Signalen gekennzeichnet ist Die literarischen Erzähltexte unterscheiden sich zudem durch ihre spezifische Kommunikationssituation24. Das Spiel mit Faktizität in literarischen Erzähltexten kann daher als Teil der Überzeugungsstrategie des Textes, die im Sinne des making credible die Möglichkeit direkter Bezüge zur außertextuellen Welt in der Rezeption eröffnet oder sogar anregt, verstanden werden. Die Gegenüberstellung der politischen mit den literarischen Texten hat indes gezeigt, dass sich die Texte, wenn auch nicht formal, so in ihren inhaltlichen Elementen ähneln. Gewisse Elemente wie der Bezug auf die Mairevolution als Beginn von Freiheit und Nation können als Beispiel angeführt werden, das zugleich zeigt, dass auch ‚erfundene‘ oder zumindest neu bewertete Elemente in den pragmatischen Texten enthalten sind. Der Begriff der ‚erfundenen‘ Elemente, die sowohl in pragmatischen als auch fiktionalen Texten präsent sein können, trennt sich hier vom Begriff der Fiktion, der mehr ist als nur die Integration von ‚Erfundenem‘. Das, was als Spiel mit Faktizität bezeichnet wurde, lässt sich mit Sommer (1991) als Versuch verstehen, die zu konstruierende Nation zu legitimieren und diese voranzutreiben: „The writers were encouraged both by the need to fill in a history that would help to establish the legitimacy of the emerging nation and by the opportunity to direct that history toward a future ideal.“ (Sommer 1991: 7). Im Bereich der Selektion und Bewertung teilen die politischen und literarischen Texte bestimmte Mechanismen miteinander, die für das nation-building spezifisch erscheinen und im Versuch, gemeinsame Erinnerungen bzw. einen Konsens über die nationale Geschichte herzustellen, teils als ‚erfunden‘ bezeichnet werden könnten – dies scheint charakteristisch für Identitätsbildung allgemein –, der Mechanismus der Fiktionalisierung ist jedoch den literarischen Texten vorbehalten, was sich an den unterschiedlichen Maßstäben, mit denen die Texte in ihrer Rezeption bemessen werden sollen sowie an der fiktionalen Kommunikationssituation – der Konstruktion einer erzählten Welt mit fiktiven narrativen Instanzen – ablesen lässt.
24 Ähnlich dazu auch González (2006): „Quiero decir con esto que durante un período histórico determinado sí hay diferencias entre la ficción narrativa y el periodismo, aunque estas están determinadas por los convencionalismos de la época y por las etapas anteriores del intercambio de semejanzas y diferencias. [Kursivierung im Original]“ (González 2006: 229).
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Schlüsse und Reflexionen in Bezug auf das nation-building und den impliziten Leser Wie sind nun die in der Analyse und im Vergleich identifizierten Spezifika literarischer Erzähltexte beim nation-building mit der Instanz des impliziten Lesers verbunden? Die folgenden vier Aspekte tragen, so die These dieser Arbeit, dazu bei, dass dem impliziten Leser, der ja ein idealer, im Text angelegter, ‚fiktiver‘ Leser, kein realer Rezipient/reale Rezipientin ist, in der Textstruktur von El matadero (1839), Facundo (1845), Soledad (1847) und Amalia (1855) mithilfe unterschiedlicher Techniken eine klare Rezeptionshaltung nahegelegt wird. Zum einen wird (ev. mit Ausnahme von El matadero (1839)) in allen Texten ein kohärentes Werte- und Normensystem konstruiert, das sich aus dem komplexen Verhältnis zwischen Figurenperspektiven untereinander, deren Grad an scheinbarer Autonomie sowie in ihrem Verhältnis zur Erzählinstanz, die entweder ihre eigene Meinung explizit äußern kann oder explizite und implizite (durch Sympathielenkung, Figurenkonstellation und -charakterisierung, etc.) Bewertungen der Figurenperspektiven vornehmen kann, ergibt. Laut Nünning (1989: 103) kann sich nicht nur zwischen Erzählinstanz und erzählter Welt ein Spannungsverhältnis – oder eben auch ein harmonisches Werte- und Normensystem – ergeben. Aus den wertenden Äußerungen der Erzählinstanz kann auch ein Spannungsverhältnis zwischen Erzählinstanz und Rezipient/in25, was Werte und Normen betrifft, entstehen, das von Zustimmung bis vehementer Ablehnung reicht (Nünning 1989: 103). Und Angelova (2000) erblickt in der „wertende[n] und manipulierende[n] Eindeutigkeit des Standpunktes des Erzählers“ (Angelova 2000: 92) ein Mittel, kollektive Identität zu schaffen, da sie zur Herstellung von „Nähe zwischen dem Massen-Subjekt der Geschichte in der Rolle des Rezipienten und dem politischen Subjekt der Geschichte“ (Angelova 2000: 92) führe. Der implizite Leser wird in den untersuchten Werken aber nicht nur mit einer wertenden Eindeutigkeit der Erzählinstanz, sondern mit einem harmonischen Werte- und Normensystem der gesamten erzählten Welt im Verhältnis zur Erzählinstanz konfrontiert. Ihm wird die Übernahme des gezeichnet Werte- und Normensystem, so wie es im Text angelegt ist, nahegelegt. Dafür spricht auch ein weiterer Aspekt der Textstruktur, der in allen vier genannten Erzähltexten zu finden ist: In allen vier Texten bezieht die Erzählinstanz den impliziten Leser durch direkte Ansprache, manchmal auch in Form eines gemeinsamen ‚Wir‘ in die erzählte Welt ein und legt diesem ihre Deutung nahe. Dies betrachtet auch Nünning (1989) als Effekt der Rezeptionslenkung: Den Rezipient/innen wird dadurch geradezu unterstellt, mit den Werten und Normen der Erzählinstanz übereinzustimmen, wenn der implizite Leser durch die Verwendung der distanzverringernden ersten Person Plural miteinbezogen wird und so eine Verständigung zwischen Erzählinstanz und Rezipient/in über Werte und Normen forciert wird. Die Konfrontation des impliziten Lesers mit einer kohärenten Perspektivenstruktur sowie die Einbeziehung der Instanz in die erzählte Welt können als Teil jener Strategien begriffen werden, die diesen vom politischen Anliegen der Einigung der freiheitssichernden Nation überzeugen und ihn zugleich in diese integrieren sollen. Wie der Vergleich mit Peregrinación de Luz del Día (1874) (der zu25 Der reale Leser/die reale Leserin kann hingegen zwar auf die „Strategie des Erzählers (Autors)“ (Kanzog 1976: 106) eingehen, doch begegnet er/sie dieser mit einer eigenen Strategie.
