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German Pages 367 [368] Year 2010
Denis Mäder
Fortschritt
Denis Mäder
Fortschritt
Akademie Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Berliner Vereins zur Förderung der MEGA-Edition e.V
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar D188
ISBN 978-3-05-004916-8 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2010 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Ingo Scheffler, Berlin Satz: Veit Friemert, Berlin Druck: MB Medienhaus Berlin Bindung: BuchConcept, Calbe Printed in the Federal Republic of Germany
Inhaltsverzeichnis
I.
II.
Einleitung 1. Der Forschungsgegenstand mit seinen wesentlichen Merkmalen 2. Die zentralen Problembereiche a. Probleme mit der Periodisierung der Entstehung des Marxschen Fortschrittsbegriffs b. Die Teleologieproblematik und der Heilslehrenvorwurf c. Die Gegensatzproblematik und die Ambivalenztheorie des Fortschritts d. Zurückweisung des Paradigmas des Historischen Materialismus . . . 3. Die Ziele dieser Untersuchung
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Was ist Fortschritt? 1. Allgemeine Begriffsbestimmung a. Analyse des Begriffs Fortschritts b. Kategoriale Einordnung des Fortschritts 2. Der moderne Fortschrittsbegriff a. Das progressive Weltbild b. Der Fortschrittsgedanke im 19. Jahrhundert c. Das traditionelle Konfliktmodell des Fortschritts d. Die eingebildete und die wirkliche Krise des Fortschritts e. Die Sphären des Fortschritts 3. Abschließende Bemerkungen
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III. Heilslehrenvorwurf und Ambivalenztheorie: Hauptformen zeitgenössischer Fortschrittskritik 1. Die Hauptformen der Fortschrittskritik a. Absolute und relative Fortschrittskritik b. Heilslehrenvorwurf und Ambivalenztheorie: Unterschiede und Gemeinsamkeiten
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INHALTSVERZEICHNIS
2. Der Heilslehrenvorwurf als Löwithsche Formel a. Die Säkularisierungsthese b. Die Löwithsche Formel in Reinform: Weltgeschichte und Heilsgeschehen c. Die Aktualität der Auseinandersetzung mit der Löwithschen Formel 3. Die Ambivalenztheorie des Fortschritts a. Die Preisfrage als Kritik der Mittel des Fortschritts b. Fortschritt als Verkehrung der Idee: Die Dialektik der Aufklärung . . 4. Karl Marx und der ambivalente Fortschritt a. Der ambivalente Gebrauch von Fortschritt im traditionellen Konfliktmodell b. Marx' ambivalenter Gebrauch von Fortschritt 5. Die zeitgenössische Fortschrittskritik ist ein Tendenzpessimismus . . . . a. Historische Genese und Auswirkungen des Tendenzpessimismus . . b. Tendenzpessimistisches Naturverständnis versus Marxsches Fortschrittsverständnis 6. Abschließende Bemerkungen
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IV. Die Entstehung des originellen Marxschen Fortschrittsbegriffs 123 1. Der theoretische Hintergrund 123 a. Geschichte, Gegensatz, Fortschritt 123 b. Marx' Kritik der Hegelianischen Spekulation 128 2. Das Konfliktmodell des Fortschritts bei den Junghegelianern Cieszkowski und Heß 133 a. August von Cieszkowskis Historisierung der Dialektik 133 b. Das Konfliktmodell des Fortschritts bei Moses Heß 140 3. Junghegelianisch geprägtes Fortschrittsdenken bei Marx: die Pariser Manuskripte (1844) 145 a. Teleologie - der Kommunismus als Geschichtsziel, das keines sein soll 146 b. Marx' Rezeption der Phänomenologie des Geistes: Historisierung der Dialektik 149 c. Das Konfliktmodell des Fortschritts und geschichtsphilosophische Aporie beim jungen Marx 156 4. Marx' Absage an das traditionelle Konfliktmodell: Das Elend der Philosophie ( 1847) 159 a. Der Bruch mit Proudhon und seine Bedeutung 160 b. Die Kritik an Proudhons Konfliktmodell des Fortschritts 163 c. Gegensatz und Dialektik bei Proudhon 169 5. Die Überwindung des traditionellen Konfliktmodells 178 a. Die Entwicklung des Marxschen Fortschrittsdenkens bis 1847 . . . . 178 b. Fortschritt und Geschichtsentwicklung im Spätwerk 182 6. Abschließende Bemerkungen 190
INHALTSVERZEICHNIS
V.
Die formale Dimension: Der Marxsche Fortschrittsbegriff als Bewegungsbegriff 1. Fortschritt als Bewegungsbegriff 2. Übersicht über die Gegensatzproblematik a. Gegensatz und Widerspruch bei Kant und Hegel b. Gegensätze bezeichnen Verhältnisse 3. Die Gegensatzproblematik bei Marx a. Die Marxsche Typologie der Gegensätze b. Die zwei grundlegenden Gegensatzbegriffe in Marx' Sprachgebrauch c. Zur Semantik des Gegensatzes: »Aufhebung' und .Moment' bei Marx 4. Der eigentümliche Gegensatzcharakter des Fortschritts-im-Gegensatz . . a. Die konträre Bewegungsform des Fortschritts-im-Gegensatz b. Das Fortschritt-Rückschritt-Verhältnis c. Die ,Dialektisierung' des Fortschritts in der zeitgenössischen Ambivalenztheorie 5. Der Fortschritt-im-Gegensatz als Ergebnis der Spekulationskritik . . . . a. Die Bedeutung der Kritik des .abstrakten' Fortschritts b. Arbeit als Ausgangspunkt der Geschichte - Geschichte als Ausgangspunkt des Fortschritts 6. Der Zusammenhang von Dialektik und Fortschrittsdenken a. Die Ontologie der Gegensätze b. Probleme mit der dialektischen Geschichtsentwicklung 7. Abschließende Bemerkungen
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193 193 196 196 198 200 200 203 205 212 213 217 220 227 228 231 235 235 240 247
VI. Die ethische Dimension: Der Marxsche Fortschrittsbegriff als Wertbegriff . 251 1. Der Wertbegriff Fortschritt im Rückblick auf den Heilslehrenvorwurf . . 251 2. Grundzüge der Marxschen Ethik 255 a. Marx und die Moral 256 b. Ein Widerspruch und der Versuch, ihn aufzulösen 261 3. Die zwei Seiten der doppelten Ethik 267 a. Die deskriptive Seite: Moral als Ideologie 267 b. Die präskriptive Seite: Selbstbetätigung in der moralisierenden Marxschen Kritik 272 4. Moralische Werte und ideale Zwecksetzung 282 a. Zwei Auffassungen vom moralisch Wertvollen 282 b. Fortschrittsdenken und Teleologie: die ideale Zwecksetzung 284 5. Die Relevanz der Marxschen Ethik für den Fortschrittsbegriff 291 a. Die zwei Seiten der doppelten Ethik im Vergleich 292 b. Das Interesse als Prinzip der Marxschen Ethik 295 VII. Schluss 1. Rückblick: Die zentralen Themen- und Problembereiche a. Die Zielsetzung und die Methode dieser Arbeit b. Die Bedeutung des modernen Fortschrittsgedankens
301 302 302 304
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INHALTSVERZEICHNIS
c. Die philosophische Rezeption des modernen Fortschrittsgedankens . 304 d. Die Entstehung des Marxschen Fortschrittsbegriffs 307 e. Die formale Dimension des Marxschen Fortschrittsbegriffs 312 f. Die ethische Dimension des Marxschen Fortschrittsbegriffs 313 2. Resultate: Die Bedeutung der extremen Konzeption von Fortschritt . . . 316 a. Der extreme Fortschritt ist kein Kollektivsingular 316 b. Fortschritt als retrospektive Urteilskategorie 319 c. Fortschritt als sphärisches Phänomen 324 d. Der sphärische Fortschritt und die Logik der Verbesserung 337 3. Ausblick 340 Appendix: Das Elend der Philosophie im französischen Original
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Literaturverzeichnis a. Primärliteratur b. Sekundärliteratur
349 349 352
Personenregister
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I
Einleitung
1.
Der Forschungsgegenstand mit seinen wesentlichen Merkmalen
Wie denkt Marx die historische Bewegung des Guten? Die vorliegende Untersuchung behauptet einen originellen Marxschen Fortschrittsbegriff, der eine eindeutige Bedeutung hat: Verbesserung. Dieser Begriff ist in der Marxschen Theorie aber nur implizit enthalten. Man muss ihn also rekonstruieren, um ihn sichtbar zu machen. Er ist außerdem in einen vielseitigen Sprachgebrauch eingebunden. Ich denke dabei weniger an die weite Verbreitung des nicht normativ wertenden Fortschrittsbegriffs im Marxschen Werk (der für mein Vorhaben relativ uninteressant ist), sondern vielmehr an den Umstand, dass Marx den Fortschritt auch nach der Herausbildung einer neuartigen Konzeption der Geschichtsentwicklung und des Fortschritts stellenweise als negativ besetzten oder gar ambivalenten Terminus verwendet. Die Untersuchung eines bestimmten Fortschrittsbegriffs kann nicht in Isolation von der weiteren Diskussion des modernen Fortschrittsgedankens durchgeführt werden. Die Auseinandersetzung mit dem Fortschritt ist bekanntlich seit geraumer Zeit mehrheitlich eine kritische. Die beiden Hauptformen der zeitgenössischen Fortschrittskritik bezeichne ich als Heilslehrenvorwurf bzw. Ambivalenztheorie. Es ist ein zentrales Anliegen dieser Arbeit, Marx gegen diese Denkmuster abzugrenzen und vor ihnen in Schutz zu nehmen. Die Entstehung eines originellen Marxschen Fortschrittsbegriffs wird im Folgenden vor dem Hintergrund zweier gegensätzlicher Vorstellungen von Fortschritt dargestellt: Das intellektuelle Milieu, in dem Marx sich bewegt, versucht den gegensätzlichen Charakter der Bewegungsform des Geschichtsprozesses zu erfassen. Zu diesem Zweck bedient es sich eines theoretischen Konfliktmodells der Geschichtsentwicklung und des Fortschritts. Marx wendet sich bereits Mitte der 1840er Jahre gegen dieses Konfliktmodell, da es auf einem teleologischen Geschichtsdenken basiert, das dazu tendiert, den Fortschritt als das universale Prinzip der Geschichtsentwicklung vorauszusetzen. Dieses
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EINLEITUNG
Denken identifiziert also die Kategorien Fortschritt und Geschichte - die Geschichte ist ein Fortschritt, der sich im Gegensatz bewegt: Fortschritt-als-Gegensatz. Es folgt, dass Fortschritt zwangsläufig ein ambivalentes Phänomen ist. Damit sind wir bei der zentralen These dieser Arbeit: Im Gegensatz zum Fortschrittals-Gegensatz entwickelt Marx den Begriff Fortschritt-im-Gegensatz, der auf dem Boden eines neuartigen Konfliktmodells der Entwicklung steht. Dabei arbeitet er mit einer auf dem Prinzip der Eingrenzung der Vermittlung gegründeten Gegensatzkonzeption, zu der schon die Auseinandersetzung mit Hegels Rechtsphilosophie im Jahr 1843 einen großen Beitrag leistet. Fortschritt wird theoretisch als ein in die Geschichtsentwicklung eingeschriebenes Extrem konzipiert, das vor allem als sphärisches oder sektorales Phänomen auftritt: „Daher entgegengesetzte Bewegung in diesen verschiednen Sphären, Fortschritt hier, Rückschritt dort." (Kapital, MEGA 11/15, 256/MEW 25, 270) Die Extreme Fortschritt und Rückschritt sind gleichberechtigt, ohne dass das eine das andere in sich aufnehmen oder ausmerzen kann. In diesem Punkt unterscheidet Marx sich von der Hauptstoßrichtung der Geschichtsphilosophie im 19. Jahrhundert, die mit ihrer verabsolutierenden und noch teleologisch behafteten Fortschrittsauffassung das Verhältnis von Fortschritt und Rückschritt zugunsten nur der einen Seite dieses Verhältnisses vernachlässigt. Marx hat eine alternative Auffassung vom historischen Fortschritt. Fortschritt bildet für ihn die Möglichkeit positiver Entwicklung, ohne andersartige oder gegenläufige Entwicklungsformen (namentlich Regression und Stillstand) darin aufzuheben. Formuliert wird diese These insbesondere in den mittleren Kapiteln vier und fünf. Dort zeige ich, wie eine besondere Konzeption von Gegensätzlichkeit es Marx ermöglicht, den Fortschritt als Kategorie des Guten mit dem Sinngehalt der Verbesserung zu bewahren, ohne gleichzeitig den Geschichtsprozess unter diese eine Kategorie zu subsumieren. Ein Universalbegriff ist Fortschritt bei Marx hinsichtlich dieses inhaltlichen Aspektes seiner Bedeutung. Kurz: der originelle und implizite Marxsche Begriff von Fortschritt ist eine Idealobjektivation. Daher stellt die Marxsche Theorie die denkerischen Mittel bereit, die eine Überwindung der zwei grundlegenden Axiome des modernen Fortschrittsdenkens möglich machen: 1.) Der besondere Universalismus, der den Fortschritt in seiner räumlichen Wirkungsmacht zu einem die Spezies Mensch umfassenden Kollektivsingular verabsolutiert. 2.) Die Teleologie und das damit einhergehende versöhnliche Element des Denkens, das sich in letzter Instanz - und trotz aller aufrichtiger Bemühungen um eine wirklich gegensätzliche Geschichtsauffassung in diesem Kollektivsingular doch immer wieder durchsetzt. Die Begründung dieser These orientiert sich an zwei bestimmenden methodischen Grundsätzen: Der erste methodische Grundsatz betrifft die Notwendigkeit der Rekonstruktion, da wir es mit einem impliziten Begriff zu tun haben. Der zweite methodische Grundsatz betrifft die Unterscheidung zwischen der formalen und der ethischen genauer: axiologischen1 - Dimension im Fortschrittsbegriff selbst: Fortschritt ist 1
Der Ausdruck ,axiologisch' scheint mir gut auf den Wertbegriff Fortschritt zu passen. Ich folge hier Von Wrights Unterscheidung zwischen drei verschiedenen Gruppen von ethischen Konzepten: Anthropologische Konzepte betreffen Vorstellungen von menschlichen Bedürfnissen; deontologi-
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immer zugleich ein Form- oder Bewegungsbegriff und ein Wertbegriff. Eine Studie zu einem speziellen Fortschrittsbegriff sollte zumindest versuchen, diese beiden Seiten oder Dimensionen gleichberechtigt zu behandeln. In der gegenwärtigen Literatur zum Fortschritt ist das selten der Fall, und die bisherige Rezeption des Marxschen Fortschrittsdenkens ist nicht zuletzt deshalb bei den Prämissen (oder sogar Vorurteilen) der Ambivalenztheorie und des Heilslehrenvorwurfs stehen geblieben, weil sie diese Unterscheidung nicht zu machen pflegt. Der originelle Marxsche Fortschrittsbegriff ist das Resultat einer scharfen Kritik an einem bestehenden Fortschrittsdenken, nämlich an philosophischen Entwürfen, die auf dem traditionellen Konfliktmodell der Geschichtsentwicklung basieren. Marx selbst wird durch dieses Denken geprägt und er reproduziert es eine Zeit lang in seinen Schriften. Wenn der Marxsche Fortschrittsbegriff indessen nicht einfach als Ausgeburt einer überschwänglichen Erwartungshaltung an die Geschichte abgetan werden soll, dann muss er im Kontext der Entwicklung der Marxschen Theorie verstanden werden. Für die Struktur dieser Untersuchung bedeutet das, dass die Darstellung von Marx' (selbst)kritischer Auseinandersetzung mit dem vorherrschenden Fortschrittsdenken seiner Zeit der Darstellung des daraus hervorgehenden Fortschrittsbegriffs vorausgehen wird. Auf diese Weise wird die Originalität dieses Eingriffs in einen bestehenden Fortschrittsdiskurs in ihrem Entwicklungscharakter hervorgehoben. Der originelle Marxsche Fortschrittsbegriff ist allerdings ein impliziter Begriff. Es ist eine Besonderheit der Marxschen Theorie, dass sie keinen Begriff von Fortschritt hat, der in einer klaren und fertig ausformulierten Form vorliegt. 2 Natürlich kommt Marx wiederholt auf die Fortschrittsthematik zu sprechen (er tut dies beispielsweise in Die heilige Familie und in Das Elend der Philosophie). Er erhält sich trotz seiner Kritik am zeitgenössischen Geschichtsoptimismus eine unbeschädigte, positive Vorstellung von Fortschritt. Doch seine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie lässt nicht die Absicht erkennen, eine systematische Theorie des Fortschritts aufzustellen oder den gesellschaftlichen Fortschritt (wie beispielsweise Condorcet , Hegel , Comte oder Spencer) gewissermaßen als Gesetz der menschlichen Entwicklung nachzuweisen. Seine verstreuten Stellungnahmen zu historischen oder gesellschaftlichen Verbesserungen bilden keinen expliziten Begriff von Fortschritt.
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sehe oder normative Konzepte betreffen Fragen nach Rechten und Pflichten, nach Befehl und Erlaubnis; axiologische oder Wert-Konzepte schließlich beinhalten Vorstellungen von gut und böse, und ganz speziell „notions of betterment" (1971, 7). „A conception of progress clearly underlies Marx's theory of history though it is nowhere fully expressed." (Bottomore 1983, 398) .„Fortschritt' an sich als separates philosophisches Thema wird man bei Marx vergeblich suchen; es kommt vielmehr stets in konkreten Zusammenhängen einer Problemsituation vor." (Kiittler 1999, 327) „Marx often wrote about progress in the context of man's struggle with the forces of nature. He also addressed a wide range of topics wherein progress was a key element. But he never addressed the subject of progress explicitly. However, an examination of his studies and activities for a period of more than forty years, leads inescapably to the conclusion that his scattered references to progress constitute an implicit concept of progress." (Roberto 2001, if., vgl. Abstract)
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EINLEITUNG
Was die Textgrundlage anbelangt, so darf sich das Rekonstruktionsvorhaben nicht voreilig eine bestimmte Schaffensperiode herausgreifen. Ich stütze mich jedoch schwerpunktmäßig auf die Mitte der 1840er Jahre, genauer: auf den Zeitraum von 1843 bis 1847. Darin eingeschlossen ist die Hegel-Kritik im Kreuznacher Manuskript (1843), die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte aus dem Pariser Exil (1844), die in Zusammenarbeit mit Engels verfasste Heilige Familie (1844), die Textfragmente und Manuskripte zu Die Deutsche Ideologie (1845/46) sowie vor allen Dingen die ProudhonKritik in Das Elend der Philosophie (1847). Für die Analyse der formalen Seite des Begriffs Fortschritt sind dann auch das Kapital und die Vorarbeiten dazu von besonderer Bedeutung. Eine zweite Gruppe von Texten besteht aus Briefen, Manuskripten oder Teilarbeiten, die seit den 1850er Jahren entstehen. In diesen Schriften analysiert Marx bestimmte historische Verhältnisse und Gesellschaftsformen (die asiatische Produktionsweise oder die russische Landwirtschaft), stellt Überlegungen zu zeitgenössischen Philosophien an (beispielsweise der Comtes) oder reagiert auf die allmählich einsetzende Rezeption seiner Kritik der politischen Ökonomie. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang auch Marx' weniger beachtete Beschäftigung mit frühgeschichtlichen und ethnologischen Themen in den 1870er und '80er Jahren. Auf diese späten Texte muss schon deshalb eingegangen werden, damit kein allzu großes Ungleichgewicht zugunsten der Schriften aus den 1840er Jahren und dem Kapital entsteht. Sie verdeutlichen, wie Marx zur Mannigfaltigkeit konkreter Entwicklungsmöglichkeiten steht. Im Zusammenhang mit der rekonstruktiven Methode scheint mir eine Bemerkung zum Terminus ,Marxsche Theorie' angebracht, der jetzt schon einig Male benutzt wurde. Helmut Fleischer beispielsweise will diese Bezeichnung überhaupt nicht gefallen. Damit werde eine „Gedankenkonsequenz und Theorie-Einheit" (1993, 195) vorgegaukelt, die bei Marx nicht gegeben sei. Die Annahme der Existenz einer ,Marxschen Theorie' sei nämlich zunächst „eine Überlebensstrategie für einen ideellen GesamtMarx" (ebd., 287) angesichts des Umstands, dass man sich heutzutage fragen müsse, wie Marx den Marxismus überleben wird. Außerdem könne die Rekonstruktion der ,Marxschen Theorie' „nur von fremder Hand erfolgen". (Ebd., 195)3 Die folgende Schilderung der einzelnen Problembereiche wird zeigen, dass ich keineswegs von einem ,Gesamt-Marx' ausgehe, wenn damit ein starres Gerüst von Ideen gemeint sein soll. Schließlich stelle ich den originellen Marxschen Fortschrittsbegriff ausdrücklich als das Resultat einer theoretischen Entwicklung dar. Und natürlich steckt es schon im Begriff der Rekonstruktion, dass sie von ,fremder Hand' erfolgt. Darum verwende ich
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Für Fleischer ist die Rede von der Marxschen Theorie Ausdruck eines rein akademischen .Spätmarxismus'. Im Gegensatz zu der von ihm geforderten Historisierung sei dieser „Rückzug auf den .Theorietyp Marx'" eine „Reservestellung", so als seien die realen Sozialismen „ein Experiment zur Ersterprobung eines Modells gewesen". (1993, 288) Er selbst gehe einen „historischhermeneutischen Weg" (ebd., 195). In diesem Punkt erhält das Argument eine gewisse Triftigkeit. Aber weshalb sollte die Rekonstruktion der Marxschen Theorie nicht mit dem historischhermeneutischen Weg vereinbar sein?
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im Folgenden die Bezeichnung ,Marasche Theorie' ganz ohne Vorbehalte als Überbegriff für den Gegenstand meiner Untersuchung. Aber wofür steht die Marasche Theorie? Damit ist weder eine reine Philosophie, noch eine reine Wissenschaft gemeint, sondern ein Denken, das philosophische und wissenschaftliche Elemente vereint. Es ist ja behauptet worden, es gebe keine spezifisch Marasche Philosophie, zumal sich Marx' Theorie bisweilen sogar als Alternative zur Philosophie präsentiert (vgl. Balibar 1995, 2ff.). Eine gewisse philosophische Relevanz braucht diesem Denken deshalb nicht abgesprochen werden. Das, was man also den philosophischen Anteil an den Schriften von Karl Marx nennen könnte, erscheint auf den ersten Blick wie eine schräge Positionierung vis-à-vis dem Hegelianismus. Sie erweckt, wie Arndt formuliert, den „paradoxen Eindruck eines hegelkritischen Hegelianismus oder hegelianisierenden Antihegelianismus" (2001b, 1244). Marx bezieht philosophisch Stellung jenseits der linken Hegelschule, deren spekulative' Methode er komplett ablehnt, und jenseits der Philosophien Hegels und Feuerbachs, die er jedoch produktiv verwerten will. Er bewegt sich jedoch nicht nur auf dem Terrain der deutschen Philosophie. Seine Theorien werfen auch ganz allgemeine philosophische Fragen nach der Begründung der Moral, der Konzeption des Gegensatzes, dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur, der Teleologieproblematik, Methodenproblemen und dem Nutzen der Erkenntnis auf. Alle diese Themen werden im Verlauf der Arbeit im Blick auf ihre Bedeutung für den Fortschrittsbegriff angesprochen werden. Das Rekonstruktionsvorhaben hat auch eine analytische Dimension. Hier ist der bestimmende methodische Grundsatz die getrennte Betrachtung der ethischen und der formalen Seite des Marxschen Fortschrittsbegriffs. Fortschritt ist immer sowohl ein axiologischer Begriff, in dem sich bestimmte Vorstellungen vom moralisch Guten ausdrücken, als auch ein formaler Begriff, der den Charakter der Bewegung auf diese als Entwicklungsziele vorausgesetzten Vorstellungen beschreibt. 1.) Der Fortschritt als Wertbegriff: Fortschritt kann in zweierlei Hinsicht ein Wertbegriff sein. Das heißt, er kann nicht nur ein , Besser' (ein Aufstieg zu Höherem), sondern auch ein einfaches ,Mehr' bedeuten. Im zweiten Fall spricht man vom genetischen Fortschrittsbegriff. In unzähligen, ja vielleicht sogar in der Mehrzahl der Marxschen Fortschrittsaussagen hat Fortschritt' diese Bedeutung. Speziell im Zuge der wachsenden Auseinandersetzung mit der englischsprachigen politischen Ökonomie findet eine Zunahme des quantitativen, beschreibenden Sprachgebrauchs statt. Verstärkt meint Fortschritt jetzt auch die wertneutrale .Entwicklung' (development). Hier handelt es sich um relationale Terme, die die entsprechenden zugrundeliegenden Prozesse nicht moralisch oder politisch bewerten sollen (Haug/Reitz 1999, 721 f.). Beschrieben wird die akkumulative Charakteristik von Vorgängen, unabhängig davon, ob diese für oder wider irgendeine Zunahme in der Perfektibilität der Menschheit sprechen. Ich will hier nur einige Beispiele nennen. Über den quantitativen Fortschritt im Sinne von Entwicklung' oder .Verbreitung' schreibt Marx: „Mit dem Fortschritt der kapitalistischen Produktion entwickeln sich auch ihre Bedingungen, unterwirft sie das Ganze der gesellschaftlichen Voraussetzungen, innerhalb derer der Produktionsproceß vor sich geht, ihrem specifischen Charakter und ihren immanenten Gesetzen." (Kapital, MEGA 11/15,
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EINLEITUNG
195f./MEW 26, 206) Und über Fortschritt im Sinne von Zunahme schreibt er: „Das Hauptmittel zur Verkürzung der Produktionszeit ist die Steigerung der Produktivität der Arbeit, was man gewöhnlich den Fortschritt der Industrie nennt." (Ebd., 71/80f.) Diese beiden Beispiele müssen genügen, weil, wie gesagt, die Verwendung des genetischen Fortschrittsbegriffs bei Marx fast schon inflationär ist. Und freilich interessiert hier nicht dieser Begriff, sondern die qualitativen, evaluativen Vorstellungen, die Marx beispielsweise vom Erkenntniszuwachs, vom Charakter politischer Auseinandersetzungen oder von kulturellen oder sittlichen Zuständen hat. Als Inbegriff des Guten gilt für den Fortschritt das, was für das Gute im Allgemeinen gilt - nur Zielstrebigkeit führt uns zu ihm. „Die richtige Straße", sagt Wittgenstein, „ist die Straße, die zu einem willkürlich im Voraus festgelegten Ziel führt, und es ist uns allen völlig klar, dass es keinen Sinn hat, unabhängig von einem solchen vorher bestimmten Ziel über die richtige Straße zu reden." (1996, 353) Nun ist es aber eine meiner Kernaussagen, dass die Form der Bewegung auf das als Ziel gesetzte Gute für das Verständnis eines bestimmten Fortschrittsbegriffs genauso wichtig ist wie das Ziel dieser Bewegung selbst. Das Gute steckt nicht allein im Ziel. Man würde es sonst ausschließlich punktuell denken, obwohl es doch genauso gut ein Prozess sein kann. Das gilt insbesondere für die materialistische Geschichtsauffassung. Eine wesentliche Charakteristik der materialistischen Geschichtsauffassung ist es nämlich, dass sie ausdrücklich darum bemüht ist, sich der Festlegung auf eine bestimmte Zielvorstellung zu entziehen. Diese Bemühung muss also auch für ihren Fortschrittsbegriff nachvollzogen werden. Im Gegensatz zur andauernden Diskussion um den Utopiegehalt der Marxschen Geschichtsauffassung und zu der mehr oder weniger beabsichtigten Verkürzung des gesamten Marxschen Denkens auf seinen moralischen Reiz, gilt mein Interesse schwerpunktmäßig der Untersuchung eben dieser formalen Dimension. Dieser Ansatz macht es mir möglich, den Fortschritt im Zusammenhang mit der eigentümlichen gegensätzlichen Bewegungsform zu sehen, die der Marxschen Konzeption von historischer Entwicklung zugrunde liegt. Sicherlich wird man Marx auch weiterhin unterstellen, er sehe in der Geschichte den Prozess der gesetzmäßigen Höherentwicklung der Menschheit. Für den Marxsche Fortschrittsbegriff gilt jedoch das, was für den modernen Fortschrittsbegriff im Allgemeinen gilt: Er wird nur dann außerhalb der eingefahrenen, moralisierenden Betrachtungsweise wieder an Bedeutung gewinnen können, wenn auch seine formale Bestimmung gebührend gewürdigt wird. Geschieht dies nicht, dann kommt das einer Kapitulation vor dem Großteil der bisherigen Literatur gleich, die Fortschritt einseitig nur vom axiologischen Standpunkt aus betrachtet, um dann schließen zu können, es sei die Vorstellung von irgendeinem zukünftigen Heilszustand, auf die dieser Begriff unweigerlich hinausläuft. Dieses Denkmuster bezeichne ich als Heilslehrenvorwurf gegen das moderne Geschichts- und Fortschrittsdenken. 2.) Der Fortschritt als Formbegriff: Die formale Seite des Fortschrittsbegriffs betrifft die Bewegungsform einer als Verbesserung beurteilten Entwicklung. Seit der Antike werden historische Veränderungen bekanntlich den zwei formalen Prinzipien des
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Kreises und der geraden Linie zugeordnet. Für mein Rekonstruktionsvorhaben ist nur letzteres Prinzip von Bedeutung. Denn selbstverständlich ist auch die Marxsche Geschichtsauffassung - der sich darauf berufende Historische Materialismus sowieso in ihrer formalen Konzeption von Entwicklung schon deshalb eine lineare Auffassung, weil sie eine evolutionäre Gesellschaftsentwicklung auf erweiterter Stufenleiter von relativ primitiven Ursprüngen zu immer komplexeren Verhältnissen voraussetzt. Das ist nicht mit einem .naiven', von dem Glauben an die menschliche Vervollkommnung getragenen Geschichtsbild zu verwechseln, da die sich steigernde Potenz zunächst allein als das quantitative Wachstum der Produktivkräfte auftritt: „Was ist die Gesellschaft, welches immer auch ihre Form sei? Das Produkt des wechselseitigen Handelns der Menschen. Steht es den Menschen frei, diese oder jene Gesellschaftsform zu wählen? Keineswegs. Setzen Sie einen bestimmten Entwicklungsstand der Produktivkräfte der Menschen voraus, und Sie erhalten eine bestimmte Form des Verkehrs und der Konsumtion. Setzen Sie bestimmte Stufen der Entwicklung der Produktion, des Verkehrs und der Konsumtion voraus, und sie erhalten eine entsprechende soziale Ordnung, eine entsprechende Organisation der Familie, der Stände oder der Klassen, mit einem Wort, eine entsprechende Gesellschaft. Setzen Sie eine solche Gesellschaft voraus, und Sie erhalten eine entsprechende soziale Ordnung, die nur der offizielle Ausdruck der Gesellschaft ist. [...] Man braucht nicht hinzuzufügen, daß die Menschen ihre Produktivkräfte - die Basis ihrer ganzen Geschichte - nicht frei wählen; denn jede Produktivkraft ist eine erworbene Kraft, das Produkt früherer Tätigkeit. [...] Dank der einfachen Tatsache, da jede neue Generation die von der alten Generation erworbenen Produktivkräfte vorfindet, die ihr als Rohmaterial für neue Produktion dienen, entsteht ein Zusammenhang in der Geschichte der Menschen, entsteht die Geschichte der Menschheit, die um so mehr Geschichte der Menschheit ist, je mehr die Produktivkräfte der Menschen und infolgedessen ihre gesellschaftlichen Beziehungen wachsen." (Brief an Annenkow, MEW 4, 548) Dieses Wachstum führt zweifellos nach Marx' Ansicht gerade auch im Hinblick auf das Naturverhältnis zu einer zunehmend fortschrittsfreundlichen Gesamtsituation. Evolutionär ist die Marxsche Geschichtsauffassung also nicht deshalb, weil sie Fortschritt zu einer beständigen Begleiterscheinung von Geschichte macht, sondern weil sie von der Prämisse ausgeht, im Verlauf der Geschichte finde ein besonderes - im weitesten Sinne ökonomisches - Wachstum statt. Dadurch wird in zunehmenden Maße ein Gesamtzusammenhang hergestellt - eine ,Geschichte der Menschheit' - , der zwar nicht mit Fortschritt gleichbedeutend ist, der jedoch die Möglichkeit von Fortschritt erhöht. Damit ist jedoch die Form des Entwicklungsgangs keineswegs erschöpfend abgehandelt. Denn mit ,linear' ist in Bezug auf die formale Konzeption von historischen Entwicklungen seit der Aufklärung eben nicht mehr einfach so etwas wie ein gleichmäßiger Aufstieg gemeint. Die Linearität ist nicht so sehr in formaler Hinsicht eine Charakteristik der aufgeklärten Geschichtsphilosophie, sondern vielmehr in inhaltlicher
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EINLEITUNG
Hinsicht, weil sie von der beständigen und letztlich finalen Verwirklichung bestimmter vorausgesetzter Ziele ausgeht. Dieser Verwirklichungsprozess muss nicht unbedingt Linienform haben. Er wird im traditionellen Konfliktmodell sogar als eine von krassen Konflikten gekennzeichnete Entwicklung beschrieben. Durch diese Gegensätze hindurch zieht sich aber sozusagen als roter Faden der Fortschritt als das Prinzip oder das Gesetz des Verwirklichungsprozesses der jeweils vorausgesetzten Entwicklungsziele. Das moderne Fortschrittsdenken ist vor allem in diesem Sinne ein ,lineares' Denken. Die materialistische Geschichtsauffassung ist darum bemüht, sich diesem für die Moderne charakteristischen Universalbegriff Fortschritt zu entziehen, indem sie in ihrer Konzeption der historischen Entwicklung verschiedenartige, sich gegenseitig überlagernde Gegensatztypen verwendet. Bei Marx ist Fortschritt lediglich ein Bestandteil der von Gegensatzverhältnissen gekennzeichneten Entwicklung gesellschaftlicher Totalitäten. Er muss darum theoretisch als Extrem verstanden werden. Marx' Leistung besteht darin, dass er das traditionelle Konfliktmodell nicht einfach übernimmt um es kritisch gegen sich selbst zu wenden, sondern dass er es gründlich umarbeitet. Dabei entsteht der neuartige Begriff Fortschritt-im-Gegensatz. Diese Arbeit ist nicht gewürdigt worden. Marx wird nach wie vor als Denker einer dem Prinzip des Fortschritts untergeordneten Universalgeschichte gesehen. Um sich davon zu überzeugen braucht man nicht erst auf das Lager seiner zahlreichen Feinde zu schauen, weil auch die Mehrheit derjenigen, die Marx gegenüber positiv eingestellt sind, diese Ansicht teilen. So heißt es beispielsweise in einer Notiz Horkheimers zu den ,drei Fehlern' Marxens über den ,ersten Fehler': „Erstens nimmt er die Geschichte der paar europäischamerikanischen Völker mit ihrer bürgerlich-fortschrittlichen Wirtschaft als die Gesellschaft, die Geschichte schlechthin." (1991a, 269) Insofern die Bewegungsform, die dem Marxschen Konfliktmodell der Geschichtsentwicklung und des Fortschritts zugrunde liegt überhaupt in seiner Besonderheit anerkannt wird, wird sie gerne pauschal mit dem Ausdruck ,Dialektik' belegt. Löwith spricht von den denkerischen Voraussetzungen, „die Marx mit Hegel teilt". Diese seien „erstens das historische Bewußtsein von der Geschichte und zweitens die dialektische Methode der Vermittlung". (1966, 189, Fn. 4) In diesem Fall versteckt sich dahinter natürlich die These: Marx ist ein geschichtsphilosophischer Denker, dessen Vorstellung von Entwicklung eben eine ,dialektische' ist. Aber in einem besonderen Sinne: „Marx' Dialektik ist nicht mehr dialektisch im Hegeischen Sinn, denn ihr bewegendes Prinzip ist nur die Negation der Negation, ohne das Moment der Bewahrung des im Aufheben Negierten." (Ebd.) Wir sollen glauben, Marx denke Geschichte als fortlaufende, rein erneuernde Aufhebungsstruktur, also letztlich als Fortschrittsstruktur. Der Teil des Rekonstruktionsvorhabens, der sich mit der formalen Dimension des Forschungsgegenstandes beschäftigt (das fünfte Kapitel), setzt sich mit diesem Gedanken ausführlich auseinander. Das Ziel ist es zu klären, wie eine spezifisch Marxsche , Dialektik des Fortschritts' aussehen könnte.
D I E ZENTRALEN PROBLEMBEREICHE
2.
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Die zentralen Problembereiche
Der methodische Ansatz dieser Arbeit ist ein problemorientierter, deshalb ist sie nicht chronologisch aufgebaut. Die einzelnen Arbeitsschritte behandeln jeweils theoretische Probleme, die die verschiedenen Aspekte des Verhältnisses der Kategorien Fortschritt, Gegensatz und Geschichte in den Marxschen Schriften betreffen.
a.
Probleme mit der Periodisierung der Entstehung des Marxschen Fortschrittsbegriffs
Erste Probleme ergeben sich schon beim Versuch einer Periodisierung der Entstehung und weitergehenden Entwicklung des Marxschen Fortschrittsbegriffs. Wilke spricht sehr richtig von einer „prinzipiell antagonistische[n] Konzeption" (1999, 225) und unterscheidet fünf verschiedene „Etappen" in ihrer Entwicklung: Eine frühe, spekulative Etappe bis kurz vor Mitte der 1840er Jahre koppele, im Anschluss an Hegel, den Fortschritt in der Freiheit an die Vernunft. Darauf folge dann (allerdings hauptsächlich bei Engels) eine „Übergangsetappe" (ebd., 226), die die Schattenseiten der kapitalistischen Produktion und Gesellschaftsorganisation beleuchtet. Ab Mitte der 1840er Jahre gehe die Fortschrittsidee in Schriften wie der Deutschen Ideologie, den Grundrissen oder dem Vorwort von 1859 in ein die Menschheitsgeschichte umfassendes „anthropologisches Gesamtbild" ein (ebd.). Die vierte Etappe falle in den langen nachrevolutionären Zeitraum ab 1848/49, der sich in ökonomietheoretischen Studien, journalistischen Stellungnahmen und Geschichtswerken niederschlägt. Schließlich folge als fünfte Etappe das ökonomische Hauptwerk, die Strukturanalyse des Kapitals, wonach die Menschen als Träger der gesellschaftlichen Verhältnisse fungieren, welche aber das „Leben und Leiden" der Beteiligten trotzdem nicht ausblende (ebd.). Meiner Meinung nach macht es schon aufgrund des impliziten Vorkommens des Marxschen Fortschrittsbegriffs wenig Sinn von klar voneinander abgrenzbaren Etappen in der Entwicklung dieses Begriffs zu sprechen. Freilich unterliegt auch ein impliziter Begriff einer Entwicklung, und es ist die Aufgabe des vierten Kapitels, diese Entwicklung zu verfolgen. Dabei stellt sich die Frage, ob Marx jeweils auf der Höhe der von ihm selbst errungenen Erkenntnisse und der dementsprechend eingeführten Neuerungen steht, oder ob er gelegentlich wieder hinter diese zurückfällt. Es geht also weniger um eine Abfolge von Etappen als um einen Konflikt innerhalb der Marxschen Theorie. Indem ich einen Graben zwischen dem traditionellen Konfliktmodell und dem originellen Marxschen Konfliktmodell ziehe, unterschiede ich nicht zwischen verschiedenen Etappen, sondern zwischen zwei etwas groben Denkmustern, denen der Marxsche Fortschrittsbegriff in einer jeweiligen Situation entweder nahe steht oder nicht. Dabei sind für meine Argumentation die Texte aus der Mitte der 1840er Jahre ausschlaggebend. Speziell die Proudhon-Kritik, die im Elend der Philosophie von 1846/47 kulminiert, stellt in dieser Hinsicht einen Wendepunkt dar. Michael Joseph Roberto behauptet sogar, der Marxsche Fortschrittsbegriff sei hier bereits komplett entwickelt, und also zuende
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EINLEITUNG
gedacht. Ich teile diese Ansicht weitgehend. An den vielbeschworenen und auch von Roberto in diesem Zusammenhang stillschweigend vorausgesetzten Unterschied zwischen der .naiven', evolutionären' (das heißt, nicht-antagonistischen, linear-gleichförmigen) und der vermeintlich komplizierten .antagonistischen' Tradition des Fortschrittsdenkens (2001, Abstract, 12) glaube ich allerdings nicht. Die Annahme, innerhalb des aufgeklärten Denkens gäbe es einen Konflikt vor allem zwischen diesen beiden Traditionen, beruht meines Erachtens auf einer immer noch mit Klischees behafteten Geschichtsschreibung des Fortschrittsbegriffs; des weiteren beruht sie auf einem beliebten Vorurteil gegenüber der erstgenannten Tradition, die man mit einer bestimmten Epoche (der Aufklärung oder der Moderne) oder einer bestimmten Denkschule (etwa dem Positivismus) identifizieren möchte, um diese zu diskreditieren. Dieses Vorurteil geht sehr weit zurück, aber in der zweiten Hälfe des 20. Jahrhunderts scheint es sich in die Geistesund Gesellschaftswissenschaften noch tiefer eingegraben und teilweise zum Klischee verhärtet zu haben. Auf einem Vorurteil beruht diese Unterscheidung deshalb, weil sie übersieht, dass es sich bei den neuzeitlichen Fortschrittsentwürfen sowohl inhaltlich wie formal um teleologisches Denken handelt, das von der Hoffnung auf die Versöhnung der bestehenden, als unerträglich empfundenen Gegensätze getragen wird. Teleologisch ist nicht allein die vermeintlich ,naivere' lineare Strömung, die mit dem Aufkommen der Vorstellung von der Perfektibilität der Menschheit im 18. Jahrhundert sowieso an Einfluss verliert und allmählich durch das konzeptionell vielseitigere Konfliktmodell ersetzt wird. Dieses ursprüngliche Konfliktmodell der Geschichtsentwicklung und des Fortschritts gibt selbst vor, die Finalität abzulehnen und die ,Offenheit' bzw. Ziellosigkeit des Geschichtsprozesses anzuerkennen. Gleichzeitig proklamiert es aber doch immer wieder die finale Auflösung und Versöhnung der gesellschaftlich-geschichtlichen Gegensätze in der Vorstellung von einem idealen Zustand. Das trifft insbesondere auf die Hegelianische geprägte Geschichtsphilosophie zu, mit der Marx schon sehr bald in Berührung kommt. Der eigentümlich Marxsche Fortschrittsbegriff bildet sich nicht auf dem Weg der Kritik an irgendeinem ,naiven' oder ,linearen' Geschichtsdenken heraus, sondern im Verlauf der Kritik an einem gegensätzlichen und zugleich teleologischen und daher versöhnlichen Modell der Geschichtsentwicklung und des Fortschritts. Diese Kritik findet in den um die Mitte der 1840er Jahre verfassten Schriften statt - am deutlichsten in der Proudhon-Kritik (1846/47). Bis zu diesem Zeitpunkt hält die Marxsche Theorie am traditionellen Konfliktmodell fest. Die Behauptung, der Marxsche Fortschrittsbegriff übertreffe das ,naive', linear-evolutionäre Fortschrittsdenken aufgrund seines nicht-linearen, gegensätzlichen Charakters, greift also zu kurz. Ja, sie ist schlichtweg ungenügend, um die eigentliche Leistung von Karl Marx auf dem Gebiet des Fortschrittsdenkens zu umschreiben. Denn erstens ist auch das Konfliktmodell des Fortschritts evolutionär ausgerichtet, zweitens ist die Unterscheidung zwischen der linearen und der vermeintlich komplexeren antagonistischen Tradition des Fortschrittsdenkens für sich genommen nicht ausreichend. Differenzierungen müssen vor allem im Konfliktmodell selbst vorgenommen werden. Der Antagonismus allein schützt nicht vor Naivität solange die Teleologie im Spiel ist. Drittens ist das lineare Fortschrittsdenken im 19. Jahrhundert
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in Reinform sowieso fast nicht mehr auffindbar. Marx setzt sich jedenfalls nicht ernsthaft damit auseinander.
b.
Die Teleologieproblematik und der Heilslehrenvorwurf
Das Wort .Teleologie' bezeichnet die Lehre vom Zweck, die sich allgemein als Umkehrung der zeitlichen Priorität im Kausalnexus darstellt. Die Wirkung wird der Ursache vorangesetzt. Genauer: die Wirkung wird in der gedanklichen Reflexion vorweggenommen und als die Funktion oder der Zweck der Ursache angesehen. In der Reflexion scheint es uns also, als sei die Wirkung der Ursache vorausgegangen. Teleologische Erklärungen basieren also auf dem, was Toulmin „retroactive causal mechanisms" nennt, „through whose operation current developmental processes can be ,caused by' their future goals", was er in dem Begriff „time-reversed causality" zusammenfasst (1981, 140f.). Unter dem Ausdruck .Teleologieproblematik' verstehe ich im Folgenden die spezielle Verwendung von telischen Konzepten oder Erklärungsmustern auf dem Gebiet der Philosophie oder Theorie der Geschichte, also die Teleologie in der Geschichte - ein Kernproblem des modernen Fortschrittsdenkens. Diese Problematik ist jedoch schlichtweg zu umfangreich, um gesondert behandelt werden zu können, und daher zieht sie sich durch die ganze Arbeit. Sie wird allerdings vor allem im dritten Kapitel im Zusammenhang mit dem Heilslehrenvorwurf und im vierten Kapitel in Bezug auf das Jungehegelianische und Proudhonsche Versöhnungsdenken thematisiert. Gerade der Heilslehrenvorwurf ist immer auch als Teleologievorwurf zu verstehen. Es geht in diesem Zusammenhang um die Teleologie in ihrer normativen Funktion: Von einem in der Kritik stehenden Autor wird gesagt, er komme zu bestimmten Konklusionen über Sinn und Zweck der Geschichtsentwicklung, weil er seine Darstellung und seine Erklärung des Geschichtsprozesses an subjektive Normen anpasse, in denen seine eigenen Vorstellungen von einem zukünftigen gesellschaftlichen Idealzustand zum Ausdruck komme. Gegen den Vorwurf, die materialistische Geschichtsauffassung verwende teleologische Erklärungsmuster ließe sich zunächst ins Feld führen, dass Marx selbst den Teleologievorwurf gegen die von ihm kritisierten Autoren erhebt. Außerdem beweist eine ordentliche Bestandsaufnahme des Marxschen Sprachgebrauchs, dass der Begriff Fortschritt' in den meisten Fällen als rückblickende Urteilskategorie benützt wird, und diese Verwendungsweise steht dem vorausschauenden, prophetischen' Fortschrittsurteil diametral gegenüber. Marx' Interesse gilt dem Abstand zwischen einem in der Vergangenheit liegenden und einem in der Gegenwart angesiedelten und verbesserten Zustand. Auf diesen Punkt werde ich im Schlusskapitel zurückkommen. Selbst wenn die Kritik des Bestehenden im Namen eines in die Zukunft projizierten höheren Sollens Marx zweifellos ein Gräuel ist, dann ist damit freilich noch nicht gesagt, dass es ihm immer gelingt, sich dem teleologischen Geschichtsdenken zu entziehen. Die Teleologieproblematik muss also sehr vorsichtig formuliert werden: Beinhaltet die Marxsche Kritik eine moralisierende Kritik, die einem Mechanismus der
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EINLEITUNG
Voraussetzung von Idealvorstellungen als Geschichtszwecken (ideale Zwecksetzung) gleichkommt? Im sechsten Kapitel versuche ich, die potentielle Angriffsfläche des Teleologievorwurfs auf diese klar umrissene Möglichkeit einer Verbindung von Geschichtsauffassung und präskriptiver Ethik herunterzubrechen. Selbst dann ist noch nicht geklärt, welche Werte oder Ideale gesetzt werden, weil bei Marx wohl kaum von einer strengen ethischen Ordnung gesprochen werden kann, nach der eine solche Setzung erfolgen könnte. Zumal die Verwirklichung sehr unterschiedlicher Wertvorstellungen für Marx zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Stellen in seinem Werk einen Fortschritt darstellen: die in einem Brief an Ruge erwähnte ,Reform des Bewußtseins' (1843), die totale philosophische und schließlich die wissenschaftliche Kritik der bestehenden Verhältnisse, die Überwindung der Entfremdung durch die Verwirklichung bzw. die Wiederherstellung des Gattungswesens, die politische Organisation der Arbeiterklasse und ihre revolutionäre Überführung in die selbstzweckmäßige Tätigkeit der frei assoziierten Produzenten - ja, sogar der Ausbau der Infrastruktur durch die britischen Kolonialherren in Indien. Ein weiterer von der Teleologieproblematik betroffener Aspekt ist die einer jeweiligen Geschichtsauffassung zugrunde liegende Bewegungsform. Wie ich bereits angesprochen habe, sollte die oftmals als problematisch angesehene lineare Gerichtetheit des historischen Prozesses eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Die an und für sich ziellose Bewegung der Geschichte ist - genau wie alle anderen Prozesse, die beobachtet werden können - in der Abfolge der einzelnen Stadien der Veränderung an das einfache Verfließen der Stunden, Tage, Jahre und Jahrhunderte entlang des Zeitvektors gebunden. Keine Macht der Welt kann daran etwas ändern. Während also der Fortschritt gewissermaßen das produktive Element in der Geschichte ist, so droht im Rückschritt immer die Gefahr eines Wiederauflebens des Alten. - Aber niemals im Sinne eines tatsächlichen Zurückgehens auf dem Zeitvektor, denn: „Alles kommt auf der Welt vor und wiederholt sich, nur die Zeit ist unwiederbringlich." (Platonow 1992, 254) Die historische Zeit ist unumkehrbar und in diesem ganz einfachen Sinne in einem ,linearen' Prozess ihres Verfließens gefangen. Alle für die Analyse eines bestimmten Fortschrittsbegriffs sowie für die Geschichtsbetrachtung im Allgemeinen interessanten Phänomene sind raum-zeitlich absolut bestimmt. Das heißt, sie sind nichts weiter als in Raum und Zeit angeordnete Dinge, Menschen und deren Verhältnisse. Ich bemerke dies nur, weil die heutzutage auf gesellschaftswissenschaftlichem und sozialphilosophischem Gebiet angepriesenen Vorstellungen von der ,Kontingenz' und dem pluralistischen' Charakter der Geschichtsentwicklung den Anschein erwecken können, als seien sie sich dieses Umstands nicht mehr bewusst. Vorstellungen wie die von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen' werden manchmal auf eine Art und Weise formuliert, die räumliche und temporale Faktoren durcheinander wirft. Denn dass sich verschiedene Bereiche an verschiedenen Orten mit verschiedener Geschwindigkeit entwickeln ändert nichts daran, dass diese unterschiedlichen Entwicklungen zeitgleich vor sich gehen. Um derartige Entwicklungstendenzen einzufangen verwendet die Marxsche Geschichtsauffassung Begriffe wie den der .Entsprechung' von sich überlagernden Strukturen und allgemein
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die historische ,Bestimmtheit' von Verhältnissen. Und darunter ist weder die absolute Kontingenz noch die absolute Mannigfaltigkeit der historischen Erscheinungsformen zu verstehen. Selbstverständlich bedeutet das Festhalten an der linearen Gerichtetheit des Geschichtsprozesses keineswegs, dass historische Prozesse grundsätzlich telische Prozesse sind. Nur diejenigen Teilbereiche der Geschichte, die ,gemacht' wurden, in die also Handlungsprozesse bewusster Subjekte eingegangen sind, können überhaupt teloi (Zwecke oder Ziele) haben. Allerdings ist durchaus fraglich, ob die Teleologie auf solche Prozesse generell anwendbar ist. Gleichwohl können wir davon ausgehen, dass die meisten normalen menschlichen Handlungen teleologisch - das heißt zweckmäßig - strukturiert sind, und dass dasselbe in Analogie zu ihnen auch für die historische Subjektivität gilt. Teleologie bedeutet in diesem Fall die Anschauung von Verhältnissen als Zweck-Mittel-Verhältnisse. Diese anthropozentrische Betrachtungsweise ist sogar eine Voraussetzung des teleologischen Denkens. Die besondere Form der Teleologie, die zum Beispiel mit Hegel in die moderne Geschichtsphilosophie eingegangen ist, geht es aber weder ausschließlich um die Zweckmäßigkeit menschlichen Handelns, noch ausschließlich um die Zielgerichtetheit des historischen Prozesses, sondern um eine Verbindung beider. Hier wird die Rede vom menschlichen Handeln - also vom ZieleSetzen und von der Zweckmäßigkeit der Mittel, die zur Erreichung dieser Ziele gewählt werden - auf den Geschichtsprozess übertragen. Von diesem wird aber bisweilen so geredet, als verfolge er auch ohne das bewusste Zutun der Subjekte seine Zwecke. Ja, er verwende beim Ausbleiben eines bewussten Eingreifens seitens der Subjekte diese möglicherweise sogar als Mittel, um diese Zwecke zu realisieren. Zum Beispiel wenn Hegel so formuliert, als sei die Geschichte selbst das Subjekt und gehe auch über die Köpfe der Menschen hinweg ins Ziel.4 Deshalb ist diese Betrachtungsweise 4
Dazu einige Anmerkungen, um Vereinfachungen vorzubeugen. 1.) Was das Problem der Finalität anbelangt, so geht Hegel nicht von der Konstitution des Sinnes von Geschichte durch Erfassung ihrer Ganzheitlichkeit aus, wodurch antizipierend auf das Ende geblickt wird, sondern er bestimmt (zum Beispiel in der Phänomenologie) die Gegenwart als Endzeit der Geschichte des absoluten Geistes im Rückblick auf die geschichtliche Entwicklung. Die Sinnkonstitution des Ganzen ergibt sich dadurch, dass Geschichte eben keine sinnlose Anhäufung von Ereignissen ist, sondern die von der Vernunft einsehbare Entwicklung des Geistes. 2.) Was bedeutet ,die Vernunft in der Geschichte' im Einzelnen? Die Erkenntnis der Welt und die Welt selbst müssen von Vernunft durchherrscht sein, wenn ihre vernünftige Erkenntnis möglich sein soll. .Vernunft in der Geschichte' bedeutet also einmal, dass die Vernunft eine Geschichte hat; ,Vernunft in der Geschichte' bedeutet aber auch, dass die Geschichte die Vernunft bezeugt und also vernünftig ist. Diese Rationalisierung der Geschichte bringt die Vernunft in die Geschichte, und zwar durchaus im Sinne einer aufgeklärten Heilsgeschichte. Denn diese „Säkularisierung [des] augustinischen Erbes" erlaubte es den Menschen, ihre eigenen Ziele und Zwecksetzungen mit der Geschichte zu verbinden, nachdem die göttlichen undurchschaubar geworden waren (Schnädelbach 1987, 13). 3.) Gleichzeitig ist die Geschichte für Hegel der Boden des Fortschreitens des Geistes. Es ist seine Prämisse, dass die Weltgeschichte „auf dem geistigen Boden vorgeht", und anders als in der Natur ist „im Geist ... jede Veränderung Fortschritt". (1830b, 50, 153) Geschichte ist Verwirklichung der Vernunft. Um dies zu erkennen, muss das Bewusstsein allerdings die Kategorien mitbringen und die Welt als
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EINLEITUNG
streng genommen nicht mehr nur anthropozentrisch - sie ist schon anthropomorph und basiert nicht mehr nur auf einer Sichtweise, die den Menschen als den höchsten Zweck, auf den sich alles konzentriert, in den Mittelpunkt stellt, sondern auf einer Vermenschlichung der Dinge und der Welt.5 Marx entscheidet sich schon früh gegen die anthropomorphe Konzeption der Geschichtsentwicklung. In Die heilige Familie wehrt er sich dagegen, dass die Geschichte (wie dies in der kritischen Kritik des Bruno Bauer geschieht) zu einer „aparten Person" gemacht wird, zu „einem metaphysischen Subjekt, dessen bloße Träger die wirklichen menschlichen Individuen sind". (MEW 2, 83) Solche Konstruktionen erinnern ihn an die „frühern Teleologen", nach denen „die Pflanzen da sind, um von den Tieren, die Tiere, um von den Menschen gegessen zu werden" (ebd.). Geschichte werde somit in „ein ätherisches, von der materiellen Masse getrenntes Subjekt" verwandelt (ebd., 85).
c.
Die Gegensatzproblematik und die Ambivalenztheorie des Fortschritts
Der moderne Fortschrittsgedanke ist teils durch eigenes Verschulden, teils durch den besonderen Charakter der Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde, mittlerweile dermaßen in Ungnade gefallen, dass man sich nur noch unter großen Schwierigkeiten zu ihm bekennen kann. Die Dominanz fortschrittsorientierter Geschichtsbilder im gesellschaftlichen Leben scheint dadurch erstaunlicher Weise nicht erschüttert worden zu sein. Überaus großer Beleibtheit erfreut sich beispielsweise der Gedanke, die nationalen Ökonomien und Kulturen seien dem Prozess einer fortlaufenden ,Globalisierung' unterworfen. Diese Wahrnehmung der gegenwärtigen Entwicklungstendenzen hat freilich den
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vernünftig ansehen. Daraus folgt erstens, dass Geschichte a priori zu konstruieren ist; zweitens, dass die Vernunft und auch die Freiheit - das durch sich selbst verwirklichte ,Beisichsein des Geistes' - zugleich ontologische Bestimmungen von Geschichte sind. Das Bewegungsgesetz der Geschichte ist daher nicht bloß Veränderung, es ist der Fortschritt selbst. Für Hegel hat also die Fortschrittskategorie eine konstitutive Bedeutung nicht nur für die Geschichte selbst, sondern auch für unser Verständnis davon. „Daß der Mensch ursprünglich alles, was ihm begegnet, von seiner kleinen Menschenwelt aus sieht, es in das Zweckgefüge des eigenen Lebens einzuordnen sucht und es so letzten Endes auf sich selbst wie auf einen vorgegebenen Bezugspunkt aller Dinge bezieht, ist nicht bloße Willkür der Subjektivität, sondern eine praktisch notwendige Tendenz. [...] Aber die Beziehung auf die eigene Person und ihre Lebenssphäre hat die Neigung an sich, ihren praktischen Kompetenzbereich zu überschreiten und auf die Weltansicht überhaupt überzuspringen, die subjektbedingte Umwelt als ,die Welt' zu verstehen, und so beim Anthropozentrismus anzulangen. [...] Etwas Ähnliches gilt auch vom Anthropomorphismus, d.h. der eigentlichen .Vermenschlichung' der Dinge und der Welt. Mit dem Anthropozentrismus hat er das Gefangensein des Bewusstseins in der Sehweise des Menschen gemeinsam. Auch er geht nicht auf das Sinnbedürfnis zurück, sondern auf den Missbrauch spezifisch menschlicher Kategorien. Den Dingen wird Wille, Gesinnung, Güte und Bosheit zugeschrieben" (Hartmann 1966, 130f.).
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Vorteil, als Grundstein nicht nur einer optimistischen Weltanschauung, sondern auch einer pessimistischen Niedergangserwartung dienen zu können. Vor diesem Hintergrund ist die These, Fortschritt sei eine ambivalente Entwicklungsform ein überaus populärer Mittelweg gewesen. Mit ihrer Hilfe lässt sich über den Fortschritt nachdenken, ohne dass man sich ein Bekenntnis für oder wider ihn abringen muss. Die Ambivalenztheorie beruht nämlich auf dem Gedanken, fortschrittliche Entwicklungen hätten stets eine Schattenseite an sich, etwas Gegenteiliges, das sie nach außen kehren, oder in das sie sich letztlich verkehren - ein „Minus ... mitten eben im Plus" (Bloch 1977, 119). Dies ist eine Möglichkeit, die Gegensätze der Geschichtsentwicklung in den Fortschritt selbst zu verlagern. Fortschritt kann dann freilich keine reine Verbesserung mehr sein; er ist jetzt vielmehr in einem besonderen Sinne widersprüchlich - er ist doppeldeutig. Mit Hilfe dieses Gedankens kann der Fortschritt für alle möglichen Katastrophen und Gräueltaten verantwortlich gemacht werden. Er ist eines der am weitesten verbreiteten und gleichzeitig am wenigsten hinterfragten Denkmuster unserer Zeit. Auch die Vorstellung von der ,Krise des Fortschritts' hängt unmittelbar mit der Annahme seiner Ambivalenz zusammen. „Wir wünschen diesen Fortschritt", schreibt Rapp, „und tun alles, um ihn herbeizuführen ... Und doch fürchten wir gleichzeitig die unbeabsichtigten, weithin unvermeidbaren ... Nebenfolgen, die dieses Fortschrittsstreben mit sich bringt. Hier liegt der tiefere Grund für die gegenwärtige Krise des Fortschrittsdenkens." (1993, 27f.) Die typische Geisteshaltung der zeitgenössischen Fortschrittsrezeption ist zwar nicht notwendigerweise aber doch mehrheitlich eine pessimistische. In extremen Fällen führt dieser Pessimismus zu einer apokalyptisch anmutenden Literatur, die sich in endlosen Auflistungen der Verfehlungen des Fortschritts ergeht (ζ. B. Wright 2006; Salvadori 2008). Ich bezweifele, dass diese Literatur langfristig zu einem besseren Verständnis des Fortschritts beitragen kann. Die Probleme mit dem Fortschritt ergeben sich nicht aus seiner immanenten Widersprüchlichkeit aus dem Verhältnis des Fortschritts zu sich selbst. Genau diese Selbstbezüglichkeit wird aber suggeriert, wenn gefragt wird: Warum verkehrt sich der Fortschritt in sein Gegenteil? Warum führt er zum Bösen? Natürlich wird man sich stets darüber streiten, ob diese oder jene Entwicklung einen authentischen Fortschritt darstellt oder nicht. Fortschritt ist schließlich die Bewegung des Guten; es herrscht aber keine Einigkeit darüber, was das Gute ist. Dieser Streit wird wohl niemals beigelegt werden können. Unnötige Probleme werden meines Erachtens erst dann auf den Plan gerufen, wenn man zu dem Schluss kommt, dass wir gar nicht wissen, was Fortschritt ist oder bedeutet: „Wer vom Fortschritt redet, setzt die Antwort, wie ich fürchte, normalerweise wie eine Selbstverständlichkeit voraus. Eigentlich ist es aber gar nicht klar, wie die Antwort lautet." (Von Wright 1995, 271) Ich werde argumentieren, dass die Antwort in Wirklichkeit bereits im Begriff des Fortschritts enthalten ist. Das Fortschrittsproblem besteht nicht darin, dass wir gar nicht wissen, was Fortschritt ist oder bedeutet. Das Problem ergibt sich vielmehr aus der Art und Weise, wie Fortschritt im Blick auf die gegensätzliche Bewegungsform der Geschichtsentwicklung
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EINLEITUNG
konzipiert wird: Ist die Geschichte ein Fortschritt im Gegensatz oder ist der Fortschritt ein Teil des gegensätzlichen Bewegungsmodus der Geschichte? Man kann sinnvoll nach den Ursachen des Fortschritts fragen. Danach, wo und in welchem Umfang Fortschritt stattfindet, wessen Interessen er dient, und wie er sich zum Rückschritt bzw. zur Geschichte verhält. Auf diese Fragen, die das Fortschrittsverhältnis betreffen, wird man bei der Ambivalenztheorie keine befriedigenden Antworten finden. Die Ambivalenztheorie kann gar nicht erst zu diesen Fragen vorstoßen, weil sie den Fortschritt als ein sich selbst verneinendes Phänomen ansieht und bestenfalls versucht, die Bedeutung von Fortschritt aufzuklären. Zachriat hat dieser Arbeit ein ganzes Buch gewidmet, das den bezeichnenden Titel Ambivalenz des Fortschritts trägt. In der Kategorie Fortschritt lägen entgegen der „scheinbaren Simplizität" in Wirklichkeit „vielschichtige Aspekte verborgen, deren spannungsvolle Vielfalt durch eine fixierende, allgemeine Definition verfehlt wird". (2001, 23) Er konzentriere sich deshalb auf „das Sammeln und Ordnen von verschiedenen Bedeutungsperspektiven" (ebd.). Eine dieser Bedeutungsperspektiven offenbart sich Zachriat durch die Frage: „Gibt es neben dem Fortschritt zum Besseren auch einen Fortschritt zum Schlechteren?" (Ebd.) Dass man der Entwicklung zum Schlechteren gerecht werden könnte, indem man sie mit der Kategorie .Rückschritt' belegt, fällt ihm nicht ein, und so ergibt er sich schließlich die gängigen Problemstellung: „Besonders aktuell ist gegenwärtig die Frage nach dem Preis des Fortschritts." (Ebd., 26) Das Bild vom ,Preis des Fortschritts' ist ein beliebtes theoretisches Mittel der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit dem modernen Fortschrittsgedanken. Speziell die Rezeption des Marxschen Fortschrittsbegriffs artikuliert die Preisfrage als Vorstellung von einer .Dialektik des Fortschritts'. Ein typisches Beispiel ist die Untersuchung Robertos, die den Marxschen Fortschrittsbegriff ohne Einschränkung auf die Dialektik Hegels basiert: „[Marx's] studies of Hegelian philosophy established a concept of progress based on dialectics and Hegel's view of conflict in history." (2001, Abstract) Die Lektüre von Robertos Arbeit hinterlässt den Eindruck, die Marxsche Hegel-Kritik habe nie stattgefunden. Immerhin ist sich Roberto bewusst, dass wir es mit einem Konfliktmodell der Entwicklung zu tun haben. Doch er geht nirgendwo näher auf die Konsequenzen ein, die sich aus einer Dialektik des Fortschritts ergeben. Was bedeutet es, wenn man vom Fortschritt sagt, er sei dialektisch? Wie sieht ein dialektischer Fortschritt logisch und praktisch aus? Weder die Literatur zum modernen Fortschrittsgedanken noch die Marxrezeption haben sich gründlich mit diesen Fragen auseinandergesetzt. Wird Geschichte allerdings als Fortschrittsprozess gedacht, dann bedeutet die Dialektisierung des Fortschritts die Dialektisierung der Geschichte. Geschichte wird dann als Aufhebungsstruktur gedacht, und das kann die unbeabsichtigte Konsequenz haben, dass damit dem Heilslehrenvorwurf gegen Marx neue Munition zugeführt wird.
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d.
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Zurückweisung des Paradigmas des Historischen Materialismus
Karl Marx nimmt in der neuzeitlichen Geistesgeschichte sicherlich insofern eine Sonderstellung ein, als er immer wieder mit Gedanken in Verbindung gebracht wird, die ihm eigentlich fremd sind. Ich denke nicht an die Vielfalt möglicher Interpretationsweisen, die ein so umfassendes Werk selbstverständlich nach sich zieht - ich denke an Gedanken, die sich bei Marx nicht finden lassen oder denen er sogar ausdrücklich widerspricht. Diese Sonderstellung hat Marx zum Teil dem Umstand zu verdanken, dass er kein in sich geschlossenes System geschaffen hat, dessen einzelne Bestandteile sich gegenseitig widerspruchsfrei absichern (damit soll freilich nicht gesagt sein, Marx sei kein systematischer Denker). Dazu kommt die buchstäbliche Verweltlichung des ganzen Marxschen Begriffskanons in zahlreichen sozialen Bewegungen und Staatssystemen im Verlauf eines ganzen Jahrhunderts. Ein Aspekt dieser für einen Forscher ungewöhnlich starken Wirkung ist die Herausbildung einer Vielzahl unterschiedlicher Interpretationsschulen gewesen, von denen jede wieder eigene Interessen mit sich herumschleppt. Vor diesem Hintergrund muss auch die Lesart gesehen werden, die die materialistische Geschichtsauffassung als den Kern der Marxschen Theorie ansieht. Das Bild, das auf diese Weise entstanden ist, zeigt Marx als herausragenden Vertreter der optimistischen Geschichtsbetrachtung, der den Fortschritt zum Bewegungsprinzip oder gar zum Gesetz der historischen Entwicklung erklärt (bzw. umgekehrt die historische Entwicklung zur fortlaufenden Manifestation von Fortschritten). Aus diesem Grund - und weil wohl die meisten Menschen unter dem Wort Fortschritt intuitiv eine historische Kategorie verstehen - sind an dieser Stelle ein paar Worte über die Stellung des Geschichtsbegriffs innerhalb der Marxsche Theorie angebracht. Die Geschichte spielt bei Marx natürlich eine herausragende Rolle. Aber sein Interesse an der Geschichte lässt sich nicht auf das beschränken, was die Römer res gestae nannten, das vergangene Geschehen, und das im 18. Jahrhundert mit der Historie (dem übermittelten Bericht oder der Erzählung) zum modernen Geschichtsbegriff verschmilzt (vgl. Rohbeck 2004, 16f.). Der Begriff Philosophie der Geschichte' wird 1765 von Voltaire geprägt und versteht die Geschichte als einen Gegenstand, an den jetzt auch die Philosophie mit dem Anspruch auf methodische Erforschung und Darstellung herantreten soll. So sieht Hegel die Geschichte als den Boden des Fortschreitens des Geistes an, und als einen Bereich, der neben anderen Bereichen (dem Geist, dem Recht usw.) auch irgendwo im System behandelt werden muss. Die Marxsche Theorie ist keine Geschichtsphilosophie in diesem strengeren Sinne. Sie ist auch kein Historismus, in dessen Geschichtsbegriff Prinzipien wie Einheit und Zielstrebigkeit der Geschichte, die üblicherweise als Belege für die eschatologischen Wurzeln der Geschichtsphilosophie herangezogen werden, verloren gehen. (Anstelle der Einheit wird jetzt von der Epoche geredet, Zielstrebigkeit wird durch die Individualität der geschichtlichen Gestalt ersetzt.) Interessant ist auch, dass Marx zwar Unmengen Textmaterial verarbeitet, das ganz eindeutig als Geschichtsschreibung bezeichnet werden kann, dass er aber seit der entschiedenen Hinwendung zu ökonomietheoretischen Themen immer weniger Schriften zu lesen scheint, die als Philosophie oder Theorie der Geschichte eingestuft werden
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EINLEITUNG
könnten. Dabei sollte man bei einem Autor, der an so etwas Grandiosem wie dem Historischen Materialismus arbeitet und die Menschheitsgeschichte theoretisch in den Griff bekommen will doch eigentlich erwarten können, dass er sich dafür interessiert, was die Konkurrenz macht. Was Marx an der Geschichte interessiert ist vor allem das Element der Geschichtlichkeit, also der historischen Bestimmtheit der sozialen Verhältnisse und Verkehrsformen: Die Verhältnisse und die ihnen entsprechenden Kategorien, mit denen sich die Kritik der politischen Ökonomie beschäftigt, sind bestimmte - das heißt: historisch gewachsene und zeitlich begrenzte - Verhältnisse und Denkprodukte. Dieses Interesse hat allerdings keinen methodologischen Relativismus zur Folge, wonach sich zwischen den nach allgemeinen, abstrakten Gesetzen suchenden nomothetischen Naturwissenschaften und den nach geschichtliche Tatsachen suchenden und anschauliche Gestalten beschreibenden ideographischen Wissenschaften ein unüberwindbarer Graben auftut. Zwar behauptet auch Marx (zum Beispiel im Kapital) die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen Naturwissenschaft und Gesellschaftswissenschaft aufgrund von methodologischen Differenzen. Eine strenge Aufspaltung der Wissenschaft in einen die Natur erklärenden und einen das Geistesleben, die Gesellschaft oder die Geschichte verstehenden Zweig der Forschung, wie sie der klassische Historismus unternimmt, folgt für ihn daraus jedoch nicht. In diesem Sinne verteidigt Marx also den Einheitsanspruch der Wissenschaft. Das tut er schon deshalb, weil er davon ausgeht, dass das Explanandum nicht allein der Philosophie und den Sozialwissenschaften, sondern auch den Naturwissenschaften immer nur als ein historisch Gewachsenes vorliegt. Schon 1844 schreibt er: „Die Geschichte selbst ist ein wirklicher Theil der Naturgeschichte, des Werdens der Natur zum Menschen. Die Naturwissenschaft wird später eben so wohl die Wissenschaft von dem Menschen, wie die Wissenschaft von dem Menschen die Naturwissenschaft unter sich subsumiren: es wird eine Wissenschaft sein." (Ökonomischphilosophische Manuskripte, MEGA 1/2, 396/MEW Ergänzungsband, 1. Teil, 544) Mit diesem Gedanken macht sich Marx zu einem Bindeglied zwischen Traditionen, die meist als unvereinbar gesehen werden: Er steht einerseits in der Tradition der aufgeklärten Geschichtsphilosophie, deren naturalistischen Anspruch er übernimmt; andererseits nähert er sich mit der Verabsolutierung der Geschichte zu einer übergreifenden Kategorie (also mit dem Programm einer vollständigen Historisierung von wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Praxis) durchaus auch der Position des Historismus an; schließlich greift er sogar dem in der Philosophie ausdrücklich erst sehr viel später auftretenden und eigentlich mit dem Historismus unvereinbaren Wunsch nach einer ,Einheitswissenschaft' vor - nicht im Sinne einer einheitlichen wissenschaftlichen Methode, aber doch im Sinne eines einheitlich wissenschaftlichen Weltbildes. Daher rührt auch seine Bemühung um eine an die Naturforschung angelehnte Sprache in der Geschichtsauffassung. Marx bedient sich besonders bei dem Begriffskanon der Geologie und der Paläontologie. Gerade die verstreuten Versuche, die geschichtliche Entwicklung als AbfolgeSchema von Gesellschaftsformen darzustellen, um die Gemeinsamkeiten aber auch die Differenzen zwischen diesen Formen deutlich zu machen, bedient sich einer solchen Sprache (vgl. die Manuskripte, MEGA 1/2, 397, und ,The Future Results of British Ru-
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le in India', MEGA 1/12, 252f.). Marx greift insbesondere auf Begriffe wie ,Schicht' und .Formation' zurück. 6 In seiner Kurzbiographie behauptet Engels, Marx' erste große Entdeckung sei „die durch ihn vollzogene Umwälzung in der gesamten Auffassung der Weltgeschichte". (MEGA 1/25, 107/MEW 19, 102) (Die „Aufklärung des Verhältnisses von Kapital und Arbeit" wird als die zweite große Entdeckung genannt [MEGA 1/25, 109/MEW 19, 104].) „Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte." (,Das Begräbnis von Karl Marx', MEGA 1/25, 407MEW 19, 335) Die Entdeckung der Entwicklungsgesetze der Geschichte gibt freilich nicht gleich Anlass zur Proklamation, die Entwicklung bedeute einen gesetzmäßigen Fortschritt. Außerdem ist fraglich, ob es wirklich Marx' Absicht ist, eine Theorie ,der menschlichen Geschichte' zu entwerfen. Die Annahme, die Marxsche Theorie sei zuvorderst eine solche Theorie der Bewegungsgesetze der Geschichte nenne ich das Paradigma des Historischen Materialismus. Nachdem die Bemühungen des Marxismus gut einhundert Jahre lang - von der Gründung der 2. Internationale 1889 bis zum Kollaps des Staatssozialismus 1989 - darauf abzielten, Marx zum Gründervater dieses Paradigmas aufzubauen, scheint es mir in der gegenwärtigen Situation sinnvoller zu sein, ihn als einen Denker zu lesen, der sich mit zunehmender Intensität auf die historische Genese und den inneren Zusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft konzentriert. Unbestritten bleibt allerdings, dass Marx bisweilen eine Auffassung von Fortschritt andeutet, die auch viel größere Zusammenhänge wie die bereits erwähnte .Weltgeschichte' umfasst und vor diesem Hintergrund hat dann auch die Würdigung des historisch-materialistischen Paradigmas ihre Berechtigung. Das Paradigma des Historischen Materialismus verdeutlicht das problematische Verhältnis zwischen Marxscher Theorie und Marxismus. Man muss sich vor Augen führen, dass „der Marxismus" nicht einfach, wie Lenin behauptet, „das System der Anschauungen und der Lehre von Marx" (1914/15, 38) gewesen ist, sondern das, was der sich auf Marx berufende Teil der sozialistischen Intellektuellen aus dessen Anschauungen und Lehre gemacht hat: ein neuartiges und in vielerlei Hinsicht eigenständiges Lehrgebäude, das sich den Bedingungen des 20. Jahrhunderts anpasste. Diese Unterscheidung zwischen Marxscher Theorie und Marxistischem Lehrgebäude wäre noch vor dreißig Jahren vielleicht gewagt gewesen; heute ist sie alles andere als das. Sie ist sogar zu einem häufig anzutreffenden Interpretationsansatz geworden. So versucht Smith, das Ausmaß der Marxistischen Fehlinterpretation der Marxschen Geschichtsauffassung aufzuzeigen. Den Marxismus versteht er als eine „philosophy of history, which would explain how society made transitions from one stage to another." (2005, 11) Beispielsweise sei die berühmte Metapher von ökonomischer Basis und ideellem Überbau aus 6
„[Marx] unterschied zum einen die einzelnen Gesellschaftsformen chronologisch nach verschiedenen .Schichten' und zum anderen die einzelnen komplexen Gebilde, die sich in der weiteren Entwicklung aus den koexistierenden Formen ergaben, als verschiedene .Formationen', wobei er letztere, in Analogie zu den sekundären und tertiäre Umbildungen der Geologie, als .sekundäre' etc. .Formationen' zu klassifizieren versuchte." (Lefèvre 2000, 185, vgl. Löther 2006, 88ff.)
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EINLEITUNG
dem Vorwort von 1859 vom Historischen Materialismus entstellt („distorted") und in ein kurzsichtiges Kausalschema verwandelt worden („turned into a blind causal mechanism") (ebd., 20). Marx selbst sei nicht an einer solchen Theorie der Geschichte interessiert, und darin bestehe seine „direct opposition ... to historical materialism." (Ebd., 22)7 Freilich müssen die Unterschiede zwischen der Marxschen Theorie und dem historischen Marxismus nicht als unüberwindbare Gegensätze gedacht werden. Meines Erachtens sollte allerdings heutzutage in einer Studie zu Marx das Bewusstsein zum Ausdruck kommen, dass der Marxismus eigene Theorien hervorgebracht hat, die sich nicht gänzlich auf die Marxsche Theorie zurückführen lassen. Zu diesen gehört sicherlich auch die Marxistische Theorie der Geschichte mit ihren verschiedenen Begriffen von Fortschritt.8 Ein Kerngedanke des historisch-materialistischen Paradigmas ist , Stufenfolge der Geschichte' bzw. die ,Logik der Übergänge' zwischen den als unterschiedliche Gesellschaftsformationen aufgefassten Stufen aus. Dieses Theorem lässt sich sehr gut im Begriff des „Formationsfortschritts" zusammenfassen (Ruprecht 1989, 2): Im Formationsfortschritt erklimmt die Gesamtgesellschaft auf dem Weg ihrer revolutionären Umwälzung mit jedem Schritt eine höhere Entwicklungsstufe. Diese Vorstellung findet sich durchaus auch bei Marx. Sie kommt im berühmten Vorwort von 1859 emphatisch zum Ausdruck. Nur ist der Formationsfortschritt für Marx keine ausgemachte Sache. Wird er als das gewichtigste Resultat der Marxschen Geschichtsauffassung vorausgesetzt, dann kommt das einer Fehleinschätzung der Stellung des Fortschrittsbegriffs im Marxschen Werk gleich. Ich glaube, einer der größten Fehler, den man auf diesem Gebiet machen kann, besteht gerade in der Annahme, der Fortschrittsgedanke habe im Marxschen Werk eine zentrale Stellung inne. Die Studie Robertos leidet durchweg unter dieser Überbewertung der Bedeutung des Fortschrittsbegriffs für das Marxsche Denken. „For Marx", schreibt er, „an understanding of history was concomitant with progress." (2001, 10) „Marx saw himself and the struggle against 7
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Ganz ähnlich argumentiert Iber: „Ich plädiere für die Trennung zwischen der Marxschen Theorie und dem Marxismus, zwischen Marx als Begründer der Marxistischen Weltanschauung und Marx als Wissenschaftler und Philosoph." (2005, 16) Für Elbe ist der Marxismus - in seiner traditionellen Ausprägung - nicht mehr als „in mehrerlei Hinsicht Engels' Werk und von daher eigentlich ein Engelsismus". (2006, 53) Étienne Balibar nennt die drei wichtigsten Varianten der Marxistischen Fortschrittsideologie im 20. Jahrhundert: 1.) Die deutsche Sozialdemokratie bzw. die 2. Internationale, die mit Gewissheit von der gesetzmäßigen Entwicklung auf das Geschichtsziel der sozialistischen Gesellschaft sprach aber darüber zerstritten war, ob die Darstellung dieser Entwicklung eine ethischen Komponente benötige oder nicht. 2.) Der Sowjetkommunismus bzw. Realsozialismus, der sich durch ein gespaltenes Verhältnis zu dem Projekt des Widerstandes gegen die kapitalistischen Modernisierung einerseits und dem Projekt der Überwindung der Moderne durch einen ,Sprung nach vorne' und der Geburt des ,Neuen Menschen' andererseits auszeichnete. 3.) Schließlich die verschiedenen sozialistischen Entwicklungsmodelle an der .Peripherie' der kapitalistischen Welt nach dem Ende des Kolonialismus (von China über Kuba bis Mosambik), die auch eine Verbindung zwischen diesen Gesellschaften und der .westlichen' Tradition der Aufklärung zum Ausdruck brachten (1995, 87f.).