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dem die Leseransprache in Bezug auf zentrale ideologische Positionen fehlen) zeigt, ist die Konstruktion eines kohärenten Werte- und Normsystems zwar zentraler Bestandteil des politischen Anliegen des Textes, sie erklärt für sich alleine jedoch noch keinen nation-building-Charakter der Texte, gegen den sich der Roman erklärtermaßen sowie inhaltlich stellt. Neben den erwähnten Aspekten der Überzeugung, was Werte und Normen betrifft, sowie der Einbeziehung des implizite Lesers in dieses Wertesystem, lassen die vier Erzähltexte, die ihren politischen Anspruch mit dem Konzept der Nation verbinden, eine ausgeprägte Steuerung der Leseraffekte erkennen: die Leseridentifikation mit den liebenden Freiheits- und Nationshelden in Soledad (1847) und Amalia (1855) sowie die Betroffenheit bei gleichzeitiger Faszination für die freiheits- und nationsvernichtenden Figuren in El matadero (1839) und dem Facundo (1845). Sie zielen also auch auf die Emotionen des impliziten Lesers. Schließlich sind zwar dem impliziten Leser in den analysierten Texten aufgrund der Fiktionalitätssignale deutliche Hinweise auf den Modus des ‚Als-ob‘ gegeben, doch werden ihm Beurteilungskontexte geschaffen, die einen stellenweisen Bezug zur außertextuellen Welt anregen. Das Spiel mit Faktizität hat einen rezeptionslenkenden Effekt, der auf die textexterne Kommunikationsebene zielt und Relevanz des Dargestellten in der literarischen Welt sowie für das Bild der Nation des impliziten Lesers erhebt. Zu diesem Realitätseffekt trägt bei, dass die Erzählinstanzen, die allesamt in der Ich-Form sprechen, dem impliziten Leser in weniger (Soledad 1847) oder stärker (Facundo 1855) ausgeprägter Form suggerieren, dass der Autor spricht, besonders, wenn die noch nicht erfolgte Trennung der narrativen Instanzen in Autor und Erzählinstanz im 19. Jahrhundert bedacht wird. Die außertextuellen Bezüge könnten den Rezipient/innen dadurch Sinnorientierungen auch für die empirische Welt bieten. Die vier genannten Erzähltexte26 weisen in ihrer Textstruktur eine auf unterschiedliche Art und Weise vorgezeichnete Rezeptionshaltung auf, die zusammenfassend sowohl Elemente der Überzeugung (Werte- und Normenwelt), der Einbeziehung in das fiktive Kollektiv und dessen Werte- und Normensystem als auch der Emotionssteuerung auf und suggerieren dem impliziten Leser darüber hinaus eine Möglichkeit der Rezeption des Dargestellten, die stellenweise einen direkten Bezug zur außertextuellen Welt, deren politischen Kontext sowie Werte und Normen herstellt. Dies ist im Vergleich mit den politischen Texten als Spezifikum der Literatur zu betrachten. Darüber hinaus sollte nicht vergessen werden, dass das Vergnügen an der Lektüre im Sinne der pleasure as a mode of power zur Übernahme der ideologischen Dimension des Textes anregt. Diese rezeptionslenkenden Faktoren – das muss abschließend betont werden – sind allesamt im Text präsent und analysierbar. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht lässt sich aufgrund dessen ein Vorschlag formulieren, wie literarische Erzähltexte zum nation-building und der Konstruktion nationaler
26 Der Roman Peregrinación del Luz del Día (1874), der sich erklärtermaßen gegen die Patria stellt, weist keine der genannten Aspekte auf, wenn man vom Aufbau einer kohärenten Perspektivenstruktur absieht, in die der implizite Leser jedoch nicht durch direkte Ansprache versucht wird einzubeziehen.
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Identität bei den Leser/innen beitragen können27. Aufgrund der Textanalyse lassen sich aber keine Schlüsse ziehen, auf welche Weise reale Rezipient/innen den genannten rezeptionslenkenden Mitteln begegnen. Neben der grundsätzlichen Frage, ob sie diese (teilweise) akzeptieren, sich im Modus des ‚Als-ob‘ auf sie einlassen, Bezüge zur eigenen Erfahrungswirklichkeit herstellen oder diesen mit kritischer Distanz begegnen und sie teils oder völlig ablehnen, muss bedacht werden, dass alleine die Art und Weise, wie Literatur rezipiert wird, stets eine Vielfalt an Möglichkeiten aufweist. Die Erforschung des nation-building umfasst viele Disziplinen. Gerade, was rezeptionslenkende Mittel, die im Text angelegt sind betrifft, wäre es aber eine spannende Frage, aus Sicht der Psychologie zu fragen, wie Leser/innen überhaupt die mitunter eindrucksvollen Bilder – etwa des Facundo (1855) – verarbeiten, inwieweit sie diese bewusst oder unbewusst als Informationen abspeichern (etwa in Form von Klischees) oder sogar in ihr eigenes (kollektives) Identitätsverständnis integrieren. Der letzte zu betrachtende Mechanismus – die Naturalisierung –, die aber außerhalb der Reichweite dieser Arbeit liegt, könnte Hinweise dazu liefern, etwa inwieweit das Prinzip der Wiederholung der gezeichneten Bilder der Nation und der mit ihr verbundenen Arten von Subjektivität zu verfestigten Entwürfen eines Kollektivs und seiner gemeinsamen Erinnerung wird. Naturalisierung Wie prägend die politischen Ideen der generación del 37 in der Geschichte Argentiniens wurden, lässt sich daran ablesen, dass Alberdis in den Bases (1852) entwickeltes Modell eines gemäßigten Föderalismus bis heute Bestand hat (Laguado 2007: 299). Nachdem die argentinische Nationalstaatsbildung im Jahre 1880 abgeschlossen war, wurden einige der zentralen Forderungen der generación del 37 erfüllt, die bereits zuvor von deren Mitgliedern politisch vorbereitet wurde: Argentiniens Bevölkerung wuchs von 1 830 214 Einwohnern im Jahre 1869 auf 3 956 000 im Jahre 1895, was vorwiegend auf Einwanderungspolitik zurückzuführen ist. Die Häfen wurden ausgebaut und das Eisenbahnnetz von 2 500 Kilometern auf 34 000 Kilometer ausgebaut. 1895 zählte Argentinien 23 000 Fabriken, wenngleich 80% der Industrie und des Handels in ausländischer Hand waren. Und auch das öffentliche Bildungssystem wurde ausgebaut. (Laguado 2007: 300, 301). Laguado (2007) kommt daher zu dem Schluss: „En rasgos generales el proceso que planificó la generación de los exiliados se había cumplido satisfactoriamente al finalizar la primera década del siglo XX.“ (Laguado 2007: 301). Lassen sich diese Faktoren relativ leicht bestimmen und auf die politische Arbeit der generación del 37 zurückführen, so ist es schwieriger, die Konstruktion einer Vorstellung von Nation und ihrer Zugehörigkeit zu untersuchen und auf bestimmte Nationsentwürfe zu beziehen. Zum letzten im Kreislaufmodell definierten Mechanismus, der Naturalisierung, also der Präsentation jener Elemente, die die Nation prägen als wären sie natürlich gegeben und immer schon vorhanden, können mit einer textzentrierten Methode keine Aussagen getroffen werden, denn Bereich der empirischen Rezeption war nicht Teil der Fragestellung. Nur mithilfe von Rezeptionsstudien und der Einbeziehung zahlreicher anderer Elemente wäre eine Annähe27 Dieser könnte um Untersuchungen aus dem Bereich der empirischen Rezeptionsforschung ergänzt werden.
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rung an die Frage denkbar, welchen Stellenwert die untersuchten politischen und literarischen Texte als Teil der ‚cultural productions‘ innerhalb der offiziellen Erzählung der Nation innehatten und haben. Aus bereits bestehenden Studien wissen wir aber, dass der Facundo (1845) und Amalia (1855) jedenfalls unter den meistgelesenen Büchern des 19. Jahrhunderts in Argentinien waren. Wie in der Einleitung der Arbeit ausgeführt, wurde in der Forschungsliteratur bereits mehrmals die Langlebigkeit der Vorstellungen zur Nation, die von der generación del 37 geprägt wurden, betont. Sie wurden in verschiedenen Epochen in den Kreislauf der Konstruktion nationaler Identität eingebracht. Ein Hinweis dazu ließ sich in den Comentarios de la Constitución (1853a) Sarmientos finden, in denen das parlamentarische Protokoll vom 11. September 1895 abgedruckt ist. Darin ist der Beschluss der Veröffentlichung von Sarmientos Obras completas mit Finanzierung aus öffentlicher Hand und der Verteilung derselben an Schulen und Bibliotheken des Landes nachzulesen. Als Argument findet sich darin, dass Sarmientos Werk als kollektives Erbe für die nachfolgenden Generationen bewahrt werden müsse, dessen Verlust ein Schaden für Zivilisation und Nationalkultur wäre. Aus den Dokumenten geht auch hervor, dass die Veröffentlichung von Alberdis Gesamtwerk von der nationalen Regierung finanziert wurde28. Wie dieses Beispiel sowie die Aufnahme mancher Texte in Geschichtsbücher und schulische Lektüre zeigen, waren auch nach dem Ende der Amtszeit Mitres und Sarmientos durchaus staatliche Akteur/innen der ‚public versions‘ an der Verbreitung deren Nationsentwürfe beteiligt. Hierbei wäre es interessant, ob die literarischen Erzählungen der generación del 37 nur auf Ebene 2, der internen Inszenierung von Freiheit und Nation und/oder, zu späteren Zeitpunkten, auch auf Ebene 1 in den Kreislauf der Konstruk-
28 In der vorliegenden Ausgabe der Comentarios de la Constitución de la Confederación Argentina (1853a) geht dem eigentlichen Text das parlamentarische Protokoll vom 11. September 1895 voraus, an dem die Veröffentlichung von Sarmientos gesammelten Werken mit Finanzierung aus öffentlicher Hand entschieden wurde. Diesem ist laut Art. 2 der Beschluss zu entnehmen, die Obras completas an Schulen und Bibliotheken des Landes auszugeben. Die öffentliche Finanzierung des Druckes wird im parlamentarischen Protokoll damit argumentiert, dass das Werk Sarmientos als kollektives Erbe für die nachfolgenden Generationen bewahrt werden müsse, dessen Verlust ein Schaden für Zivilisation und Nationalkultur wäre. Aus den Dokumenten geht des Weiteren hervor, dass auch die Veröffentlichung von Alberdis Gesamtwerk von der nationalen Regierung finanziert wurde (Antecedentes legislativos 1895: 11, 12). Der mit der Herausgabe der gesammelten Werke Sarmientos betraute Verleger A. Belin Sarmiento begründet die Bedeutung des Werks in seinem Vorwort folgendermaßen: „[…] pero salvo los grandes hombres del Renacimiento, han de ser pocos los que, como Sarmiento, han sido verdaderos precursores y también eficaces cooperadores en la obra de reconstruir una nación, sacándola del caótico estado de barbarie y de anarquía, para imprimirle rumbos de progreso realmente extraordinarios para su posición geográfica y su composición etnográfica [...]“ (Belin Sarmiento 1895: 17); „[...] y son pocos los que habrán tenido, como Sarmiento, esta unidad profunda que consiste en no haber trabajado por otra cosa que el progreso de su patria y en la fundación de un gobierno estable y fuertemente apoyado en la libertad y de no haber tenido nunca otro pensamiento.“ (Belin Sarmiento 1895: 18).