D I E ZENTRALEN PROBLEMBEREICHE
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capitalism as necessarily directed to further the potential of all humanity; i.e. to progress. He, quite naturally, came to view progress as the struggle of the proletariat for self-emancipation. Isn't progress the point of it all?" (Ebd., 12) Nein. Marx macht gerade dadurch einen gewaltigen Sprung nach vorne, dass ihm im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen eine explizite Theorie des Fortschritts fehlt. Außerdem ist unklar, was Roberto meint, wenn er behauptet, das Verständnis von Geschichte sei für Marx ,concomitant' (dt. begleitend/zur gleichen Zeit stattfindend) mit dem Fortschritt? Ein Zuwachs an Erkenntnissen über geschichtliche Prozesse stellt für Marx sicherlich einen bestimmten - nämlich einen wissenschaftlichen - Fortschritt dar. Die Behauptung, die Geschichte sei gleichbedeutend mit dem Fortschritt, die zentrale Voraussetzung des Historischen Materialismus, kann ihm aber deshalb nicht ohne weiteres zugeschrieben werden. Außerdem sollte das Selbstverständnis eines Wissenschaftlers nicht mit seinen tatsächlichen Leistungen verwechselt werden. Wahrnehmung und Wirklichkeit müssen sich nicht unbedingt decken. Selbst wenn Marx seine Arbeit als ein Werkzeug des Menschheitsfortschritts verstehen sollte ist damit noch lange nicht gesagt, dass sie deshalb immer und überall um die Fortschrittsidee kreist - dass diese eine Idee also hinter allen anderen Ideen steht und heimlich die Strippen zieht. In Wirklichkeit ist die Marxsche Theorie in erster Linie eine Kritik an einer besonderen Theorieform nämlich die ,Kritik der politischen Ökonomie', wie gleich mehrere von Marx' Büchern betitelt sind. Im Rahmen dieser Kritik hat auch der Fortschrittsbegriff seinen Platz, aber es geht Marx nicht, wie Roberto glaubt, .eigentlich um den Fortschritt'. Eine Arbeit zum Marxschen Fortschrittsbegriff sollte deshalb nicht für sich in Anspruch nehmen, den Kernbereich der Marxschen Theorie zu untersuchen. Zumal diese Theorie mit einiger Berechtigung als Niedergangstheorie verstanden werden könnte: Marx' Gegenstand ist „not existing capitalist society in its affirmative state, but declining capitalist society as revealed in the demonstrably operative tendencies of its brakingup and decay". (Korsch 1935, 61) Das Paradigma des Historischen Materialismus ist also insofern abzulehnen, als es auf die Behauptung hinausläuft, der Formationsfortschritt sei ein zentrales Marxsches Theorem. Auch Marx vertritt freilich eine universalhistorische Perspektive, insofern er die Existenz einer empirischen Universalgeschichte voraussetzt. Oftmals wird aber so getan, als impliziere diese Perspektive notwendigerweise das Problem eines Universalfortschritts. Gerade in den Spätschriften scheint Marx eine Abkehr von der Theoretisierung der Menschheitsgeschichte zu vollziehen, um sich auf Analysen der besonderen Produktionsweise der bürgerlichen Gesellschaft konzentrieren zu können. Die Problemlage lässt sich vielleicht am besten als die Frage formulieren, inwiefern das traditionelle Konfliktmodell und der dementsprechende Begriff Fortschritt-als-Gegensatz die Entstehung eines originellen Marxschen Fortschrittsbegriffs überlebt. Ich werde im Folgenden nur relativ unbestimmte Termini wie , materialistische Geschichtsauffassung', ,Geschichtsdenken' und dergleichen verwenden, um den Rahmen abzustecken, innerhalb dessen der Marxsche Fortschrittsbegriff rekonstruiert wird. Marx selbst spricht gelegentlich von seiner ,,materialistische[n] und daher
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EINLEITUNG
wissenschaftliche[n] Methode" (Kapital, MEGA II/6, 364, Fn. 89/MEW 23, 393, Fn. 89), nicht aber davon, dass er eine Theorie der Universalgeschichte aufstellen wolle. Nirgendwo spricht er von seiner Arbeit als .historischem Materialismus' (eine Bezeichnung Mehrings, die in den 1890ern auch von Engels verwendet wird) oder gar als .dialektischem Materialismus' (ein Begriff, der auf Josef Dietzgen zurückgeht, der in den 1890ern auch von Plekhanow verwendet wird, den aber vermutlich nicht einmal Engels kennt). Wenn es Marx also nicht vorrangig um eine allgemeine Theorie der Geschichte im Sinne des Histomat-Paradigmas geht, worum geht es ihm dann? Die Antwort darauf steht in aller Deutlichkeit im Vorwort zur 1. Auflage des Kapitals: Es geht um „die Analyse der ökonomischen Formen", um „die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse". Hier wird sogar darauf hingewiesen, dass der Bezugsrahmen die „klassische Stätte" dieser Produktionsweise ist - „bis jetzt England" (MEGA II/5, 12/MEW 23, 12). Da Marx freilich davon ausgeht, dass dieselbe Produktionsweise die Tendenz hat sich auch auf andere Länder und Erdteile auszubreiten - ,J)e te fabula narratur!" (ebd.) - , spielt hier durchaus ein universalhistorischer Zusammenhang mit hinein. Gegenstand des Großteils der Marxschen Untersuchungen ist aber nicht der Fortschritt der Geschichte oder der Menschheit, sondern die kategoriale Ordnung der politischen Ökonomie und die Art und Weise wie sie den inneren Zusammenhang von Gesellschaften artikuliert, „in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht" (Kapital, MEGA II/6, 69/MEW 23,49). Insofern Marx den Geschichtsbegriff also nicht bloß im Zuge einer kategorialen Verankerung der wissenschaftlichen Methode in der Veränderlichkeit von Mensch und Gesellschaft und ihres Naturverhältnisses bemüht, konzentriert sich sein Interesse doch schwerpunktmäßig auf die historische Dynamik dieser sozialen Ordnungen. Es kommt ihm insbesondere auf den Nachweis an, dass das Wirtschaftssystem, auf dem diese Ordnung basiert, ein von Widersprüchen gekennzeichneter Kreislauf ist. In diesem Zusammenhang müssen auch seine Verallgemeinerungen zu den historischen Tendenzen dieser Gesellschaftsform gesehen werden - die noch ungenaueren Aussagen zu Tendenzen, die darüber noch hinausweisen, sowieso.
3.
Die Ziele dieser Untersuchung
Diese Untersuchung versteht sich als Teil der philosophischen Interpretation der Marxschen Theorie. Ich verfolge mit ihr im Grunde genommen zwei Ziele. Erstens soll die Originalität des sich im Zuge der kritischen Auseinandersetzung mit einem bestehenden Fortschrittsdenken herausbildenden Marxschen FortschrittsbegrifFs deutlich gemacht werden. Dieser neue, positive Fortschrittsbegriff ist das Produkt eines theoretischen Bruchs mit dem geschichtsteleologischen, am Ideal der Versöhnung ausgerichteten Geschichtsdenken (die Linkshegelianer, Proudhon). Hier kommt die Gleichberechtigung der formalen und der ethischen Dimension des Marxschen FortschrittsbegrifFs zum Tragen. Indem ich mich auf die formale Seite dieses Begriffs
D I E Z I E L E DIESER UNTERSUCHUNG
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einlasse, glaube ich zu einem besseren Verständnis der eigentümlichen Vorstellung von Gegensätzlichkeit zu gelangen, in die Marx seinen Fortschrittsbegriff sozusagen einbettet. Die Marxsche Vorstellung von historischen Verbesserungen wird als Teil eines Konfliktmodells der Geschichtsentwicklung (sogar als Teil eines Fortschritt-Rückschritt Modells) erkenntlich. Auf diese Weise hoffe ich vor allem, die Erkenntnisleistung des Marxschen Fortschrittsdenkens hervorheben zu können. Zweitens möchte ich am Marxschen Beispiel einen allgemeinen Beitrag zu einem besseren Verständnis des Begriffs Fortschritt als Kategorie des historisch bewegten Guten leisten. Wie kann man dem Fortschritt in dieser ihm eigentlich zukommenden Bedeutung gerecht werden? Sicherlich nicht auf dem Wege der ,Rehabilitation' oder der ,Rettung' des Fortschrittsbegriffs, wie sie von der gegenwärtigen Diskussion manchmal vorgeschlagen wird. Denn damit wird dem Fortschritt indirekt ein Mangel oder eine Schuld zugesprochen. Der Begriff Fortschritt steckt auch nicht in der immer wieder behaupteten Krise. Trotzdem wird wiederholt versucht, den Fortschritt sozusagen schlecht zu machen. Dem will ich entgegenwirken. Marx' Beispiel scheint mir für dieses Unterfangen bestens geeignet zu sein. Die Absicht, den Fortschritt als Kategorie der Verbesserung nachzuweisen, hinterfragt eine wichtige Annahme der gegenwärtigen Marx-Rezeption: die Annahme, Marx sei ein Ambivalenztheoretiker des Fortschritts und hänge einer ähnlichen Auffassung von Fortschritt an wie sein Freund Engels, der sich in einer weit zurückreichenden und „bis heute dauernde[n] Epoche" zu leben wähnt, „in der jeder Fortschritt zugleich ein relativer Rückschritt, in dem das Wohl und die Entwicklung der einen sich durchsetzt durch das Wehe und die Zurückdrängung der Andern". (Ursprung der Familie, MEGA 1/29, 179f./MEW 21, 68) Ganz sicher hält Engels diesen vermeintlich differenzierten Fortschrittsbegriff für eine besondere Erkenntnis der materialistischen Geschichtsauffassung. Der Gedanke, Fortschritt sei eine in sich widersprüchliche Entwicklung, die gut und böse in sich vereint und in diesem Sinne ambivalent ist, scheint im Rückblick auf das 20. Jahrhundert, einen tiefen Sinn zu ergeben. Es handelt sich um einen Gedanken, so könnte man mit Wittgenstein formulieren, den wir geneigt sind zu akzeptieren (etwa weil er sich vernünftig anhört, oder weil er unserer Erfahrung zu entsprechen scheint). In diesem Punkt ist mein Ziel sozusagen die Immunisierung der Marxschen Theorie gegen die überaus populäre Idee, Marx konzipiere Fortschritte durchweg als ambivalente Prozesse. Kritisch auseinandergesetzt werden soll vor allem die Vorstellung, diese Ambivalenz sei das Fundament seiner ,Dialektik des Fortschritts'. Abschließend möchte ich die Verfahrensweise der systematischen Rekonstruktion hier noch einmal kurz erläutern. Und das nicht zuletzt, weil Roberto angibt, er sei sich trotz des enormen Umfangs der bisherigen Literatur zu Marx keines Schriftstellers bewusst, „who ever attempted to examine Marx's views on progress in a systematic way" (2001, 12), um diese Aufgabe dann bereitwillig zu übernehmen. Ich kann mich allerdings eines gewissen Zweifels hinsichtlich des systematischen Charakters von Robertos Untersuchung nicht erwehren. Roberto konzentriert sich für meinen Geschmack zu sehr auf Marx' revolutionäre Aktivitäten. Mit anderen Worten: er weiß mehr über Marx'
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EINLEITUNG
progressives Weltbild zu berichten, als über dessen Arbeit am Begriff Fortschritt. Dieses Weltbild liefert aber nicht die schwergewichtigsten Gründe, warum der Marxsche Fortschrittsbegriff - unabhängig vom Marxschen Progressivismus - auch heute noch aktuell ist. Und wenn, wie Marx im Fall Spinoza beobachtet, schon bei Systemdenkern der „wirkliche innere Bau seines Systems ganz verschieden [ist] von der Form, in der es ihm bewußt dargestellt war" (an Lassalle, 31. Mai 1858, MEGA III/9, 155/MEW 29, 561), dann gilt das erst recht für Denker, die, wie er selbst, kein System schaffen. Die Rekonstruktion des Marxschen Fortschrittsbegriffs, die mir vorschwebt, bezieht sich daher auf den Zusammenhang der in diesen Begriff verwickelten Gedanken und darauf, wie dieser Begriff sich angesichts der ausdrücklich kritisch intervenierenden Marxschen Vorgehensweise darstellt. Diese meine Arbeitsweise ist systematisch', weil sie untersucht, wie sich ein bestimmter Begriff aus seinen theoretischen Bedingungen ergibt. Das bedeutet, dass die Entstehung des originellen Fortschrittsbegriffs als das Resultat diverser theoretischer Kritiken nachvollzogen wird: die Hegel-Kritik und allgemein die Spekulations-Kritik, die Kritik des Feuerbachschen Humanismus, die Proudhon-Kritik. Ich versuche zudem, eine Verbindung zwischen diesen Kritiken und den beiden großen Problemfeldern dieser Arbeit herzustellen: der Teleologie- und der Gegensatzproblematik. Anders als beispielsweise Roberto setze ich jedoch weder voraus, dass es Marx in seinen wiederholten Erklärungsversuchen in erster Linie um den gesellschaftlichen oder historischen Universalfortschritt geht, noch dass er durchgängig an einem bestimmten Begriff von Fortschritt festhält. Außerdem werde ich die formale Dimension und die ethische (axiologische) Dimension des Marxschen Fortschrittsdenkens (der Fortschritt als Bewegungsbegriff bzw. Wertbegriff) als Gleichberechtigte behandeln. Das ist entscheidend für die Verteidigung des Marxschen Fortschrittsbegriffs gegen die Ambivalenztheorie und den Heilslehrenvorwurf. Was den Fortschritt als Wertbegriff anbelangt, so soll der Nachweis erbracht werden, dass der moderne Fortschrittsgedanke bei Marx als Kategorie eines eindeutig Guten fortbesteht: als Idealobjektivation. Nur wird man vergeblich nach einer ausführlichen Liste von Marxschen Wertvorstellungen suchen. Es geht der systematischen Rekonstruktion nicht vorrangig darum, WAS Fortschritt inhaltlich repräsentiert (ein Gebiet, auf dem Marx sowieso ungenau ist). Es geht vielmehr darum, WIE der Begriff Fortschritt in der Marxschen Theorie funktioniert und WARUM es dazu kommt, dass er so funktioniert. Die folgenden Kapitel erzeugen vielleicht stellenweise den Eindruck, es ginge gar nicht um den Fortschritt, sondern um etwas anderes: um die Geschichtsphilosophie bei den Junghegelianern und Proudhon, um die Teleologie in der Geschichte, um die Dialektik und den Gegensatz, um die Stellung des Moralischen in der Marxschen Theorie etc. Diese Umwege sind aber ganz unerlässlich, da Marx keine explizite Fortschrittstheorie hinterlässt. Sein Fortschrittsbegriff muss vor dem Hintergrund der jeweils ablaufenden Kritik aus speziellen theoretischen Kontexten heraus rekonstruiert werden. Damit will ich nicht zuletzt einem methodischen Standpunkt Rechnung tragen, den Marx sich schon in der Hegel-Kritik von 1843 erarbeitet, und der ungefähr wie folgt lautet: Eine Untersuchung hat die Logik ihres Gegenstands zu entwickeln. Sie darf ih-
D I E Z I E L E DIESER U N T E R S U C H U N G
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rem Gegenstand nicht einfach eine vorgefertigte Logik überstülpen. In diesem Sinne ist es mein Ziel, die dem Marxschen Fortschrittsbegriff eigens zukommende Logik zu entwickeln. Diese Untersuchung fallt in ideengeschichtliche (Entstehung des Begriffs) und analytische Bereiche (der Fortschritt als Form- bzw. Wertbegriff) auseinander. Zunächst wird der Forschungsgegenstand eingeführt: Das zweite Kapitel erörtert, was unter dem Ausdruck ,der moderne Fortschrittsbegriff' zu verstehen ist. Das dritte Kapitel gibt einen Einblick in die Grundsätze und Hauptinterpretationsmuster der zeitgenössischen philosophischen Rezeption dieses Begriffs im Allgemeinen und des Marxschen Fortschrittsdenkens im Besonderen. Die Kapitel vier bis sechs zur Theorieentwicklung, zur formalen und zur ethischen Dimension des Marxschen Fortschrittsbegriffs bilden zusammengenommen den erweiterten Kern dieser Arbeit. Die Darstellung bewegt sich dabei von Marx' Eingriff in den zeitgenössischen Fortschrittsdiskurs (viertes Kapitel) in Richtung auf den Entwurf eines eigentümlichen Konfliktmodells der Geschichtsentwicklung und des Fortschritts (fünftes und sechstes Kapitel). Gleichzeitig ist das fünfte Kapitel gewissermaßen als Antwort auf die Ambivalenztheorie zu verstehen, das sechste Kapitel als Antwort auf den Heilslehrenvorwurf. Im Übergang von der formalen Dimension im fünften Kapitel zur ethischen Dimension im sechsten verlagert sich der Schwerpunkt der Rekonstruktion zudem von der Gegensatzproblematik auf die Teleologieproblematik. Mit der getrennten Betrachtung dieser beiden Dimensionen behandele ich sie dem methodischen Grundsatz entsprechend als Gleichberechtigte. Trotzdem bleibt kein Aspekt des impliziten aber originellen Marxschen Fortschrittsbegriffs unbeachtet, und so ergibt sich eine systematische Rekonstruktion desselben.
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EINLEITUNG
Vorbemerkung zur Zitierweise Zitiert wird in den meisten Fällen - und soweit der gegenwärtige Stand der Veröffentlichung der Marxschen Schriften das zulässt - zuerst aus der Marx-Engels Gesamtausgabe (MEGA) und dann aus der Marx-Engels Werkausgabe (MEW). Beispielsweise wird an einer Stelle mehrmals hintereinander aus der Kritik des Gothaer Programms zitiert: „Freier Staat - was ist das?" (MEGA 1/25, 21/MEW 19, 27),„Freiheit der Wissenschaft' lautet ein Paragraph der preussischen Verfassung. Warum also hier?" (Ebd., 24/31) Die zweite Klammer verweist nicht auf Seite 31 des 24. Bandes der MEW (eine gängige Zitierweise in der Marxliteratur). Sie verweist zuerst auf Seite 24 des bereits in der ersten Klammer angegebenen MEGA-Bandes 1/25 und dann auf die Seite 31 im entsprechenden Band der MEW.
II
Was ist Fortschritt?
Man erkennt schon am Titel dieser Untersuchung, Fortschritt bei Marx', dass es sich dabei um eine Fallstudie handelt. Fallstudien haben immer dieselbe Struktur: Dieser oder jener Gegenstand stellt sich beim Denker X aus einer Reihe von Gründen auf eine besondere Weise dar. Also muss zuallererst erklärt werden, wie dieser Gegenstand im Einzelnen aussieht. Das ist keineswegs trivial, da er möglicherweise von vornherein mit ihm eigentümlichen Problemen behaftet ist - Probleme, die ihm ganz unabhängig davon zukommen, wie er von dem jeweiligen Denker behandelt wird. Aus diesem Grund beschränken sich Fallstudien niemals allein auf das AufeinandertrefFen eines bestimmten Gegenstandes mit der Art und Weise, wie dieser sich unter den von einem bestimmten Denker verursachten besonderen Umständen darstellt, sondern sie gehen unweigerlich über die besonderen Umstände hinaus. Die Aufgabe dieses Kapitels ist es darum, eine Art begriffliche Landkarte oder logische Geographie1 des modernen Fortschrittsbegriffs zu entwerfen, um ein möglichst hohes Maß an Klarheit über den zur Diskussion stehenden Gegenstand zu erlangen.
1.
Allgemeine Begriffsbestimmung
Es gibt im Wesentlichen drei Fortschrittsdiskurse, die Fragen von philosophischem Interesse aufwerfen. Da ist erstens die Vorstellung vom historischen Fortschritt, die von der Frage ausgeht, ob die Geschichte der Menschheit auf den politischen, moralischen und künstlerischen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens einen erkennbaren Wandel aufweist, der als Verbesserung bewertet werden kann. Welche Form hat dieser Fort1
Diesen Terminus entlehne ich Gilbert Ryles The Concept of Mind. Ryle beabsichtigt nicht die Erweiterung des bereits bestehenden Wissens über den Geist; er hinterfragt die logische Geographie dieses Wissens, indem er untersucht, wie sich mentale Begriffe zueinander verhalten.
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W A S IST FORTSCHRITT?
schritt? Ist er endlich oder unendlich? Ist er irreversibel? Die Vorstellung vom historischen Fortschritt reicht möglicherweise bis zu den Ursprüngen der abendländischen Geistesgeschichte zurück. Als erster soll jedenfalls der Vorsokratiker Xenophanes vor gut zweieinhalb Tausend Jahren eine Idee von Fortschritt formuliert haben: „Wahrlich nicht von Anfang an haben die Götter den Sterblichen alles enthüllt, sondern allmählich finden sie suchend das Bessere." (1956, 21 Β 18, 133)2 Ein weiterer wichtiger Fortschrittsdiskurs findet vor allem innerhalb der Philosophie der Wissenschaft statt. Zum Thema des wissenschaftlichen Fortschritts sind vor allem in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts unzählige Bücher geschrieben worden. Die bekannteste dieser Schriften ist vielleicht Thomas Kuhns The Structure of Scientific Revolutions (1962). In vielen dieser Schriften wird man nicht einmal eine Definition von Fortschritt finden. Sie tendieren dazu, das Wissen der Leser um die Bedeutung von .Fortschritt' vorauszusetzen. Eigentlich handelt dieser Diskurs auch nicht vom Fortschritt selbst, sondern von den Zielen der Wissenschaft, und vom Charakter ihrer Entwicklung. Schließlich hat sich die Philosophie wiederholt die Frage gestellt, ob sie selbst in irgendeiner Weise Fortschritte macht. Für Hegel begreift Philosophie die Dinge in ihrer Entwicklung und ist als solche selbst der Entwicklung unterworfen: „denkende Entwicklung. Je weiter diese Entwicklung gediehen, desto vollkommener ist die Philosophie." (1986, 46) Die Frage nach den Fortschritten der Philosophie geht bis zu den Anfängen des modernen Denkens zurück, als die Philosophie und die Wissenschaften noch nicht so streng voneinander unterschieden wurden wie das heutzutage üblich ist. Sie findet einen typischen Ausdruck in Kants Schrift Über die von der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1791 ausgeschriebene Preisfrage: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat? Nur beschäftigen sich Untersuchungen dieser Art primär mit der Frage, welche die Aufgaben der Philosophie sind und weniger mit dem Problem des Fortschritts selbst. Der Fortschritt der Philosophie ist auch ein Thema von Marx' und Engels' Schrift Die heilige Familie, wo schon in der Vorrede die „Illusionen der spekulativen Philosophie" als die eigentliche Zielscheibe der Kritik ausgemacht werden: „Unsere Darstellung ist natürlich durch ihren Gegenstand bedingt. Die kritische Kritik steht durchgehends unter der schon erreichten Höhe der deutschen theoretischen Entwicklung." (MEW 2, 7) Diese verschiedenen Fortschrittsdiskurse entsprechen verschiedenen Vorstellungen von Fortschritt. Ich befasse mich im Folgenden fast ausschließlich mit Fortschritt im ersten Sinne, das heißt mit Marx' Vorstellung vom historischen oder gesellschaftlichen Fortschritt. Grundlegend für die Untersuchung von Marx' Verhältnis zum Fortschrittsbegriff ist aber zunächst die Aufklärung der Bedeutung von .Fortschritt'. 2
Xenophanes ist durch konkrete Fortschrittserfahrungen wie die Erfindung der Münzprägung und die astronomischen Entdeckungen des Thaies geprägt. Er ist außerdem ein weit gereister Mann und kommt vermutlich durch den Vergleich verschiedener Kulturen (Thraker, Äthiopier) zu seiner Vorstellung von Fortschritt (vgl. Rapp 1992, 109f.).
ALLGEMEINE BEGRIFFSBESTIMMUNG
a.
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Analyse des Begriffs Fortschritts
Der Künstler Asger Jörn bezeichnet die Fortschrittsidee als „die grundlegende Idee dessen, was man mit Recht die Kultur des Abendlandes nennt" (1990, 98). Es gibt allerdings eine lang anhaltende Diskussion darüber, wie weit diese Idee historisch zurückreicht. Kannte die Antike eine Vorstellung oder einen Begriff vom Fortschritt?3 Ist es sinnvoll, von vormodernen Fortschrittsvorstellungen zu sprechen, obwohl sich das Wort .Fortschritt' in seiner jetzigen, modernen Bedeutung erst im 18. Jahrhundert herausbildet?4 Zur Diskussion steht neuerdings auch, ob die Fortschrittsidee ein spezifisch 3
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Dazu schreibt Nisbet: „No single idea has been more important than, perhaps as important as, the idea of progress in Western civilization for nearly three thousand years." (1980, 4) Die Antike kennt aber kein echtes semantisches Äquivalent zu unserem Fortschrittsbegriff. Das griechische Wort epidosis ist ein metaphorischer Ausdruck für den Wissenszuwachs im guten wie im schlechten Sinne. In der Stoa bezeichnet prokopé einen individuellen Fortschritt zum Weisewerden, und in verallgemeinerter Form sogar ein auf die Zukunft gerichtetes Fortschreiten. Dieser Terminus wird dann von Cicero als progressus/progressio ins Lateinische aufgenommen (vgl. Rapp 1992, 104). Eine ausführliche Abwägung der Ergebnisse der Forschung zu den antiken Wurzeln des Fortschrittsgedankens findet sich bei Burkert (1997, 17-46). Im Französischen hat .progrès' bald die Bedeutung einer erfolgreichen Verbesserung. In Deutschland sind .Fortgang', .Fortdauer', ,Fortrücken', selbst .Fortschreiten', allesamt älter als der .Fortschritt'. Besonders weit verbreitet war .Fortgang' als der überwiegende Bewegungsausdruck des 18. Jahrhunderts, der sich jedoch eng an natürliche Abläufe hielt, und für den es sich nicht von selbst verstand, dass er eine Verbesserung bezeichnete. Um den englischen Leitbegriff .improvement' wiederzugeben wurde der .Fortgang' oft mit dem .Wachstum' in Verbindung gebracht (Koselleck, 1979a, 384, 386, 387) Der erste Wortbeleg für .Fortschritt' ist bei Paul Fleming, Auff Herrn Johann Michels sein Doctorat, Poetische Wälder, Glückwünschungen: „Des Himmels runter Lauff/der Fortschreit der Planeten" {Ternsche Poemata, Lübeck 1642, 62, zit. n. Koselleck 1979a, 385). Als sich der .Fortschritt' im späten 18. Jahrhunderts allmählich einbürgert, „entbehrte [er] zwar jener Klarheit, die Bewegung und Zielqualität zugleich erfaßt wie das englische .improvement' oder das alte deutsche Wort .Verbesserung'. Aber indem .Fortschritt' die Bedeutung bloßer Bewegung zunehmend dem alten .Fortgang' überließ, versammelte er in sich die irreversible Steigerungsfähigkeit zum Besseren mit gleitender Zielbestimmbarkeit." (Koselleck 1979a, 387) Maßgeblich mitverantwortlich für die Entstehung des modernen Fortschrittsbegriffs ist Immanuel Kant. Vermutlich wurde der Terminus .Fortschritt' in der Schrift Die Frage, ob die Erde veralte, physikalisch erwogen (1754) sogar von Kant geprägt: „Die Natur unserer Erdkugel hat in dem Fortschritte ihres Alters in allen ihren Teilen nicht eine gleiche Stufe erreichet. Einige Teile derselben sind jung und frisch, indessen daß sie in andern abzunehmen und zu veralten scheinet." (1922, 204) In einem geschichtsphilosophischen Sinne verwendet Kant den Begriff freilich erst später, zum Beispiel in den neun Thesen der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), und dann im Streit der Fakultäten (1798). Das englische Wort .progress' ist seit dem 15. Jahrhundert - also erheblich länger - im Sprachgebrauch. Es leitet sich vom lateinischen Vorgänger progressus her, was soviel bedeutet wie .vorwärts gehen', zusammengesetzt aus dem lateinischen pro - .vorwärts', und der Vergangenheitsform des lateinischen gradi - .schreiten'. .Progress' hatte anfangs keine normative Bedeutung und beschrieb eine erkennbare Abfolge von Vorfallen oder Stadien, zum Beispiel den .progress of a disease'. Später, als auch Wörter wie ,history' und civilization' allmählich eine neue Bedeu-
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W A S IST FORTSCHRITT?
abendländisches (westliches) Kulturphänomen ist, und wie andere Kulturen zu ihr stehen, sollte dies der Fall sein.5 Auf diese Fragen kann hier nicht weiter eingegangen werden, denn das würde den Rahmen der Untersuchung sprengen. Statt dessen möchte ich mit der Analyse des besonderen Fortschrittsbegriffs beginnen, mit dem wir heute umgehen. Begriffsanalyse ist die Strategie, einen Begriff durch einen anderen Begriff informativ zu erläutern. Außerdem ist es die Zerlegung eines Begriffs in seine logischen Elemente. Als erstes Element ist in diesem Zusammenhang der Optimismus zu nennen (von lat. optimum - das Beste). Was nämlich zweifelsfrei feststeht ist, dass der moderne Fortschrittsbegriff ursprünglich Ausdruck einer optimistischen Geisteshaltung und Weltanschauung ist. Der Begriff des Optimismus wurde von französischen Jesuiten geprägt, die damit gegen Leibniz' Theodicée polemisierten. Im gegenwärtigen Gebrauch hat der Optimismus eine etwas andere Bedeutung und meint eine umfassende positive Stimmung oder eine positive Haltung im Blick auf den Sinn oder den Wert der menschlichen Existenz oder gar auf den Lauf der Welt. Rescher unterscheidet drei Formen des Optimismus ausgehend davon, wie sie jeweils den Zustand der Gegenwart beurteilen: Im actuality optimism (Aktualitätsoptimismus) drückt sich der Glaube aus, die gegenwärtige Ordnung sei gut, so wie sie ist. Der tendency optimism (Tendenzoptimismus, auch Meliorismus genannt) geht davon aus, dass die gegenwärtige Ordnung zum Guten tendiert, dass sich also die Lage zusehends verbessern wird. Der prospect optimism (Möglichkeitsoptimismus) nimmt an, dass die gegenwärtige Ordnung verbessert werden kann, wenn die Menschen entsprechend handeln (1997, 110).6 Auch das Denken von Karl Marx beruht sicherlich zu einem großen Teil auf der geistigen Grundlage des Optimismus. Gleichzeitig ist sie von einer überaus kritischen Einstellung gegenüber der Gegenwart gekennzeichnet, da Marx ja nicht der „Weisheit der modernen Oekonomen" folgend „die Ewigkeit und Harmonie der bestehenden socialen Verhältnisse beweisen" will (Einleitung 1857, MEGA II/l.l, 23/MEW 42, 21). Marx sieht es ganz und gar nicht als seine Aufgabe an, das Bestehende als Ganzes zu
5
6
tung erhielten, setzte sich die normative Bedeutung auch für progress durch (Williams 1988b, 244). Unter der Überschrift ,Der Begriff Fortschritt in unterschiedlichen Kulturen' fand zu diesem Thema im November 2004 in Berlin eine vom Goethe Institut und der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit organisierte internationale Konferenz statt. Daraus entwickelte sich ein gleichnamiges Projekt (siehe www.fortschritt-weltweit.de). Rescher ordnet den Marxismus aufgrund seiner „eschatological posture" dem Tendenzoptimismus zu (1997, 111). Für manche Strömungen des Marxismus mag das sogar zutreffen. Zum Aktualitätsoptimismus fallt einem natürlich sofort Leibniz und die Theodizee ein. Der klassische Verfechter des Aktualitätsoptimismus ist aber Piaton. Im Timaios (30a) behauptet er, der Grund Gottes für die Erschaffung der Welt, wobei ihm das Vollkommene als Vorbild dient, sei seine Güte und sein Bestreben, die bestehende kosmische Unordnung durch Ordnung zu ersetzen: „Indem nämlich der Gott wollte, daß alles gut und nach Möglichkeit nichts schlecht sei, so nahm er also alles, was sichtbar war und keine Ruhe hielt, sondern in ungehöriger und ordnungsloser Bewegung war, und führte es aus der Unordnung zur Ordnung, da ihm dieser Zustand in jeder Beziehung besser schien als jener." (1990, 37f.)
ALLGEMEINE BEGRIFFSBESTIMMUNG
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verteidigen oder ihm einen positiven Charakter nachzuweisen (Aktualitätsoptimismus). Was sein Fortschrittsdenken anbelangt, so können darin also nur Elemente des Tendenzoptimismus und des prekäreren Möglichkeitsoptimismus enthalten sein. Und in diesen beiden Begriffen ist jeweils der Gedanke an eine Bewegung enthalten. Von seiner formalen Seite her betrachtet ist der Fortschritt immer ein Bewegungsbegriff. Nun wird immer wieder behauptet, Dreh- und Angelpunkt allen Fortschritts sei die Gegenwart, von der aus dann zukünftige Entwicklungen als Verbesserungen beurteilt werden. An diesem Gedanken brauchen wir uns nicht festklammern. Unter dem modernen Begriff des Fortschritts ist vielmehr eine Bewegung zu verstehen, die von einem bestimmten Zustand entweder der Gegenwart oder der Vergangenheit ausgeht. Unabhängig von ihrem Ausgangspunkt ist den von dieser Bewegung beschriebenen Entwicklungen immer ein Ziel gesetzt. Aber sie sind deshalb nicht notwendigerweise finalistische Bewegungen, weil sie nicht mit der Erreichung dieses Zieles ,enden' müssen. Das Besondere am modernen Fortschrittsbegriff ist gerade seine Unbegrenztheit und also zeitliche Offenheit. Schon Leibniz' formales Fortschrittskriterium besagt, dass einer Substanz „ein größter Vollkommenheitsgrad zugeschrieben werden kann, unter den sie im Folgenden niemals absteigen wird, und nachdem einige Zeit vergangen ist, ein anderer, der größer ist als der vorhergehende". (1694/96, 369f.) Als locus classicus dieser Vorstellung gilt immer noch Fontenelles Essay , Digression sur les anciens et les modernes' von 1688. Die Menschen, heißt es dort, werden niemals entarten und das Wachstum und die Entfaltung der menschlichen Weisheit werden kein Ende finden.7 Als weiteres typisches Beispiel für den kontinuierlichen Weg der Vervollkommnung ohne zeitlichen Abschluss wird außerdem immer wieder Condorcets zur Zeit der Französischen Revolution verfasster Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain angeführt. Wenn Fortschritt also nicht unbedingt als eine finalistische Bewegung vorgestellt werden muss, die in einem festen Zeitpunkt ein Ende nimmt, so ist er doch in jedem Fall eine gerichtete Bewegung, welche die Überwindung des Gegebenen und die Entstehung eines erstrebenswerten Neuen beschreibt. Dieses Neue ist das innovative oder produktive Element des Fortschritts - und tatsächlich verhält es sich in den meisten Fällen so, dass es von dem darauf hoffenden Autor in der Zukunft angesiedelt wird. Problematisch ist nur, dass diese Zukunftsorientierung im Nachdenken über den Begriff Fortschritt bis zur These verallgemeinert worden ist, das Fortschrittsdenken sei grundsätzlich vorausschauend und prophezeiend. Kant spielt auch in dieser Deutung von Beginn an eine entscheidende Rolle. Wenn man nämlich die Frage nach dem Fortschritt so stellt, wie er es im Streit der Fakultäten tut - ,Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Bessern sei?' - , dann kann freilich die Antwort auf die Frage nach dem Erkenntniswert der Fortschrittskategorie (,Was will man hier wissen?') nur so lauten:
7
„... que les hommes ne dégénérant jamais, et que les vues saines de tous les bons esprits qui se succéderont, s'ajouteront toujours les unes aux autres." (1968, 362)
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„Man verlangt ein Stück von der Menschengeschichte, und zwar nicht das von der vergangenen, sondern der künftigen Zeit, mithin eine vorhersagende, welche ... wahrsagend und doch natürlich, kann sie aber nicht anders, als durch übernatürliche Mitteilung und Erweiterung der Aussicht in die künftige Zeit erworben werden, weissagend (prophetisch) genannt wird." (1798, A131, 351)8 Die These, die Rede vom Fortschritt basiere grundsätzlich auf einem vorausschauenden, .prophezeienden' Urteilen a priori, schlägt sich in dem Gedanken nieder, der Fortschritt müsse sich im Dreischritt Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft vollziehen. Die Vergangenheit erscheint hier nur als Vorstufe für die jeweilige Gegenwart, die ihrerseits verzeitlicht und in den Dienst darauffolgender Zustände genommen wird. Marx macht es anders. Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen vernachlässigt er die retrospektive Dimension keineswegs; sein Beitrag zur Erneuerung des Fortschrittsgedankens besteht u. a. darin, dass er den Fortschritt vor allen Dingen als rückblickende Urteilskategorie verwendet. Der Wert des im Fortschritt verheißenen Neuen ist klar festgelegt: es stellt in jedem Fall eine Verbesserung dar, manchmal im Sinne eines Aufsteigens zu Höherem bis zur obersten Stufe. Dieses Besser bzw. Höher positioniert den Fortschritt eindeutig auf der Seite des Guten im zentralen Kategorienpaar der Wertorientierung: gut - schlecht bzw. böse. Als Wertbegriff ist der Fortschritt daher „ein guter Begriff' (Bloch 1977, 118). Mit der Idee des Fortschritts denken wir nicht irgendeine Veränderung, sondern die historische Bewegung des Guten oder die Bewegung in Richtung auf ein Gutes: die Verbesserung. „Progress is not just a matter of change but of change in a direction of betterment of some sort, not of change per se but of improvement." (Rescher 1997, 103)9 8
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In seiner Schrift Mutmasslicher Anfang der Menschheitsgeschichte prophezeit Kant selbst der „Gattung", ihre „Bestimmung" bestehe „in nichts als im Fortschreiten zur Vollkommenheit", in einem beständigen „Fortschritt vom Schlechtem zum Besseren" (1786, A13, 92). In seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht schreibt er: „Man kann die Geschichte der Menschengattung im Großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich- und zu diesem Zwecke auch äußerlich-vollkommene Staatsverfassung zustande zu bringen" (1784, A403, 45). Diese Verfassung sei der einzige Zustand, in welchem alle Menschen ihre Anlagen entwickeln können. Lässt sich die Existenz dieses ,Plans' irgendwie beweisen? Nur „etwas weniges" (ebd., A404, 45) lässt sich davon entdecken. Mit was für einem .Plan' haben wir es also zu tun? - Mit der ,Idee der Weltgeschichte' als „Leitfaden a priori" (ebd., A410, 49). In seinem Absehen von der Empirie legt Kant sich diesen Leitfaden nach Belieben aus. Das „planlose Aggregat menschlicher Handlungen" (ebd., A408, 48), das ihm ohne diese Konstruktion begegnen würde, will ihm nicht gefallen, da es auf alles mögliche verweist, nur nicht auf die planmäßige Entwicklung in Richtung auf die „vollkommene bürgerliche Vereinigung" (ebd., A407, 47) der Menschheit, deren Zeuge er gerne wäre. Wenngleich keine Einigkeit darüber herrscht, wie sich frühere Zeitalter zur Fortschrittsidee verhielten, oder ob sie überhaupt eine Vorstellung von Fortschritt hatten, so kann die Verwendung der Fortschrittsidee mit der Bedeutung .Verbesserung' bis Francis Bacon zurückdatiert werden -
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Fortschritt bedeutet Verbesserung, das heißt: Fortschritt definiert sich als Verbesserung. Die Definition eines Wortes erfüllt normalerweise vier Bedingungen. Sie besteht erstens aus dem, was zu definieren ist: dem definiendum. Zweitens gibt sie den Ausdruck, der den genus (die höhere Klasse) bezeichnet, zu der das zu Definierende gehört. Drittens gibt sie differentia des genus an. Beispielsweise ist ein Dreieck eine zweidimensionale geometrische Figur (genus), die von drei geraden Seiten (differentia) eingegrenzt wird. Schließlich gibt die Definition ein definiens an: einen Ausdruck von dem angenommen wird, er sei mit dem definiendum synonym und daher damit austauschbar. Für das definiendum Fortschritt' bedeutet dies: die .Geschichte' ist dem Fortschritt als genus übergeordnet; Rückschritt oder Stillstand sind Beispiele von differentia zum Fortschritt; das ergibt sich wiederum schon daraus, dass schließlich die Verbesserung das definiens des Fortschritts ist. Schon Locke hat allerdings folgenden Einwand vorgebracht: „Languages are not always so made, according to the Rules of Logick, that every term can have its signification exactly and clearly expressed by two others." (1975, 413) Manche Wörter können überhaupt nicht mit anderen Wörtern definiert werden, argumentiert Locke und denkt dabei an „names of simple ideas" (ebd., 412f.). So wird ein Ausdruck wie ,blau' am besten definiert, indem man auf Beispiele verweist. Was verbal - logisch - definiert werden kann ist also ausschließlich die Bedeutung eines Wortes. Wir können aber davon ausgehen, dass eine solche logische Definition des Fortschritts als Verbesserung möglich ist. Ich begründe diese Annahme damit, dass wir das Wort Fortschritt' fast schon intuitiv als Bezeichnung für Verbesserungen erkennen und es dementsprechend verwenden. Das gilt auch für diejenigen, die dem Fortschrittsgedanken kritisch gegenüber stehen. Das erkennt man daran, dass ihre Thesen immer Versionen von Sätzen sind, die letztlich besagen: ,Die Verbesserung verkehrt sich in ihr Gegenteil' oder ,Die Verbesserung findet nicht wirklich statt'. Ich schlage darum vor, den Fortschrittsbegriff in seiner modernen Ausprägung als das zu betrachten, was Agnes Heller einen ,reinen Wert' nennt. Werte wie die Liebe, das Glück oder die Freiheit sind ,rein', weil sie bereits in ihrem Begriff eine Präferenz enthalten, die sie nicht abschütteln können. Sie setzen ihre Bedeutung daher wie selbstverständlich voraus. Solche reinen Werte nennt man Idealobjektivationen. Ein Mensch kann das Glück wertschätzen, ohne jemals selbst glücklich gewesen zu sein, die Liebe, ohne jemals geliebt zu haben, usw. (vgl. Heller 1972, 39). Aber es gibt keine böse Liebe und kein schlechtes Glück. Genauso wenig kann es einen schlechten Fortschritt geben. Was es in der Tat gibt, sind historische Verschlechterungen aller Art und die entsprechenden Wörter oder Werturteile, mit denen sich solche Entwicklungen beschreiben und begreifen lassen: also die Rede vom Niedergang, vom Verfall, usw. Das krasse Gegenteil zum Fortschritt wird mit dem Wort ,Rückschritt' ausgedrückt. Mit dem Fortschritt verbindet diesen Begriff in der deutschen also mindestens vierhundert Jahre. Edgar Zilsel hat sogar noch weiter zurückliegende Texte ausgegraben, die der Idee vom Fortschritt als sektorale .Besserung' oder .Verbesserung' Ausdruck verleihen. Beispiele sind die Abhandlung über das Handwerk des spätgotischen Baumeisters Mathias Roriczer (1486) oder Albrecht Dürers Buch über menschliche Proportionen (1528) und weitere ähnliche Dokumente aus dem 16. Jahrhundert (Zilsel 1985, 134ff.).
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Sprache lediglich die gemeinsame etymologische Herkunft aus dem ursprünglich wertneutralen ,Schreiten'. Mit anderen Worten: Der Fortschritt ist von vornherein als ein positiver, affirmativer Wert konstituiert. Reine Werte sind hinsichtlich ihrer Bedeutung universelle Werte. Eine Entwicklung als fortschrittlich zu bewerten heißt, sie zu bejahen und gutzuheißen, weil sie in einer bestimmten Zeit auf einem bestimmten Gebiet zu einem größeren Grad an Vollkommenheit führt. Fortschritt bedeutet: Verbesserung - die Bewegung des Guten. Diese Bedeutung steht seit Jahrhunderten. Sie wird von allen an der Diskussion um den modernen Fortschrittsgedanken Beteiligten mehr oder weniger spontan vorausgesetzt. Fortschritt ist in diesem Sinne ein objektiver Gedanke, der nicht nur einzelnen Menschen, sondern allgemein zugänglich ist. In den verschiedenen Fortschrittsdiskussionen wird auch nicht um die Bedeutung des modernen Fortschrittsgedankens gerungen, sondern sozusagen um die Bedeutung dieser Bedeutung. Denn selbstverständlich haben verschiedene Menschen unterschiedliche Vorstellungen davon, wie diese zweite Bedeutung auszulegen ist. Strittig ist also nicht, dass mit dem Fortschritt konkrete Verbesserungen bezeichnet werden, sondern allein, was darunter nun wieder zu verstehen sei. Nicht die Bedeutung von Fortschritt unterliegt einem Wandel, sondern das, was man den Sinngehalt von Fortschritt nennen könnte. Welche Inhalte oder Werte mit dem Wort .Verbesserung' in Verbindung gebracht werden hängt natürlich von dem jeweiligen historischen und kulturell-moralischen Kontext ab, in dem es gebraucht wird. Der Fortschritt setzt einen Zustand relativer Unvollkommenheit voraus, denn nur das Unvollkommene bedarf der Verbesserung. Noch genauer ausgedrückt steht der Fortschritt für den Vorgang der Verbesserung in der Lebenswelt der Menschen nicht aber der Natur oder der Welt schlechthin. Man spricht darum gemeinhin vom Fortschritt in Bezug auf Bereiche menschlichen Denkens und Handelns, wobei für gewöhnlich die Erkenntnis, die Moral (einschließlich der Politik) und die Kunst als diejenigen Bereiche angesehen werden, die dem Fortschritt gegenüber besonders aufgeschlossen sind. Wie schon Adam Smith feststellt, ist das Fortschreiten außerdem gerade auch „for the labouring poor" eine angenehme und glückliche Bewegung. Mit The Wealth of Nations verfasst Smith ein weltbekanntes und auch von Marx bewundertes und ausgiebig studiertes Epos des aufgeklärten Fortschrittsdenkens. „It deserves to be remarked, perhaps, that it is in the progressive state, while the society is advancing to the further acquisition, rather than when it has acquired its full complement of riches, that the condition of the labouring poor, of the great body of the people, seems to be the happiest and the most comfortable. It is hard in the stationary, and miserable in the declining state. The progressive state is in reality the cheerful and the hearty state to all the different orders of the society. The stationary is dull; the declining melancholy." (1976, 90f.) Damit ist noch einmal hervorgehoben, was Fortschritt nicht ist: Er ist weder Stillstand noch ist er eine Bewegung, die eine mit der Verbesserung in Konflikt stehende Bedeutung hat, wie der in Verfallstheorien Verwendung findende Rückschritt oder der
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Niedergang. Diese Passage macht außerdem noch etwas anderes deutlich: Der Fortschritt ist nicht nur hinsichtlich seiner Bedeutung ein reiner Wert. Die Idealobjektivation Fortschritt ergibt sich nicht allein daraus, dass irgendein logischer Befund gebietet: Fortschritt darf ausschließlich Verbesserung bedeuten und sonst nichts! Smiths Äußerungen belegen vielmehr, dass spätestens seit der Aufklärung über Fortschritt im Sinne von Verbesserung gesprochen wird. Das ist heute noch der Fall und gilt, wie gesagt, auch für diejenigen, die dem Fortschritt ablehnend gegenüberstehen - und die sind mittlerweile in der Mehrzahl. Die vielleicht gründlichste und umfassendste Studie zum Fortschrittsbegriff ist Friedrich Rapps Fortschritt: Entwicklung und Sinngehalt einer philosophischen Idee.10 Auch Rapp definiert den Fortschritt als Verbesserung: Fortschritt sei der Gedanke, „die Zeit bringe eine grundsätzliche und beständige Veränderung der menschlichen Verhältnisse zum Besseren" (1992, 12; ditto Salvadori 2008, 14). Aber diese Definition führt mit den Adjektiven ,beständig' und ,menschlich' zwei weitere Faktoren ein, in denen sich eine andere Form der Universalität von Fortschritt andeutet als diejenige, von der bisher die Rede war. Aufgrund dieser Definition muss Rapp nämlich den Schluss ziehen, das Fortschrittsdenken sei „der großangelegte Versuch, den Gegensatz zwischen Absicht und Wirkung aufzuheben und ... Widersinn, Zufall und Unvorhersehbarkeit aus der Geschichte zu verbannen". Und so stehe „alles, was geschieht" „im Dienst des allgemeinen Fortschritts" (ebd., 15). Wenn diese Definition von Fortschritt also die zwei Prinzipien der zeitlichen Dauerhaftigkeit und der räumlichen Universalität der Verbesserung betont, dann ist damit akkurat die Hauptstoßrichtung des modernen Fortschrittsdenkens zusammengefasst (zum Beispiel Hegel, Comte, Engels, Spencer), nicht aber das moderne Fortschrittsdenken in seiner Gesamtheit. Ich werde argumentieren, dass im Marxschen Fortschrittsdenken gerade diese beiden Prinzipien in Frage gestellt werden. Heute darf allgemein angezweifelt werden, dass ihnen wirklich der Platz gebührt, der ihnen in der Regel in der Rezeption des modernen Fortschrittsdenkens zugewiesen wird. Es sind dies auch immer schon die zwei für die Glaubwürdigkeit des Fortschrittsdenkens gefährlichsten Prinzipien gewesen, da selbstverständlich die Behauptung, die ganze Menschheit erfahre auf allen Bereichen einen Prozess andauernder Verbesserung, aus heutiger Sicht übertrieben optimistisch erscheinen muss. Solche Definitionen des Fortschritts begreifen also einerseits sicherlich eine historische Form des Fortschrittsdenkens; andererseits entfalten sie aber, wenn sie verallgemeinert werden, oftmals eine etwas unglückliche literarische Wirkung. Ja, sie tragen gegebenenfalls sogar dazu bei, das Fortschrittsdenken in Verruf zu bringen. Wer den Fortschritt in der heutigen Zeit als beständige und universelle Ver-
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Weitere nennenswerte historische und/oder analytische Studien zum Fortschrittsbegriff sind Joachim Ritters Aufsatz Fortschritt' im Historischen Wörterbuch der Philosophie (1972, 1032-1059), Reinhart Kosellecks gleichnamiger Aufsatz in Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland (1979a, 351-423), Johannes Rohbecks Die Fortschrittstheorie der Auflclärung (1987) und der Eintrag .Fortschritt' von W.F. Haug und Tilman Reitz im Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus (1999, 702-744).
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besserung definiert, der spricht ihm selbst dann etwas Zweifelhaftes zu, wenn dies nicht beabsichtigt sein sollte. Ausgenommen von dem, was bisher über den Fortschritt gesagt wurde, ist die nichtaxiologische Variante des Fortschritts, auch genetischer Fortschrittsbegriff genannt. Der als Verbesserung definierte Fortschritt muss von Bewegungskategorien wie Entwicklung, Wandel oder Veränderung unterschieden werden. Trotzdem wird Fortschritt in der Alltagssprache sehr oft auch im Sinne dieser Kategorien verwendet. Gemeint ist aber jetzt nicht die Bewegung des Guten, sondern der irreversible Verlauf alles Geschehens in der Zeit, das Hervorgehen der jeweiligen Gegenwart aus der Vergangenheit. Dieser zeitliche Fortgang ist ein Naturgesetz allen realen, historischen Geschehens, und als solches hat er keinen Wert an sich. Ganz wertneutral ist aber auch der genetische Fortschrittsbegriff nicht. Nur bewertet er Entwicklungen nicht nach einem qualitativen Maßstab (das Besser oder Höher), sondern eben nach einem rein quantitativen (das Mehr). Marx verwendet den genetischen Fortschrittsbegriff sehr häufig, allerdings speziell im ökonomietheoretischen Zusammenhang um Wachstums- oder Ausbreitungsprozesse zu beschreiben.
b.
Kategoriale Einordnung des Fortschritts
Wer fragt ,Was ist Fortschritt?', fragt nicht nur nach dem Ausdruck oder dem Begriff .Fortschritt', sondern auch nach den Existenzbedingungen und den Seinsweisen von konkreten Verbesserungen. Zur allgemeinen Bestimmung des Fortschrittsbegriffs gehört deshalb nicht nur die Analyse und die Darstellung seiner Bedeutung, sondern auch eine kategoriale Einordnung. Zunächst stellt sich die Frage, welcher Zweig der Wissenschaft oder der Philosophie die Fortschrittsproblematik behandeln soll. Für gewöhnlich wird der Fortschritt als Kategorie der theoretischen Geschichtsbetrachtung angesehen. Für diese Beschränkung gibt es eigentlich keinen Grund, weil der Fortschritt mit unseren Vorstellungen vom Guten ebensoviel zu tun hat wie mit unseren Vorstellungen von der Geschichtsentwicklung. (Zumal sich die zeitgenössische Philosophie für den Fortschritt weniger im Zusammenhang mit dem Geschichtsbegriff interessiert, und sich mit ihm speziell im Blick auf Begrifflichkeiten wie ,Wahrheit' und .Wissenschaft' auseinandersetzt - etwa wenn ihre Aufgaben oder der Charakter ihrer Entwicklung diskutiert werden.) Sinnvoller ist es meiner Meinung nach, im Fortschritt 1.) eine Kategorie der Bewegung und 2.) eine Kategorie der moralischen Anschauung zu sehen. Es handelt sich hier sozusagen um die formale Konstante bzw. um die axiologische Konstante des Fortschritts. Und es ist durchaus sinnvoll, hier von Konstanten zu sprechen, also von durchgängig wirksamen Qualitäten. Denn eine Bewegung, der nicht der Wert der Verbesserung beigemessen wird, hat nichts mit der besonderen Form des ,Schreitens' zu tun, die Fortschritt genannt wird. Darum versteht man das Fortschrittsdenken am besten, wenn man darin die Verbindung erkennt, die die Vorstellung von einem bestimmten Entwicklungsziel und dessen moralische Bewertung mit der Konzeption der Bewegung dieser
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Entwicklung eingeht. Das Fortschrittsdenken entsteht an der Stelle, wo diese beiden aufeinandertreffen. Die Arbeit an einem einzelnen Fortschrittsbegriff verteilt sich deshalb schwerpunktmäßig auf zwei Felder: Erstens auf die theoretische Geschichtsbetrachtung (worunter ich den Versuch verstehe, den veränderlichen Charakter der sozialen Welt unter allgemeinen Prinzipien zu betrachten und zu erklären); zweitens auf die Ethik. Der Begriff Fortschritt wird aktiviert sobald diese beiden Bereiche in Verbindung miteinander treten. Genau das geschieht in allen großen Dokumenten des Fortschrittsdenkens seit den geläufigen Traktaten der Aufklärung, und eben auch in Marxschen Texten wie dem Kommunistischen Manifest. Freilich muss die Aktivierung des Fortschrittsbegriffs keineswegs wohlwollend sein. Man kann sich leicht vorstellen, dass eine bestimmte Geschichtstheorie in Verbindung mit bestimmten Moralvorstellungen den Fortschritt in schwere Bedrängnis bringt, wenn erstere ergeben sollte, dass die angestrebten Vorstellungen sich nicht verwirklichen lassen. Bekannte Beispiele sind die Zivilisationskritik von Horkheimer und Adorno, zum Beispiel in der Dialektik der Aufklärung, sowie die zahlreichen Abgesänge auf den Fortschrittsgedanken, die selbigen als ein Epochenphänomen oder als ,große Erzählung' abtun, wie beispielsweise Lyotards Das postmoderne Wissen. Beide Schriften werden im folgenden Kapitel als typische Beispiele der zeitgenössischen philosophischen Fortschrittskritik besprochen. Fortschritt ist zunächst eine spürbare, empirische Entwicklungsform. In zweiter Annäherung ist er eine Vorstellung, ein Begriff. Und für das Denken, das in der historischen Entwicklung nicht einen Prozess sieht, der einen von vornherein gegebenen Sinn erfüllt, ist der Fortschritt in erster Linie eine Urteilskategorie, die an empirische Entwicklungen herangetragen wird, um diese zu bewerten. Sobald wir vorausschauend die Entwicklung hin zu einem Noch-nicht-Vorhandenen als etwas Gutes einstufen (als Verbesserung), bemühen wir den Fortschritt als Urteilskategorie; sobald wir rückblickend eine vergangene Entwicklung als Bewegung des Guten einstufen, bemühen wir den Fortschritt als Urteilskategorie. Das Fortschrittsdenken muss kein prophezeiendes Denken sein; es kann theoretisch sogar auf die Vergangenheit beschränkt bleiben. Rapp spricht ausdrücklich von der „Vergangenheit oder Zukunft als Orientierungsgröße" (1992, 39) des Fortschritts. An anderer Stelle unterminiert er indes diese seine Einsicht und behauptet, dass Fortschrittsdenken gehe, da es auf einer Stufe mit der Idee der Vorhersehung und der individuellen Unsterblichkeit stehe, grundsätzlich jeder Erfahrung voraus: „Solche Ideen beschreiben keine vorfindbare Erfahrung." Der Fortschritt habe lediglich die „heuristische" und „regulative" Funktion, die praktische Vernunft, das Wollen und das Handeln durch Begriffe zu bestimmen und bringe somit den „Gesichtspunkt des Unbedingten und der Totalität zur Geltung" (ebd., 11). Wäre dies der Fall, dann hätte der Fortschritt tatsächlich bestenfalls einen geringen Wert für die Erkenntnis. Er könnte dann kein wesentlicher Bestandteil der Erklärung von bestimmten historischen Vorgängen sein und wäre allein als eine Art anleitendes Wünschen zu verstehen. Diese Annahme ist sicherlich soweit widersprüchlich, als auf die Vergangenheit angewandte Fortschrittsurteile (die auch Rapp anerkennt) unweigerlich auf etwas Erfahrenes zurückgreifen (selbst wenn dieses Erfahrene etwas bloß Erinnertes sein sollte).
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Oben wurde schon gesagt, dass der Fortschritt ein Wertbegriff ist. Die Urteilskategorie Fortschritt hat die Funktion, einer bestimmten historischen Entwicklung als Verbesserung zu erkennen bzw. ihr diesen Wert zuzuschreiben. Das setzt, der gängigen modernen Wertauffassung zufolge, ein wertendes Subjekt voraus. Daraus folgt, dass das Gedeihen der Menschen unter den jeweiligen Lebensumständen das einzige Kriterium dafür ist, ob ein Fortschritt stattgefunden hat oder nicht (Von Wright 1995, 273, 288). Daraus folgt weiterhin, dass alle anderen großen Instanzen, die den Fortschritt ansonsten gewährleisten könnten (zum Beispiel ein über dem historischen Geschehen stehender Gott), im modernen Zeitalter außer Kraft gesetzt sind. Die moderne Fortschrittsidee ist streng genommen ein säkulares Denkgebilde, mit dessen Hilfe bestimmte Geschehnisse, egal ob sie als bereits existent vorgefunden oder für die Zukunft erwartet werden geordnet und bewertet werden. Erst im Zuge dieses Vorgangs erhalten diese geschichtlichen Vorgänge und Ereignisse einen Sinn. Dieser wird also von den Menschen selbst nachträglich (epigenetisch) in die Welt gebracht. Der Fortschrittsbegriff lässt sich daher nicht auf die Antizipation oder die Prophezeiung festnageln. Aus dem Gesagten ergibt sich auch, dass historische Vorgänge, die wir mit dem Ausdruck Fortschritt' belegen, zunächst als einfache Veränderung erfahren werden. Bekannte Beispiele sind Errungenschaften wie die Verlängerung der durchschnittlichen Lebenserwartung und die Anhebung des materiellen Lebensstandards in weiten Teilen der Welt; aber auch die Steigerungen des Vermögens, natürliche und soziale Prozesse mit Hilfe von immer komplizierteren Mitteln zu kontrollieren. Zu diesen Mitteln zählen neuzeitliche Erfindungen wie das Schießpulver, die Buchdruckerkunst, mechanische Uhren, die Magnetnadel, das Fernrohr, das Mikroskop und die Dampfmaschine; aber auch ganz allgemein das Wachstum des Wissens durch die Einführung des kopernikanischen Weltbildes, durch Entdeckungsreisen, durch die Erfolge der mathematischen Physik und der aufkommenden Chemie etc. Die meisten dieser Beispiele stehen in Verbindung mit den Entwicklungen in Wissenschaft und Technik. Die konkrete Erfahrung dieser Entwicklungen führt zum Fortschrittsurteil. Erst dann werden vergleichbare Neuerungen als Ziele auch der weiteren Entwicklung in die Zukunft vorgeschoben. In diesem Sinne ist Fortschritt immer auch als Grundlage für weitere Fortschritte zu verstehen. Wir können davon ausgehen, dass es ohne die Erfahrung von konkreten Verbesserungen in der historischen Entwicklung der Menschheit den Begriff Fortschritt (und die Erhebung des Fortschrittsdenkens zu einer bestimmenden Strömung des abendländischen Geisteslebens) nicht geben würde. Auch aus dieser - wenn man so will: evolutionär-epistemologischen - Perspektive ist also die These von der reinen Zukunftsorientierung des Fortschrittsbegriffs widerlegt. Ganz zum Schluss dieser Untersuchung werde ich zeigen, dass die Funktion der rückblickenden Beurteilung gerade im Marxschen Fortschrittsdenken eine wichtige Rolle spielt. Für die absolute Mehrheit der Autoren, die sich zum modernen Fortschrittsbegriff äußern, steht trotzdem fest, dass die Rede vom Fortschritt vor allen Dingen ein vorausschauendes Urteilen a priori impliziert, mit dessen Hilfe den Teilabschnitten des Geschichtsprozesses, die realiter noch gar nicht stattgefunden haben, ein Ziel oder ein Zweck zugeordnet und also ein Sinn zugesprochen werden soll. Es ist nicht zuletzt diese
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Annahme, die dazu geführt hat, dass im Fortschrittsdenken vor allen Dingen die Ausrufung von objektiven gesellschaftlichen Heilszuständen gesehen wird. Diese Thematik wird im Folgenden unter der Überschrift ,Heilslehrenvorwurf' behandelt. Ich muss wohl nicht erst betonen, dass der Heilslehrenvorwurf mit Vorliebe gegen die Marxsche Theorie erhoben wurde und noch erhoben wird. Auch kann er als besondere Variante der ontologischen Verortung von Fortschritt auftreten. Fortschritt wird schließlich als Differenzierung im Sein gedacht - als der Abstand zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Das Fortschrittsdenken, das über die Feststellung eines bloß zahlmäßigen Zuwachses (genetischer Fortschrittsbegriff) hinausgeht, proklamiert einen solchen Abstand. Fortschrittsdenken ist prinzipiell Abstandsdenken (obwohl, wie gesagt, das Sollen nicht unbedingt in der Zukunft liegen muss). Problematisch wird das erst, wenn der Abstand nicht als Unterschied ein und desselben Seins gedacht wird, sondern als Unterschied zweier verschiedener Arten von Sein. Eine ebensolche Unterscheidung wird der Marxschen Dialektik manchmal unterstellt: Es gebe bei Marx ein Sein des ,de facto' und ein anderes, dahinter verborgenes und qualitativ höheres Sein, das es aufzudecken gilt und das uns den progressiven Gang auf den Kommunismus vorausahnen lasse (Schmidt-Soltau, 1997, 14f.). Das fünfte Kapitel setzt sich ausführlicher mit dieser Problematik auseinander.
2.
Der moderne Fortschrittsbegriff
Diese Untersuchung konzentriert sich auf die Stellung der Marxschen Theorie zur Bedeutung und zum Gebrauch des Begriffs vom historischen und gesellschaftlichen Fortschritt, der sich im Zuge der Aufklärung ungefähr seit dem 18. Jahrhundert herausbildet und das Weltbild insbesondere der westlichen Moderne entscheidend prägt. Soweit dies nicht in der allgemeinen Begriffsbestimmung bereits geschehen ist, müssen daher diejenigen Besonderheiten und Merkmale besprochen werden, die den Fortschritt zu einem solchen spezifisch modernen Phänomen machen.
a.
Das progressive Weltbild
Heutzutage ist es üblich, Fortschritt vor allen Dingen als einen politischen Begriff anzusehen (typisch Salvadori 2008, 85). Diese Bedeutung erhält die Fortschrittsidee aber eigentlich erst mit dem 18. Jahrhundert; zuvor wurde sie mehrheitlich auf den Wissenszuwachs, auf die technische Entwicklung und vielleicht noch auf die sittlich-kulturelle Verfassung des Menschengeschlechts angewandt. Schon Francis Bacon stellt fest, dass der technische Fortschritt anders als der geographisch begrenzte politisch-sittliche Fortschritt universell gut sei und also allen Menschen zugute komme: „Auch vollzieht sich eine Verbesserung des politischen Zustandes meist nicht ohne Gewalt und Unordnung, aber die Erfindungen beglücken und tun wohl, ohne jemanden ein Unrecht oder ein Leid zu bereiten." (1999, 269)
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Gerade das Marasche Fortschrittsdenken wird regelmäßig auf seinen politischen Gehalt reduziert. Deshalb scheint es mir sinnvoll zu sein, zunächst die allgemeine Idee des Fortschritts von der besonderen Bedeutung des Wortes .fortschrittlich' zu unterscheiden. Sicherlich ist Karl Marx in vielen seiner Ansichten für seine Zeit ein fortschrittlicher Mensch. Einen fortschrittlichen Menschen nennt man auch einen .progressiven' Menschen. Dieser Terminus taucht im 19. Jahrhundert als einfacher Gegensatz zu .konservativ' auf und bezeichnet eine Haltung, die den Wandel in allen gesellschaftlichen Bereichen generell willkommen heißt. Es handelt sich deshalb um einen Terminus, der hauptsächlich vom liberalen Bürgertum und den Sozialisten beansprucht wird (wobei bei letzteren vorrangig an Befürworter der moderaten und geordneten - .evolutionären' - Variante gedacht werden sollte). Das moderne Zeitalter hat verschiedene Strömungen des Progressivismus ausgebildet. Darunter muss man sich kulturelle oder politische Manifestationen der Fortschrittsidee vorstellen. So treten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einigen der sich industrialisierenden Länder Europas und Nordamerikas erste Fortschrittsparteien auf. Im Jahr 1861 gründet sich in Berlin die Deutsche Fortschrittspartei als Vertreterin des preußischen Liberalismus (bereits 1884 geht sie mit der Liberalen Vereinigung in der Deutschen Freisinnigen Partei auf). Im Bezug auf diese Partei soll Bismarck 1881 im Reichstag gesagt haben: „Ich glaube es ist eine weltbekannte Tatsache, dass in Berlin der Fortschritt regiert." (Zit. n. Bergsdorf 1997, 122) Erstaunlich ist, dass die frühen Programme der deutschen Sozialdemokratie (Braunschweig 1867, Nürnberg 1868, Eisenach 1869, Gotha 1875, Erfurt 1891), die teilweise unter dem Einfluss Marxscher Theorien entstehen, zwar im Geiste des gesellschaftlichen Fortschritts geschrieben sind, dass allerdings der .Fortschritt' selbst hier nicht erwähnt wird (das geschieht erstmals 1925 im Heidelberger Programm). Progressive politische und kulturelle Bewegungen hat es seitdem in vielen Ländern gegeben. Hier sind an erster Stelle die Vereinigten Staaten von Amerika zu nennen, die immer wieder Formen eines bewussten kulturellen und politischen progressivism hervorgebracht haben. Nicht umsonst wird die Periode von der Jahrhundertwende bis ungefähr 1917 dort Progressive Era genannt. Trotz des Gegensatzes von sozialer Misere und der Anhäufung von Privilegien und Wohlstand, sehen viele Progressive (wie beispielsweise der Schriftsteller Upton Sinclair und der Philosoph John Dewey) die Möglichkeit von Reformen. Sie vertreten ein optimistisches Menschenbild, das Individuen als zum Fortschritt befähigte free agents ansieht. Selbsternannte progressive Strömungen oder Parteien stehen nicht immer für im eigentlichen Wortsinne fortschrittliche Strategien. Viele lateinamerikanische Staaten berufen sich im 20. Jahrhundert auf die Comtesche Parole ,Ordnung und Fortschritt'. Das Motto Ordern e Progresso ziert die bunte Nationalflagge Brasiliens, gegenwärtig eines der ungerechtesten Länder der Erde hinsichtlich der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Viele Brasilianer leben in einer Art Naturzustand, der von ungewöhnlicher Brutalität gekennzeichnet ist. Für diese Menschen gibt es weder Ordnung noch Fortschritt.
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Diese Beispiele historischer Manifestationen des progressiven Weltbildes verdeutlichen, dass die Frage nach dem Fortschritt nicht nur affirmativ oder verneinend beantwortet werden kann. Die Frage nach dem Fortschritt lautet immer auch: Wessen Fortschritt? Stets ist zu berücksichtigen, wer vom Fortschritt spricht und für welche Zwecke der Fortschritt in Anspruch genommen wird. Im Progressivismus wird die Fortschrittsidee nicht nur praktisch, sie kann in diesem Rahmen auch missbraucht werden. Generell gilt jedoch seit ungefähr dem ausgehenden 19. Jahrhundert in den westlichen Industriegesellschaften als progressiv, wer politisch liberal bis sozialistisch und zugleich republikanische orientiert ist, wer die Gleichberechtigung aller Menschen zum Wert hat (wenn nicht unbedingt ihre soziale Gleichstellung), wer der Vernunft bzw. der Wissenschaft einen höheren Erkenntniswert beimisst als dem Glauben, und wer gleichzeitig ein Mindestmaß an Toleranz in künstlerischen, religiösen und moralischen Dingen an den Tag legt. Später gesellt sich dazu noch ein weiteres Thema: Der Schutz der natürlichen Umwelt. Dieses ursprünglich in seinem Wesen nicht sonderlich progressives Anliegen wird im 20. Jahrhundert zu einer Frage von größter sozialer und ökonomischer Dringlichkeit. Jetzt wird der auf Nachhaltigkeit bedachte Umgang mit der Natur zu einer wichtigen Zielsetzung. So verstanden hat das Wort .progressiv' auch heute noch eine Berechtigung, wenngleich es immer seltener verwendet zu werden scheint und gegenwärtig zusätzlich durch eine fehlgeleitete Sinnverschiebung bedroht ist: Der Anspruch, auf die Reform der gesellschaftlichen Verhältnisse hinzuwirken, der stets progressive Unternehmungen in ihrem Kern ausgemacht hat, geht zunehmend an Kräfte verloren, die eine Rückkehr zu älteren Ideen, Werten und Verfahrensweisen betreiben. (Beispielsweise wird mittlerweile die Heranzüchtung von ,Eliten' praktisch ohne auf Gegenwehr zu stoßen als ein zeitgemäßes Planziel auch von Demokratien angepriesen.) Das Progressive Weltbild - was davon übrig ist oder sich dafür ausgibt - hat bereits weitgehend ein ganz wesentliches Element dessen eingebüßt, wodurch es sich eigentlich auszeichnet: die Perspektive des Universalismus. Dem zugrunde lag - gewissermaßen als anthropologische Konstante in pragmatischer Absicht - die durch die Wissenschaft der kulturellen und biologischen Menschheitsgeschichte untermauerte Wandelbarkeit der Menschen, wie sie zum Beispiel in der sozialistischen Vorstellung vom Neuen Menschen zum Ausdruck kam. Diese Konstante ist sogar eine logische Voraussetzung dafür, dass die Reform des Denkens und Handelns überhaupt greifen kann. Wer nun im Gegensatz dazu eine feststehende menschliche Natur mit einer darauf passenden starren sozialen und moralischen Ordnung proklamiert, der entzieht dem Progressivismus die GrundlageDer Progressivismus hat die Funktion, bestimmte Fortschrittsinhalte als Botschaften zu transportieren, in der Hoffnung auf deren praktische Umsetzung. Problematisch ist, dass die meisten Untersuchungen zum Fortschritt nicht zwischen der abstrakten Struktur des Begriffs und dem Wert der mit dieser Struktur verbundenen Inhalte unterscheiden. Darum werden die Grenzen zwischen dem Fortschritt und dem Progressiven oftmals verwischt. Karl Marx, der als Forscher eine weltgeschichtliche Wirkung erzielt hat und politisch überaus stark besetzt ist, ist sicherlich als Progressiver einzustufen. Für Marx
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ist der gesellschaftliche Fortschritt beispielsweise an die Forderung nach der Gleichstellung der Frauen gebunden: „Der gesellschaftliche Fortschritt lässt sich exakt messen an der gesellschaftlichen Stellung des schönen Geschlechts (die Häßlichen eingeschlossen)." (An Kugelmann, 12. Dezember 1868, MEW 32, 583) Und zweifellos glaubt Marx zu wissen, dass die Zukunft der Arbeiterklasse gehören wird, worin ja bereits - was gerne übersehen wird - eine nicht unwesentliche Einschränkung des Geltungsbereichs des gesellschaftlichen Fortschritts enthalten ist. Zu diesem Zweck wirbt er journalistisch und als Mitglied unzähliger Vereinigungen für die Emanzipation dieser Klasse. Engels fasst zusammen: „Und er hat gekämpft mit einer Leidenschaft, einer Zähigkeit, einem Erfolg wie wenige [...] dazu Kampfbroschüren die Menge, Arbeit in Vereinen in Paris, Brüssel und London, bis endlich die große Internationale Arbeiterassoziation als Krönung des Ganzen entstand" (,Das Begräbnis von Karl Marx', MEGA 1/25, 408/MEW 19, 336). Trotzdem geht es mir nicht vorrangig um die Beurteilung von Marx' praktischen Ansichten und Zielen, sondern um den inneren Zusammenhalt seiner Gedanken, sofern diese eben den Fortschritt berühren. Mit anderen Worten: es geht darum, nachzuweisen, dass die Art und Weise, wie sich der Begriff Fortschritt in der Marxschen Theorie artikuliert gegenüber vergleichbaren Konzeptionen eine theoretische Verbesserung darstellt. Um herauszufinden, warum das so ist, müssen wir zunächst einen Blick auf die Besonderheiten des Fortschrittsgedankens werfen, den Marx bei seinen Zeitgenossen vorfindet.
b.
Der Fortschrittsgedanke im 19. Jahrhundert
In ideeller Hinsicht steht das 19. Jahrhundert noch im Zeichen der Erbverwaltung der Aufklärung. Dazu gehört u.a. ein rationalistischer, mechanistischer Denkansatz, ein der Naturwissenschaft analoger und naturrechtlich begründeter Individualismus und schließlich auch ein Fortschrittsoptimismus hinsichtlich des Potentials der sittlichen und politischen Vervollkommnung der Gesellschaft, der seinerseits auf der weit verbreiteten Überzeugung basiert, die vollständige verstandesmäßige Durchdringung und Beherrschung der Natur sei eine realistische Möglichkeit. Diese letzte Überzeugung manifestiert sich zum Beispiel im Kommentar zur ersten Weltausstellung, die von Mai bis Oktober 1851 in London stattfindet. In einer Besprechung des Official Catalogue in der Edinburgh Review vom Oktober 1851 schreibt ein Zeitgenosse, das Ziel der Weltausstellung sei es, „to seize the living scroll of human progress, inscribed with every successive conquest of man's intellect". (Zit. n. Bury 1920, 329)11 Aussagen wie 11
In der Eröffnungsrede des Prince Consort zur Weltausstellung heißt es: „Nobody who has paid any attention to the peculiar features of our present era will doubt for a moment that we are living at a moment of most wonderful transition, which tends rapidly to accomplish that great end to which indeed all history points - the realisation of the unity of mankind." (Zit. n. Bury 1920, 330) Marx fühlt sich durch das Treiben während der Weltausstellung durchaus gestört. Am 24. Januar 1852 schreibt er an Engels: „nach den cosmopolitsch-philantrophisch-commerciellen Friedenshymnen während der Exhibition, kurz nach dieser Periode der bürgerlichen Selbstüber-
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diese werden gerne herangezogen, um die angebliche Naivität freizulegen, mit der die Europäer und Nordamerikaner im 19. Jahrhundert ihren Glauben an den Fortschritt pflegten. Über das dritte Viertel des Jahrhunderts, in das der Großteil des Marxschen Werkes fällt, schreibt Hobsbawm : „Nobody doubted the fact of progress, both material and intellectual, since it seemed too obvious to be denied. It was, indeed, the dominant concept of the age, though there was a rather fundamental division between those who thought that progress would be more or less continuous and linear, and those (like Marx) who knew it must and would be discontinuous and contradictory." (2004, 296) Meines Erachtens ist die inzwischen doch zu immer wagemutigeren Verallgemeinerungen neigende Geschichtsschreibung der modernen Fortschrittsidee mit Vorsicht zu genießen. Sie scheint den zähen Widerstand der ökonomischen - zu einem großen Teil noch adeligen - Eliten, des Klerus aber auch breiterer Bevölkerungsschichten auszublenden, dem diese Idee im 19. Jahrhundert ausgesetzt ist. Man denke nur an die Wissenschaften; beispielsweise an die Darwinsche Deszendenztheorie, die ja heute noch angegriffen wird. Ein Durchsickern und Sich-Festsetzen solcher wissenschaftlichen Fortschritte im breiten Massenbewusstsein ist im 19. Jahrhundert gar nicht möglich, zumal auch das Schulwesen teilweise noch in der Hand der Kirche ist. Die Verbreitung progressiver Ansichten, seien sie politischer, sozialer oder kultureller Art, wird außerdem überall verfolgt oder zumindest behindert. Sozialistische Intellektuelle wie Karl Marx werden zensiert, bespitzelt und ins Exil getrieben. Bis ins späte 19. Jahrhundert besteht die europäische oder europäisch geprägte Gesellschaft (frühe Industrienationen wie Großbritannien und Belgien ausgenommen) außerdem mehrheitlich aus einer ländlichen, bäuerlichen Bevölkerung, an der viele konkrete Verbesserungen vorbeigehen, und die progressiven Ideen gegenüber von Haus aus doch relativ verschlossen ist. Davon legt Marx in seinen Schriften zu den Klassenkämpfen in Frankreich 1848 bis 1850 (MEGA 1/10, besonders 149 und 186f.) und im 18. Brumaire (MEGA I/ll, 179ÍF.) Zeugnis ab. Wenn Hobsbawm also im Fortschritt den ,beherrschenden Begriff' dieses Zeitalters sieht, den .niemand bezweifelte', dann ließe sich das vielleicht auf das städtische Bürgertum, auf die Intelligenz, auf einzelne aufgeklärte Machthabende und auf die organisierte Arbeiterklasse beziehen. Aber diese Leute sind in der Minderheit. Und gerade innerhalb des Bürgertums (und dort speziell bei den Intellektuellen) ist die Fortschrittsidee im 19. Jahrhundert schwer umstritten - ein Umstand, an dem sich bis heute nichts geändert hat. Besonders die Schriftsteller nehmen die realen und die nur eingebildeten Fortschritte ihrer Zeit erbarmungslos aufs Korn. Sinclair, Zola, Huysmans lassen keinen Zweifel daran, wie wenig sie von der Verfassung der sie umgebenden Gesellschaft halten. Ihre Werke lassen keine Rückschlüsse auf eine hebung, ist es erquicklich, wenn die Canaillen jetzt finden, daß nicht Etwas, sondern Alles im Staate Dänemark faul ist." (MEGA III/5, 25Í./MEW 28, 13)
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beständige sittliche Vervollkommnung zu. Joseph Conrad rechnet in der Erzählung ,An Outpost of Progress' mit dem Imperialismus ab. Und Mark Twain verwendet die Zeichnung eines Kruzifixes, das von einem bluttriefenden Schwert gekreuzt wird, um den als Zivilisationsfortschritt verharmlosten Kolonialismus und das darin verwickelte Missionarwesen anzugreifen. Unterschrieben ist die Zeichnung: By this sign we prosper.