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tion nationaler Identität eingebracht wurden, d.h. als Symbol, dem von außen eine nationale Bedeutung zugeschrieben wird. Wie im Theorieteil der Arbeit ausgeführt, ist die Wiederholung (Assmann J. 2002) ein zentrales Prinzip zur Schaffung nationaler Gemeinschaften und deren gemeinsamer Erinnerung. Stuart Hall (2003) meint, die Nation werde durch wiederholtes Wiedergeben der nationalen Erzählung in Geschichtsbüchern, Literatur, etc. geformt. Ohne einen Abgleich mit anderen kulturellen Elementen leisten zu können, fällt bei der Gegenüberstellung der politischen mit den literarischen Texten auf, dass selbst diese bereits ein komplexes Netz aus gegenseitigen inhaltlichen Verweisen aufweisen, das dem Prinzip der Wiederholung nahekommt. Es handelt sich dabei nicht um ein Set an inhaltlichen Elementen, das in allen oder fast allen Texte vorkäme, sondern um Gemeinsamkeiten zwischen einzelnen literarischen und politischen Texten, Gemeinsamkeiten zwischen literarischen Texten sowie Gemeinsamkeiten (fast) aller Texte. Neben der Wiederholung inhaltlicher Elemente finden sich in den Texten des Korpus’ zahlreiche Verweise auf andere Mitglieder der generación del 37 oder deren Texte, die in den Analysekapiteln ausführlich besprochen wurden und von denen hier nur folgende erwähnt werden sollen: Im Facundo (1845) gilt der Salón Literario als Ausdruck der neuen Generation, deren intelligente Mitglieder in geheimen Treffen Ideen entwickelt hätten, wie der barbarischen Regierung eine zivilisierte Antwort entgegengestellt werden könnte. Diese Elite, die sich auch schriftstellerisch hervorgetan hätte, sei dazu berufen, die neue Nation aufzubauen. Selbst der Schwur auf die palabras simbólicas ist im Facundo (1845) abgedruckt. Der Held in Amalia (1855) ist hocherfreut, als er in einem Café in Montevideo zufällig die großen Persönlichkeiten Alberdi, Echeverría, Gutiérrez und Irigoyen trifft. Mitre (1852) regt schon zu Lebzeiten der Gruppe an, deren Werke ins nationale Erbe einzuschreiben: „Hoy que los hombres y las ideas dispersas de la República Argentina vuelven al seno de la patria, la nación debe reclamar para sí la gloria de sus hijos desterrados, y colocar sus escritos en el largo catálogo de las producciones que honran su naciente literatura, porque esa gloria es una propiedad común.“ (Mitre 1852: 81)
Und der Roman Peregrinación de Luz del Día (1874) ist ohnehin (der Kritik) der liberalen Elite Argentiniens gewidmet, wenn auch in Form von allegorischen Figuren.
F AZIT Die generación del 37 sah vor dem politischen Kontext, vor dem sie schrieb, und entgegen einer immer noch weit verbreiteten Annahme in der Sekundärliteratur einen dritten Weg zwischen Föderalen und Unitariern vor: Eine Synthese aus den Ideen beider Parteien. Dementsprechend plädieren alle Autoren (bis auf Mármol (1854)) für die Errichtung eines föderalen Modells, das den Provinzen eine gewisse Autonomie lässt und dennoch den Aufbau einer gemeinsamen, nationalen Regierung gewährleistet. Unitarische Ideen lassen sich in der Forderung nach einer Verfassung
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(mit der Ausnahme Echeverrías29 (1837, 1846)) und der Sicherung von Freiheitsrechten wiederfinden. Wenn auch nicht als Bundesstaat, so wird eine Synthese föderaler und unitarischer Ideen auch in den Romanen30 inszeniert – ein Aspekt der in der literaturwissenschaftlichen Analyse bislang kaum erwähnt wurde. In der Sekundärliteratur ist bislang betont worden, dass die generación del 37 eine Nation für Argentinien entwarf, die sich auf die Komponenten Handelsliberalisierung, Abbau von Binnenzöllen, freie Flussschifffahrt, Ausbau des Transport- und Kommunikationswesens, Förderung europäischer Immigration, Bevölkerungswachstum sowie Bildung stützt. Diese Elemente fanden sich auch in der Analyse der politischen Texte dieser Arbeit wieder. Doch, so konnte in dieser Arbeit gezeigt werden, können diese Faktoren nicht losgelöst vom Verhältnis zwischen Freiheit und Nation, das in den Texten aufgespannt wird, gedacht werden. In den untersuchten Texten sind sowohl Freiheit als auch Nation dominierende Begriffe und Unterschiede zwischen den Autoren lassen sich maßgeblich auf eben diese zurückführen. Zahlreiche Elemente des beschriebenen Grundkonsenses bezüglich Freiheit und Nation finden sich sowohl in den politischen als auch den literarischen Texten. Der Vergleich der Texte im Kreislaufmodell der Konstruktion nationaler Identität hat ergeben, dass in der Selektion und Bewertung jener Elemente, die als spezifisch für die Nation gedeutet werden, ähnliche Mechanismen in den politischen und literarischen Texten greife. Sie lassen sich mit den Spezifika der Konstruktion gemeinsamer Erinnerung beschreiben, etwa das Vernachlässigen von Gegenentwürfen, die in den ‚ways of life‘ enthalten sind oder die Einbeziehung ‚erfundener‘ Elemente, die aus der Einschätzung der Ausgangslage und der Bewertung der Probleme Argentiniens abgeleitet werden (darunter der Konsens, dass das Fortleben kolonialer Bräuche ein Grund für die fehlende Freiheitsfähigkeit des Volkes sei und das Erbe Spaniens Freiheit und Nation verhindere). Neben der Wiederkehr einzelner ausgewählter und bewerteter Elemente, beziehen sich die Texte in Form expliziter Verweise zudem in hohem Maße aufeinander. Sie lassen den Anspruch, einen Konsens über das Eigene zu schaffen, erkennen, der vom Medium der Vermittlung unabhängig ist. Kollektive Identität beziehe ihre Grundlage häufig aus einer gemeinsamen Erzählung der Vergangenheit, so der Konsens in der Forschungsliteratur, die zur Basis jener Loyalitätsbeziehungen wird, aufgrund derer die Nation für politische Legitimität in Frage kommt. Die für die Ausbildung nationaler Identität so zentralen geteilten Erinnerungen werden u.a. über das Medium der Literatur hergestellt, sind aber auch in den politischen Texten präsent. Literatur ist dann eines der Medien zur Verfestigung und/oder Konstruktion der Vergangenheitsentwürfe einer nationalen Gemeinschaft. Darin erschöpft sich ihr nation-building-Potenzial aber nicht. 29 Auch Echeverría sieht langfristig die Verabschiedung einer Verfassung vor. Zunächst müsse jedoch ein höherer Bildungsgrad im Volk erreicht werden. Er schlägt bis dahin die Gründung einer asociación vor. Mármol (1854) spricht sich nicht deutlich für eine Verfassung aus, nennt diese aber als eine der drei Lösungsmöglichkeiten, die er in seinen Consideraciones políticas vorstellt. 30 In Soledad (1847), die in Bolivien kurz nach Ende der Unabhängigkeitskämpfe angesiedelt ist, ist dieses Thema nicht präsent. Auch Peregrinación del Luz del Día (1874), in der ein hispanoamerikanisches Identitätsmodell favorisiert wird und zudem zu einem Zeitpunkt verfasst wurde, als diese Ideen bereits umgesetzt wurden, kommt das Thema nicht vor.
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Vergleicht man die textinterne Inszenierung, die die Autoren in ihren literarischen Erzähltexten vornehmen, so lassen sich verschiedene Gemeinsamkeiten feststellen, die hinsichtlich ihres nation-building-Potenzials relevant sind. Die Zugehörigkeit zur nationalen Gemeinschaft wird in jenen vier Texten, die die Patria inszenieren (El matadero, Facundo, Soledad, Amalia), vornehmlich über die Konstruktion unterschiedlicher Arten von Subjektivität inszeniert, die nach Gender- und Ethnizitätsaspekten voneinander unterschieden werden können. Die literarischen Erzähltexte inszenieren als Medium der Konstruktion von Freiheit und Nation weniger die Freiheit des Individuums zur Befähigung zu politischer Freiheit als vielmehr unterschiedliche Arten von Subjektivität. Der Fokus der Analyse auf Freiheit und Nation in den literarischen Texten hat entweder eine neue Lesart der Texte eröffnet oder neue Argumente für die Ergebnisse der jüngeren Forschung geliefert: Besonders die literarischen Erzähltexte der Gruppe wurden häufig mithilfe eines Stadt-Land-Antagonismus, der dichotomischen Gegenüberstellung von Zivilisation und Barbarei oder der Darstellung des gaucho als Hindernis für das Zivilisationsprojekt beschrieben. Im Gegensatz dazu konnte gezeigt werden, dass die Darstellung von Land, Barbarei und gaucho in Abhängigkeit davon steht, wie sich diese zum Freiheits- und Nationenprojekt verhalten. Alle vier genannten literarischen Texte zielen auf eine starke emotionale Involviertheit des impliziten Lesers ab, sei es in Form von Identifikation oder Ablehnung bei gleichzeitiger Faszination. Sie alle lassen eine harmonische Werte- und Normenwelt31 erkennen, in die der implizite Leser durch verschiedene Mittel einbezogen wird32. Und sie alle betreiben ein Spiel mit Faktizität, das zwar auf ihren ‚Als-ob‘Charakter verweist, wodurch sie sich dem Vorwurf der Lüge bzw. der Täuschung entziehen können, doch zugleich den Fiktionalitätsvertrag, also das Wissen darum, dass die Geschichte so nie stattgefunden hat, teilweise in Frage stellt, indem sie stellenweise einen Anspruch auf Wahrheit stellen oder diesen zumindest vorgeben. Peregrinación de Luz del Día (1874) teilt mit ihnen nur die kohärente Perspektivenstruktur ohne starke Einbeziehung des impliziten Lesers. Es lässt sich beobachten, dass Peregrinación de Luz del Día (1874) inhaltlich nicht stark von den anderen literarischen Erzähltexten abweicht, was Freiheitsbegriffe betrifft, obwohl sie die praktische Umsetzung der Positionen der liberalen Elite kritisiert. In Ablehnung zu diesen distanziert sich der Roman vom Konzept der Nation, plädiert aber für den Aufbau einer hispanoamerikanischen Identitätsgemeinschaft, die auf Faktoren beruht, die keinen geringeren Homogenitätsanspruch in sich tragen: Gemeinsame Sprache, ‚Rasse‘, Herkunft, Geschichte, Alter, Religion, Regierungssystem, Bürgerrechte und Gesellschaft. In diesem Roman ist aber weder eine Inszenierung von Subjektivität, noch ein Spiel mit Faktizität, eine starke Einbeziehung des impliziten Lesers oder eine ausgeprägte Steuerung von Leseraffekten im Sinne eines Identifikationspotenzials 31 In El matadero (1839) wird diese am Schluss der Erzählung etwas in Frage gestellt. 32 Insofern ist Kanzog (1976) darin zuzustimmen, dass sowohl Verstand als auch Emotion des impliziten Lesers angesprochen werden: „Der in der Rede (wie der Erzählung) enthaltene implizite Hörer (Leser) ist Ausdruck der persuasio, die sowohl eine ‚intellektuelle Überzeugung‘ als auch ‚affektische Zustimmung‘ herzustellen und damit eine Kongruenz der Strategien zu erreichen sucht. [Kursivierung und Anführungszeichen im Original]“ (Kanzog 1976: 106).