In Wirklichkeit ist das 19. Jahrhundert in seinem Optimismus nicht naiver als andere Zeitalter. Es ist durchaus in der Lage, die Plattheit der Fortschrittsgläubigkeit selbstkritisch zu reflektieren. Robert Nisbet bezeichnet die starken fortschrittskritischen Tendenzen, die den Fortschritt inmitten einer fortschrittsgläubigen Atmosphäre befallen als „the rust of progress" (1976, 115). Er versteht darunter eine Art gesteigerte Empfindsamkeit für die Schwächen und die Mängel der menschlichen Verfassung - trotz oder gerade wegen des Fortschritts. Seite an Seite mit dem Geist des Fortschritts entwickele sich „slowly but certainly ... a kind of malaise affecting the very premises on which the spirit of progress rested". (Ebd.) Diese malaise findet sich bekanntlich bei Burckhardt, Nietzsche, Spengler, vereinzelt auch bei Tocqueville, Weber, Durckheim, Simmel. „Der Fortschritt' ist bloss eine moderne Idee, das heisst eine falsche Idee", posaunt Nietzsche im Antichrist (1888/89, 169). Es ist durchaus eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet das Jahrhundert, das auszog um dem Fortschrittsglauben in Gestalt der Darwinschen Evolutionstheorie eine unfehlbare wissenschaftliche Grundlage zu geben, das gleiche auch für den Rückschrittsglauben geleistet zu haben glaubt. Ich denke an das Komplement zum Erhaltungssatz der Energie: an den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik (auch als Satz der wachsenden Entropie bekannt). Der von Hermann von Helmholz formulierte erste Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass die Energie in einem abgeschlossenen System - wenn also kein Energieaustausch mit der Umgebung mehr stattfindet trotz aller Zustandsänderungen erhalten bleibt. Der kurz darauf 1850 von Rudolf Clausius entdeckte zweite Hauptsatz der Thermodynamik bezieht sich nun auf das Maß der dissipierten Energie (Entropie) in einem solchen physikalischen System. Er besagt auch, dass Temperaturunterschiede in diesem System die Tendenz haben, sich auszugleichen bis ein Stadium erreicht wird, in dem die durch die Temperatur erzeugte Bewegung der Moleküle aufhört. Wird ein makroskopischer Körper erhitzt, dann lässt sich beobachten, dass unter der Bedingung der thermischen Isolation nach einer gewissen Zeit überall im Körper die gleiche Temperatur herrscht. In einem abgeschlossenen System strebt die Wärmeverteilung stets einem ausgeglichenen Zustand entgegen. Nach diesem Satz bleibt die Entropie gleich oder sie nimmt mit der Zeit sogar zu. Im Anschluss an Clausius' Entdeckung formuliert Helmholz 1854 die Theorie des Wärmetodes, wonach die Temperatur schließlich den Nullpunkt erreicht (einen Zustand, wo von Temperatur eigentlich keine Rede mehr sein kann). Diese physikalischen Theorien werden schon sehr bald auch auf die menschliche Lebenswelt und sogar auf kosmologische Zusammenhänge übertragen. Nun wird vom Wärmetod behauptet, er sei der Endzustand, dem möglicherweise das gesamte Universum zustrebe (sogenannter ,Hitzetod des Universums'), was wiederum voraussetzt,
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dass das Universum ein geschlossenes System ist. Physiker spekulieren darüber, ob die Erde langfristig für die Menschen unbewohnbar werden könnte, oder ob gar das Universum selbst dem Untergang geweiht ist. Von manchen naturwissenschaftlich weniger beschlagenen Zeitgenossen wird der Satz der wachsenden Entropie als Antithese zum angeblichen Menschheitsfortschritt begrüßt. Er scheint eine wissenschaftliche Erklärung für Phänomene zu bieten, die als Verfall der körperlichen und geistigen Kräfte sowie der Gesellschaft im Allgemeinen wahrgenommen werden, und übt eine große Anziehungskraft auf diejenigen aus, die wie Nietzsche, Spengler und andere in der vermeintlich universalistischen Tendenz ihres Zeitalters zu politischer und kultureller Gleichheit nur einen Degenerationsprozess sehen können12 - eben die Entwicklung hin zur gesellschaftlichen Entropie. Besonderen Gefallen finden die Vertreter solcher Auffassungen daran, dass die Entropie ursprünglich als Maß der Unordnung eines Systems dient - also eine Größe, an der vor allem ihre Veränderung interessant ist. Natürlich sind „Analogien zwischen thermischen Prozessen und der Geschichte reine Erfindung" (Von Wright 1995, 281f.) und taugen nicht als Garanten für die Wissenschaftlichkeit von Verfallstheorien.13 Der Fall der weit verbreiteten, fortschrittsfeindlichen und vermeintlich wissenschaftlich fundierten Niedergangsgläubigkeit wird in der Literatur selten erwähnt. Er passt nicht in das Bild vom fortschrittsberauschten 19. Jahrhundert. Tatsächlich gehört es aber bereits im 19. Jahrhundert zum guten Ton, sich über die Ungereimtheiten des Fortschritts zu echauffieren. Gleichzeitig setzt um die Jahrhundertmitte innerhalb des Fortschrittsdenkens eine Erneuerung der Idee ein. Auch die Vorstellung von der teleologischen Bewegung der Geschichte, die noch von der Aufklärung wie selbstverständlich vertreten wird, ist den Zeitgenossen jetzt offenbar nicht mehr geheuer. Daraus ergibt sich ein Paradox des Fortschrittsdenkens: Fortschritt bedeutet einerseits Vervollkommnung bis zu einem Zielzustand, andererseits hat die Teleologie ihren Erklärungsanspruch eingebüßt. Fortschritt verweist jetzt nicht mehr ,naiv' auf den Endzustand der menschlichen Vervollkommnung, „wo die Menschheit gleichsam
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Nietzsche, der den Fortschritt mit Vorliebe in Anführungszeichen setzt, um seinen vermeintlich illusionären Charakter zu unterstreichen, wird in diesem Punkt sehr deutlich. Fortschritt ist für ihn gleichbedeutend mit der Ausbreitung der Dekadenz: „Es hilft nichts: man muss vorwärts, will sagen Schritt für Schritt weiter in der décadence ( - dies meine Definition des modernen .Fortschritts' ...)." (1889, 138) Auch spricht er ungezwungen von einem Fortschritt ins Gemeine: „Die ähnlicheren, die gewöhnlicheren Menschen waren und sind immer im Vortheile, die Ausgesuchteren, Feineren, Seltsameren, schwerer Verständlichen bleiben leicht allein, unterliegen, bei ihrer Vereinzelung, den Unfällen und pflanzen sich selten fort. Man muss ungeheure Gegenkräfte anrufen, um diesen natürlichen, allzunatürlichen progressus in simile, die Fortpflanzung des Menschen in's Ähnliche, Gewöhnliche, Durchschnittliche, Herdenhafte - in's Gemeine! - zu kreuzen." (1886, 232)
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1872 definiert Ludwig Boltzmann den zweiten Hauptsatz um: das Anwachsen der Entropie hat jetzt nur noch Wahrscheinlichkeitscharakter. Brush (1978, 61ff.) und Wellner (1998, 171fF.) gehen ausführlich auf den Versuch ein, den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik für den Geschichtspessimismus nutzbar zu machen.
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ihr Werk getan hat und selbst göttlich geworden ist, sondern formuliert eine .regulative Idee', unter der die Geschichte der Menschen immer noch weiter gehen kann, von Fortschritt zu Fortschritt, bis ins Unendliche". (Wolf 1999, 263) Lefèvre spricht sogar von einer „Zäsur gegenüber älteren Fortschrittsüberzeugungen" (2000, 170). Die „altvertauten Quellen des Fortschritts", wie beispielsweise die aus der Aufklärung herkommende Annahme einer dem Menschengeschlecht eigentümlichen Perfektibilität, ihr Erfindergeist, und ihre angebliche „Teilhabe an der ,Vernunft'" etc., werden zunehmend kritisch beäugt. Diese Skepsis steht für einen „Bruch mit der natürlich auch damals dominierenden Überzeugung, daß die geschichtliche Entwicklung in letzter Instanz vom menschlichen - oder göttlichen - Geist bestimmt ist" (ebd.). Marx ist eine zentrale Figur in der Erneuerung der Fortschrittsidee: Im Rahmen seiner Kritik der Spekulation (die noch besprochen wird) vollzieht er den Bruch mit den alten Vorstellungen vom ,Geist' oder vom ,Selbstbewußtsein' als Träger des Fortschritts der Gattung Mensch. Die Fortschrittsgläubigkeit wird dadurch freilich keineswegs außer Kraft gesetzt. Veränderungen im Fortschrittsdenken sind aber schon deshalb unvermeidbar, weil der Begriff zusätzlich durch zwei weitere Faktoren angereichert wird, die einen ganz erheblichen Einfluss auch auf das Marxsche Denken haben: Erstens ein zunehmendes Bewusstsein für die Geschichtlichkeit aller Dinge und Verhältnisse; zweitens der Darwinsche Evolutionsgedanke. Die Dinge und Verhältnisse werden nun nicht mehr als beliebige Ereignisse gesehen, sondern in ihrem Entwicklungszusammenhang, der die Form einer notwendigen Abfolge von Stadien hat. Vor diesem doppelten Hintergrund wird das aufgeklärte, geschichtsphilosophische Postulat der epistemologischen oder sittlichen Perfektibilität des Menschengeschlechts nicht abgeschafft, aber es wird auf vermeintlich wissenschaftlicher, sich auf die Naturgesetze berufender Grundlage neu formuliert, und auch die Forderung nach gesellschaftlicher (politischer) Vervollkommnung wird immer häufiger laut.
c.
Das traditionelle Konfliktmodell des Fortschritts
Was durch diese Veränderungen nicht berührt wird ist die dem modernen Fortschrittsbegriff zugrundeliegende Bewegungsform. Theoretisch stellt sich der aufgeklärte Fortschrittsgedanke als das traditionelle Konfliktmodell der Geschichtsentwicklung und des Fortschritts dar. Anhand dieses Modells wird der Geschichtsprozess mit dem Fortschritt identifiziert und gleichzeitig als ein gegensätzlicher (antagonistischer, widersprüchlicher) Prozess dargestellt. Wir haben es also mit einem universalistischen Fortschrittsbegriff zu tun, welcher allerdings rückschrittliche Entwicklungen sowie Phasen des Stillstands berücksichtigt, oder zumindest zu berücksichtigen versucht. Für gewöhnlich behindert der gegensätzliche Bewegungscharakter dieser Konzeption den finalen Sieg des Fortschritts jedoch nicht. Die Empfindsamkeit gegenüber nichtfortschrittlichen Phänomenen wird nämlich dadurch teilweise wieder zunichte gemacht, dass sie als immanenter Bestandteil des Fortschrittsprozesses selbst dargestellt
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und also in den Fortschritt aufgenommen werden (zum Beispiel als Hegelsches ,Moment'). Somit ergibt sich für das traditionelle Konfliktmodell ein zentrales Wesensmerkmal, das sich auch das 19. Jahrhundert erhält: Die Geschichte wird gleichzeitig als eine fortschrittliche und als eine immanent widersprüchliche Bewegung angesehen. Das ist die .Dialektik des Fortschritts'. Ich nenne den entsprechenden Begriff Fortschritt-als-Gegensatz. Der Fortschritt wird hier offenbar als das Prinzip oder gar als das Gesetz der Geschichtsentwicklung verstanden, das trotz oder gerade wegen seiner Widersprüchlichkeit im Verlauf der Geschichtsentwicklung um- und durchgesetzt wird, dem die Geschichtsentwicklung also mit Notwendigkeit folgt. Dieser Fortschrittsbegriff ist demnach seinem Umfang nach ein alle Menschen aller Perioden und Zeitalter - die Menschheit - umfassender Kollektivsingular, mit dem sich Geschichte insgesamt auslegen lässt. Bis weit in die Zeit der Aufklärung hinein wird der Fortschritt nämlich zumeist im Plural verwendet (zum Beispiel französisch: les progrès). Der neue Kollektivsingular bündelt nun die sektoralen Einzelfortschritte (beispielsweise der Wissenschaft oder der Technik) und die damit verbundenen Erfahrungen in einem einzigen Ausdruck. Es ist einer jener Kollektivsingulare, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts vermehrt auftauchen, und mit denen sich „die immer komplexer werdende Erfahrung auf einem höheren Abstraktionsniveau zusammenzufassen" (Koselleck 1980, 224) lässt, wobei die Menschheit als „globale Hintergrundsfigur für die Zuordnung des Fortschreitens" (Koselleck 1979a, 397) fungiert.14 Als Kollektivsingular impliziert Fortschritt aber eine andere Art von Universalität als diejenige, von der oben im Zusammenhang mit dem Fortschritt als Idealobjektivation die Rede war. Es geht jetzt nicht um die inhaltliche Universalität von Fortschritt (Fortschritte sind eindeutig Verbesserungen), sondern um dessen räumliche Universalität, um den Geltungsbereich von Verbesserung. Im Verlauf des 19. Jahrhundert erlangt der Kollektivsingular Fortschritt nach diesem Muster schließlich eine solch weite Verbreitung, dass man ihn ohne Schwierigkeiten auch das gewöhnliche' Konfliktmodell nennen könnte. Typische Formulierungen finden sich in einem Vortrag Ernst Haeckels zum heiklen Thema der Darwinschen Evolutionstheorie aus dem Jahr 1863: „Dasselbe Gesetz des Fortschritts finden wir dann weiterhin in der historischen Entwicklung des Menschengeschlechts überall wirksam. Ganz natürlich! Denn auch in den bürgerlichen und geselligen Verhältnissen sind es wieder dieselben Prinzipien, der Kampf um das Dasein und die 14
Koselleck benennt drei Phasen in der Entstehung des Kollektivsingulars. Erste Phase: das Subjekt wird universalisiert (Fortschritt bezieht sich nicht mehr auf eingrenzbare Einzelbereiche, wie der alte sektorale Begriff, sondern auf eine höhere Allgemeinheit (die Menschheit). Zweite Phase: Subjekt und Objekt tauschen ihre Rollen. Der Fortschritt nimmt gegenüber der .Geschichte' (oder der ,Zeit') den führenden Part ein. Er wird zum geschichtlichen Agens. Dritte Phase: Verselbständigung des Ausdrucks: die Rede ist nun vom Fortschritt schlechthin, einem Subjekt seiner selbst, dass man alleine bemühen kann, ohne auf seinen Inhalt zu verweisen (1979a, 388f., vgl. 1980, 225).
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natürliche Züchtung, welche die Völker unwiderstehlich vorwärtstreiben und stufenweise zu höherer Kultur emporheben. Rückschritte im staatlichen und sozialen, im sittlichen und wissenschaftlichen Leben, wie sie die vereinten selbstsüchtigen Anstrengungen von Priestern und Despoten in allen Perioden der Weltgeschichte herbeizuführen bemüht gewesen sind, können wohl diesen allgemeinen Fortschritt hemmen oder scheinbar unterdrücken; je unnatürlicher, je anachronistischer aber diese rückwärts gerichteten Bestrebungen sind, desto schneller und energischer wird durch sie der Fortschritt herbeigeführt, der ihnen unfehlbar auf den Fuße folgt. Denn dieser Fortschritt ist ein Naturgesetz, welcher keine menschliche Gewalt, weder Tyrannenwaffen noch Priesterflüche, jemals dauernd zu unterdrücken vermögen. Nur durch eine fortschreitende Bewegung ist Leben und Entwicklung möglich. Schon der bloße Stillstand ist ein Rückschritt, und jeder Rückschritt trägt den Keim des Todes in sich selbst. Nur dem Fortschritte gehört die Zukunft!" (1863, 38f.) Alle typischen Merkmale des traditionellen Konfliktmodells sind in dieser Passage enthalten: Die Gesetzmäßigkeit und folglich die Notwendigkeit der Fortschrittsentwicklung; ihr Universalcharakter trotz antagonistischer Bewegungsform; schließlich der Hinweis auf den ultimativen Triumph des Fortschritts im Angesicht außergewöhnlicher Widerstände. Aufgrund dieses historischen Befundes wird immer wieder argumentiert, Fortschritt sei in dem besonderen Sinne ein Universalbegriff, dass er überhaupt nur als ein mit der Geschichte gleichbedeutendes Phänomen verstanden werden könne: „Fortschrittsdenken und Universalgeschichte gehören untrennbar zusammen; sie sind zwei Seiten ein und derselben übergreifenden Ganzheitskonstruktion [...] Dieser Zusammenhang ist von der Sache her unabdingbar. Sobald man am Konzept der positiven, aufsteigenden Entwicklung grundsätzliche Ausnahmen zulässt (etwa für bestimmte Epochen, bestimmte Sachgebiete oder bestimmte geographische Regionen), die echte Fremdkörper darstellen und sich nicht in eine übergeordnete, allgemeine Fortschrittsgeschichte integrieren lassen, verliert der Fortschrittsgedanke seine Durchschlagskraft und Verbindlichkeit. Ebenso wie der Monotheismus verträgt auch die Fortschrittsidee keine Relativierung. Als nur gelegentliches oder lokales Phänomen neben anderen ist der Fortschritt relativ belanglos und uninteressant. Er bezieht seine Suggestivkraft aus dem Bewußtsein einer schlechthin universellen, alles umfassenden Totalität." (Rapp 1992, 159f.) Nach dieser Auffassung ist Fortschritt also ein totaler Vorgang, in dem der Gegensatz von Fortschritt und Rückschritt eliminiert ist, weil die ,Fremdkörper' nicht als eigenständige, sondern gewissermaßen als Momente gedacht werden. Ihre gesonderte Bewertung (beispielsweise als Rückschritte) kann somit gar nicht stattfinden. Genauso wenig findet im Ganzen eine ,Relativierung' statt. Die Gegensätze des Realen verflüchtigen sich in einer rein spekulativen Geschichtsphilosophie. Anzumerken wäre freilich,
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dass sich die ,Suggestivkraft' des Fortschritts auch im traditionellen Konfliktmodell keineswegs allein aus dem .Bewusstsein' seiner Idee ergibt, sondern aus konkreten Erfahrungen. Fortschritt entspricht niemals allein einer vorgefassten Idee von ,Totalität*. Rapp selbst muss einige Seiten weiter eingestehen, dass es die Fortschrittserwartung nur dann geben kann, wenn es empirische Fortschrittsbeweise gibt (1992, 163). Seine Begriffsbestimmung ist trotzdem typisch für die heutige Beschäftigung mit dem modernen Fortschrittsgedanken: Die Kritik des ,totalen' Fortschritts geht einher mit der Behauptung, Fortschritt könne überhaupt nur auf diese Weise gedacht werden, weil er eben ,νοη der Sache her' so strukturiert sei. In diesem Sinne kann Wittgenstein den Fortschritt als die charakteristische „Form" unserer „Zivilisation" bezeichnen (1984, 459). Wenn Fortschritt allerdings „grundsätzlich universalistisch" (Salvadori 2008, 14) ist, dann umfasst er auch das Nicht-Fortschrittliche, das ihm widerspricht: Fortschritt ist ambivalent. Als eine besonders gelungene Darstellung dieser Ambivalenz gilt gemeinhin das an Klees Gemälde vom Angelus Novus angelehntes Sinnbild Walter Benjamins: „Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewandt. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradies her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm." (1974, 697f.) 15 Diese Passage ist der vielleicht markanteste schriftstellerische Ausdruck des Katastophismus, der heute innerhalb der Diskussion um den Fortschritt mächtige Interessen vertritt. Der Bezug auf die Katastrophe - und auf diesem Wege auf Zerstörung und Tod - gibt der Diskussion noch einmal eine dramatische Wendung und erhöht den Einsatz des darin enthaltenen Pessimismus. Die im 20. Jahrhundert immer lauter werdende Kritik am Fortschritt behält das formale Schema des traditionellen Konfliktmodells der Entwicklung und des Fortschritts bei. Nur stellt sie es auf den Kopf und versieht es mit negativen Vorzeichen, bis im Fortschritt nicht mehr die Verbesserung oder die Vervollkommnung am Werk ist, sondern die Zerstörung. Die gegensätzliche Verlaufsform des Fortschritts wird freilich nicht angetastet. Deshalb ist der kritisierte Begriff ein Begriff, den die Kritiker zumindest in seinen formalen Aspekten selbst voraussetzen. Auf dem 15
Bei Benjamin findet sich überhaupt die radikalste Marxistische Fortschrittskritik: „Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es ,so weiter' geht, ist die Katastrophe." (1989, 592) Ein ausführlicher Kommentar findet sich bei Weber (1999, 228-234).
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Kopf stehend aber ansonsten unbeschädigt, wird das traditionelle Konfliktmodell auf diese Weise ins 20. Jahrhundert mitgebracht. Diese Form der Auseinandersetzung mit der Fortschrittsproblematik nenne ich Ambivalenztheorie des Fortschritts. Es handelt sich also vor allen Dingen um eine weitere Verkehrung eines sowieso schon ambivalenten Uni versalbegriffs. Allerdings wirft die Ambivalenztheorie eine Frage auf, die ihre eigene Berechtigung mindestens ebenso sehr in Zweifel zieht, wie sie selbst ihren Gegenstand in Zweifel zu ziehen versucht: Wenn nämlich der Fortschritt ein Kollektivsingular ist, wenn also die Geschichte der Menschheit ein Fortschritt-als-Gegensatz ist, kann Fortschritt dann noch eine Idealobjektivation sein? Die Diskussion um den modernen Fortschrittsgedanken ist ein Spiegelbild des Konfliktes zwischen diesen beiden Formen seiner Universalität - die Universalität seiner Bedeutung (Idealobjektivation) und die Universalität seines Wirkungsgebietes (Kollektivsingular).
d.
Die eingebildete und die wirkliche Krise des Fortschritts
Die bisherige Darstellung dürfte die Dringlichkeit einer geänderten Sichtweise auf die Fortschrittsproblematik vor Augen geführt haben. Ein angemessenes Bild vom modernen Fortschrittsgedanken müsste differenzierter sein als das klischeehafte Drei-StadienSchema, demzufolge dieser Gedanke von der Aufklärung vorbereitet wurde, um im bürgerlich-industriellen 19. Jahrhundert zu höchster Plattheit zu reifen, in welcher er das 20. Jahrhundert dann als stumpfsinnige Dogmatik dominierte (typisch Salvadori 2008, 7-8). Dieses Schema läuft auf die These hinaus, der Fortschritt stecke spätestens jetzt in einer schweren Krise: in formaler Hinsicht aufgrund der ihm unterstellten Ambivalenz, in inhaltlicher Hinsicht aufgrund des Ausbleibens der Realisierung bestimmter, im Fortschrittsgedanken enthaltener idealer Zielvorstellungen. Dieser Krisenhaftigkeit verleiht man typischerweise Ausdruck, indem man vom Fortschritt sagt, er sei ein moderner ,Mythos' (eine Art Glaubenssatz) oder eine .Illusion' (bloßer Schein) und finde also nicht wirklich statt. In der einen oder anderen Form finden sich diese Annahmen in fast allen Veröffentlichungen zum Fortschrittsgedanken. Der Gedanke, der moderne Fortschrittsbegriff stecke in der Krise, bildet den Hintergrund, vor dem die Diskussion eines jeden Fortschrittsbegriffs abläuft, auch die des Marxschen. Die Tatsache, dass die Krise des Fortschritts gerade um die Jahrhundertwenden 1900 und 2000 mit Nachdruck behauptet wurde zeigt nur, dass der moderne Fortschrittsbegriff in Wirklichkeit immer schon kontrovers war. Von Beginn an wurde er von skeptischen und pessimistischen Strömungen bekämpft. Zudem führt die negative Verkehrung des sowieso schon ambivalenten traditionellen Konfliktmodells zur schleichenden Zersetzung der Fähigkeit, Rückschritte als solche zu erkennen. Diese Entwicklung trägt indirekt dazu bei, dass die Fortschrittsrhetorik gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine ungeahnte Machtstellung hat. Schließlich gibt es den Versuch, die Verbesserung' in den Dienst der Bewahrung einer Herrschaftsordnung zu stellen, die unter Demokratie die Befriedung der gesellschaftlichen Gegensätze versteht (der
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demos verzichtet zugunsten der Konsenslogik auf politische Subjektivität), und die gleichzeitig den Freiheitsbegriff im Namen der Überwindung des materiellen Mangels auf die wirtschaftliche Handlungs- und Bewegungsfreiheit festlegt. So konnte der Fortschrittsglaube auf dem Höhepunkt seiner angeblichen Krise zu einer Ideologie werden, die zumindest das Potential hat, ausnahmslos alle Erdteile zu erfassen und das Meinen aller zu bestimmen. Diese Ideologie ist gegenwärtig mit Sicherheit mächtiger, als es die Fortschrittsidee während der ihr zugewiesenen Blütezeit im 19. Jahrhundert jemals war. Trotz aller berechtigter Kritik befindet sich der Fortschritt deshalb nicht in der immer wieder heraufbeschworenen Krise, sondern in einer kulturellen Machtposition. Dieser Zustand, nicht die Ambivalenz seines Begriffs, ist das wahre Paradox des Fortschritts. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird der Krisengedanke in der Philosophie insbesondere durch den Einfluss der Kritischen Theorie und des sich als Poststrukturalismus erneuernden Vitalismus stark gemacht. Seit Jahrzehnten werden nun schon heftige Angriffe gegen das Forschrittsdenken gefahren - oftmals verkleidet als wohlmeinende Hinweise auf die Gefahren, denen wir gerade im ,modernen', vorgeblich von den Idealen der Vernunft und der Menschlichkeit beherrschten Zeitalter ausgesetzt sind: „Zumindest seit zweihundert Jahren hat uns die Moderne gelehrt, nach der Ausdehnung politischer, wissenschaftlicher, künstlerischer und technischer Freiheiten zu verlangen. Sie hat uns gelehrt, dieses Verlangen zu rechtfertigen, denn durch diesen Fortschritt sollte die Menschheit sich, so sagt sie, von Despotie, Unwissenheit, Barbarei und Elend emanzipieren. Die Republik ist die bürgerliche Humanität. Dieser Fortschritt ist auch heute noch im Gange, freilich nurmehr unter dem etwas verschämten Namen Entwicklung. Aber es ist unmöglich geworden, diese Entwicklung durch das Versprechen einer Emanzipation der gesamten Menschheit zu rechtfertigen. Dieses Versprechen wurde nicht gehalten. Es wurde nicht gebrochen, weil man es vergessen hätte, sondern weil die Entwicklung selbst untersagte, es zu halten. Neoanalphabetismus und Verarmung der Völker des Südens und der Dritten Welt, Arbeitslosigkeit, der Despotismus der Meinung, und das heißt des Vorurteils, dem die Medien Vorschub leisten, das Gesetz, wonach gut ist, was wirksam ist - all das ist nicht die Folge unterbliebener Entwicklung, sondern von Entwicklung selbst. Das ist der Grund, weshalb man nicht mehr wagt, von Fortschritt zu sprechen." (Lyotard 1987, 123) Diese Passage ist ein typisches Beispiel für das einfache Verkehrungsschema: Worte, Begriffe, Denkmuster werden gegen sich selbst gekehrt und somit verantwortlich gemacht für das, was in der Praxis zu leisten man nicht vermochte. Dieses praktische Versagen wird freilich geschickt mitreflektiert und gleichzeitig entschärft, indem der Fortschrittsidee das Ausbleiben von konkreten Fortschritten zum Vorwurf gemacht wird.
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Die eigentliche Krise des Fortschritts ist weder das Resultat des Ausbleibens von empirischen Fortschritten auf einzelnen Gebieten im .modernen' oder sonst irgendeinem Zeitalter (Fortschritt als Illusion), noch ist sie das Resultat einer allgemeinen Schwächung der Fortschrittsidee durch die wie auch immer geartete skeptische Infragestellung dieser Idee (Fortschritt als Mythos). Die Fortschrittsidee ist heute so mächtig wie eh und je, oder mächtiger noch. Zumal es eine wesentliche Form gibt, in welcher sie fortlebt, und fortleben muss, solange die Aussicht auf eine nachhaltige Verbesserung der Verhältnisse versperrt bleibt: Ich meine die Individualisierung der Fortschrittserfahrung. Und wie so viele andere Aspekte des Lebens ist auch der Fortschritt privatisiert' worden: „[Der Fortschritt] ist privatisiert - denn es wird von jedem und jeder Einzelnen erwartet, den eigenen Verstand, die eigenen Ressourcen und den eigenen Fleiß zu gebrauchen, um sich in einen befriedigenderen Zustand zu bringen und zu beseitigen, was immer ihren momentanen Zustand unangenehm macht." (Baumann 1999, 189)16 Der privatisierte Fortschritt beschränkt die Verbesserungsmöglichkeit auf das persönliche Vorankommen. Gepriesen seien vergangene Zeiten, in denen Menschen noch ganz ,naiv' von einer zunehmenden Verfeinerung des Verstandes oder der Sitten ausgingen. Neben der voranschreitenden Privatisierung des Fortschritts gibt es auch eine Intensivierung der Bemühung, bestimmte Varianten des Fortschrittsdenkens zu diskreditieren. Diese ihre eigene Unternehmung stellt die entsprechende Literatur dann als eine umfassende Erschütterung der Idee, des Begriffs oder der Praxis des Fortschritts dar, die sie lediglich in Gedanken nachvollziehe. (Die einzelnen Schritte dieser Operation werden im folgenden Kapitel nachgezeichnet.) Deswegen scheint es mir schon aus strategischen Gründen verfehlt, wie Losurdo mit der Bearbeitung der Fortschrittsthematik die „Rehabilitierung einer heute verrufenen Idee" (1999, 235) bezwecken zu wollen. In Verruf geraten ist nicht die ,Idee' - die Bedeutung von Fortschritt als historische Bewegung des Guten - , sondern bestimmte historische Vorstellungen davon, was den Sinngehalt dieser Bewegung ausmacht. Die Fortschrittskritik geht demnach nicht immer konsequent vor: Sie stellt nicht primär den Fortschritt in Frage, sondern einzelne Denkrichtungen, die bestimmten Vorstellungen von Verbesserung zum Ausdruck bringen, die mittlerweile als surplus to requirements angesehen werden. Aber die meisten Fortschrittskritiker sind selbst auf die eine oder andere Art Anhänger der Fortschrittsidee und verraten sich immer wieder als solche. Abgesehen von einer völligen Neuformulierung des Fortschrittsbegriffs ist darum der einzig angemessene Umgang mit dem Fortschritt die systematische Verdeutlichung des Umstandes, dass das Wort .Fortschritt'
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Das wohl einschlägigste Beispiel für die Privatisierung des Fortschritts ist der American Dream mit seinem Kerngedanken, jeder könne es, Fleiß und Entschlossenheit vorausgesetzt, unter allen Umständen .schaffen' (das heißt, zu Geld kommen). In Nathanael Wests A Cool Million predigt der Ex-President und Bankbesitzer Shagpoke Whippel eine Variante dieses Traums: „My boy, I believe I once told you that you had an almost certain chance to succeed because you were born poor and on a farm. Let me now tell you that your chance is even better because you have been in prison." (1978, 306)
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nicht mehr und nicht weniger bedeutet als die historische Bewegung des Guten, als welche wir es immer schon voraussetzen. Außerdem haben wir es beim Fortschritt mit einer wichtigen Orientierungskategorie zu tun. Wer sich dieser Orientierungskategorie beraubt, der beraubt sich gleichzeitig der Möglichkeit, tatsächliche Verbesserungen zu erkennen.
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Die Sphären des Fortschritts
Im Unterschied zu dieser Geisteshaltung soll hier ein möglichst klares Bild davon gezeichnet werden, wie man sich den modernen Fortschritt konkret vorstellen kann. Zu diesem Zweck werfe ich jetzt einen Blick auf die drei Sphären des gesellschaftlichen und des geistigen Lebens, die das aufgeklärte Denken als autonom begreifen und von der „Bevormundung durch eine heteronome Autorität" (Von Wright 1995, 283) befreien will: die Erkenntnis, die Moral und die Kunst. 1.) Fortschritt der Erkenntnis. Die Erkenntnis wurde in der Philosophie ursprünglich zum Zweck der Rettung der Seele für notwendig erachtet. Das moderne Zeitalter versteht Erkenntnis zusehends instrumenten, nämlich als eine intellektuelle Kraft, die im Dienste der Herbeiführung besserer Verhältnisse im Diesseits steht. In logischer Hinsicht wird die Erkenntnis vor allem mit dem Urteil und mit dem Verfahren des Schließens in Verbindung gebracht: Entspricht ein Urteil dem physischen oder psychischen Befund, auf welchen es sich bezieht, so sehen wir, „namentlich wenn es uns neu und wichtig ist, in demselben eine Erkenntnis". (Mach 1991, 115) An dieser Definition wird deutlich, dass es eigentlich überflüssig ist vom Fortschritt der Erkenntnis' zu reden, da der Terminus .Erkenntnis' bereits einen Fortschritt im Wissen voraussetzt. Verbesserung bedeutet in diesem Zusammenhang die Akkumulation einer immer größeren Zahl von, so könnte man sagen, registrierten' oder .gesicherten' Wahrheiten. Das setzt freilich voraus, dass die Vergrößerung des Wissensbesitzes als etwas Gutes erachtet wird. Dies kann auf zweierlei Weise geschehen: das Wissen kann um seiner selbst willen als etwas Wertvolles angesehen werden. Klarer, aber deswegen keineswegs weniger umstritten ist dagegen, was gemeint ist, wenn mit Francis Bacon gesagt wird: Knowledge is power. Jetzt hat die Erkenntnis einen instrumentellen Wert außerhalb ihrer selbst, außerhalb der bloßen Akkumulation von Wissen und noch mehr Wissen als Selbstzweck. Konkret wird jetzt ein gesteigertes Potential der Naturbeherrschung vermittels der Wissenschaft und der damit einhergehenden technischen Neuerungen angestrebt. Zu den Dingen, die dadurch erreicht werden sollen, gehört vor allem auch die Steigerung des materiellen Lebensqualität. Und wie Von Wright ganz richtig sagt, sollte eigentlich „außer Frage" stehen, „daß vermehrtes materielles Wohlergehen, erhöhter Lebensstandard, in vielen, ja vielleicht in allen Fällen Fortschritt im eigentlichen Sinne des Wortes bedeutet". (1995, 285) Im 20. Jahrhundert wird das Bedürfnis nach objektiver Erkenntnis zum Ideal eines exakten, an die Naturwissenschaft angelehnten, leistungsfähigen Denkens ausgebaut, das anderen Formen des Denkens überlegen sein soll. Dieses Ideal wird heute oftmals
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als Inbegriff eines hochmütigen Szientismus belächelt, der aufgrund seiner praktischtechnischen Rückkopplung bedenklich ist. Diese Einstellung übersieht jedoch, dass es sich ursprünglich hierbei keineswegs um einen Ausdruck von Überheblichkeit auf Seiten der Wissenschaft handelt, sondern im Gegenteil um den Ausdruck eines gefühlten Mangels in der Qualität der wissenschaftlichen Forschung und der unbefriedigenden Geschwindigkeit, mit der sie Fortschritte macht. Schon Francis Bacon bemerkt, dass in der Wissenschaft „im Vertrauen auf die Gegenwart" allzu oft „längst Gefundenes neu aufgeputzt" wird (1999, 13). Philosophie und ,Verstandeswissenschaften' werden verehrt, laufen aber oftmals leer und werden „nicht vorwärtsgebracht" (ebd., 17). Er beklagt, „daß die Leistungen unfruchtbar, die Streitfragen aber zahllos sind; die Fortschritte geschehen langsam und matt". (Ebd., 21) Die Langsamkeit rühre unter anderem daher, dass man im Kleinen und ohne den Blick aufs Ganze verbessere. Darin drückt sich also die Sorge aus, im Wissen in den Rückstand geraten zu können. Leider ist in Vergessenheit geraten, dass die Befürwortung des wissenschaftlichen Fortschritts in Wirklichkeit alles andere als selbstverständlich ist. Dass dieser Fortschritt lange Zeit keineswegs gesichert war, bezeugt der als quereile des Anciens et des Modernes bekannt gewordene Gelehrtenstreit im 17. Jahrhundert, bei dem es immerhin noch darum geht, ob es überhaupt möglich sei, in der Wissenschaft und der Literatur über das von der Antike Erreichte hinauszukommen. 2.) Fortschritt der Moral. Fortschritt meint hier die Vervollkommnung des Menschen, wobei nicht so sehr an das einzelne Individuum gedacht wird, sondern an die Spezies Mensch. Man muss sich darunter nicht nur die Verfeinerung der Sitten und Gebräuche vorstellen, sondern viel allgemeiner die Durchsetzung eines zivilisierten', menschlichen' Zustandes im Umgang der Menschen miteinander. (Beim jungen Marx steht hierfür der Gattungsbegriff.) Eine Bedrohung entsteht dieser Form der Verbesserung durch den ethischen Relativismus. Wenn wir nämlich seinen Grundgedanken, wir könnten genauso gut nach ganz anderen Normen leben, ernst nehmen, dann wird der Begriff eines moralischen Fortschritts hinfällig. Das dies nicht geschehen ist liegt auch daran, dass die Perfektionierung der natürlichen, physischen Anlagen der Menschen (zum Beispiel die Verlängerung der Lebenszeit) bis vor kurzem nur begrenzt möglich war. Darum setzt beispielsweise Kant im Streit der Fakultäten seine Hoffnungen primär in den Fortschritt in der Gesittung und Kultivierung (Gehlen 1967, 404). Dass Menschen ,gesitteter' oder zivilisierter' sind als ihre Vorfahren soll heißen, dass sie toleranter, weniger selbstsüchtig und gierig sind und eher dazu neigen, in Anderen nicht Fremde oder Feinde, sondern Brüder zu sehen (Von Wright 1995, 285). Die Vorstellung vom moralischen Fortschritt beinhaltet darum gewöhnlich politische Vorstellungen davon, wie die soziale Ordnung aussehen müsste, die diesem Ziel gerecht wird. Das ist ein Grund, warum Fortschritt heutzutage vor allen Dingen als ein politisch sehr stark aufgeladener Begriff verstanden wird, obwohl er das historisch nicht gewesen ist. Dies schlägt sich auch in der Tendenz nieder, die Politik auf eine permanente moralische Struktur zu reduzieren, in der sich nicht soziale Klassen und deren Interessen und Bedürfnisse gegenüberstehen, sondern in der um die Durchsetzung von Werten ge-
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rungen wird. Ich werde ganz zum Schluss dieser Untersuchung zeigen, dass Marx eine andere Auffassung vom politischen Fortschritt hat. 3.) Fortschritt der Kunst. Was Fortschritt in diesem Zusammenhang bedeuten kann ist nicht klar. Fraglich ist schon, ob sich der Verbesserungsgedanke überhaupt auf die Kunst anwenden lässt. Rein theoretisch kann man jedoch davon ausgehen, dass die Fortschrittskategorie auf alles angewendet werden kann, was die Bedingung erfüllt im Handlungsspielraum der Menschen zu stehen und ihrer Urteilskraft zu unterliegen. Warum ist es aber dann so schwierig zu bestimmen, worin der Fortschritt in der Kunst besteht? Weil es schwierig ist den Maßstab des künstlerischen Fortschritts festzulegen, ist doch der Nutzen der Kunst umstritten. Naheliegend ist es wohl, beim künstlerischen Fortschritt nicht an die Verfeinerung von Fertigkeiten17 oder gar an die Verbreitung des Schönen zu denken. Diese Gedanken könnten nämlich in das Vorurteil münden, eine Gesellschaft, die entweder eine besonders große Zahl von Kunstwerken oder aber einige stilistisch besonders ausgefeilte und darum bewundernswerte Kunstwerke hervorgebracht habe, sei kultivierter als andere. Anstelle der Vervollkommnung der artistischen Fähigkeiten oder der Anhäufung von Kunstwerken sollte beim künstlerischen Fortschritt zunächst an die Befreiung der künstlerischen Aktivität von der Bevormundung durch die Moral (besonders die religiöse Moral) gedacht werden. Nun ist aber die Befreiung der Kunst eigentlich eine Funktion des moralisch-politischen Fortschritts. Und umgekehrt ist ja nicht nur die Befreiung der Kunst denkbar, sondern auch die Freisetzung von Potentialen durch Kunst. Zumal es in der Geschichte keineswegs so gewesen ist, dass die freiheitlich verfassten Gesellschaften immer die beste Kunst hervorgebracht haben.18 Vielleicht ist Kunst sogar eine Art von Erkenntnis, zwar nicht auf wissenschaftlicher, deswegen aber nicht zwangsläufig auf geringerer Ebene. So würden wohl viele Künstler ihre Arbeit sehen. Fortschritt der Kunst bedeutet im modernen Kontext aber vor allen Dingen die Erweiterung der künstlerischen Möglichkeiten selbst. Bekannte Beispiele dafür in der bildenden Kunst sind die als .Befreiung der Farbe' bekannte Ablösung der Farbe vom Gegenstand sowie die Erlösung der künstlerischen Formgebung von der reproduktiven Funktion also von der Aufgabe, Gegenstände wirklichkeitsgetreu abzubilden zugunsten der evokativen Funktion. Anhand der Verdichtung der Fortschrittidee in den Sphären der Erkenntnis, der Moral und der Kunst können wir uns ein Bild davon machen, was Fortschritt im modernen Zeitalter konkret bedeutet und worin in der Tat auch das Potential seiner vielbeschwore17
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Die Aufklärung hat noch diese Art der Perfektionierung im Sinn. Beispielsweise Hume in seinem Essay Of Refinement in the Arts, wo allerdings unter .arts' nicht allein die Kunst im modernen Wortsinn, sondern nach damaligem Sprachgebrauch auch allgemein das Handwerk, die Regiemngskunst, die Kriegsfiihrungsfctin.», usw. verstanden wird. Schon Turgot beklagt den erschreckenden Zustand der Malerei in England, einem Land, das damals im Vergleich zu den anderen europäischen Nationen auf fast allen Bereichen eine Art Vorreiterrolle inne hatte: „Die Engländer zum Beispiel scheuen seit einigen Jahren keine Mühe, um schöne Bilder zu haben, und sie konnten bisher keinen einzigen Maler ihrer Nation hervorbringen." (1748-52, 95)
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nen Krise besteht. Dieses Bild setzt sich nämlich aus zwei verschiedenen Vorstellungen zusammen: Die erste Vorstellung betrifft die Akkumulation von Wissen und die Förderung von Wissenschaft und Technik, also die Rationalisiêrung und Modernisierung. Von Wright bezeichnet die Gleichsetzung des Fortschrittsbegriffs mit dieser speziellen Vorstellung als „Qualifikation des Fortschritts"; der in dieser Weise gemessene Fortschritt sei „kein Wertbegriff mehr, sondern ein versachlichter', wertneutraler Begriff, der die ... Verdinglichung des Werts exemplifiziert". (1995, 287) Die zweite Vorstellung betrifft die Vervollkommnung sowohl der sittlichen Verfassung der Menschen als auch der politischen Organisation ihres Zusammenlebens; man spricht von Zivilisierung, Kultivierung, Demokratisierung. Bei der Gleichsetzung des Fortschrittsbegriffs mit diesen Vorstellungen handele es sich „um eine weitere Verdinglichung des wertenden Fortschrittsbegriffs", die Von Wright „Formalisierung der Demokratie" nennt (ebd., 288). Tatsächlich besteht heutzutage die Gefahr offenkundig darin, dass der Begriff Fortschritt nicht mehr für die Vervollkommnungsprozesse in den angesprochenen Sphären steht. Statt dessen wird er zunehmend für die Reduktion der Verbesserung der Lebensqualität auf das rein quantitative Wirtschaftswachstum missbraucht; gleichzeitig muss er für die zunehmende Formalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse nach Maßgabe von Idealen herhalten, die scheinbar keiner Erklärung mehr bedürfen. Man muss der zeitgenössischen Fortschrittskritik zugute halten, dass sie diese Probleme thematisiert. Nur sollte über diese reelle Gefahr nicht vergessen werden, dass sie sich ja nicht, wie die zeitgenössische Fortschrittskritik zu suggerieren beliebt, von selbst aus der Bedeutung von Fortschritt ergibt, so als sei der Begriff von vornherein zum Scheitern verurteilt, sondern aus dem Modus seiner Anwendung. Das Ziel ist daher ein verantwortungsbewusster Umgang mit dem Begriff Fortschritt, nicht die pauschale Verteufelung dieses Begriffs als Sinnbild der Verantwortungslosigkeit. Die Marxsche Theorie ist ein gutes Beispiel für einen solchen Umgang, und ich werde ganz zum Schluss dieser Untersuchung auf den sphärischen Charakter des Fortschritts in seiner spezifisch Marxschen Ausprägung zurückkommen.
3.
Abschließende Bemerkungen
Abschließend noch eine Bemerkung zum Stand der gegenwärtigen Forschung zum Begriff Fortschritt. Es ist doch bezeichnend, dass die seit Jahrzehnten andauernde Krise des Fortschritts nicht dazu geführt hat, dass die Forschung auf diesem Gebiet ganz zum Erliegen gekommen ist. Im Gegenteil: Das Interesse am Fortschritt flammt immer wieder von Neuem auf. Das findet seinen Ausdruck weniger in Monographien als in einzelnen Fortschrittsdiskussionen, die sich dann für gewöhnlich in Aufsatzsammlungen niederschlagen.19 19
Besonders gelungen oder immerhin typisch für den zeitgenössischen Umgang mit dem Begriff Fortschritt sind folgende Veröffentlichungen: 1.) Die Aufsatzsammlung Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, herausgegeben von Helmut Kuhn und Franz Wiedmann (München
ABSCHLIESSENDE BEMERKUNGEN
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Trotz dieser wichtigen Veröffentlichungen ist der Fortschritt nach wie vor sicherlich kein Schwerpunkt des gegenwärtigen wissenschaftlichen oder philosophischen Interesses. Die Kombination Karl Marx + Fortschrittsbegriff ist sowieso erstaunlich unerforscht geblieben. Angesichts der weit verbreiteten Annahme, hier bestünde eine besonders enge Verbindung mutet das etwas seltsam an. Trotzdem ist in den letzten zehn bis zwanzig Jahren aufgrund der sprunghaften wissenschaftlichen und technischen Entwicklung, und nicht zuletzt aufgrund einschneidender gesellschaftlicher Veränderungen, allgemein ein gesteigertes Interesse am Fortschritt zu beobachten. Außerdem erneuert sich natürlich im Zuge der immer drastischer werdenden Kapitalherrschaft das Interesse an der Marxschen Theorie. Die ökonomische und soziale Tendenz dieser sogenannten .Globalisierung' wurde von Marx und Engels vor über 150 Jahren in der Deutschen Ideologie sehr eindrücklich als Verwandlung der Geschichte in Weltgeschichte, beschrieben, nämlich als die .Vernichtung' der ,,ursprüngliche[n] Abgeschlossenheit der einzelnen Nationalitäten durch die ausgebildete Produktionsweise" (1845/46, 24). Diese Umwandlung hat sich bisher so dargestellt, „daß die einzelnen Individuen mit der Ausdehnung der Thätigkeit zur Weltgeschichtlichen immer mehr unter einer ihnen fremden Macht geknechtet worden sind ... einer Macht, die immer massenhafter geworden ist & sich in letzter Instanz als Weltmarkt ausweist". (Ebd., 25) Die Weltgeschichte ist also gerade aus Marxscher Sicht alles andere als ein Fortschritt. Vor dem Hintergrund dieser Tendenzen stellt sich zunehmend eine gewisse Gelassenheit gegenüber den ab ungefähr der Mitte des letzten Jahrhunderts von rationalismuskritischen und neovitalistischen Strömungen an die Philosophie und die
1964). Die hier versammelten Vorträge namhafter Philosophen wie Adorno, Löwith, Gehlen, Blumenberg und Habermas gehen auf eine Tagung der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland zum Thema Fortschritt zurück. Die Wahl des Themas, so das Vorwort, bekunde „eine entschiedene Zuwendung zu dieser Welt", der sich die akademische Philosophie bisher verweigert habe (1964, 9). Allerdings ist die .Zuwendung' zum Fortschritt „mehr von Staunen und Sorge motiviert als von Zutrauen oder gar Fortschrittsbegeisterung". (Ebd.) 2.) Die Fortschrittsdiskussion der Deutschen Zeitschrift für Philosophie aus dem Jahr 1989. Die zu diesem Zeitpunkt noch herrschenden realsozialistischen Zustände führen zu einer mehr oder weniger ergiebigen Debatte, die um den Marxistischen Fortschrittsbegriff kreist - mit einem Wort: um den .Formationsfortschritt'. 3.) Der Band Nr. 230 der Zeitschrift Das Argument (1999) beinhaltet insgesamt gut drei Dutzend kurze Umfrageergebnisse und längere Beiträge von Sozial- und Geisteswissenschaftlern zum Thema Fortschritt. Manche dieser Beiträge sind schon darum wichtig, weil sie sich direkt mit Karl Marx auseinandersetzen. Der Band gibt vor, ,den Fortschritt neu denken' zu wollen, und zwar unter ausdrücklicher Berücksichtigung der Rückschrittskategorie. Tatsächlich legen viele - keineswegs alle - der Beiträge ein vortreffliches Zeugnis von dem bereits erwähnten Katastrophismus ab, der als .Dialektik' auf Walter Benjamin zurückgeführt und ausdrücklich gutgeheißen wird. 4.) Empfehlenswert ist auch die Aufsatzsammlung The Idea of Progress, herausgegeben von Arnold Burgen, Peter McLaughlin und Jürgen Mittelstraß (Berlin und New York 1997). Aufsätze aus der ganzen Welt decken ein großes Gebiet ab, u.a. die historische Entwicklung der Fortschrittsidee, die Bedeutung des wissenschaftlichen, politischen und künstlerischen Fortschritts, sowie spezielle Fortschrittsvorstellungen auf einzelwissenschaftlichen Gebieten (zum Beispiel in der Biologie).
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Sozialwissenschaften herangetragenen Problemen ein. - Vor allem gegenüber der These, die Unzahl der sozialen und kulturellen Erscheinungsformen erfordere einen absoluten Nominalismus, erzwinge also die Alternative: Relativität der ,Diskurse' oder Gewaltherrschaft des Universalismus (mitsamt seines Fortschrittsgedankens). Dieser Wechsel im intellektuellen Klima ist dem Fortschritt natürlich zuträglich. Überall erstarkt jetzt wieder die Einsicht, dass eine Welt ohne Fortschritt in der hier nahegelegten Bedeutung eine schlechte Welt ist.
III Heilslehrenvorwurf und Ambivalenztheorie: Hauptformen zeitgenössischer Fortschrittskritik
1. Die Hauptformen der Fortschrittskritik Fortschritt war immer umstritten. Schon der bloße Gedanke an Verbesserung unterstellt einem bestimmten Ding oder einem bestimmten Verhältnis einen Mangel. Wer diesen Mangel nicht verspürt oder nicht wahrhaben will, dem wird die Notwendigkeit der Verbesserung in diesen Dingen oder Verhältnissen nicht einleuchten. Zwei Faktoren tragen allerdings dazu bei, dass sich die Fortschrittskritik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschärft, und nun in Philosophie und Sozialwissenschaft auch systematische Züge annimmt: Erstens, die Erfahrung weitreichender Verwüstungen und der massenhaften Tötung von Menschen in einem scheinbar noch nie da gewesen Ausmaß, sei es durch die Weltkriege und andere bewaffnete Auseinandersetzungen oder durch von Menschenhand verursachte Zerstörung der natürlichen Umwelt. Zweitens, der Niedergang oder das Wegfallen progressiver kultureller und politischer Bewegungen - allen voran der tendenziell fortschrittsgläubige Sozialismus, sei es als Staatsform oder als Gedankengebäude und Weltanschauung von globalem Rang. Aus diesen Gründen ist heutzutage der Glaube an die überlieferten Fortschrittsinhalte - an die Naturbeherrschung, an die Möglichkeit einer humanen Nutzung von Wissenschaft und Technik, an die Realisierbarkeit von sittlichen und politischen Idealen, und an Vorstellungen wie Vernunft und Objektivität - zutiefst erschüttert. Vor diesem Hintergrund war es unvermeidbar, dass auch die Theorien von Karl Marx, speziell seine als Historischer Materialismus bekannt gewordene Geschichtsauffassung, noch stärker in Zweifel gezogen werden würden, als dies ohnehin bereits der Fall war. Die Marxsche Sozialphilosophie war ja schon lange vor dem Ausgang des 20. Jahrhunderts zum Idealtyp der prophezeienden Ineinssetzung von Fortschritt und Geschichte aufgebaut worden - zu einer dogmatischen Heilslehre. Diese Interpretation ist umso wirksamer gewesen, als einflussreiche Strömungen des Marxismus dieses Bild aktiv mitgeprägt haben. Man kann sogar sagen, dass die Sichtweise, die in Marx den Vertreter einer fertig ausgearbei-
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teten, universalistischen und fortschrittsorientierten .Theorie der Geschichte' erkennt, sowohl offizialmarxistische als auch anti-marxistische Standpunkte in sich vereint. Diese Vermischung findet sich mehr oder weniger versteckt in den neuerdings vermehrt auftauchenden Versuchen der Bilanzierung des Erbes - also der historischen Leistungen und/oder Verfehlungen - Marxens und des Marxismus. Typisch für diese Variante der Marxlektüre ist die „kurz und bündig" ausfallende ,Bilanz' Volker Gerhardts. Der Marxismus - das heißt bei Gerhardt vor allem: Marx selbst - stehe an der „Spitze" einer „typischefn] Theoriegestalt des 19. Jahrhunderts ... ein Gemisch aus aufgeklärtem Säkularismus, szientifisch-politischem Fortschrittsbewusstsein, Hegel'scher BegrifFsmetaphysik, romantischer Sehnsucht nach universeller Einheit von allem mit allem, faustischem Tatverlangen und - krudem Positivismus". (2001, 370, 375).1 In dieser Aussage sind bereits alle zentralen Annahmen der zeitgenössischen, kritischen Rezeption der Marxschen Sozialphilosophie inklusive ihrer Geschichtsauffassung und ihres FortschrittsbegrifFs enthalten: Wir haben es angeblich mit einem von moralischen Zielsetzungen motivierten und also in letzter Instanz teleologisch konzipierten, nur als Wissenschaft verkleideten Fortschrittsglauben zu tun. Dieser richtet sich mit dem Versprechen, die Geschichte werde Einheit und Versöhnung bringen, an die gesamte Menschheit. Gerhardt gibt sich gönnerhaft: Die Rede von der Spitzenstellung der Marxschen Theorie soll uns vermitteln, dass hier ein Fortschrittsglaube zugrunde liegt, der einer gewissen Qualität nicht entbehrt, der jedoch ein Produkt seiner Zeit ist, 1
Gunnar Hindrichs' Auseinandersetzung mit dem Marxistischen Erbe impliziert ebenfalls ein universalistisches Fortschrittsdenken. Das „gesamte Werk" von Karl Marx unternehme nämlich die „geheime Ausformulierung" (2006, 710) einer Doppelthese des jungen Marx. Diese Doppelthese findet sich in Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung und lautet: „Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie." (MEW 1, 391) Damit steht für Hindrichs der vermeintlich unvernünftige Widerspruch zwischen Sein (gesellschaftlicher Wirklichkeit) und Denken (Philosophie) als philosophischer Kern des Marxschen Denkens fest. Marx' Bemühungen kreisen primär darum, für diesen Widerspruch eine ,vernünftige' praktische Lösung zu finden (2006, 719). Mit den beiden Größen .Philosophie' und .Proletariat' habe Marx das Verhältnis von Theorie und Praxis völlig neu formuliert. Mehr noch, der „geheime Kern" seiner Doppelthese bestehe eben darin, das er „das Jenseits des Verhältnisses von Theorie und Praxis zu denken sucht" (ebd., 720). Genau das ist aber im real existierenden Sozialismus historisch schon geschehen, woraus Hindrichs folgende Lehre zieht: „Die anhand der Doppelthese erinnerte Gestalt des Marxismus macht freilich zunächst sehr deutlich, weshalb es sich bei ihm um einen Toten handelt. [...] Der Horizont der Überwindung des jetzigen Zustands hat sich geschlossen. Damit hat die Doppelthese ihre Kraft verloren." (Ebd., 725) Was wir von Marx geerbt haben, wiege trotzdem schwer: Es ist die Einsicht, dass eine Philosophie, welche die Frage nach ihrer Verwirklichung nicht mehr stellt, eine selbstgenügsame, über alle Maße bescheidene Philosophie ist. Sie kann die Bedingungen ihrer eigenen Existenz nicht mehr reflektieren und versäumt es daher, die ihr zur Verfügung stehenden praktischen Möglichkeiten zu nutzen (ebd., 726). Das ist sicher richtig. Da Hindrichs Marx jedoch so versteht, dass sein Werk auf die Überwindung des Widerspruchs zwischen Wirklichkeit und Philosophie zielt, stellt er ihn als ,abstrakten' universalistischen Fortschrittsdenker dar. Wie ich noch zeigen werde, wird dieses Denken aber bereits von Marx selbst als ,totes' Denken verstanden. Und Tote können in der Tat nur noch beerbt werden.
D I E HAUPTFORMEN DER FORTSCHRITTSKRITIK
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in der er vielleicht eine Berechtigung hatte, auf die er aber beschränkt bleibt. Soweit die herkömmliche Rezeption des Marxschen Fortschrittsdenkens. Im Gegensatz dazu sehe ich die Infragestellung der begrifflichen Verknüpfung von Fortschritt und Menschheitsgeschichte als eine der wichtigsten und nachhaltigsten Leistungen des Werkes von Karl Marx, das gerade deshalb heute noch aktuell ist. Wenn allerdings die Aktualität des Marxschen Fortschrittsbegriffs wieder in den Vordergrund gerückt werden soll, dann muss dem eine gründliche Bestandsaufnahme der Methode und der Prinzipien der zeitgenössischen Fortschrittskritik vorausgehen, da diese Methode und diese Prinzipien freilich auch die heutige Marxlektüre bestimmen. Nachdem im letzten Kapitel davon die Rede war, was Fortschritt ist oder bedeutet, soll dieses Kapitel nun einführen in die Art und Weise, wie in der zeitgenössischen philosophischen Literatur über Fortschritt gesprochen wird. Diese Sprechweise muss geklärt werden, bevor mit der Rekonstruktion des impliziten Marxschen Fortschrittsbegriffs begonnen werden kann. Unter .zeitgenössisch' verstehe ich dabei die Erneuerung der Auseinandersetzung mit dem Fortschrittsgedanken ungefähr seit der Mitte des letzten Jahrhunderts. Dieser Diskurs steht unter dem Eindruck zweier Weltkriege, einer tiefgreifenden Ernüchterung in Anbetracht der Politik und der Kultur der industriellen Massengesellschaft und einer Intensivierung der philosophischen Kritik der Objektivität und der Vernunft.
a.
Absolute und relative Fortschrittskritik
Wer sich ein Bild vom Stand des Nachdenkens über den Fortschritt machen will, der muss eigentlich nur Hannah Arendts Schrift Vom Leben des Geistes (Teil 2: Das Wollen) zur Hand nehmen. Die meisten der heutzutage gängigen Ansichten zur historischen Herkunft und zur logischen Beschaffenheit des modernen Fortschrittsgedankens sind hier versammelt. Allen voran die Annahme, Fortschritt sei ein völlig neuer Begriff (2006, 258), an den kein Zeitalter mit größerer Naivität geglaubt habe als das 19. Jahrhundert. Fortschritt sei außerdem immer ein Kollektivsingular (Fortschritt der Menschheit), und er sei selbstverständlich ein telisches Konzept, das dementsprechend mit den Mitteln der Vernunftkritik angegangen werden muss. Nach Arendt pflegte das 19. Jahrhundert einen „dogmatischen Glaube[n]" (ebd., 282) an den Fortschritt, es ist das „fortschrittstrunkene 19. Jahrhundert" (ebd., 441); „Marxens Phantasie eines klassenlosen und konfliktfreien ,Reichs der Freiheit'" (ebd.) lege davon Zeugnis ab; Fortschritt sei mit dem gradlinigen Zeitbegriff - mit welchem Zeitbegriff auch sonst? - verbunden (ebd., 260); Fortschritt und Menschheit seien „miteinander zusammenhängende Ideen" (ebd., 382), ja Fortschritt sei „der von der Menschheit gehegte Plan" (ebd., 38lf.), der bei Smith, Kant, Hegel, und schließlich bei Marx im ,Diamat' zum Zuge komme; Fortschritt verstehe die Zukunft nur noch „als das, was wir durch die Pläne des Willens bestimmen können" (ebd., 386). All diese Bestimmungen gehen dann im letzten Satz des Buches in der Überzeugung zusammen: „die Idee des Fortschritts ... widerspricht dem Kantischen Begriff der Menschenwürde" (ebd., 462).
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Arendts Beispiel ist typisch für das Misstrauen der Gegenwartsphilosophie gegenüber dem Fortschrittsgedanken. Freilich ist eine fundierte Kritik an einer Idealobjektivation, also an einem Begriff, dessen Bedeutung sich sozusagen ,νοη selbst versteht', kein ganz einfaches Unterfangen. Bevor ich darauf näher eingehe, müssen jedoch zwei wesentliche Formen der Fortschrittskritik unterschieden werden: Bei der absoluten Fortschrittskritik handelt es sich um das doch eher seltene Phänomen einer zumindest verbal vorgetragenen grundsätzlichen Ablehnung des Fortschritts. Fortschritt sei nicht wünschenswert oder eine Illusion, und deshalb sei die Hoffnung auf ihn ein Trugschluss. Die absolute Fortschrittskritik steht dem Nihilismus nahe oder sie ist im anthropologischen Sinne (was also den Wert der menschlichen Existenz anbelangt) hochgradig pessimistisch. Zwei ihrer bekannteren Vertreter sind Nietzsche für das 19., und Cioran für das 20. Jahrhundert. Die absolute Fortschrittskritik beteiligt sich nicht an der Diskussion um die Zwecke der fortschrittlichen Bewegung. Wer, wie Cioran, vom Nachteil spricht, geboren zu sein, der interessiert sich natürlich nicht dafür, wie die durchschnittliche Lebenserwartung gesteigert werden könnte, um nur das Beispiel eines seit jeher ganz wichtigen Fortschrittsziels zu nennen; der sorgt sich infolgedessen auch nicht darum, ob der wissenschaftliche und der technische Fortschritt in den Dienst einer solchen Verbesserung des Lebens gestellt werden kann. Eine dem Pessimismus nicht ganz unähnliche Strömung der absoluten Fortschrittskritik ist traditionell der Vitalismus gewesen, der den Fortschrittsbegriff ebenfalls schon sehr früh anzugreifen beginnt. Für den im frühen 20. Jahrhundert schreibenden Vallentin bedroht der Fortschritt die ruhenden, sich zwar aus Teilen zusammensetzenden und doch einheitlichen Gebilde ,Kultur' und ,Leben'. „In seiner parasitären gier" rufe der Fortschritt gegen diese Einheit „gewalttätig herrschbegierig gegen jede Vernunft das verschwollene teilwesen als das erfüllte weltganze aus". (1910, 55, Kleinschreibung im Original) Die Kritik zielt also bereits auf die falschen Heilsversprechen, hinter denen, als die eigentliche Absicht des Fortschritts, eine ruchlose Herrschsucht vermutet wird. In etwas anderer Form findet man diese These heutzutage bei nominalistischen Vitalisten wie Lyotard. Die Schlussfolgerung Vallentins ist aber eine andere: Bedauert wird nicht, wie heute üblich, die Zusammenfassung der einzelnen Teile in den Universalfortschritt, sondern umgekehrt, dass der Fortschritt das Eine und Ganze der Kultur zerschlage. Deshalb müsse „die einfache festsetzung und bejahung des dem reinen auge sichtbar gegenwärtigen lebenskomplexes, die brüderliche ergreifung, des geistganzen zeitlichen durch die geistganze person" (ebd., 58) vor dem Fortschritt geschützt werden. Denn nur das „unteilbare geistganze" ist der „träger des lebens" (ebd., 59). Die dominante Variante der zeitgenössischen Kritik am modernen Fortschrittsbegriff ist aber mehrheitlich weder durch den Nihilismus noch durch den Vitalismus bestimmt (wenngleich letzterer im Poststrukturalismus eine wichtige Rolle spielt). Die zeitgenössische Fortschrittskritik versteht sich vielmehr selbst als ein fortschrittsorientiertes Denken, und die Mehrheit ihrer Vertreter würde sich wohl selbst als progressiv bezeichnen. Sie ist daher eine relative Fortschrittskritik. Das heißt, sie will am Fortschritt als etwas grundsätzlich Positivem festhalten, wenngleich sie sich dazu angehalten sieht, seine sittlich oder epistemologisch fragwürdige Seite zu problematisieren. Typisch für
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diese Haltung ist die Forderung Adornos und Horkheimers, die „Besinnung auf das Destruktive des Fortschritts" dürfe nicht „seinen Feinden überlassen" werden. Die Aufklärung müsse das ihr innewohnende „rückläufige Moment" reflektieren oder sie werde untergehen (1997, 3). Hier werden zwei Aussagen gemacht: der Fortschritt beinhaltet ein negatives Element, das zu verurteilen ist. Wir sind jedoch nicht dazu aufgerufen, uns ganz vom Fortschritt loszusagen. Das wirft eine Frage auf, die sich die Fortschrittskritik selbst nicht stellt: An welchem Aspekt von Fortschritt soll eigentlich festgehalten werden? Bei genauerem Hinsehen stellt sich dann heraus, dass die im Fortschritt als Wertvorstellungen gesetzten Entwicklungsziele für bewahrenswert erachtet werden. Dieser Zusammenhang wird weiter unten im dritten Abschnitt ausführlicher besprochen; ohne dem zu weit vorzugreifen kann aber an dieser Stelle schon erwähnt werden, dass es die relative Kritik darauf abgesehen hat, die Abwägung der Mittel und damit den , Preis des Fortschritts' zu problematisieren. Soweit die beiden Hauptformen der Fortschrittskritik. Dieses Kapitel konzentriert sich auf die relative Fortschrittskritik, da die gegenwärtig wiederauflebende Diskussion des Fortschrittsbegriffs weitgehend von ihr getragen wird. Die beiden herausragenden Verfahrensweisen oder theoretischen Werkzeuge der zeitgenössischen Fortschrittskritik sind der Heilslehrenvorwurf und die Ambivalenztheorie.
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Heilslehrenvorwurf und Ambivalenztheorie: Unterschiede und Gemeinsamkeiten
Wie im Einleitungskapitel bereits ausführlicher dargestellt wurde, fordert der zentrale methodischer Grundsatz dieser Arbeit die Gleichberechtigung der formalen und der inhaltlichen Bestimmung des Fortschritts. Die Bewegungsform einer bestimmten Entwicklung ist für das Fortschrittdenken ebenso wichtig, wie die vom Fortschrittsurteil unterstellte Qualität dieser Entwicklung. Meines Erachtens wird diese Differenzierung im Fortschritt zwischen Bewegungsbegriff und Wertbegriff geradezu dadurch erzwungen, dass die gegenwärtige Fortschrittsdiskussion im Zeichen des Heilslehrenvorwurfs und der Ambivalenztheorie steht. Ein gemeinsames Merkmal dieser beiden Herangehensweisen ist nämlich, dass sie Fortschritt fast ausschließlich als Wertbegriff betrachten, so dass sich der Schluss, es sei die verweltlichte „Idee der Erlösung, auf die der Begriff des Fortschritts von sich aus immer hinaus will" (Burger 1982, 12), wie von selbst ergibt. Das Fortschrittsdenken wird auf seine axiologische Dimension reduziert. Besonders erfolgreich vertreten wird diese Reduktion von Karl Löwith, der den Heilslehrenvorwurf zwar nicht erfunden hat, der ihn aber wie vielleicht kein Zweiter zur Grundlage einer einflussreichen Philosophie gemacht hat, die deswegen hier größere Beachtung finden wird. Gerade der Heilslehrenvorwurf kann jedoch mit einiger Leichtigkeit als relativ undifferenzierte Verkürzung des Fortschrittsbegriffs auf seine axiologische Dimension entlarvt werden. Eine ausgeklügeltere Variante der zeitgenössischen Fortschrittskritik zielt deshalb zusätzlich auch auf die formale Dimension des Begriffs, indem sie fordert,
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Fortschritt müsse als eine widersprüchliche - nämlich als eine ambivalente (doppeldeutige) - Bewegung aufgefasst werden. Diese Ambivalenztheorie dominiert heutzutage die Debatte um den modernen Fortschrittsbegriff. Meiner Meinung nach erklärt sich die Skepsis gegenüber dem Geschichtsoptimismus sogar weitgehend aus der Annahme der Ambivalenz fortschrittlicher Entwicklungen, für die es unbestreitbar auf den ersten Blick triftige Gründe zu geben scheint. Mit der Vorstellung von der Ambivalenz des Fortschritts ist die Annahme einer Vereinigung von Entwicklungstendenzen mit gegensätzlicher Bestimmung in einem Begriff gemeint. Man spielt sozusagen auf die .Schattenseite' des Fortschritts an, auf die Existenz von nicht-fortschrittlichen Entwicklungen im Fortschritt selbst. In gewisser Weise folgt der moderne FortschrittsbegrifF schon seit langer Zeit diesem widersprüchlichen Muster. Ungefähr seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird in der Philosophie immer häufiger ein gegensätzlicher, zeitlich unbegrenzter und dennoch dem Wesen nach fortschrittlicher Verlauf der Geschichte vorausgesetzt. Dieses traditionelle Konfliktmodell der Geschichtsentwicklung ist eine Errungenschaft der Aufklärung. Sie stellt gegenüber dem ursprünglich linearen Entwicklungsbegriff einen ersten Schritt in Richtung auf eine den Anforderungen der Moderne entsprechende .pluralistische' Geschichtsauffassung dar. Weil aber gleichzeitig der historische Gesamtprozess unter den Kollektivsingular Fortschritt subsumiert wird, und weil Fortschritt somit zum universalen Prinzip oder zum Gesetz der Entwicklung erhoben wird, wird der Zuwachs an Pluralismus wieder zunichte gemacht. Konkret macht sich das als Vernachlässigung der dem Universalfortschritt zuwiderlaufenden Entwicklungen bemerkbar. Das Geschichtsdenken auf der Grundlage des traditionellen Konfliktmodells ist daher insofern ein teleologisches und auf Versöhnung ausgerichtetes Denken, als es diese gegensätzlichen Tendenzen als notwendige Momente des Entwicklungsprozesses in den Fortschritt,aufzuheben' versucht. Es ist dieser ambivalente Fortschritt als Universalbegriff im Sinne des Kollektivsingulars, der in den heutigen Diskussionen als .moderner', ,naiver' etc. Begriff aufgegriffen und kritisiert wird. Das Paradoxe daran ist, dass der Ambivalenztheorie des Fortschritts prinzipiell die gleiche Konzeption von gegensätzlicher Entwicklung zugrunde liegt wie dem Fortschrittsbegriff, den sie kritisiert. Die Kritische Theorie, der Neovitalismus (Poststrukturalismus), und auch die Rede von der Dialektisierung des Fortschritts vertreten meist selbst einen wie auch immer benannten ambivalenten Fortschritt. So verbindet beispielsweise Adorno Elemente des Heilslehrenvorwurfs und der Ambivalenztheorie zu einer ,Dialektik des Fortschritts': Fortschrittsdenken ist Heilsdenken: „Die existente Menschheit wird anstelle der noch ungeborenen untergeschoben, Geschichte zur Heilsgeschichte unmittelbar. Das war der Prototyp der Vorstellung von Fortschritt bis zu Hegel und Marx." (1964, 33) Dieser Menschheitsfortschritt ist aber widersprüchlich: „Ein Stück Dialektik des Fortschritts ist es, dass die geschichtlichen Rückschläge ... selbst vom Fortschritt angezettelt werden." (Ebd. 41) Die Begrifflichkeiten Heilslehrenvorwurf und Ambivalenztheorie umreißen meist eine skeptische Grundstimmung: Fortschritt wird nicht mehr als Verbesserung verstanden, sondern als Ausdruck der Suche nach irgendeinem erhofften Heil, und als
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ein den eigenen Mitteln gegenüber mit Blindheit geschlagenes, und daher potentiell gefährliches und an Legitimationsmangel leidendes Phänomen, für das grundsätzlich ein hoher ,Preis' zu entrichten ist. Heilslehrenvorwurf und Ambivalenztheorie sind durch das Problem der Geschichtsteleologie miteinander vermittelt, das diesen beiden Strömungen sozusagen als philosophischer Bodensatz zugrunde liegt. Der Heilslehrenvorwurf kommt freilich ohne eine teleologische Vorstellung von Entwicklung nicht aus, da er sich ja auf die Unterstellung spezialisiert, Fortschrittsdenken sei immer ein finalistisches Denken. Der Geschichtsprozess werde nicht wirklich erklärt, vielmehr werde ihm durch die Voraussetzung idealer, noch zu realisierender Zwecke ein tiefer eschatologischen Sinn verliehen. Die nach diesem Muster in die Zukunft vorgeschobenen Zwecke dienen dem Geschichtsprozess zusätzlich als Antriebsmittel, da sie ihn sozusagen auf sich ziehen. Was in allem Geschichtsdenken stattfinde sei also letztendlich die Übertragung des zweckrationalen Handlungsschemas (ideale Zwecksetzung) auf den Geschichtsprozess. In anderen Worten ausgedrückt versteht der Heilslehrenvorwurf das Geschichtsdenken als projektives Denken, und ohne dies auszusprechen vertritt er folglich einen ethischen Anti-Realismus: Das projizierte Heil ist kein objektiver Wert, sondern lediglich ein veräußerter Bewusstseinsinhalt. Was die Ambivalenztheorie anbelangt, so steckt die Teleologie insbesondere in dem Gedanken der Verkehrung der vorausgesetzten guten Idee in ihr Gegenteil. Fortschritt hat diese negative Seite an sich. Negative Entwicklungen aller Art werden somit als im Fortschritt selbst angelegte Potentiale konzipiert. Kein Wunder also, dass die skeptische Untersuchung des Fortschritts durch die Ambivalenztheorie zu einem ähnlichen Schluss kommt wie der ordinäre Heilslehrenvorwurf: Die im Fortschritt als Entwicklungsziel vorausgesetzte gute Idee stellt sich langfristig als ein leeres Versprechen heraus. Schlimmer noch, Fortschritt wird zu einem ernsthaften gesellschaftlichen Problem, da er seine Kehrseite nicht reflektiert. Dieses Versäumnis wird für gewöhnlich so beschrieben, dass die Mittel, die zur Umsetzung der Idee herangezogen werden, in einem solchen Maße moralisch zweifelhaft sind, dass sie durch die Idee selbst nicht mehr gerechtfertigt werden können. Beide, Heilslehrenvorwurf als Ambivalenztheorie, kennen den Fortschritt also als voraussetzende, zukunftsorientierte und somit unweigerlich prophetische ideale Zwecksetzung. Propheten kommen bekanntlich dem Bedürfnis der Menschen entgegen, ihre Zukunft bestimmen und lenken zu können. Sie sagen Ereignisse der Zukunft vorher, was mit normalen Mitteln der menschlichen Erkenntnis nicht möglich ist. Traditionell haben Propheten jedoch oftmals kein Heil, sondern Unheil, Zerstörung, oder das Weltende verheißen, und deshalb zu einer Abkehr von bisherigen Verhaltensweisen geraten. Genauso verhalten sich auch viele zeitgenössische Kritiker der modernen Fortschrittsidee. Während allerdings im Heilslehrenvorwurf eine Abneigung gegenüber dem Anspruch von Wissenschaft und Philosophie, ohne den Rückgriff auf theologische Themen einen Zugang zur Geschichte finden zu können, zum Ausdruck kommt, versteht sich die Ambivalenztheorie eher als ein Regulativ zur vereinfachten Darstellung der Geschichtsentwicklung. Diese Form der Kritik zielt also auf die etwas anders gelagerte epistemo-
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logische Problematik der angebliche Naivität des fortschrittsorientierten Denkens, von dem nun behauptet wird, es vernachlässige die Vielfalt der Entwicklungsmöglichkeiten und übersehe darüber die Schattenseiten der Entwicklung. Im Zuge der Charakterisierung des Fortschrittsprozesses als Verkehrung der Idee gegen sich selbst wird die Ambivalenztheorie schließlich selbst von der Teleologie eingeholt, indem sie nämlich die dem Fortschrittsdenken vorgeworfene Projektion idealer Zwecke in ihren Thesen als gegeben voraussetzt. Die Ambivalentzheorie gleicht also dem Heilslehrenvorwurf darin, dass auch sie eine Variante der Projektivismustheorie ist. Von diesem unterscheidet sie sich wiederum dadurch, dass sie ihre Kritik mit der Berücksichtigung der Schattenseite des Fortschritts durch die Gegensatzthematik zusätzlich aufrüstet. Sie fordert auch nicht die Aufgabe bzw. die Re-Theologisierung des Geschichtsdenkens, sondern ein pluralistisches GeschichtsVerständnis. Der Zusammenhang von Fortschritt und Zweckbegriff wird im dritten Abschnitt auseinandergesetzt. An dieser Stelle scheint mir aber noch eine Bemerkung zum Zweckbzw. Zielbegriff in der Teleologie vonnöten. Beide Begriffe werden zwar deckungsgleich verwendet, weil Telos gemeinhin als Zweck/Ziel übersetzt wird, aber sie haben nicht wirklich identische Bedeutungen. Wer Telos sagt, sagt noch lange nicht Mittel, da der griechische Begriff weniger stark auf den Willensbegriff angewiesen ist als seine deutsche Übersetzung. Deutlich wird das am Beispiel der Entelechie, was soviel heißt wie ,was ein Ziel in sich hat' (griechisch entelecheia: ,Darinsein des Telos', ein von Aristoteles geprägter Begriff). Gemeint ist eine dem Sein immanente Kraft, die es auf seinen wesensgemäßen Ort bzw. auf seine wesensgemäße Vervollkommnung hintreibt (Brockard 1974, 1823). Diese Variante des teleologischen Denkens geht mit Hegel davon aus, dass „alles im Keime schon enthalten [ist], freilich nicht entwickelt, sondern eingehüllt und ideell ... Das höchste Außersichkommen, das vorherbestimmte Ende ist die Frucht, d. h. die Hervorbringung des Keims." (1986, 41) Es ist diese besondere Form von Teleologie, die für das von der zeitgenössischen Fortschrittskritik behandelten Geschichtsdenken charakteristisch ist. Das Telos fungiert hier also nicht unbedingt als Finalursache. Dieses Erklärungsmuster wird nämlich im aufgeklärten Geschichtsdenken schon bald als obsolet angesehen. Dieser Zusammenhang wird allerdings dadurch verkompliziert, dass dieses Denken (und infolgedessen auch seine Interpreten) in Wirklichkeit immer wieder dazu tendiert, das immanent angelegte Telos zu veräußerlichen und als objektives Geschichtsziel in der Zeit vorzuverlegen, von wo aus es dann determinierend auf den Entwicklungsgang einwirkt.
2.
Der Heilslehrenvorwurf als Löwithsche Formel
Aller Gemeinsamkeiten zum Trotz, und obwohl sie sich in der Literatur zur modernen Fortschrittsidee nicht immer klar auseinanderhalten lassen, sind Heilslehrenvorwurf und Ambivalenztheorie nicht dasselbe, denn sie vertreten gegenüber dem Fortschrittsbegriff unterschiedliche Positionen. Das charakteristische Merkmal des Heilslehrenvorwurfs ist seine Skepsis gegenüber philosophischen Entwürfen und Theorien der Geschichte oder
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des Fortschritts auf der Basis eines Universalsubjekts (die Menschheit oder die Gesellschaft). Der Heilslehrenvorwurf hat also eine besondere Sichtweise auf die neuzeitliche Philosophie der Geschichte: Diese sei grundsätzlich das spekulative Konzept einer Universalgeschichte, für das Geschichte notwendigerweise einheitlich, zielstrebig, endlich ist. Dieses finalistische Moment allen Geschichtsdenkens wiederum könne nur dann verstanden werden, wenn der Bezug zur Theologie hergestellt wird.
a.
Die Säkularisierungsthese
Gegen Ende der Kritik der reinen Vernunft (A804ff.) stellt Kant drei Fragen - zu der genau genommen noch die anthropologische, die anderen drei Fragen zusammenfassende vierte Frage Was ist der Mensch? gehört - , die das Vernunftinteresse der Menschen zusammenfassen: Die Frage Was kann ich wissen? ist ,bloß spekulativ', entspricht dem theoretischen Vernunftinteresse und fragt nach den Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Erkenntnis. Was soll ich tunl ist die Frage des ,bloß praktischen' Vernunftinteresses (das zentrale Problem der Ethik). Die Frage Was darf ich hoffend schließlich enthält die Einheit von praktischem und theoretischem Vernunftinteresse. Weil es hierbei allerdings um das Ideal des höchsten Gutes geht, ist diese Frage verknüpft mit Gott und dem ,künftigen Leben' als den uns mit Verbindlichkeit auferlegten Voraussetzungen der Vernunft (A811). Daher wird diese Frage letzten Endes von der Religion beantwortet, genauer: von der Eschatologie, also von der Rede oder der Lehre vom ,Letzten' und ,Endgültigen', von den ,letzten Dingen' (griech. eschaton).2 Eschatologie und Geschichte sind die zentralen Themenkomplexe des Heilslehrenvorwurfs. Deren Verbindung wiederum ist in der Philosophie als das Problem der historischen Umsetzung oder Übersetzung eschatologischer (theologischer) Inhalte in die neuzeitliche (säkulare) Form der Geschichtsphilosophie verstanden worden. Was hier unter der Überschrift,Heilslehrenvorwurf' oder ,Löwithsche Formel' besprochen wird, beruht auf den Axiomen dieser sogenannten Säkularisierungsthese. Im Zentrum der Säkularisierungsthese steht das Verhältnis von Geschichte und Theologie bzw. das Verhältnis von theologischem und philosophischem Geschichtsdenken. Dabei wird auf die besondere Art der Eschatologie abgehoben, die von der Endgeschichte im Sinne eines Heilsgeschehen sprechen möchte. Die Säkularisierungsthese 2
Im geschichtstheoretischen Diskurs bezieht sich die Eschatologie auf die Dimension der erhofften Zukunft menschlicher Vollendung. Ursprünglich, also in der vorkonziliaren Neuscholastik, verstand man unter Eschatologie vor allem die .Lehre von den letzten Dingen' (de rebus novissimis). Damit waren jene Ereignisse gemeint, die entweder dem einzelnen Menschen nach seinem Tod begegnen (individuelles Gericht, Fegefeuer, Himmel oder Hölle) oder die Weltgeschichte als ganzes beenden (Wiederkunft Christi, Auferstehung der Toten und allgemeines Gericht, das endzeitliche Handeln Gottes). Spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65), das eine betonte Hinwendung der Kirche zur Geschichte und zur Welt vollzog, wird die geschichtliche und die kosmologische Dimension der erhofften Zukunft unserer Vollendung stärker betont (vgl. Kehl 1988, 17).
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kann in der gesamten neuzeitlichen Theorie oder Philosophie der Geschichte nur das erblicken: eine säkulare Darbietung ehemals theologischer Inhalte. Jaeschke zeigt, dass sich die Theologie ursprünglich dieser These bediente, um sich so ihre Relevanz für gegenwärtige Diskussionen zu erschleichen und ihr Besitzrecht auf die Erfahrung von Geschichte geltend zu machen (1976, 329).3 Dieser Besitzanspruch stößt schon in den 1960er Jahren auf Widerstand, vor allem bei Hans Blumenberg: Wenn Säkularisierung als der Menschen selbstherrlicher Griff nach den ,letzten Dingen' ausgelegt wird, dann werde damit das kritische Selbstverständnis des Menschen in der Autonomie seiner Vernunft unterlaufen. Der als Säkularisierungsprozess verstandene Vorgang sei aber keine Umsetzung theologischer Inhalte in eine neue, säkulare Form, sondern es handele sich vielmehr um eine Neubesetzung vakant gewordenen Positionen (1964, 250). Damit ist die neuzeitliche Geschichtsphilosophie also eben kein reines Säkularisat von als theoretische Substanz wirksamen, ehemalig christlichen Anschauungen, sondern ein eigenständiger, neuer Ansatz innerhalb des philosophischen Welterklärungsschemas. Freilich sind die theologischen und die geschichtsphilosophischen Vorstellungen vom Endzeitlichen grundverschieden hinsichtlich ihres Verständnisses von Zeit, wenngleich beide die Vektorkonzeption der Zeit teilen mögen. Aber die apokalyptische Vorstellung spricht in ihren Urdokumenten von einer Ewigkeit jenseits des Lebens und jenseits der Geschichte - und das heißt: jenseits der Zeit. Davon kann bei der modernen Geschichtsphilosophie nun wirklich keine Rede sein. Im Gegensatz zur Geschichtsphilosophie behauptet die Christliche Eschatologie ein finales Heraustreten der Menschen aus der Zeit, über welches die Offenbarung überhaupt erst wirksam wird. Beispielsweise ist die Zeit für Augustinus ein Standort der Unsicherheit, da in ihr sowohl Aufstieg als auch Niedergang stattfinden kann. Eine Versöhnung erfährt dieser andauernde Gegensatz erst mit dem kosmischen Event der Parusie (die Wiederkunft Jesu Christi) an der Schwelle zur Ewigkeit, dem tatsächlichen Ende der Zeit (vgl. die Offenbarung des Johannes 21: 1-8). Worauf die Kritik der Säkularisierungsthese noch nicht hingewiesen zu haben
3
Eine genaue Bestimmung des Verhältnisses von theologischem und philosophischem Geschichtsdenken sowie eine ausführliche Darstellung des Wandels, den es unterlaufen hat, findet sich bei Jaeschke (1976, 13ff.). Freilich kann die These von der historischen Abkunft im Blick auf den Unterschied von Substanz/Ursprung (theologische Eschatologie) und Entsprungenem (neuzeitliche philosophische Eschatologie) als noch zu schwach angesehen werden, wenn die Säkularisierungsthese zusätzlich behaupten wollte, der Ursprung solle über das Entsprungene verfügen. Jaeschke unterscheidet darum zwischen der .genealogischen' und der .systematischen' Säkularisierungsthese. Letztere behauptet, das neuzeitliche Geschichtsdenken sei nicht nur Säkularisat einer christlichen Substanz (stehe also in genealogischer Dependenz vom theologischen Geschichtsdenken), sondern es könne in seiner Gesamtheit überhaupt nur durch die Eschatologie erschlossen werden. „Die systematisch formulierte Säkularisierungsthese vermag, was die genealogische zumindest nicht unmittelbar leisten kann, da allein im Nachweis der Genealogie keine unmittelbare Handhabe zur prinzipiellen Kritik gegenwärtiger Geschichtsphilosophie liegt: sie braucht prinzipiell nur auf Offenbarung gegründete Geschichtsphilosophie anzuerkennen, somit allein Geschichtstheologie." (1976, 15)
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scheint ist also, dass der Inhalt der theologischen Heilslehre nach dem Selbstverständnis dieser Lehre zum Teil gar nicht verweltlicht und im strengen Sinne als .Geschichte' betrachtet werden kann, weil er sich außerhalb der Zeit befindet. Auf den Disput um die Säkularisierungsthese kann hier nicht näher eingegangen werden. Statt dessen konzentriere ich mich an dieser Stelle auf den deutschen Philosophen Karl Löwith (1897 - 1973), einem der „profiliertesten Repräsentanten der substantialistischen Form der Säkularisierungstheorie" (Jaeschke 1976, 36f.), der sich wiederholt auch mit Marx auseinandersetzt. Löwith macht den auf der Säkularisierungsthese basierenden Heilslehrenvorwurf zu einem zentralen Thema seiner Philosophie. Für ihn ist das neuzeitliche Geschichtsdenken mitsamt der Rede vom Fortschritt im Ganzen durch die von einem Bedürfnis nach Sinnerfüllung motivierte „hoffnungsvolle Erwartung" (1967, 37) an die Geschichte überschattet, weshalb es sich nie ganz von seinen vermeintlich theologischen Wurzeln ablösen kann. Für eine Auseinandersetzung mit Löwith spricht auch, dass er in der Popularisierung der Säkularisierungsthese wirksamer gewesen ist als andere, weil er nicht etwa von sich behauptet, im Auftrag der Verteidigung der christlichen Substanz (oder einer Rückkehr zu ihr) zu schreiben, sondern mit der Absicht einer umfassenderen Kritik des geschichtlichen Denkens im weiteren Sinne - und dieser Standpunkt ist bekanntlich in den letzten Jahrzehnten auch außerhalb der Philosophie in den Sozialwissenschaften wieder sehr populär geworden. Löwith, ein Philosophiehistoriker, Nietzscheinterpret und Skeptiker nach antikem Vorbild, erzielt seine größte Wirkung als Kritiker der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie. Auf diesen Weg gebracht wird er durch die generationsspezifische Erfahrung der Auflösung der bürgerlichen Welt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In der Geschichte sieht Löwith letztendlich eine fundamentale Bedrohung - eine gewaltige, von Notwendigkeit und Wandel gekennzeichnete Macht, der die Menschen ausgeliefert sind. Diese Problematik wird schon in der Schrift Von Hegel zu Nietzsche (1941) thematisiert, die von der Verkehrung des Hegeischen absoluten Geistes durch Marx und Kierkegaard in Marxismus und Existentialismus ausgeht: Der Zerfall bzw. die Zersetzung der Hegeischen Philosophie durch Marx und Kierkegaard zeitige eine moderne .Gnosis', deren politische Dimension sich im 19. und im 20. Jahrhundert in einem folgenschweren radikalen Willen zur Destruktion zugunsten eines zeitgeschichtlichen Handelns und einer chiliastisch gestimmten Haltung zur .Entschiedenheit' äußere (Ries 1992, 6). Löwith wendet sich nicht zuletzt gegen das geschichtliche Denken des Marxismus, weil er darin (und auch in zeitgenössischen Strömungen wie dem Existenzialismus oder der Lebensphilosophie) letztendlich die Verfolgung praktischer Zwecke und Interessen verkörpert sieht, die von seinem rein kontemplativen Verständnis von Philosophie grundverschieden ist. Aus dieser Stimmungslage ergibt sich schließlich eine allgemeine Skepsis gegenüber jeglicher Theorie und Philosophie der Geschichte, egal ob theologischer oder säkularer Provenienz: „Sich inmitten der Geschichte an ihr orientieren wollen, das wäre so, wie wenn man sich bei einem Schiffbruch an den Wogen festhalten wollte." Löwiths größte Sorge betrifft das, was er als die „Preisgabe des Menschen an das geschichtliche Denken" bezeichnet (1958, 345). Man dürfe ihm diese Sorge aber nicht als den
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Wunsch auslegen, zu den veralteten theologischen Modellen der Geschichtsentwicklung zurückzukehren. Statt dessen erteile er vielmehr eine doppelte Absage an die traditionelle Heilslehre mit ihrer Erwartung eines kommenden Gottes oder eines kommenden göttlichen Reiches und an die moderne Idee der Geschichte mit ihren weltlichen Heilsvorstellungen. In beiden Fällen kann er nur eine Historisierung des Entfaltungsprozesses von ,Sinn' erblicken, also den Versuch einer Ausdeutung des Sinnes der Geschichte. Löwith zweifelt daran, dass eine solche Deutung überhaupt möglich ist und sieht es darum als seine Aufgabe an, die Frage nach dem Sinn der Geschichte zu destabilisieren. Für Löwith bedeutet Philosophie primär die Beschäftigung mit dem Immergleichen: mit der Welt als das Eine und Ganze des von Natur aus immerwährend und sich nicht von Fall zu Fall verändernden Bestehenden. Dabei geht es ihm nach eigenen Angaben weder um eine Neuauflage noch um die Glorifizierung der antiken Kosmologie oder theologischer Weltbilder. Gerade am Beispiel Nietzsches will er den modernen, antichristlichen Gehalt dieser seiner Anschauung betont haben. Auf Gadamers Vorwurf, er betreibe die ,Ablehnung der Geschichte', reagiert Löwith dann auch entsprechend gereizt: Es gehe ihm nicht darum, „sondern um die Wiederherstellung der wahren und natürlichen Proportion zwischen Welt und Weltgeschichte". (1966, 215) Ganz egal wie Löwith nun seine Philosophie darstellen mag - er ist mit Sicherheit einer der einflussreichsten und vehementesten Verfechter des Heilslehrenvorwurfs. Hier besteht seine Leistung ganz offensichtlich darin, die überaus schlichte und ebenso originelle Säkularisierungsthese verständlich und prägnant zusammengefasst, und das gesamte neuzeitliche Geschichtsdenken im Sinne dieser provokanten und doch denkbar einfachen These umgedeutet zu haben. Da dieser Versuch sich langfristig als ein durchschlagender Erfolg erwiesen hat, nenne ich den Heilslehrenvorwurf die Löwithsche Formel. Diese Formel mag längst nicht mehr neu sein, aber sie hat bis heute nichts an Popularität eingebüßt, und vielleicht ist sie heute sogar weiter verbreitet als je zuvor.4
b.
Die Löwithsche Formel in Reinform: Weltgeschichte und Heilsgeschehen
Löwith warnt seine Leser, dass die dem Prozess der Säkularisierung implizite Heilsgeschichte die zunehmende Auflösung alles Seienden in der Geschichtlichkeit zur Folge hat. Diese Verfallenheit und dieses Ausgeliefertsein des Menschen an die Geschichte ist auch das Hauptthema seiner vielleicht bekanntesten, auf Vorträge und Vorlesungen zurückgehenden Schrift Meaning in History: The Theological Implications of the 4
Heutzutage ist es üblich vorauszusetzen, der Fortschrittsbegriff sei ein Abkömmling der Eschatologie. Adorno schreibt: „Das Moment der Erlösung, wie auch immer säkularisiert, ist untilgbar an ihm [dem Fortschritt]." (1964, 35) Auch Rapp argumentiert, die Krise des Fortschritts sei vor allem darin begründet, dass „in der säkularen, aufgeklärten Gesellschaft das Fortschrittsdenken weithin das funktionale Substitut für die transzendente, religiöse Sinngebung traditionaler Gesellschaften geworden ist: unser Gott ist die Geschichte. Wenn dieser Gott der Welt nicht mehr seinen Segen erteilt, wird sie heillos." (1993, 28)
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Philosophy of History, die erstmals 1950 in Amerika erscheint und als Weltgeschichte und Heilsgeschehen: Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie ins Deutsche übersetzt wird. Von Marx wird hier behauptet, er prophezeie die Herbeiführung eines Himmelreichs auf Erden durch das missionierende Proletariat: „Der historische Materialismus ist Heilsgeschichte in der Sprache der Nationalökonomie. Was eine wissenschaftliche Entdeckung zu sein scheint... ist vom ersten bis zum letzten Satz von einem eschatologischen Glauben erfüllt, der seinerseits die ganze Wucht und Reichweite aller Einzelfeststellungen bedingt." (1953, 54)5 Dieser Satz ist typisch für die Anwendung der Säkularisierungsthese durch die Löwithschen Formel. Paradoxerweise soll gerade die Orientierung auf die Praxis (auf das Proletariat) den Heilslehrencharakter der ganzen Theorie bezeugen. Aber spricht nicht gerade ein stark ausgeprägtes Praxisdenken gegen das Vorhandensein eschatologischer Tendenzen, da das verheißene und prophezeite Heil ja nicht erwirkt, sondern vielmehr nur passiv erwartet werden muss? Um sich gegen Einwände wie diese zu schützen, behauptet Löwith, es gebe nur zwei abstrakte Grundfiguren, mit denen sich der Ablauf von Geschichte systematisch begreifen lasse: „zyklische Bewegung und eschatologische Ausrichtung". In diesen beiden formalen Prinzipien, die respektive der Antike und dem Christentum zugeordnet werden, hätten sich die „grundsätzlichen Möglichkeiten des Geschichtsverständnisses erschöpft", und auch alle jüngeren Modelle der Geschichtsentwicklung seien „nichts anderes als Variationen dieser zwei Prinzipien oder ihrer Vermischung" (ebd., 30). Somit sperrt sich Löwith von Anfang an gegen jegliche Differenzierung und bietet eine sehr begrenzte Alternative: Entweder die Geschichte steuert auf das ihr gesetzte Ziel zu, wodurch sie rational erklärbar wird, oder aber sie ist eine ziellose Kreisbewegung und daher völlig sinnlos (das heißt, rational nicht erklärbar). Ein rationales, evolutionäres Geschichtsverständnis, das ohne eschatologische Elemente auskommt, kann er sich nicht vorstellen. Weltgeschichte und Heilsgeschehen stellt das Problem der Preisgabe des Menschen an die Geschichte explizit als historischen Prozess der Säkularisierung der jüdischchristlichen Eschatologie dar. Löwith unterscheidet zunächst zwischen altgriechischer Kosmologie und jüdisch-christlicher Geschichtsbetrachtung. Der Säkularisierungsprozess vollziehe sich in der Abfolge dieser Traditionen. Mit der Verzeitlichung der Metaphysik durch Hegels Geschichtsphilosophie erreiche er seinen Höhepunkt, um sich im Anschluss als Historismus, Existentialismus und Marxismus fortzusetzen. Nach der Löwithschen Formel ist die Vorstellung von Geschichte und Geschichtlichkeit sogar untrennbar mit der Religion verbunden. Es soll der Beweis geführt werden, 5
Dankbar hat sich die Theologie auf diesen Gedanken gestürzt, da er schließlich den Schluss zulässt, ihr metaphysisches Gebäude könne nicht eingerissen werden. Bultmann zum Beispiel stützt sich in seinen Bemerkungen zu Marx zweifellos auf Löwith: „Die christliche Geschichtsteleologie und ihre Eschatologie ist also hier vom Standpunkt des historischen Materialismus aus völlig Säkularisiert worden." Die ganze Sache habe die Form eines ,,Fortschrittsglaube[ns]", und Marx übernehme „von Hegel die Anschauung von der Geschichte als einem mit logischer Notwendigkeit in dialektischer Bewegung zwischen Satz und Gegensatz verlaufenden Prozeß". (1958, 78fF.)
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„daß die moderne Geschichtsphilosophie dem biblischen Glauben an eine Erfüllung entspringt und daß sie mit der Säkularisierung ihres eschatologischen Vorbildes endet". (Ebd., 12) Aufgrund dieser genealogischen Dependenz gelinge es der Geschichtsphilosophie nie ganz, sich von ihren Wurzeln abzulösen und wirklich eigenständige Formen jenseits der Heilslehre auszubilden. Zwar konzentriere sie sich in ihrer neuzeitlichen Form nicht mehr wie die alte theologische Lehre auf eine jenseitige Realisierung des Heils, wohl aber auf eine diesseite Realisierung der dem Geschichtsprozess als Zwecke vorangestellten Idealvorstellungen. Nach den Bedürfnissen dieser Ideale werde dann eine teleologische Philosophie konzipiert, die den Geschichtsprozess als Heilsgeschehen nachvollzieht (als der Prozess der Realisierung dieser Ideale ,auf Erden'), die sich in ihren formalen Grundzügen nicht von der alten theologischen Heilslehre unterscheide.6 Mittlerweile habe sich diese Geschichtsauffassung zu einem dominanten Denkgebilde der Moderne aufgeschwungen. Wie bescheiden waren doch die alten Griechen: „Sie maßten sich nicht an, den letzten Sinn der Weltgeschichte zu ergründen. Sie waren von der sichtbaren Ordnung und Schönheit des natürlichen Kosmos ergriffen, und das kosmische Gesetz des Werdens und Vergehens war auch das Vorbild ihres Geschichtsverständnisses [...] Die Griechen frugen zuerst und zuletzt nach dem Logos des Kosmos, aber nicht nach dem Herrn der Geschichte [...] Den Juden und Christen bedeutet Geschichte vor allem Heilsgeschehen. Als solches ist sie das Anliegen von Propheten und Predigern. Das Faktum der Geschichtsphilosophie und ihre Frage nach einem letzten Sinn ist dem eschatologischen Glauben an einen Heilsgeschichtlichen Endzweck entsprungen." (Ebd., 14f.)7
6
Wolf stellt fest, dass die „ganze Säkularisierungsliteratur", die Löwith, Gehlen und andere entwickelt haben, den Fortschrittsgedanken „mit wenig überzeugenden Mitteln" bekämpft: „Der theologische Ursprung einer Kategorie ist weder ein Argument für die Theologie noch gegen diese Kategorie - zumal die meisten theologischen Kategorien ihrerseits auf philosophische und protophilosophische Traditionslinien (etwa Parmenides, Piaton, Aristoteles auf Homer, Hesiod, Solon) zurückbezogen werden können." (1999, 263f.) Sie können sogar noch weiter zurückbezogen werden. Cohn zeigt in Cosmos, Chaos and the World to Come: The Ancient Roots of Apocalyptic Faith, dass der jüdisch-christliche Endzeitglaube seinerseits eine Theologisierung uralter Kampfmythen (the ancient combat myth) ist, wonach diverse Gottheiten mit Chaosmonstern ringen, deren Ziel die Destabilisierung der kosmischen Ordnung ist. Besonders Zoroaster macht diese Mythen für spätere Religionen interessant, indem er die althergebrachte konservative Vorstellung, der Sieg über die Chaosmonster führe zur Wiederherstellung der ursprünglichen Ordnung, die also unverändert überlebt, finalistisch umformuliert. Dieser neue Kampfmythos verspricht der Welt ewigen Frieden und Sicherheit als Folge des ultimativen Triumphes über die Mächte des Bösen. In dieser Form findet der kosmische Kampfmythos auch Eingang in die christliche Version des apokalyptischen Glaubens (siehe Cohn 2001, besonders 105ff„ 114f„ 214, 219, 232f.).
7
Vgl. Löwiths Aufsatz ,Natur und Geschichte': „Das große Ziel oder der Zweck, das Worumwillen, und damit der Sinn, war ursprünglich im Glauben an den vorsehenden Willen Gottes begründet und hat sich, seit der Ablösung der älteren Geschichtstheologien durch die neueren Ge-
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Mit Aussagen wie dieser bringt Weltgeschichte und Heilsgeschehen den Heilslehrenvorwurf in krasser Deutlichkeit auf den Punkt und begründet damit Löwiths Ruf nun auch in der englischsprachigen Welt. Marx, Hegel, Vico - alle, die sich zum Begriff der Geschichte geäußert haben, hätten dies in Übereinstimmung mit einem Prinzip getan, „durch welches historische Geschehnisse und Folgen in Zusammenhang gebracht und auf einen letzten Sinn bezogen werden". (Ebd., 11) Somit sind die genannten Autoren vor allen Dingen Geschichtsphilosophen, und ihre respektiven Geschichtsphilosophien sind lediglich Varianten einer geschichtlich orientierten Theologie: „So verstanden ist alle Philosophie der Geschichte ganz und gar abhängig von der Theologie, d.h. von der theologischen Ausdeutung der Geschichte als eines Heilsgeschehens." (Ebd.) Getragen werde diese Philosophie von ihrer Versprechung, die Geschichte sei der Standort einer systematischen Verbesserung, wodurch die alte Angst vor den Irregularitäten des Schicksals und des Zufalls außer Kraft gesetzt werden soll: „Die Bedeutung dieser Hinsicht auf ein letztes Ende, als finis und telos, besteht darin, daß sie ein Schema fortschreitender Ordnung und Sinnhaftigkeit bereitstellt, daß die antike Furcht vor fatum und fortuna überwinden konnte." (Ebd., 29) Nach der Löwithschen Formel ist die Philosophie der Geschichte also gleichbedeutend mit der Philosophie des Fortschritts, und letztere ist nichts weiter als die säkularisierte Variante der theologischen Heilslehre. Eine Kritik des Fortschrittsbegriffs selbst scheint für Löwith zu diesem Zeitpunkt zwar noch nicht im Vordergrund zu stehen, aber sie findet in Weltgeschichte und Heilsgeschehen besonders im vierten Kapitel .Fortschritt contra Vorsehung' in Form von Fallstudien zu Proudhon und Comte trotzdem statt. Hier zeichnet sich bereits die heutzutage typische ambivalente Auslegung des Begriffs ab: Der moderne Fortschrittsgedanke bleibe vorerst „zweideutig: er ist seinem Ursprung nach christlich, und seiner Tendenz nach antichristlich". (Ebd., 71) Löwith hat Baudelaire und Flaubert im Blick, wenn er dann behauptet, gerade „die fortgeschrittensten Geister Europas" hätten „eine Ahnung von der Sinnlosigkeit der materiellen Fortschritte", worin sie alsbald eine Entwicklung „auf das Nichts" und zum „zivilisierten Barbarentum" wahrnehmen (ebd., 106). Auf dem Höhepunkt der Verweltlichung der christlichen Heilserwartung steht nach der Löwithschen Formel die Philosophie Hegels: „Es bedurfte fünfzehnhundert Jahre abendländischen Denkens, ehe Hegel es wagen konnte, die Augen des Glaubens in die Zukunft der Vernunft und die von Augustin begründete Theologie der Geschichte in eine Geschichtsphilosophie umzuformen, die weder heilig noch profan ist. Sie ist eine merkwürdige Mischung: das Heilsgeschehen wird auf die Ebene der Weltgeschichte projiziert und die letztere auf die Ebene des ersteren erhoben." (Ebd., 69) Hegels angebliche Konstruktion der Geschichte als Sinnprozess ist demnach bloßer Glaubensersatz in Form eines metaphysischen Historismus. Diese feindliche Einstelschichtsphilosophien, im planenden Willen des Geschichte schaffenden Menschen verweltlicht." (1950b, 285)
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lung Hegel gegenüber hat zur Folge, dass Marx unmöglich gut abschneiden kann, denn Löwith setzt voraus, dass beide gerade hinsichtlich ihres Geschichtsverständnisses in engster Verbindung miteinander stehen. Diese Verbindung sei umso gefahrlicher, als der .Einzelne' - Löwith wiederholt hier in gewisser Weise Stirners nominalistischen Einwand gegen Marx - dabei auf der Strecke bleibe. Es gelte deshalb „mit entschiedener Konsequenz und ohne Scheu einer Verwirrung entgegenzuarbeiten, die philosophisch (Hegel) und sozial (Marx) die Einzelnen durch das Gerede vom allgemeinen Weltgeist oder durch phantastische Theorien über die Gesellschaft demoralisieren will". (1956, 245) Mit Annahmen wie dieser steht Löwith freilich keineswegs alleine da; sie sind ein wesentlicher Bestandteil der immer wiederkehrenden Auslegung der Marxschen Geschichtsauffassung als fortschrittsorientierte Heilslehre. Gegen die grundsätzlich als Geschichtsmetaphysik - nämlich als Frage nach dem Sinn der Geschichte - verstandene neuzeitliche Geschichtsauffassung bietet Löwith die Weisheit des klassischen Altertums auf, das Welt und Geschichte nie zusammengedacht habe (vgl. 1950b, 285f.). Soweit die antike Geschichtsschreibung überhaupt stattfand, habe sie die Historie aus tätiger Erfahrung heraus verstanden, als Kunst ausgeübt und als Lehre begriffen. Am griechischen Weltdenken fasziniert Löwith insbesondere die Vorstellung von der einen Welt als Welt der Natur, deren Seinsordnung sich über alle geschichtlichen Zeitalter und menschliche Nöte hinweg immer wieder als dieselbe erweist. Nicht Dinge, die man verändern kann, beschäftigen Löwith, sondern das, was in allem geschichtlichen Wandel sich gleich bleibt. Die erhabene Ewigkeit des Weltganzen ist sein Korrelat zur flüchtigen Endlichkeit des geschichtlichen Daseins und der in die Illusionen ihrer Wertsetzungen verstrickten geschichtlichen Existenzen. Dabei ist die Löwithsche Philosophie ihrem Selbstverständnis nach keine Verzweiflungstat, sondern das Sprachrohr der Besonnenheit, mit der auf die Verrücktheiten derjenigen Zeitgenossen reagiert werden soll, die durch ihre Selbstaufgabe an die Geschichte geschädigt wurden. Befürwortend zitiert Löwith darum aus Goethes Äußerungen zu Spinoza: Die richtige philosophische Reflektion bestehe darin, „daß man sich von dem ,Ewigen, Notwendigen und Gesetzlichen' in der Welt überzeugt und sich von ihr Begriffe bildet, die ,unverwüstlich' sind und durch die Betrachtung des Vergänglichen, Willkürlichen und Regellosen nicht aufgehoben, sondern bestätigt werden". (1967b, 151)
c.
Die Aktualität der Auseinandersetzung mit der Löwithschen Formel
Löwiths Thesen sind bis zum heutigen Tage überaus populär, und sie haben sich in ihren Kernansichten sogar als Standardmuster der Interpretation des neuzeitlichen Geschichtsdenkens durchgesetzt. Im Gegenzug sind sie natürlich mittlerweile ihrerseits heftig kritisiert worden. Dadurch ist jedoch die Notwendigkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit der Löwithschen Formel keineswegs hinfällig geworden, da sie weiterentwickelt wurde und heute unter anderem Namen weiterhin wirksam ist. Die folgenden Beispiele sollen diese These belegen.
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1.) Postmoderne·. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hat sich speziell die unter den Namen Postmoderne oder Poststrukturalismus firmierende Erneuerung der vitalistischen Philosophie um die Löwithsche Formel verdient gemacht. Ein bekannter Fall ist Jean-Francois Lyotard, dessen Philosophie über ihre Sorge um das Ausgeliefertsein des Menschen an repressive Universaldiskurse zu Berühmtheit gelangt ist. Der Heilslehrenvorwurf lebt hier als der Gedanke fort, ein kennzeichnendes Merkmal der Moderne sei es, Formen des Wissens auszubilden, die sogenannten grandes récits (große Erzählungen), die Anspruch auf die Wahrheit und daher auf epistemologische Überlegenheit erheben. Dieser Anspruch sei gefahrlich, weil er aggressiv gegen den Pluralismus der ,kleinen Erzählungen' vorgetragen werde. An der Bruchstelle zwischen Moderne und Postmoderne stehe der Konflikt zwischen den ursprünglichen Erzählungen (die Mythen, die Folklore, etc.) und denjenigen ,modernen' Erzählungen, die auf die ursprünglichen Erzählungen herabblicken. Wenn Lyotard an grandes récits denkt, dann denkt er an die christliche Heilslehre: die Erzählung von der Erlösung Adams von der Ursünde durch die Liebe; an die Aufklärung: die Erzählung von der Emanzipation des vernunftbegabten Menschen von der Ignoranz; an den klassischen Idealismus: die Erzählung von der Verwirklichung der Idee; an den Liberalismus: die Erzählung von der Überwindung der Armut durch technische und industrielle Entwicklung und Rationalisierung; und schließlich an den Marxismus: die Erzählung von der Befreiung der arbeitenden Subjekte von Ausbeutung und Entfremdung durch die Partei und durch die Sozialisierung der Arbeit. In seiner bekannten Schrift Das postmoderne Wissen argumentiert Lyotard, jede dieser großen Erzählungen führe einen „Legitimationsdiskurs" (1994, 13), um ihre Spielregeln durchzusetzen. Dies sei der Prozess der „Legitimierung des Wissens durch eine Metaerzählung, die eine Geschichtsphilosophie impliziert" (ebd., 14). Lyotard analysiert die innere Struktur der Erzählung und des Vorgangs ihrer Übermittlung. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sich Metaerzählungen im Prozess ihrer Legitimation auf die narrativen Rollen des Erzählers, des Zuhörers und des Helden verteilen. Mit anderen Worten heißt das: eine Metaerzählung sucht sich ein Subjekt (gewöhnlich eine Variante von ,Volk'), dem sie eine von zwei Befreiungsgeschichten erzählt: das Subjekt ist entweder der „Held der Erkenntnis" oder der „Held der Freiheit" (ebd., 95ff.). Dann wird das Subjekt auf seine Bahn der Legitimation geschickt, in deren Verlauf es sich das Wissen zueigen macht und ihm zustimmt. Diese Bahn ist eine Fortschrittsbahn: Die Idee des Fortschritts, so Lyotard, repräsentiere nichts anderes als die Annahme, dass das Wissen sich derart in seiner Übertragung auf ein historisches Subjekt in seiner Bewegung der Legitimierung akkumuliert (ebd., 93). Unter all diesen Fortschrittserzählungen sei das auf Marx zurückgehende Emanzipationsversprechen an die Produzenten eine besonders bösartige Form des Wissens, da es auf der gefährlichen Vorstellung von einem kollektiven ,Wir' beruht. Wie alle anderen großen Erzählungen könne auch die Marxistische Erzählung in die Erzähler (Marx und seine Gefolgschaft), die Zuhörer (die Arbeiter), und das Erzählte (der heroische Kampf der Zuhörer für die Abschaffung der Ungerechtigkeit) unterteilt werden. Allerdings schwanke das Marxistische Wissen zwischen den beiden Arten der narrativen
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Legitimierung, da das Proletariat als Held der Freiheit und/oder des Wissens auftreten kann. So wurden Menschen im Sozialismus gleichzeitig als Co-Autoren, als privilegierte Zuhörer und als die Akteure der offiziellen Erzählung angesehen. Dennoch konnte der Marxismus seine regionale Vormachtstellung nur deshalb behaupten, weil es ihren Adressaten gleichzeitig untersagt war, ihre eigenen .Geschichten' zu erzählen (Lyotard 1989, 128). In Maulsperren wie dieser besteht auch im Fall der anderen Großerzählungen die Ungerechtigkeit der Moderne. Lyotards Befürchtung: Mit Hilfe der großen Erzählungen sollen alle partikulären Identitäten in einer universalen Identität zwangsvereinigt werden - ein Zustand, den Lyotard mit dem Begriff des differend zu bekämpfen versucht. Wir können, behauptet er, die Multiplizität der Ereignisse nicht länger nach dem Schema einer fortschrittlichen Universalgeschichte eines wie auch immer gearteten Wir organisieren, wie es die Moderne getan hat (ebd., 316ff.). Lyotard weist darum den Anspruch auf epistemologische Vorrangstellung für den von ihm proklamierten Übergang in die Postmodern entschieden zurück. Alle Erzählungen haben etwas sinnvolles zu sagen. Alle Aussagen können als völlig gleichwertig nebeneinander gestellt werden. Wir sind angehalten, die Vielfalt der diskursiven Spezies zu bestaunen. Im Grunde genommen ist Lyotards Pluralismus ein radikaler Empirismus der bloßen Anschauung: Die verschiedenen Sprachformen und die ihnen zugehörigen Meinungen und Wissensbestände sollen in ihrer angenommenen Authentizität belassen und bestaunt, nicht aber geordnet, miteinander verglichen und beurteilt werden. Schließlich täte man damit „der Heterogenität der Sprachspiele Gewalt an". (1994, 16) Dieses Insistieren auf Authentizität und Vielheit ist einer der Gründe, warum wir es hier mit einem Rückgriff auf die Lebensphilosophie zu tun haben. Wirklich interessant an Lyotards Variante des Heilslehrenvorwurfs ist aber eigentlich nur das: Gibt man ihre Argumente in einer einfachen Sprache wieder, dann werden die einzelnen Bestandteile des neovitalistischen Zeitgeistes sichtbar: Eine Art Stirnerscher Nominalismus vermischt sich mit einem Totalitarismusverdacht à la Bakunin oder Arendt zum Ziel eines Konsens der Diskurse. Man könnte durchaus argumentieren, dass Lyotard - anstatt neues Wissen hervorzubringen - diese nicht mehr ganz jugendlichen Elemente sehr geschickt neu aufmacht, um sie dann als originelle Einsicht in den gegenwärtigen .Zustand des Wissens' anzubieten. 2.) Der Utopievorwurf: Dass Marx selbst den Heilslehrenvorwurfs gegen die spekulative Konstruktion des Entwicklungsprozesses nach vorausgesetzten Idealvorstellungen ins Feld führt und somit die eine oder andere ,große Erzählung' entlarvt - allerdings ohne wie Lyotard damit alle Erzählungen epistemologisch gleichzustellen - , ist nur selten erkannt worden. Statt dessen wird nach wie vor primär die Frage nach dem Utopiegehalt seiner Theorien gestellt. Robert Spaemann, der - Aristoteles' Differenzierung des Zweckbegriffs in einen finis quo und einen finis cuius folgend - zwischen A-Fortschritten und Β-Fortschritten unterscheidet, ist ein typisches Beispiel. Α-Fortschritte sollen „als Stadien auf einem Weg zu einem Endziel verstanden werden", die „allein durch die Erreichung dieses Endziels ihre Rechtfertigung finden"; Β-Fortschritte sind Verbesserungen „im Dienste eines lebenden Organismus, eines Menschen, einer Gemeinschaft,
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einer Institution" (1981, 98). Der Α-Fortschritt spitzt also die Problemstellung der Löwithschen Formel zum Utopievorwurf zu. Er drücke sich bei Marx als „progressive despotische Unterwerfung der Natur durch deren progressive Objektivierung und Denaturierung" aus (ebd., 104). Vor diesem Hintergrund wird die Rede von der Dialektik des Fortschritts verständlicher. Denn sicherlich lässt sich Marx mit diesem Gedanken gegen Trivialisierungen in Schutz nehmen, die ihn - wie Spaemann im folgenden Zitat vormacht - als Vertreter eines kruden, ,Endziel'-orientierten Α-Fortschritts darstellen: „Dieser Fortschritt wird durchaus linear und undialektisch gedacht. Auch Marx denkt ihn noch so: Entfaltung der Produktivkräfte ist der undialektische rote Faden des Fortschritts in der Geschichte. Die Menschheitsgeschichte ist freilich dialektisch und antagonistisch. Sie ist nicht einfach als Fortschritt zum Besseren zu begreifen, bzw. sie ist es nur dann, wenn wir den Fortschritt als Α-Fortschritt verstehen, als Folge von Schritten zu einem Endzustand, der allein die Rechtfertigung der Zwischenstadien bedeuten kann: die klassenlose Gesellschaft, der Kommunismus [...] Um dieser emanzipatorischen Endziele Willens begrüßt Marx auch die entmenschlichte Situation des Proletariats als Fortschritt - nämlich als Α-Fortschritt auf dem Weg zu diesem Ziel." (Ebd., 104f.) Richard Rorty argumentiert auf ähnliche Weise: Es gebe eine „auf Platon-Hegel-MarxHeidegger zurückgehende Art der Romantisierung, also die Romantisierung der Weltgeschichte" (2003, 331 f.). Innerhalb dieser Tradition vollziehe Marx den „Wechsel vom Weltgeist zur Arbeiterklasse" (ebd., 337). Letztendlich sei auch dies bloß der Versuch, „das Wort ,Geschichte' als Namen eines Gegenstandes zu verwenden, in dessen Umkreis wir unsere Phantasievorstellungen von vermindertem Elend ausspinnen können". (Ebd., 330) Das Manifest der kommunistischen Partei legt Rorty in diesem Sinne in einem oberflächlichen Kommentar als Ausdruck der Hoffnung auf eine Utopie auf Erden aus. Gleich im ersten Satz wirft er es mit dem Neuen Testament in einen Topf: Beide seien „gescheiterte[n] Prophezeiungen", eine „inspirierende Lektüre" (1998, 7). Für positive Prophezeiungen spreche vor allem, dass sie den Menschen die Hoffnung auf mögliche Verbesserungen welcher Art auch immer erhalten. Ihre Lektüre habe vor allem eine erbauliche Wirkung: „Eltern und Lehrer sollten junge Menschen dazu ermuntern, beide Bücher zu lesen. Es wird der moralischen Haltung der jungen Leute förderlich sein." (Ebd., 13) Aber dabei bleibt es dann auch. Was das Manifest verströmt ist bloße Hoffnung. Eine Verwirklichung ihrer Inhalte wird es nicht geben und sie ist auch nicht erstrebenswert. Rorty wünscht sich zwar, dass „die Kinder ... beides lesen" (ebd., 14f.) - Christi Botschaft von der Brüderlichkeit zwischen den Menschen und das Manifest, das schildert, wie der Kapitalismus und die freien Märkte das Erreichen dieser Brüderlichkeit behindert. Im Dunkeln bleibt, wie das Lesen des Manifests ,den Kindern' zugute kommen könnte, weissagt Rorty doch gleichzeitig, die freien Märkte hätten „sich längst als unentbehrlich erwiesen" (ebd., 15). Am liebsten wäre es ihm, wir besäßen einen „reformistischen Text", der ganz ohne die apokalyptische Prägung des Manifests oder des Neuen Testaments auskommt; einen Text, „der nicht behauptet,
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.alles' müsse erneuert werden"; mit anderen Worten: einen Text, der keine Forderungen stellt, und der zwar „die Einzelheiten einer diesseitigen Utopie erläutert", ohne diese jedoch zu begründen und ohne zu behaupten, „daß diese Utopie mit einem Schlag und fertig in Erscheinung treten werde, sobald nur diese oder jene entscheidende Veränderung zustande gebracht - das Privateigentum abgeschafft oder Jesus in unser aller Herzen eingezogen sei". (Ebd., 28f.) Kurzum: Rorty sieht im Manifest einen Text, in dem die theologische Eschatologie als Utopie eines irdischen Paradieses auftritt. Daran zeigt sich erstens, dass die Säkularisierungsthese die (zumindest in der deutschsprachigen Philosophie) gut vierzig Jahre zurückgehende Diskussion ihrer Kernansichten offensichtlich unbeschadet überstanden hat und also alles andere als erledigt ist.8 Zweitens ist Rortys Interpretation typisch für den heutzutage üblichen Sprachgebrauch von ,Utopie'. Danach wird jede optimistische Geschichtstheorie so dargestellt, als sei sie Ausdruck einer Hoffnung auf eine konkrete Utopie, welche die Hoffenden dem Entwicklungsprozess als Anlage gleichsam einpflanzen. An dieser Verengung des Utopiebegriffs wird abermals deutlich, dass der Heilslehrenvorwurf grundsätzlich als Teleologievorwurf zu kennzeichnen ist, zumal der Utopiebegriff ursprünglich eine weitere Bedeutung hatte, die nicht zwingend auf eine Geschichtsteleologie hinauslief. Denn freilich waren ,Utopie' und .Fortschritt' einst sehr verschiedene Begriffe. Utopische Vorstellungen implizieren überhaupt nicht notwendig einen historischen Fortschritt. Wie typischerweise bei Thomas Moore schlägt sich die Utopie zunächst in Staatsromanen im Stil einer fiktiven Reisebeschreibung von einem fernen Land nieder, in dem eine vollkommene Gesellschaftsordnung verwirklicht ist. Auf der Suche nach Verbesserungsmöglichkeiten kann der Autor am Beispiel dieses Gemeinwesen die konsequente Durchführung bestimmter Prinzipien (zum Beispiel die Vernunft) durchexerzieren. Dabei wird nicht unbedingt die Behauptung aufgestellt, ein direkter geographischer, politischer oder geschichtlicher Weg führe zu dieser Ordnung, und somit bleibt der Bezug auf einen Nicht-Ort erhalten. Im letzten Jahrhundert wird die utopischen Literatur dann um die Vorstellung von der negativen Utopie bereichert, deren Zukunftsvisionen einen Freiheitsverlust beklagen, wie beispielsweise im Genre der .dystopian novel' (Samjatins Wir, Koestlers Darkness at Noon, Huxleys Bra8
Schon damals bestritt Hans Blumenberg ausdrücklich die Möglichkeit der Anwendung der Säkularisierungsthese auf das Kommunistische Manifest: „Was kann es ferner heißen zu sagen, die marxistische Idee der Revolution sei eine ins weltliche übertragene Idee des Jüngsten Gerichts und von ihrer Zielvorstellung des kommunistischen Zustandes, er sei das irdische Paradies, säkularisierter Messianismus? Hier muß einfach gar nichts übertragen und verformt sein, sondern das elementare Bedürfnis universaler Gerechtigkeit schafft sich immer neue Vorstellungen, und zwar gerade dann, wenn sich die gängigen als wirkungslos erwiesen und verbraucht sind." (1964, 257) „Es lässt sich z.B. gar nicht bestreiten, daß die Ansprechbarkeit des modernen Bewußtseins für einen Apell wie das Kommunistische Manifest durch die in der Sprache der Theologie artikulierbar gewordenen Erwartungen vorbereitet worden ist; aber diese Ansprechbarkeit ist nicht begründet in dem Gehalt des Manifestes an vermeintlich säkularisierter - also unrechtmäßig enteigneter - Theologie, sondern in der Bedürftigkeit eines an den großen Fragen und Hoffnungen seiner Geschichte überdehnten und dann enttäuschten Bewußtseins." (Ebd., 259f.)
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ve New World, Orwells 1984). Die gegenwärtige Verwendung von ,Utopie' baut auf dieser erweiterten Bedeutung auf, ist aber inzwischen oft gänzlich zu blankem Zynismus oder Spott verkommen. Das heißt, sie hat die prüfende Methode des ursprünglich auf einem Gedankenexperiment basierenden Begriffs aufgegeben und sich einzig seine visionäre Ausrichtung erhalten, die sie aber jetzt nur noch mit .unrealistischen' Inhalten assoziieren mag. So wurde aus einem aus der Neugierde geborenen und ursprünglich kritischen Begriff ein unkritischer Begriff gemacht, mit dessen Hilfe alle Meinungen und alle Theorien, die einen normativen Maßstab an das Gegebene anlegen und seine Verbesserung vorsehen als gefährliche Heilslehren denunziert werden können. Der Utopievorwurf ist daher zwar ein etwas tollpatschiger, aber auch ein besonders effektiver Weg, das Fortschrittsdenken seiner Erkenntnisleistung zu berauben und es auf den Wunsch nach der Realisierung idealer Zwecke im Geschichtsprozess zu verkürzen. Denn es ist ja richtig, dass das Wunschdenken bestenfalls einen geringen Erkenntniswert hat. Wer sich also für den Erkenntniswert des Fortschrittsdenkens einsetzen will, der wird versuchen müssen, den Heilslehrenvorwurf abzuwehren. 3.) Die Philosophie des Bösen: Als besonders förderlich für den Heilslehrenvorwurf hat sich auch die Erneuerung des Interesses für das Böse erwiesen, die jetzt in den Geisteswissenschaften mit großem Eifer betrieben wird. Wenn man Schuller und Von Rahden glauben kann, dann „leugnet" „die Moderne" das Böse. „Gott und Teufel, Gut und Böse werden als Reste des Fortschritts ,auf den Kehrichthaufen der Geschichte' gefegt". Die modernen Menschen schreiten „weiter blind voran", „schwärmen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und betreiben doch täglich das Böse". Kurzum: „Das Böse ist also wieder da [...] und auf der Höhe der Zeit." Aber das Böse zeigt sich uns nicht als Bedrohung der Tugend oder des Guten, „deren Begriffe ohnehin entleert sind ... sondern als Gegenmacht, als der große Gegenspieler unserer von Sinn und Gott gesäuberten Wirklichkeit, als neue Verheißung ... Nicht mehr der Fortschritt und die Vernunft okkupieren unseren Alltag und unsere Phantasie, sondern das Böse." (Schuller/Von Rahden 1993, Vllf.) Einen starken Anschub hat die Begeisterung für das Böse jüngst durch Susan Neimans erfolgreiche Schrift Das Böse denken: Eine andere Geschichte der Philosophie erhalten. Auch Marx wird dort unter den Gesichtspunkten gut/böse, Heil/Unheil, religiöses/säkulares Denken abgehandelt. Zwar sei es zu platt, den Marxismus - den von Karl Marx zu unterscheiden Neiman sich nicht ernsthaft bemüht - als gescheiterte Säkularisierung der Eschatologie abzutun; trotzdem stellt sie Marx „an den Ort..., den er selbst wählte: in das Dickicht der Versuche, das Böse zu erklären. Dies philosophische Theologie zu nennen ist kein Problem" (2004, 167). Marx gehöre nämlich zur „Tradition der Weltverbesserer", und als „Ausgangspunkt" für seine Vorhaben diene ihm die Einsicht in „Gottes Versagen". Er sei einer von der Sorte, die entschlossen sind „das Problem zu lösen, statt es bloß zu erklären" (ebd., 168). In diesen Anspruch liest Neiman das Schema der Ersetzung der sinnstiftenden theologischen durch die sinnstiftende säkularisierte Heilslehre hinein:
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„Ganz im Stil anderer Theodizeen rechtfertigt Marx die Leiden der Gegenwart damit, daß sie für die Abschaffung des Elends in der Zukunft notwendig sind. Was Marx zum Lob des Kapitalismus sagt, ist daher weder ironisch noch paradox gemeint. Es passt zu einer Tradition, die dem Leiden immer einen Sinn geben wollte. Der Vergangenheit Sinn zu verleihen und der Zukunft Hoffnung: So lautet das Programm jeder Plattform, auf der Philosophie und Religion sich zusammenfinden. Marx stand so fest dazu wie kein anderer. Nur in einer Hinsicht brach er mit der vorherigen Form der Theodizee. Was andere nicht ausgeführt, nur halb gedacht und halb gewagt hatten, ist für Marx so sonnenklar wie ein Axiom: Theodizeen hatten Gott nur gerechtfertigt, es kommt aber darauf an, ihn zu ersetzen." (Ebd., 175) Sonnenklar ist auch: Was das von ihr propagierte Bild von der Marxschen Geschichtsauffassung anbelangt, so unterscheidet sich diese ,andere Geschichte' der Philosophie nicht von ihren Vorgängern: Bei der Löwithschen Version der Säkularisierungsthese - genealogische Abkunft der Philosophie von der Theologie - bleibt sie stehen und mischt, for good measure, noch ein bisschen ,Dialektik des Fortschritts' (menschliches Leid als Preis für eine bessere Zukunft) mit bei. Schließlich sei es Marx' „Hauptintention ... in der materiellen Welt die Bewegung nachzuweisen, die Hegel im Denken vollzogen hatte". (Ebd., 173) Damit ist die Brücke zur angesagten Ambivalenztheorie geschlagen, denn damit kann nur gemeint sein, dass Marx die Bewegung ,der materiellen Welt' als einen Fortschrittsprozess auffasst und diesen Fortschritt wiederum als historische Dialektik. Ich fasse zusammen: Postmoderner Neovitalismus, Utopievorwurf und das Revival des Bösen sind drei philosophische Gegenwartsströmungen, die Elemente der Löwithschen Formel in sich aufgenommen haben. Neovitalismus, Utopievorwurf und die Philosophie des Bösen belegen, dass die Löwithsche Formel kein Epochenphänomen ist, und dass man sich deshalb heute noch mit ihr auseinandersetzen muss.
3.
Die Ambivalenztheorie des Fortschritts
Das Wort ,Ambivalenz' kommt von ambivalere (lat. zweifach gelten) und bezeichnet die Doppeldeutigkeit eines Wortes oder einer Sache. Ambivalenzen illustrieren eine extreme Form von Widersprüchlichkeit. Sehr deutlich wird das schon bei Heraklit: „Des Bogens [bios] Namen also ist Leben [bios], sein Werk aber Tod." (1956, B48, 161) Oder: „Meer: reinstes und scheuslichstes Wasser: Fischen trinkbar und lebenerhaltend, Menschen untrinkbar und tödlich." (1956, B61, 164) Die Ambivalenz hat oftmals einen irrationalen Urgrund. Sie drückt eine Unvollkommenheit aus, die von der Umgangssprache gut eingefangen wird, wenn wir zum Beispiel von der .Kehrseite der Medaille' sprechen oder wenn wir eine Sache überdenken, weil sie ,einen Haken hat'. Das gilt auch für die Ambivalenztheorie des Fortschritts. Sie gründet in dem Gedanken, Fortschritt sei in einem besonderen Sinne widersprüchlich: „Gerade am Fortschrittsdenken zeigt sich, wie eng Produktivität und Destruktivität beieinanderliegen. Durch das früher
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ungeahnte Potential an Wissen und Können, über das wir durch die moderne Naturwissenschaft und Technik heute verfügen, ist diese Ambivalenz zu dem Problem unserer Zeit geworden." (Rapp 1992, 63) Ein erstes Problem ergibt sich schon daraus, dass diese Ambivalenz von denen, die sie behaupten, für gewöhnlich nicht weiter spezifiziert wird, so dass unklar bleibt, ob damit die Widersprüchlichkeit des Realprozesses gemeint ist oder die Art und Weise, wie dieser Prozess dargestellt und besprochen wird (der Fortschrittsbegriff). Die Rede von der Ambivalenz des Fortschritts trägt jedenfalls dazu bei, dass die gegenwärtige Fortschrittsdebatte mit Vorliebe auf das Schlechte verweist, das im Namen des Fortschritts geschieht. Auf diese Weise wird die Doppeldeutigkeit in den Fortschritt hineingetragen. Dieser Versuch, eine Veränderung in der Grundstruktur des Fortschritts als Inbegriff des historisch konstituierten Guten vorzunehmen, hat sich jedoch als ein außerordentlich schwieriges Unterfangen erwiesen. Das ist sicherlich einer der Gründe dafür, warum die Fortschrittskritik manchmal einen etwas frustrierten Ton anschlägt. Das ist auch bei Marx der Fall, wenn er beispielsweise im Kapital den fortschrittsgläubigen Apologeten der bürgerlichen Gesellschaft das soziale Elend vorrechnet, welches die von ihnen gepriesenen Verhältnisse anrichten. Im 19. Jahrhundert versuchen sich konservative Kräfte dem Fortschritt mit Hinweisen auf seine .Ambivalenz' zu erwehren (vgl. Koselleck 1979a, 416). Heute gibt die Ambivalenztheorie oftmals vor, die Rehabilitation' oder gar die ,Rettung' des Fortschrittsbegriffs anzustreben. Indem sie aber den Begriff angreift, den sie bewahren will, wirkt sie letzten Endes genauso paradox wie die Ambivalenz, die sie diesem Begriff unterstellt. Deutlich wird das an den immergleichen Formulierungen des Fortschrittsproblems: Welche Katastrophen hat der Fortschritt verursacht? Was ist mit den Opfern des Fortschritts? Hätte der Fortschritt nicht zu den abscheulichsten Gräueltaten, zu den schlimmsten Katastrophen und zu unzähligen Opfern geführt - man müsste ihn weder retten noch rehabilitieren. Da es aber diese Fragen sind, die die ambivalente Fortschrittskritik umtreiben, ist es nicht weiter verwunderlich, dass sie häufig im Stile einer allgemeinen Zivilisationskritik mit einem Hang zu apokalyptischen Visionen vorgetragen wird: „Unser so praktischer Glaube an den Fortschritt hat sich zu einer Ideologie verfestigt - einer säkularen Religion, die für die Fehler in ihren Begründungen ebenso blind ist wie die traditionellen Religionen, welche vom Fortschritt herausgefordert sind. Fortschritt ist daher im anthropologischen Sinne zu einem ,Mythos' geworden. [...] Der Fortschrittsmythos hat uns bisweilen gut gedient - denen von uns jedenfalls, die an den besten Tischen sitzen ... Ich werde jedoch ... argumentieren, dass er auch zu einer Gefahr geworden ist. Fortschritt hat eine innere Logik, die jenseits aller Vernunft in die Katastrophe führen kann. [...] Die Waffentechnologie war nur das erste Gebiet menschlichen Fortschritts, das in eine Sackgasse geraten ist, weil dieser Fortschritt droht, den Planeten zu vernichten, auf dem er entwickelt wurde." (Wright 2006, 14f.)
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Dieser Katastrophismus ist eine Begleiterscheinung eines seit geraumer Zeit um sich greifenden Pessimismus, der auf einem besonderen Verständnis des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur beruht (worauf ich unten näher eingehe). Die Mahner argumentieren, dass der Fortschritt kurz davor steht unseren Planeten zu zerstören. Durch das drohende Unheil erlangt nicht zuletzt ihr eigenes schriftstellerisches Tun eine herausgehobene Bedeutung: Jetzt können sie einem entrüsteten Publikum ihre Theorien zu den von der Wissenschaft und der Technik angerichteten Verwüstungen anvertrauen. Dieser Trend zur Kritik des Fortschritts entspricht dem, was Hegel die „Zuflucht zur Ohnmacht" (1986, 67) 9 nennt. - Es ist der Trend zur Negation des Fortschritts. Mit der Dialektik der Aufklärung haben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer diesem Trend ein Denkmal gesetzt und so maßgeblich zu seiner Verbreitung und theoretischen Legitimation beigetragen. Die Ambivalenz des Fortschritts wird hier wie folgt dargestellt: „Die Menschheit, deren Geschicklichkeit und Kenntnis mit der Arbeitsteilung sich differenziert, wird zugleich auf anthropologisch primitivere Stufen zurückgezwungen, denn die Dauer der Herrschaft bedingt bei technischer Erleichterung des Daseins die Fixierung der Instinkte durch stärkere Unterdrückung. Die Phantasie verkümmert. Nicht daß die Individuen hinter der Gesellschaft oder ihrer materiellen Produktion zurückgeblieben seien, macht das Unheil aus. Wo die Entwicklung der Maschine in die der Herrschaftsmaschinerie schon umgeschlagen ist, so daß technische und gesellschaftliche Tendenz, von je verflochten, in der totalen Erfassung des Menschen konvergieren, vertreten die Zurückgebliebenen nicht bloß die Unwahrheit. Demgegenüber involviert Anpassung an die Macht des Fortschritts den Fortschritt der Macht, jedes Mal aufs neue jene Rückbildungen, die nicht den misslungenen sondern gerade den gelungenen Fortschritt seines eigenen Gegenteils überführen. Der Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts ist die unaufhaltsame Regression." (1997, 42) Diese Passage vereint die drei wesentlichen Elemente der These von der Ambivalenz des Fortschritts: Erhalten bleibt, erstens, die universalistische Perspektive auf ,die Menschheit' als Subjekt eines Kollektivsingulars. Das bedingt, zweitens, den Gedanken, ein und derselbe fortschrittliche Entwicklungsstrang weise sowohl vorteilhafte als auch nachteilige Züge auf: Jeder Fortschritt ist widersprüchlich und hat eine gute (.technische Erleichterung des Daseins') und eine schlechte (,stärkere Unterdrückung') Seite. Die Dialektik der Aufklärung, die darin zum Ausdruck kommt, basiert schließlich drittens auf der Vorstellung von der Verkehrung der Idee gegen sich selbst. So ist der .gelungene Fortschritt' sein eigenes .Gegenteil' - die .unaufhaltsame Regression'. Diese Vorstellung führt zum Gedanken von der Dialektik des Fortschritts, und auf 9
Hegel bezieht sich auf die „Zurückweisung des entwickelten, reichgewordenen Geistes", der vom Denken bewältigt werden will. Er meint damit Vorschläge, zu einer einfachen Philosophie und damit zu einem „Anfang und festen Ausgangspunkt" zurückzukehren (1986b, 67).
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diesem Wege ergibt sich als Schmuckstück der Ambivalenztheorie die Rede vom Preis des Fortschritts, der hier mit dem Wörtchen ,Fluch' schon angekündigt wird. 10
a.
Die Preisfrage als Kritik der Mittel des Fortschritts
Die Metapher vom Preis des Fortschritts, also die Vorstellung, jeder Fortschritt müsse durch die Darbringung von Opfern teuer erkauft werden, ist vermutlich so alt wie der moderne Fortschrittsgedanke selbst. Fortschritt sei letzten Endes „ganz Rechnung", moniert Vallentin (1910, 51). Diese Rechnung soll aber eine Verlustrechnung sein, ohne die Fortschritt einerseits undenkbar ist, die ihn aber andererseits eigentlich unvertretbar macht, wie auch die Überlegungen Nietzsches zeigen: „Ich wollte sagen: auch das theilweise Unnützlichwerden, das Verkümmern und Entarten, das Verlustiggehen von Sinn und Zweckmäßigkeit, kurz der Tod gehört zu den Bedingungen des wirklichen progressus: als welcher immer in Gestalt eines Willens und Wegs zu grösserer Macht erscheint und immer auf Unkosten zahlreicher kleinerer Mächte durchgesetzt wird. Die Grösse eines .Fortschritts' bemisst sich sogar nach der Masse dessen, was ihm alles geopfert werden musste; die Menschheit als Masse dem Gedeihen einer einzelnen stärkeren Species Mensch geopfert - das wäre ein Fortschritt." (1887, 331) Die Diskussion um den ,Preis' des Fortschritts hat in der Ambivalenztheorie eine ganz bestimmte Funktion: mit ihrer Hilfe sollen vor allem die Mittel, welche die Verbesserung ermöglichen, infrage gestellt werden. Demnach bezieht sich die Vorstellung vom ,Preis' genau genommen nicht, wie man vielleicht meinen könnte, auf das Ziel oder den Zweck von Fortschritt; sie zieht vielmehr primär die notwendigen Schritte und Maßnahmen in Zweifel, die ergriffen werden müssen, um Verbesserungen durchzusetzen. Die inhaltlichen Ziele des Fortschritts auf der einen Seite - der Weg, der dahin führt auf der anderen. Weg und Ziel, Mittel und Zweck werden getrennt voneinander betrachtet und bewertet: Sind bei einem positiv und fortschrittlich bewerteten Ziel auch alle Zwischenstufen, die zu seiner Erreichung notwendig sind, positiv zu bewerten, oder ist der Preis, den wir für den Fortschritt zu zahlen haben, zu hoch? - Im Kern ist das ist die Preisfrage der kritischen Fortschrittsbetrachtung. Hat diese Frage eine Berechtigung? Wie schon der alltägliche Sprachgebrauch vom Preis einer Sache impliziert auch die Rede vom Preis des Fortschritts, dass eine Abgabe zu leisten ist, dass also ein Verlust entsteht. Rapp unternimmt eine ausführliche und gleichzeitig typische Darstellung der Preisproblematik und zieht als Beispiel sogar die Evolutionstheorie heran. Für Rapp bedeutet jeder Gewinn in einer bestimmten Entwicklung immer zugleich einen Verlust. Dieses „eherne Gesetz allen Werdens" gelte sowohl für die Menschengeschichte als
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„Wichtiger [als der Heilslehrenvorwurf] für ein Verständnis der Dialektik des Fortschritts ist dagegen die von Max Weber ausgehende Thematisierung des historischen Preises für den Fortschrittsprozess der Moderne." (Wolf 1999, 264)
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auch für die Naturgeschichte (Evolution). „Jede Konkretion ist zwangsläufig auch Negation, denn sie beruht auf dem Ausschließen der nichtrealisierten Möglichkeiten." (1992, 74) Beispielsweise führe die biologische Entwicklung von den Landtieren zu den Vögeln zwar zur Verbesserung der Flugfàhigkeit, aber eben nur um den Preis des Ausschlusses der Möglichkeit der Verbesserung der Bewegung auf dem Lande. „Der Albatros ist wegen seiner hochentwickelten Flugfàhigkeit auf dem Lande völlig unbeholfen" (ebd.). Es ist bekannt, dass Albatrosse schlechte Läufer sind. Nur steht der Albatros deshalb wohl kaum für die ,Negation' oder den ,Verlust' ausgezeichneter Laufleistungen im Rahmen der Evolution. In diesem Fall ist das, was nicht realisiert wurde, schlichtweg unmöglich gewesen, da nicht alle Bedingungen für seine Realisierung gegeben waren. Und was soll hier überhaupt negiert werden? Die Negation ergibt Sinn nur als Negation ,νοη etwas (Anderem)'. Nichtrealisiertes kann nicht negiert werden, weil es nicht existiert. Der Albatros ist zum Albatros geworden und nicht zum Geparden, weil seinen Vorgängern unter den herrschenden Bedingungen eine Entwicklung zu schnellen Landtieren unmöglich war. In diesem Sinne hat die Entstehung seiner Art keine Entwicklungsstränge blockiert und es ist nicht angebracht, hier von einem Verlust zu sprechen. Es leuchtet nicht ein, einer Sache in Rechnung zu stellen, dass sie nicht das geworden ist, was sie unter den gegebenen Umständen sowieso nicht hätte werden können. Rapp weiß selbst, dass er sich auf dünnes Eis begibt: „Über ganz andersartige, naturgesetzlich nicht ausgeschlossene, aber tatsächlich nicht eingetretene Entwicklungsstränge lässt sich immer nur hypothetisch urteilen, wobei solche intellektuellen Sandkastenspiele unvermeidbar in die Nähe der Science-Fiction führen." (Ebd., 75) - Kurzum: Es gibt kein ,ehernes Gesetz', das den Verlust als Notwendigkeit des .Werdens' nachweist. Ganz allgemein können Entwicklungen, egal ob sie naturgeschichtlicher oder gesellschaftsgeschichtlicher Art sind, nur unter der Voraussetzung der Erwartung einer qualitativ höheren Form ,Verluste' angerechnet werden. In diesem Ziel wären dann die Resultate aller denkbar möglichen Entwicklungsstränge vereint. Unser Albatross wäre nicht nur ein exzellenter Läufer, Flieger und Schwimmer, er könnte auch tauchen wie ein Pinguin. Er wäre wahrlich die Krönung der Evolution. Marx verwahrt sich bekanntlich ausdrücklich gegen die teleologische Auslegung der Darwinschen Evolutionstheorie, die ja einen erheblichen Einfluss auf seine Konzeption von Entwicklung ausübt.11 11
Darwin mag persönlich durchaus einem für seine Zeit typischen Fortschrittsglauben angehangen haben. Trotzdem ist seine Evolutionstheorie keine Theorie, die einen biologischen Fortschritt im qualitativen Sinne bezeugt. „Selbst wenn Darwin so wie Haeckel glaubte, für die organische Natur ein .Gesetz des Fortschritts' aufgestellt und bewiesen hätte, folgte daraus natürlich gar nichts für die Frage, ob die Geschichte der Menschen in gesetzmäßiger Weise eine Geschichte des Fortschritts ist oder nicht. Und auch wenn es zutrifft, daß Darwin selbst davon überzeugt war, daß aus Konkurrenz, Auslösung und Höherzüchtung von Individuen, Rassen und Nationen ein stetiger Fortschritt in der menschlichen Geschichte resultiere, belegt das ebenso wenig, daß diese Ansichten aus seiner biologischen Evolutionstheorie folgen." (Lefèvre 2000, 168) Vielmehr verhält es sich so, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine „Funktionalisierung der biologischen Evolutionstheorie für die Rechtfertigung ökonomischer, sozialer und politischer Überzeugungen"
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Doch zurück zum Zweck-Mittel-Verhältnis. Immer wieder wird vorausgesetzt, dass die Kritik am Fortschritt durch die moralisch zweifelhafte Qualität seiner Mittel legitimiert ist. Ist diese Voraussetzung berechtig? Ließe sich nicht genau so gut argumentieren, dass wir überhaupt nur unter der Voraussetzung einer ganzheitlich positiven Bewertung, die also die Mittel einschließt, sinnvoll vom Fortschritt sprechen können? Wäre dies der Fall, dann wären alle Mittel, die zur Durchsetzung eines Fortschritts notwendig sind, im sprichwörtlichen Sinne durch den Zweck, auf den sie hinführen .geheiligt'. Dies ist keineswegs der Versuch, einen bequemen Ausweg aus der problematischen Mittel-Zweck Relation im Fortschritt zu finden. Trotzdem sollten sich alle Beteiligten an der Fortschrittsdiskussion die Frage stellen, wie eine Entwicklung, die ein ,gutes' Ziel mit .schlechten' Mitteln zu erreichen versucht im Ganzen eine gute Entwicklung sein kann. Und die Ambivalenztheorie bezweifelt - als die relative Fortschrittskritik, die sie ist - ja nicht, dass Fortschritt diese Qualität hat. Ist die Akzeptanz der Mittel dann aber nicht schlicht und ergreifend eine unumgängliche Grundbedingung allen konsequenten Fortschrittsdenkens? Sicher, Mittel und Zweck können begrifflich voneinander getrennt betrachtet werden. Zweifelhaft scheint mir jedoch, ob bei einer Diskrepanz im moralischen Wert der Mittel und der Zwecke einer Entwicklung eine einheitliche Bewertung dieser Entwicklung überhaupt möglich ist. Zur Verdeutlichung sind einige Bemerkungen zur allgemeinen Struktur des MittelZweck-Verhältnisses vonnöten: Der Zweckbegriff stammt aus dem Bereich der Tätigkeit, des absichtsvollen Tuns. Der Zweck setzt eine Handlung oder eine Handlungsabfolge in Gang. Zweckmäßiges Tun gehört zum alltäglichen Leben und reflektiert sich im Begriff des guten Lebens selbst als Zweck. Wer Zweck sagt, impliziert zweierlei: einen vernünftigen Willen, der immerhin so frei sein muss, die Zwecksetzung vornehmen zu können. Gleichzeitig ist der Zweck ein Maß im Blick auf die bestmöglichen Mittel, die zu seiner Erreichung nötig werden. „Wer Zweck sagt, sagt auch Mittel." (Brockard 1974, 1818) Freilich lässt sich daraus nicht das Gesetz ableiten, dass der Zweck die Mittel heilige. Dennoch ist ein Zweck immer auf seine Mittel angewiesen, und es gibt Sonderfälle, in denen bestimmte Mittel sehr wohl durch ihre Verbindung mit einem bestimmten Zweck geheiligt sind. Fortschritt ist ein solcher Sonderfall. Das Mittel ist gewissermaßen das Bindeglied zwischen Handlung und Zweck: man handelt ,um ... zu'. Gleichzeitig bestimmt sich der Zweck in seiner Differenz zur Handlung als vorausgesetzte Absicht oder Ziel. Zwecke existieren daher, wie ja schon ihr Ursprung im Willen belegt, in mente, also ,im Kopf' derjenigen, die sich um ihre Verwirklichung bemühen. Zwecksetzung ist darum immer ideale Zwecksetzung. Weil die Setzung durch den Willen, wie gesagt, eine Handlungskette lostritt, ist der Zweck traditionell als eine eigenständige Form von Kausalität aufgefasst worden: als Zielurstattfindet (ebd., 169). Es ist bezeichnend, dass die auf Darwin zurückgehende Evolutionsbiologie heutzutage gerade deshalb von religiösen Eiferern wieder unter Beschuss genommen wird, weil sie keine Sinndeutung der Entwicklung in Form eines Heilsgeschehens bereithält. Ohne dies zu bezwecken, bestätigen diese Angriffe also die Wertfreiheit der Evolutionsbiologie und damit einen Aspekt ihrer Wissenschaftlichkeit.
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sache {causa finalis). Gegenüber dem Zweck werden die Mittel, die ihm vorausgehen, gewöhnlich als die Ursachen der Erreichung der gesetzten Zwecke aufgefasst: als Wirkursache (causa efficientes). Als technische Kategorie (und darum geht es hier hauptsächlich) steht das Mittel primär für die Identifizierung von Gegenständen (Hubig 2002, 21), derer man sich zum Zweck der Befriedigung bestimmter Wünsche oder Bedürfnisse bedient. Wichtig ist der Hinweis, dass diese Gegenstände aber weder in der Natur noch in der Gesellschaft ein frei verfügbares Arsenal darstellen. Sie unterliegen den jeweiligen Gesetzmäßigkeiten der Sphären, innerhalb derer wir uns ihrer bedienen. Dieser Zustand muss nicht unbedingt als ein Nachteil gesehen werden: Schließlich ist es wohl gerade diese Beeinträchtigung unseres Planungs- und Handlungsvermögens, die uns dazu veranlasst, vernünftig zu planen und zu handeln (Williams 1985, 57). Die Abwägung, Auswahl und Indienstnahme der Mittel endet in der Zweckrealisation, ist also etwas Vorübergehendes. Wird der Zweck nicht erreicht, bleibt diese Bewegung sinnlos; wird er erreicht, kümmert er sich nicht weiter um sie. In dieser, wenn man so will, Geringschätzung der Mittel aus der Sicht des Zwecks besteht die immer wieder angemahnte Gefahr des Instrumentalismus. Denn aus diesem Verhältnis ergibt sich zum Beispiel eine Bedrohung für die Freiheit und Würde derer, die im Auftrag anderer Zwecke ausführen oder auf sie hinarbeiten. Darum besteht Kant mit dem kategorischen Imperativ darauf, dass andere Menschen niemals als bloße Mittel, sondern immer auch als Zwecke angesehen werden. Wille - Zwecksetzung - Wahl der Mittel - Indienstnahme der Mittel - Zweckrealisation: Diese Kette muss man sich immer vor Augen halten, wenn heute über Fortschritt gesprochen wird. Es ist nämlich ein Grundzug der zeitgenössischen Fortschrittskritik, dieses begriffliche Feld auf die Fortschrittsproblematik zu übertragen. Auf den ersten Blick scheint diese Übertragung doch etwas ungeschickt zu sein, da sie den Fortschritt sozusagen personifiziert' und als Subjekt betrachtet, obwohl er sicherlich kein rein handlungstheoretisches Problem ist und durchaus mehr bedeutet als die Umsetzung von gewollten Handlungszielen, die er zwar auch ist, auf die er aber nicht reduziert werden darf. Eine solche Reduktion ist aber vermutlich immer dann der beabsichtigte Effekt, wenn die zeitgenössische Fortschrittsdebatte die Mittel-Zweck Problematik verwendet, um zu beweisen, dass der Fortschritt eng mit besagter Tendenz des Instrumentalismus verwoben ist, wonach die Vernunft sich als bloßes Instrument versteht und sich nicht mehr danach befragt, ob ihre Ziele auch um ihrer selbst willen vernünftig sind. Der Nachdruck liegt also eher auf den Mitteln als auf den Zwecken, insofern dem Zweck alle Mittel willkommen sind und die Zwecke selbst stets nur wieder als neue Mittel begriffen werden. Viele Zeitgenossen sehen in dieser Tendenz zu Recht eine in der heutigen Gesellschaft und Kultur tief verwurzelte Entwicklung zum Schlechten, die letztlich dazu führt, dass die Frage nach den letzten und höchsten Zwecken zunehmend aus dem Umkreis der rationalen Argumentation verschwindet. Damit sind Zwecke gemeint, die nicht wiederum nur weitere Mittel sein sollen, sondern Bestandteil einer Form von Rationalität, die die Idee eines obersten Zieles oder eines höchsten Gutes verfolgt, die sich also daran orientiert, was man das Wohlergehen der Menschen oder das gute Leben nennen könnte. Mit Instrumentalismus ist also weiterhin die Verselbständigung der Mittel in ei-
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ner pervertierten Zweckrationalität gemeint, der in ihrem verantwortungslosen Streben nach Herrschaft über Mensch und Natur alle Mittel recht sind. Die Kritische Theorie ist ein Wegbereiter der Auffassung gewesen, die instrumentelle Vernunft mache, gerade in einer Zeit ungeahnter technischer Möglichkeiten, aus dem Fortschritt eine lebensbedrohliche Entwicklungsform. Horkheimer schreibt: „Das Fortschreiten der technischen Mittel ist von einem Prozeß der Entmenschlichung begleitet. Der Fortschritt droht das Ziel zunichte zu machen, das er verwirklichen soll - die Idee des Menschen." (1991b, 25) Ohne das tatsächliche Gefahrenpotential des Instrumentalismus anzweifeln zu wollen, darf man schon die Frage stellen, warum diese Bedrohung zur Gesetzmäßigkeit ausgerechnet des Fortschritts erhoben werden sollte. Die Einbettung in den größeren Rahmen der Rationalismuskritik ist ein Grundzug der zeitgenössischen Fortschrittskritik. Aus diesem Grund muss hier die Zweckrationalität genauer betrachtet werden. Damit ist eine bestimmte Form der Rationalität gemeint, die für Überlegungen zu Mitteln und Zwecken charakteristisch ist. Der Ausdruck wird vor allem mit Max Weber in Verbindung gebracht. Eine Handlung ist zweckrational, wenn sie rational auf eine oder mehrere Zwecke gerichtet ist: „Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zwecken, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander abwägt." (Weber 1990, 13) Von Wright berichtet von einem alten philosophischen Disput darüber, ob diese Abwägung sowohl Mittel als auch Zwecke betreffen kann. Aristoteles beispielsweise behauptet in der Nikomachischen Ethik, der Wille gehe zwar auf den Endzweck, die Abwägung betreffe aber die Mittel, nicht die Zwecke (1985, 1111b). Wir mögen uns überlegen wie wir ein Ziel, das wir uns gesetzt haben, erreichen können, aber eine Abwägung der Zwecke selbst findet nicht statt. Aristoteles' Beispiel ist die Gesundheit: Ein Arzt mag abwägen, wie ein Patient zu heilen ist; aber er wird sich hoffentlich nicht erst überlegen müssen, ob er den Patienten heilen soll oder nicht. (Was freilich in diesem Fall zur Wahl steht ist der Beruf selbst: Soll ich Arzt werden, oder Architekt ...?) Fest steht, dass es mehrere mögliche Mittel zum gleichen Zweck geben kann. Die Wahl zwischen alternativen Mitteln nennt Von Wright präferentielle Wahl. In einer solchen Wahl drückt sich immer eine Wertung aus. Im philosophischen Diskurs ist ein Handlungsziel also ein Gut, und so ergibt sich auch die Rede vom Preis:. „Die Mittel, die um der Erreichung des Ziels willen verwendet werden, können passend ein ,Preis' genannt werden, den wir bezahlen, um das Gut zu bekommen. Der Gebrauch der Mittel ist eine Art von Unannehmlichkeit', die wir erdulden, oder ein ,Opfer', das wir bringen, um uns das angestrebte Ding zu sichern. Das schließt nicht notwendig die Tatsache aus, daß wir es auch genießen können, das Opfer zu bringen, ganz unabhängig vom Lohn, den die Erreichung des Ziels uns gewährt - aber das ist vielleicht nicht der übliche Fall" (Von Wright 1994, 127f.).
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Ein solcher Fall ist nämlich ein besonderer Fall. Denn hier „verwischt sich die ZweckMittel-Unterscheidung" (ebd., 128, Fn. 3).12 Nun ließe sich doch argumentieren, dass Fortschritt ein solcher Sonderfall ist. Denn diese Verwischung des qualitativen Unterschieds zwischen Mittel und Zweck ist genau das, was im Fortschritt passiert. Radikal formuliert heißt das: der Fortschrittsbegriff setzt eine besondere Einstellung zum Zweck-Mittel-Verhältnis voraus. Er setzt voraus, dass der Gebrauch des Mittels uns nicht wie eine Abgabe oder die Darbringung eines Opfers vorkommt; oder er setzt zumindest die Bereitschaft voraus, diesen Preis zu zahlen und dieses Opfer zu erbringen. Ist diese Bedingung erfüllt, dann darf man sagen, dass die Mittel durch den Zweck ,geheiligt' sind. Fortschritt existiert dann als eine einheitlich gute Entwicklungsform (zumal zur Beschreibung anderer Entwicklungsformen alternative Kategorien zur Verfügung stehen: die Geschichte, der Niedergang). Das setzt allerdings voraus, dass es eine Wahlmöglichkeit zwischen einer Mehrzahl von Mitteln von unterschiedlicher Qualität gibt. Die Freiheit, zwischen den einzelnen Mitteln nur jene auszuwählen, die wir uns .leisten' können, ist demnach eine Bedingung dafür, dass Fortschritt als die Bewegung des Guten stattfinden kann. Ohne diese Freiheit kann es keinen Fortschritt im eigentlichen Sinne des Wortes geben. Fortschritt setzt also als Grundbedingung voraus, dass die Diskrepanz im moralischen Wert seiner Mittel und seiner Zwecke nie so groß wird, dass ihm daraus Probleme erwachsen, die ihn existenziell bedrohen. Genau darin besteht die besondere ,Naivität', die dem Fortschrittsdenken immer wieder angekreidet worden ist. Damit ist in Wirklichkeit lediglich gesagt, dass ein authentischer Fortschritt ,seinen Preis' wert ist und in diesem besonderen Sinne nicht widersprüchlich sein kann. Fortschritt wird von dieser ,Naivität' niemals ganz bereinigt werden können. Und alle Kritik an diesem Umstand mutiert, ob sie will oder nicht, langfristig doch zu einer Verneinung des Fortschritts. Vergegenwärtigt man sich diese Grundbedingung von Fortschritt, so wird ersichtlich, dass die Ambivalenztheorie mit der Annahme einer Diskrepanz im moralischen Wert der Mittel und der Zwecke ihr erklärtes Ziel der Errettung des Fortschrittsbegriffs vor Missbrauch und Fehlbesetzungen eigenhändig zu torpedieren droht. Nach dieser Annahme stellen Mittel und Zwecke nämlich einen negativen bzw. einen positiven Wert in Beziehung zueinander dar. Dabei wird über die Frage, ob das Ziel seinen Preis wert ist, das Element der Rationalität in die präferenzielle Wahl der Mittel eingeführt. In diesem Sinne kann die Verfolgung von Zielen, ,die sich nicht lohnen', unvernünftig genannt werden. Ist der Gebrauch eines Mittels zwar sehr unangenehm aber immerhin zielführend, so kann es dennoch nicht als lohnend gewertet werden, wenn der resultierende ,Lohn' in keinem erträglichen Verhältnis zu den Anstrengungen (den ,Kosten') steht, die zur Erreichung des Ziels erforderlich waren (Von Wright 1994, 129). Angenommen, für den Fortschritt wäre tatsächlich, wie die Ambivalenztheorie präsumiert, ein 12
In einem solchen Fall scheint der Zweck um den Gebrauch des Mittels willen gewählt worden zu sein. Von Wrights Beispiel ist das Bergsteigen: Wir besteigen einen Berg nicht allein, um die Aussicht vom Gipfel genießen zu können, sondern weil wir uns an der körperlichen Ertüchtigung erfreuen.
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hoher und in einzelnen Fällen sogar ein völlig überhöhter Preis zu zahlen, dann stünde der Fortschritt prinzipiell an der Schwelle zur Irrationalität. Damit wäre dann aber die angeblich von der Ambivalenztheorie angestrebte ,Rettung' oder ,Rehabilitation' des Fortschritts ein ebenso unvernünftiges Unterfangen. Mit ihrer Skeptik gegenüber den Mitteln vertritt die Ambivalenztheorie also eine hochgradig problematische und sogar widersprüchliche Position. Die Rede vom , Preis des Fortschritts' kann nicht umhin, den Fortschritt schlecht zu machen. Deshalb ist, wie ich oben schon im Blick auf die Hauptformen der Fortschrittskritik sagte, die einzig konsequente Kritik des Fortschritts nicht die auf die Mittel bezogene relative, sondern die auf die Ablehnung der Fortschrittsziele selbst gerichtete absolute Kritik. Die relative Fortschrittskritik akzeptiert die Inhalte und Zielsetzungen des Fortschritts (den Zweck) und bemängelt gleichzeitig seine Voraussetzungen (die Mittel). Ja, man gibt sogar vor, sich erneute Fortschritte zu wünschen - niemand stellt sich schließlich willentlich gegen das Gute - , um dann dem als grundsätzlich positiv akzeptierten Fortschritt seine Schattenseiten vorzuwerfen. Mit anderen Worten: die Ambivalenztheorie will die Zweckrealisation, aber sie ist nicht bereit, die dazu nötigen Mittel einzusetzen. Wieder anders ausgedrückt: die Ambivalenztheorie stimmt der Zielsetzung zu, aber sie will den Weg nicht bis zum Ziel zuende gehen. Beispiele dieser Unentschlossenheit finden sich in der zeitgenössischen Literatur zum Fortschritt zu Haufe. Sie können hier nicht alle einzeln aufgezählt werden (das fünfte Kapitel knüpft im Abschnitt 4.c. an diesen Punkt an). Als typisches Beispiel sei jedoch Bergsdorfs Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel ,Ist der Fortschritt noch zu retten? Über die Ambivalenz eines historischen Zentralbegriffes' erwähnt. Der Aufsatz macht deutlich, dass der Fortschritt für die Ambivalenztheorie die Kraft ist, die stets das Gute will und doch das Böse schafft. Über die Gegenwart schreibt Bergsdorf: „Und auch auf dem Gebiete der Moral fällt die Fortschrittsbilanz weniger positiv aus" (1997, 125). Wer von einer negativen ,Fortschrittsbilanz' spricht, dem geht es um eine Abrechnung.13 Es kann aber logischerweise keine nachträgliche ,Bilanz' des Fortschritts geben. Die Bemühung der Kategorie Fortschritt ist das Fällen eines positiven Urteils über den qualitativen Wertgehalt einer bestimmten Entwicklung. Um die Macht der Preisfrage in der Fortschrittsdiskussion einzudämmen und Fortschritt also wieder als Teil eines im umfassenden Sinne optimistischen Denkens begreifen zu können, müssen wir darauf bestehen, dass die Bilanz bereits im Begriff Fortschritt enthalten ist: Das Fortschrittsurteil ist die Bilanz. Und zwar eine positive Bilanz, weil die zur Verhandlung stehende Entwicklung sich ,unter dem Strich' im Ganzen gelohnt hat oder sich in Zukunft noch als lohnenswert erweisen wird. Auf diese Weise reichert der Terminus Fortschritt den Ter13
Rapp nennt einige Beispiele des als „unlösbar" vorgestellten Zusammenhangs zwischen Gewinn und Verlust in der gegenwärtigen kulturkritischen Diskussion: „Die Bilanz lautet: Wohlstand führt zum Hedonismus, Urbanisierung zur Heimatlosigkeit, Chancengleichheit zum Konkurrenzdruck ... wissenschaftliche Erkenntnis zur Entzauberung der Welt, technisches Können zur Zerstörung der Natur und Toleranz zur Beliebigkeit." (1992, 201) Im Gegensatz zu Bergsdorf weiß Rapp: solche „Bilanzierungsversuche" „greifen zu kurz" (ebd., 202).