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mit bestimmten Figuren oder der Ablehnung derselben durch emotionale Betroffenheit erkennbar33. Das nation-building der untersuchten Texte kommt darüber hinaus nicht ohne inhaltliche Inszenierung der Nation (ob in Form des Plots, der Figurenkonstellation und -charakterisierung, der Raum- und Zeitdarstellung, etc.) aus, die eine Verbindung bzw. Ablehnung partikulärer Figuren mit der kollektiven Zugehörigkeit, die durch den Rahmen der fiktiven Welt und ihrem Werte- und Normensystem inszeniert wird, herstellt. Eben jener Aufbau (Soledad, Amalia) oder die Ablehnung (El matadero, Facundo) einer Verbindung zwischen partikulären Figuren und einem kollektiven Werte- und Normensystem ist es, die in den untersuchten Texten in unterschiedlichen Varianten durchgespielt wird. Dass für die Nationsangehörigen als Leserkollektiv nicht unbedingt deren Insiderwissen relevant ist, kann anhand der fünf untersuchten Texte gezeigt werden: Jener Text, der einen solch exklusiven Leserkreis vorsieht – es handelt sich um Peregrinación de Luz del Día (1874) – ist erklärtermaßen kein nation-building-Roman. Der offen gehaltene Leserkreis in den vier weiteren Erzähltexten erlaubt nicht nur die Definition des Eigenen, sondern auch die langanhaltende Relevanz des Textes für künftige Generationen. Die vergleichende Analyse der Erzähltexte hat gezeigt, dass die Kombination der genannten Faktoren (Aufbau einer kohärenten Perspektivenstruktur mit Illusion der Einbeziehung des Lesers, eindeutige Steuerung von Leseraffekten sowie das Spiel mit Faktizität) spezifisch für das literarische nation-building der generación del 37 ist. Die Inszenierung des politischen Anliegens der Texte steht dabei einerseits der ästhetischen Freiheit der literarischen Texte, die der Konstruktion der Nation untergeordnet ist, entgegen. Andererseits zeigt die Analyse, dass gerade die Priorität, die ihrer ideologischen Dimension zukommt, zum Bruch mit Gattungskonventionen führen kann.
33 Insofern dient der Roman als Gegenfolie. Aufgrund seiner inhaltlichen Abkehr von der Nation bei gleichzeitiger Rückbesinnung auf Freiheit können die identifizierten nationbuilding-Charakteristika und deren Gültigkeit gewissermaßen einer Gegenprobe unterzogen werden. Aus dieser Sicht erscheint es gerechtfertigt, den deutlich später entstandenen Text in das Korpus aufzunehmen, zumal er keiner neuen Ästhetik verpflichtet ist, sondern sich auch formal eher durch eine Rückbesinnung (z.B. auf den aufklärerischen conte philosophique) auszeichnet.
Anhang
ANALYSESCHEMA 1 ( POLITISCHE T EXTE ) A. Welche Arten von Freiheit lassen sich in den jeweiligen Texten identifizieren und welche Spannungen und Widersprüche treten gegebenenfalls zwischen ihnen auf (v.a. im Hinblick auf Dimension 3 und 4)? 1. Freiheit des Staates (Souveränität, Unabhängigkeit) 2. Natürliche vs. bürgerliche Freiheit 3. Freiheit vom Staat 3.1 Die als ‚klassisch liberale‘ Freiheit bezeichnete subjektive negative Freiheit vom Staat, d.h. die Abwehrrechte des Individuums gegen den Staat und andere Individuen. 3.2 Subjektive positive Freiheit vom Staat, d.h. die Berücksichtigung tatsächlich vorhandener Möglichkeiten, Freiheit realisieren zu können (Wahl des Ziels, Freiheit des Willens), wobei individuelle Freiheitsziele im Vordergrund stehen. 3.3 Objektive positive Freiheit vom Staat, d.h. die Berücksichtigung tatsächlich vorhandener Möglichkeiten, Freiheit realisieren zu können (Wahl des Ziels, Freiheit des Willens), wobei gemeinschaftliche Freiheitsziele im Vordergrund stehen. 4. Freiheit im Staat 5. Moralisch-metaphorische Freiheit 6. Ästhetische Freiheit B. Wer ist in den oben genannten Freiheitsbegriffen inkludiert? 1. Wer darf den jeweiligen Freiheitsbegriff für sich in Anspruch nehmen und die damit verbundenen Freiheitsrechte genießen? Wer wird als Rechtssubjekt (status subjectionis; Kirste 2013) anerkannt? 2. Wer ist aus den jeweiligen Freiheitsbegriffen explizit oder implizit ausgeschlossen? Bei einer expliziten Exklusion: Wie wird diese begründet? Welche Identitätskategorien und persönlichen Merkmale dienen als Ausschlusskriterium (etwa: Geschlecht, Alter, Ethnizität, Eigentum, Bildung)? C. Welche Nationskonzepte lassen sich in den jeweiligen Texten finden? 1. Was wird unter ‚Nation‘ verstanden und wodurch charakterisiert sich die argentinische Nation?
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2. Lässt sich demnach eher von einer Staats- oder Kulturnation sprechen? Ist diese im Kontinuum zwischen Staat- und Kulturnation verortbar? Oder ist vielmehr von einem vorpolitischen Nationsbegriff auszugehen? 3. Wer ist als Souverän vorgesehen (Nation, Staat, Staatsvolk, etc.)? D. In welchem Verhältnis stehen die in A. identifizierten Freiheitbegriffe zu Staat und Nation? In welchen Aspekten treten Widersprüche auf? Wie wird gegebenenfalls die Verbindung von Liberalismus und Nation(alismus) argumentiert? 1. Freiheit des Staates und Nation 2. Natürliche vs. bürgerliche Freiheit und Nation 3. Freiheit vom Staat und Nation 4. Freiheit im Staat und Nation 5. Moralisch-metaphorische Freiheit und Nation 6. Ästhetische Freiheit und Nation