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minus Verbesserung zeitlich an und erhält ihm somit seine Aktualität in einem Zeitalter, das zunehmend von einem Bewusstsein der Historizität derjenigen gesellschaftlichen Verhältnisse geprägt ist, in denen Fortschritt potentiell stattfinden kann und erfahrungsgemäß stattgefunden hat: in der Politik, in der Wissenschaft und in der Kunst. Dass mit Fortschritt eine Bereicherung in diesen Verhältnissen gemeint ist wird deutlich, wenn man sich seinen Sinngehalt am Beispiel des für den modernen Fortschrittsdiskurs überaus einflussreichen englischen Wortes improvement näher vor Augen führt. Das Verb to improve geht unmittelbar auf das französische en preu zurück und leitet seine Bedeutung letztendlich vom französischen pros ab - Profit. Im frühen Sprachgebrauch wurde to improve dann auch im Zusammenhang mit profitorientierter Geschäftstätigkeit verwendet, und zwar oft gleichbedeutend mit to invest (Williams 1988, 160). Der Begriff Fortschritt steht von Beginn an für den Gewinn und die Bereicherung, nicht für den Verlust. Das ist kein Argument für die Vorstellung, dass dem Fortschritt jedes Mittel recht ist. Die Notwendigkeit einer verantwortungsbewussten Abwägung der Mittel ist durch den positiven Sinngehalt des Begriffs nicht aus der Welt geschafft. Allerdings wird, wie bereits gesagt, das Mittel-Zweck Verhältnis dem Fortschrittsbegriff nicht zum Verhängnis. Mittel und Zweck werden entweder beide positiv bewertet, oder die Diskrepanz in ihrem moralischen Wert ist so gering, dass sie hingenommen werden kann. Zur Illustration ein Auszug aus einer Polemik Wilhelm Reichs: „Ich ... sage dir: Das Ziel ist der Weg, auf dem du es erreichst. Jeder Schritt von heute ist dein Leben von morgen. Große Ziele können nicht mit gemeinen Mitteln erreicht werden." (1992, 75) Diese Beobachtung kann in zweierlei Hinsicht zur Lösung der Schwierigkeiten beitragen, die sich dem Fortschritt aus der Mittel-Zweck Relation ergeben. Die erste Feststellung besagt: Jeder Schritt von heute ist dein Leben von morgen.' Damit ist die verantwortungsbewusste Abwägung der Mittel angesprochen. Gleichzeitig setzt ein Fortschrittsurteil aber voraus, dass eine vernünftige Wahl getroffen wurde. Aus mir unerfindlichen Gründen scheint die Ambivalenztheorie anzunehmen, dass die Wahl irgendwie zugunsten von zweifelhaften Mitteln ausgehen muss. Noch interessanter ist die zweite Feststellung: ,Das Ziel ist der Weg auf dem du es erreichst. ' Überspitzt gesagt: Mittel und Zweck ein und derselben Entwicklung lassen sich möglicherweise gar nicht in einem krassen Gegensatz denken. Aus dem Umstand, dass das im Fortschritt gesetzte Ziel - wie die Ambivalenztheorie für gewöhnlich zugesteht - von vornherein als etwas Gutes bestimmt ist, folgt, dass auch die Mittel zum Zweck zumindest von vergleichbarer Qualität sein müssen. Fortschritte sind Entwicklungen, die nicht in den Gewinn einerseits und die Unkosten, den Verlust oder das Opfer, das zu ihm führt andererseits, aufgespalten werden können. Die konzeptionelle Aufspaltung der Analyse eines bestimmten Mittel-Zweck Verhältnisses lässt sich in der Bewertung dieses Verhältnisses nicht ohne weiteres fortsetzen.14 14
„Überhaupt lässt sich die eindeutige Scheidung in Mittel und Zweck nur im Begrenzten halten ... Wer ein Haus bauen will, kann und muss die Mittel bestimmen. Für das Leben aber bedeutet das Suchen nach den lebensgerechten .Mitteln' zugleich ein besseres Bestimmen des Zwecks. Weg und Ziel sind hier identisch." (Brockard 1974, 1822)
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Darum haben die Fälle von Umweltzerstörung, des Missbrauchs von politischer, wissenschaftlicher und technischer Macht im historischem Ausmaß, die immer häufiger wie selbstverständlich als Belege nicht für das Ausbleiben, sondern für das Versagen des Fortschritts herangezogen werden, nicht ebenso selbstverständlich etwas mit dem zu tun, was man Fortschritt nennt. Diese Geschehnisse stellen nicht nur ihren Resultaten nichts Gutes dar - sie sind überhaupt in keinster Weise in ihrer Gesamtentwicklung betrachtet als Verbesserungen erkennbar. Durch sie wird deswegen nicht der Fortschritt in Frage gestellt; was in der Tat durch sie in Frage gestellt wird, könnte man als .soziale Qualität der Anwendung von' bzw. als ,Hoheit über' Wissenschaft, Technik und politische Macht bezeichnen. Fragwürdig ist deshalb nicht der Fortschritt - bzw. seine durch den inneren Zusammenhang zwischen Mitteln und Zwecken verbürgte Bedeutung der Verbesserung - , sondern der Gedanke, einzelne Bereiche menschlicher Tätigkeit könnten in Absehung von diesen Hoheitsverhältnissen pauschal mit dieser Bedeutung gleichgesetzt werden.
b.
Fortschritt als Verkehrung der Idee: Die Dialektik der
Aufklärung
Die Vorstellung von der Diskrepanz im moralischen Wert der Mittel und der Zwecke und die Rede vom Preis des Fortschritts, die daraus entsteht, ist der Ausgangspunkt der These von der Ambivalenz des Fortschritts. Diese Ambivalenz wird speziell in der Marxrezeption häufig als .Dialektik des Fortschritts' bezeichnet (worunter im weiteren Sinne eine Art historische Realdialektik verstanden wird). Theoretisch wird diese Dialektik typischerweise als die Verkehrung einer gut gemeinten Idee in ihr Gegenteil vorgestellt. Im Kern basiert das Verkehrungsschema auf einem denkbar einfachen Gedanken, der von einem alten, fälschlicherweise Samuel Johnson zugeschriebenen englischen Sprichwort auf den Punkt gebracht wird: The road to hell is paved with good intentions. (Mandeville führt vielleicht als Erster aus, dass es umgekehrt auch so etwas geben kann wie eine Idee als geschichtliche Kraft, die das Böse will und doch das Gute schafft.) Theodor Adorno und Max Horkheimer haben das Verkehrungsschema, das dieses Sprichwort thematisiert, in Form einer allgemeinen Zivilisationskritik in einer geradezu epochemachenden Schrift Dialektik der Aufklärung von 1947 vorgetragen, die hier beispielhaft als Manifest der Ambivalenztheorie besprochen werden soll. Die Dialektik der Aufklärung wurde kurz vor Kriegsende im amerikanischen Exil verfasst. Ein Vierteljahrhundert später charakterisieren die Autoren in einer Bemerkung zur Neuausgabe den Inhalt als „Kritisches Denken, das auch vor dem Fortschritt nicht innehält". Sie verstehen darunter ein Denken, das die „Entwicklung zur totalen Integration" (zum „Totalitarismus") erkannt hat, und das dem gegenwärtigen abendländischen Denken die „Geistesfeindschaft" des „Umschlags von Aufklärung in Positivismus" diagnostiziert (1997, IXf.). In der Vorrede umreißen die Autoren das Ziel ihres Buches als die Erlangung von Erkenntnis darüber, „warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt". (Ebd., 1) Man sollte
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meinen, die Dialektik der Auflclärung beschreibe den umfassenden Niedergang der Gesellschaftsform, die sich Adorno und Horkheimer darbietet; zumal sie behaupten, der dringlichste Gegenstand ihres Buches sei die Selbstzerstörung der Aufklärung: „Wir hegen keinen Zweifel ... daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, daß der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet." (Ebd., 3) Den Stoff zur inhaltlichen Ausschmückung dieser Beobachtung liefert die industrialisierte Massen- und Konsumgesellschaft. (Viele der von Adorno und Horkheimer herangezogenen Beispiele sind dem Leben der amerikanischen Gesellschaft entnommen, vor allem ihrer ,Kulturindustrie'.) Diese sich allmählich durchsetzende, vermeintlich aufgeklärte Ordnung wird von Horkheimer und Adorno regelrecht verabscheut: Der Fortschritt, insbesondere die Technikentwicklung und die Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität, intensiviere bloß die Ungerechtigkeit angesichts der zunehmenden „Ohnmacht und Lenkbarkeit der Masse". Auch die Anhebung des „Lebensstandards der Unteren" sei nichts wirklich Erfreuliches, da unter den herrschenden Bedingungen allgemein und unter dem Eindruck des ,,Ausverkauf[s] der Kultur" im besonderen „die Glücksgüter selbst zu Elementen des Unglücks" werden. Für alle gesellschaftlichen Bereiche gilt: „der Fortschritt schlägt in den Rückschritt um." (Ebd., 4f.) Darin liegt die Brisanz der gegenwärtigen Situation. Es geht also nicht um ein Niedergangsschema, es geht um das Umschlagen der Verbesserung in die Verschlechterung. Dieses Umschlagen findet auch nicht in Form einer Sequenz statt, wonach der Rückschritt auf den Fortschritt folgt, sondern in Form einer auf den Fortschritt gemünzten Verschlechterung. Das ist das Schema der Verkehrung des Fortschritts gegen sich selbst. Innerhalb der übergreifenden Bewegung der Dialektik der Aufklärung lassen die Autoren eine spezielle Dialektik des Fortschritts vorgehen. Sie behandeln diese Verkehrung theoretisch als „Verwandlung der Idee in Herrschaft" (ebd., 224), eine Verwandlung, die auf zwei Gedanken basiert: Erstens sei rein Gutes unmöglich, was sich praktisch im altbekannten „prix du progrès" (ebd., 243) niederschlage, seinen Anfang aber schon viel früher nehme: „Heillos ist der Geist und alles Gute in seinem Ursprung und Dasein in dieses Grauen verstrickt. Das Serum, das der Arzt dem kranken Kind reicht, verdankt sich der Attacke auf die wehrlose Kreatur." (Ebd., 234) Es sei eine der Nebenwirkungen der Geschichtsphilosophie, dass sie die Menschen über diese Allgegenwärtigkeit des Grauens hinwegtäuscht. Die Geschichtsphilosophie habe die Idee vom Guten (die „humanen Ideen") als wirkende Macht in die Geschichte verlegt, um diese mit deren Triumph enden lassen zu können. Die Dialektik der Aufklärung formuliert hier ihre ganz eigene Säkularisierungsthese: „In der Geschichtsphilosophie wiederholt sich, was im Christentum geschah: das Gute, das in Wahrheit dem Leiden ausgeliefert bleibt, wird als Kraft verkleidet, die den Gang der Geschichte bestimmt und am Ende triumphiert." Eine Philosophie der Geschichte müsste aber vielmehr einsehen, dass Geschichte „nicht das
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Gute, sondern eben das Grauen ist". (Ebd., 236) Das Postulat des Guten wird einfach auf den Kopf gestellt. Das .Negative' dieser Dialektik besteht zunächst in Horkheimers und Adornos schlichter Methode, in allem Guten ein Böses zu sehen. Zweitens basiert die Verkehrung der Idee in Herrschaft auf dem Gedanken der Irrationalität der Rationalität: „Die Absurdität des Zustandes, in dem die Gewalt des Systems über die Menschen mit jedem Schritt wächst, der sie aus der Gewalt der Natur herausführt, denunziert die Vernunft der vernünftigen Gesellschaft als obsolet." (Ebd., 45) An der Formulierung im dritten Satzteil wird deutlich, dass die Autoren trotz allem davon ausgehen, dass den Menschen ein solcher Ausgang möglich (gewesen) wäre. Statt dessen habe die Aufklärung ihr kritisches und befreiendes Potential hingegeben an die Verdinglichung und Verwandlung des Denkens in Herrschaft (was sich beispielhaft in der formalistischen Mathematik und im tatsachengläubigen Positivismus ausdrücke), an die Verdummung durch die Kulturindustrie, an die Maschine, an die Verwaltung der Massenmenschen, etc. Eine neue Barbarei reife heran: „Das Wesen der Aufklärung ist die Alternative, deren Unausweichlichkeit die der Herrschaft ist. Die Menschen hatten immer zu wählen zwischen ihrer Unterwerfung unter Natur oder der Natur unter das Selbst. Mit der Ausbreitung der bürgerlichen Warenwirtschaft wird der dunkle Horizont des Mythos von der Sonne der kalkulierenden Vernunft aufgehellt, unter deren eisigen Strahlen die Saat der neuen Barbarei heranreift. Unter dem Zwang der Herrschaft hat die menschliche Arbeit seit je vom Mythos hinweggeführt, in dessen Bannkreis sie unter der Herrschaft stets wieder geriet." (Ebd., 38) Hier besteht eine gewisse inhaltliche Ähnlichkeit mit der oben geschilderten Löwithschen Formel. Auch hier wird nämlich eine Vereinnahmung oder zumindest der Versuch einer Vereinnahmung dargestellt. Und in beiden Fällen ist es vor allen Dingen die Natur, die vereinnahmt und beherrscht werden soll. Ein besonderes Problem ist in diesem Zusammenhang der Verstand, der für die - scheinbar gänzlich negativ verstandene Naturbeherrschung verantwortlich gemacht wird. Gleich zu Beginn des ersten Kapitels der Dialektik der Aufklärung darf Francis Bacon die Rolle des Hauptverdächtigen spielen. Als totalitär' veranlagter „Herold" des „erbarmungslosen Fortschritts" (ebd., 48), steht er wie kein Zweiter für den eiskalt berechnenden Verstand, der sich jetzt als lebensbedrohende Wissenschaft und Technik manifestiert. Bedrohlich ist die verstandesmäßige Erkenntnis, weil ihre scheinbar glückliche Ehe mit der Natur in Wirklichkeit eine einseitige, „patriarchale" Beziehung ist: Der Verstand gebietet der durch die Aufklärung entzauberten Natur; das Wissen kennt keine Schranken und geht eine tödliche Verbindung mit der Technik ein: „Technik ist das Wesen dieses Wissens." (Ebd., 10) Die Ergebnisse dieser Verbindung sind aber nicht nur Druckerpresse und Kompass, sondern eben auch Bomber und Kanonen. Der Verstand erweitert das Wissen, das Wissen befruchtet die Technik und die Technik wird in den Dienst der vollständigen Beherrschung und Zerstörung von Mensch und Natur gestellt. So lautet die in der Dialektik der Aufklärung vorgetragene These zum Fortschritt. In dem Phänomen der Entfremdung hat diese Dialektik dann natürlich auch eine eigene
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Vorstellung vom Preis dieser Entwicklung: „Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie Macht ausüben." Die Natur ist die „disqualifizierte Natur", und das umso mehr, als die „Weltbeherrschung mittels der ... Wissenschaft" reale Möglichkeit wird (ebd., 15ff.). Was bei dieser eigentümlich dialektischen Argumentation - und später auch bei Löwith, wie ich noch zeigen werde - außen vor bleibt ist, dass Menschen Naturwesen sind. Menschen mögen sich aus ihrer individuellen Alltagserfahrung heraus im Gegensatz zu einer als äußere ,Umwelt' verstandenen Natur wähnen und sich infolgedessen die unglaublichsten Eigenschaften und Fähigkeiten zuschreiben. Trotzdem bleibt es doch müßig, diesen populärmetaphysischen Anthropozentrismus philosophisch zu reproduzieren und die Menschen ,der Natur' absolut voranzusetzen, um dann alle ihre vermeintlichen Fortschritte als zerstörerische Vergehen an ihr zu entlarven. Von einer dialektischen Anschauung sollte man doch erwarten können, dass sie die Naturbeherrschung als ein Experiment in Selbstbeherrschung begreift. Und diese Art der Selbstbeherrschung gründet eben nicht ausschließlich und vielleicht nicht einmal vorrangig - wie die Autoren der Dialektik der Aufklärung in andauernder Analogie zur Politik behaupten: „Aufklärung ist totalitär" (ebd., 12, 31) - im Bedürfnis nach .Herrschaft', sondern im Bedürfnis der menschlichen Naturwesen nach der Befriedigung ihrer natürlichen Bedürfnisse. (Ich komme im sechsten Kapitel im Zusammenhang mit der ethischen Dimension des Marxschen Fortschrittsbegriffs auf dieses Thema zurück.) Unter der Voraussetzung der totalen Ablehnung der Bedingungen der Bedürfnisbefriedigung wird Fortschritt nicht dialektisch im Hinblick auf seinen Preis gedacht, sondern schlichtweg undenkbar gemacht. Fortschritt bezieht sich immer auf die Verbesserung der Bedingungen, unter denen Bedürfnisbefriedigung stattfindet. Auf was sonst?
4.
Karl Marx und der ambivalente Fortschritt
Nach allem, was hier gesagt wurde, drängt sich natürlich folgende Frage auf: Warum schreibt Marx immer wieder in einer Weise über den Fortschritt, die ihn als ein in sich widersprüchliches, ambivalentes Wesen erscheinen lässt? Zum Beispiel in der Rede, die Marx im Jahr 1856 anlässlich des Jubiläums des Londoner People's Paper hält: „There is one great fact, characteristic of this our nineteenth century, a fact which no party dares deny. On the one hand, there have started into life industrial and scientific forces, which no epoch of the former human history had ever suspected. On the other hand, there exist symptoms of decay, far surpassing the horrors recorded of the latter times of the Roman empire. In our days everything seems pregnant with its contrary. Machinery gifted with the wonderful power of shortening and fructifying human labour, we behold starving and overworking it. The new-fangled sources of wealth, by some strange weird spell, are turned into sources of want. The victories of art seem
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bought by the loss of character. At the same pace that mankind masters nature, man seems to become enslaved to other men or to his own infamy. Even the pure light of science seems unable to shine but on the background of ignorance. All our inventions and progress seem to result in endowing material forces with intellectual life, and in stultifying human life into a material force. This antagonism between modern industry and science on the one hand, modern misery and dissolution on the other hand; this antagonism between the productive powers and the social relations of our epoch is a fact, palpable, overwhelming, and not to be controverted." (1978, 577f., deutsch in MEW 12, 3f.)
a.
Der ambivalente Gebrauch von Fortschritt im traditionellen Konfliktmodell
Diese Passage aus der Rede von 1856 wird gerne als Beleg für die These angeführt, Marx vertrete einen Begriff von Fortschritt, in dem sich „the principles of contradiction and paradox" (Roberto 2001, 317) verbinden. Auffällig ist jedoch zunächst die Verbindung des Scheinbaren mit dem Faktischen: Marx behauptet in dieser Passage, alle vermeintlich fortschrittlichen Entwicklungen - die Mechanisierung der Arbeit und die Arbeitszeitverkürzung, die Wohlstandssteigerung, die Kunst, das ,reine Licht' der Wissenschaft etc. - gingen scheinbar mit ihrem nachteiligen Gegenteil schwanger (,seem pregnant'), verkehrten sich gegen sich selbst und seien in sich widersprüchlich. Gleichwohl sei diese Verkehrung eine .Tatsache' der Gesellschaftsentwicklung im 19. Jahrhundert, die niemand zu bestreiten wage. Marx beschreibt wie sich die fortschreitende wissenschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung und die ungeahnte Wohlstandssteigerung, die sich daraus ergibt, wie auf wundersame Weise (,by some strange weird spell') in rastlose Plackerei, Elend, Ignoranz und ohnmächtige Entfremdung verwandelt. Nimmt er damit nicht die Verkehrung der Idee der Verbesserung in ihr Gegenteil vorweg, wie sie viel später von Horkheimer und Adorno zum Paradigma der Aufklärung erhoben wird? Sicherlich ist Marx' Beschreibung dieses Entwicklungsgangs mit seinem scheinbar ambivalenten Bewegungscharakter - die kreative Zerstörung mit ihren Fortschritten auf der einen und den ihnen zuwiderlaufenden »Symptomen des Verfalls' auf der anderen Seite - das Zeugnis einer dialektischen Konzeption von Geschichte und also von Fortschritt. Trotzdem setzt die Rede von 1856 den Fortschritt nicht mit der Geschichte gleich, auf dass er als Widerspruch erkenntlich werde. Sie handelt vielmehr von dem ,Antagonismus' zwischen den Produktivkräften und den sozialen Beziehungen. Sie macht deutlich, wie und wodurch die natürlichen, materiellen und geistigen Kräfte einer Gesellschaft miteinander vermittelt sind. Marx sagt nicht: Fortschritt ist widersprüchlich.' Er sagt: Gegensätze wie Wissenschaft und Ignoranz, Kunst und Charakterlosigkeit, Wohlstand und Elend, Mechanisierung und Plackerei, die Beherrschung der Natur durch den Menschen und die gleichzeitige
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HEILSLEHRENVORWURF U N D AMBIVALENZTHEORIE
Herrschaft von Menschen über Menschen etc. sind ohne die Kategorien Produktion und Arbeit nicht denkbar. In der verständlichen Bemühung um eine angemessene Darstellung dieser Auffassung von Gesellschaftsentwicklung auf der Grundlage der Produktion wird Marx oft so diskutiert, als verstehe es sich von selbst, dass er einen dialektischen Fortschritt vertrete. Die Behauptung, Fortschritt sei dialektisch, impliziert jedoch normalerweise weit mehr als die schlichte Feststellung, dass die historische Entwicklung eine gegensätzliche Verlaufsform hat. Sie impliziert die wesentlich problematischere Auffassung, der Geschichtsprozess sei eine Aufhebungskette. Die Frage, inwiefern Marx mit einer solchen Dialektik in Verbindung gebracht werden kann wird im folgenden Kapitel über die Entstehung des originellen Marxschen Fortschrittsbegriffs ausführlicher auseinandergesetzt. An dieser Stelle kann schon vorweggenommen werden, dass die Anwendung der Dialektik auf den Geschichtsprozess jedenfalls keine Marxsche Erfindung ist. Sie wird im Anschluss an Hegel vermutlich erstmals von August von Cieszkowski unternommen. Was in der Rede von 1856 zum Ausdruck kommt muss in einem viel weiteren Sinne im Kontext der Entstehung eines theoretischen Modells zur Erfassung des Gegensatzcharakters der Geschichtsentwicklung verstanden werden. Festzuhalten ist auch, dass es spätestens seit Rousseau keinen für die moderne Fortschrittsidee relevanten Denker gibt, der nicht zu wissen glaubt, dass Fortschritt mit einem Widerspruch behaftet ist und - im Sinne des oben auseinandergesetzten Verhältnisses ihrer Mittel zu ihrem Zweck - seinen Preis hat. So gesehen ist die These von der Ambivalenz des Fortschritts also keine Errungenschaft der Kritik der Aufklärung im 20. Jahrhundert (sei es im Dienste der Dialektik oder der Säkularisierungsthese), sondern sie ist eine Begleiterscheinung der Hinwendung der Aufklärung zur Problematik der Geschichtsentwicklung. Gerade in der französischen und schottischen Aufklärung werden Fortschritt und Rückschritt als eng miteinander verwobene Vorgänge verstanden. Allmählich bildet sich ein Fortschrittsbegriff heraus, der Entwicklungen, die dem Fortschritt zuwiderlaufen, ausdrücklich berücksichtigt. Insbesondere die verheerenden Folgen der frühen Industrialisierung führen noch während der Aufklärung zu einem gesteigerten Bewusstsein dafür, dass Fortschritt ohne gegenläufige Bewegungen nicht zu haben ist. Das drückt sich bei Ferguson und bei Adam Smith in kritischen Betrachtungen zu der als Strukturprinzip einer neuen Gesellschaftsform erkannten Arbeitsteilung aus, die aufgrund ihrer Verschränkung von Technik und Sozialem zum Inbegriff der Ambivalenz wird (Rohbeck 2000, 73f.). Gleichzeitig führen die häufiger werdenden Kontakte mit fremden Kulturen im Zuge immer weitläufigerer Entdeckungsreisen, des Kolonialismus und der Intensivierung des Welthandels in zunehmenden Maße zu einem Verständnis für die Andersartigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung in den verschiedenen Erdteilen, speziell für ihre Ungleichzeitigkeit im Verhältnis zueinander. Auch darf nicht vergessen werden, dass die Enttäuschung über das Ausbleiben einer allumfassenden perfection oder perfectibilité in der moralischen Verfassung der Menschheit jetzt bereits Anlass zur Skepsis gegenüber dem Fortschritt gibt. „In dem Maß, in dem unsere Wissenschaft und Künste zur Vollkommenheit fortschritten, sind unsere Seelen verderbt worden", schreibt
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Rousseau (1750, 15). Wo allerdings Verbesserungen registriert werden, werden diese zunehmend in einem singulären Fortschritt von universaler Tragweite gebündelt, in dem also notgedrungen auch die ihm widersprechenden Erscheinungen eingeschlossen sind. Skiair belegt daher das für die Zeit seit der Aufklärung typische Fortschrittsdenken treffend mit der Bezeichnung „Konflikttheorie" (1972, 48). In seiner Schrift philosophische Darstellung der allmählichen Fortschritte des menschlichen Geistes' hat Turgot den auf diesem ursprünglichen Konfliktmodell der Entwicklung beruhenden Fortschrittsbegriff mit bestechender Deutlichkeit formuliert: „Die Reiche steigen auf und gehen unter; Gesetze und Regierungsformen lösen einander ab. Künste und Wissenschaften werden der Reihe nach entdeckt und vervollkommnen sich; abwechselnd in ihren Fortschritten gehemmt und beschleunigt, gehen sie von einem Himmelsstrich zum nächsten über. Eigennutz, Ehrgeiz und eitle Ruhmsucht ... überschwemmen die Erde mit Blut. Inmitten ihrer Verwüstung mildern sich die Sitten, der menschliche Geist wird aufgeklärter, und die isolierten Nationen nähern sich einander an. Schließlich verbinden Handel und Politik alle Erdteile wieder miteinander, und die Gesamtheit der menschlichen Entwicklung bewegt sich im Wechsel von Ruhe und Bewegung, von Gutem und Bösem, zwar langsam, aber stetig auf eine größere Vollkommenheit zu." (1748-52, 140f.) Wir können davon ausgehen, dass Marx mit diesem, die Konflikte und Gegensätze betonenden Modell der Geschichtsentwicklung und der damit parallel laufenden Vorstellung von der Ambivalenz des Fortschritts vertraut ist. Stellenweise scheint er diese Vorstellung zu reproduzieren. Dies geschieht gerade in Texten mit einem hohen politischen Stellenwert, und dazu gehört auch die Rede von 1856. Marx fühlt sich durch die Einladung des People's Paper geehrt; dem, was er dort als Gastredner ausführt, misst er aber keinen großen theoretischen Wert bei. An Engels schreibt er: „Ich hielt also kleinen englischen speech, den ich indeß nicht abdrucken lassen werde. Der Zweck, den ich wollte ist erreicht." (16. April 1856, MEGA III/8, 12/MEW 29, 44) Die Rede von 1856 zeigt, dass mit dem traditionellen Konfliktmodell eine ältere, erprobte Denkfigur in der Marxschen Theorie überlebt hat. Nicht mehr und nicht weniger. Das traditionelle Konfliktmodell des Fortschritts schreit doch geradezu danach, auf die Grausamkeiten der Industrialisierung der bürgerlichen Gesellschaft angewendet zu werden, um ihren Nutznießern und Apologeten vor Augen zu führen, was sich wirklich abspielt. Schließlich ist dies eine Rede zu Ehren eines Organs der englischen Arbeiterbewegung, eine Rede, die also einen hohen Agitations wert hat. Ihr Slogan ,In our days everything seems pregnant with ist contrary' ist vor allem als ein rhetorischer Angriff auf den Status Quo zu werten. Solange der Fokus auf dem Fortbestand dieser älteren Auffassung von Geschichte und Fortschritt liegt, wird sich indessen die Originalität und die Eigentümlichkeit des spezifisch Marxschen Fortschrittsdenkens nicht zeigen.
106
b.
HEILSLEHRENVORWURF UND AMBIVALENZTHEORIE
Marx' ambivalenter Gebrauch von Fortschritt
Eine Möglichkeit, den ambivalenten Gebrauch von .Fortschritt' bei Marx zu erklären besteht darin, ihm im Marxschen Fortschrittsdenken den ihm gebührenden Platz zuzuweisen. Bei genauerem Hinsehen stellt sich nämlich heraus, dass Marx mit dem Fortschritt als ambivalenten oder sogar negativen Begriff vor allem im Rahmen seiner überaus kritischen Bezugnahme auf das spekulative Geschichtsdenken operiert, die stellenweise mit großer Aggressivität vorgetragen wird. Die Ambivalenz ist nämlich ein ganz wichtiges stilistisches Mittel in Marx' zutiefst polemischer und im besten Sinne des Wortes zynischer Auseinandersetzung mit dem Fortschrittsoptimismus, der in der Philosophie und den Wissenschaften seiner Zeit (und besonders im sozialistischen Lager) eine außergewöhnliche Durchschlagskraft entwickelt hatte. In diesen Kreisen war der Fortschritt in der Tat zu einem bestimmenden Terminus des kulturellen und intellektuellen Lebens herangewachsen - zum „Leitbegriff im 19. Jahrhundert" (Koselleck 1979a, 407ff.). Darüber sollte jedoch nicht vergessen werden, dass Marx' ambivalenter Gebrauch von .Fortschritt' die Ausnahme zur Regel seines positiven Fortschrittsbegriffs ist. Dieser Gebrauch beschränkt sich sozusagen auf den negativen Teilbereich des Marxschen Fortschrittsdenkens: auf die Kritik des verabsolutierenden Kollektivsingulars Fortschritt. Er bringt Marx Empörung über die Naivität dieser universalistischen Auffassung zum Ausdruck; zum Beispiel in dem teilweise moralisch sehr aufgeladenen 13. Kapitel über ,Maschinerie und große Industrie' im ersten Band des Kapitals. Dort werden die deprimierenden Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter unter dem Eindruck der Mechanisierung geschildert. In ihnen verdeutlicht sich - wie in den oben zitierten Sprüchen des Heraklit - ein wichtiges Merkmal der Ambivalenz: ihre traditionelle Bezugnahme auf den Tod. „Dieser Fortschritt in der Rate der Schwindsucht muß den optimistischsten Fortschrittlern und lügenfauchendsten deutschen Freihandelshausirburschen genügen." (MEGA II/6, 447/MEW 23, 490) Die Fortschrittsgläubigkeit sei ein „Cretinismus" (ebd., 431, Fn. 226/471, Fn. 226). Trotzdem will Marx an einem positiven Begriff von sozialem Fortschritt festhalten. Der Vorwurf, Kritiker der kapitalistischen Anwendung der Maschinerie wie er selbst seien „Gegner des sozialen Fortschritts" (MEGA 11/10, 397/MEW 23, 465), weist er als ebensolchen „anmaßlichen Cretinismus" (MEGA II/6, 424, Fn. 216/MEW 23, 465 Fn. 216) zurück. Marx sieht sich offenbar nicht dazu veranlasst, der Technik die zweifelhafte Anwendung neuer technischer Mittel im Produktionsprozess zum Vorwurf zu machen. Eine „Dummheit" sei es, „nicht die kapitalistische Anwendung der Maschinerie zu bekämpfen, sondern die Maschinerie selbst." (Ebd., 424/465) Nicht die Entwicklung der technischen Mittel spricht gegen den Fortschritt, sondern die Art und Weise wie die technischen Neuerungen unter den gegebenen Bedingungen zum Einsatz gebracht werden. Im Elend der Philosophie findet sich ein typischer Fall einer vermeintlich ambivalenten Marxschen Fortschrittsaussage, weil hier an einer Stelle ,Elend' und Fortschritt' im gleichen Satz vorkommen: „In der heutigen Gesellschaft... ist die Produktionsanarchie,
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die Quelle so vieles Elends, gleichzeitig die Ursache alles Fortschritts." (MEW 4, 97) Bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass es die ,Produktionsanarchie' ist, die ganz unmissverständlich als die ,Quelle' des Elends und als .Ursache' des Fortschritts bestimmt ist. Die Ursache ist ambivalent, ihre Resultate sind es nicht. Aus ein und der selben Ursache erwächst auf der einen Seite das Elend, und auf der anderen der Fortschritt. Auf einer tieferen Ebene unterhalb der Polemik gegen die Fortschrittsgläubigkeit erhält Marx sich also offensichtlich einen unbeschädigten Fortschrittsbegriff, der nicht in eine immanente Widersprüchlichkeit verstrickt ist und sozusagen mit sich selbst im Clinch liegt. Marx' Interesse übersteigt die reine Selbstbezüglichkeit des Fortschritts bei weitem. Marx setzt den ambivalenten Fortschritt als Stilmittel an der Oberfläche seiner Darstellung ein. Der Grund, warum er gerade diese Darstellungsweise wählt liegt auf der Hand: Die Fortschrittsgläubigkeit ist der Versuch, die Alleinherrschaft des Fortschritts als Leitprinzip des Geschichtsprozesses durchzusetzen. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts geschieht dies zunehmend - und wenn es sein muss gegen die Existenz wahrnehmbarer Rückschritte - in Form der Behauptung der Naturgesetzlichkeit der Fortschrittsentwicklung. Da der Fortschrittsglaube Entwicklungen, die unmöglich als Verbesserungen verbucht werden können aber nicht unterschlagen will, versucht er, diese Entwicklungen irgendwie zu akkomodieren. So entsteht der Eindruck einer einheitlichen Bewegung des Fortschritts, in der auch die nicht-fortschrittlichen Elemente sozusagen aufgehoben sind. Auf diese Weise macht sich die Fortschrittsgläubigkeit gegenüber dem gegenteiligen Extrem Rückschritt blind. Um diese Blindheit ad absurdum zu führen, spielt Marx mit dem Kollektivsingular Fortschritt im Sinne des traditionellen Konfliktmodells, indem er den Fortschritt ironisch in der unkritischen und omnipotenten Form reproduziert, die er bei den ,Fortschrittlern' hat: als Universalprinzip. Zum Schein darf der Fortschritt die historische Bewegung in ihrer Gesamtheit bestimmen. Da diese jedoch für alle sichtbar immer auch eine Schattenseite hat, stellt sich bald heraus, dass die Behauptung eines allumfassenden Fortschritts unhaltbar ist, müsste er doch beispielsweise als ,Fortschritt in der Rate der Schwindsucht' letztlich sogar die Schuld der Tötung auf sich nehmen. Nur wäre er dann eben nicht mehr die universale, omnipotente, nach allen Seiten und bis in die letzte Nische wirkende Kraft des Guten, als welche ihn der Fortschrittsglaube verkaufen will, sondern etwas Ambivalentes und also Unvollkommenes. Von dieser Warte aus betrachtet scheinen sich übrigens zwei sich angeblich feindlich gegenüberstehende Lager plötzlich nicht mehr so fremd zu sein. Der dem 19. Jahrhundert pauschal zugeschriebene überschwängliche Fortschrittglaube und die spätestens ab Mitte des 20. Jahrhunderts in den Sozial- und Geisteswissenschaften im großen Stil einsetzende Fortschrittskritik sind sich nämlich in einem Punkt durchaus einig: In der Geschichte sehen sie die Geschichte des Fortschritts als ein im Prozess angelegtes und auf Verwirklichung drängendes Prinzip. Während sich die Fortschrittskritik auf diesen Umstand einschießt, gerät der Rückschritt zunehmend in Vergessenheit. Hartwig Schmidt ist einer von wenigen, denen das Verschwinden des Rückschritts aus dem Gelehrtendiskurs aufgefallen ist:
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HEILSLEHREN VORWURF UND AMBIVALENZTHEORIE
„Wenn nicht schon im theoretischen Ansatz zwischen Fortschritt und Rückschritt unterschieden wird, dann liegt es verführerisch nahe, alles das, was in Wirklichkeit einen Rückschritt darstellt, dem Fortschritt zu unterstellen. Hiermit korrespondiert ein merkwürdiges Phänomen, das einem in den modernen Fortschrittsdebatten allenthalben begegnet: Der Rückschritt scheint verschwunden zu sein, und der Fortschritt sitzt auf der Anklagebank." (1989, 1015) Diese Entwicklung hat zur Folge, dass die von Marx schon zur Mitte des 19. Jahrhunderts bekämpfte Substantivierung des Fortschritts spätestens gegen Ende des 20. Jahrhunderts wieder hergestellt ist. In ihrer jüngsten Ausprägung ist die Ambivalenztheorie also eine recht unheilvolle Entwicklung. Sie verwandelt den Fortschritt in einen Begriff, der dazu verdammt ist, sich immerfort selbst zu verneinen. So täuscht die zeitgenössische Fortschrittskritik ein Abrücken von demselben Universalbegriff Fortschritt vor, den sie selbst als Grundlage ihrer Thesen voraussetzt. Die Erhebung des Fortschritts zum Inbegriff der ambivalenten Widersprüchlichkeit führt dazu, dass sein Gegenteil, der Rückschritt, nachhaltig entkräftet wird. Der Großteil der Fortschrittsliteratur lässt den Rückschritt entweder verschwinden, indem sie ihn totschweigt, oder sie entzieht ihm seine Selbständigkeit - und damit seinen ganz konkreten Schrecken - , indem sie ihn in den Fortschritt hineinnimmt oder ihn zum bloßen Resultat des Fortschritts herabsetzt. Wo früher zwei Kategorien am Werk waren, muss jetzt eine Kategorie als Orientierungshilfe ausreichen, um eine Vielzahl von Geschehnissen und Entwicklungen zu beschreiben und zu beurteilen. Und es werden dem Fortschritt erbarmungslos selbst die grauenhaftesten Entwicklungen in die Schuhe geschoben. Als Marx den Optimisten unter seinen Zeitgenossen vorwarf, ihre Leichtgläubigkeit entstelle die Idee des Fortschritts, stand ,nicht mehr' auf dem Spiel als die Schwindsucht. Einhundert Jahre später kann Adorno wie selbstverständlich behaupten, der Fortschritt sei „von der Steinschleuder zur Megatonnenbombe satanisches Gelächter" (1969, 41). Wer hätte gedacht, dass wir uns eines Tages dazu veranlasst sehen könnten, das Ableben des Rückschritts zu betrauern? Doch das Schweigen über den Rückschritt hat sich bereits fast vollständig durchgesetzt. Wie alle Ambivalenztheoretiker weiß auch Bergsdorf, dass der Fortschritt für „das Gute" (1997, 129) steht, und er bejaht dieses Gute und will es „retten" (ebd., 127). Trotzdem erwähnt er den Rückschritt mit keinem Wort, um dem Fortschritt seine Grenzen aufzuzeigen. Als Universalbegriff mag er den Fortschritt aber auch nicht. Denn dieser „wird" - als hätte er sich aus eigener Kraft dazu gemacht - „zum geschichtsphilosophischen Universalbegriff, in dem er die eine Menschheit als Subjekt ihrer Geschichte anspricht" (ebd., 122), der sich aber beispielsweise „im Blick auf den Bosnien-Krieg sich selbst zu widerlegen scheint" (ebd., 124). Anders als beim ambivalenten Gebrauch von Fortschritt in der Marxschen Polemik scheint mir diese Argumentation von den gegensätzlichen Verhältnissen, in die jeder ,historische Zentralbegriff' eingeschrieben ist, völlig abgehoben zu sein, und darum ist sie meines Erachtens nicht mehr nachvollziehbar. Keine Macht der Welt zwingt uns dazu, menschliches Leid mit positiven Kategorien zu belegen. Wir sagen zwar auch,
D I E ZEITGENÖSSISCHE FORTSCHRITTSKRITIK IST EIN TENDENZPESSIMISMUS
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eine Krankheit sei in ein fortgeschrittenes Stadium eingetreten, obwohl das offensichtlich nichts mit einer Verbesserung im Gesundheitszustands des Patienten zu tun hat. Beginnt dann der Heilungsprozess, sprechen wir wieder von einem Fortschritt. In der Alltagssprache wird der Unterschied zwischen Fortschritt und Rückschritt also nur allzu oft ausgelöscht, allerdings ohne dass damit ein Schaden angerichtet wird. Kritisch wird es erst, wenn sich die Ungenauigkeit der Alltagssprache in der theoretischen Sprache fortsetzt (Schmidt 1989, 1013).
5.
Die zeitgenössische Fortschrittskritik ist ein Tendenzpessimismus
Über den Fortschritt sprechen heißt heute leider nicht mehr über die geschichtliche Entwicklung des Guten zu sprechen, sondern über das Böse. Gesprochen wird über die Heilslehre, die das Individuum an die Geschichte ausliefert, über die Verwandlung der Idee in Herrschaft, über den Preis des Fortschritts. Gesprochen wird also über diejenigen Entwicklungen, die, motiviert von gutgemeinten Ideen und Plänen und von der Absicht das zu verbessern, was ungenügend ist, sich in ihr Gegenteil verkehren: in Zerstörung, Krieg, Elend und Katastrophen. Im Realisierungsprozess dieser vorausgesetzten Zwecke verkehrt sich - nicht zuletzt wegen einer mutmaßlichen chronischen Inkompetenz des Menschengeschlechts in Sachen Abwägung der Mittel - der Fortschritt gegen sich selbst und bestätigt somit die ihm innewohnende Ambivalenz. Es scheint eine Grundannahme der zeitgenössischen Fortschrittskritik zu sein, dass Fortschritt gänzlich unter den genannten Gesichtspunkten behandelt werden kann. Bisher hat man es weitgehend versäumt, diese Annahme einer ernsthaften Prüfung zu unterziehen. Währenddessen entfaltet die zeitgenössische Fortschrittskritik natürlich eine gewisse Wirkung und trägt zu einem bestimmten intellektuellen Klima bei.
a.
Historische Genese und Auswirkungen des Tendenzpessimismus
Unter dem Eindruck der andauernden Erinnerung an eine Auswahl historischer Gräueln und Katastrophen entsteht im vergangenen Jahrhundert eine tragisch-pessimistische Sichtweise, die die Menschen zunehmend als Opfer ihrer eigenen Pläne und Ideale sieht. Was früher nur von Konservativen vertreten wurde ist inzwischen fast schon zu einem Gemeinplatz geworden: Mit ihren Plänen zur Naturbeherrschung, zur wissenschaftlichen Durchdringung der Realität und zur sozialen Gleichheit im Dienste der allgemeinen Bedürfnisbefriedigung destabilisiert die Menschheit die ihr gegebene Ordnung und richtet sich selbst zugrunde. Gerade wenn es um das 20. Jahrhundert geht, kommt darum heutzutage um Schlagwörter wie ,das Zeitalter der Extreme' und ,das Zeitalter der Katastrophe' niemand
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HEILSLEHRENVORWURF UND AMBIVALENZTHEORIE
mehr herum. 1 5 D i e s e Sicht auf das vergangene Jahrhundert ergibt sich zum einen daraus, dass wir sozusagen , ν ο η dort' kommen; außerdem haben viele Menschen offenbar das Bedürfnis, ihre Person in die Nähe von aufregenden und bedeutungsschweren Ereignissen zu stellen, die sich während ihrer Lebenszeit abspielen. Man spricht in diesem Fall von einem epochalen Bewusstsein.16 D i e Qualität dieser Ereignisse scheint dabei von untergeordneter Bedeutung zu sein - sie können besonders positiv oder besonders negativ gewesen sein. Was allein zählt, ist an der Schwelle zu einer bedeutsamen Epoche gestanden zu haben oder sogar in ihre wie auch immer gearteten Höhepunkte oder Tiefpunkte verwickelt gewesen zu sein. Daher tritt das epochale Bewusstsein nicht allein als Fortschrittsglaube auf, sondern aus der Erfahrung des Niedergangs heraus auch als Fortschrittskritik. D i e Rede von 1856 bezeugt, dass auch Marx Zeit seines Lebens unter d e m Eindruck des epochalen Bewusstseins steht. In dieser Rede kommt gleichzeitig zum Ausdruck, dass das 19. Jahrhundert von seinen Zeitgenossen bereits als Standort außerordentlich .extremer' und .katastrophaler' Umbrüche wahrgenommen wurde. Heutzutage tritt das epochale Bewusstsein wie wir gesehen haben allerdings mit Vorliebe in Form der Vorstellung auf, eine besondere Bedrohung ergebe sich aus der Verkehrung bestimmter 15
16
Dieses etwas einseitig anmutende Bild wird von namhaften Persönlichkeiten immer wieder von neuem bestätigt: Für Isaiah Berlin ist das 20. Jahrhundert „the most terrible century in Western history"; für René Dumont ist es „the century of massacres and wars"; für William Golding spricht von „the most violent century in human history". Diese vermeintlich dauerhafteste aller Katastrophen, dieses Jahrhundert der Extreme', habe, so Yehudi Menuhin, zuerst „the greatest hopes ever conceived by humanity" erweckt, um diese dann als bloße Illusionen und Ideale zu zerstören („destroyed all illusions and ideals") (zit. n. Hobsbawm 1994, lf.). Objektiv betrachtet war vermutlich das 14. Jahrhundert der für den europäischen Raum, für die arabische Welt und weite Teile Asiens .extremste' und .katastrophalste' Zeitraum. In den Jahren 1348 und 1349 tötet der sogenannte Schwarze Tod, nach der Einschätzung der Historikerin Barbara Tuchman „the most lethal disaster in recorded history", im Alleingang „an estimated one third of the population living between India and Iceland" (1979, xiii). Für die die damals lebenden Menschen war das 14. Jahrhundert eine Zeit, „of Satan triumphant" (ebd.), „when death was to be met any day around any corner" (ebd., 506). Im Blick auf die Gegenwart schreibt Tuchmann: „If our last decade or two of collapsing assumptions has been a period of unusual discomfort, it is reassuring to know that the human species has lived through worse before." (Ebd., xiii) Nach Herlihy geht die Bevölkerung Europas von Anfang des 14. bis Anfang des 15. Jahrhunderts um ungefähr zwei Drittel zurück. Er stellt sogar die These auf, die Pest sei langfristig ein Wegbereiter eines technologischen Fortschritts gewesen, weil die Überlebenden aufgrund des kolossalen Bevölkerungseinbruchs so schnell wie möglich neue arbeitskraftsparende Geräte und Produktionsweisen erfinden mussten (1998, 7, 55ff.). Jaspers schreibt dazu: „Seit der französischen Revolution lebt in der Tat ein spezifisch neues Bewußtsein der epochalen Bedeutung der Zeit. Es hat sich im 19. Jahrhundert gespalten: dem Glauben an den Anbruch einer großartigen Zukunft steht das Grauen vor dem Abgrund, aus dem keine Rettung mehr ist, entgegen." (1999, lOf.) Was Jaspers aus der Sicht des 20. Jahrhunderts über das 19. Jahrhundert sagt, gilt auch für den Blick zurück von unserem gegenwärtigen Standpunkt: „die Stimmung der Gefahr geht durch das letzte Jahrhundert: der Mensch fühlt sich bedroht." (Ebd., 15)
D I E ZEITGENÖSSISCHE FORTSCHRITTSKRITIK IST EIN TENDENZPESSIMISMUS
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Heilsvorstellungen in ihr unheilvolles Gegenteil. Diese Vorstellung ist zu einer der beherrschenden Denkfiguren herangewachsen, die scheinbar keiner Rechtfertigung mehr bedarf. Immer wieder werden die wohlbekannten realen Schrecken eines sich selbst als ausgesprochen zivilisiert und rational wähnenden Zeitalters beschworen. Sie sollen das Argument untermauern, es seien ausgerechnet die Hoffnungen und Ideale der Menschen und ihre Versuche, diese konkret umzusetzen, die in letzter Instanz zum Bösen führten. Dieser Gedanke scheint sich nicht nur immer wieder von neuem zu bestätigen, worin er einem Glaubenssatz ähnelt; er ermöglicht es der gegenwärtigen Diskussion außerdem, den Fortschrittsbegriff einseitig nur im Blick auf seine moralische Dimension zu untersuchen. In Heilslehrenvorwurf und Ambivalenztheorie hat sich dieser, von teleologischen Voraussetzungen geprägter Diskurs schlagkräftige theoretische Werkzeuge zurecht gelegt. Der Weg ist frei für die Ontologisierung des Bösen, von dem nun behauptet wird, es manifestiere sich in den Konsequenzen der Technikentwicklung, der Erkenntnissuche und der politischen Subjektivität - also ausgerechnet jene Aspekte, auf die sich der aufgeklärte Optimismus immer berufen hat. Dagegen heißt es jetzt, der technische Fortschritt habe die Atombombe verschuldet (so wie er überhaupt in die Umweltkatastrophe führen muss); die wissenschaftliche Erkenntnis allein könne die Realität nicht erklären und unterdrücke außerdem die natürliche Spiritualität der Menschen; Lehrgebäude mit einem progressiven Inhalt (zum Beispiel der Marxismus) scheiterten mit ihren unerfüllbaren Forderungen nach sozialer Gleichheit unweigerlich am ,krummen Holz' Mensch (Kant), der nun mal als selbstsüchtiges Individuum seinen Neigungen folge, usw. usf. So kleinlich sich das alles anhören mag - es sind dies die in der hier besprochenen Literatur für jedermann einsehbaren Eckpfeiler der zeitgenössischen Fortschrittsdebatte. Lyotard trifft darum den Nagel des Zeitgeistes auf den Kopf, wenn er gegen den Erklärungsanspruch der ,großen Erzählungen' bzw. gegen die in ihnen ausgerufene Aufklärung und Emanzipation mobil macht. In der Tat sind vor allem diejenigen Richtungen des optimistischen Denkens zur Zielscheibe der Fortschrittskritik geworden, die auf die positive Wirkung von Erkenntnis bauen (also die verschiedenen Formen dessen, was man verallgemeinernd das wissenschaftliche Weltbild nennen könnte), oder die sich um eine rationale Erklärung der Geschichtsentwicklung bemühen, um sie nach dem Potential der praktischen Emanzipation zu befragen (zum Beispiel die Marxsche Theorie). Die wissenschaftliche Weltanschauung wird als besonders engstirniges Insistieren auf die - in der Erfahrung oder in Tatsachen begründete - Objektivität angesehen. Der ,Szientismus', der letztlich daraus hervorgehe, spare zu viele menschliche Bereiche (den seelischen, den gefühlsmäßigen) aus. Der rationalen Geschichtsbetrachtung macht man den gegensätzlichen Utopievorwurf: Sie schweife zu sehr von dem empirisch Gegebenen ab und erträume sich eine bessere Welt. Nun hatten freilich einzelne Marxismen durchaus den Zug, ausgerechnet Szientismus und Utopie in sich zu vereinen. Die Angriffe gegen die Fortschrittsidee richteten sich also seit jeher mit Vorliebe gegen den Marxismus. Im 20. Jahrhundert ist darum die .Krise' der Fortschrittsidee immer auch
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HEILSLEHRENVORWURF UND AMBIVALENZTHEORIE
die ,Krise des Marxismus'. 17 Und auf diesem Weg musste zwangsläufig auch die Theorie von Karl Marx unter die Räder geraten. Dieser Stimmungslage liegt die besondere und keineswegs selbstverständliche Auffassung von Subjektivität zugrunde, die voraussetzt, dass es ohne ein Subjekt, das der Zeit seine Zwecke aufzwingt und der Geschichte somit einen Sinn gibt, keinen Fortschritt geben kann. Mit diesem Axiom bewegt sich die Fortschrittskritik freilich auf philosophiegeschichtlich ziemlich breit ausgetretenem teleologischem Terrain. Denn damit tritt grundsätzlich das Absichtsvolle, Planende in den Vordergrund. Weniger betont wird, dass Fortschritt immer auch aus der Wechselwirkung zwischen subjektiver Tätigkeit und objektiver Natur heraus zu erklären ist (wenngleich in diesem Verhältnis bisweilen von kaum mehr gesprochen werden kann als von einem Ausgeliefertsein an die herrschenden Bedingungen.) Das Subjekt des Fortschritts soll aber ein einbildendes, imaginierendes sein. Fortschritt wird primär als ein Wollen verstanden, als ideale Zwecksetzung, und erst in zweiter Instanz auch als eine Form von Praxis. Den Weltfrieden, die Säkularisierung, die Erkenntnis, eine gerechtere und freiheitlichere Sozialordnung - all das haben die Menschen sich in mente vorgenommen. Meiner Meinung nach sagt diese weit verbreitete Vorstellung von historischer Subjektivität recht wenig darüber aus, was das Verhältnis von Fortschritt und Subjektivität eigentlich ausmacht. Vor allen Dingen drückt sich darin, wie gesagt, der zunehmende Einfluss eines pessimistischen Trends im Nachdenken über unserer Zeit aus. Eine große Zahl von Intellektuellen und Wissenschaftlern sieht in den Menschen in erster Linie leidende Opfer ihres eigenen Pläne-Schmiedens. Wie selbstverständlich bildet diese Stimmungslage den Hintergrund, vor dem die Diskussion der modernen Fortschrittsidee stattzufinden hat. Nicholas Rescher ist einer von wenigen, die das erkannt haben. Er spricht von einem wachsenden tendency pessimism (dem krassen Gegensatz zum tendency optimism, der im ersten Kapitel erwähnt wurde): „A tendency pessimism that sometimes approaches catastrophism seems to be the dominant thought-style of the recent era." (1997, 114) Die griechische Mythologie kannte die Erzählung vom Goldenen Zeitalter während der Kindheit des Menschengeschlechts. Auf dieses Zeitalter folgen nacheinander und mit absteigender Qualität ein silbernes, ein bronzenes und schließlich ein eisernes Zeitalter. Gekennzeichnet ist dieser Niedergang durch zunehmenden Mangel, sittlichen Verfall, Zwist und Krieg. Die Erzähler dieser Geschichte ordneten sich - wie typischerweise Hesiod in Werke und Tage - dem schlechtesten, eisernen Zeitalter zu. Manche Tendenzpessimisten scheinen diesem Geschichtsbild neues Leben einhauchen 17
Die ,Krise des Marxismus' ist so alt wie der Marxismus selbst. Der Begriff wurde wahrscheinlich vor gut 100 Jahren vom tschechischen Philosophen und Staatsmann T. G. Masaryk geprägt. Als einer der ersten ermittelt dann Lyotard ein genaues Datum des endgültigen Ablebens des Marxismus. Seiner Meinung nach ist der Marxismus 1956 in den Abgrund des ungarischen Aufstands verschwunden. Dieser Aufstand belege die Ungültigkeit der angeblichen „presupposition of that genre": „namely that all that is proletarian is communist, and that all that is communist is proletarian." (1989, 393)
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zu wollen. Sie schreiben in der Absicht über die Idee des Fortschritts, die schlechteste aller möglichen Welten herauf zu beschwören. Zum Beispiel Georges Labica, der „das Denken der Ruinen" (1999, 213) fordert und mit Anklagen gegen Technik, Wissenschaft und Politik einem erprobten Muster folgt und. Von seinen insgesamt fünf Thesen zum Fortschritt besagt die erste: „1. Ein veralteter Begriff. Es kann kein Zweifel bestehen, dass der Begriff des Fortschritts ... mit Obsoletheit geschlagen ist. Der Grund hierfür ergibt sich aus drei Faktoren. Der erste ist mit der ökonomistischen Auffassung des Marxismus verbunden, die der Entwicklung der Produktivkräfte die bestimmende Rolle in der Entwicklung zu einer klassenlosen, dem Kapitalismus überlegenen Gesellschaft zusprach. Der zweite zwingt einen, ... die Wissenschaft unter Anklage zu stellen, insofern ihre leuchtenden Fortschritte Träger von Zerstörungen sind: in einer Intensivbewirtschaftung des Bodens, welche die Umwelt plündert, in der Nukleartechnik, chemischen Waffen und anderem. Von der Eugenik, die direkt von der Genetik kommt ... hat nicht allein die Naziideologie gezehrt, sondern sie hat auch dem demokratischen Schweden erlaubt, zwischen 1934 und 1976 etwa 60 000 Sterilisierungen an Menschen vorzunehmen, die als geistesschwach beurteilt werden. Der letzte Faktor schließlich verlangt, ein höchst dramatisches Paradox festzustellen: Die Moderne, seit der Aufklärung als Befreiung erwartet und angekündigt, hat sich in Massakern ohne Beispiel ausgeprägt, die das 20. Jahrhundert zu dem des Massensterbens und der planetarischen Barbarei machten. Die ungeteilte und konkurrenzlose Herrschaft ... des Neoliberalismus, der nichts anderes ist als ein Imperialismus des Macworld und des , einzigen und einheitlichen Denkens' ... verstärkt diese Tendenz noch." (ebd., 212) Alle üblichen Verdächtigen sind hier versammelt: die von der Wissenschaft verschuldete Umweltzerstörung, Chemiewaffen und die Nukleartechnologie, die Eugenik, der Imperialismus, der Neoliberalismus, Massensterben usw. Kurzum: Barbarei im planetarischen Ausmaß - etwas Besseres hat Fortschritt nicht hervorgebracht. Laut Salvadori hat er sogar eine nationalsozialistische Variante ausgebildet, die der „Sehnsucht nach Erlösung" entspricht, indem sie den „Aufbruch in ein ... schwarzes neues Zeitalter" verspricht (2008, 68, 89f.). Selbstverständlich hat der Tendenzpessimismus geistig-historische Wurzeln, aus denen sich durchaus auch eine gewisse Berechtigung ergibt. So werden schon in Folge des Ersten Weltkriegs weite Teile des Bürgertums vom Geschichtspessimismus ergriffen. Man sagt sich von der auf die Aufklärung zurückgehenden Befürwortung eines ungezügelten Fortschritts los.18 Allmählich setzt sich die Überzeugung durch, dass Menschen eben auch aus vernunftmäßig unbegründbaren Motiven handeln. Die Erfahrung erbar18
Einen literarischen Ausdruck findet diese Ernüchterung bei Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften in der ironischen Darstellung des naiven Bankdirektors Leo Fischel. Dieser glaubt „wie es alle Bankdirektoren vor dem Kriege taten, an den Fortschritt." Allerdings glaubt er „an ei-
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mungsloser Tyrannei und eines weiteren Weltkriegs bestätigen diese Vermutung. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nimmt der Tendenzpessimismus dann vor allem die Form einer gegen den Raubbau an der Natur gerichteten Skepsis gegenüber den wissenschaftlichen und technischen Mitteln des Fortschritts an. Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks wird er durch das Fortbestehen einer ganzen Reihe sozialer und ökonomischer Probleme getragen, die jetzt scheinbar unlösbar und damit zu feststehenden Zeichen des Bösen geworden sind. Durch das Verkehrungsschema der Ambivalenztheorie erhält sich die tendenzpessimistische Fortschrittskritik dieses Böse als ein wesentliches Merkmal der Verfassung des Menschengeschlechts, auf das jetzt umso bereitwilliger zurückgegriffen wird, als ja von ihm angenommen wird, es gehe im Fortschritt mit dem Guten zusammen. Schließlich gibt es eine Verbindung zwischen der Löwithschen Formel und der Ambivalenztheorie von der Art, dass sich die Säkularisierungsthese auf das Schema der Verkehrung der Idee in ihr Gegenteil anwenden lässt. Wir haben es gewissermaßen mit dem Schema einer negativen Inkarnation zu tun. Zur Illustration genügt ein knapper Rückgriff auf den Ereignischarakter des Christentums, wie er im Prolog des Johannesevangeliums prägnant zum Ausdruck kommt: „Im Urbeginn war das Wort". Diese Aussage über das göttliche Schöpfungswort weist bis auf den Logos der griechischen Philosophie zurück, um die ganze spirituelle Fülle einzufangen, aus der heraus der Christus wirkt. Alles hat Logos-Struktur, da alles Existierende durch dieses Wort geschaffen wurde. Damit ist vor allen Dingen die Leibhaftigkeit der Menschwerdung des göttlichen Logos in der Gestalt Jesu Christi gemeint - seine Inkarnation (,Fleischwerdung'). Das Verkehrungsschema könnte als Erweiterung dieses theologischen Theorems zum Gedanken der negativen Inkarnation gelesen werden. Wenn die Ambivalenztheorie von der Verkehrung der Idee spricht, dann wird deutlich, dass sie Fortschritt als den Prozess der Inkarnation von ausgedachten Idealzuständen versteht; aber eben .kritisch', als die Verkehrung und Übersetzung dieser Ideale in das Gegenteil dessen, was beabsichtigt war. In der Rede vom Preis des Fortschritts wird auf dem Weg über die Kritik der Mittel des Fortschritts das Böse jetzt in radikaler Übersteigerung der althergebrachten, scholastischen Manier - das Böse als Abfallen vom Guten, wie beispielsweise in Augustinus Gottesstaat - als andauernde Begleiterscheinung des Guten verstanden. In diesem Tendenzpessimismus finden sich folgende Elemente zusammen: Die Verkürzung des Fortschrittsgedankens auf die Verkündung und Lehre unrealistischer (.utopischer') und schlimmstenfalls unterdrückerischer (.ideologischer') Heilsvorstellungen ist eine Verkürzung der gesamten Problematik auf die Projektion von Idealvorstellungen, auf den Akt der Zwecksetzung, dem man mit vernunftkritischen Mitteln gerecht zu werden glaubt. Dahinter versteckt sich also nichts anderes als die Behandlung des Fortschritts unter axiologischen Gesichtspunkten. Fortschritt wird auf seinen Inhalt reduziert - auf das Was und das Wozu des Fortschritts (Welche Werte werden gesetzt?) also letztlich auf das telos der Entwicklung. Die formale Seite, das Wie des Fortschritts nen Fortschritt des Ganzen, der irgendwie dem Bild der fortschreitenden Rentabilität seiner Bank ähneln musste". (1990, 135)
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(Welche Bewegungsform hat Fortschritt?), bleibt außen vor und die Analyse des Begriffs bleibt unvollständig. Warum wird dennoch weiterhin von Fortschritt gesprochen? Weil wer etwa vom Preis des Fortschritts spricht ja nicht grundsätzlich bestreitet, dass dieser möglich ist. Zunehmend angezweifelt wird allerdings, dass die gesellschaftliche Entwicklung eine, wie Marx formuliert, .Sprengung' von größeren Zusammenhängen beinhalten könnte: „Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Koncentration der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt." (Kapital, MEGA II/6, 682/MEW 23, 791) Heutzutage wird nicht nur bestritten, dass eine solche Sprengung möglich ist, sondern auch, dass sie überhaupt wünschenswert ist. Wenn es nämlich wahr ist, dass jeder Fortschritt nur um den Preis großer Opfern zu haben ist, dann lehrt uns das: ,Nimm dir bloß nicht so viel vor. Du weißt doch, wohin das führt!' Natürlich besteht hier die Gefahr, dass sich die Fortschrittskritik in den Legitimationsdiskurs der Gesellschaft verstrickt. Eine sinnvolle Neubestimmung des Fortschritts gelingt der zeitgenössischen Kritik bestenfalls zum Schein. Statt dessen ist eine allmähliche Bedeutungsverschiebung im Universalbegriff Fortschritt selbst zu beobachten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts stellt sich dieser Begriff so dar: Fortschritt wird zunehmend als fortlaufende Befestigung und Vermehrung des bereits Bestehenden verstanden. Diskursen, die genuin Neues zum Inhalt haben, wird mit dem Verkehrungsschema und der Preisfrage entgegengewirkt. Ein Rückgang der Fortschrittsgläubigkeit oder eine allgemeine Krise der Fortschrittsidee ist deshalb nicht festzustellen. Die Möglichkeit fortschrittlicher Veränderung wird weiterhin anerkannt, solange damit keine prinzipielle Erneuerung verbunden ist. Wir erleben also gegenwärtig, wie sich die Fortschrittsidee von der Idee des Neuen verabschiedet und konservativ wird. Fortschritt ist heute nur noch selten wirklich progressiv. Gleichzeitig muss selbst die post-progressive Fortschrittsgläubigkeit dem anhaltenden technischen und dem weniger sichtbaren wissenschaftlichen Fortschritt irgendwie gerecht werden. Das ist ein wesentlicher Grund, warum heute noch vom Fortschritt gesprochen wird, wenngleich seine ursprüngliche Bedeutung als prinzipielle Erneuerung und Verbesserung zunehmend angezweifelt wird.
b.
Tendenzpessimistisches Naturverständnis versus Marxsches Fortschrittsverständnis
Der Umstand, dass Weltumgestaltungsprojekte nach vermeintlich fortschrittlichen Zielsetzungen tatsächlich wiederholt zu großem Unheil geführt haben, verursacht den Einzug eines tiefen Skeptizismus in die philosophische Betrachtung des Sinnes von Geschichte und des Waltens der Subjekte, welches diesen Sinn letztlich stiftet. Hier schwingt immer auch die Annahme mit, die Verwirklichung der Zwecke führe deshalb in die Katastrophe, weil die Menschen auf der Suche nach Mitteln zur Realisierung ihrer Vorsätze in fundamentale Strukturen der Natur eingreifen. In der Rationalismus-
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kritik der Kritischen Theoretiker findet diese Befürchtung wie wir gesehen haben schon frühzeitig einen programmatischen Ausdruck. Sie betreiben Philosophie als eine Art Lamentation: Die Menschen wollen sich nicht bescheiden - sie wollen die technische und verstandesmäßige .Herrschaft' über die äußere Natur und über ihre eigene Natur, und diesen ihren Willen stellen sie als Fortschritt dar. Nach dieser Ansicht kommt im Fortschritt also vor allen Dingen eine Maßlosigkeit zum Ausdruck. Dieser besondere Ansatz ist seinerseits vor dem Hintergrund der Hinwendung der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft zu den konkreten Lebensumständen der Menschen zu sehen. Vermittels seiner Kritik der ökonomischen Vernunft ist Karl Marx eine zentrale Figur in dieser langen Geschichte der Verweltlichung des Denkens. Besonders deutlich wird das an seinem Arbeitsbegriff, zum Beispiel an der Zurückweisung der , Trini tarischen Formel'. Marx nimmt Anstoß an der nationalökonomischen Prämisse, dass die drei sozialen Klassen ihr Einkommen aus unterschiedlichen Quellen beziehen: Der Arbeiter bezieht seinen Lohn aus der Arbeit, der Kapitalist seinen Profit aus dem Kapital, der Grundeigentümer seine Rente aus dem Boden. Marx wendet sich gegen eine solche Trennung. Er versucht nachzuweisen, dass die menschliche Arbeit die Quelle aller drei Einkommen ist, dass es folglich die Arbeiter sind, die den gesellschaftlichen Reichtum produzieren, der dementsprechend umverteilt werden könnte, wenn auf andere Weise produziert werden würde. Die Verweltlichung des Denkens mündet schließlich in das, was man ganz allgemein und zunächst ohne jegliche Wertung als unser jetziges anthropozentrisches Weltbild bezeichnen könnte. Epochenbegriffe wie ,Moderne', ,Aufklärung' und Säkularisierung', sowie die Aufspaltung der Wissenschaft in Sozial- und Naturwissenschaft neben der Philosophie (als ,Geisteswissenschaft') bezeugen diese Wende. In diesem Weltbild enthalten war gewiss immer auch die optimistische Illusion von der totalen Machbarkeit der Welt, die sich in den verschiedenen Fortschrittsbegriffen niedergeschlagen hat. Mittlerweile hat sich dieses optimistische Weltbild jedoch unter dem Eindruck der geschichtlichen Ereignisse in ein zunehmend pessimistisches verwandelt, das in der Vorstellung einer allumfassenden Bedrohung gründet. Diese Vorstellung befasst sich mit den schwerwiegenden Folgen, die sich aus der Illusion der Machbarkeit der Welt ergeben. Im Zentrum der gegenwärtigen Fortschrittsdiskussion steht darum die Selbstproduktion von Opfern: „Im Mittelpunkt stehen die Begriffe Opfer und Entsagung" (Horkheimer und Adorno 1997, 6). Insofern diese Paradigmenverschiebung vom Optimismus hin zu einer tendenzpessimistischen Weltsicht stattgefunden hat und noch stattfindet, führt er natürlich zu denkbar schlechten Bedingungen für den Fortschrittsbegriff, der ja auf einem entgegengesetzten, optimistischen Fundament steht. Der Tendenzpessimismus geht insbesondere davon aus, eine existenzielle Bedrohung entstünde den Menschen aus den von ihnen selbst geschaffenen Dingen. Die Kulturund Technikkritik des 20. Jahrhunderts beklagt die zunehmende Ablösung der Mittel von der Zweckbindung im Maschinenzeitalter. Die technischen Mittel erschließen den Menschen die Welt nicht mehr, sondern sie geraten im Gegenzug in Abhängigkeit von ihnen. Was wirklich entstehe sei nicht die menschliche Autonomie durch Technik, sondern die zunehmende Verselbständigung der Technik. Für Georg Simmel und andere
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liegt die „Tragödie der Kultur" ( 1 9 9 8 , 195FF.) dann darin, dass die Menschen unter die Räder eines technisch-maschinellen Systems geraten, das ihren Bezug zur Natur zerstört (ausführlicher Hubig 2 0 0 0 , 173FF.)- Anders als Johannes Rohbeck glaube ich jedoch nicht, dass mit dieser Vorstellung die Illusion der totalen Machbarkeit und also der moderne Mythos des homo faber zerstört ist ( 1 9 9 3 , lOff.). Was im Fundament der Zivilisationskritik stattfindet, ist nicht die Zerstörung dieser Illusion und dieses Mythos, sondern eine Veränderung der Einstellung dazu. Der ursprüngliche, aufgeklärte Anthropozentrismus bejahte die Machbarkeit aus der Erfahrung des Ausgeliefertseins der Menschen an ihre natürliche Umwelt und dem Elend, das daraus entsteht, und wurde somit zur Grundlage auch des modernen FortschrittsbegrifFs. Die Bedingungen für eine solche Bejahung sind für viele Menschen nun nicht mehr gegeben, und unsere Zeit ist statt dessen von einer durch und durch negativen Sichtweise auf die Machbarkeit schlechthin eingenommen. Ein Beispiel: Wenn Volker Gerhardt Marx vorwirft, er habe den „Anspruch eines monolithischen Realismus", der „auf nichts anderes gegründet ist als auf die Utopie vollständiger Machbarkeit der Verhältnisse" ( 2 0 0 1 , 3 7 2 ) , dann ist darin nicht nur ein berechtigter Angriff auf die anthropozentrische Vermessenheit eines solchen Anspruchs enthalten (sollte er tatsächlich erhoben werden), sondern dann muss diesem Angriff auch die gleichermaßen anthropozentrische Furcht abgelesen werden, die sich aus dem Glauben nährt, Menschen seien tatsächlich so mächtig, dass die vollständige Machbarkeit der Verhältnisse im Rahmen ihrer Möglichkeiten liegt. Die Illusion der vollständigen Machbarkeit hat sich also nicht aufgelöst, aber die Einstellung ihr gegenüber hat sich grundsätzlich verändert. In einer Schrift wie der Dialektik der Aufklärung findet diese Veränderung ihren Ausdruck deshalb in der Infragestellung von Aufklärung selbst. Die Kritik richtet sich gegen vormalige Fortschrittsinhalte, allen voran der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Philosophien, die diesen Anspruch verteidigen, wird eine wissenschaftsgläubige (szientistische) Herangehensweise unterstellt; so sollen sie für den Instrumentalismus mitverantwortlich gemacht werden. Im bürgerlichen Zeitalter sei „nicht bloß der Betrieb, sondern der Sinn von Wissenschaft fraglich geworden". (Horkheimer und Adorno 1 9 9 7 , 1)
Auf praktischer Ebene konzentriert sich der Tendenzpessimismus allgemein in dem Vorwurf, das Streben nach Herrschaft und Dominanz wiederhole sich in Form von Sozialutopien, die auf unberechenbare und zum Teil menschenverachtende Denkweisen zurückgehen. An dieser Stelle kommt also der Heilslehrenvorwurf ins Spiel, der natürlich gegebenenfalls als vermischte Kritik des praktischen Utopismus und des theoretischen Szientismus auftritt. Wenn es gegen Marx geht, muss er sogar in dieser Form auftreten, um die schwärmerische Vision von einer .besseren Welt' auf einen überkommenen Szientismus gründen zu können: Szientismus und Sozialutopie bilden die Grundlage des Marxschen Glaubens an die vollständige Machbarkeit der Verhältnisse. Dieser angebliche Anspruch der Marxschen Theorie wird von Löwith als Unterbewertung der Natur begriffen. Hegels Phänomenologie des Geistes entnehme Marx die Einsicht, dass der Mensch durch seine alles verwandelnde Tätigkeit seine Umwelt und damit sich selbst hervorbringt.
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„Woher aber der Mensch - sei es als subjektiv tätiger Geist, oder als leibhaft produzierender Mensch - überhaupt die Hervorbringungskraft hat, die ihn befähigt, die Welt zu der seinen zu machen, indem er die Natur durch Bearbeitung kultiviert und zu seinen Zwecken erfinderisch umschafft, das haben weder Marx noch Hegel zu erklären vermocht. Sie vindizieren dem tätigen Geist, bzw. dem produzierenden Menschen, was ursprünglich nur der Natur als natura naturans zugehört." (Löwith 1966, 197f.) Der Vorwurf, die Marxsche Theorie unterwerfe die Natur der produktiven Subjektivität, ist ein Grundzug der Überlegungen Löwiths, der darin seine These von der Auslieferung des Menschen an die Geschichte erneut bestätigt sieht. Das Marxsche Denken sei nicht nur geschichtlich orientiert, sondern es sei ein historisches Bewusstsein von allem - ein Historismus im eigentlichen Sinne. Dieser unterwerfe alles, was ihm unterkommt, der Kategorie ,Geschichte' und löse es somit in einer Vorstellung von universaler Veränderlichkeit auf, die das natürliche Unveränderliche nicht mehr reflektieren könne. Wie dies schon für Hegels tätigen Geist der Fall gewesen sei, stehe jetzt der arbeitenden Mensch „im Gegensatz zur Natur" (ebd., 197). In Wirklichkeit ist Löwiths Naturverständnis - die Natur in ihrer Unmittelbarkeit, der ursprüngliche Gegenstand der Metaphysik als Wissenschaft von der physis, der natura genetrix - gar nicht so grundverschieden von Marx' Naturverständnis. Löwith schreibt: „Die Welt der Natur ist nicht unsere Welt, d.h. bloße Umgebung und Umwelt, die durch den Menschen vermittelt sind. Sie ist und bleibt der Grund ihrer selbst, causa sui, alles begründend und nichts bezweckend ... Mit Rücksicht auf uns Menschen ist sie übermenschlich und nicht bloß un- und außermenschlich." (Ebd., 196) Marx liefere nun diese Charakteristika von Natur an die Geschichte aus: „Das einheitliche Ganze der Lehre von Marx, der Rahmen, der alles zusammenhält, ist eine bestimmte Idee von Geschichte und der Glaube an sie. Marx denkt so wenig wie Hegel im Umkreis der Welt der Natur, sondern im Horizont der Weltgeschichte und eines geschichtlich verändernden Menschenwesens." (Ebd., 190) Marx „schaltet auch die Geschichte der Natur ausdrücklich aus. Die Natur ist für ihn nur das .andere Selbst' und eine untergeordnete Vorbedingung menschengeschichtlicher Tätigkeit". (Ebd., 191). In diesem Punkt irrt Löwith. Das ,Menschenwesen' ist für Marx kein rein geschichtliches, der Natur außen vorstehendes, sondern immer auch ein natürliches. Gerade weil die Natur eine solche , Vorbedingung' von Tätigkeit (Arbeit) ist, denkt Marx Geschichte eben nicht ,im Gegensatz zur Natur'. Wie kann von Etwas, von dem gesagt wird es habe den Status der Existenzbedingung eines Anderen, behauptet werden, es sei im Blick auf dieses Andere außer Acht gelassen worden? Die Natur ist in gewisser Weise auch bei Marx etwas, wie Löwith formuliert, Übermenschliches. Als „zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten" ist der Arbeitsprozess für Marx gerade deshalb eine „ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens" (Kapital, MEGA 11/10, 167/MEW 23, 198), weil die Arbeit selbst immer von natürlichen Bedingungen abhängt. Marx sagt ausdrücklich, dass die Arbeit unabhängig von der Gesellschaftsform, und das heißt unabhängig vom geschichtlichen Wandel, an Naturbedingungen gebunden bleibt.
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Sie ist weiterhin vermittelndes Moment im ,Stoffwechsel' zwischen Mensch und Natur. Er macht keinen Hehl daraus, dass die Natur nicht nur im Arbeitsprozess instrumenteil umgeformt wird, sondern dass sie selbst eine existentielle Bedingung des Lebens und der Arbeit ist. Er bestimmt Arbeit als eine „ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln". (Kapital, MEGA II/6, 76/MEW 23, 57) .Menschliches Leben' bestimmt sich als das Verhältnis von Mensch und Natur vermittels der Arbeit: „Die Arbeit ist zunächst ein Proceß zwischen Mensch und Natur, ein Proceß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne That vermittelt, regelt und kontroliert. Der Mensch tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber." (Ebd., 192/192) Im Unterschied zu dem sich in der abendländischen Kultur im Laufe von Jahrhunderten ausbreitenden Anthropozentrismus, setzt Marx die Menschen also nicht in einen ungleichen Gegensatz zur Natur. Von einer Unterordnung der Natur unter die menschliche Tätigkeit kann keine Rede sein. Schlimmstenfalls kann man Marx vorwerfen, er setze das Naturwesen Mensch mit der äußeren Natur auf eine Stufe. Der Mensch ist aber für Marx ganz und gar kein der Natur außen vorstehendes Wesen, das unabhängig von dieser oder gegen diese seine eigenen Zwecke verfolgen kann. Sicherlich stellt die Kritik der politischen Ökonomie nicht die Natur, sondern die menschliche Arbeit in den Mittelpunkt (sie ist ja keine Naturphilosophie). Dennoch beinhaltet sie zugleich auch eine Einschränkung der Machtstellung der Menschen im Hinblick auf das Potential der Naturbeherrschung als maßgebliches Merkmal der historischen Entwicklung. Gleichwohl ist es zwecklos, Marx für die Kritik an irgendeinem .modernen' oder ,instrumentellen' oder sonstwie fehlgeleiteten Konzept der Naturbeherrschung in Anspruch nehmen zu wollen. Denn in gewisser Weise ist die Naturbeherrschung für Marx natürlich eine ausgemachte Sache. Menschen sind für keine von der Natur grundsätzlich verschiedenen Wesen, sondern Naturwesen. Deshalb bedeutet die Naturbeherrschung für ihn nicht automatisch den Raubbau an der Natur, sondern - in Erweiterung des Baconschen Programms, die Willkür des Ausgeliefertseins der Menschen an die Naturbedingungen zu überwinden - gewissermaßen eine Art Arbeit der Natur an sich selbst im Dienste der Bedürfnisbefriedigung.19 Das setzt freilich voraus, dass diese Arbeit auch in der Zukunft fortgesetzt werden kann. Darum spricht Marx im Kapital von der Verantwortung der gegenwärtigen Menschheit, die „Erde [...] den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen". (MEGA 11/15, 752/MEW 25, 784) 19
An der Marxschen Theorie wird deutlich, dass das Konzept des ,Zuriickdrängens der Naturschranke' eigentlich ein Kategorienfehler ist, da es einen Ausgang aus dem Naturverhältnis impliziert, den es nicht geben kann. Für Marx ist ein auf nachhaltige Entwicklung abzielender Umgang mit dem, was wir Umwelt nennen genauso selbstverständlich wie die Tatsache, dass die Spezies Mensch ohne das Vermögen, ihre Umwelt zu kontrollieren und zumindest teilweise auch zu beherrschen, nicht überleben kann. Dieser Gedanke erinnert an Serge Moscovicis Standpunkt: Die sich in der Technik verdinglichende menschliche Tätigkeit ist nicht bloßes Mittel der Produktion. Vielmehr füge sich der Mensch in die Umwelt als einer ihrer Faktoren, als Agens, ein. Menschliche Tätigkeit produziere, da sie menschlich ist, aber auch in ihren technischen Mitteln „nichts Künstliches und keine Gegennatur" (Moscovici 1982, 43).
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6.
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Abschließende Bemerkungen
Der Tendenzpessimismus konzentriert sich auf das Verhältnis der Menschen zur Natur, weil den Menschen aus der Zerstörung ihrer natürlichen Lebensbedingungen die größtmögliche - nämlich eine existenzielle - Bedrohung entsteht, und das ist der Heraufbeschwörung eines doomsday scenarios am förderlichsten. Es gibt aber noch einen weiteren Grund: Arbeit an der Natur, Umbau der Natur, sogar Beherrschung der Natur und ihre sozialen Rahmenbedingungen, sind die gewichtigsten Mittel des Fortschritts. Viele Fortschrittsinhalte (zumal diejenigen, die auf einen höheren Lebensstandard abzielen) sind ohne diese Mittel nicht zu haben. Aber die zeitgenössische Fortschrittskritik ist eine Kritik der Mittel des Fortschritts und darum versucht sie, ihm aus dem Naturverhältnis einen Strick zu drehen. Marx hat leider keine gründliche Bestimmung seiner Vorstellung vom gesellschaftlichen Fortschritt im Verhältnis zum Zweck der Naturbeherrschung unternommen. Aus diesem Grund kann ihm, wie Löwiths Beispiel zeigt, sehr leicht ein doch eher traditionell und damit zugleich angepasst anmutender Fortschrittsbegriff unterstellt werden, wonach Fortschritt das Prinzip der Geschichtsentwicklung ist. Diese Auffassung von Entwicklung könne nicht zuletzt deshalb als Gang auf einen kommunistischen Heilszustand ausgelegt werden, weil sie ihrerseits auf der anthropozentrischen Annahme von der völligen Machbarkeit der Verhältnisse beruhe. In Wirklichkeit trifft diese Unterstellung aber nicht das, was Marx über den Zusammenhang von Fortschritt und Natur denkt, sondern das, was der zeitgenössische Tendenzpessimismus darüber zu wissen glaubt. In Wirklichkeit glaubt der Tendenzpessimismus selbst an die völlige Machbarkeit der Verhältnisse; sonst bräuchte er sich schließlich nicht durch sie bedroht fühlen. Man muss sogar argumentieren, dass Marx die Skepsis der Löwithschen Formel gegenüber universalgeschichtlichen Entwürfen, die derartige Illusionen beinhalten, prinzipiell teilt. Stets ist er darum bemüht, sich gegen die rein fortschrittsorientierte und in seinem Sinne .utopische' Geschichtsauffassungen abzusichern. So verwehrt er sich beispielsweise im Brief an die Redaktion der Otetschestwennyje Sapiski gegen die Auslegung seiner Theorie im Sinne eines globalen progressiven Aufstiegs durch eine Folge von Gesellschaftsformen (MEGA 1/25, 112ff.). Marx selbst erhebt den Heilslehrenvorwurf außerdem mehrfach recht deutlich, zum Beispiel gegen die Vertreter des „utopischen Sozialismus, der neue Hirngespinste dem Volk aufheften will, statt seine Wissenschaft auf die Erkenntnis der vom Volk selbst gemachten sozialen Bewegung zu beschränken; siehe meine Schrift gegen Proudhon". (Konspekt von Bakunins Buch Staatlichkeit und Anarchie', MEW 18, 636) Im folgenden Kapitel werde ich zeigen, dass Marx' Kritik an Proudhons spekulativen Fortschrittsentwurf in seinem ersten Buch, das Elend der Philosophie, als konzentrierter Beitrag zu einer nicht-teleologischen Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung jenseits aller Heilslehren verstanden werden muss. Der Heilslehrenvorwurf ist ein überaus nützliches Konzept, wenn er mit Bedacht eingesetzt wird. Die pessimistische Weltanschauung hat sich diese ursprünglich kritischen Konzepte angeeignet, um sie für ihre Zwecke zu verwenden. Und es handelt sich hier-
ABSCHLIESSENDE B E M E R K U N G E N
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bei durchaus um einen Missbrauch, insofern nachgewiesen werden soll, was empirisch nicht nachweisbar ist: dass es keine Verbesserungen gegeben hat, und dass wir vom Bösen im Mantel des Fortschritts heimgesucht werden. Darunter werden aber nun nicht mehr nur Katastrophen, Kriege, Tyrannei und Umweltzerstörung verstanden, sondern auch Technik, Wissenschaft und Politik als Ursachen dieser Fehlentwicklungen. Nach Marxschem Verständnis können die Entwicklung der Technik und der Wissenschaft (als wesentliche Elemente des Produktivkraftwachstums) sowie die Politik (Veränderungen im Ausbeutungsverhältnis der Arbeit) trotzdem Vorbedingungen für die Verbesserung der sozialen Verhältnisse und des Verhältnisses der Menschen zur Natur sein. Ganz zum Schluss dieser Arbeit werden diese Bereiche deshalb als Kriterien des originellen Marxschen Fortschrittsbegriffs besprochen. Was nun die Ambivalenztheorie anbelangt, so treten ihre zentralen Denkfiguren (die Verkehrung der Idee und die Preisfrage) freilich deshalb als theoretische Probleme auf, weil sie mit einer Vorstellung von Fortschritt in Verbindung gebracht werden, die auf Zusammenhänge von gewaltigem Umfang passen soll - etwa auf das katastrophale soundsovielte Jahrhundert, auf die Geschichte, oder die Menschheit. Angeschlossen daran ist immer die Figur des Extrems, die extreme Denkposition, die sich in Folge dieser überzogenen Erwartung eines universalen Fortschritts in völlig unrealistischen materiellen oder politischen Utopien ausdrückt. Diese Vorstellungen lassen sich wiederum nur unter Anwendung von extremer Gewalt gegen Mensch und Natur durchsetzen. Die zeitgenössische Literatur betrachtet Fortschritt mehrheitlich in diesem negativen Sinne als eine bedrohliche extreme und letztlich irrationale Entwicklungsform. Ich werde dem entgegenwirken, indem ich zeige, dass auch Marx den Fortschritt als ein extremes Phänomen denkt, wenngleich in einem anderen Sinne: Ohne die Gegensätzlichkeit von Entwicklung aufzuheben, interessiert er sich für die Kategorie Fortschritt aber nicht allein in ihrer Selbstbezüglichkeit, sondern er stellt sie in ein Verhältnis zur Kategorie des Rückschritts und zur Kategorie der Geschichte, so dass von einem wirklichen Fortschrittsverhältnis gesprochen werden kann, ja sogar von einem Fortschritt-Rückschritt Modell, aus dem heraus sowohl die Erkenntnisleistung des Begriffs Fortschritt als auch die Rationalität der realen Fortschrittsentwicklungen verständlich wird. Dazu bedarf es jedoch einer genauen Untersuchung der formalen Dimension des Fortschrittsbegriffs. Genau darin liegt die Bedeutung der Gegensatzproblematik, die im vierten Kapitel thematisiert wird. Ein ganz wesentlicher Grund dafür, warum auch die neuere ambivalente Fortschrittskritik zwangsläufig darauf hinauslaufen muss, Fortschritt im Sinne der mittlerweile doch etwas in die Jahre gekommenen Löwithschen Formel als undifferenzierte Heilslehre aufzufassen ist darin zu sehen, dass auch sie offenbar nicht in der Lage ist, zwischen der formalen und der inhaltlich-ethischen Bestimmung des Fortschritts zu unterscheiden - und dass, obwohl sie doch gerade die formale Seite problematisieren möchte. Im Fortschritt kommt natürlich nicht nur zum Ausdruck, welche geschichtlichen Ziele gesetzt sind. Fortschritt kann selbst ein Zweck sein, und in Zeiten des Stillstands oder des Niedergangs ist die Hoffnung auf den Fortschritt nur allzu menschlich. Bedauerlicherweise steht der Fortschritt für viele Zeitgenossen, die nur pervertierte
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Naturbeherrschung und Verderben sehen können, nur noch ein für die Zukunft zu realisierendes Ideal, das in der Praxis nimmermehr gesehen ward. Diese Kritik ist niemals gänzlich verfehlt. Sie ist der nachvollziehbare Ausdruck der Empörung über den Graben zwischen der Fortschrittsidee und einer von ökologischen und sozialen Missständen gekennzeichneten Wirklichkeit. Sie spricht reale Probleme an, die jeden Betrachter durchaus pessimistisch stimmen können. Allerdings ist das kein Grund, über diese Probleme als Probleme des Fortschritts zu reden. Diese Fallstudie zum originellen Marxschen FortschrittsbegrifF soll einen kleinen Beitrag nicht zur .Rettung' oder .Rehabilitation' des Fortschritts, sondern zur Besinnung auf seine eigentliche Bedeutung als Kategorie des Guten leisten - und zwar in Opposition zu einem gängigen Denkmuster unserer Tage, das unter Fortschritt die Vereinigung der guten und der schlechten Seite der historischen Entwicklung zu einem ambivalenten Begriff versteht, der sich in der Voraussetzung von Heilsvorstellungen erschöpft. Ich werde jetzt zeigen, wie Marx über diese Annahmen denkt.
IV Die Entstehung des originellen Marxschen Fortschrittsbegriffs
1.
Der theoretische Hintergrund
Ungeachtet seiner Maxime nihil humani a me alienum puto (nichts Menschliches ist mir fremd) 1 konzentriert sich Marx auf die Erforschung der bürgerlichen Gesellschaft. Er versucht, ihre historischen Bedingungen und ihren inneren Zusammenhang zu analysieren und darzustellen. Diese besondere Ordnung präsentiert sich dem Betrachter allerdings als eine aus vielen sich gegenseitig überlagernden Verhältnissen bestehende gesellschaftliche Totalität und hinterlässt den Eindruck einer schockierenden Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit. Es ist darum nicht zu trivial, die Marxsche Theorie als den Versuch zu bezeichnen, das Staunens vor dem Gegensatz durch Erklärungen zu ersetzen. In diesem Kontext muss auch die Entstehung eines originellen Marxschen Fortschrittsbegriffs gesehen werden.
a.
Geschichte, Gegensatz, Fortschritt
Die Anhänger der Marxschen Theorie setzen voraus, dass Marx die charakteristische Gegensätzlichkeit der bürgerlichen Gesellschaftsordnung auf den Begriff bringt und ihr somit den Platz einräumt, der ihr gebührt. Innerhalb dieser Anhängerschaft lassen sich - in groben Zügen - zwei verschiedene Richtungen oder Strömungen unterscheiden. Die erste dieser beiden Strömungen geht davon aus, die Marxsche Theorie expliziere die Gesetzmäßigkeiten, aufgrund derer die Zerrissenheit der Gesellschaft letztendlich 1
Irgendwann in den 1860er Jahren spielt Marx mit seinen Töchtern das viktorianische parlour game (Wortspiel) .Confessions', das den Spieler nach seinen moralischen und ästhetischen Wertvorstellungen befragt. Der Zettel mit seinen Antworten wird 1910 von Ryazanow im Haus von Laura Lafargue gefunden. Der angeführte Spruch ist Marx' Antwort auf die Frage nach seiner .favourite maxim' (vgl. Wheen 1999, 388).
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in eine höhere Ordnung aufgehen wird. Sie sieht in Marx einen Denker, der die Überwindung der bestehenden Gegensätze als den notwendigen, gesamtgesellschaftlichen Fortschritt im Stufengang auffasst und nachweist. Im Unterschied dazu liest die zweite Strömung Marx in erster Linie als Denker der Unversöhnlichkeit, der die Gegensätzlichkeit selbst als eine Gesetzmäßigkeit versteht, die gar nicht überwunden aufgehoben - werden kann, die sich gegebenenfalls noch weiter verschärfen wird und sich in einem dementsprechenden Fortschrittsbegriff niederschlägt. Die Eigenschaft der Marxschen Theorie, zwei so unterschiedlichen intellektuellen Ansprüchen zu genügen, geht nicht zuletzt auf ihre flexible Haltung bezüglich des Spannungsverhältnisses von Harmonie und Unversöhnlichkeit zurück. Diese Haltung wirkt sich auch auf die Art und Weise aus, wie Marx Begriffe bildet. Manchmal hat es darum den Anschein, als könne er sich nicht entscheiden, auf welchen dieser beiden Aspekte er in der Analyse eines bestimmten Gegenstandes das Gewicht legen soll. Begriffe wie der des proletariats' sind offenkundige Beispiele dieser scheinbaren Unentschlossenheit. So lange das Proletariat nur eine Klasse ,an sich' ist, ist es noch in einer sozialen und kognitiven Zerrissenheit befangen. Sobald es aber ,für sich' zu existieren beginnt, fällt sein Bewusstsein mit seinem sozialen Sein zusammen - in einer harmonischeren Einheit. Jetzt erst erreicht es ein gewisses Maß an politischer Effizienz, was das Moment der Unversöhnlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse noch verschärft (siehe besonders Das Elend der Philosophie, MEW 4, 180-182). Viele andere Marxsche Begriffe (die Arbeit, der Wert) haben einen solchen Doppelcharakter. Es scheint hier jeweils die eine Seite Versöhnung und Harmonie, die andere Unversöhnlichkeit zu signalisieren. Dies hat nichts mit Ungenauigkeit oder vorsätzlicher Zweideutigkeit zu tun. Es handelt sich vielmehr um eine Folgeerscheinung der nachhaltigen Prägung durch die Hegeische Philosophie und der Teilnahme am Linkshegelianischen Programm der Dialektisierung der historischen Entwicklung. Marx' kritische Weiterentwicklung der Hegeischen und Hegelianischen Dialektik wirkt sich auch auf seinen impliziten Begriff von Fortschritt aus. Das Verhältnis von Dialektik und Geschichtsentwicklung bzw. Fortschritt hat in der Diskussion der Marxschen Geschichtsauffassung für einige Verwirrung gesorgt, die sich wiederum in ganz unterschiedlichen Auffassungen davon ausdrückt, was diese Geschichtsauffassung ausmacht. In gewisser Weise können Vertreter aus beiden der soeben erwähnten Lager mit einigem Recht für sich in Anspruch nehmen, den richtigen Standpunkte zu vertreten, denn die Marxsche Geschichtsauffassung nimmt in der Geschichte der Philosophie eine durchaus ambivalente Stellung ein. Einerseits führt sie die universalistische und weitgehend fortschrittsoptimistische Geschichtsphilosophie der Aufklärung bis Hegel fort, mit der sie die Vorstellung von der Versöhnung der sozialen Gegensätze in einem höheren, idealeren Geschichtszustand zu teilen scheint. (Dieser Zustand ist ein Ideal im Sinne von Befriedung der menschlichen Verhältnisse und Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse.) Andererseits kritisiert sie den Vernunftidealismus Hegels - insbesondere die .unkritischen' Versuche der linken Hegelschule, diesen zu historisieren. Die Marxsche Geschichtsauffassung stellt (ähnlich wie Rousseau) den Parallellauf von technologisch-ökonomischer Entwicklung
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und sozialer und moralischer Verbesserung in Frage. Sie befreit die Geschichte von den metaphysischen Vorannahmen der Geschichtsteleologie, bis die Geschichte ihren Status als intentionales Metasubjekt verliert, welches von der Geschichtsphilosophie der Aufklärung im Gegensatz zu antiken und mittelalterlichen Geschichtsbildern mühsam aufgebaut worden war (siehe Rohbeck 2004, 62ff.). In diesem Sinne schreibt Marx in der Heiligen Familie: „Die Geschichte tut nichts, sie .besitzt keinen ungeheuren Reichtum' sie ,kämpft keine Kämpfe'! Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche, lebendige Mensch, der das alles tut, besitzt und kämpft; es ist nicht etwa die ,Geschichte', die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre - als ob sie eine aparte Person wäre - Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen." (MEW 2, 98) Diese Aussage steht exemplarisch für die kritische, nicht-teleologische Seite der Marxschen Geschichtsauffassung. Sie muss jedoch als das Resultat einer Entwicklung im Denken von Marx angesehen werden. Diese Entwicklung soll hier im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Entstehung eines originellen, wenngleich impliziten Begriffs von Fortschritt nach vollzogen werden. Ich werde Marx' (selbst)kri tische Auseinandersetzung mit der auf der Dialektik Hegels aufbauenden Auffassung von der Gegensätzlichkeit der Geschichtsentwicklung und des Fortschritts nachzeichnen und zeigen, dass er diese Auffassung auf einem bestimmten Stand in der Entwicklung seiner Theorie überwindet. Die Gewinnung eines gegensätzlichen oder .dialektischen' Begriffs von Fortschritt ist also keineswegs ein Marxscher Verdienst. Die Einführung eines Konfliktmodells der geschichtlichen Entwicklung ins moderne Denken, auf der auch der gegensätzliche Begriff von Fortschritt basiert, findet lange vor Marx statt; ja, sie wird von den historischen Bedingungen geradezu erzwungen. Im modernen Zeitalter lassen sich zwei Grundformen des gerichteten Geschichtsdenkens auseinander halten: Linearität und Gegensätzlichkeit. Linearität und Gegensätzlichkeit sind die Prinzipien der Bewegungsformen zweier unterschiedlicher Begriffe von Fortschritt. Bereits während der Aufklärung wird allmählich klar, dass die - gemeinhin mit dieser Epoche identifizierte und heutzutage geradezu geächtete - Vorstellung von Fortschritt als einem Prozess, der vielleicht das eine oder andere Hindernis zu überwinden hat, der aber im Ganzen ein stetiges, gleichmäßiges, gradliniges und akkumulatives Sich-Durchsetzen bestimmter Inhalte bedeutet, den tatsächlichen Entwicklungen der sich herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr gerecht wird. Es bedarf eines komplexeren Modells, mit dem sich die Unterbrechung von beständigen Entwicklungsphasen durch Stillstand, durch Brüche und Krisen begreifen lässt. Damit soll nicht gesagt sein, dass dieser neue Begriff seine Vorgänger über Nacht verdrängt; noch soll damit gesagt sein, dass der lineare und der gegensätzliche Fortschritt grundverschieden sind. Im Gegenteil. Das lineare Fortschrittsdenken und das Fortschrittsdenken auf der Basis des Konfliktmodells unterscheiden sich in zwei wesentlichen Punkten nicht voneinander. Gemeinsam ist beiden erstens die Universalität des Fortschritts als ein (nach Kosellecks Definition) die Menschheit und den historischen Gesamtprozess umfassen-
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der ,Kollektivsingular'; zweitens die weit verbreitete teleologische Konzeption dieses Universalfortschritts als Versöhnungsprozess. Es gibt einen sehr guten Grund für diese Gemeinsamkeiten. Wie Lefèvre deutlich macht, gibt es vor der erst im 19. Jahrhundert - speziell in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts im Anklang an die Darwinsche Deszendenztheorie - auftauchenden Auffassung, das Gesetz welches den Fortschritt verbürgt sei ein Naturgesetz, im Grunde nur zwei Erklärungsmodelle, auf die sich das Fortschrittsdenken berufen kann: erstens das mechanistische, auf dem Wechselspiel materieller Entitäten basierende Modell, und zweitens das ontogenetische Modell, welches den Grund oder die Ursache der Entwicklung in das innere der sich entwickelnden Phänomene verlegt. Zwar sind beide Modelle nicht-teleologischen und streng deterministischen Ursprungs; aber sie beruhen auch auf der Vorstellung vom Fortschritt als Reifungsprozess und als Höherentwicklung. Scheinbar stellt für das 19. Jahrhundert gerade der ontogenetische Reifungsprozess das idealtypische Muster von Entwicklungen für das Fortschrittsdenken dar. Wichtig ist: in seiner Anwendung auf die Geschichte der Menschen und ihrer Gesellschaften wird dieses bereits vorhandene „Reifungsparadigma" durch die Idee von der ,Bestimmung' des Geschichtssubjektes weiter angereichert. Dass das Geschichtssubjekt eine Zukunft hat bedeutet, dass es den Fortschritt seiner wesensgemäßen Ausbildung durchläuft (Lefèvre 2000, 171-174).2 Man kann hier von einer Bestimmungsteleologie sprechen, die die Menschheit zum Subjekt der Geschichte und des Fortschritts erklärt. Darin gleichen sich also das lineare Fortschrittsdenken und das Konfliktmodell. Wolf weist allerdings darauf hin, dass der Fortschrittsgedanke des 19. Jahrhunderts die physiokratische These (zum Beispiel Quesnay) von der Verbesserbarkeit der Welt bis hin zu einem vollkommenen Endzustand, nicht einfach unkritisch übernimmt. Man versucht vielmehr das teleologische Element zu verbergen, indem der Geschichtsprozess möglichst nicht mehr finalistisch als Gang bis hin zu einem vollkommenen Endzustand dargestellt wird (vgl. Wolf 1999, 263). Somit verlagert sich das Interesse von der Beschaffenheit des historischen Endzustandes auf den weniger hypothetisch anmutenden Prozess der Auswickelung der wesensgemäßen Bestimmung. In Wirklichkeit wird die teleologische Ausrichtung des Fortschrittsgedankens dadurch freilich nicht beeinträchtigt. Ich behaupte jedoch, dass im Konfliktmodell selbst eine Differenzierung unternommen werden muss. Neben dem althergebrachten linearen Modell und dem traditionellen Konfliktmodell des Fortschritts gibt es sozusagen noch einen dritten Fortschrittsbegriff, zu dessen Entstehung Marx maßgeblich beiträgt. Marx versucht nämlich, das noch in den Ursprüngen der modernen Geschichtsphilosophie verhaftete Konfliktmodell des Fortschritts zu überwinden. Wie schon das lineare Geschichtsdenken, erklärt ja auch das Konfliktmodell den Fortschritt zum bestimmenden Prinzip des Geschichtsprozesses, 2
Dabei spielt es eigentlich keine Rolle, ob das unterstellte Entwicklungssubjekt Comtes geschichtlicher Mensch, Feuerbachs menschliche Gattung oder Engels Kommunismus ist; es hat in jedem Fall in Analogie zum als Einheit der Entwicklung vorgestellten Organismus eine „Embryonalstufe" (Lefèvre 2000, 175), von der es inneren Gesetzen folgend zur reifen Form fortschreitet.
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wenngleich es die gegensätzliche Natur dieses Prozesses bewusst mitreflektiert. Darum bezeichne ich die Vorstellung von historischer Verbesserung, die diesem prinzipiell fortschrittlichen und zugleich prinzipiell gegensätzlichen Modell der Geschichtsentwicklung zugrunde liegt als Fortschritt-als-Gegensatz. Im Gegensatz dazu entwickeln besonders die Marxschen Schriften aus der Mitte der 1840er Jahre ein neuartiges Konfliktmodell und einen neuartigen Begriff von Fortschritt. Diesen neuartigen Begriff nenne ich Fortschritt-im-Gegensatz. Er baut insofern auf dem älteren Begriff auf, als er an der Vorstellung von der grundsätzlichen Gegensätzlichkeit und dem evolutionären Charakter der Geschichtsentwicklung festhält. Zugleich befreit er den Fortschritt aber von seiner Rolle als Universalprinzip dieser Entwicklung. Das ermöglicht Marx, dem Fortschritt die Bedeutung der Verbesserung zurückzugeben, ohne allerdings weiterhin gezwungen zu sein, diese mit dem geschichtlichen Gesamtprozess zu identifizieren. Die Teleologieproblematik bildet den eigentlichen philosophischen Hintergrund zu diesem Aspekt der Entwicklung der Marxschen Theorie. Allerdings führt Marx die Auseinandersetzung mit der Teleologie nur selten explizit. Statt dessen trägt er sie in Form seiner Kritik der Spekulation' aus. Der ausschlaggebende Grund für die Entstehung eines eigentümlichen Marxschen Konfliktmodells der Geschichtsentwicklung ist also nicht darin zu sehen, dass Marx den Fortschrittsbegriff bewusst neu formulieren möchte, sondern in seiner Bemühung um die Überwindung des finalistischen Erklärungsmodells. Dieses Erklärungsmodell ist tief verwurzelt in dem theoretischen Bedürfnis nach Vereinheitlichung3 und - speziell im Linkshegelianisch-frühsozialistischen Milieu, in dem Marx sich zu dieser Zeit bewegt - in dem moralischen Bedürfnis nach der Versöhnung der sozialen Gegensätze, die zu einem .menschlicheren' gesellschaftlichen Zustand führt. Das unterstreicht noch einmal, dass der Fortschritt-im-Gegensatz eine implizite Entstehungsgeschichte hat, die in den relevanten Schriften latent vor sich geht. Die Herausbildung des Fortschritt-im-Gegensatz findet nicht explizit statt und geht sozusagen ,hinter Marx' Rücken' vor sich. Deswegen beruht die Untersuchung dieses Gegenstandes auf der Methode der Rekonstruktion. Dabei kommt diesem Kapitel die Aufgabe zu, die ideengeschichtlichen Dimension abzudecken, also die Entstehung des originellen Marxschen Fortschrittsbegriffs nachzuvollziehen, bevor dann in den folgenden Kapiteln die Rekonstruktion der formalen bzw. ethischen oder axiologischen Dimensionen dieses Begriffs angegangen werden kann. Marx' Abwendung von der linken Hegelschule und der von ihr angestrebten geschichtsphilosophischen Verwertung der Hegeischen Philosophie bildet den 3
Der Reiz des Finalnexus besteht ja gerade darin, dass nicht erst die ganzen verstreuten Ursachen zusammentragen werden müssen. Man setzt gleich beim Resultat an und erklärt es für den Zweck des Geschehens, woraufhin sich die Mittel für den Zweck wie von selbst zusammenfinden, weil der Zweck sie angeblich .forderte'. „So kommt ohne Schwierigkeiten ein Einheitsbild zustande, während im kausalen Denken die Ursachenketten nach rückwärts divergierend ins Unendliche führen und alles Fortschreiten in ihrer Verfolgung die Mannigfaltigkeit nur weiter anwachsen, die Einheit aber immer mehr verschwinden lässt." (Hartmann 1966, 4)
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Hintergrund zu dieser Theorieentwicklung. Bis einschließlich der Ökonomischphilosophischen Manuskripte von 1844 kann Marx jedoch in vielerlei Hinsicht selbst noch zu den Linkshegelianern gezählt werden. Allerdings interessiert er sich seit seiner Übersiedlung nach Paris im Herbst 1843 immer weniger für rein philosophische Themen. Zunehmend befasst sich seine Forschung mit der Kritik der Theorieform einer bestimmten Wissenschaft: der politischen Ökonomie. In der gegen Proudhon gerichteten Polemik Das Elend der Philosophie (1847) treffen philosophische und ökonomische Fragestellungen noch einmal krass aufeinander. Das wird es in späteren Marxschen Schriften in dieser Deutlichkeit nicht mehr geben. Vielleicht ist das Elend der Philosophie auch aus diesem Grund der für die Fortschrittsproblematik wichtigste Text. Der Abstand zwischen der herkömmlichen und der neuen Marxschen Vorstellung von der Gegensätzlichkeit des Fortschritts kommt jedenfalls in dieser Schrift am deutlichsten zum Ausdruck. Marx vertritt von Beginn an einen gegensätzlichen Fortschrittsbegriff. Sein Standpunkt ist jedoch veränderlich: Zunächst gibt es durchaus Parallelen zwischen dem jungen Marx und dem Fortschrittsdenken eines Cieszkowski oder Heß (Abschnitt 2). Diese Parallelen finden ihren typischsten Ausdruck in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten (Abschnitt 3). Marx wird schließlich mit dem teleologischen Konfliktmodell der Geschichtsentwicklung und des Fortschritts brechen und sein eigenes, originelles Konfliktmodell auf den Weg bringen. Besonders deutlich wird das am Beispiel der Proudhon-Kritik (Abschnitt 4). Die dadurch losgetretene Überwindung des spekulativen Begriffs vom Menschheitsfortschritt ist eine Leistung, die durch Marx' andauerndes Interesse an der Geschichte der Menschheit (Abschnitt 5) weder geschmälert noch in Frage gestellt wird.
b.
Marx' Kritik der Hegelianischen Spekulation
Doch zu allererst muss geklärt werden, was Marx unter .Spekulation' versteht. Die Zurückweisung dieser - von Marx insbesondere mit der linken Fraktion der Hegelschule identifizierten - Denkweise bildet nämlich den philosophischen Kern der Kritiken der ersten Hälfte der 1840er Jahre. Die Entstehung des originellen Marxschen Fortschrittsbegriffs ist nur schwer nachvollziehbar, wenn sie nicht im Lichte seiner Spekulationskritik betrachtet wird. Zumal Marx auch später immer wieder auf die Fehler der rein spekulativen Auffassung von gesellschaftlichen oder geschichtlichen Veränderungen hinweist. Außerdem bereitet dieser Überblick über die Spekulationskritik auf spätere Arbeitsschritte vor, in denen es darum gehen wird, warum Marx die ihm selbst immer wieder unterstellte Teleologie der Geschichte (in Form der Voraussetzung von Idealvorstellungen als Entwicklungszwecken) als zu ,abstrakt' ablehnt. In der Vorrede zu Die heilige Familie vom September 1844 sprechen Marx und Engels von dem „Spiritualismus oder spekulativen Idealismus, der an die Stelle des wirklichen individuellen Menschen das ,Selbstbewußtsein' oder den ,Geist' setzt". In diesem Ersetzungsschema sei der gefährlichste „Feind" des „realen Humanismus"
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zu sehen (MEW 2, 7). Hauptzielscheibe der Kritik ist hier Bruno Bauer. Dieser reproduziere die Spekulation als Karikatur. Allerdings wird nicht nur Bauer, sondern auch seinen im Untertitel angesprochenen .Konsorten' (und also der Spekulation im allgemeinen) vorgeworfen, die Kritik in eine „transzendente Macht" verwandeln zu wollen. Die Spekulation wird außerdem als „die Verkehrung der Wirklichkeit durch die Philosophie" gekennzeichnet (ebd.). Von Hegels Phänomenologie des Geistes habe die absolute Kritik Bruno Bauers „wenigstens die Kunst erlernt, reale, objektive, außer mir existierende Ketten in bloß ideelle, bloß subjektive, bloß in mir existierende Ketten und daher alle äußerlichen, sinnlichen Kämpfe in reine Gedankenkämpfe zu verwandeln". (Ebd., 87) Unter .Spekulation' versteht Marx demnach ein selbstbezügliches Denken, das sich für den Bereich der Realität außerhalb seiner selbst nur zu interessieren vorgibt, und das deswegen seine Gegenstände und seine Problemstellungen bestenfalls zum Schein dem Bereich der Realität entnehmen kann, der dem Denken außen vorsteht. In ihren Grundzügen ist die Spekulation darum ein gegenstandsloses Denken, das sich um sich selbst dreht. Und da die Heilige Familie, wie Marx später bemerken wird, noch unter dem Eindruck des „Feuerbachkultus" geschrieben wird (an Engels, 24. April 1867, MEW 31, 290), sei hier auf Feuerbachs eigene Position hingewiesen: „Das absolute Denken kommt nicht von sich weg, nicht aus sich heraus zum Sein." (1843a, 302) In diesem Sinne wirft Marx der .kritischen Spekulation' Edgar Bauers vor, die gesellschaftlichen und geschichtlichen Gegensätze (zum Beispiel den des Privateigentums: Armut und Reichtum) als ein Ganzes zu fassen, und dieses Ganze dann „in echt theologischer Weise" nach den äußeren Bedingungen seiner Existenz zu befragen: „Die kritische Spekulation bewegt sich außerhalb des Gegenstandes, den sie zu behandeln vorgibt." (Die heilige Familie, MEW 2, 36) Von elementarer Bedeutung für ein Verständnis der Marxschen Hegel-Kritik ist, dass Marx zunächst zwischen Hegel und seinen Anhängern unterscheidet und letztere gerade nicht so sieht, wie sie sich selbst sehen, nämlich als legitime Fortsetzer und Weiterentwickler der Hegeischen Philosophie. T e g e l s Geschichtsauffassung", so Marx, „setzt einen abstrakten oder absoluten Geist voraus, der sich so entwickelt, daß die Menschheit nur eine Masse ist, die ihn unbewußter oder bewußter trägt. Innerhalb der empirischen, exoterischen Geschichte läßt er daher eine spekulative, esoterische Geschichte vorgehn." (Ebd., 89f.) Die Masse ist somit das „Material" des absoluten Geistes, dessen „Ausdruck" die Philosophie ist. Die Person des Philosophen ist nur das „Organ", in dem der Geist erst nachträglich zum Bewusstsein kommt. „Auf dieses nachträgliche Bewußtsein des Philosophen reduziert sich sein Anteil an der Geschichte, denn die wirkliche Bewegung vollbringt der absolute Geist unbewußt. Der Philosoph kommt also post festum." (Ebd., 90) Deswegen sei Hegels „Fabrikation der Geschichte" eine vergleichsweise harmlose „doppelte Halbheit" (ebd.). Es bleibt gewissermaßen ein Restbestand an wirklicher (empirischer) Geschichte zurück, den Hegel nicht in die .Fabrikationen' des Philosophen auflöst. Zwar möchte Hegel den Philosophen, den Geist und die Geschichte aufeinander reduzieren, aber es gelingt ihm nicht, diesen Schritt konsequent durchzuführen. Marx ist deshalb der Meinung, dass die Spekulation Hegels generell der Spekulation seiner Anhänger vorzuziehen ist. Immerhin „gibt Hegel sehr
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oft innerhalb der spekulativen Darstellung eine wirkliche, die Sache selbst ergreifende Darstellung". (Ebd., 63) Während Hegel die wirkliche und die spekulative Entwicklung einzelner Gegenstände noch vorsätzlich durcheinander wirft, um die eine für die andere ausgeben zu können, sei die Spekulation bei vielen seiner Anhänger zu einer solch extremen Form ausgereift, dass man - wie typischerweise bei Szeliga - sehen kann, wie sie „scheinbar frei aus sich heraus ihren Gegenstand a priori schafft" (ebd.). Kurzum: die Philosophie der Hegelianer ist spekulativer noch als die Hegels. Die Hegelianer gehen weit über Hegels ,Halbheiten' hinaus. Zum Beispiel Bruno Bauer, der die Kritik zuerst mit dem Geist und dann sich selbst mit der Kritik identifiziert, womit er erstens die Geschichte ganz elitär ihres Materials ,Masse' beraubt, und sie zweitens nicht mehr wie Hegel nur teilweise und nachträglich „in der Phantasie" machen lässt, sondern sie in ihrer Gesamtheit, bei vollstem Bewusstsein und im Gegensatz zur Masse „mit Absicht und nach reiflicher Überlegung erfindet und vollzieht". (Ebd., 91) Die Spekulation Bauers ist also eine Übersteigerung der Hegeischen Methode, weil sie den „Umgestaltungsakt der Geschichte" einzig und allein auf die „Hirntätigkeit der kritischen Kritik" „reduziert" (ebd.). Auch wenn er dies nicht ausspricht, Marx zielt natürlich auf die Teleologieproblematik. Denn die reine Hirntätigkeit neigt doch, speziell wenn sie sich einem so überaus gewichtigen Gegenstand wie dem Geschichtsprozess annimmt, zur teleologischen Konstruktion a priori, das heißt zur Voraussetzung der Zweckmäßigkeit dieses Prozesses. Jedenfalls komme bei den Hegelianern die „unendliche Kleinheit, in welcher die wirklichen Menschen der Spekulation erscheinen" klar zum Vorschein. Dieser Kleinheit machten sich jedoch nicht nur die Hegelianer schuldig, sondern auch die „alte Spekulation" Hegels (Ebd., 41).4 Aus diesem Grunde ist es trotz aller Differenzierungen sinnvoll, von einer durchgehend Hegeischen Tradition der spekulativen Fabrikation der Geschichte zu sprechen, die auf der Rede vom Menschen als Abstraktum, Idee, Geist gründet (ebd., 42) und einen dementsprechenden Fortschrittsbegriff vorlegt. Damit sind wir bei den besonderen Merkmalen der fortschrittsorientierten Geschichtsphilosophie der Linkshegelianer angekommen, die natürlich in der Vorstellung von der wesensgemäßen Perfektionierung ihrer Subjekte aufgeht - was ich Bestimmungsteleologie genannt habe. Denn das, was hier spekulativ a priori konstruiert wird, ist nichts Geringeres als der historische Entstehungsakt eines neuen, besseren Menschen. Es geht es den Linkshegelianern vor allem um Feuerbachs axiomatische Feststellung, dass der Mensch sein eigener Schöpfer sei, also auch Schöpfer seiner eigenen Geschichte - es geht darum, wie der Zeitgenosse Gustav Pfitzer formuliert, „daß der Mensch Gott ist" (zit. n. Pepperle/Pepperle 1986, 12). Gott wird gewissermaßen in den Menschen kollabiert oder auf ihn zurechtgestutzt, und so ergibt sich ein säkularer 4
Feuerbach meint das Gleiche, spricht aber - ausgehend von seinem Grundaxiom der Gattungsgebundenheit - von Eitelkeit. Es ergebe keinen Sinn, über das Wesen des Menschen hinauszugehen, und die Menschen somit gewissermaßen klein zu machen. Das menschliche Wesen sei schon das „Höchste der Philosophie [...] Eitelkeit ist daher alle Spekulation, die über die Natur und den Menschen hinauswill". (1839, 61)
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Anthropozentrismus, der den authentisch menschlichen Menschen zum Ideal erhebt. Dies sei eine Auffassung, die eine Heilslehre gar nicht zulasse, argumentieren Heinz und Ingrid Pepperle gegen Karl Löwiths Buch Die Hegeische Linke (1962). Freilich hat der Löwithsche Heilslehrenvorwurf mit Gott unmittelbar nicht viel zu tun. Wie wir bereits gesehen haben, erhebt Löwith den Vorwurf, die moderne Geschichtsphilosophie (ja, alle Formen des neuzeitlichen Geschichtsdenkens) sei in ihrer Gesamtheit bloß eine säkularisierte Heilslehre. Und eine starke Fixierung auf die Geschichte hat der Linkshegelianismus allemal. „Es ist Hegels Geschichtsauffassung mit der tragenden Idee der Geschichte als eines in sich notwendigen und auf die Verwirklichung der Freiheit gerichteten Prozesses ... auf die sich die linken Hegelianer berufen." (Pepperle/ Pepperle 1986, 26) Das Fortschrittsdenken der Linkshegelianer nimmt seinen Ausgang mit einer kritischen Beurteilung des von Hegel Geleisteten. Sie lesen Hegel bekanntlich so, dass er die Gegenwart als Abschluss der Geschichte auffasst (als das erreichte Absolute) und legen ihm gerade diese Ausrichtung auf die Gegenwart als einen Mangel aus: Sie widerspräche der eigentlichen Radikalität seines Systems.5 Die linke Hegelschule sieht es darum als ihre Aufgabe an, die fortschrittliche Entwicklung über diesen Punkt hinaus weiterzuführen. Arnold Ruge hat diese Position programmatisch formuliert: „Wir können weder [Hegels] Zurechtmacherei in der christlichen Dogmatik noch die Konstruktion der bereits überwundenen Zustände, wie z. B. der englischen Verfassung, weder die absolute Religion noch die absolute Kunst und noch weniger das absolute Wissen anerkennen und werden ihm überall beweisen, daß solche Unfreiheit seinem eigenen, dem ewigen Prinzip der Freiheit und der Offenbarung des Absoluten in der Geschichte, d.h. der Entwicklung, zuwider ist." (1840, 153) Es geht den Linkshegelianern also darum, Hegel mit seinen eigenen Prinzipien zu konfrontieren, namentlich mit dem Konzept der beständig fortschreitenden Entwicklung der Freiheit im ,Geiste' und also der Vernunft (vgl. Hegel 1830b, 36, 50, 70, 153), und diese Freiheit tatsächlich auch zu verwirklichen. Es geht ihnen um die Freisetzung des Hegeischen Entwicklungsgedankens - aber als Befreiung des Hegeischen Entwicklungsdenkens von Hegel selbst. Das bedeutet, dass die Hegeische Dialektik nicht auf die Gegenwart und auf ihre geschichtlichen Bedingungen begrenzt bleiben darf; sie soll zusätzlich gegen die Gegenwart gewendet werden, im Hinblick auf das, was auf sie folgen wird. Als die Spekulationskritik mit der Heiligen Familie, mit den Fragmenten zu Die deutsche Ideologie und schließlich mit dem Elend der Philosophie ihren Höhepunkt erreicht, 5
Die Unterscheidung zwischen dem seinem inneren Wesen nach fortschrittlichen .esoterischen' und dem nach außen hin angepassten .exoterischen' Gehalt der Hegeischen Philosophie geht auf Heine zurück. So entstand das Linkshegelianische Interpretationsmodell, nach dem der progressive esoterische Hegel vom konservativen exoterischen Hegel befreit werden kann (Kanda 2003, 57, besonders Fn. 209).
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ist Marx als ehemaliger Linkshegelianer mit diesem Programm natürlich bestens vertraut. Es ist auch nicht so sehr der Inhalt dieses Fortschrittsdenkens - die Verbindung des Freiheitsideals mit einer stark von Feuerbach geprägten Vorstellung des menschlichen Gattungswesens - gegen den er sich stellt, sondern es ist vor allem der formale, ,dialektische' Anstrich, den sich dieses Denken gibt. Ein weiterer zentraler Kritikpunkt ist, dass die Spekulation alle Probleme, egal ob sie theoretischer oder praktischer Natur sind, ausschließlich von der Warte des (Selbst)Bewusstseins betrachtet. Im Frühjahr 1846 wiederholen Marx und Engels die schon aus der Heiligen Familie bekannten Vorwürfe gegen die ,kritische Kritik' Bruno Bauers. Dieser könne die „Kollisionen der Gegenwart" einzig und allein als Instanzen des Verhältnisses von Substanz und Selbstbewusstsein ansprechen. „Er glaubt wirklich daß der Sieg des Selbstbewußtseins über die Substanz nicht nur von wesentlichem Einfluß auf das europäische Gleichgewicht, sondern auch auf die ganze zukünftige Entwicklung der Oregonfrage sei. Inwiefern dadurch die Abschaffung der Korngesetze in England bedingt ist, darüber ist bis jetzt wenig verlautet. Der abstrakte & verhimmelte Ausdruck, wozu eine wirkliche Kollision sich bei Hegel verzerrt, gilt diesem .kritischen' Kopf für die wirkliche Kollision. Er acceptiert den spekulativen Widerspruch ... Die philosophische Phrase der wirklichen Frage ist für ihn die wirkliche Frage selbst." (1845/46, 121) So setze Bauer das Selbstbewusstsein an die Stelle des „wirklichen Bewußtseins" der Menschen von den Verhältnissen, in denen sie leben; an die Stelle der „wirklichen Natur & der wirklich bestehenden sozialen Verhältnisse" (ebd.) setze er die philosophische Zusammenfassung in der Substanz. Indem die Linkshegelianer alle Probleme als Bewusstseinsfragen auffassen, beschränken sie die Reichweite ihrer Kritik notwendigerweise auf Vorstellungen, speziell auf die religiösen. Für Marx und Engels steht die „gesammte deutsche philosophische Kritik von Strauß bis Stirner" (ebd., 104) nach wie vor auf dem Boden eines bestimmten philosophischen Systems, dem Hegeischen, und so stellt sie sich alle Verhältnisse als Verhältnisse der Religion und des religiösen Bewusstseins vor. Folglich beschränkt sich diese ältere Kritik darauf, den Fortschritt im Zuwachs der Freiheit allein als die Ersetzung des alten, religiösen Bewusstseins durch ein neues ,menschliches' (Feuerbach), .kritisches' (B. Bauer) oder .egoistisches' (Stirner) Bewusstsein darzustellen.6 Diese Reduktion der Probleme auf Bewusstseinsfragen hat zur Folge, dass die Junghegelianer mit den Althegelianern übereinstimmen „in dem Glauben an die Herrschaft der Religion, der Begriffe, des Allgemeinen in der bestehenden Welt". (Ebd., 105) Das Ideal von der Verwirklichung der Freiheit, stellt 6
Man tut Feuerbach kein Unrecht an, wenn man seinen Humanismus als eine solche Reduktion auf das Bewusstsein auffasst. In der Einleitung zum Wesen des Christentums sieht Feuerbach das Wesen des Menschen, wodurch dieser sich von den Tieren unterscheidet, im Bewusstsein „im strengsten Sinne": im ,Jiewußtsein der Gattung" (1841, 28).
D A S KONFLIKTMODELL DES FORTSCHRITTS BEI CIESZKOWSKI UND H E S S
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sich schließlich als der Wille heraus, die gegebenen Zustände anders zu interpretieren, und das heißt für Marx und Engels sie „vermittelst einer anderen Interpretation anzuerkennen". (Ebd.) Denkt man diese Kritik konsequent zuende, kommt man zu dem Ergebnis, dass in der Spekulation keine im eigentlichen Sinne fortschrittsorientierte Philosophie zu erkennen ist, sondern eine Philosophie, die der Geschichte zwar die Verwirklichung bestimmter Ziele zum Zweck machen will, die aber in Wirklichkeit eines nur zu erreichen scheint: die Aussöhnung mit ihrer Gegenwart. Trotzdem ist damit zugleich ein ganz wesentliches formales Merkmal der geschichtsphilosophischen Spekulation Hegelscher Prägung benannt: Sie denkt die Geschichtsentwicklung als Fortschritt und den Fortschritt als den dialektischen Vollzug der Versöhnung.
2.
Das Konfliktmodell des Fortschritts bei den Junghegelianern Cieszkowski und Heß
Dieses von dem Bedürfnis nach Versöhnung geleitete, spekulative Fortschrittsdenken soll nun anhand zweier seiner Vertreter, August von Cieszkowski und Moses Heß, näher betrachtet werden. Das Werk beider Denker ist auf jeden Fall Hegelianisch geprägt, auch wenn sie für gewöhnlich nur zum erweiterten Kreis der Jung- oder Linkshegelianer gezählt werden. Beiden ist zum Beispiel die auch für den strenger definierten Linkshegelianismus typische Vorstellung von der Verwirklichung und praktischen Nutzbarmachung der Philosophie ein Ideal. Gemeinsam haben Cieszkowski und Heß mit der engeren linken Hegelschule außerdem, dass ihrem Fortschrittsdenken eine Bestimmungsteleologie zugrunde liegt, die sich inhaltlich auf den Prozess der Menschwerdung konzentriert - auf die „Realisation der Bestimmung der Menschheit" (Cieszkowski 1838, 9). Beide konzipieren außerdem die Entwicklungsform dieses Prozesses als Dialektik, um damit die Zukunft zu einer ebenso konkreten Epoche machen zu können wie es die vergangenen Epochen gewesen sind. August Cieszkowski und Moses Heß eignen sich daher ausgezeichnet zur Veranschaulichung der Art und Weise, wie man während des hier behandelten Zeitraums in dem Milieu, in dem Marx sich bewegt und das seine intellektuelle Formation maßgeblich beeinflusst, über den gesellschaftlichen und historischen Fortschritt denkt.
a.
August von Cieszkowskis Historisierung der Dialektik
Der polnische Graf August von Cieszkowski (1814-1894) ist ein wichtiger Wegbereiter Junghegelianischer Denkweisen, auch wenn er erst mit dem Studium beginnt als Hegel bereits verstorben ist. 1842 gründet er mit seinem Freund Carl Michelet in Berlin die Philosophische Gesellschaft zur Pflege des Andenkens Hegels. Schließlich zerstreitet er sich wegen seiner konservativen Überzeugungen und seinem Interesse für die theologischen Fragen der rechten Fraktion der Hegelschule mit den radikaleren Hegelanhängern
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(Bubner 1981, VIII). Trotzdem findet sich bei Cieszkowski ein wichtiges Leitmotiv auch der linken Hegelianer: die Anwendung der Hegeischen Dialektik auf die Hegeische Philosophie selbst. Leider hat der Graf hinsichtlich der Fortschrittsproblematik eine gespaltene Persönlichkeit: Er will gleichzeitig ein Konservativer und ein progressiver ,Mann der Zukunft' sein. Er stehe, schreibt er in Gott und Palingenesie (1842), auch philosophisch „auf der rechten Seite"; ein Konservativer sei er aber „in der vollen und progressiven Bedeutung des Wortes" (zit. n. Garewicz 1981, 193). „Unter Konservation nämlich verstehen wir das organische Aufnehmen und zweckmäßige Geltenlassen aller Elemente, die sich nach und nach im Prozeß der Weltgeschichte manifestiert haben [...] In diesem Sinne lassen dann die wahrhaft Konservativen der Vergangenheit ihr Recht widerfahren, ohne im mindesten aufzuhören, Männer der Zukunft zu sein." (Zit n. ebd.) In seinem Hauptwerk, dem Vaterunser, spricht er von einem „konservativen Fortschritt" (zit. n. ebd.), der nicht in der Revolution und im Niederreißen des Status Quo bestehe, sondern in der Evolution und im Aufbauen. Cieszkowski schenkt seine Aufmerksamkeit dann konsequent einem mit der Furcht vor Umbruch und Verlust sehr verwandten Problem, das sein ganzes Denken maßgeblich bestimmt: Er sieht die Zeit, in der er lebt, durch den Einbruch der Gegensätzlichkeit bedroht. Er versteht dies aber nicht als ein rein philosophisches Problem, sondern als eine umfassende gesellschaftliche Krise. Alles Radikale, alles Einseitige und Extreme - kurzum: all das, was Cieszkowski verabscheut und als destruktive Bewegung ablehnt - erwächst aus dieser Krise. Dieser Auffassung entsprechend entwickelt er eine Philosophie, über die Garewicz zu Recht sagen kann, ihr ,,allgemeine[r] Grundsatz" laute „Aussöhnung" (1981, 191). Die Aussöhnung der Gegensätze sei Cieszkowski sogar die „allerwichtigste" (ebd., 197) Aufgabe, wenngleich ihm eine solche endgültige Lösung bestenfalls als Grenzbegriff vorschwebe. Zumal die Gegensätzlichkeit ein wesentliches Anliegen Cieszkowskis ungemein erschwert: den Übergang der Philosophie in die ,Wirklichkeit'. Aus der Sicht Cieszkowskis versteht es sich also von selbst, dass die Gegensätzlichkeit in all ihren Formen bekämpft werden muss. Diese Aufgabe liefert die nötige Motivation für den Versuch, die Hegeische Dialektik auf die Geschichte anzuwenden. Cieszkowski ist einer der Ersten, wenn nicht gar der Erste, der einen solchen Versuch unternimmt. Das macht die Originalität seiner ersten Schrift aus, die 1838 unter dem Titel Prolegomena zur Historiosophie erscheint. Der Aufruf zur Tatwerdung der Philosophie war schließlich in Deutschland schon vor Cieszkowski zu hören gewesen. Mit den Prolegomena erhebt Cieszkowski die Forderung nach der Selbstverwirklichung der Vernunft in der Geschichte. Ja, er setzt voraus, dass auf den einzelnen Stufen des Geistes „das Vernünftige mit dem Wirklichen zusammenfällt, damit nachher dialektisch eins über das andere wechselseitig hinausgehe". So entstünden die weltgeschichtlichen „Epochen des Zwiespaltes" (1838, 145). Sobald das Vernünftige seine inneren Widersprüche überwunden hat, wird es auch in der Wirklichkeit den Sieg davontragen. „So nähert sich die real objective Dialektik des Lebens ihrem höchst vermittelten Standpunkte, und die Widersprüche der Zeit treten nur darum so grell hervor, weil sie ihrem Umschlagen und ihrer Lösung selbst entgegen reifen." (Ebd., 146) Hierin eingeschlossen ist als „Forderung" auch „die wahre Lösung der socialen Widersprüche" (ebd., 149).
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Im Vaterunser ist dann ganz explizit vom „organischen Ganzen" als dem „Resultat und Ziel aller Dialektik" die Rede, und - wie auch beim Marx der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte (davon später mehr) - von der Lösung des „Rätsels der Geschichte" (zit. n. Leber 1987, 222), die auf diesem Weg herbeigeführt wird. Dass dieser Auflösungsprozess ein fortschrittlicher ist, versteht sich für Cieszkowski scheinbar von selbst. Auf Seite eins geht es gleich im ersten Satz mit dem „normalen Fortschritt" der „Menschheit" (1838, 1) los. Endlich sei die Zeit gekommen, wo die Menschheit diesen ihren Fortschritt nicht mehr nur als Täuschung auffasse, sondern ihn „wesentlich für die wahrhafte Bestimmung des absoluten Gedankens Gottes" erkenne. Die „Nothwendigkeit und Regelmäßigkeit dieses Fortschrittes" habe die Menschheit wohl eingesehen und auch begriffen, nur habe sie ihn eben noch nicht „seinem Begriffe gemäß durch den ganzen Inhalt der Geschichte durchgeführt" (ebd., 2). Diese Anspielung gilt dem Meister Hegel. Hegels Philosophie der Geschichte sei dem eigenen System nicht angemessen. Ihm fehle insbesondere - das ist der Kern von Cieszkowskis Hegelkritik in den Prolegomena - ein totaler Geschichtsbegriff, denn er habe in seiner Geschichtsphilosophie die Zukunft ausgespart, habe sie „mit keiner Sylbe ... erwähnt", und somit der „Möglichkeit eines weiteren Fortgangs" (ebd., 8) einen theoretischen Riegel vorgeschoben. Für Hegel ist die Philosophie bekanntlich ihre Zeit in Gedanken gefasst. In der sich gegen jegliche Eschatologie wendenden Vorrede zur Rechtsphilosophie führt er aus: „Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie ... Es ist ... töricht zu wähnen, irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus" (Hegel 1821, 26). Damit will sich Cieszkowski nun nicht mehr abfinden. Er will Hegels Geschichtsphilosophie just in diesem Punkt „überschreiten" (1838, 10). Zu diesem Zweck setzt seine besondere Philosophie der Geschichte, die Historiosophie, genau dort an, wo Hegels Philosophie der Geschichte endet: in der Zukunft. Cieszkowskis Historiosophie ist per Definition eine totale Geschichtsphilosophie. Sie behauptet, die Philosophie müsse sich die aus Vergangenheit und Zukunft bestehende „Totalität der Weltgeschichte" (ebd., 7) erobern, ja sie müsse insbesondere die „Erkenntnis des Wesens der Zukunft für die Speculation ... vindiciren". (Ebd., 8) Aus diesem Grunde sei Hegels Einteilung der bisherigen Geschichte in vier Epochen (die Tetrachotomie), unbefriedigend. Die Totalität der gesamten Weltgeschichte sei nun „absolut unter die speculative Trichotomie zu fassen" (ebd., 7), in der die Zukunft eingeschlossen ist. Das erklärte Ziel der Historiosophie ist die Erkenntnis der Zukunft; und zwar nicht in Form eines Erahnens oder Voraussagens („praesagium"), sondern in Form eines echten ,,Vorwissen[s] (praescientia) derselben" (ebd., 11). Weil nun aber der gesetzmäßige Menschheitsfortschritt für Cieszkowski offensichtlich die normalste Sache der Welt ist, weil Fortschritt' also nur ein anderes Wort für ,Geschichte' ist, und weil die Geschichte wiederum - historiosophisch betrachtet - eine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft übergreifende Totalität bildet, darum kann die Erkenntnis des Wesens dieser Zukunft nichts anderes sein als die Erkenntnis eines totalen Fortschrittsprozesses: „Es kommt uns nicht auf das Errathen dieser oder jener Besonderheit ... an: sondern darauf, dass die eigentliche Natur der Menschheit erforscht, die Ge-
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setze ihres Fortschrittes bestimmt, dessen Manifestationen in der Geschichte vernünftig erkannt, der zurückgelegte Weg in sich und in seinem Verhältnis zum künftigen abgeschätzt, endlich die Perioden dieses fortwährenden Sichgestaltens mit ihren bestimmten inhaltigen Typen, welche die gesetzte Realisation der der Menschheit virtualiter eingeprägten Elemente sind, festgesetzt werden; und diess ist gerade das eigentliche Geschäft der Philosophie." (Ebd., 12) .Festgesetzt' wird damit vor allen Dingen die Philosophie selbst. Sie wird geradezu zwangsverpflichtet, Geschichtsphilosophie zu sein, und das heißt in diesem Fall: eine Philosophie zu sein, die überall und in allem einen Fortschritt entdeckt. Für Cieszkowski ist Philosophie darum die Bestimmung „des allgemeinen Fadens" des Fortschritts entlang seiner einzelnen „Sectionen" (die bereits durchgemachten, die gegenwärtigen, und die noch vor uns liegenden) bis hin zur ,,höchste[n] Spitze der Entwicklung des Weltgeistes" (ebd., 22). Die Historiosophie gibt sich indessen nicht damit zufrieden, eine erkennende Philosophie zu sein, welche die Zukunft in ihre historische Perspektive einschließt. Sie zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass sie am „Wendepunkt des Umschlagens der Facta in die Thaten" (ebd., 44) steht. Die Tatwerdung der Philosophie ist Cieszkowski ein ganz besonderes Anliegen. Zumal er davon ausgeht, dass die Erkenntnis der Zukunft nicht mehr vollständig auf dem Boden der Philosophie selbst geschehen wird, so wie dies für den Gegenstand der bisherigen Geschichte der Fall war. Auf dem „Culminationspunkt" (ebd., 131) des Denkens sei jetzt die Zeit der praktischen Anwendung der Philosophie gekommen. Cieszkowskis Fortschrittsdenken hat also durchaus eine ganz bodenständige Seite: Die Philosophie solle sich „popularisiren", ihre „relative Dienstbarkeit" unter Beweis stellen, schließlich selbst zur Tat werden und somit aus ihrer spekulativen Reinheit „in ein fremdes Element übergehen" (ebd.) - und zwar als „das objective, wirkliche Realisiren der erkannten Wahrheit" (ebd., 17) - , auf dass „ihr normaler Ausfluss auf die socialen Verhältnisse der Menschheit" (ebd., 132) beginnen kann. Aber Cieszkowski ist viel zu spekulativ eingestellt, um sich ernsthaft auf die sozialen Verhältnisse der Menschen einzulassen. Ihm geht es vor allem um die Realisierung des Begriffs der Menschheit im Fortschreiten des Weltgeistes. Die Geschichte selbst sei nur die „Durchführung dieses Realisierungsprocesses" (ebd., 21). Die empirische Geschichte (so wird jedenfalls Marx später gegen die Hegelianer argumentieren) wird hier also nicht allzu ernst genommen. Die Spekulation unterwirft sie dem Realisierungsautomatismus der Bestimmungsteleologie, was wiederum nichts anderes heißt, als dass sie sie dem allgemeinen Menschheitsfortschritt unterwirft. Die Historiosophie begnügt sich auch nicht damit, den universellen Menschheitsfortschritt verkündet zu haben. Denn dazu bedarf es Hegel und seiner Dialektik nicht. Das Spannende ist die Art und Weise, wie die Historiosophie die Geschichte zum Knecht des Fortschritts macht, wie sie also die Subsumierung des Geschichtsbegriffs unter den Fortschrittsbegriff logisch zu verankern sucht. Und für derartige Unternehmungen ist die Hegeische Dialektik - wie die kurze Darstellung der Marxschen Spekulationskritik
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gezeigt hat - bestens geeignet. In der Tat nimmt Cieszkowski für sich in Anspruch, die Zukunft regelrecht synthetisch aus den Antithesen und Widersprüchen der historischen Vergangenheit a priori deduzieren zu können. Hegel sei noch viel zu bescheiden gewesen in seiner Beschränkung auf ein „aposteriorisches Verfahren"; er lasse es bewenden beim ,,natürliche[n] Geltenlassen der Empirie und Erscheinungen, ohne derselben die Gewalt einer aprioristischen Construktion ... aufzubürden" (ebd., 50). Für dieses Geltenlassen der Empirie versucht sich Cieszkowski dann krampfhaft ein Lob abzuringen. In anderer Hinsicht sieht er nämlich gerade darin nämlich einen ,,wirkliche[n] Mangel" (ebd.) und den eigentlichen Grund dafür, warum es Hegel in der Geschichtsphilosophie nur bis zu einem „speculativen Finden" (ebd., 51) gebracht habe. Es war ja bereits die Rede davon, dass Marx Hegel gerade aufgrund dieses Restbestandes an ,wirklicher' Darstellung (im Gegensatz zur spekulativen') schätzt und noch vor den Junghegelianern einordnet. Ganz offensichtlich ist Cieszkowski bei Hegel auf dieselbe Grenze gestoßen: auf diejenige Grenze, die der apriorischen Geschichtskonstruktion Einhalt gebieten soll. Nur will er eben auch in diesem Punkt Hegel überschreiten'. Darum steht die Historiosophie für eine reinere Form der spekulativen Konstruktion des Geschichtsprozesses als Fortschrittsprozess, die einen noch größeren Nachdruck auf die apriorische Deduktion legt als Hegel dies tut. Marx würde sie ohne zu zögern als ein Zurückgehen vor Hegel entlarven.7 Cieszkowski selbst versteht sich als einen Verfechter der Ausgewogenheit. Es sei einseitig und falsch, immerzu schlecht über die apriorische Methode in der Geschichtsbetrachtung zu denken, sie als „Schreckbild" zu benutzen, oder sie gänzlich wegzulassen. Er werde jetzt Gerechtigkeit walten lassen, und die Achtung der Empirie mit der Strenge der zu unrecht gering geschätzten logischen Deduktion a priori kombinieren. Aber seine Formulierungen verraten ihn doch immer wieder als einen Fortschrittsdenker mit rein spekulativen Absichten: Er werde vormachen, wie ein systematisches „Suchen des Logischen in der Weltgeschichte" (1838, 51) zu unternehmen sei. Man müsse nur „das ganze System der Kategorien sich dialektisch entwickeln lassen" (ebd.), um auf diesem Wege schließlich sogar zu einer ,,totale[n] Kategorien-Tafel der Weltgeschichte" (ebd., 49) und zu einer „totalen Enthüllung des Logos der Geschichte" (ebd., 51) zu gelangen.8 In diesem Anspruch kommt die eigentliche Motivation dieses Programms der 7
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Marx' vermutlich einzige Bemerkung zu Cieszkowski fallt äußerst negativ aus. Cieszkowski hatte Marx zur Zeit der Deutsch-Französischen Jahrbücher in Paris besucht. Fast vierzig Jahre später berichtet er Engels von diesem Treffen: „Dieser Graf ... hatte mir's so angetan, daß ich absolut nichts lesen wollte oder konnte, was er gesündigt." (12. Dezember 1882, MEW 35, 35) Nirgendwo erwähnt Marx die Prolegomena. Ihr Einfluss erreichte ihn nur indirekt über Moses Heß (Garewicz 1981, 195). Lukács beleuchtet das Verhältnis von Marx und Cieszkowski (sowie Cieszkowskis Einfluß auf Heß, wovon hier noch die Rede sein wird) in seinem Aufsatz , Moses Hess und die Probleme der idealistischen Dialektik' (1926, besonders 647f. und 656). Cieszkowski entwickelt die Methode dieser Enthüllung in Analogie zur Wissenschaft der Naturgeschichte. So wie man aus paläontologischen Funden auf die Existenz einer vergangenen Lebensform schließen könne, so könne man auch die „ideelle Ganzheit und insbesondere den noch fehlenden künftigen Theil" des historischen Prozesses - die Zukunft - aus den bereits ge-
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Historisierung der Dialektik ans Licht: Es ist der bestimmende Faktor der Teleologie im Denken Cieszkowskis und das ihm zugrunde liegende Bedürfnis nach Versöhnung und Einheit, das seinen Fortschrittsbegriff ausmacht. In gewisser Weise geht Cieszkowski damit sogar sehr ehrlich um: Die Prolegomena reden nicht nur andauernd vom synthetischen Dreischritt, sie sind auch wie ein solcher aufgebaut. Auf die beiden recht knappen Kapitel über das (formelle) Wie und das (inhaltliche) Was der Weltgeschichte folgt, als krönender Abschluss, das mit Abstand längste dritte Kapitel über das große Warum, also die Frage nach der „absoluten Teleologie" (ebd., 46) dieses ganzen ,,dialektische[n] Organismus" (ebd., 75). Die trichotomische Historiosophie unterteilt die Geschichte in eine erste thetische, eine zweite antithetische und eine dritte synthetische .Periode' (diese Perioden werden auch ,Stufen' oder ,Stadien' genannt). Cieszkowski positioniert sich selbst und den Weltgeist natürlich am Eingang zur dritten synthetischen Periode, dort ist es am spannendsten. In der trichotomischen Einteilung wird allerdings aus Hegels vierter, christlich-germanischer Periode (die moderne bürgerliche Welt) die zweite, antithetische und noch von Kampf und Gegensätzlichkeit geprägte Periode, die eben aufgrund ihrer Zerrissenheit nicht als perfekt angesehen werden darf. Die Antithesen der Gegenwart lösen sich auf in der Synthese der Zukunft. Dies impliziert eine zwangsläufige Entwicklung zum Besseren. Es handelt sich hier außerdem um ein finalistisches Konfliktmodell des Fortschritts. Die Menschen werden, wie Cieszkowski formuliert, „zur Einheit kommen müssen. Diese Einheit wird die eigentliche, höchste und reifste Frucht des geschichtlichen Baumes werden". (Ebd., 23) Soweit die „abstract dialektisch[e] Genesis des allgemeinen Fortschritts der Menschheit"; ist sie erst einmal rekonstruiert, sagt der selbsternannte Vermittler zwischen der rein spekulativen und der empirisch-gegenständlichen Methode gönnerhaft, dann könne man „herabsteigen" zu den speziellen Analysen ihrer einzelnen, integralen „Stufen" (ebd., 34). In Cieszkowskis Geschichtsphilosophie vollzieht sich der allgemeine Fortschritt der Menschheit (und des Weltgeistes) im Dreischritt. Dabei finden die Übergänge von der ersten zur zweiten und von der zweiten zur dritten Stufe jeweils wieder als Dreischritte statt. Diese Kette von Dreischritten kommt erst mit der dritten Stufe endgültig an ihr schon im Voraus gewusstes Ziel. Erster Schritt: Die europäische Antike. Sie steht für die Idee des Schönen, für die Kunst. Die Hauptform des Geistes auf dieser Stufe ist die Individualität, oder das „Selbstseyn" (ebd., 116). Zweiter Schritt: Die christliche Welt. Hier, heißt es einem weit verbreiteten Klischee vom ungleichen Verhältnis zwischen Kunst und Philosophie entsprechend, „muss die ästhetische Bildung der philosophischen Bildung weichen". (Ebd.,
gebenen Teilen deduzieren. „Die vergangenen Thaten, das sind unsere Fossilien." (1838, 13) Der Vergleich hinkt freilich. Der Unterschied besteht darin, dass diese spezielle Wissenschaft von Vergangenem auf Vergangenes schließt (das potenziell durch zusätzliche Funde weiter belegt werden kann), dass aber die Historiosophie aus dem Vergangenem nicht Vergangenes oder wenigstens Gegenwärtiges ableiten will, sondern ein exaktes Wissen von einem Noch-nicht-Vorhandenen: die Zukunft.
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87) „Die Schönheit ist in die Wahrheit übergegangen, das Kunstleben der Menschheit ist in seiner philosophischen Idee absorbiert worden." (Ebd., 91) Hauptform des Geistes auf dieser Stufe sei das Bewusstsein, das „Selbstdenken" (ebd., 116). Hier offenbare sich die Krux der Hegeischen Philosophie. Bei Hegel sei nämlich schon auf dieser Stufe mit der Dialektik Schluss. Das liege daran, dass das Bewusstsein „der specifische Kern der Hegeischen Philosophie" (ebd., 96f.) sei, zu dem Hegel die Geschichte hinführe. Mit anderen Worten: Hegel beschließt die Entwicklung mit dem Bewusstsein, mit der Identität von Denken und Sein. Aber, sagt Cieszkowski, damit „schliesst das Universum nicht". Denn „hinter ihm" - in der Zukunft jenseits dieser Identität - liege etwas, das sich überhaupt erst aus dem Bewusstsein entwickeln kann, „und das ist die That", (ebd., 97) 9 Bei Hegel bleibe die Einheit von Denken und Sein idealistisch. Der Idealismus möge ja für sich genommen auf dieser Stufe absolut sein, er möge selbst schon Synthesis sein, aber er sei eben noch nicht die höchstmögliche Synthese. Und das sei eben genau das, was die Teleologie suche: nämlich „absolut das Absolute", „den höchsten Punkt", „die höchste Identität", „höher, vollkommner und concreter" (ebd., 103, 105, 106). Dritter Schritt: Die dritte und letzte Stufe ist die weiterführende Synthetisierung der Resultate der vorausgegangenen Synthesen. Hauptform des Geistes auf dieser Stufe ist die freie Tätigkeit, das „Selbstthun" (ebd., 116). Ihr gehört die Zukunft. Das absolute Tun, das hier entstehen wird, wird mehr sein als die Identität von Denken und Sein. Es wird die „wahre und wirkliche Identität" sein, also der Grund und die Wahrheit der beiden vorausgegangenen Stufen (Kunst und Philosophie), vereinigt im „Hauptschlusse des Universums" (ebd., 136).10 Qualitativ gesehen bedeutet die Erreichung dieses Endzieles der Entwicklung, dass der Weltgeist sich durch die „Bethätigung des Schönen, Wahren und Guten" (ebd., 153f.) zusammenfasst, und in den Institutionen wie in den Individuen wirksam wird. „Und so hat das Leben der Menschheit dieser drei höchsten Prädicate des Absoluten theilhaftig zu werden, was eben die höchste Verklärung des Weltgeistes seyn wird." (Ebd., 154) Soweit Cieszkowskis Entwurf zu einer Historisierung der Hegeischen Dialektik in seinen wesentlichen Zügen. Auf den zwei letzten Seiten der Prolegomena behauptet er noch, die ,Freiheit' als den eigentlichen Begriff des gesamten Entwicklungsprozesses nachgewiesen zu haben. Gegen den Utopievorwurf, den man ihm daraus ohne Schwierigkeiten machen könnte, verwahrt er sich allerdings. Mit Utopie habe seine Eroberung der Zukunft nichts zu tun. Schließlich nimmt er für sich in Anspruch, die absolute Teleologie aus der Wirklichkeit heraus entwickelt zu haben, und sie nicht, wie das für die Utopie üblich sei, einfach zur Wirklichkeit hinzutreten zu lassen. Das Neue trete nun
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Hegels Leistung sei darin zu sehen, dass er immerhin das Denken zu einem erfolgreichen Abschluss bringe: „Ja, in Hegel hat das Denken seine wesentliche Aufgabe gelöst" (1838, 101). Bestimmt werde es auch weiter Umgestaltungen der Philosophie geben, aber „das Wichtigste ist vorüber", „das Wesentliche bereits aufgedeckt" (ebd., 102, 130). Überaus hilfreich ist freilich, dass das Dritte im teleologischen Stufengang immer „überhaupt synthetisch" (Cieszkowski 1838, 137) ist, so dass die Historiosophie sich um das Eintreten der Synthese nicht zu sorgen braucht.
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mal nicht einfach mit einem Schlag in die Welt - eine sehr vernünftige Ansicht, die auch Marx vertritt, wie sich noch herausstellen wird - , sondern: „Das positive Gute, nämlich das wirklich Teleologische, hat der Weltgeist aus sich selbst zu entwickeln." (Ebd., 149) Was aber diesen speziellen Fortschrittsbegriff in Wirklichkeit ausmacht, ist etwas ganz anderes: Da ist erstens (wie man dem zuletzt zitierten Satz entnehmen kann) die Vermischung von teleologischem und immanenten Entwicklungsmodus zu nennen. Teleologie bedeutet für Cieszkowski einerseits das absolut Absolute, die höchste Stufe, und also das Ziel der Entwicklung. Gleichzeitig wird von diesem Ziel behauptet, es werde von den jeweils gegebenen Gegensatzverhältnissen hervorgebracht. Der geschichtsphilosophische Finalnexus wird hier also recht dreist als die Lehre von der immanenten Selbstbewegung des Geschichtsprozesses dargestellt. Hier ist offensichtlich Cieszkowskis Wunsch, die Menschheit möge zukünftig nicht mehr im Zustand einer qualitativ weniger wertvollen Einseitigkeit leben, der Vater des Gedankens. Alles soll sich in seiner ganzen Bandbreite und nach allen Seiten entfalten: die Allseitigkeit des Lebens wird hier zum praktischen Zweck der Geschichte erhoben. (Marx hat mit der Selbstbetätigung der emanzipierten Produzenten eine vergleichbare Vorstellung, auf die ich im sechsten Kapitel näher eingehen werde.) Allein, warum die „grosse Aufgabe" der Zukunft ausschließlich darin bestehen soll, „alle einseitigen und sich einzeln offenbarenden Elemente des Lebens der Menschheit organisch zu fassen", warum also „die Idee des absoluten Guten und der absoluten Teleologie" (ebd., 29f.) ausgerechnet darin bestehen soll, in einem blühenden Ganzen unter der exklusiven Alleinherrschaft des versöhnlichsten Einvernehmens aller seiner Bestandteile aufzugehen, das nicht die geringste Spur von Einseitigkeit an sich haben darf, leuchtet nicht ein. Cieszkowski begründet nicht, dass die Verbesserung genau so und nicht anders aussieht. Die Prolegomena beweisen nicht den Fortschritt des Geistes als der Menschheit' allgemeines, beständiges Fortschreiten in Richtung auf ihre zukünftige Freiheit. Sie sind vielmehr der schriftliche Ausdruck des Vorurteils eines streng teleologischen Denkers gegen alles Einseitige, Extreme, Gegensätzliche. Dieses Vorurteil ist keineswegs originell. Originell ist, dass es uns in Form der Historiosophie als eine historische Dialektik dargeboten wird - als Dialektik des Fortschritts.
b.
Das Konfliktmodell des Fortschritts bei Moses Heß
Moses Heß (1812-1875) ist bis ungefähr zur Brüsseler Zeit ein Mitstreiter von Marx und Engels. Zusammen mit anderen Frühsozialisten wie Grün vertritt er eine Strömung, die Marx und Engels abschätzig als .wahren Sozialismus' bezeichnen. Im dem kurzen Abschnitt II. 4. der Deutschen Ideologie verteidigen sie Heß zwar noch gegen Bruno Bauers kritische Bemerkungen, vergessen dabei jedoch nicht anzumerken, dass es ansonsten zwischen ihren Positionen und denen Heß' keine Deckung mehr gibt. Moses Heß wird nachhaltig von Cieszkowski beeinflusst. Gleich zu Beginn seiner Europäischen Triarchie stellt er fest, dass der unermesslich „geistvolle Cieszkowski"
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(1841, 79) den Durchbruch in eine neue Zeit verkörpert. Die deutsche Philosophie habe ihre „Sendung" erfüllt, „sie hat uns in alle Wahrheit geführt. Jetzt müssen wir Brücken schlagen, die wieder vom Himmel zur Erde führen". (Ebd., 77) n Heß teilt also ein Grundanliegen sowohl Cieszkowskis als auch der linken Hegelschule: die Tatwerdung der Philosophie oder, anders ausgedrückt, die praktische Realisierung der von der Philosophie bereits erfassten Wahrheiten. Nur muss, das legt vor allem die Untersuchung Kandas (2003) nahe, der Hegelianische Einfluss auf Heß viel differenzierter dargestellt werden, als dies bisher geschehen ist.12 Zu Beginn seiner schriftstellerischen Karriere versteht sich Heß als Jünger Spinoza's' (zum Beispiel im Titel der Heiligen Geschichte der Menschheit von 1837) und versucht noch ganz ohne Zuhilfenahme der Hegeischen Philosophie, Gott in der Geschichte zu finden, um diese als Heilsgeschehen darstellen zu können. Der junge ,Jünger' verfügt jedoch bereits über ein finalistisches Konfliktmodell des Fortschritts und der Geschichtsentwicklung, wonach die Geschichte der Menschheit ein organischer Prozess ist, der zwar in seinem Verlauf durch soziale Ungleichheit und die stufenweise immer wiederkehrende Zwietracht gekennzeichnet ist, der aber letztendlich in einem Heilszustand enden wird. Bevor sie diesen Telos der vollendeten Harmonie erreicht, muss die Menschheit bedauerlicherweise erst die unangenehmen Kämpfe und die Zerrissenheit des antithetischen Stadiums überstehen. In dieser Periode herrsche „der hartnäkkigste Kampf in mannigfachen Abstufungen, den die Menschheit in sich selbst auszukämpfen hatte" (1837, 28). Bis es endlich soweit ist, dass alle Lebens- und Bewusstseinsformen friedlich miteinander existieren können, „herrscht in der lebendigen, stets fortschreitenden Natur, bis zur vollendeten Menschheit hin Zwiespalt und Kampf. In der gegenwärtigen Periode sehen wir diesen Zwiespalt und Kampf." (Ebd., 29) Die Gegenwart sei daher eine bloße „Übergangsperiode" (ebd., 64), eine Periode, die hinführt zum letzten Staat, zum Gottesreich, wo alle Zwietracht und Ungleichheit ein Ende nimmt, und wo „die Humanität zu fördern" (ebd., 66) der einzige Zweck sein werde. Dieses neue Reich sei ein Reich der Wahrheit und damit nichts Geringeres als die Wiedergeburt des heiligen jüdischen Staates: „das neue Jerusalem" (ebd., 65). Die unzweifelhaft eschatologische Tendenz der frühen Heßschen Geschichtsphilosophie kommt in der handschriftlichen Version der Heiligen Geschichte besonders krass zum Ausdruck. Heß behauptet, er wolle „nicht zu denjenigen gehören, die nur, wie Kinder, über das Übel schreien, das sie drückt, ohne für die Heilung desselben zu sorgen", und so hebe er „neben der uns bevorstehenden Not auch zugleich das „Mittel zur Rettung hervor." (Zit. n. Rosen 1983, 13) Unter diesem Gesichtspunkt versucht
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Die Europäische Triarchie ist maßgeblich von Cieszkowski beeinflusst. Bei der Ausarbeitung des Textes setzt sich Heß im Frühling 1840 erstmals intensiv mit den Prolegomena auseinander (siehe Kanda 2003, 161). Avineri bezeichnet Heß sogar als „Cieszkowski's disciple" (1971, 133). Dieser Einfluss macht sich erst nach der Heiligen Geschichte 1837 bemerkbar, und dann speziell in der Europäischen Triarchie von 1841. Die Blütezeit des Junghegelianischen Einflusses auf Heß fällt ungefähr in die Zeit von 1840 bis 1843. Bis zum Beginn seines Studiums Mitte 1837 hat Heß vermutlich keine Kenntnis der Hegeischen Philosophie (siehe Kanda 2003, 143, 148, 150, 170, besonders Fn. 152, 174f.).
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die Heilige Geschichte „Ordnung in das Chaos zu bringen", und „die Weltgeschichte in ihrer Ganzheit und Gesetzmäßigkeit aufzufassen." (Heß 1837, 42) Heß nimmt damit gewissermaßen Cieszkowskis historiosophische Vorstellung von Geschichte als wirkliche, die Zukunft einschließende Totalität vorweg. Diese Totalität weist außerdem - auch darin ähnelt die Heilige Geschichte Cieszkowskis Prolegomena eine Dreistadiengliederung auf. „Was in der Zeit geboren wird, entwickelt sich in drei Perioden. In der ersten keimt es, ist einig und lebt innerlich, das ist des Lebens Wurzel. In der zweiten treibt es ist gespalten und lebt äußerlich, das ist des Lebens Krone. In der dritten gedeiht es, einigt sich wieder und reift, das ist des Lebens Frucht." (Ebd., 15) Einheit - Spaltung - Wiedervereinigung: der Dreischritt bildet schon beim Spinozistischen Heß den Kerngedanken eines universalistischen Konfliktmodells des Fortschritts. Ist Heß dann erst einmal unter die Hegelianer gegangen, modifiziert er seine Heilsgeschichte und sein Konfliktmodell dementsprechend. Wie schon Cieszkowski vor ihm, will nun auch er Hegel überschreiten und praktisch machen. In der Europäischen Triarchie fasst er die Weltgeschichte dialektisch als den Entstehungsprozess der „absoluten Geistesthat" der deutschen Philosophie. Mit dieser ende der Prozess jedoch nicht, sondern sie richte sich durch ihre eigene Logik selbst zugrunde: „Indem sie sich in sich vertieft, begreift sie sich am Ende als die absolute Einheit aller Unterschiede, womit die Vermittlung nothwendig aufhören und die That wieder beginnen muß." (1841, 78) In letzter Konsequenz ist nicht ausschlaggebend, ob Heß nun ein Spinozistisches, ein dialektisch-tatphilosophisches oder ein wie auch immer benanntes Konfliktmodell des Fortschritts entwirft. Relevant ist er im Zusammenhang mit der Rekonstruktion der Entstehung eines spezifisch Marxschen Fortschrittsbegriffs ganz einfach deshalb, weil er den im Gegensatz sich bewegenden Menschheitsfortschritt politisch viel radikaler und theoretisch ausdrücklicher noch als Cieszkowski in das Geschichtsziel einer universellen Versöhnung münden lässt, das den Zielvorstellungen des jungen Marx nicht ganz unähnlich ist. Der Wunsch nach universeller Versöhnung, dieser allgemeine Zug der teleologischen Geschichtsauffassung, wird im Heßschen Konfliktmodell des Fortschritts sogar ganz unverhohlen vorgetragen. Heß ist außerdem interessant, weil auch die sich aus seiner an Feuerbach (einem weiteren wichtigen Einfluss) geschulten Entfremdungstheorie ergebende Behauptung, die Menschen stünden bis zur Erreichung dieser ihrer Bestimmung (also bis zum Abschluss der menschlichen Vorgeschichte) noch auf der Tierstufe .unterhalb' ihres eigenen Wesens, doch sehr stark an den jungen Marx erinnert. In der Deutschen Ideologie verwenden Marx und Engels sogar die gleiche terminologische Kennzeichnung dieser Bestimmung als Selbstbetätigung'/,Selbsttätigkeit' (mehr dazu im sechsten Kapitel). Die Heßsche Geschichtsteleologie wird in einem kurzen, 1845 für die Zeitschrift ,Neue Anekdota' verfassten Aufsatz mit dem Titel Fortschritt und Entwicklung' besonders deutlich. Hier unterscheidet Heß zwei Arten der Entwicklung: „eine Entwicklung zu seinem Wesen hin - Fortschritt im gewöhnlichen Sinne - ; und eine Selbstentwick-
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lung, Selbsterzeugung, Selbstbethätigung des Wesens. Mit anderen Worten: Entstehung und Erzeugung." (1845a, 281) Die zweite Entwicklungsart, die (Selbst)Erzeugung, sei das eigentliche Ziel der menschlichen Entwicklung. Nur ist sie, im Gegensatz zur Entwicklung der rein körperlichen Wesen, noch im Stadium der ersten Entwicklungsform der .Entstehung' (des Fortschritts) befangen. „Die Welt des Geistes aber, die Menschheit als selbstbewußte Gattung, ist noch nicht organisirt. Ihre Entwicklung ist noch keine Selbstentwicklung, keine Selbsterzeugung, kein Gattungsakt·, es ist vielmehr noch der Entstehungsprozeß, in welchem die Menschheit sich befindet." (Ebd., 282) Solange die Menschheit sich im Stadium dieses .Fortschritts' befindet, ist sie in ihrer Entwicklung noch nicht an ihre eigentliche Bestimmung herangereift, steht also noch unterhalb ihres eigentlichen Wesens - sie ist noch nicht am Ziel, ist noch nicht perfekt. Glücklicherweise wird sie auf dieser Stufe nicht lange verharren müssen. Denn: „Die Menschheit ist aber eben im Begriffe, aus der ersten Entwicklungsart, aus ihrer Entstehungsgeschichte, in die zweite, zur Selbstthätigkeit überzugehen." (Ebd., 283) Die Entstehungsgeschichte (also der Fortschritt) hat mit dem eigentlichen, wahren und wesensgemäßen Menschen ein klar umrissenes, objektives Ziel. „Summa Summarum: Der Mensch ist das höchste, daher letzte Wesen der Erde; das Beste kommt immer zuletzt." (Ebd., 284) Mit diesem Entwurf steht Moses Heß also auf dem Standpunkt der Perfektibilität der Menschheit auf der Grundlage des Reifeparadigmas und der Bestimmungsteleologie. Trotzdem ist er nicht bereit, den unweigerlichen Aufstieg des Menschen als eine reibungslose gradlinige Entwicklung darzustellen. Daher bestätigt Moses Heß die relative Komplexität, welche das traditionelle Konfliktmodell des Fortschritts der gleichförmiglinearen Vorstellung von Fortschritt voraus hat. „Das charakteristische Merkmal dieses Prozesses ist der Widerspruch innerhalb des Wesens, der Kampf seiner Elemente. Wie in der Entstehungsgeschichte der Erden Naturrevoluzionen stattgefunden haben, so finden auch in der Geschichte der bewussten Gattung, in der Menschheit, Kämpfe und Revoluzionen statt. Hier wie dort kämpfen die noch nicht gebundenen und verbundenen Kräfte, die entfesselten Elemente, um ihre Existenz in der Gattung. Die Kämpfe während der Entstehung eines Wesens sind Kämpfe um die Existenz des Wesens selbst. So lange ein Wesen noch im Streben nach den Mitteln oder den Bedingungen seiner Existenz begriffen ist, kann es nicht zur freien Selbstbethätigung, zur Selbsterzeugung kommen." (Ebd., 282) An dieser Passage wird deutlich, dass es sich beim traditionellen Konfliktmodell keineswegs um ein ,naives' Fortschrittsdenken handelt. Es beruht sogar auf einem ausgeprägten Bewusstsein für den Gegensatzcharakter der Geschichtsentwicklung, welche die negative, nicht-fortschrittliche Seite immerhin zu berücksichtigen versucht. Doch diese Bemühungen sind letztendlich vergebens, da der Fortschritt gleichzeitig als ein Universalphänomen im Sinne eines Kollektivsingulars begriffen wird. Und das heißt, dass die Geschichte im Ganzen die Bedeutung eines Verbesserungsprozess hat. Da, wie Heß sagt, das .charakteristische Merkmal dieses Prozesses' nun aber der ,Widerspruch' ist (der ,Kampf seiner Elemente'), ist dieser Widerspruch ein ebenso charakteristisches
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Merkmal des Fortschritts. .Fortschritt' bezeichnet daher einen Prozess, der singular, ganzheitlich-universal und kontradiktorisch zugleich ist. Fortschritt ist folglich: Fortschritt-als-Gegensatz. Die Erreichung des Endpunktes dieses Prozesses, der ja seinerseits eine bloße Vorstufe unterhalb der angestrebten ,Erzeugung' ist, stellt Heß nun als die Nivellierung eben jenes charakteristischen Merkmals der Widersprüchlichkeit dar: als eine großangelegte Harmonisierung. Denn der Zweck des Kampfes, das Umstrittene, ist nichts weniger als die Realisation der Bestimmung und des Wesens der Menschen jenseits dieses Kampfes der ,Elemente', der sowieso von Beginn an auf seine eigene Befriedung hin angelegt ist. Der Zweck des Kampfes ist die Herstellung des Wesens - aber als Einheit: „Was [die Gattung im Entstehungskampf] zu erwerben sucht, ist nichts Anderes, als ihr eignes Wesen, ihre Einheit." (Ebd., 283) Fortschritt bedeutet: das Werden einer Einheit, in der aller Widerstreit ein für alle Mal beigelegt werden kann: „Die bewusste Gattung, die Menschheit, wird es ... zur Vollkommenheit, zum Gattungsakt, zur freien Selbstthätigkeit bringen. Sie wird nicht immer im Kampf und Widerspruch und Haß, sie wird auch einmal in der Liebe leben." (Ebd., 284) Was hier in aller Deutlichkeit zum Vorschein kommt ist nicht, wie manchmal behauptet wird, die Naivität, sondern die charakteristische Inkonsequenz des traditionellen Konfliktmodells und der darauf basierenden Auffassung von Fortschritt. Ich meine die Inkonsequenz dieses Denkens hinsichtlich des Konfliktcharakters der Geschichtsentwicklung, da ja mit der Durchsetzung und Einholung der als Geschichtsziel vorausgesetzten Bestimmung der Gattung doch alle Gegensätzlichkeit in eine höchste Stufe aufgehoben wird. Es ist ein typischer Zug aller Geschichtsteleologie, dass sie den Fortschritt derart als eine versöhnliche Struktur auslegt und man ist gut beraten, sie deshalb in erster Linie als ein um Einheit bemühtes Denken anzusehen. Konsequent ist das traditionelle Konfliktmodell also nicht hinsichtlich des von ihm angegebenen Bewegungscharakters der Entwicklung, sondern ausschließlich hinsichtlich der Qualität der Entwicklung. Mit anderen Worten: Das traditionelle Konfliktmodell leidet unter einer mangelhaften Ausbildung der formalen Seite seines Fortschrittsbegriffs. Man konzentriert sich auf die inhaltliche Seite: auf das Ziel, auf den Höhepunkt, dem die Menschheit entgegenstrebt und den sie schließlich erreichen wird. Beispielsweise entwickelt sich Heß' Denken aufgrund einer Vielzahl von intellektuellen Einflüssen über die Jahre unzweifelhaft weiter. Das bedeutet, dass sich die Inhalte seiner Heilsvorstellung verändern. Aber ein Infragestellen des Heilsgeschehens selbst findet (anders als bei Marx) nicht statt. Schlägt der Kampf und die Not für den Jünger Spinozas noch um in das neue Jerusalem als „das letzte Ziel des sozialen Lebens" (1837, 153), so sieht der Frühsozialist und Feuerbachianer die „Bestimmung des Menschen" in der „allseitige [n] Entfaltung seines Gattungslebens" bzw. in der ,,organisirte[n] Gesellschaft" (1844, 277). Von der heißt es dann, sie sei „die reife Frucht der menschlichen Entwickelung" (1845b, 347f.). Bald schon werde „der socialen Thierwelt ... die letzte Stunde schlagen." (Ebd., 348) Die Zeitspanne des Kampfes und des Zwiespaltes bis zur Einholung der als final vorausgesetzten Bestimmung des Menschen wird also als entfremdete Vorgeschichte regelrecht geringgeschätzt. Sie ist
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die bloße Entstehungsgeschichte des humanen Wesens oder der Menschheit" (ebd., 332). Erst der Kommunismus bringt Entlastung, er bildet nämlich den „Schluß der Entstehungsgeschichte der Gesellschaft" (1845c, 352). Aber, beteuert Heß, dieses „Ziel" solle „keineswegs das Ende, sondern der Anfang echt menschlicher Thätigkeit" (1844, 277) sein. Im Fortschrittsdenken von Moses Heß spielt das kommunistische Ideal daher die Rolle eines Endzieles, das nicht als Endpunkt verstanden werden soll. Diese paradoxe Rolle spielt es, obwohl Marx dies durch aufwändige Formulierungen zu kaschieren versucht (wie ich gleich zeigen werde), auch in den Ökonomischphilosophischen Manuskripten, die deshalb stellenweise stark an Heß erinnern. Die Schriften Cieszkowskis und Heß' zeigen, dass ein derartiger Abschluss recht einfach herbeizuführen ist, indem man sich entweder einen Begriff von der wesensgemäßen Bestimmung ,der Menschen' macht, und/oder indem man ihn .dialektisch' qua Negation der Negation (also als Synthesenabfolge) aus den historischen Gegensätzen .ableitet'. Ausgerechnet dieses Programm wird immer wieder in Beziehung zur Marxschen Theorie gesetzt - so, als sei das ihre größte Leistung oder jedenfalls ihr vorrangigstes Bestreben. Ist dieser Schritt erst einmal getan, dann lässt sich Marx natürlich mit Leichtigkeit ein solcher .dialektischer' Fortschrittbegriff (Fortschritt-als-Gegensatz) oder eine solche ,dialektische' Auffassung vom Stufengang der Geschichte nachweisen. Und es gibt in der Tat mit den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus der Zeit des Pariser Exils ein Dokument, in dem auch Marx ganz überschwänglich von der Lösung der Rätsel der Geschichte spricht. Mit diesem Wunsch nach der Beilegung der sozialen Kämpfe und des menschlichen Leides - also nach universeller Versöhnung leistet Marx aber keine dialektische Neubegründung des Fortschrittsbegriffs, sondern er gehört damit während seiner intellektuellen Formierung in der ersten Hälfte der 1840er Jahre zum Mainstream seines aus Hegelianern und Frühsozialisten bestehenden Umfeldes.