ANALYSESCHEMA 2 ( LITERARISCHE E RZÄHLUNGEN ) Aufbauend auf den Erkenntnissen aus dem Theorieteil und den diskutierten Spezifika literarischer Erzählungen im nation-building sowohl aus narratologischer als auch Sicht der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung lassen sich die Analyseaspekte für die literarischen Texte des Korpus’ in zwei Leitfragen gruppieren, um das fiktionale Erzählen als Technik und Medium zur Konstruktion nationaler Identität zu untersuchen. Das Analyseschema nimmt auf jene grundlegenden Mechanismen der Konstruktion von Identität in literarischen Erzählungen (Ebene 2, Kreislauf B) Bezug, die auf innertextueller Ebene anzusiedeln sind1. Die erste der beiden Fragen baut auf den Ergebnissen der Textanalyse des Korpus’ der politischen Texte auf, die mit den literarischen Texten konfrontiert werden: Welches Werte- und Normsystem in Bezug auf Freiheit und Nation wird in den literarischen Erzählungen konstruiert und in welchem Verhältnis stehen die beiden zentralen Begriffe? Hier wird wiederum auf die Dimensionen von Freiheit zunächst einzeln und dann in ihrem Verhältnis zu Staat und Nation, zurückgegriffen (vgl. Analyseschema 1, Fragenkomplexe A und D). Anders als in pragmatischen Texten erfordert es eine Analyse des Inhalts (Freiheit und Nation) in literarischen Erzähltexten, verschiedene narratologische Kategorien in den Blick zu nehmen, wobei die folgenden Aspekte im Zentrum stehen: Plot2, Figuren und Erzählinstanz als Träger (im Fal-
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Aus dem Bereich der Mimesis III entfällt dadurch für diese Arbeit die tatsächliche Rezeption durch reale Leser/innen. Miteinbezogen werden aber, wie in der Folge ersichtlich, rezeptionssteuernde Elemente, die auf den impliziten Leser bezogen sind und daher auf Grundlage des Textes zu analysieren sind. Mit Blick auf die Studien von Sommer (1991) und Unzueta (2003) wird zudem gefragt, ob sich im jeweiligen literarischen Erzähltext ein Liebes- oder Nationalplot ausmachen lässt. Ist ein Liebesplot vorhanden, so ist zu fragen, ob es sich um eine ethnizitätsübergreifende Liebe handelt, ob der Liebesplot mit Fragen der Nation verknüpft wird (Allegorie von Eros
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le der Figuren) und Vermittler von Handlung, Werten und Normen, Figurenkonstellation und -zeichnung3, Raum und zeitliche Verortung von Nation und Freiheit. Neben dem Was geraten dabei bereits zentrale Fragen des Wie der Erzählung in den Blick: Wird Freiheit und Nation maßgeblich über eine Figur(engruppe), die Erzählinstanz, den Raum oder die Zeit inszeniert? In welchem Verhältnis stehen die Figurenkonstellation und -zeichnung zu den Einstellungen der Figuren zu Freiheit und Nation? Die zweite Leitfrage zielt schließlich auf Spezifika des literarischen nationbuilding ab, die im Verhältnis von Autor – Erzählinstanz – Leser begründet liegen, bleibt dabei thematisch aber stets auf Freiheit und Nation bezogen. Konkret wird nach dem Verhältnis von Autor und Erzählinstanz, dem Verhältnis von Erzählinstanz, Figur und implizitem Leser sowie nach der Gattung und den im Text enthaltenen Fiktionalitäts- bzw. Faktualitätssignalen als wichtigen Aspekt für die Rezeption des Textes gefragt. Denn die formulierten Fragen werden stets im Hinblick auf die Rezeptionslenkung und vor der Frage, welche innertextuellen Strukturen die Konstruktion nationaler Identität aufgrund des im Text gezeichneten Bildes von Freiheit und Nation beim impliziten Leser fördern könnten, gestellt. Zum Verhältnis zwischen Autor und Erzählinstanz 1. Gibt es Hinweise auf Namen, Biographie, Geschlecht, Alter, sozialen Status, Beruf, Familienstand und Nationszugehörigkeit der Erzählinstanz oder bleibt sie anonym und tritt sie nicht als Individuum in Erscheinung? 2. In welchem Verhältnis stehen die Informationen über die Erzählinstanz mit dem Autor der fiktionalen Erzählung? Werden Parallelen hergestellt? Tritt die Erzählinstanz als Ich auf? Zum Verhältnis zwischen Erzählinstanz, Figuren und implizitem Leser 1. Welche Wissensverteilung besteht zwischen den narrativen Instanzen (Fokalisierung)? Verfügt die Erzählinstanz über mehr Wissen als die Figuren? Verfügt der implizite Leser über mehr Wissen als die Figuren? In welchem Verhältnis steht die Erzählinstanz zur erzählten Welt?
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und Polis) und ob die Liebesheirat als innere Freiheit des liberalen Subjekts (Dillon 2004) erscheint. Folgende Fragen sind diesbezüglich relevant: In Bezug auf die nationale Gemeinschaft und Freiheit: Wer ist (aktives/passives) Mitglied der (neuen) Nation? Wer Träger von Freiheit (aktiver Bürger mit Rechten und Pflichten)? Wie verhalten sich diese beiden Kollektive zueinander? Wer treibt die Nationenbildung voran? Wird die Gruppe der Staatsbürger/innen mit jener der (kulturell definierten) Nationsangehörigen verbunden und wenn ja, wie? Zur Konstruktion von Subjektivität: Welche Art von Subjektivität wird dargestellt? Wer ist Träger welcher Subjektivität? Wer ist ausgeschlossen? Warum? Wie müsste er sein, um diese zu erlangen (Geschlecht, Alter, sozioökonomischer Hintergrund, Ethnizität, politische Haltung, …)? Wie komplex sind die Figuren gezeichnet? Ist die Möglichkeit der Entwicklung einer Figur gegeben? Welche Figuren erweisen sich als ‚lernfähig‘ in Bezug auf die nationalen Freiheitsideale?