3.
Junghegelianisch geprägtes Fortschrittsdenken bei Marx: die Pariser Manuskripte (1844)
In den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 verfolgt Marx nach eigenen Angaben „eine ganz empirische, auf ein gewissenhaftes, kritisches Studium der Nationalökonomie gegründete Analyse" (MEGA 1/2, 325 bzw. 317).13 Von besonderer Bedeutung für das Marxsche Fortschrittsdenken sind die Manuskripte vor allem deshalb, weil sie nicht allein die Lohnarbeit, die Arbeitsteilung oder die Verelendung, son13
Ich zitiere immer zuerst die .Zweite Wiedergabe' der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte, der die logische Struktur des Textes zugrunde liegt, und gebe dann zusätzlich die entsprechende Seitenzahl der .Ersten Wiedergabe' an, die so geordnet ist, wie Marx die einzelnen Textstücke mit großer Wahrscheinlichkeit niedergeschrieben hat. Vgl. die editorischen Hinweise in MEGA
1/2, 57*.
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dem die Entfremdung der Arbeiter zu einem nationalökonomischem „Factum" (Ebd., 364f. bzw. 235) erklären, das im Kommunismus zu überwinden sei. Aus dieser Vermischung von ökonomischen Themen mit der philosophischen Anthropologie und der Vorstellung von einer besseren Gesellschaftsordnung ergibt sich eine für Marx untypische geschichtsphilosophische Problemlage, in der die außerordentliche Wirkung dieses Textes begründet ist. Marx selbst ist sich dieser Vermischung wohl nicht wirklich bewusst. Er gibt an, sich „über das Niveau der Nationalökonomie" zu „erheben", um zwei wesentliche Fragen zu beantworten: „1) Welchen Sinn, in der Entwicklung der Menschheit, hat diese Reduction des größten Theils der Menschheit auf die abstrakte Arbeit? 2) Welche Fehler begehn die Reformatoren en détail, die entweder den Arbeitslohn erhöhn und dadurch die Lage der Arbeiterklasse verbessern wollen oder die Gleichheit des Arbeitslohns (wie Proudhon) als den Zweck der socialen Revolution betrachten." (Ebd., 333 bzw. 208) Schon auf den ersten Seiten der Manuskripte verrät Marx also sein wirkliches Anliegen: Erstens sucht er eine Antwort auf die Frage nach dem ,Sinn' der Entfremdung. Dabei beschränkt er sich nicht auf eine bestimmte historische Periode oder Gesellschaftsform, sondern er nimmt sich gleich der Entwicklung der Menschheit' an. Zweitens will er einen Weg finden, wie die fehlerhaften Verbesserungsstrategien der philanthropischen Reformer (besonders die Proudhons) umgangen, und wie der Arbeitslohn als Streitpunkt komplett aus dem revolutionären Programm der jungen sozialistischen Bewegung gestrichen werden kann. Das also sind die Beweggründe der Kritik der Nationalökonomie im Pariser Exil im Sommer 1844.
a.
Teleologie - der Kommunismus als Geschichtsziel, das keines sein soll
Ich werde mich im Folgenden auf die Antwort konzentrieren, die Marx sich auf seine erste Frage gibt. Er belässt es ja nicht beim bloßen ,Faktum' der Entfremdung. Er will wissen, wie der Mensch dazu kommt, „seine Arbeit zu entäussern, zu entfremden? Wie ist diese Entfremdung im Wesen der menschlichen Entwicklung begründet?" Dies sei eine Frage „nach dem Verhältniß der entäusserten Arbeit zum Entwicklungsgang der Menschheit" (Ebd., 374 bzw. 246). So konzipiert Marx die Entfremdung in diesem Dokument als ein Problem von universalhistorischer Tragweite.14 Dafür gibt es freilich keinen zwingenden Grund; er hätte die Entfremdung ebenso gut als ein spezifisches
14
Den Pariser Manuskripten liegt sehr deutlich eine universalhistorische Perspektive zugrunde. Rohbecks These, Marx verstehe unter Entfremdung „kein überzeitliches Verhängnis" und beziehe den Begriff statt dessen „auf die historisch gewordene und bestimmte Gesellschaftsform des Kapitalismus" (2006, 51, vgl. 53, 130), ist darum meines Erachtens im Blick auf diese Schrift nicht haltbar.
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Problem der bürgerlichen Gesellschaft behandeln können, ohne sie auf diese allgemeine Ebene zu heben. Die Sache selbst hätte sich dadurch nicht weniger furchteinflößend ausgenommen, und Marx hätte sie immer noch aufheben können. Wird die Entfremdung aber als ein Faktum von menschheitsgeschichtlichem Ausmaß postuliert, dann legt das den Versuch einer geschichtsphilosophischen Sinndeutung dieses kolossalen Zusammenhangs nahe. Und genau das unternimmt Marx, indem er seinen ökonomischen Analysen mit Hilfe des Kommunismusbegriffs eine Konstruktion des historischen Gesamtprozesses nach dem Maßstab des Fortschritts hinzufügt. Im Manuskript von 1844 laufen also zwei Prozesse nebeneinander her: die kritische Analyse einer besonderen Theorie (Nationalökonomie) und die kreative Setzung eines Geschichtszieles. All das geschieht, obwohl die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte eine deutliche Absage an die Geschichtsteleologie enthalten. Marx sagt ganz unmissverständlich, dass er den Kommunismus nicht als Geschichtsziel verstanden wissen will: „Der Communismus ist die Position als Negation der Negation, darum das wirkliche, für die nächste geschichtliche Entwicklung nothwendige Moment der menschlichen Emancipation und Wiedergewinnung. Der Communismus ist die nothwendige Gestalt und das Energische Prinzip der nächsten Zukunft, aber der Communismus ist nicht als solcher das Ziel der menschlichen Entwicklung". (Ebd., 398f. bzw. 274f.) Trotz der Bekundung, der Kommunismus sei kein End- sondern ein Etappenziel, wird Fortschritt in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten teleologisch gedacht. Und das nicht etwa, weil hier mit der Negation der Negation eine Logik angenommen wird, von der man sich die Notwendigkeit eines bestimmten Geschichtsverlaufs erwarten darf. Die Negation der Negation ist für sich genommen noch kein Garant für das Erreichen irgendeines vorausgesetzten Geschichtszieles. Das Problem besteht also nicht darin, dass das formale Konzept der Negation der Negation nicht mit der Ziellosigkeit der Bewegung kombiniert werden kann. 1844 ist Marx' Fortschrittsdenken ein teleologisches Denken, insofern die Geschichte im Sinne der Bestimmungsteleologie als das Werden der Gattung gedacht wird, die im Prozess der Überwindung der Entfremdung besteht. Dies verrät uns die zitierte Passage mit den Wörtern .Wiedergewinnung', und .Ziel', durch welche die Beteuerung zum Gegenteil - ,Hier wird kein ideales Geschichtsziel ausgerufen!' - zunichte gemacht wird sowie sie ausgesprochen ist. (Das Gleiche gilt für Cieszkowski: auch die Historiosophie ist teleologisch aufgrund des von ihr bereits im Voraus gewussten und als Zweck postulierten Absoluten als Hauptschluss des Universums - nicht aufgrund der von ihr angenommenen dialektischen Bewegungsform.) Der Menschwerdungsprozess wird nur zum Schein qua Negation der Negation immanent vorangetrieben. In Wirklichkeit gibt Marx sich auf seine Frage nach dem Sinn der Entfremdung im Wesensgang der Menschheit genau die Antwort, die er hören will: Die Entfremdung ergibt Sinn, insofern sie der Geschichtsentwicklung ein Prinzip aufnötigt, welches diesen unmenschlichen Zustand in der Zukunft aufhebt. Offensichtlich kann Marx sich in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten nicht damit abfinden, dass die Negation der Negation bloß der theoretische Ausdruck der Bewegungsform ist, als
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die er selbst sie zunächst richtig erkennt. Er will dem noch etwas hinzusetzen, das der Bewegung einen Inhalt gibt und ein Ziel setzt und ihr somit die Richtung weist. Dass sein Fortschrittsdenken in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten noch mit Teleologie behaftet ist, liegt nicht daran, dass die Widerspruchsstruktur der Negation der Negation grundsätzlich teleologisch ist, sondern dass sie zur Grundlage der idealen Zwecksetzung gemacht wird. Den gesellschaftlichen Hauptwiderspruch siedelt Marx im Herzen der entfremdeten Arbeit an: „Aber die Arbeit, das subjektive Wesen des Privateigenthums, als Ausschliessung des Eigenthums und das Capital, die objektive Arbeit als Ausschliessung der Arbeit ist das Privateigenthum als sein entwickeltes Verhältniß des Widerspruchs, darum ein energisches, zur Auflösung treibendes Verhältniß." (Ebd., 386 bzw. 260) Dazu kann es aber erst im Kommunismus kommen. Den kennt Marx in insgesamt fünf verschiedenen Gestalten (siehe ebd., 387ff.), und einiges spricht dafür, dass er ihn eben nicht nur als .notwendiges Moment' denkt, sondern dass er ihn auch als den zukünftigen finalen Zustand der absoluten Versöhnung voraussetzt. Wie soll man sonst folgende Behauptung verstehen?: In seiner zweiten Gestalt „weis sich" der Kommunismus „schon als Reintegration oder Rückkehr des Menschen in sich, als Aufhebung der menschlichen Selbstentfremdung" (ebd., 389 bzw. 263). Darum sei er in seiner dritten Gestalt die „wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichthums der bisherigen Entwicklung gewordne Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Menschen. Dieser Communismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreits des Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbetätigung, zwischen Freiheit und Nothwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Räthsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung." (Ebd., 389 bzw. 263) Die Geschichte ist der Prozess der Menschwerdung, und das Ziel der Menschwerdung ist der Kommunismus: „die ganze Bewegung der Geschichte ist daher ... die begriffne und gewußte Bewegung seines Werdens" (ebd., 389 bzw. 263). Die Nähe zur Historiosphie Cieszkowskis ist (von der kommunistischen Motivation einmal abgesehen) verblüffend. Etwas, das sich selbst weiß, noch bevor es überhaupt existiert, kann aber nur im Sinne von Potenz als ein im Entwicklungsprozess Angelegtes existieren. So verweist es auf die ursprüngliche teleologische Bedeutung des Wortes .Entwicklung': auf das ,Eingewickeltsein' des vorausgesetzten Zweckes oder Zieles im Ausgangszustand. Es verhält sich sogar zwingend so, dass der Kommunismus in diesem Text einen finalen Charakter hat, weil Marx die ,Auflösung' und .Aufhebung' der nachteiligen Verhältnisse und die darauf folgende .Rückkehr' und .Wiedergewinnung' des Menschen so versteht, dass sie die gegensätzliche Bewegung beendet. Läutet der Kommunismus nämlich tatsächlich die Aufhebung schlechthin aller verabscheuungswürdigen gesell-
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schaftlichen Gegensätze ein, dann kann es - auf der Grundlage der Bewegungsform, die Marx selbst zugrunde legt - nach seiner Erreichung keine weiteren Fortschritte geben, weil damit das treibende Moment der Bewegung selbst (die Widerspruchsstruktur der Negation der Negation) aufgelöst wird. Also hat die Geschichte einen Zweck außer sich selbst: sie ist lediglich der „Zeugungsakt" oder der „Geburtsakt" des „empirischen Daseins" (ebd., 389 bzw. 263) der Menschwerdung im Kommunismus. Das Teleologieproblem lässt sich nicht einfach aus der Marxschen Theorie wegdiskutieren. Als Ziel kann der Kommunismus freilich etwas Dauerhaftes sein (Marx behauptet nicht, er läute das Ende der historischen Zeit ein). Trotzdem bleibt er in theoretischer und in qualitativer Hinsicht etwas Finales: die letzte und höchste Stufe des Entwicklungsgangs. Um zu verstehen, warum Marx 1844 so denkt, muss man einen Blick auf eine Besonderheit seiner Hegelkritik werfen: die darin enthaltene Kritik von Feuerbachs Verhältnis zur Hegeischen Dialektik.
b.
Marx' Rezeption der Phänomenologie des Geistes: Historisierung der Dialektik
Der junge Marx schreibt der Phänomenologie des Geistes eine viel größere Bedeutung zu als Hegel selbst. In den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten schreibt er, die Phänomenologie sei die „wahre Geburtsstätte" und das „Geheimnis der hegel'schen Philosophie" (ebd., 401 bzw. 277). Innerhalb des Hegeischen Systems hat die Phänomenologie jedoch eine ganz andere Stellung. Sie wird in Jena als erster, hinführender Teil des Systems konzipiert. Im fertigen System hat sie dann aber keine notwendige Funktion mehr. Trotzdem verleugnet Hegel sie keineswegs (wesentliche Teile werden in die Enzyklopädie aufgenommen, und die Phänomenologie wird mit Hegels Zustimmung in zweiter Ausgabe verlegt). Hegel beabsichtigt mit dieser Schrift vor allem die „Verschränkung der systematischen Entwicklung der Gestalten des Bewußtseins mit einer Geschichte des Geistes". (Arndt/Müller 2004, 7) Allerdings ist die Phänomenologie nicht im eigentlichen Sinne als eine Geschichte des Geistes konzipiert. In der Vorrede erwähnt Hegel die „ungeheure Arbeit der Weltgeschichte", die der Weltgeist unternommen habe, um das „Bewußtsein über sich" (1807, 33f.) zu erlangen. Diese Arbeit wird jetzt auch dem Individuum abverlangt, das seine Substanz begreifen will, auch wenn dies an sich schon vom Geist vollbracht sei. Es geht also für das Individuum darum, dass es sich - „in dieser Rücksicht" - dieses „bereits erworbene Eigentum des allgemeinen Geistes" aneigne, „daß es dies Vorhandene erwerbe" (ebd., 32f.). „Der Einzelne muß auch dem Inhalte nach die Bildungsstufen des allgemeinen Geistes durchlaufen, aber als vom Geiste schon abgelegte Gestalten, als Stufen eines Wegs, der ausgearbeitet und geebnet ist." (Ebd., 32) Die Arbeit des Geistes liegt also zum größten Teil bereits hinter der Phänomenologie und sie ist auch nicht deren eigentliches Thema. Es geht also nicht um die historische Konstitution der Resultate, sondern um ihre interne Reproduktion; es geht um die
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Geschichtlichkeit des sich selbst erfassenden Geistes, aber nicht um seine Geschichte (Arndt 2004, 253). Dessen ungeachtet verfolgt die Linkshegelianische Rezeption der Phänomenologie ihr ganz eigenes Interesse, indem sie eine geschichtsphilosophische Lektüre unternimmt: Die Phänomenologie des Geistes (deren ursprünglicher Titel .Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins' lautete) wird von den Linkshegelianern nämlich als Wissenschaft der Geschichte des Bewusstseins gelesen, an deren Ende der selbstbewusste Mensch als das Subjekt der Geschichte konstituiert ist (ebd., 249). Typisch sind in dieser Hinsicht Cieszkowskis Ausführungen: „Das Bewusstseyn ist nämlich bei Hegel das Alpha und Omega, von diesem leitet er das ganze System seiner Philosophie überhaupt ab, zu diesem sehen wir ihn hier den ganzen Process der Weltgeschichte hinführen, - und das ist übrigens das, was die grosse Bedeutung der Phänomenologie in der Geschichte der Philosophie selbst ausmacht [...] Darum ist das Bewusstseyn der specifische Kern der Hegeischen Philosophie; und obgleich seine Entwicklung selbst den ganzen Process der Geschichte in extenso begleitet, so fällt er doch erst bei Hegel intensiv mit sich zusammen." (1838, 96f.) Die Geistesphilosophie wird außerdem als eine historische Dialektik interpretiert. Nur geht diese Interpretation, mit ihrer These von der Selbsterzeugung des Menschen als historischer Dialektik, an der eigentlichen Problemlage des Buches vorbei (Arndt 2004, 254). Auch Marx verhält sich zum Text zunächst wie die anderen Linkshegelianer und folgt dem Programm einer Historisierung der Hegeischen Dialektik und der Anwendung dieser Dialektik auf Hegel selbst, so „daß Hegels Abschluß des Systems transzendiert und eine noch herbeizuführende, höhere Stufe der geschichtlichen Entwicklung aufgezeigt wird". (Ebd., 245) Eine Besonderheit der Marxschen Hegelrezeption ist allerdings, dass Marx einerseits das Historisierungsvorhaben mitmacht, während er der linken Hegelschule (besonders Bruno Bauer und David Friedrich Strauss) gleichzeitig eine völlig unkritische Einstellung zur Dialektik Hegels vorwirft (vgl. MEGA 1/2, 399 bzw. 275). Feuerbach sei „der einzige, der ein ernsthaftes, ein kritisches Verhältniß zur hegel'schen Dialektik hat und wahrhafte Entdeckungen auf diesem Gebiete gemacht hat"; ja, er habe „die alte Dialektik und Philosophie dem Keim nach umgeworfen" (ebd., 400 bzw. 276). Es gelte jetzt, ein kritisches Verhältnis zu Feuerbach selbst zu gewinnen, der zwar einerseits einen neuen Zugang zur Dialektik Hegels eröffnet habe, um ihn dann wieder zuzubauen (vgl. Arndt 2004, 246). Gleichzeitig stellen die Manuskripte von 1844 auch eine Ausweitung der Feuerbachschen Entfremdungsthematik dar. Marx will die Entfremdung nicht mehr nur auf Bewusstseinsfragen angewandt wissen (das heißt auf die Religion als das entfremdete Bewusstsein), sondern auch auf einen anderen, ihm umfassender erscheinenden Bereich - auf das ökonomische Leben. „Die religiöse Entfremdung als solche geht nur in dem Gebiet des Bewußtseins, des menschlichen Innern vor, aber die ökonomische Entfremdung ist die des wirklichen Lebens" (MEGA 1/2, 390 bzw. 264).
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Trotzdem er also diese .wirkliche' Entfremdung übersieht, habe Feuerbach eine „grosse That" vollbracht. Marx fasst zusammen: Feuerbach zeige erstens, dass Philosophie nichts anderes ist „als die in Gedanken gebrachte und denkend ausgeführte Religion". Er begründe zweitens den „wahren Materialismus" und die „reelle Wissenschaft", indem er das Verhältnis des Menschen zum Menschen zum Grundprinzip seiner Theorie macht. Drittens habe er der Negation der Negation „das auf sich selbst ruhende und positiv auf sich selbst begründete Positive entgegengestellt" (ebd., 400 bzw. 276). Mit dem letzten Punkt ist das schlechthin Unmittelbare gemeint, das, was selbst unmittelbar die Affirmation ist und deshalb keines Beweises bedarf - denn der Beweis wäre wiederum eine vermittelte Bewegung mit der Negation der Negation als Grundfigur (Arndt 2004, 247). Feuerbach will also ein radikal Neues, das Neue auf eigener Grundlage, das Neue als glatter Bruch mit dem Alten - nicht das Neue als Resultat von etwas Anderem, das ihm vorausgeht und zugrunde liegt. Feuerbach glaubt Anfang der 1840er Jahre an der Schwelle zu einer neuen Zeit zu leben. Diese charakterisiert er in dem nachgelassenen Fragment Grundsätze der Philosophie: Notwendigkeit einer Veränderung wie folgt: „An die Stelle des Glaubens ist der Unglaube getreten, an die Stelle der Bibel die Vernunft, an die Stelle der Religion und Kirche die Politik, an die Stelle des Himmels die Erde, des Gebetes die Arbeit, der Hölle die materielle Not, an die Stelle des Christen der Mensch." (1996, 124) Für die bisherige Philosophie bedeutet das: „Die Philosophie im Sinne der Theologie ist erschöpft, ist aus." (Ebd.) Praktisch ist der Mensch schon längst an die Stelle des Christen getreten, und diese veränderte Situation bedarf nun einer neuen Philosophie, die auch theoretisch das menschliche Wesen an die Stelle des göttlichen treten lässt: „Kurz wir müssen, was wir sind bereits, was wir erst werden wollen, in ein höchstes Prinzip [den Atheismus], ein höchstes Wort zusammenfassen." (Ebd.) Nach dieser Auffassung sind die Menschen also praktisch bereits das, was sie theoretisch erst noch werden sollen: die Schöpfer der religiösen Vorstellungswelt, die ihnen bislang als fremde Macht gegenüberstand. In diesen Gedanken wird man dann aber hineinlesen dürfen, dass der Weg zum Neuen für Feuerbach vor allen Dingen die nachholende theoretische Bestandsaufnahme des praktisch bereits Gegebenen bedeutet. Außerdem ist Feuerbachs Auffassung vom fortschrittlichen Übergang in das Neue nicht ganz unproblematisch, wenn sie nicht sogar widersprüchlich ist. Denn neu auf eigener Grundlage kann das Neue inhaltlich freilich gar nicht sein, sollte es tatsächlich die Realisierung dessen sein, ,was wir sind bereits'. Feuerbach versucht also, uns die Wiederherstellung des wahren menschlichen Subjekts, das immer schon potentiell vorhandenen war, als etwas radikal Neues zu verkaufen. Mit dem Zusatz, dass diese Wiederherstellung sich maßgeblich von dem Hegeischen Schema der Negation der Negation unterscheidet, an welchem Marx 1844 festhalten will. In der Zukunft sieht Feuerbach wie gesagt ein radikal Neues auf der Grundlage der widerspruchslosen Negation. Die widerspruchslose Negation ist Feuerbachs Alternative zur bestimmten Negation Hegels (die er als Negation vom Standpunkt des Negierten
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aus versteht). Sie bezeichnet allerdings den „Übergang zu einem unmittelbar auf sich selbst gegründeten Positiven. Sie ist nicht immanente Negation vom Standpunkt des Negierten, sondern Negation des Alten vom Standpunkt des Neuen." (Arndt 2005, 34) Das Neue soll nicht mehr ein Moment des Alten sein, wie das bei der Negation vom Standpunkt des Negierten der Fall ist. Das Neue soll prinzipiell und auch dem Namen nach ein noch nie Dagewesenes sein.15 Man muss Marx' Anliegen in den Pariser Manuskripten also auch so verstehen, dass er gerade gegen diese Vorstellung von einem scheinbar auf sich selbst gegründeten - und in diesem Sinne bedingungslosen - Neuen die historisierte Figur der Hegeischen Dialektik aufbieten möchte. Denn mit der widerspruchslosen Negation setzt Feuerbach natürlich auch einen Schlussstrich unter die Möglichkeit, den historische Wandel und das Neue, das er hervorbringt, als das Resultat einer widersprüchlichen Bewegung denken zu können. Die Negation der Negation als Bewegungsmusters des Geschichtsprozesses: An dieser besonderen Variante der historisierten Dialektik hält Marx im Gegensatz zu Feuerbach zu diesem Zeitpunkt fest. Das Resultat ist eine doppelte Kritik, die Arndt wie folgt zusammenfasst: „Gegen Hegel behauptet Marx die Unabgeschlossenheit der Geschichte, die nicht an ein Ende kommt; gegen Feuerbach aber behauptet er, daß das Wahre Resultat einer vermittelten geschichtlichen Bewegung sei, für welche die Figur der Negation der Negation einstehe." (2004, 247) Marx akzeptiert also einerseits das von Feuerbach gegen Hegel erhobene Grundprinzip für die Gründung eines ,wahren' Materialismus als ,reeller' Wissenschaft; aber er will diese Wissenschaft als Wissenschaft der Geschichte mit Hegeischen Mitteln - mit Hilfe der Negation der Negation - durchführen (ebd.). Feuerbach fasse die Negation der Negation viel zu begrenzt „nur als Widerspruch der Philosophie mit sich selbst auf, als die Philosophie, welche die Theologie ... bejaht, nachdem sie dieselbe verneint hat, also im Gegensatz zu sich selbst bejaht". (MEGA 1/2, 401 bzw. 277) Der Vorteil der Hegeischen Negation der Negation, den Feuerbach nicht zu sehen vermag, liege darin, dass sie gerade in ihrer negativen, zur Auflösung des Widerspruchs treibenden Seite gewissermaßen die Theorie der Bewegungsform der Geschichte darbietet: „Aber indem Hegel die Negation der Negation - der positiven Beziehung nach, die in ihr liegt, als das wahrhaft und einzig Positive - der negativen Beziehung nach, die in ihr liegt, als den einzig wahren Akt und Selbstbethätigungsakt alles Seins - aufgefaßt hat, hat er nur den abstrakten, logischen, spekulativen Ausdruck für die Bewegung der Geschichte gefunden" (Ebd.). Hier haben wir in zwei Momenten die historisierte Fassung der Negation der Negation, die Marx Feuerbach entgegenstellt: 1.) Der .positiven Beziehung nach' liegt in der 15
„Ein neues Prinzip tritt immer mit einem neuen Namen auf [...] Wenn man den Namen der neuen Philosophie, den Namen ,Mensch', mit ,Selbstbewußtsein' übersetzt, so legt man die neue Philosophie im Sinne der alten aus, versetzt sie wieder auf den alten Standpunkt zurück, denn das Selbstbewußtsein der alten Philosophie, als abgetrennt vom Menschen, ist eine Abstraktion ohne Realität." (Feuerbach 1843b, 261)
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Negation der Negation ,das wahrhaft und einzig Positive', dass das wahre Positive ein Resultat der geschichtlichen Vermittlung ist, und demzufolge nicht, wie bei Feuerbach, als ein einzig auf sich selbst Gegründetes verstanden werden darf. 2.) Der , negativen Beziehung nach', ist die Negation der Negation als der ,Selbstbethätigungsakt alles Seins' aufzufassen. Die Schwäche der Hegeischen Dialektik entgeht Marx nicht. Sie bestehe darin, dass Hegel beim abstrakten, logischen, spekulativen Ausdruck der geschichtlichen Bewegung stehen bleibe. Dies führe dazu, dass er „den Menschen = Selbstbewusstsein sezt" (ebd., 414 bzw. 302), ihn also nicht als sinnliches Naturwesen begreift. Diese Konzeption leide darunter, dass sie einer bloßen Hülle gleichkommt, „als eine abstrakte, inhaltslose Aufhebung jener Inhaltslosen Abstraktion". (Ebd.) Hegels Vorstellung von der Negation der Negation ist eben eine „Abstraktionsformel", die, weil sie aus rein logischen Kategorien besteht, „los gerissen vom wirklichen Geist und von der wirklichen Natur" ist (ebd., 415 bzw. 303). Wenn Marx allerdings behauptet, dass die Leistung der Abstraktionsformel begrenzt ist, dann heißt das nicht, dass sie deswegen grundsätzlich falsch ist und aufgegeben werden muss. Wenn Feuerbach also gleich die ganze Negation der Negation über Bord wirft, dann macht er damit aus der Sicht von Marx einen Fehler. Trotz der bereits im Vorjahr mit dem Kreuznacher Manuskript zur Rechtsphilosophie begonnenen Kritik der Hegeischen Philosophie will Marx deren formales Bewegungsmuster - ihre Vermittlungsstruktur, wenn man so will - scheinbar unverändert übernehmen. Und so grenzen die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte die Marxsche Position gleichzeitig gegen Hegel und gegen Feuerbach ab. Marx ist gegen die Hegeische Fassung der Identität von Denken und Sein. Im Unterschied zu Feuerbach möchte er jedoch an der Hegeischen Figur des vermittelten Selbst- und Gegenstandsbewusstseins festhalten, wenngleich er diese Vermittlung wiederum im Unterschied zu Hegel als eine gegenständliche aufzufassen versucht. Gegenständlichkeit bezieht sich in diesem Fall auf ein Gegenüber, das sich nicht in das Subjekt oder dessen Bewusstsein aufheben lässt. Darum bleibt es eben ein Gegen-ständiges, Anderes, Fremdes im Verhältnis zu dem, der sich darauf bezieht (siehe Arndt 2004, 250, 255). Marx kritisiert den Hegeischen Gedanken, das die ,Dingheit' überhaupt als Setzung, das heißt als Entäusserung des Selbstbewusstseins (MEGA 1/2, 407 bzw. 295) verstanden wird, welche in das Bewusstsein zurückgenommen werden könne. Diesem Gedanken stellt er das durch Gegenstände bestimmte und gleichzeitig selbst Gegenstände setzenden, tätige Naturwesen Mensch entgegen. Dieses „Gegenständliche Wesen" „... schafft, sezt nur Gegenstände, weil es durch Gegenstände gesezt ist, weil es von Haus aus Natur ist. In dem Akt des Setzens fällt es also nicht aus seiner ,reinen Tätigkeit' in ein Schaffen des Gegenstandes, sondern sein gegenständliches Product bestätigt nur seine gegenständliche Thätigkeit, seine Thätigkeit als die Thätigkeit eines gegenständlichen natürlichen Wesens." (Ebd., 408 bzw. 295)
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Das ist die Position, die Marx 1844 als „durchgeführter Naturalismus oder Humanismus" (ebd.) bezeichnet. Sie unterscheide sich sowohl vom Materialismus als auch vom Idealismus und sei zugleich die Wahrheit beider. Materialismus und Idealismus seien Abstraktionen vom realen Prozess der Vermittlung im Naturverhältnis der Menschen, das aber als die Einheit der Umformung von bestimmten Gegenständen und deren Vorausgesetztsein verstanden werden muss (Arndt 2004, 255).16 An der kritischen Seite des Hegeischen Idealismus will Marx jedoch festhalten, weil diese die Position als das Resultat einer vermittelten Bewegung auffasst. Kurzum: Hegel begreift die Wirklichkeit als eine historisch gewordene. Zumal die Dialektik bei Hegel mehr ist als nur das Strukturprinzip der Geschichte; es gibt sie dort bereits in Form dessen, wodurch Geschichte ,gemacht' wird: die Arbeit. „Das Grosse an der Hegeischen Phänomenologie und ihrem Endresultate - der Dialektik, der Negativität als dem bewegenden und erzeugendem Princip - ist also, einmal daß Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Proceß faßt, die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäusserung, und als Aufhebung dieser Entäusserung; daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eignen Arbeit begreift." (MEGA 1/2, 404 bzw. 292) In diesem Sinne stehe Hegel bereits „auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomen. Er erfaßt die Arbeit als das Wesen ... des Menschen" (ebd., 405 bzw. 292f.), wenn man auch den Abstrich machen müsse, dass die einzige Arbeit, die Hegel kennt und anerkennt, die abstrakte Arbeit des Geistes ist. Problematisch ist dieser Rekurs auf die Arbeit als gegenständliche Vermittlung insofern, als sich die in den Manuskripten im Vordergrund stehende Entfremdung im Bereich der Arbeit abspielt. Anders ausgedrückt: die Bestimmungsteleologie ergibt sich aus der Verbindung der Negation der Negation als Abstraktionsformel (die gegen Feuerbach behauptet werden soll) mit einer (stark von Feuerbach geprägten) Vorstellung von einem menschlichen Wesen, von dem gesagt wird, es könne alle Fremdheit durch Aufhebung in einem höheren 16
Eine vergleichbare Position vertritt interessanterweise die in Vergessenheit geratene ,neue Ontologie' des stark von Feuerbach beeinflussten Nicolai Hartmann. Hartmann spricht von den „Grenzüberschreitungen" (1968, 47) der alten materialistischen bzw. idealistischen metaphysischen Systeme: Der Idealismus abstrahiere von den realen Voraussetzungen des Setzens, indem er Kategorien der höheren Seinsschichten auf die niederen übertrage - das sei eine Grenzüberschreitung „nach unten"; der Materialismus hingegen überträgt Kategorien der niederen Seinsschichten auf höhere - das sei eine Grenzüberschreitung „nach oben" (ebd., 45). Überschneidungen zwischen Marx und Hartmann hinsichtlich des Verhältnisses von Materialismus und Idealismus konnte leider weder von Hartmann noch vom Marxismus nutzbar gemacht werden. Hartmann sah in Marx dem Klischee entsprechend einen Vertreter des reduktionistischen Materialismus, der die Materialität der Ökonomie über alles stellt - also einen Vertreter der , Grenzüberschreitung nach oben'. Den Marxisten - Lukács (und im Anschluss an ihn Harich) ausgenommen - sind Parallelen zwischen Marx und Hartmann eher peinlich.
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Zustand abstreifen. Wieder anders ausgedrückt: problematisch ist der Rekurs auf die Arbeit, weil Marx die Arbeit einerseits als unaufhebbare, gegenständliche Vermittlung denkt, während er sie andererseits als Dreh- und Angelpunkt der überaus versöhnlichen Entfremdungstheorie einsetzt, die durch und durch teleologisch ist. Bedeutet dies, dass die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte einen Widerspruch in sich tragen? Andreas Arndt weist darauf hin, dass hier zwei Stränge des Marxschen Programms nebeneinander herlaufen: Einmal „eine historisierende, an der Entfremdungsromantik orientierte Lesart der Phänomenologie und ihrer Dialektik" und zum anderen „eine andere Lesart, welche die Dialektik unabhängig davon als gegenständliche Vermittlung rekonstruiert". Beide gehen „relativ unvermittelt und oftmals ununterscheidbar zusammen" (2004, 255). In dieser Schrift koexistiert die teleologische Orientierung auf die Aufhebung der Entfremdung in das Geschichtsziel Kommunismus (des ,Rätsels' Lösung) mit der nicht-teleologischen Orientierung an der als gegenständliche Vermittlung aufgefassten menschlichen Arbeit. Beiden Strängen liegt die Negation der Negation zugrunde. Deshalb hat Marx' Verständnis von der Negation der Negation hier sowohl eine unkritische, sinnstiftende, auf universelle Versöhnung hinauslaufende Seite, die noch von den Themen des Jungehegelianischen Geschichtsdenkens eingenommen ist, als auch ansatzweise schon eine nicht-teleologische, dem Hegelianischen Aufhebungsschema gegenüber kritisch eingestellte Seite. Dieses doppelte Programm der Historisierung der Hegeischen Dialektik muss immer in seiner ganzen Zweischneidigkeit gesehen werden. Trotzdem tendiert Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten doch recht deutlich - obschon gegen seinen eigenen Willen - zu einem teleologischen Fortschrittsbegriff Linkshegelianischer Provenienz. Zwar sollte dieser Zusammenhang nun nicht so verstanden werden, als gäbe es im Marxschen Fortschrittsdenken einen unüberwindbaren Graben zwischen den geschichtsteleologischen geprägten und den späteren nicht-teleologischen Schriften. Trotzdem läuft das Programm der Historisierung der Dialektik in den Manuskripten doch letztendlich darauf hinaus, die Geschichte, deren einzelne Schritte oder Stufen durchaus durch eine radikale Gegensätzlichkeit gekennzeichnet sein mögen, als eine notwendige Entwicklung hin zu einem Zustand der allgemeinen Versöhnung darzustellen, wie dies auch bei Cieszkowski und Heß der Fall ist. 1844 steht Marx also noch ganz am Anfang seiner Auffassung von Geschichte als einem unabschließbaren, durch Unversöhnlichkeit gekennzeichneten Prozess. Und von der Historisierung der bestehenden Verhältnisse und der Rekonstruktion ihres Widerspruchscharakters, auf die sich die fortgeschrittene Kritik der politischen Ökonomie konzentrieren wird, kann noch keine Rede sein. Die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte fassen den gesellschaftlichen Fortschritt einerseits ausdrücklich als die Überwindung der Entfremdung in Form der Wiedereinholung des entfremdeten .wahren Wesens' auf (Bestimmungsteleologie). Andererseits lehnt derselbe Text die Verkündung von Geschichtszielen ab, und anerkennt die Geschichte damit als Prozess ohne Abschluss (Rekonstruktion der Dialektik als gegenständliche Vermittlung). Zumindest was die in ihnen enthaltene Fortschrittsauffassung angeht, sollten die Manuskripte darum ungeachtet ihrer anhal-
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tenden philosophischen Wirkung als ein widersprüchliches Dokument gelesen werden, das nicht ohne Grund zu Marx' Lebzeiten unveröffentlicht bleibt.
c.
Das Konfliktmodell des Fortschritts und geschichtsphilosophische Aporie beim jungen Marx
Die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte enthalten einen gegensätzlichen Begriff von Fortschritt, der sich in dieser Form auch bei anderen Jungehegelianern finden lässt. 1844 ist das Marxsche Geschichtsdenken ein von Hegel und Feuerbach geprägtes Fortschrittsdenken nach dem Muster des traditionellen Konfliktmodells. Es gibt zu diesem Zeitpunkt noch keinen spezifisch Marxschen Begriff von Fortschritt, weil es noch kein spezifisch Marxsches Konfliktmodell der Geschichtsentwicklung gibt, in das dieser Begriff eingebettet werden könnte. Wohlgemerkt, die von der linken Hegelschule gepflegte Identifikation von Menschheitsgeschichte und Verbesserung ist alles andere als ,naiv'. Immerhin setzt das traditionelle Konfliktmodell generell ein gesteigertes Bewusstsein von der Gegensätzlichkeit der Geschichtsentwicklung voraus, von der jedoch trotz - oder gerade wegen - dieser Gegensätzlichkeit angenommen wird, dass sie die wesensgemäße Ausbildung der eigentlichen Bestimmung der Menschen verbürgt. Diese zwei ineinander verschlungenen Prinzipien - Gegensatz und wesensgemäße Bestimmung - ergeben eine Auffassung, nach der der historische Gesamtprozess die gegensätzliche Bewegung des Fortschritts ist: Fortschritt-als-Gegensatz. Besonders deutlich wird das am normativen Gehalt der Entfremdungstheorie, für die Fortschritt die Überwindung der Entmenschlichung bedeutet. Diesen Fortschritt bezeichnet Marx (ganz wie Heß) an einer Stelle sogar als die Überwindung der Tierstufe, auf welcher der entfremdete Mensch noch stehe. Die entfremdeten Menschen, schreibt er im Mai 1843 an Ruge, seien noch keine wahren Menschen: „Menschen, das wären geistige Wesen, freie Männer, Republikaner. Beides wollen die Spießbürger nicht sein. Was bleibt ihnen übrig, zu sein und zu wollen? Was sie wollen, leben und sich fortpflanzen (und weiter, sagt Göthe, bringt es doch keiner), das will auch das Thier ... Das Selbstgefühl des Menschen, die Freiheit, wäre in der Brust dieser Menschen erst wieder zu erwecken. [...] Die Philisterwelt ist die politische Thierwelt, und wenn wir ihre Existenz anerkennen müssen, so bleibt uns nichts übrig, als dem status quo einfacher Weise recht zu geben. Barbarische Jahrhunderte haben ihn erzeugt und ausgebildet, und nun steht er da als ein conséquentes System, dessen Princip die entmenschte Welt ist." (MEGA 1/2, 475f.) Die Überwindung der .entmenschten Welt', das wäre dem jungen Marx ein Fortschritt. Und er glaubt zu wissen, dass die Geschichte diesen Fortschritt leisten wird. Die wirkliche, praktische Aufhebung des Privateigentums, dieses „Ziel der geschichtlichen Bewegung", „die wir in Gedanken schon als eine sich selbst aufhebende wissen", von der man also schon „von vornherein" ein Bewusstsein erwerben kann (und auch das ist übrigens
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ein „Fortschritt") - ,,[d]ie Geschichte wird sie bringen" (Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEGA 1/2, 425 bzw. 289). An derartigen Äußerungen wird ersichtlich, dass die Ökonomischen-philosophischen Manuskripte die drei wichtigsten Charakteristika des Fortschrittsbegriffs auf der Basis des traditionellen Konfliktmodells der Geschichtsentwicklung erfüllen. 1.) Räumlicher Universalismus: die Kategorien Fortschritt' und .Geschichte' verschmelzen im Kollektivsingular. 2.) Geschichtsteleologie: im Kommunismus als dem Resultat eines finalen Aufhebungsaktes ist der Geschichte das Endziel der Versöhnung gesteckt (das zudem nach einer gründlichen Analyse der gesellschaftlichen Situation schon ,νοη vornherein' gewusst werden kann). 3.) Gegensatz: Fortschritt ist als ein widersprüchliches Verhältnis konzipiert. Er allein kann den Akt der Aufhebung leisten. Der Fortschritt ist das den historischen Gesamtprozess übergreifende Prinzip. Die Geschichte folgt ihrem Prinzip - sie ist die Verwirklichung seiner Inhalte. Inhaltlich proklamieren die Manuskripte ein sich entfaltendes und sich endgültig durchsetzendes menschliches Wesen, das mit dem gegenwärtigen entfremdeten Typus Mensch zusammengeführt werden muss, um aufblühen zu können. Was also den Humanisierungsgedanken des jungen Marx zusätzlich problematisch macht ist, dass er ein Rückgriff auf ein uraltes Geschichtsbild zu sein scheint: auf den Kreis.17 Wenn Marx vom Kommunismus als der .Rückkehr' des Menschen zu seinem menschlichen Wesen spricht, argumentiert Heinrich , dann sei damit „ein ursprünglicher Zustand gemeint, in welchem der Mensch sein menschliches Wesen noch besaß". (2001, 116)18 Die Auswirkungen dieses zyklischen, und damit für das Nachdenken über Geschichte im modernen Sinne eines dem beständigen Wandel unterworfenen und also verzeitlichten Seins eigentlich ungeeigneten Bildes für die Marxsche Geschichtsauffassung sind meines Wissens noch nicht im Detail untersucht worden. Wir haben es hier nämlich mit einem geschichtsphilosophischen Fortschrittsentwurf zu tun, der kein geschichtsphilosophischer Fortschrittsentwurf sein will. Bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass er dies womöglich auch nicht sein kann. Schließlich wird die Aufhebung des Privateigentums (und damit der Entfremdung) zweifellos von Marx so dargestellt, 17
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Das erinnert an Hegel, für den der dialektische Stufengang des Geistes nur scheinbar unendlich ist, „ein Progreß, der ewig dem Ziel fern bleibt". (1830b, 180) In Wirklichkeit ist das Fortschreiten des Geistes „kein Unbestimmtes ins Unendliche, sondern es ist ein Zweck da, nämlich die Rückkehr in sich selber. Also ist auch ein gewisser Kreislauf da, der Geist sucht sich selbst." (ebd., 181) Dieser Interpretation Heinrichs setzt Schmidt entgegen: „Der hier unterstellte Wesensbegriff ist allerdings durch den Text nicht gedeckt. So findet sich nicht nur keine Ausarbeitung der unterstellten Anthropologie, auch der ursprüngliche Zustand wird durch Marx nicht historisch fixiert." (2006, 90f.) Das ist richtig. Um allerdings eine ursprüngliche Unversehrtheit des Wesens behaupten zu können, muss Marx diesen Zustand nicht historisch fixieren. Es genügt vollkommen, dass er ihn voraussetzt. Und genau das tut er, wie die Verwendung der oben bereits zitierten Termini .Wiedergewinnung' und .Rückkehr' (oben S. 147f.) belegt. Was soll hier wiedergewonnen werden, wenn nicht das menschliche Wesen? Und zu was soll hier zurückgekehrt werden, wenn nicht zum Ursprung dieses Wesens?
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dass sie mit Notwendigkeit zu einem besseren Stand der Dinge führt. Nur hat es den Anschein, als werde damit nicht nur nichts rein positiv Neues einführt (Feuerbachs auf sich selbst gegründetes, unvermitteltes Neues) - es hat den Anschein, als werde damit rein gar nichts Neues eingeführt. Hier geht es in Wirklichkeit darum, einen Verlust rückgängig zu machen. Aus den bereits zitierten Passagen geht hervor, dass die Aufhebung der historischen Gegensätze in den Kommunismus in den Ökonomischphilosophischen Manuskripten lediglich die Versöhnung der Entfremdeten mit ihrer eigentlichen Bestimmung in Form einer Reintegration', einer ,Rückkehr' oder einer ,Wiedergewinnung' des wahrhaft Menschlichen bedeutet. Man könnte argumentieren, dass der Begriff des Fortschritts jedoch grundsätzlich eine Neugewinnung voraussetzt, die Entstehung eines prinzipiell Neuen: ein Hinausgehen über das, was ist oder einmal war. Als die Bewegung des Guten, als Verbesserung, funktioniert Fori-schritt nur als Eröffnung eines solchen Abstandes. Dieser kann freilich formell mit der Abstraktionsformel der Negation der Negation als eine gegenständlich vermittelte Bewegung vorgestellt werden - sogar als eine Bewegung, die inhaltlich von der Überwindung des Abstandes zwischen Wesen und Existenz ausgeht. Nur geht Marx scheinbar vor diese seine eigene Erkenntnis zurück, weil er in Wirklichkeit besagten Abstand auf inhaltlicher Ebene gar nicht aufmacht, und statt dessen die Wiedergewinnung einer ursprünglichen Menschlichkeit einfordert. Indem sie die Entfremdungstheorie auf der Grundlage des Feuerbachschen Gattungswesens mit dem Programm der Historisierung der Hegeischen Dialektik verbinden, treiben die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte Marx möglicherweise bis in die geschichtsphilosophische Aporie. Wenn die Menschen erst werden müssen, was sie sein sollen, was sie aber gleichzeitig immer schon gewesen sind, wie können sie dann überhaupt eine Geschichte haben? Auch später noch wird Marx an prominenter Stelle immerhin dementsprechend konsequent formulieren, die bisherige Geschichte sei die bloße „Vorgeschichte" (Vorwort 1859, MEGA II/2, 101/MEW 13, 9) der Menschheit, die auf der Stufe der bürgerlichen Gesellschaft zu einem Abschluss kommen werde. Hierbei handelt es sich möglicherweise nicht um eine Eigenart des Marxschen Denkens, sondern um ein unauflösbares Problem, das sich überall dort einstellt, wo ernsthaft versucht wird, Geschichte zu theoretisieren, wo aber nicht von der Bestimmungsteleologie und dem mit ihr einher gehenden Reifungsparadigma abgesehen wird (also auch bei Cieszkowski, bei Heß und anderen). Dass die Deutsche Ideologie nur wenig später hinsichtlich der Teleologieproblematik wirklich neue Weg gehen wird und sich nicht mehr wie die Pariser Manuskripte nur verbal gegen die Teleologie zur Wehr setzt, das ist eben kein Klischee. Das Elend der Philosophie beschleunigt und radikalisiert schließlich Marx' Entwicklung weg vom junghegelianisch geprägten, geschichtsphilosophischen Kollektivsingular Fortschritt. Allmählich beginnt sich ein neuartiges Konfliktmodell des Fortschritts abzuzeichnen. Andererseits sollte man sich diese Wende auch nicht so vorstellen, als sei der anthropologisch-philosophische Marx von 1844 der von seinem wahren Selbst am weitesten entfernte Marx: „the Marx furthest from Marx is this Marx, the Marx on the brink, on the eve, on the treshold" (Althusser 1999, 159). Zumal diese These
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selbst ausgerechnet den Gedanken in sich trägt, den sie als Bestandteil der Marxsche Theorie nicht zugelassen will: die authentische Wesenhaftigkeit einer Sache (in diesem Fall der Marxschen Theorie). Jedenfalls wird aus der durchaus hilfreichen Vorstellung, die Theorieentwicklung bei Marx vollziehe sich in Brüchen, die klar umgrenzte Entwicklungsphasen in seinem Denken markieren, spätestens dann eine Vereinfachung, wenn sie nur vorgibt, das Phasenübergreifende mitzudenken. Die Diskussion der Gegensatzthematik im folgenden Kapitel wird zeigen, dass die Neugestaltung des Marxschen Fortschrittsdenkens nach 1844 gar nicht verstanden werden kann, wenn man sie nicht als ein Anknüpfen an Erkenntnisse versteht, die Marx bereits 1843 also noch vor der Abfassung der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte - in der Auseinandersetzung mit der Hegeischen Spekulation gewinnt. Auf jeden Fall versucht Marx nach 1844 mit aller Kraft, den Fortschritt aus der Identifikation mit ,der Geschichte' und der Lösung ihrer .Rätsel' zu befreien. Fortschritt wird nicht mehr als eine historische Gesetzmäßigkeit angesehen, die der Gattung Mensch das Zusammentreffen mit ihrer eigentlichen Bestimmung als Akt der universellen Versöhnung im notwendigen Resultat der Entwicklung garantiert. Zu einem solchen Garanten macht Marx den historischen Fortschritt nämlich gegen sein besseres Wissen und trotz gegenteiliger Bekundungen in den Ökonomischphilosophischen Manuskripten.
4.
Marx' Absage an das traditionelle Konfliktmodell: Das Elend der Philosophie (1847)
Die Entstehung eines spezifisch Marxschen Konfliktmodells der Geschichte und des Fortschritts vollzieht sich implizit. Bisher wurde diese theoretische Entwicklung vor dem doppelten Hintergrund der Marxschen Spekulationskritik einerseits und des Einflusses des Junghegelianismus und des Feuerbachschen Humanismus auf Marx selbst beleuchtet. Der bedeutendste Schritt in der Herausbildung eines originellen Marxschen FortschrittsbegrifFs ist aber die intensive Auseinandersetzung mit Proudhon, die sich im Elend der Philosophie konzentriert. Der französische Sozialist und Theoretiker Pierre-Joseph Proudhon ist ein prominenter Vertreter der Fortschrittsidee um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Das erklärte Ziel von Proudhons denkerischen Bemühungen ist eine gerechte Gesellschaftsordnung, die er abwechselnd als fortschreitende Vergesellschaftung (association progressive oder société progressive), Gegenseitigkeit (mutuellisme oder mutualité) oder industrielle Demokratie bezeichnet. Darüber hinaus geht es ihm um nichts Geringeres als die Schaffung des nouvelle homme schlechthin. Schon als Student in Paris ab 1838 setzt sich Proudhon das Ziel, ursprüngliche, hinter den Religionen verborgene Wahrheiten (Revelationen) ans Licht zu ziehen, deren konsequente Verwirklichung gesellschaftliche Veränderung herbeiführen sollen. 1840 mausert er sich mit der Abhandlung über die Eigentumsproblematik, Qu'est-ce que la propriété, in Frankreich zum Sensationsschriftsteller. Im Juni 1843 erscheint De la
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création de Vordre dans l'humanité. Das Buch gibt vor, das Gesetz der Schöpfung zu enthüllen und proklamiert eine neue Gesellschaftsordnung, in der jede politische Regierung und alle Fremdbestimmung aufgehoben ist. Dabei macht Proudhon in seiner Konzeption dieser Entwicklung auch Anleihen an Comtes Drei-Stufen-Modell. Die erste Stufe sieht er im Unvermögen der Religion, in einer modernen Welt Ordnung zu stiften. Als zweite Stufe stelle dann die Philosophie durch die Frage nach Kausalzusammenhängen und der Anwendung der deduktiven Methode zwar einen Fortschritt dar, letztlich bleibe sie aber aufgrund ihrer Abgehobenheit unwirksam. In dem Maße, wie die Schwächen der Religion und der Philosophie offenbar werden, nähere sich die Menschheit dann der dritten Stufe oder métaphysique. Die Menschen beginnen, die Dinge selbst und ihre Verhältnisse zueinander zu erkennen (Pelger 1979, XXXIIf.). Proudhons Optimismus ist schließlich so groß, dass er gleich eine ganze Philosophie du progrès verfasst, eine Schrift, die er stolz als sein politisches und philosophisches Glaubensbekenntnis' bezeichnet (1853, 42). Seine ganze Arbeit handele nämlich im Kern von einer Idee: Fortschritt. „Tout ce que j'ai jamais écrit, tout ce que j'ai nié, affirmé, attaqué, combattu, je l'ai écrit, je l'ai nié ou affirmé au nom d'une idee unique: le Progrès." (Ebd., 46) Die Fortschrittsidee werde den menschlichen Geist von den letzten Vorurteilen befreien und den Menschen all das einbringen, worauf sie hoffen, woran sie glauben und arbeiten. Fortschritt sei die Affirmation der gouvernent universel" (ebd., 49), die auf allen Gebieten stattfinde: In der Logik übersetze sich die Idee der Bewegung oder des Fortschritts als Ja série", als „dialectique sérielle" (ebd., 63, 79). In der Politik sei der Fortschritt das Synonym für ,Freiheit': „La théorie du progrès, c'est la chemin de fer de la liberté." (Ebd., 43) ,Liberté' wiederum habe als ökonomisches Korrelat die Gleichheit (ebd, 80). Proudhon wird zu der wohl wichtigsten Figur in Marx' Auseinandersetzung mit dem Fortschrittsbegriff, weil er es einfach nicht lassen kann, seine Fortschrittsgläubigkeit in die politische Ökonomie hineinzutragen, mit der er sich noch vor Marx zu beschäftigen beginnt. Proudhon und Marx arbeiten schließlich beide an einer Kritik der politischen Ökonomie, die sie auf eine wissenschaftliche Grundlage stellen wollen. Trotzdem gibt es erhebliche Differenzen, was Fragen der dialektischen Methode anbelangt. Zumal Proudhon noch ein weiteres Ziel verfolgt: In einem Brief verkündet er, er wolle nicht zuletzt die „providentielle Nützlichkeit" (zit. n. Pelger 1979, XLII) aller gesellschaftlichen Katastrophen nachweisen. Es ist diese Verbindung von Dialektik und Heilsdenken, die ihn über kurz oder lang auf einen Konfrontationskurs mit Marx bringt.
a.
Der Bruch mit Proudhon und seine Bedeutung
In Deutschland taucht Proudhon vor allem deshalb in den Debatten der Linkshegelianer und Frühsozialisten auf, weil Lorenz Stein seine Theorien in seinem Buch Der Socialisms und Communismus des heutigen Frankreichs bespricht, das im Herbst 1842 erscheint. Durch dieses Buch wird möglicherweise auch Marx auf Proudhon aufmerksam gemacht. Stein ist jedenfalls insofern ein Vorläufer der Marxschen Proudhon-Kritik,
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als er den Hegel, den Proudhon für sich in Anspruch nimmt, in ein Verhältnis zum wirklichen Hegel setzt. Er kritisiert Proudhons Methode am Beispiel des Versuchs, Privateigentum und Gütergemeinschaft in ein synthetisches Verhältnis zueinander zu setzen, und die Antithese .propriété' durch die These .communauté' zu korrigieren. Derartige Auffassungen seien, so Stein, „nur ein Reflex der in Frankreich noch geltenden formalen Logik in der Abfassung der hegelschen". „Was bleibt denn hier übrig, als dass man mit einer geschickten Wendung gleichsam sich fortmacht aus diesem unversöhnlichen Widerspruch." (Zit. n. Pelger 1979, XXXI) Diese Darstellung des SichDavonmachens aus dem Widerspruch nimmt Marx' Vorwurf vorweg, Proudhon bemächtige sich der Hegelschen Dialektik, um seine eigenartige, auf dem Ausgleich und der Versöhnung der Entgegengesetzten beruhende Gegensatzkonzeption durchzusetzen. Allgemein handelt es sich bei der Proudhon-Kritik um ein „Zur-Disposition-Stellen der Hegelschen Dialektik" (Arndt 1985, 229). Marx und Engels sind Proudhon anfangs allerdings durchaus wohlgesonnen. Marx lernt Proudhon im Herbst 1844 im Pariser Exil persönlich kennen. In den Ökonomischphilosophischen Manuskripten aus dieser Zeit wird Proudhon noch gelobt, weil er gegen das Privateigentum den Standpunkt der Arbeit vertrete (wenn auch nur den der entfremdeten Arbeit). Auch in Proudhons Forderung nach Gleichheit sieht Marx zu diesem Zeitpunkt noch eine sinnvolle Antwort auf die politischen Zustände in Frankreich (MEGA 1/2, 373, 424). Als .wirklicher Proudhon' (im Gegensatz zu dem Proudhon, den Edgar Bauer in einem Artikel in der Allgemeinen Literatur-Zeitung bespricht) kommt Proudhon auch in der Heiligen Familie noch relativ gut weg (MEW 2, 23-56). Im Mai 1846 schließlich bittet Marx Proudhon schriftlich, von französischer Seite an dem im Februar 1846 in Brüssel gegründeten Kommunistischen Korrespondenzkomitee mitzuarbeiten. Gleichzeitig versucht er, die Freundschaft zwischen Proudhon und Karl Grün zu unterminieren, indem er letzteren als gefährlichen „literarischen Hochstapler", „Scharlatan" und „Schmarotzer" denunziert (5. Mai 1846, MEGA III/2, 8). Proudhon will aber kein politisches Bündnis eingehen. In seinem Antwortschreiben vom 17. Mai warnt er vor Dogmatismus, lehnt revolutionäre Appelle ab und stellt sich schützend vor Karl Grün, den er eventuell mit der Übersetzung seiner neuen ökonomischen Studie betrauen werde (ebd., 206f.), dem Système des contradictions économiques, ou philosophie de la misère}9 Der Bruch mit Proudhon ist in damit vorprogrammiert. Im September 1846 entscheidet sich dann der Darmstädter Verleger Leske, die Veröffentlichung der von Marx geplanten zweibändigen ,Kritik der Politik und Nationalökonomie' ausgerechnet durch das Système des contradictions économiques zu ersetzen - in deutscher Übersetzung
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Für Roemheld hat der Briefwechsel zwischen Marx und Proudhon sogar eine .weltgeschichtliche Bedeutung' (2000, 73): er nehme die Spaltung des Sozialismus in eine etatistische und eine libertäre Strömung vorweg.
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von Karl Grün (Pelger 1979, LXVIIIf.).20 Die Schrift kommt im Oktober 1846 in den Handel. Sie versteht die politische Ökonomie als ein Sammelsurium chaotischer Beobachtungen, die jetzt dialektisch in ein System gebracht würden. Marx liest beide Bände vermutlich im Dezember und teilt seine Meinung darüber dann dem Russen Annenkow in einem berühmt gewordenen Brief mit: „Ich gestehe Ihnen offen, daß ich das Buch im allgemeinen schlecht, ja sehr schlecht finde." (MEW 4, 547) Seinen eigentlichen theoretischen Ausdruck findet diese Kritik in der außerordentlich polemischen und bisweilen bösartigen Antwortschrift Misère de la philosophie. Réponse à la „Philosophie de la misère" de M. Proudhon (deutsch: Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons ,Philosophie des Elends'). In der jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit unfertigen Texten wie dem Pariser Manuskript und der Deutschen Ideologie ist scheinbar völlig untergegangen, dass das Elend der Philosophie Marx' erstes Buch ist: das erste Buch, das er ohne Engels' Mitarbeit schreibt und tatsächlich veröffentlicht. Die Auseinandersetzung mit Proudhon im Elend der Philosophie verläuft auf einer ökonomietheoretischen und einer philosophischen Ebene. Wie Marx im Vorwort bemerkt, gilt Proudhon den Deutschen als einer der „stärksten französischen Ökonomen"; die Franzosen hingegen halten ihn für einen „tüchtigen deutschen Philosophen". Marx sieht sich veranlasst, „gegen diesen doppelten Irrtum Protest einzulegen". (MEW 4, 65) Noch im Jahr 1859 schreibt er in einem Brief an Weydemeyer über seine soeben erschienene Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie dort werde „der Proudhonsche, jetz in Frankreich fashionable Socialismus, der die Privatproduction bestehn lassen, aber den Austausch der Privatproducte organisiren, der die Waare will, aber das Geld nicht will, in der Grundlage caput gemacht". (MEGA III/9, 295/MEW 29, 573) Das Elend der Philosophie wird darum vom Offizialmarxismus als Geburtsstätte des „wissenschaftlichen Kommunismus" (Vorwort, MEW 4, V) und als wichtiger Meilenstein im Kampf gegen den ,kleinbürgerlichen' Standpunkt in den Kanon eingeordnet. Sicherlich sieht Marx in Proudhon nicht nur einen theoretischen Widersacher. Er will dem Einfluss dieses ,,Kleinbürger[s]", der unter dem Niveau der Ökonomie und des Sozialismus/ Kommunismus stehe (MEW 4, 144), ein Ende machen. In den Jahren 1846/1847 liegt Marx nämlich einiges daran, die Franzosen für seine Arbeit zu gewinnen. Zu diesem Zweck versucht er nun den Eindruck zu zerstören, es gäbe zwischen ihm und seinem Gesprächspartner von 1844 noch irgendwelche Gemeinsamkeiten. Der Bruch mit Proudhon steht also auch für das Scheitern des Versuchs, eine engere Verbindung zur französischen Arbeiterbewegung herzustellen. Allerdings wird gerne übersehen, dass Marx einem unmittelbaren Konkurrenten wohl schlichtweg den Erfolg neidet. Wie dem auch sei, Marx hat die Auseinandersetzung mit Proudhon ganz klar gewonnen. Proudhon ergeht es wie all den anderen Charakteren aus der philosophischen oder frühsozialistischen Szene, mit denen Marx Mitte der 1840er Jahre ins Gericht geht. Ihre 20
Leske, der von der preussischen Polizei überwacht wird, befürchtet, Marx' Schrift, für die es kein fertiges Manuskript gibt, werde an der Zensur scheitern (siehe Marx' Brief vom 1. August 1846, MEGA III/2, 22/MEW 27, 447).
A B S A G E AN DAS TRADITIONELLE K O N F L I K T M O D E L L : DAS ELEND
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Schriften stehen im 20. Jahrhundert im Schatten der mit Vorurteilen beladenen Marxschen Kritik.21 Die Frage, wie verheerend sich diese wegweisende Kritik langfristig auf die Rezeption der betroffenen Denker ausgewirkt hat, gäbe sicherlich eine interessante Studie her. Eine Rehabilitation Proudhons ist an der Zeit, auch wenn dieses Thema hier nicht ausführlich behandelt werden kann. Andererseits gibt es selbstverständlich triftige theoretische Gründe für eine Hinterfragung der Proudhonschen Positionen. Und genau das geschieht im Elend der Philosophie, dem wohl wichtigsten Text für die Rekonstruktion des Marxschen Fortschrittsdenkens. Deutlicher als jeder andere Marxsche Schrift zeigt das Elend nämlich, welche Art von Fortschrittsdenken für Marx nicht akzeptabel ist.
b.
Die Kritik an Proudhons Konfliktmodell des Fortschritts
Im Brief an Annenkow fasst Marx den Gegenstand seiner Kritik prägnant zusammen: „Unfähig, die wirkliche Bewegung der Geschichte zu verfolgen, liefert Herr Proudhon eine Phantasmagorie, die den Anspruch erhebt dialektisch zu sein". (MEW 4, 549) Daraus geht schon hervor, dass Marx in Proudhon einen Hegelianer sieht. Schon die Deutsche Ideologie sagt über Proudhons Methode: „Proudhon sucht von französischem Standpunkt aus nach einer Dialektik, wie Hegel sie wirklich gegeben hat. Die Verwandtschaft mit Hegel ist hier also realiter vorhanden, nicht durch phantastische Analogie." (MEW 3, 519) Diese Wahrnehmung ist jedoch eine äußerst subjektive. Gegen Marx' Vorwurf, er sei ein schlechter Hegelschüler, könnte Proudhon freilich vorbringen, dass er sich überhaupt nur für kurze Zeit als solcher versteht, und dass er - wie auch Marx - an einer originären Dialektik arbeitet, die sich von der Hegels unterscheidet (Vincent 1984, 230). Trotzdem muss man Marx lassen, dass er seine Proudhon-Kritik konsequent auf der Grundlage der in der Hegel-Kritik gewonnenen Resultate durchführt. Wichtiger ist, dass hier noch ganz andere Dinge geleistet werden, die von größter Bedeutung für die Fortschrittsthematik sind, auch wenn sie manchmal zwischen den Zeilen vor sich gehen. Es handelt sich beim Elend der Philosophie nämlich auch um die Kritik eines bestimmten geschichtsphilosophischen Entwurfs, der dem traditionellen Muster des Konfliktmodells der Geschichtsentwicklung und des Fortschritts nachempfunden ist. Wie kein anderer Marxscher Text steht das Elend der Philosophie für das Aufeinandertreffen der Marxschen Theorie und der Geschichtsteleologie mitsamt dem ihr entsprechenden Begriff Fortschritt-als-Gegensatz. 21
Zu den Langzeitfolgen der Marxschen Polemik schreibt Vincent: „The most persistent misconceptions concerning Proudhon's thought result from the continued reverence shown Marx and ... his assessment of Proudhon and ,Utopian socialism'. The consequence has been the perpetuation of a spitfeful distortion of his thought." (1984, 230) Freilich tut sich Proudhon keinen Gefallen damit, dass er sich nicht öffentlich gegen Marx zur Wehr setzt. Eine Kopie des Elends der Philosophie aus seinem Besitz weist allerdings auf viele Vermerke auf wie: ,absurd', ,eine Lüge', ,Plagiat', unverschämte Verleumdung', ,Marx ist neidisch' ,all das ist doch von mir', und dergleichen (siehe den Appendice zu Proudhon 1846b, 415-423, d. Verf.).
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Marx wirft Proudhon vor, seine Idealvorstellungen mit Hilfe der spekulativen Methode der idealen Zwecksetzung als teloi der Geschichte beweisen zu wollen. Dieses rein projektive Denken habe außerdem einen eindeutig affirmativen Charakter, weil es in der theoretischen Darstellung zur Befriedung des Gegensatzcharakters der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer Bewegung führen muss. Unkritisch übernehme Proudhon von den Ökonomen die Darstellung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse „als fixe, unveränderliche, ewige Kategorien". Anstelle des Zustandekommens der Verhältnisse wolle Proudhon „uns den Akt der Bildung und Erzeugung dieser Kategorien, Prinzipien, Gesetze, Ideen, Gedanken explizieren" (MEW 4, 126). Er gehe daher an der tatsächlichen historischen Bewegung vorbei, an deren Stelle er die abstrakte Bewegung ihrer Kategorien setze. Diese Kritik wiederholt Marx 1865 im Brief an Schweitzer (MEGA 1/20, 62f.). Das Elend der Philosophie hat zwei Kapitel. Das erste Kapitel trägt den Titel ,Eine wissenschaftliche Entdeckung' und beschäftigt sich vorrangig mit Proudhons Werttheorie. Marx' eigentliches Ziel in diesem Kapitel, das immerhin die Hälfte des Buches ausmacht, ist die Demontage dieser Theorie.22 Eine Relevanz für die Fortschrittsthematik hat das erste Kapitel insofern, als hier bereits Proudhons Gegensatzkonzeption angegriffen wird (speziell in ,§1. Gegensatz von Gebrauchswert und Tauschwert'). Marx diagnostiziert ein Versöhnungsdenken, welches es allein darauf abgesehen hat, die Kategorien miteinander in Einklang zu bringen. Er macht das Beispiel des konstituierten oder synthetischen Werts deutlich: Proudhon setze den Tauschwert mit der .Seltenheit' bzw. der .Nachfrage' gleich, den Gebrauchswert mit ,Überfluß' bzw. Nützlichkeit'. Dann setze er den Tauschwert noch als .Meinung', so dass sich ein Gegensatz zwischen Nützlichkeit (Gebrauchswert/Angebot) auf der einen Seite, und Meinung (Tauschwert/ Nachfrage) auf der anderen ergibt. Diese widersprüchlichen Faktoren wolle Proudhon dann vermittels des freien Willens miteinander „aussöhnen" (MEW 4, 73f), indem 22
Das Fehlerhafte daran kennzeichnet Marx wie folgt: „[Proudhon] verwechselt nämlich den durch die aufgewendete Arbeitsmenge bestimmten Warenwert mit dem Warenwert, bestimmt durch den , Wert der Arbeit'." (MEW 4, 86) Mit anderen Worten, Proudhon verwechselt die beiden Maßstäbe (Arbeits)Zeit und Lohn, ein Missverständnis, das sich schon bei Adam Smith findet, der deswegen von Ricardo kritisiert wird (ebd., 87). „Wenn Herr Proudhon den Wert der Ware durch die Arbeit misst, so überkommt ihn ein unbestimmtes Gefühl, daß es unmöglich ist, die Arbeit, soweit sie einen Wert hat, die Ware Arbeit, nicht auch diesem selben Maßstab zu unterwerfen. Er ahnt, daß er damit das Lohnminimum zum natürlichen und normalen Preis der unmittelbaren Arbeit stempelt, daß er also den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft akzeptiert." (Ebd., 89) Denn auf diese Weise ergibt sich als Resultat, „daß die Arbeitszeit, die zur Herstellung eines Produktes erforderlich ist, sein richtiges Verhältnis zu den Bedürfnissen ausdrückt [dass also die Harmonie zwischen den ökonomischen Kategorien wiederhergestellt ist], so daß die Gegenstände, deren Produktion am wenigsten Zeit kostet, solche von unmittelbarstem Nutzen sind" (ebd., 91). Die nützlichsten Dinge nehmen am wenigsten Produktionszeit in Anspruch. Ausgehend von diesem Gedanken nimmt Proudhon Rekurs auf den für die spekulative Geschichtsphilosophie nicht untypischen Gedanken von der zunehmenden Komplexität. Er geht davon aus, „daß die Gesellschaft stets mit den leichtesten Industrien beginnt und dass sie sich .allmählich auf die Produktion von Gegenständen wirft, die mehr Arbeitszeit kosten und höheren Bedürfnissen entsprechen'". (Ebd.)