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1.1 Wenn die Erzählinstanz über mehr Wissen als die Figuren verfügt: Erhält der implizite Leser Zugang zur Gedanken- und Gefühlswelt der Figuren und deren Wert- und Normvorstellungen (auch im Hinblick auf das Kollektiv)? Und wenn ja, zu welchen, zu welchen nicht? Besteht hierbei ein Informationsgefälle? Ist aus Sicht des impliziten Lesers davon auszugehen, dass die Figuren mit weiteren (anonymen) Nationsmitgliedern verbunden sind? Kann von einem ‚allwissenden‘ Leser nach Anderson (2005) gesprochen werden? 1.2 Wenn die Erzählinstanz über das Wissen einer der Figuren verfügt: Erhält der implizite Leser Zugang zur Gedanken- und Gefühlswelt der Figur und deren Wert- und Normvorstellungen (auch im Hinblick auf das Kollektiv)? Wie positioniert sich die Figur im Hinblick auf die nationale Gemeinschaft und deren Werte und Normen? Ist aus Sicht des impliziten Lesers davon auszugehen, dass die Figur mit weiteren (anonymen) Nationsmitgliedern verbunden ist? 1.3 Welches Wissen wird beim impliziten Leser vorausgesetzt (Ortsnamen, historische Ereignisse, etc.)? Kann aufgrund der Informationsvergabe auf die im Text angelegte Nationsangehörigkeit des impliziten Lesers und das ihm unterstellte Werte- und Normensystem geschlossen werden (Freiheit und Nation)? 2. Welche Redesituationen lassen sich im Text ausmachen? 2.1 Von welcher narrativen Instanz (Erzählinstanz oder Figur(en)) geht die Informationsvergabe bezüglich Freiheit und Nation maßgeblich aus? Wie lässt sich das Verhältnis zwischen Erzähler- und Figurenrede beschreiben? 2.2 Kommen viele unterschiedliche Figuren selbst zu Wort4? Formulieren die Figuren ihre Vorstellungen von Freiheit und Nation scheinbar selbst (zitierte Figurenrede)? 2.3 Erlauben sie dem impliziten Leser Einblick in ihre Gefühls- und Gedankenwelt (innerer Monolog)? Inwiefern ist die Erzählinstanz an der Vermittlung der Gefühls- und Gedankenwelt beteiligt (nicht-autonome Rede, erlebte Rede)? Erfährt der implizite Leser durch den Bewusstseinsbericht der Erzählinstanz mehr als die Figur selbst über sich weiß? Welche anderen Mittel weist der Text gegebenenfalls auf, um dem impliziten Leser Zugang zum Bewusstsein und zur Subjektivität der Figuren und der Erzählinstanz zu verschaffen? 2.4 Wird der fiktive Leser direkt angesprochen? Welche narrative Instanz spricht ihn an? Wird er als Teil der Nation angesprochen (‚wir‘) oder als Individuum (‚du‘)? Wird er als Fremder, als Gast, etc. d.h. als Außenstehender angesprochen oder als (anonymer) Teil der (Werte-)Gemeinschaft? War er immer schon Teil der Gemeinschaft, ist er Teil der Gemeinschaft oder soll er Teil der Gemeinschaft werden? 3. Welche Bewertungen (evaluativen Kommentare) und Positionierungen gehen von der Erzählinstanz aus und in welchem Verhältnis stehen sie zu den Figuren? 3.1 Wie positioniert sich die Erzählinstanz zu Freiheit und Nation (neutral in Form rein explikativer Kommentare oder wertend in Form evaluativer Kommentare)?
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Laut Culler (2007) stellt sich dann ein ähnlicher Effekt ein wie bei Andersons (2005) ‚allwissenden Leser‘: Wahrnehmung und Wissen des impliziten Lesers gehen über die mögliche Wahrnehmung eines Individuums hinaus und können so zur Vorstellung der Verbundenheit einander unbekannter Figuren beitragen.
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Was erfährt der implizite Leser gegebenenfalls über ihre Weltsicht und Einstellungen zu Freiheit und Nation? 3.2 Liefern die Figuren dem impliziten Leser selbst eine Bewertung des Geschehens und der Figuren in Bezug auf Freiheit und Nation? In welcher Form erfolgt dies (Fokalisierung, Redewiedergabe)? 3.3 Ruft die Erzählinstanz dazu auf, Mitgefühl oder Missgunst für eine Figur zu entwickeln? In welchem Verhältnis stehen die Meinungen der Figuren bezüglich Freiheit und Nation zur Figurenkonstellation und Sympathielenkung? Bezieht die Erzählinstanz zur Meinung der Figuren explizit Stellung in Form evaluativer Kommentare? Und wenn ja: In welchem Verhältnis stehen die Meinung der Erzählinstanz zu Freiheit und Nation mit jener der Figuren? Zur Gattungsebene Lassen sich in den literarischen Texten Fiktionalitätssignale5 identifizieren? Lassen diese auf eine bewusste Differenzierung zwischen Fakt und Fiktion schließen? Kommen Verschleierungsmechanismen zwischen Fakt und Fiktion zum Einsatz? Erscheint so Faktizität als literarische Strategie? Auf Basis des Analyseschemas kann zudem zu den diskutierten Aspekten der Sekundärliteratur zum literarischen nation-building Stellung genommen werden: ‚allwissender‘ Leser, der implizite Leser als Nationsangehöriger (aufgrund der Informationsvergabe), Sympathielenkung6, Identifikationsstrategien7 in Verbindung mit dem Plot sowie die Frage danach, ob das nation-building über die in der Sekundärliteratur als bevorzugte Gattungen der Konstruktion nationaler Identität – Roman und Biographie – erfolgt.
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Darunter z.B. die diskutierten Arten der Fokalisierung, allegorische Figuren, IncipitFormeln, Textschlüsse, Untertitel, bestimmte Formen der Figurenrede, Selbstreflexion des fiktionalen Status’ im Werk, etc. Relevante Faktoren für die Sympathielenkung sind u.a. die Informationsverteilung, Figurencharakterisierung und -konstellation, Fokalisierung und Innenweltdarstellung, Bewertungen durch die Erzählinstanz (z.B. Werben um Mitgefühl) oder Kontrast- und Korrespondenzrelationen zwischen den Figuren. Für die Identifikation wurde als maßgebliches Kriterium (neben der Figurencharakterisierung und -konstellation) der Einblick in die Gefühlswelt der Figur genannt.
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Phänomen Hörbuch Interdisziplinäre Perspektiven und medialer Wandel 2016, 228 S., kart., Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3438-9 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3438-3
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Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht Narrative von Männlichkeit und Gewalt 2016, 318 S., kart. 34,99 E (DE), 978-3-8376-3266-8 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3266-2
Stefan Hajduk
Poetologie der Stimmung Ein ästhetisches Phänomen der frühen Goethezeit 2016, 516 S., kart. 44,99 E (DE), 978-3-8376-3433-4 E-Book PDF: 44,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3433-8
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Literaturwissenschaft Carsten Gansel, Werner Nell (Hg.)
Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 2015, 406 S., kart. 39,99 E (DE), 978-3-8376-3078-7 E-Book PDF: 39,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3078-1
Tanja Pröbstl
Zerstörte Sprache — gebrochenes Schweigen Über die (Un-)Möglichkeit, von Folter zu erzählen 2015, 300 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3179-1 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3179-5
Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7. Jahrgang, 2016, Heft 2: Transiträume 2016, 220 S., kart. 12,80 E (DE), 978-3-8376-3567-6 E-Book PDF: 12,80 E (DE), ISBN 978-3-8394-3567-0
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