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er das Verhältnis zwischen Käufer und Produzent als ein Verhältnis ,freier' Subjekte darstellt. Der Gegensatz zwischen Gebrauchswert und Tauschwert werde vom freien Willen dieser Subjekte hervorgerufen. Dagegen wendet Marx ein, dass dieses Verhältnis ein Zwangsverhältnis ist: die Produzenten in der von Proudhon vorausgesetzten, auf Arbeitsteilung und Einzelaustausch gegründeten Gesellschaft, sind gezwungen zu verkaufen. „Herr Proudhon macht den Produzenten zum Herrn der Produktionsmittel; er wird uns aber zugeben, daß der Besitz dieser Produktionsmittel nicht vom freien Willen abhängt." (Ebd., 75) Zu welchem Zweck stellt Proudhon die ökonomischen Verhältnisse auf diese Weise dar? ,,[D]ie ganze Dialektik des Herrn Proudhon", so argumentiert Marx, bestehe darin, für bestimmte Begriffe wie Gebrauchs- und Tauschwert und für ökonomische Verhältnisse wie Angebot und Nachfrage abstrakte und sich widersprechende Begriffe zu setzen - Seltenheit und Überfluß, Nützlichkeit und Meinung, einen Produzenten und einen Konsumenten, „beide Ritter vom freien Willen." (Ebd., 76) So erhalte sich Proudhon die Möglichkeit, zu einem späteren Zeitpunkt ein vormals ausgemerztes Element als Synthese wiedereinzuführen (in diesem Fall die Produktionskosten als Synthese von Gebrauchswert und Tauschwert). Dieses auf Versöhnung der Gegensätze fixierte Denken Proudhons, so Marx weiter, erreiche aber vor allem eines: es „treibt die Abstraktion auf die Spitze [...] Aber in der wirklichen Welt wickeln sich die Dinge anders ab". (Ebd.) Das zweite Kapitel, ,Die Metaphysik der politischen Ökonomie', ist der gegen Proudhons Methode gerichtete und also der für mein Vorhaben ausschlaggebende Teil des Buches. Hier wird die Kritik der Proudhonschen Gegensatzkonzeption fortgesetzt. Gleichzeitig wird die Verbindung zwischen der Methode und der darauf gründenden Auffassung von fortschrittlicher Entwicklung noch gründlicher untersucht. Am wichtigsten ist der erste Abschnitt ,§ 1. Die Methode' mit seinen sieben Bemerkungen*. Im Zentrum steht erneut der Vorwurf, Proudhon sehe die wirkliche Bewegung, die ökonomischen Beziehungen, „als unwandelbare Gesetze, ewige Prinzipien, als ideale Kategorien", die „früher da waren als die tätigen und handelnden Menschen". (Ebd., 135, vgl. 126) Proudhon selbst formuliert das stolz so: „Wir geben keine Geschichte nach der Ordnung der Zeit, sondern nach der Folge der Ideen." (Zit. n. Marx, MEW 4, 126) Diese Herangehensweise führt in der Konsequenz zur Vernachlässigung der empirischen Geschichte bzw. zu ihrer Subsumtion unter vorgefasste Kategorien. Übrig bleibt allein die Geschichte der Idee, die sich in der Vernunft abspielt. Marx fasst zusammen: „Man vereinfacht in der Tat die Sachen gar zu sehr, wenn man sie auf die Kategorien des Herrn Proudhon zurückführt. Die Geschichte geht nicht so kategorisch vor." (Ebd., 145) Die Konstruktion der Entwicklung der Gesellschaft nach einer apriorischen Formel ist für also Marx nicht deshalb unakzeptabel, weil sie die Wirklichkeit in Gedanken reproduziert, sondern weil sie auf eine Logifizierung ihres Gegenstandes hinausläuft. Er versteht Proudhons Fortschrittsdenken in diesem Sinne als ein hochgradig spekulatives und somit gegenstandsloses Denken, das zu glauben scheint, sich die logische Formel der Bewegung nicht erst an einem Gegenstand erarbeiten zu müssen. (Ganz ähnlich
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verhält es sich ja auch bei Cieszkowski, der es - wie wir oben gesehen haben - Hegels Philosophie sogar als einen .Mangel' ankreidet, dass sie an der Orientierung am Gegenstand festhält.) Damit behauptet dieses Denken natürlich insgeheim von sich, schon selbst die logische Formel zu sein. Diese Selbstbeziiglichkeit des Denkens ist gemeint, wenn Marx sagt, Proudhon ,treibe die Abstraktion auf die Spitze'. Abstrakte Methode und teleologisches Geschichtsdenken sind bei Proudhon eng miteinander verwoben. Dass das Elend der Philosophie für die Abgrenzung von Proudhons politischen und ökonomietheoretischen Positionen steht, ist bekannt. Kaum beachtet wurde allerdings bisher, dass es sich bei dieser Schrift auch um eine Aufarbeitung und Verurteilung der Teleologie in der Geschichte und dem ihr entsprechenden Fortschrittsbegriff handelt. Marx wird sogar recht deutlich in seiner Kennzeichnung der Proudhonschen Methode als Grundbaustein einer teleologischen Geschichtsphilosophie. Bereits im ersten Kapitel lobt er Ricardo dafür, gezeigt zu haben, wie „die wirkliche Bewegung" den Wert konstituiere. Proudhon dagegen „abstrahiert von dieser wirklichen Bewegung und quält sich ab, um neue Prozesse zu erfinden und die Welt nach einer angeblich neuen Bewegung einzurichten, die nur der theoretische Ausdruck der von Ricardo so schön dargelegten wirklichen Bewegung ist. Ricardo nimmt seinen Ausgangspunkt aus der bestehenden Gesellschaft, um uns zu zeigen, wie sie den Wert konstituiert; Herr Proudhon nimmt als Ausgangspunkt den konstituierten Wert, um vermittelst dieses Wertes eine neue soziale Welt zu konstituieren. [...] die Werttheorie des Herrn Proudhon ist die utopistische Auslegung der Theorie Ricardos." (Ebd., 81) Während Ricardo also wissenschaftlich arbeitet und seine Theorien aus den wirtschaftlichen Vorgängen „ableitet", sucht Proudhon ökonomische Tatsachen, „die er martert und fälscht, um sie als Beispiele ... als Keime der Verwirklichung seiner neuschöpferischen Idee hinstellen zu können". (Ebd., 82) Ganz offen bezichtigt Marx Proudhon der Methode der idealen Zwecksetzung - also der Projektion bestimmten Ideale auf die reale Geschichtsentwicklung. Er sieht die ideale Zwecksetzung nicht zuletzt deshalb als gefährlich an, weil sie letztendlich darauf hinauslaufe, moralischen Erwartungen den Vorrang vor der Erkenntnis der eigentlichen historischen Bewegung zu geben: „An die Stelle der großen historischen Bewegung, die aus dem Konflikt zwischen den bereits erworbenen Produktivkräften der Menschen und ihren gesellschaftlichen Verhältnissen hervorgeht, die diesen Produktivkräften nicht entsprechen ... an die Stelle dieser umfassenden und komplizierten Bewegung setzt Herr Proudhon die Entleerungsbewegung seines Kopfes." (Brief an Annenkow, MEW 4, 555) Folglich ist das Système des contadictions économiques eben „nicht ganz einfach eine Abhandlung über politische Ökonomie" (Vorbemerkung zum Elend, MEW 4, 66); es stellt vielmehr den Versuch dar, die historische Bewegung der gesellschaftlichen Verhältnisse spekulativ vermittels einer bestimmten Form des selbstbezüglichen Denkens - zu erklären. Dabei vergesse Proudhon allerdings, dass Ideen und Kategorien nur der abstrakte, ideelle „Ausdruck" jener gesellschaftlichen Verhältnisse seien und somit „historische und vor-
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übergehende Produkte"; Ideen und Kategorien seien bei ihm im Gegenteil die „primäre Ursache" (Brief an Annenkow, MEW 4, 554), welche die Geschichte produziert. Diese Form der Abstraktion stelle die Denkprodukte als völlig abgehoben von den Menschen und ihren Tätigkeiten dar, das heißt als „natürlich, unsterblich, unveränderlich, unbeweglich". Schließlich erschienen auch die sozialen Verhältnisse zwangsläufig „als ewige Formeln, die weder Ursprung noch Fortschritt kennen". (Ebd.) Die Behandlung, die die konkreten Verhältnisse in der reinen Abstraktion erfahren, hat also die paradoxe Folge, dass die Verhältnisse zwar einerseits nach den Bedürfnissen der idealen Zwecksetzung eingerichtet werden, was eine reibungslose Rekonstruktion der historischen Bewegung als Fortschritt garantiert (Fortschritt-als-Gegensatz); andererseits wird auf diesem Wege die Erkenntnis von tatsächlichen Veränderungen in diesen Verhältnissen sogar behindert, was bis zur Verklärung der gegebenen Ordnung führen kann. Es ist dies die paradoxe Konsequenz, die aus dem Wunsch entsteht, Fortschritt und Ordnung in Einklang miteinander zu bringen (was zu dieser Zeit wohl niemand entschiedener anstrebt als Auguste Comte, von dem noch die Rede sein wird). Freilich ist sich Proudhon dieser unkritischen Seite seiner Geschichtsphilosophie nicht bewusst. Marx zufolge muss sie sich jedoch zwangsläufig einstellen, weil Proudhon „in der heutigen Gesellschaft" nichts weiter erblickt als „einen Anfang zur Verwirklichung seiner Lieblingsidee" (Elend der Philosophie, MEW 4, 123). Proudhons Lieblingsidee ist die Gleichheit (in späteren Werken wird es vor allen la justice sein). Sie bestimmt die inhaltliche Seite seines Fortschrittsbegriffs, und bildet gleichzeitig den Hintergrund vor dem sich die formale Seite dieses Begriffs - die Anwendung der Dialektik auf die politische Ökonomie - abspielt. Proudhon will zeigen, dass jede ökonomische Kategorie und jedes ökonomisch-soziale Verhältnis eine ,gute' und eine schlechte Seite' hat. Zusammengenommen bilden beide Seiten, Vorteil und Nachteil, den Hauptwiderspruch im ,System der ökonomischen Widersprüche'. Die selbstgestellte Aufgabe der politischen Ökonomie Proudhons sei es, so Marx, diesen Widerspruch auf eine Weise aufzulösen, die sicherstellt, dass die ,gute Seite' obsiegt: „Zu lösendes Problem: Die gute Seite bewahren und die schlechte beseitigen." (Ebd., 131) Es versteht sich von selbst, dass Proudhon in der ,guten Seite' seine ,Lieblingsidee' wiedererkennt: die Gleichheit. „Von jetzt ab ist die gute Seite eines ökonomischen Verhältnisses stets diejenige, welche die Gleichheit bekräftigt, die schlechte diejenige, welche sie verneint und die Ungleichheit stärkt... Mit einem Wort: Die Gleichheit ist die ursprüngliche Absicht, die mystische Tendenz, das providentielle Ziel, welches der Genius der Gesellschaft beständig vor Augen hat ... Daher ist auch die Vorsehung die Lokomotive, die das ökonomische Rüstzeug des Herrn Proudhon besser in Gang bringt als seine luftige, reine Vernunft." (Ebd., 138) Als Folge seines abstakten Vorbeigehens an der wirklichen Bewegung der Verhältnisse hat Proudhon allerdings gar keine andere Wahl, als die Verwirklichung des Gleichheitsideals auf dem Weg einer teleologischen Erklärung nachzuweisen. Diesen Modus
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der Erklärung charakterisiert Marx ganz unmissverständlich als eine „Unterschiebung von Zielen" (ebd., 139): „So ist Herr Proudhon auch gezwungen, zu einer Fiktion Zuflucht zu nehmen, um die Entwicklung zu erklären. Er bildet sich ein, die Arbeitsteilung, der Kredit, die Maschinen etc., alles sei erfunden worden, um seiner fixen Idee, der Idee der Gleichheit, zu dienen. Seine Erklärung ist von köstlicher Naivität. Man hat diese Dinge eigens für die Gleichheit erfunden, doch leider haben sie sich gegen die Gleichheit gekehrt ... Das heißt, er geht von einer willkürlichen Annahme aus, und da die wirkliche Entwicklung und seine Fiktion einander auf Schritt und Tritt widersprechen, schließt er daraus, daß hier ein Widerspruch bestehe. Er verhehlt dabei, daß es nur ein Widerspruch zwischen seinen fixen Ideen und der wirklichen Bewegung ist." (Brief an Annenkow, MEW 4, 552) Die Gleichheit ist der durchgängig sich realisierende Zweck der Geschichte. Das Prinzip der Geschichte ist - der Fortschritt: „Herr Proudhon ... findet den Fortschritt in der Geschichte verwirklicht." (Ebd., 547f.) In seiner Interpretation des Marxschen Fortschrittsbegriffs kommentiert Roberto diesen wichtigen Satz so: „Marx conceded that Proudhon had found ,progress realized in history' but criticized him for not attributing progress to the work of men." (2001, 230, d. Verf.) Somit entsteht der gänzlich falsche Eindruck, Marx ,gestehe' es Proudhon als eine Errungenschaft ,zu' (to concede), herausgefunden zu haben, dass sich der Fortschritt in der Geschichte verwirklicht. Roberto rechnet es Marx also als ein theoretischer Durchbruch an, sich auf die Seite der Geschichtsteleologie geschlagen zu haben. In Wirklichkeit ist es gerade der Verwirklichungsgedanke, der an dieser Stelle von Marx kritisiert und abgelehnt wird. Proudhon behauptet natürlich nicht, die Gleichheit verwirkliche sich gleichmäßig in der Geschichte. Er glaubt sogar, dass Verhältnisse, welche die Gleichheit befördern sich zugleich gegen diese kehren, auch wenn das die Gleichheit langfristig nicht aufhalten kann. Am Ende siegt immer die ,gute Seite'. Proudhon hat darum nicht nur einen universalistischen Begriff von Fortschritt - er hat zugleich einen gegensätzlichen (widersprüchlichen) Begriff von Fortschritt: Fortschritt-als-Gegensatz. Die Formel, die Marx nun gegen diesen auf der Logifizierung der wirklichen historischen Bewegung basierenden, abstrakten und nach allen Seiten hin auf finale Versöhnung drängenden Begriff von Fortschritt ins Feld führt, lautet: „Mit dem Moment, wo die Zivilisation beginnt, beginnt die Produktion sich aufzubauen auf den Gegensatz der Berufe, der Stände, der Klassen, schließlich auf den Gegensatz zwischen angehäufter und unmittelbarer Arbeit. Ohne Gegensatz kein Fortschritt; das ist das Gesetz, dem die Zivilisation bis heute gefolgt ist." (Elend der Philosophie, MEW 4, 91f., d. Verf.) Hier ist zunächst der Kontext zu beachten. Marx bezieht sich auf ein soziales Gegensatzverhältnis. Im französischen Original von wird dieses Verhältnis übrigens als Antagonismus bezeichnet: „Pas d'antagonisme, pas de progrès." (Marx 1983, 201) Je-
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dem historisch bestimmten Klassengegensatz, heißt es einige Seiten weiter, „entspricht" {Elend der Philosophie, MEW 4, 105) eine bestimmte Produktionsweise. In den gesellschaftlichen Verhältnissen stehen sich aber nicht irgendwelche Individuen gegenüber, sondern Arbeiter und Kapitalist, Pächter und Grundbesitzer usw. Die Gesellschaft „basiert auf de[m] Klassengegensatz ... Streicht diese Verhältnisse, und ihr habt die ganze Gesellschaft aufgehoben". (Ebd., 123) Proudhon abstrahiere von diesen bestimmten sozialen Gegensatzverhältnissen, und darum stelle er „die ganze historische Entwicklung auf den Kopf (ebd., 92). Bemerkenswert ist außerdem, dass sich ,Gesetz' in der zitierten Passage auf diese gegensätzlichen Verhältnisse bezieht und nicht unmittelbar auf den Fortschritt. Nicht der Fortschritt ist das Gesetz der Entwicklung dieser Gegensätze. Vielmehr ist es als eine Gesetzmäßigkeit anzusehen, dass Fortschritt aus den gesellschaftlichen Gegensätzen hervorgeht. In diesem Sinne fasst der Satz ,Ohne Gegensatz kein Fortschritt ...' die Resultate von Marx' kritischer Auseinandersetzung mit dem traditionellen Konfliktmodell zusammen. Er sollte deshalb zum Leitsatz des originären Marxschen Fortschrittsbegriffs erhoben werden. Marx hält an dem Gedanken fest, dass Fortschritte im Rahmen einer von Gegensätzlichkeit gezeichneten historischen Bewegung stattfinden. In diesem Punkt knüpft er an das traditionelle Konfliktmodell an. Allerdings liegt dem Marxschen Konfliktmodell, das ich hier gewissermaßen in einen ideengeschichtlichen Gegensatz zum traditionellen Konfliktmodelle stelle, eine unterschiedliche Auffassungen von Gegensätzlichkeit zugrunde, die erst noch zu bestimmen ist. Das ist die Aufgabe der Analyse des besonderen Gegensatzcharakters des Marxschen Fortschrittsbegriffs im folgenden Kapitel. Hier soll zunächst am Beispiel von Proudhons Theorie der Arbeitsteilung auf einige Probleme hingewiesen werden, die das dialektische Konfliktmodell mit sich bringen kann.
c.
Gegensatz und Dialektik bei Proudhon
Das Système des contradictions économiques setzt die Kategorie der Arbeitsteilung als die erste ökonomische Kategorie, welche die ökonomische Entwicklung überhaupt erst eröffnet. Proudhon geht davon aus, das auch das ökonomische Verhältnis der Arbeitsteilung eine ,gute' und eine .schlechte' Seite hat: Sie hat die ,gute Seite' an sich, seine ,Lieblingsidee' zu realisieren, und zwar als Verkörperung der „Gleichheit der Bedingungen und Intelligenzen"; zugleich hat sie die .schlechte Seite' an sich, als „Quelle des Elends" zur „Negation ihrer Ziele" zu werden (Proudhon, zit. n. Elend der Philosophie, MEW 4, 144). Laut Système des contradictions kann es außerhalb der Arbeitsteilung keinerlei Fortschritt, Reichtum oder Freiheit geben; gleichzeitig unterwerfe die Arbeitsteilung den Arbeiter und mache Intelligenz nutzlos, Reichtum schädlich und Gleichheit unmöglich (Proudhon 1846a, 138f.). Die Arbeitsteilung ist also widersprüchlich besetzt. Marx zitiert einen Absatz, in dem Proudhon diese Auffassung zusammenfasst: „Mit dieser feierlichen Stunde der Arbeitsteilung beginnt der Sturmwind über die Menschheit zu wehen. Der Fortschritt vollzieht sich nicht für alle auf eine
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gleiche und einheitliche Art ... Er beginnt damit, sich einer kleinen Zahl von Privilegierten zu bemächtigen ... Diese Bevorzugung von Personen von Seiten [sie.] des Fortschritts ist es, die so lange an die natürliche und providentielle Ungleichheit der Lebenslagen glauben gemacht, die Kasten ins Leben gerufen und alle Gesellschaften hierarchisch aufgebaut hat." (Zit. n. Elend der Philosophie, M E W 4, 147)
Wir haben es hier also mit einer Geschichtsauffassung zu tun, welche die Arbeitsteilung als einen Widerspruch bestimmt. Der Arbeitsteilung kommt zudem die wichtige Rolle zu, die primäre historische Kategorie zu sein: der Ausgangspunkt der ökonomischen Entwicklung. Diese wird wiederum in ihrer Gesamtheit als Fortschritt gedacht, der deshalb nach dem gleichen Muster in widersprüchliche Bestimmungen auseinander fällt bzw. sowohl die ,gute' als auch die .schlechte' Seite in sich vereinigt. Mit diesem ambivalenten Begriff von Fortschritt vertritt Proudhon bereits eine Auffassung von der Geschichtsentwicklung, die (wie das letzte Kapitel gezeigt hat) das 20. Jahrhundert in Form eines zunehmenden Tendenzpessimismus dominieren wird. Marx entlarvt Proudhon als Ambivalenztheoretiker. Ärgerlich rekapituliert er Proudhons Argument, der Fortschritt habe sie soziale Ungleichheit zu verantworten: „Will man weitergehen und fragen, was die Arbeitsteilung dahin brachte, die Kasten, die hierarchischen Konstitutionen und die Privilegien zu schaffen, so wird Herr Proudhon antworten: der Fortschritt." (Ebd., 147) Nach Proudhons Auffassung von der Rolle der Arbeitsteilung in der geschichtlichen Entwicklung ist Fortschritt ein Universalphänomen im Sinne eines Kollektivsingulars. Wird dem Fortschritt freilich dieses Ausmaß zugeschrieben, dann wird ihm zwangsläufig widersprüchlicher Charakter unterstellt. Fortschritt ist dann nicht mehr dazu befähigt, tatsächliche Verbesserungen zu beschreiben. Statt dessen wird er in die Rolle eines ambivalenten Prinzips gezwungen, das die ,gute' und die .schlechte Seite' (Verbesserungen und Verschlechterungen) in sich vereinigt, um sie dann wieder aus sich herauszusetzen, indem es, wie Proudhon formuliert, bestimmte Personengruppen .bevorzugt' und andere vernachlässigt. Kurzum: dieser Fortschritt ist so allgemein konzipiert - so ,abstrakt', im negativen Sinne der Marxschen Spekulationskritik - , dass alle Menschen in seinen Genuß kommen. Gleichzeitig wird über ihn geredet, als sei er ein bewusst handelndes Individuum, eine persönliche Instanz, die über Belohnung und Strafe entscheidet. Proudhons Begriff der Arbeitsteilung ist in Wirklichkeit ein Ausdruck seiner Hoffnung auf allgemeine gesellschaftliche Versöhnung. Das setzt voraus, dass die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse nach der ,guten Seite' aufgelöst werden. Für die Arbeitsteilung bedeutet das, dass auch ihre „Rekomposition" zu finden ist, die, wie Proudhon formuliert, ihre „Unzulänglichkeiten" beseitigt aber ihre „nützlichen Wirkungen" erhält (zit. n. Elend der Philosophie, MEW 4, 144). Selbstverständlich spielt Proudhon auf seine Lieblingsidee an: auf die Gleichheit. Das also ist die historische Dialektik Proudhons: Die Geschichte als Verwirklichungsprozess eines sich in ,guten' und .schlechten' Seiten manifestierenden Ideals. Dieser Prozess wird, Marx zufolge, nicht nur so dargestellt, als habe er den Charakter eines „ewigen Gesetzes" (ebd., 144);
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auch seine gegensätzliche Struktur stellt sich als bloßer Schein heraus, wird sie doch zu guter Letzt sowieso eingeebnet. Bestehen bleibt allein die ,gute' Seite. Dieses primär auf Versöhnung fixierte Denken ist in Marx' Augen vor allen Dingen ein unkritisches Denken: „Von dem Wunsch beseelt, die Widersprüche zu versöhnen stellt sich Herr Proudhon nicht einmal die Frage, ob nicht eigentlich die Grundlage dieser Widersprüche umgewälzt werden muß." (Brief an Annenkow, MEW 4, 556) Es ist außerdem ein im schlechtesten Sinne moralisierendes Denken, in das sich Proudhon flüchtet, weil er unfähig ist, die eigentliche Genese der ökonomischen Verhältnisse zu erklären. „Er gesteht, daß ihn diese Unfähigkeit zwingt, zu Erwägungen der Psychologie und Moral seine Zuflucht zu nehmen" (Elend der Philosophie, MEW 4, 165). Marx verwendet das Motiv der ,Flucht in die Moral' (mehr dazu im sechsten Kapitel) wiederholt, um den Verzicht auf eine wissenschaftliche Arbeitsweise - die Erklärung der Dinge aus ihrer inneren Notwendigkeit und aus ihrem historischen Zusammenhang heraus - zu unterstellen. Angesichts des moralischen Eskapismus Proudhons leuchtet es sogar ein, dass Marx sich zu der Bemerkung hinreißen lässt, es sei „stets die schlechte Seite ... welche schließlich den Sieg über die gute Seite davonträgt. Die schlechte Seite ist es, welche die Bewegung ins Leben ruft, welche die Geschichte macht, dadurch, daß sie den Kampf zeitigt." (Ebd., 140) Es geht ihm hier vor allem darum, seiner Vorstellung von einem Mindestmaß an Unversöhnlichkeit der Gegensätze Nachdruck zu verleihen: „Soweit man sich nur das Problem stellt, die schlechte Seite auszumerzen, schneidet man die dialektische Bewegung entzwei." (Ebd., 133) Damit stellt Marx einen Bezug zwischen dem Elend der Philosophie und bestimmten Resultaten seiner Hegelkritik her, die vor den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 gewonnen wurden. Diese kämpferische Auffassung von Dialektik wird nämlich schon im Kreuznacher Manuskript von 1843 als Verselbständigung der Extreme im Gegensatz vorweggenommen. (Die Untersuchung der Gegensatzthematik im folgenden Kapitel setzt sich intensiv mit dieser Thematik auseinander.) Die Kernaussage des genuin Marxschen Fortschrittsdenkens, ,Ohne Gegensatz kein Fortschritt', muss also vor dem Hintergrund des Proudhonschen Tilgungsschemas und dem in ihm angelegten Automatismus der Höherentwicklung gesehen werden. Zumal dieses Tilgungsschema rein logisch betrachtet für das geschichtliche Denken sowieso ungeeignet ist. Wer die schlechte Seite ausmerzt, vernichtet schließlich die Elemente, welche die Entwicklung überhaupt erst hervorriefen. „Man hätte sich das absurde Problem gestellt, die Geschichte auszustreichen." (Ebd., 140) Über den speziellen Gegensatztyp der Widersprüchlichkeit, den Proudhon für alle Kategorien seiner politischen Ökonomie in Anspruch nimmt, äußert Marx spöttisch: „Er betrachtet die Kategorien, wie der Spießbürger die großen Männer der Geschichte betrachtet: Napoleon ist ein großer Mann, er hat viel Gutes getan, er hat auch viel Schlechtes getan." (Ebd., 131) Was Marx an dieser Betrachtung bemängelt ist jedoch nicht so sehr ihre ambivalente oder kontradiktorische Form, sondern dass diese Form bloß als Gerüst einer unterschwelligen (dem Autor unbewussten) Moralisierung ihres
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Gegenstandes missbraucht wird; dass sie also zur logischen Befestigung des Gedankens, die eine Seite wiege die andere moralisch auf, verwendet wird. Nun ist es Marx ein dringendes Anliegen, sich schützend vor die Hegeische Dialektik zu stellen, weil er glaubt, sie vor Entstellungen und Missbrauch bewahren zu müssen. Seine Verteidigung der Hegeischen Dialektik muss in diesem Licht gesehen werden. Proudhon macht es sich ja zur Aufgabe, die Hegeische Dialektik auf die ökonomische Entwicklung der Gesellschaft anzuwenden und also zu historisieren. Gegen dieses spezielle Unternehmen tritt Marx nun scheinbar als unreformierter Hegelianer auf.23 Diese Feinheiten gibt Roberto nicht wieder, wenn er behauptet, die Marxsche Kritik versuche sich des „Wesens" der Hegeischen Philosophie zu bemächtigen (2001, 226). Marx verteidige die Hegels Dialektik nicht nur gegen Proudhons Historisierang - er wolle sie vielmehr als „materialist dialectic" (ebd., 228) auf sein eigenes Fortschrittsdenken anwenden.24 So entsteht der irreführende Eindruck, Proudhon und Marx hätten ähnliche Ziele, was die Verwertung Hegels anbelangt. Das ist ganz und gar nicht der Fall. Marx geht es vor allem darum, die Hegeische Dialektik gegen Proudhons unbeholfene Annäherungsversuche abzuschirmen und nicht darum, sie unkritisch als Methode für die eigene Theorie zu übernehmen. Warum glaubt Marx, Hegel vor Proudhon in Schutz nehmen zu müssen? Weil Proudhon ein schlechter Hegelianer ist. Warum ist Proudhon ein schlechter Hegelianer? Weil er über die ersten beiden Stufen der Dialektik, These und Antithese, nicht hinauskommt. Seine dialektische Methode ist von Anbeginn ein zweigliedriges Gebilde, das immerzu nach der Versöhnung der Gegensätze strebt, ohne diese jedoch als Synthese bzw. Aufhebung denken zu können. Seine Philosophie leidet unter dem Widerspruch, dass sie zwar überall mehr oder weniger ausdrücklich die Synthese beschwört, aber stets nur bis zur Antithese gelangt, woraufhin sie dann wieder auf die These zurückgeworfen wird. Ich sagte eingangs, dass Marx' Wahrnehmung der Proudhonschen Philosophie als Hegelianismus eine etwas einseitige ist. Anfang der 1840er Jahre gelangt Proudhon zu einer Weltanschauung, nach der die Realität ein durch bipolare aber allesamt auflösbare Gegensätze strukturiertes Gebilde ist. Proudhon verfügt sozusagen über eine Ontologie der Gegensätze. Diese Gegensätze nennt er abwechselnd .Antagonismen',,Antinomien' oder eben, wie im Titel des Système des contradictions économiques, .Widersprüche'. 23
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Marx' Kritikpunkt, bei Proudhon erscheine die Dialektik als eine unkritische, abstrakte Hülle wird übrigens von einem gewissen Adolf Lafaurie vorweggenommen. Lafaurie bemängelt, dass Proudhon die „Form der Vernunft von ihrer lebendigen Kritik trennt" und zur „Konsolidierung der Verhältnisse" beiträgt, „die er selbst aufheben möchte" (zit. n. Pelger 1979, LXXX). Roberto kann sich nicht entscheiden, welchen Fortschrittsbegriff er Marx unterstellen soll. Einmal behauptet er: „As Marx argues ... progress had always been paradoxical", wodurch Fortschritt als Widerspruch bestimmt wird; dann ist es „the development of contradictions and antagonisms that generated progress" (2001, 241, vgl. 235), wodurch der Fortschritt zum Resultat der widersprüchlichen Entwicklung gemacht wird. Damit sind jedoch zwei verschiedene Konzeptionen des Verhältnisses von Fortschritt und Gegensatz bzw. Fortschritt und Entwicklung angesprochen. Diese Ungereimtheit steht einer schlüssige Bestimmung dieses Verhältnisses im Wege, obwohl eine solche Bestimmung durch das Elend der Philosophie erstmals möglich gemacht wird.
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Schon durch diese Ungenauigkeit des Sprachgebrauchs entsteht einige Verwirrung. Das Auftreten der Gegensätze in kontinuierlichen Reihen (,Serien') verursacht jedenfalls Proudhon zufolge eine fortschrittliche Entwicklung von einfachen zu komplexen und von niederen zu höheren Daseinsformen. Der Gegensatz (hier: die .Antinomie') „est la loi même de la vie et du progrès, le principe du mouvement perpétuel". (1846b, 396) Dieses sowohl an Fouriers Auffassung von der Serie als auch an Hegels Dialektik angelehnte logische Entwicklungsschema will Proudhon eigentlich ausführlicher darlegen. Doch dazu kommt es nicht. Die Schrift De la création de Vordre enthält lediglich ein längeres Kapitel über ,Metaphysique', und im Système finden sich vereinzelte, kürzere Darstellungen dieser als loi sérielle (Seriengesetz) oder dialectique sérielle (Seriendialektik) bezeichneten Logik. Deren Eigenart besteht nun darin, dass sie von der Versöhnung der alles durchdringenden Gegensätze ausgeht, diese aber ohne Synthese haben will und statt dessen von der Aussöhnung der beiden Pole miteinander ausgeht, die bei Proudhon auch den Namen l'equilibre (Equilibrium) trägt. Die Seriendialektik sieht also keine Auflösung oder Aufhebung im Hegeischen Sinne vor, sondern eine Art Burgfrieden zwischen den beiden Polen des Gegensatzes. Zu berücksichtigen ist, dass es sich bei dieser Gegensatzkonzeption nicht einfach um die Logik der Bewegung im allgemeinen handelt - um die ,Abstraktionsformel', wie Marx sagen würde - , sondern um die Logik der konkreten Bewegung des Fortschritts. Wie bereits erwähnt sind la série, le mouvement und le progrès für Proudhon ,synonyme' Begriffe.25 Gleichzeitig wird von den alles durchdringenden Gegensätzen behauptet, sie generierten den Fortschritt: „Otez l'antinomie, le progrès des êtres est inexplicable: car où est la force qui engendrerait ce progrès? Otez la série, le monde ne plus qu'une mêlée d'oppositions stériles, une ébullition universelle, sans but et sans idée" (ebd.). An diesem letzten Satz wird die fundamentale Bedeutsamkeit der Gegensatzproblematik für das Fortschrittsdenken sichtbar. Ich habe oben behauptet, ,Ohne Gegensatz kein Fortschritt' sei Marx' wichtigste Aussage zur Fortschrittsproblematik. Jetzt stellt sich heraus, dass ,Ohne Gegensatz kein Fortschritt' gar keine Marxsche Erfindung ist. Proudhon sagt genau dasselbe, wenn auch mit anderen Worten. Wenn Marx das Système gründlich gelesen hat, dann hat er diese Stelle mitgelesen. Vielleicht trifft er dort sogar zum ersten Mal auf diesen Gedanken. ,Ohne Gegensatz kein Fortschritt' ist also der Grundsatz nicht allein des Marxschen, sondern allen modernen Fortschrittsdenkens auf der Basis des Konfliktmodells der Geschichtsentwicklung. Vorausgesetzt, Marx hat nicht die Absicht diesen Grundsatz einfach zu wiederholen, dann können wir davon ausgehen, dass er ihm eine andere Bedeutung geben will: Er will diese alte Formel neu denken. Darauf kann aber an dieser Stelle nur hingewiesen werden, weil das spezielle 25
In der Philosophie du progrès errichtet Proudhon auf dieser Grundlage eine regelrechte Kosmologie. Im Universum sei alles Gegensatz, Gleichgewicht, Equilibrium: „tout est opposition, balencement, équilibre, dans l'univers." (1853, 42) Die Bewegung sei die erste fundamentale Bedingung allen Seins (ebd., 56). Die zweite fundamentale Bedingung sei die Einheit; und gemäß der Theorie des Fortschritts sei die Einheit allen Seins wesentlich synthetisch: „l'unité de tout être est essentiellement synthétique" (ebd., 61f.).
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Verhältnis von Gegensatz und Fortschritt die formale Dimension des Fortschrittsbegriffs betrifft, die im folgenden Kapitel besprochen wird. Zurück zu Proudhon. Seine Philosophie lässt die Gegensätze überall auftreten, und das serienmäßig'. Die Serie wiederum ist gleichbedeutend mit Fortschritt. Diese Identifikation des Fortschritts mit dem Gegensatz ergibt einen Begriff, der neben der Universalität seines Geltungsbereiches zusätzlich durch seine immanente Gegensätzlichkeit gekennzeichnet ist, die freilich nicht wirklich zur Geltung kommen kann, da sie ganz im Zeichen der Versöhnung steht. Versöhnung aber nicht im Sinne von Aufhebung in ein qualitativ Neues (wie bei Hegel), sondern im Sinne der Herstellung eines Equilibriums, also eines ausgeglichenen Nebeneinanders der Entgegengesetzen. Natürlich behauptet Proudhon, seine Konzeption der gegensätzlichen aber dennoch gesetzmäßigen fortschrittlichen Entwicklung sei nicht-finalistisch, ,ohne Ende': „La vie de l'homme est une solution d'antinomies sans fin ... une harmonisation sans terme, ni pour l'individu, ni pour l'espèle." (1960, 212) Derartige Beteuerungen sind ein typisches Merkmal von versöhnungsorientierten Fortschrittsentwürfen; man versteht sie vielleicht am besten als Selbstschutzmechanismus, der dem unweigerlich folgenden Naivitäts- und Heilslehrenvorwurf schon im Voraus den Wind aus den Segeln nehmen soll. Allzu ernst sollte man diesen Vorsatz schon deshalb nicht nehmen, weil Proudhon ihn genauso wenig durchsetzen kann, wie Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten seine Einsicht in die gegenständliche Vermittlung gegen den Fortbestand des bestimmungsteleologischen Denkmusters durchsetzen kann. Proudhon kann nicht beides zugleich haben: einerseits den unendlichen Fortschritt, ins Leben gerufen und vorangetrieben durch eine alles durchdringende Gegensätzlichkeit; andererseits die universelle .Harmonisierung'. Letztere würde schließlich die Bewegung zum Stillstand bringen, und mit dem guten Vorsatz der Ziellosigkeit der Entwicklung wäre es dann vorbei. Die Historisierung der Dialektik sorgt schon dafür, dass am Ende die Versöhnung den Sieg davon trägt. Bei Proudhon fallen freilich die Ungenauigkeit des Sprachgebrauchs und die Tatsache, dass es ihm nicht gelingt, seine Theorie von der Seriendialektik und dem Seriengesetz klar und systematisch auszuarbeiten, viel schwerer ins Gewicht als beim Marx der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte. Dieser etwas schwammigen Gegensatzkonzeption Proudhons - eine antagonistisch aufgerüstete, nur scheinbar nicht-finalistische Pseudodialektik zum Zweck der Legitimation der apriorischen Konstruktion der Geschichtsentwicklung als Fortschrittsentwicklung - stellt Marx nun prägnant sein eigenes Verständnis der Verlaufsform der Hegeischen Dialektik entgegen: „Das Ja wird Nein, das Nein wird Ja, das Ja wird gleichzeitig Ja und Nein, das Nein wird gleichzeitig Nein und Ja; auf diese Weise halten sich die Gegensätze die Waage, neutralisieren sie sich, heben sie sich auf. Die Verschmelzung dieser beiden widersprechenden Gedanken bildet einen neuen Gedanken, die Synthese derselben." (Elend der Philosophie, MEW 4, 129) Dieser Darstellung zufolge findet die eigentliche „dialektische Bewegung" also interessanterweise primär als der „Kampf der beiden „in der Antithese enthaltenen Elemente"
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(ebd.) statt, wohingegen die Hegelinterpretation Proudhons den Schwerpunkt auf den Kampf zwischen These und Antithese legt. Es finden sich immer noch keine Hinweise darauf, dass Marx die Dialektik Hegels in dieser Form als Forschungsmethode (oder als Entwicklungsschema der Gegenstände dieser Forschung) in Anspruch nehmen möchte. Zumal es sich hierbei um die zweifelhafte „Bewegung der reinen Vernunft" (ebd., 128) handelt. Marx vertritt also einen Standpunkt, der sowohl der Dialektik Hegels als auch ihrer Verwertung durch Proudhon gegenüber kritisch eingestellt ist, wobei seine Proudhon-Kritik wiederum von den bereits gewonnenen Ergebnissen der Hegel-Kritik profitiert. Marx zeigt auf die Probleme, die Proudhon daraus entstehen, dass er den letzten Schritt des Hegeischen Entwicklungsschemas, die Synthese oder Aufhebung, aus seinem geschichtsphilosophischen Entwurf verbannt, und statt dessen darum bemüht ist, die Gegensätze nach ihrer positiven Seite aufzulösen. Proudhon versucht also, die Hegeische Sicht auf die Realität als ein durch und durch von Gegensätzen strukturiertes Gebilde und das Hegelsches Streben nach der Versöhnung dieser Gegensätze mit seiner eigenwilligen Vorstellung von Versöhnung zu kombinieren, die nicht mit Hegels Dialektik vereinbar ist. Proudhon ist gewissermaßen ein unhegelianischer Hegelianer. Sein Système des contradictions steht demnach nicht, wie Roberto annimmt, für die bewusste „rejection of the Hegelian dialectic" und „Hegel's concept of social and historical progress" (2001, 227). Statt dessen handelt es sich um den Versuch einer produktiven Aneignung oder Vereinnahmung dieses Entwicklungsschemas. - Und in diesem Bestreben sind sich Marx und Proudhon ja sogar einig. Nur bleibt bei Proudhon ein fundamentaler Bestandteil dieses Schemas auf der Strecke, ohne dass er für einen adäquaten Ersatz sorgen würde. Es ist gerade diese Verfehlung, die aus Marx' Sicht das eigentliche ,Elend' der Proudhonschen Philosophie ausmacht. Marx' Polemik gegen Proudhon ist immer auch als Absage an die bestimmende Form des modernen Fortschrittsdenkens zu verstehen: als Absage an die Subsumierung der historischen Bewegung unter den Begriff des Fortschritts. Das gilt selbst dann, wenn dieser Begriff bereits die Neuerung enthalten sollte, dass die historische Bewegung jetzt nicht mehr ,naiv' als eine linear-aufsteigende aufgefasst wird, sondern viel differenzierter als eine gegensätzliche, sich sowohl in Brüchen als auch in Sprüngen bewegende. Mit anderen Worten, Marx wendet sich gegen eine bestimmte historische Variante des UniversalbegrifFs Fortschritt: gegen den Begriff Fortschritt-als-Gegensatz. Das Herzstück dieser Kritik ist die Zurückweisung der Methode der idealen Zwecksetzung, mit welcher die Erforschung der wirklichen historischen Bewegung zugunsten einer Konstruktion der Geschichte als Verwirklichungsprozess wünschenswerter .Lieblingsideen' umgangen wird. Marx' Kritik an dieser Variante des Fortschrittsdenkens ist darum immer auch als eine dezidierte Absage an die Teleologie als legitime Methode der Erklärung von historischen Entwicklungen zu verstehen. Marx legt also bereits Mitte der 1840er Jahre eine gründliche Kritik ausgerechnet jenes projektiven Geschichts- und Fortschrittsdenkens vor, welches ihm von vielen Fortschrittsskeptikern - speziell von den Vertretern der Löwithschen Formel (Heilslehrenvorwurf) - bis zum heutigen Tage unterstellt wird. Diesem Aspekt der Marxschen Theorie sollte deshalb ein viel größerer Stellenwert eingeräumt werden. Wie dringlich eine solche Neubewertung ist, wird
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deutlicher noch, wenn man bedenkt, dass Marx sein erstes Buch für ein ausgesprochen gelungenes hält. Jedenfalls betreibt er fleißig Eigenwerbung in Sachen Elend der Philosophie. Im Vorwort von Zur Kritik der politischen Ökonomie lobt er es als erste wissenschaftliche Darstellung der „entscheidenden Punkte" (MEGA II/2, 102/MEW 9, 10) seiner und Engels Ansichten. Im ersten Band des Kapitals zitiert er sich gleich zweimal selbst aus dem Elend der Philosophie, das er seinen Lesern zusammen mit dem Kommunistischen Manifest als Lektüre empfiehlt (MEGA II/6, 111 Fn. 33 und 500 Fn. 26/MEW 23, 96 Fn. 33, und 559f. Fn. 26). Schließlich heißt es noch 1880 in einer kurzen Notiz anlässlich der Neuveröffentlichung, Das Elend der Philosophie enthalte bereits „les germes de la théorie développée après vingt ans de traveil dans Le Capital" und „pourront donc servir d'introduction à l'étude du Capital" (MEGA 1/25, 198/MEW 19, 229). Das Elend der Philosophie steht demnach nicht für eine vorübergehende Phase im Marxschen Denken, sondern für dauerhafte Positionen, an denen Marx zeitlebens festhält. Das bezeugt auch der Brief an Schweitzer vom 24. Januar 1865, in dem Marx anlässlich Proudhons Tod seine im Elend der Philosophie (aus dem er ausgiebig zitiert) vorgetragenen Thesen noch einmal rekapituliert: „Hart, wie das vorstehende Urteil klingt, muß ich noch heute jedes Wort desselben unterschreiben." (MEGA 1/20, 64/ MEW 16, 29) Wieder konzentriert sich die Kritik auf zwei wesentliche Bereiche, die schon 1846/47 abgedeckt wurden: erstens die Teleologie in der Geschichte; zweitens Proudhons Gegensatzkonzeption. Die Kritik der Geschichtsteleologie wird noch einmal in aller Deutlichkeit als Absage an die apriorische Projektion idealer Zwecke formuliert. Proudhon gebe seinen Theorien einen wissenschaftlichen Anstrich, „wodurch eine Formel für die ,Lösung der socialen Frage' a priori herausspintisirt werden soll, statt die Wissenschaft aus der kritischen Erkenntniß der geschichtlichen Bewegung zu schöpfen, einer Bewegung, die selbst die materiellen Bedingungen der Emancipation producirt". (Ebd., 63/28) Aus diesem Grund sei Proudhon nach Qu'est-ce que la propriété (1840) ins Lager der Dialektiker gewechselt: „Er versucht zugleich, das System der ökonomischen Categorien dialektisch darzustellen. An die Stelle der unlösbaren ,Antinomien' Kants sollte der Hegel'sche , Widerspruch' als Entwicklungsmittel treten." (Ebd., 62/27) Mit alledem beweise jedoch Proudhon nur, „wie wenig er in das Geheimniß der wissenschaftlichen Dialektik eingedrungen; wie er andererseits die Illusionen der spekulativen Philosophie theilt, indem er die ökonomischen Categorien, statt als theoretische Ausdrücke historischer, einer bestimmten Entwicklungsstufe der materiellen Produktion entsprechender, Produktionsverhältnisse zu begreifen, sie in präexistierende, ewige Ideen verfaselt und wie er auf diesem Umwege wieder auf den Standpunkt der bürgerlichen Oekonomie ankommt." (Ebd., 62f./28) Wir sind am Ende dieser Überblickes über die Proudhon-Kritik angelangt, dem wohl wichtigsten Schritt in der Entstehung eines originären Marxschen Fortschrittsbegriffs. Abschließend präsentiere ich die wichtigsten Resultate dieser Kritik noch einmal in konzentrierter Form:
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1.) Pseudo-dialektische Abstraktion statt Analyse der .wirklichen Bewegung': In seiner Darstellung der historischen Bewegung richtet sich Proudhon nach der gegensätzlichen Bewegung der Denkprodukte. Nur entspricht der Charakter dieser rein abstrakten Entgegensetzungen nicht dem Charakter der gesellschaftlichen Gegensatzverhältnisse, deren Theoretisierung die eigentliche Aufgabe ist. 2.) Equilibrium statt Synthese: Die Abstraktion passt nicht auf die wirkliche historische Bewegung. Das schlägt sich in Proudhons misslungenem Versuch einer Überwindung der Hegeischen Synthese nieder. Gegensätze sollen einfach dadurch aufgelöst werden können, dass ihre ,schlechte Seite' eliminiert wird. Der Entwicklungsprozess steht also weder im Zeichen der Negation der Negation noch der Synthese und dementsprechend entbehrt er jeglicher Dynamik. Proudhon synthetisiert nicht, er versöhnt, und eben darin unterscheidet er sich von Hegel. 3.) Unfreiwillige Verklärung des Gegebenen statt Erkenntnis des Neuen: In der Tat ist Proudhon gar nicht in der Lage, das Neue zu begreifen. Seine Gegensatzkonzeption dient in Wirklichkeit der Bestätigung der bestehenden Verhältnisse, wenngleich er dies freilich nicht beabsichtigt. Das Système des contradictions économiques ist Ausdruck eines unkritischen Versöhnungsdenkens. Mehr noch, es stellt insofern einen paradoxen geschichtsphilosophischen Entwurf dar, als es fortschrittsorientiert und gegenwartsverklärend zugleich ist. 4.) Moralisierende Teleologie statt wissenschaftlicher Forschung: Proudhon erklärt weder die empirische Bewegung der Geschichte noch die Entwicklung der ökonomischen Kategorien. Er kämpft in Wirklichkeit mit Problemen, die sich aus der von ihm selbst als Ideal vorausgesetzten ,Lieblingsidee' ergeben. Aus diesem Grund tritt er im Elend in den Bemerkungen (besonders in den Bemerkungen vier bis sechs des ersten Paragraphen des zweiten Kapitels) nicht als Wissenschaftler auf, sondern als Moralist. Auf diesem Weg arbeitet Marx erstmals folgendes Problem heraus: Die ambivalente Besetzung des Fortschritts vermag es nicht, zwischen der formalen und der inhaltlichen (moralischen) Bestimmung der Bewegung zu unterscheiden, die mit dem Fortschrittsurteil belegt wird. Dieses Versäumnis führt dazu, dass Fortschritt zwangsläufig als Heilsgeschehen erscheinen muss (dasselbe gilt für die zeitgenössische fortschrittskritische Ambivalenztheorie). Daraus ergibt sich, als methodischer Grundsatz, die Notwendigkeit der gleichberechtigten Betrachtung der formalen und inhaltlichen Seite des Begriffs Fortschritt, der ich in den folgenden zwei Kapiteln Rechnung trage. 5.) Spekulative Geschichtsphilosophie und Fortschrittsuniversalismus statt kritischer Auseinandersetzung mit althergebrachten Denkmustern: Mit seinem Versuch, die Geschichte anhand von Vorausgesetzen ,Lieblingsideen' teleologisch zu rekonstruieren, bleibt Proudhon auf dem Standpunkt der Verwirklichung des Menschheitsfortschritts in der Geschichte stehen - auf dem Standpunkt der spekulativen Geschichtsphilosophie. Zusammengenommen ergeben diese fünf Punkte Marx' Bild vom traditionellen Konfliktmodell des Fortschritts à la Pierre-Joseph Proudhon. Spätestens mit seiner Einmischung in diesen Fortschrittsdiskurs zeichnet sich bei Marx endgültig eine neuer und positiver Begriff von Fortschritt ab. Roberto trifft ausnahmsweise den Nagel auf den Kopf: „Marx entire concept of progress is implicit in The Poverty of Philosophy" (2001,
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Abstact). Trotzdem entgeht ihm die eigentliche Bedeutung des Buches: „In this book, Marx made his concept of progress integral to the theory and method of political economy." (Ebd., 10) Das Gegenteil ist der Fall. Das Elend der Philosophie weist auf die Verwirrungen hin, die entstehen, wenn Fortschritt tatsächlich als Absicht, Wesen, Prinzip oder Gesetz bzw. als .integraler' Bestandteil der Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse aufgefasst wird. Das Resultat der Marxschen Proudhon-Kritik ist eine Bedeutungsverschiebung im Grundsatz des Konfliktmodells des Fortschritts. ,Ohne Gegensatz kein Fortschritt' besagt jetzt nicht mehr, dass die gegensätzliche Bewegung im Ganzen als Fortschritt anzusehen ist, sondern dass der Fortschritt umgekehrt ein Teil dieser Bewegung ist. Die Hinterfragung der Annahme von der notwendigen Verbindung zwischen Geschichte, Gegensatz und Fortschritt wird jetzt zu einem zentralen Thema im Marxschen Denken.
5.
Die Überwindung des traditionellen Konfliktmodells
Die systematische Rekonstruktion des originellen Marxschen Fortschrittsbegriffs steht im deutlichen Gegensatz zu dem chronologischen Aufrollen der Entstehungsgeschichte dieses Begriffs, das beispielsweise von Roberto praktiziert wird. Laut Roberto kommt der Marxsche Fortschrittsbegriff bereits in den 1830ern in den Gedichten des jugendlichen Marx als ein .impliziter', kontradiktorischer', .paradoxer' (will sagen: ambivalenter) und zugleich praktischer' (will sagen: dem Proletariat besonders zugeneigter) Begriff auf die Welt. Daraufhin hat er einzelne Phasen zu durchlaufen, die er allesamt bewältigt, ohne dass dies seinen Charakter merklich verändern würde (2001, 12ff.). Im Gegensatz zu dieser Darstellung versuche ich, diesen Begriff im Hinblick auf seine theoretischen Bedingungen zu erklären, die sich aus Marx' Eingriffen in die spekulative Geschichtsphilosophie ergeben. Freilich will aber auch ich einen Überblick über die Gesamtentwicklung des Marxschen Fortschrittsdenkens geben. Die folgenden Abschnitte ergänzen oder vervollständigen daher das bereits Gesagte.
a.
Die Entwicklung des Marxschen Fortschrittsdenkens bis 1847
In der Zeit zwischen der Abfassung der Pariser Manuskripte (1844) und der Veröffentlichung des Elends der Philosophie (1847) unterliegt das Denken von Karl Marx grundlegenden Veränderungen. In den Manuskripten wird ein Universalfortschritt in Richtung auf den Kommunismus behauptet, der durchaus einen finalen Charakter hat, und zwar nicht allein als Handlungsziel, sondern als objektives Geschichtsziel auf der Basis der Bestimmungsteleologie. Das es sich tatsächlich so verhält ergibt sich aus dem, was Marx selbst ausführt: Mit der Rede von der ,Lösung' des ,Rätsels der Geschichte' und der , Rückkehr' zu einer wesensgemäßen Menschlichkeit beendet Marx die gegensätzliche Bewegung. Dadurch wird der Kommunismus zu etwas, das er nicht sein soll: zum qualitativen Schlusspunkt der Geschichte. Wenn nämlich der Kommunismus
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tatsächlich eine solche allumfassende Versöhnung bedeuten sollte, dann muss gleichzeitig die von Marx ausgerufene Selbstbewegung zwangsläufig zum Stehen kommen, sobald dieses Stadium erreicht ist; die Negation der Negation wäre dann als die Abstraktionsformel dieser Bewegung hinfällig. Das teleologische Versöhnungsdenken trägt hier immerhin einen Teilsieg über das parallel dazu laufende Programm einer Theoretisierung der gegensätzlichen Bewegung auf der Grundlage der politischen Ökonomie (gegenständliche Vermittlung) davon. Drei Jahre später lehnt Marx die Setzung von Schlusspunkten immer noch verbal als Spekulation ab; nur kann er diese Ablehnung jetzt auch theoretisch durchführen. Die Polemik gegen Proudhon legt eine umfassende Kritik des teleologischen Fortschrittsbegriffs vor, auf deren Grundlage Marx Proudhon genau das vorhalten kann, was er vor nicht allzu langer Zeit - entgegen der eigenen Absichten - selbst noch unternommen hatte: die Konstruktion und Ausdeutung der Geschichtsentwicklung als versöhnlicher Realisationsprozess. Proudhon betreibe keine ökonomische Wissenschaft, sondern eine spekulative, moralisierende Kritik: ,Philosophie' im schlechten Sinne. Im Brief an Annenkow ist sogar von dem „philosophischen Gift" (MEW 4, 547) die Rede, mit dem Proudhon sich identifiziert habe. An dieser Ausdrucksweise wird deutlich, dass Marx von der Veröffentlichung des Système des contradictions économiques geschockt ist. Gemeint ist die deutsche Philosophie, namentlich die Hegeische oder Hegelianische. Allerdings liege die mangelhafte Behandlung des ökonomischen Gebiets nicht so sehr an ihrer philosophischen Darstellung: „Herr Proudhon liefert nicht deshalb eine falsche Kritik der politischen Ökonomie, weil er eine lächerliche Philosophie besitzt, sondern er liefert eine lächerliche Philosophie, weil er die gegenwärtigen sozialen Zustände in ihrer Verkettung ... nicht begriffen hat." (Ebd.) Fast zwanzig Jahre später führt Marx Proudhons Scheitern am Gegenstand der Ökonomie auf den verhängnisvollen Einfluss Karl Grüns zurück. Er erinnert sich aber auch daran, dass er selbst mitverantwortlich dafür ist, dass Proudhon überhaupt erst auf den Pfad der .lächerlichen Philosophie' geraten konnte: „Während meines Aufenthaltes in Paris, 1844, trat ich zu Proudhon in persönliche Beziehung. Ich erwähne das hier, weil ich zu einem gewissen Grad mit schuld bin an seiner ,Sophistication', wie die Engländer die Fälschung eines Handelsartikels nennen. Während langer, oft übernächtigter Debatten infizierte ich ihn zu seinem großen Schaden mit Hegelianismus, den er doch bei seiner Unkenntnis der deutschen Sprache nicht ordentlich studieren konnte. Was ich begann, setzte nach meiner Ausweisung aus Paris Herr Karl Grün fort. Der hatte als Lehrer der deutschen Philosophie noch den Vorzug vor mir, daß er selbst nichts davon verstand." (Brief an Schweitzer, 24. Januar 1865, MEGA 1/20, 62/MEW 16, 27)26 26
Im Vorwort zur ersten deutschen Ausgabe des Elends der Philosophie schreibt Engels über Marx' Verhältnis zu Proudhon: „Die vorliegende Schrift entstand im Winter 1846/47, zu einer Zeit, wo Marx über die Grundzüge seiner neuen historischen und ökonomischen Anschauungsweise mit
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Schweitzer gegenüber gibt Marx also zwischen den Zeilen zu, dass er in Proudhons .lächerlicher' Philosophie gewisse Denkfiguren seiner eigenen philosophischen Bemühungen aus der Pariser Zeit wiedererkennt. Indem er sich gegen Proudhons fragwürdige Methode der politischen Ökonomie ausspricht, wendet er sich indirekt gegen das Programm der Historisierung der Dialektik. Die Pariser Hefte können ja in der ihnen eigentümlichen Form überhaupt nur zustande kommen, weil der junge Marx selbst alles andere als immun ist gegen das .philosophische Gift': das heißt gegen die geschichtsphilosophische Rezeption Hegels. Wenn Marx mit dem Système des contradictions économiques ins Gericht geht, dann ist dies gleichzeitig eine Abrechnung mit den eigenen Jugendsünden. Das Gift, das 1846/47 noch in Proudhon wirkt, ist eine Variante seines eigenen vormaligen Fortschrittsoptimismus, der seine theoretische Begründung durch eine versöhnungsorientierte Geschichtsauffassung erhält. Bei seiner Lektüre der politischen Ökonomie Proudhons trifft Marx auf Positionen und methodischen Verfahrensweisen, die er nur zwei Jahre zuvor selbst noch vertreten hatte, die er aber mittlerweile nicht mehr gutheißen kann. Diese Wiederentdeckung eigener Fehler in der Arbeit eines Anderen ist sicherlich auch ein Grund für die Schärfe seiner Polemik.27 Der gravierendste dieser falschen Zugriffe betrifft die ,Abstraktionsformel', die in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten mit der Negation der Negation identifiziert wird. Als abstraktes Muster der empirischen Bewegung ist die Negation der Negation zunächst relativ unproblematisch: Sie ist der theoretische Ausdruck der immanenten ,Selbstbewegung alles Seins*. In dieser Form ist die Negation der Negation ein Erklärungsmodell, das zurecht fordert, dass das Neue (das wahre Positive) als Resultat einer geschichtlich vermittelten Bewegung zu verstehen ist. In dieser Form birgt die Negation der Negation auch noch keine teleologische Gefahr für die Geschichtsauffassung, und Marx verteidigt diesen Aspekt der Dialektik im Allgemeinen im Elend der Philosophie gegen Proudhons Inanspruchnahme. Wohlgemerkt, die Rede ist hier nur vom Festhalten an einem für nützlich befundenen Element der Hegeischen Philosophie, das Marx weiterentwickeln und produktiv verwerten möchte. Die Kehrseite dieses Programms zeigt sich immer dann, wenn die Negation der Negation mehr sein soll als eine bloße Abstraktionsformel; wenn ihr nämlich zusätzlich ein normativ aufgelade-
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sich ins reine gekommen war. Proudhons eben erschienenes Système des contradictions économiques, ou la philosophie de la misère gab ihm Gelegenheit, diese Grundzüge zu entwickeln im Gegensatz zu den Ansichten des Mannes, der von nun an unter den lebenden französischen Sozialisten die bedeutendste Stelle einnehmen sollte. Seit der Zeit, wo die beiden in Paris oft ganze Nächte lang ökonomische Fragen diskutiert, waren ihre Wege mehr und mehr auseinander gegangen; Proudhons Schrift bewies, daß jetzt schon eine unüberbrückbare Kluft zwischen beiden lag; ignorieren war damals nicht möglich; und so konstatierte Marx den unheilbaren Riß in dieser seiner Antwort." (MEW 21, 175) Es verwundert, dass sich Brudneys Studie Marx's Attempt to Leave Philosophy (1998) auf den Zeitraum 1844-1846 beschränkt und die Proudhon-Kritik zwar erwähnt, aber nicht bespricht. Marx' Versuch, einen solchen Ausgang zu finden, kann meines Erachtens ohne die Berücksichtigung der darin enthaltenen Kritik an der eigenen Philosophie nicht vollständig rekonstruiert werden.
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ner, finalistischer Prozess regelrecht untergeschoben wird. Genau das geschieht in den teilweise noch unter dem Eindruck der Bestimmungsteleologie stehenden Ökonomischphilosophischen Manuskripten: Zwar erklärt Marx die Negation der Negation verbal zur bloßen Abstraktionsformel der Selbstbewegung; in Wirklichkeit ist sie aber zugleich ein spekulatives, alle Erfahrung übersteigendes Voraburteil, das alle Erwartungen über den Verlauf und die Ziele der Geschichte bestätigt. Im Elend der Philosophie erarbeitet sich Marx schließlich die nötigen Mittel, um seine Ablehnung der normativen Anreicherung der Abstraktionsformel als durch die .Unterschiebung von Zielen' motivierte Konstruktion der Gesellschaftsentwicklung nicht mehr nur verbal zu proklamieren, sondern auch theoretische durchführen zu können. Auf dem Prüfstand steht aber nicht nur der Missbrauch von Abstraktionsformeln zum Zweck der moralisierenden Kritik, sondern die Rolle der Philosophie selbst. Marx' Kritik läuft auf eine Zurückweisung des Gebrauchs der Philosophie zum Zweck des Voraussagens oder Vorwissens über den zukünftigen Entwicklungsgang der Menschheit hinaus, wie er oben für den Fall Cieszkowskis nachgezeichnet wurde, und dem auch Proudhon in seiner Philosophie du progrès noch anhängt: „Progrès, c'est savoir, c'est prévoir" (1853, 104). Im Laufe der Proudhon-Kritik verkehrt sich das Marxsche Denken gegen sich selbst: Die Proudhon-Kritik ist Selbstkritik. Dieser Prozess kann im Kontext des intellektuellen Milieus der westeuropäischen Sozialphilosophie im Vormärz als Gegensatz zweier unterschiedlicher Konfliktmodelle der Geschichte und des Fortschritts gedacht werden. Da ist erstens der stark von Hegel und den Junghegelianern beeinflusste Begriff Fortschritt-als-Gegensatz, der sich bei Cieszkowski, Heß und Proudhon finden lässt. Bis einschließlich der Pariser Manuskripte von 1844 hat auch Marx eine weitgehend mit diesem Begriff übereinstimmende Auffassung von Fortschritt. Mit ihrem Anspruch, das Geschichtsrätsel gelöst zu haben, verarbeiten die Manuskripte zweifellos Themen des junghegelianischen Fortschrittsoptimismus. Die Geschichte der Menschheit ist ein andauernder Fortschritt, wenngleich dieser als das Werden-der-Gattung begriffene Prozess sich in Widersprüchen vollzieht: also Fortschritt-als-Gegensatz. Allerdings weichen die Manuskripte aufgrund ihrer paradoxen Vorstellung von der zukünftigen Rückkehr in eine wesenhafte Form von Menschlichkeit sogar von dieser Teleologie noch ab, und versanden scheinbar in einer geschichtsphilosophischen Aporie. Ich betone noch einmal: der Fortschritt-als-Gegensatz ist kein ,naiver' Begriff. Seine Befürworter sind sich wohl bewusst, dass die Zeiten, in denen man sich die Realisierung der dem Geschichtsverlauf zugeschriebenen Inhalte als linear-evolutionäre, von allen Widersprüchen, Brüchen und Rückschlägen befreite Entwicklung vorstellen konnte, endgültig vorbei sind. Ihre Geschichtsphilosophie ist darum sogar recht ausgeklügelt und komplex, da sie Beschreibung und Sinngebung zu vereinen versucht: Sie verbindet die von der Erfahrung immer wieder bestätigte, gegensätzliche Verlaufsform der Geschichte mit der Hoffnung, die Perfektibilität möge sich darin letzten Endes doch eine Bahn brechen. So ergibt sich ein Begriff von Fortschritt, mit dem sich die Idee der kontinuierlichen Verbesserung - ungeachtet all dessen, das ihr zu widersprechen scheint - als Universalphänomen denken lässt. Trotz aller Dialektik bleibt die Geschichte im
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Sinne dieser Konzeption im Ganzen betrachtet ein Fortschritt, der sich - ob als Geist oder Vernunft, ob als ,gute' Seite oder als von der Entfremdung befreite Menschlichkeit - letztlich durchsetzt. Nach dieser Auffassung geht die Geschichte, wie Marx am Beispiel Proudhon demonstriert, .kategorisch vor', das heißt: der Fortschritt verhält sich zur Geschichte als deren Gesetz oder Prinzip. Ein Nachteil dieses Begriffs von Fortschritt ist sicherlich, dass der Anteil der Erfahrung an ihm gering bleibt. Die Ineinssetzung von Menschheitsgeschichte und Perfektibilität im Kollektivsingular Fortschritt funktioniert überhaupt nur als die apriorische Übertragung der Verbesserungsidee auf die Geschichte. Ausgehend von seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Philosophieform der Spekulation als ,Hirntätigkeit' jenseits aller Gegenständlichkeit kritisiert Marx diese Übertragung als die Erschaffung eines Systems von ,Lieblingsideen'. Diese skeptische Infragestellung der Identifikation von Geschichte, Menschheit und Perfektibilität ist eine ganz wesentliche Leistung des Marxschen Werkes. Marx revidiert den Status des Fortschrittsbegriffs im modernen Denken, und das lange - sehr lange - bevor die Fortschrittskritik intellektuelle Mode wurde.
b.
Fortschritt und Geschichtsentwicklung im Spätwerk
Die Frage ist: Hat diese Revision Bestand? Um das Thema der Entstehung des spezifisch Marxschen Fortschrittsbegriffs zu vervollständigen, folgt darum jetzt ein kurzer Abriss der Stellung der Marxschen Theorie zum Gedanken des einen Fortschritts der Menschheit im Spätwerk. Darunter verstehe ich allerdings nicht die Gesamtheit der Marxschen Interessen während dieser Arbeitsphase, sondern eine kleine Auswahl weniger beachteter Äußerungen und Texte aus den 1860er, '70er und '80er Jahren. Ein Blick auf das Spätwerk empfiehlt sich schon deshalb, weil sonst ein Ungleichgewicht zugunsten der Schriften aus den 1840er Jahren entstehen könnte, auf die sich die Rekonstruktion bisher doch sehr stark konzentriert hat. Im Folgenden soll vor allem die These geprüft werden, Marx' bisweilen universalhistorische Perspektive im Spätwerk habe einen entsprechenden Fortschrittsbegriff zur Folge. Diese These wird beispielsweise von Wilke vorgetragen: „Ab Mitte der 1840er Jahre geht die Fortschrittsidee in ein umfassendes anthropologisches Gesamtbild ein, das von der Deutschen Ideologie an in wiederholten Anläufen (Vorwort Zur Kritik, Grundrisse, Entwicklung der Familie u. a.) die Menschheitsgeschichte als Ganzes überspannen will." (1999, 226) Indirekt wird hier die Frage nach der Möglichkeit eines Wiederauflebens geschichtsphilosophischer Positionen gestellt, die auf die Universalität des Fortschritts im Sinne des Kollektivsingulars hinauslaufen könnten. Dieser könnte ja dann als Stufenfolge der Produktionsweisen gedacht werden. So behauptet beispielsweise Burgio, Marx beabsichtige in einem grandiosen, 40-jährigen Forschungsprogramm die Grundstruktur, die Reproduktionsmechanismen und die „Logik der Übergänge" (2003, 201) von einer Gesellschaftsformation zur nächsten abzuhandeln. Die Marasche Theorie präsentiere sich „als globale Gesellschafts- und Geschichtstheorie" (ebd., 215) mit dem Ziel
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der Erklärung der „Gesamtlogik" (ebd., 207) dieses gigantischen Zusammenhangs. lorio glaubt ebenfalls, sich vor allem mit dem Paradigma des Historischen Materialismus auseinandersetzen zu müssen. Dieses bereitet ihm zwar Sorgen, weil es nicht immer recht zu dem passen will, was Marx sagt; aber selbst wenn Marx sich dieser „Spannung in seiner Gesamtkonzeption schlicht nicht bewusst" sei, so bleibe ein bestimmter Teil seines Denkens trotzdem einer Theorie verpflichtet, die den „enorm umfassenden Anspruch erhebt ... die gesamte Menschheitsgeschichte zu erklären". (2003, 2) Gigantomanie ist Marx, der ja zu keiner Zeit durch Bescheidenheit auffällt, durchaus zuzutrauen. Trotzdem ist es vor allem die politischen Ökonomie, die ihn jahrelang in der British Library festhält - nicht der Wunsch, eine globale Theorie der Menschheitsgeschichte mitsamt einer Gesamtlogik der Übergänge zwischen den einzelnen Stadien dieser Geschichte zu verfassen. Sein Werk bemüht sich in erster Linie um eine systematische Kritik der Theorie der politischen Ökonomie. Dass dem Marx der fortgeschrittenen Kritik dieser besonderen Wissenschaft tatsächlich die Theorie eines solchen „Formationsfortschritts" als „Teil des Menschheitsfortschritts" (Ruprecht 1989, 2) unterstellt werden kann, darf angezweifelt werden. In Wirklichkeit ist dieses Konzept unvereinbar mit der Erforschung der besonderen Produktionsweise der bürgerlichen Gesellschaft, auf die sich Marx nach der Übersiedlung nach England für Jahrzehnte konzentriert. Werfen wir zunächst einen Blick auf Marx' Bemerkungen zu August Comte, dem Begründer des klassischen Positivismus und der Soziologie und einem der wohl einflussreichsten Denker des 19. Jahrhunderts. Auch für Comte ist die Geschichte ein Sammelsurium von konfliktbeladenen Entwicklungen, die er aber allesamt vermittels des Stufentheorems einem gesetzmäßigen Universalfortschritt unterordnet. Weil er insbesondere den Triumphzug des Intellekts in einem wissenschaftlich-technischen Zeitalter stark macht, wird er gewöhnlich der .rationalistischen' Tradition des aufgeklärten Fortschrittsdenkens zugeordnet und zugleich als deren empiristischer Überwinder angesehen (Roberto 2001, 31f.). Als Anhänger Saint-Simons baut Comte in seiner Gesellschaftsauffassung außerdem auf die Herrschaft einer wissenschaftlichen Elite, die industriels, die diesen Fortschritt verwalten, indem sie Gegensätze befrieden und die Gesellschaft auf der Grundlage des wissenschaftlichen Verstandes ummodeln und regieren. Die Wissenschaft leistet somit einen ganz wesentlichen Beitrag dazu, dass der Fortschritt das notwendige Entwicklungsgesetz der .Zivilisation' ist. Comtes Dreistadiengesetz, nach dem erst das theologisch-fiktive, dann das metaphysischabstrakte, und schließlich das wissenschaftlich-positive Stadium historisch aufeinanderfolgen, kann daher als „Geschichtsphilosophie" (Fetscher 1979, XXIII) verstanden werden. Ziel dieser Philosophie ist bekanntlich die Anwendung der Naturwissenschaft auf die Lösung auch politischer und sozialer Fragen. Die Lehre von der Gesellschaft ist nach Comte die letzte Form des positiven Wissens in einer aufsteigenden Reihe von
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Wissenschaften, die mit der allgemeinsten und abstraktesten (Mathematik) beginnt und bis zur konkretesten und speziellsten (soziale Physik oder Soziologie) fortschreitet.28 Voraussetzung für die progressive Qualtität der gesellschaftlichen wie der intellektuellen Entwicklung ist die allmähliche Erstarkung des Prinzips der Ordnung, über die Comte im Discours sur L'Esprit Positif (Rede über den Geist des Positivismus) referiert.
Die Ordnung stelle sogar „stets die Grundvoraussetzung des Fortschritts dar; und umgekehrt wird der Fortschritt das notwendige Ziel der Ordnung". (1844, 117)29 Comte ist bestrebt, die Gradlinigkeit des von ihm angenommenen Fortschrittsprozesses gegen die .Oscillations' - die Zickzacklinien und Revolutionen - der Entwicklung durchzusetzen. Ein wichtiges Mittel zu diesem Zweck ist die Formel von der , Versöhnung von Ordnung und Fortschritt', die er in einem gleichnamigen Abschnitt auf den Punkt bringt. Der positive Geist wird hier zum Mittel der Überwindung der tiefgehenden intellektuellen und moralischen Krise der Moderne (ebd., 114); er entwickele sich in Richtung auf die Herstellung eines „état normal" (ebd., 116). Überhaupt bestehe zwischen der Idee der Ordnung und der Idee des Fortschritts „la solidarité continue" (ebd.). Zu guter Letzt wird der Fortschritt sogar zum fundamentalen Lehrsatz menschlicher Weisheit auf allen Gebieten erhoben (ebd., 122). Diese Positionen erinnern stark an den Geschichtsoptimismus Proudhons, in dem sich Elemente der Comteschen Philosophie (die Ordnung als Strukturprinzip und die Omnipräsenz des Fortschritts) fortsetzen. Marx' schlechte Meinung von Comte ist daher keineswegs verwunderlich. Seine Einschätzung findet zwar keinen umfangreichen schriftlichen Niederschlag, aber er äußert sich mehrere Male und durchweg abschätzig über dessen „Scheißpositivismus", mit dem er sich Mitte der 1860er Jahre ausführlicher beschäftigt: „Ich studiere jetzt nebenbei Comte, weil die Engländer und Franzosen so viel Lärm von dem Kerl machen. Was sie daran besticht, ist das Enzyklopädische, la synthèse. Aber das ist jammervoll gegen Hegel (obgleich Comte als Mathematiker und Physiker von Profession ihm überlegen, d.h. überlegen im Detail, Hegel ist selbst hier unendlich größer im Ganzen)" (an Engels, 7. Juli 1866, MEW 31, 234).
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Das enzyklopädische Gesetz legt zusätzlich die Rangordnung der Grundwissenschaften entsprechend ihren Methoden und ihren Gegenständen fest: Von der Mathematik bis zur Soziologie steigt man vom allgemeinen Abstrakten zum subjektiven Konkreten auf. Dazwischen liegen Astronomie, Physik, Chemie und Biologie. Jeder Grundwissenschaft entspricht ein spezifisches Verfahren: Mathematik: elementaren Formen des logischen Beweises (und der Deduktion); Astronomie: visuelle Beobachtung; Physik: das Experiment; Chemie: Klassifikationsverfahren; Biologie: vergleichende Methode; Soziologie: historische Methode (siehe Fetcher 1979, XXX). Im Original: „Pour la nouvelle philosophie, l'ordre constitute sans cesse la condition fondamentale du progrès; et, réciproquement, le progrès devient le but nécessaire de l'ordre: comme, dans la mécanique animale, l'équilibre et la progression sont mutuellement indispensables, à titre de fondement ou de destination." (Comte 1844, 116)
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Diese Bemerkungen sind gewissermaßen Marx' Reaktion auf eine konkurrierende Philosophie auf dem Höhepunkt der ,,bürgerliche[n] Theorieentwicklung", die seiner eigenen Theorie zumindest dem Anspruch auf Erklärungspotential und dem Bekanntheitsgrad nach gleichrangig ist (Arndt 1985, 234). Im Vergleich mit Hegels Dialektik als wichtiger Bezugspunkt der Methode der Kritik der politischen Ökonomie, an der Marx während der Vorbereitung des Kapitals für den Druck wieder verstärkt arbeitet, schneidet dieses Angebot schlecht ab. Es geht Marx also nicht zuletzt darum, den theoretischen Fortschritt zu gewährleisten. (Nicht umsonst schreibt er zu dieser Zeit an Dietzgen, er werde „eine ,Dialektik' schreiben" sobald er „die ökonomische Last abgeschüttelt" habe (9. Mai 1868, MEW 32, 547).) Marx' Äußerungen zu Comte sind außerdem - wie schon die Proudhon-Kritik - im Rahmen der spezifisch Marxschen Kritik an der Konstruktion von Heilslehren zu sehen. In The Civil War in France (First Draft) gibt es einen knappen, .Workmen and Comte' betitelten Abschnitt, wo letzterer als „prophet" und als „the author of a new catechism" (MEGA 1/22, 65) beschrieben wird, von dem die Pariser Arbeiter angeblich nichts wissen wollen. In sehr grober Form kommt hier abermals Marx' Abneigung gegen das versöhnungsorientierte, teleologische Geschichtsdenken zum Ausdruck. Seine Reaktion auf die allmählich einsetzende Lektüre des Kapitals in den 1870er Jahren zeigt eine ähnliche Einstellung. Zornig richtet er sich gegen die Deutung seiner Schrift im Sinne einer Lehre vom positiven Ausgang der Universalgeschichte. Dieser Zorn signalisiere, so Haug, einen „Bewusstwerdungssprung": Marx „erschrickt ... und rückt von bestimmten Interpretationsmöglichkeiten ab. Der Zorn enthält einen Anteil unartikulierter Selbstkritik." (2005, 23 lf.) Zum Beispiel geht Marx im Nachwort zur zweiten Auflage des ersten Bandes auf die Pariser Revue Positiviste ein, die ihm vorwirft, die Ökonomie ,metaphysisch' zu behandeln und sich gleichzeitig auf die „Zergliederung des Gegebnen" zu beschränken. Marx fragt, ob man wohl von ihm erwarte, „Recepte (comtistische?) für die Garküche der Zukunft zu verschreiben" (MEGA II/6, 704/MEW 23, 25). Von größerem Interesse ist in diesem Zusammenhang die französische Übersetzung des Kapitals, die von 1872 bis 1875 in aufeinanderfolgenden Heften erscheint, und die Marx schließlich veranlasst, den zugrundeliegenden deutschen Originaltext (die zweite Auflage) noch einmal zu überarbeiten. Speziell das Kapitel über die ,Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation' im ersten Band enthält in der französischen Übersetzung „außerordentlich wichtige Akzentverschiebungen, in denen ein Paradigmenwechsel zu einer nicht mehr monolinearen Geschichtsauffassung zum Ausdruck kommt". (Haug 2005, 231). Marx weist darauf hin, dass die französische Übersetzung „einen wissenschaftlichen Wert unabhängig vom Original" besitzt und auch von Lesern konsultiert werden sollte, „die der deutschen Sprache mächtig sind". (MEW 23, 32/MEGA II/7, 690) Die ursprüngliche Akkumulation wird in der französischen Übersetzung auf England und Westeuropa eingeschränkt - „tous les autres pays de l'Europe occidentale" und Marx reduziert den Anspruch seiner Ausführung auf den einer „esquisse" (Skizze) (MEGA II/7, 634).
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Schließlich ist auch der Brief an die Redaktion der Otetschestwennyje Sapiski (1877) ein Teil von Marx' Reaktion auf die frühe fóy?/te¡/-Rezeption: „Aber das ist meinem Kritiker zu wenig. Er muß durchaus meine historische Skizze von der Entstehung des Kapitalismus in Westeuropa in eine geschichtsphilosophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges verwandeln, der allen Völkern schicksalsmäßig vorgeschrieben ist ... Aber ich bitte ihn um Verzeihung. (Das heißt mir zugleich zu viel Ehre und zu viel Schimpf antun.)" (MEW 19, III) 3 0 Nach der materialistischen Geschichtsauffassung müssen historische Entwicklungen getrennt voneinander (und im Blick auf ihre innere Notwendigkeit) erforscht werden. Freilich darf man sie miteinander vergleichen; was Marx jedoch ausdrücklich ablehnt, ist der „Universalschlüssel einer allgemeinen geschichtsphilosophischen Theorie, deren größter Vorzug darin besteht, übergeschichtlich zu sein". (Ebd., 112)31 Marx wählt in diesem Brief gerade das Beispiel der historischen Kontingenz der Entstehung der Ware Arbeitskraft, um sich von solchen Vorstellungen abzugrenzen (Wolf 2006, 171). Im Zentrum des Marxschen Interesses steht auch in der Zeit nach der Veröffentlichung des ersten Bandes des Kapitals die Genese einer bestimmten Produktionsweise. Diese Geschichte lässt sich in der Universalgeschichte nicht auflösen, wenngleich auch diese Kategorie durchaus eine Rolle zu spielen hat. Sie wird Marx außerdem schon durch seinen Gegenstand gewissermaßen aufgezwungen: Das Kapitalverhältnis nimmt ja bereits zu Marx' Lebzeiten weltgeschichtliche Züge an. Zweifellos gibt es bei Marx Ansätze einer Theoretisierung dieses globalen Zusammenhangs, aber das bezeugt keineswegs sein Festhalten am Kollektivsingular Fortschritt. Anders als für die Hegelianer, Proudhon oder Comte ist die Geschichte der Menschheit für Marx eben nicht gleichbedeutend mit dem Fortschritt der Menschheit. Das wird nicht zuletzt ab Ende der 1870er Jahre deutlich, als sich Marx dem Studium der Frühgeschichte und der Ethnologie zuwendet. Diese Arbeit setzt sich bis zu seinem Tod 1883 fort, bleibt also unabgeschlossen. Sie hinterlässt jedoch Aufschriebe zu den Schriften mehrerer angesehener, zeitgenössischer Größen auf diesen Gebieten. Ich konzentriere mich hier auf das längste dieser Exzerpte: das Exzerpt aus Lewis H. Morgans Ancient Society (das Morgan-Konspekt), das Marx vermutlich ab dem Sommer 1880 anfertigt (MEGA 1/29, Apparat, 586). Diese Aufschriebe stellen Marx' Gedanken freilich nur in roher Form dar. Außerdem ist unklar, ob er beabsichtigte die Resultate seiner frühgeschichtlich-ethnologischen Stu30
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Im Original: „Mais c'est trop peu pour mon critique. Il lui faut absolument métamorphoser mon equisse historique de la genèse du capitalisme dans l'Europe occidentale en une théorie historicophilosophique de la marche générale fatalement imposée à tous les peuples ... Mais je lui demande pardon. (C'est me faire en même temps trop d'honneur et trop de honte.)" (MEGA 1/25, 116) Im Original: „passe-partout d'une théorie historico-philosophique générale dont la suprême vertu consiste à être suprahistorique." (MEGA 1/25, 117)
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dien zu veröffentlichen und welche Form eine solche Veröffentlichung genommen hätte. Engels beansprucht jedenfalls im Vorwort zur ersten Auflage seiner eigenen, auf Morgan basierenden Studie Der Ursprung der Familie, ein „Vermächtnis" (MEGA 1/29, 130/MEW 21, 27) zu vollführen. Aus der Sicht Engels' ist Morgans Buch ein geradezu epochemachendes Werk. Morgans „Wiederentdeckung der ursprünglichen mutterrechtlichen Gens als der Vorstufe der vaterrechtlichen Gens der Kulturvölker"32 habe für das Verständnis der Urgeschichte „dieselbe Bedeutung wie Darwins Entwicklungstheorie für die Biologie und Marx' Mehrwertstheorie für die politische Oekonomie". (Ebd., 142/481) Indem Engels also Morgans herausgehobene wissenschaftliche Stellung betont, unterstreicht er dessen Relevanz auch für das Denken von Marx: „Es war kein geringerer als Karl Marx, der sich vorbehalten hatte, die Resultate der Morgan'schen Forschungen im Zusammenhang mit den Ergebnissen seiner ... materialistischen Geschichtsuntersuchung darzustellen und dadurch erst ihre ganze Bedeutung klar zu machen." (Ebd., 130/27) Die Frage ist also, ob Marx' Rezeption Morgans Rückschlüsse auf Positionsverschiebungen in seinem Fortschrittsdenken zulässt. Daher muss zunächst der in Morgans historischer Ethnologie enthaltene Fortschrittsgedanke herausgearbeitet werden. Die soziale Evolution der Menschheit ist das Thema der anthropologischen - im engeren Sinne: kulturanthropologischen - Forschung während der spätviktorianischen Periode, mit der sich Marx in den Exzerptheften befasst. Wissenschaftler wie Lubbock, Maine, Morgan und Phear teilen den dieses Forschungsfeld beherrschenden Gedanken, dass die Menschen Produkte ihrer eigenen Tätigkeit sind, die einer organischen Entwicklung unterliegt. Die Verbesserung sowohl der manuellen als auch der geistigen Fertigkeiten des Menschen rechtfertigt in ihren Augen eine optimistische Einstellung auch gesellschaftlichen Problemen gegenüber (Krader 1973, 14). Gleichwohl die Menschen ihre Fortschritte eigenen Anstrengungen verdanken, wird die Entfaltung ihrer Anlagen methodisch auf der Grundlage einer natürlichen, unbewussten, das heißt nichtzweckgerichteten und also außermenschlichen Gesetzmäßigkeit entwickelt. Marx exzerpiert also evolutionäre Denker, die, wie er selbst, die strikte Trennung von Mensch und Natur überwinden wollen, und in deren Verbindung von Praxis und Naturgesetzlichkeit sich außerdem zumindest die Bemühung um eine nicht-teleologische Haltung ausdrückt. Das stößt bei Marx auf wohlwollendes Interesse. Morgans Schrift aus dem Jahre 1877 heißt bezeichnenderweise mit vollem Titel Ancient Society or Researches in the Lines of Human Progress from Savagery through
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, Gens'/.Gentes' ist ein Begriff aus dem antiken Rom. Dort bezeichnete er eine soziale durch Verwandtschaft verbundene Gruppe (eine Familie oder einen Klan), die von einem gemeinsamen Vorfahren abstammt. Die Abstammung, die über den Vater zum Sohn verfolgt werden kann, ist die patrilineare Gens, diejenige über die Mutter zur Tochter die matrilineare Gens. Nicht zu verwechseln ist dies mit dem Patriarchat, bzw. Matriarchat. Bei der Gens handelt es sich um Verwandtschaftslinien, nicht um die Frage der Autorität innerhalb der Familie. Sowohl Engels als auch Marx sehen ganz im Sinne Morgans in der Gens die spezifische soziale Einheit der Frühgeschichte (vgl. Lucas 1964b, 334).
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Barbarism to Civilization. Nach dieser Geschichte der menschlichen Evolution bedeutet der historische Fortschritt einen zwar nicht gleichmäßig sich entfaltenden, aber dennoch letztlich alle Elemente in sich aufnehmenden Dreischritt von der niedrigsten bis zur höchsten Stufe des gesellschaftlichen Lebens: der Stufe der Zivilisation. Morgan unterscheidet insgesamt sechs ur- und frühgeschichtliche Perioden: I. Older Period of Savagery, II. Middle Period of Savagery, III. Later Period of Savagery, IV. Older Period of Barbarism, V. Middle Period of Barbarism, VI. Later Period of Barbarism. Jeder dieser Perioden entspricht also einem bestimmten Grad an savagery (Wildheit) bzw. barbarism (Barbarei), den Morgan primär materiell an der historischen Erweiterung der Arbeits- und Subsistenzmittel und dem somit gewonnenen experimentellen Wissen bemisst. Gefolgt wird die Barbarei schließlich von der siebten und höchsten Periode, Civilization, die mit der Erfindung des Alphabets und der Schrift ihren Anfang nimmt und bis in die Gegenwart hineinreicht, und die wiederum in ein ,antikes' und ein ,modernes' Zeitalter unterteilt ist (Morgan 1877, 18). Morgan hebt die technischen und kulturellen Unterschiede zwischen den einzelnen Perioden ausdrücklich hervor. Gleichwohl sieht er gerade darin die Möglichkeit, das jeweils Partikuläre in ein Verhältnis zum allgemeinen Menschheitsfortschritt zu stellen: „This specialization of ethnical periods renders it possible to treat a particular according to its condition of relative advancement, and to make it a subject of independent study and discussion." (Ebd.) Das bedeutet konkret, dass die Geschwindigkeit des Fortschritts von Stufe zu Stufe variiert. Diese Relativität des Fortschritts ist das zentrale Konzept der Morganschen Universalgeschichte. Er spricht von einem .geometrischen' Fortschritt: „Human progress, from first to last, has been in a ratio not rigorously but essentially geometrical ... Every item of absolute knowledge gained became a factor in further acquisitions, until the present complexity of knowledge was attained. Consequently, while progress was slowest in time in the first period, and most rabid in the last, the relative amount may have been greatest in the first, when the achievements of either period are considered in their relations to the sum." (Ebd., 39) Im Ganzen übersehen ist die Entwicklung der Spezies Mensch eine aufsteigende Bewegung: „The history of the human race is one in source, one in experience, and one in progress." (Ebd., 5) Die Qualität dieser Entwicklung von der Wildheit bis zur Zivilisation sei nicht zuletzt durch das beständige Wachstum des experimentellen Wissens verbürgt (ebd., 11). Die Gradlinigkeit des Universalfortschritts wird nur an einer Stelle unterbrochen: Beim Aufstieg von der unteren zur mittleren Stufe der Barbarei scheidet sich der östliche (Alte Welt: Domestikation von Tieren und Verwendung von Eisen) vom westlichen (Neue Welt: Kultivierung von Mais und anderen Pflanzen) Entwicklungsstrang. Innerhalb der Barbarei gibt es jetzt zwei getrennte Linien des Fortschritts. Morgans Verwendung der Wachstumsmetapher, wonach sich die Menschheitsgeschichte in Analogie zum Älterwerden des Individuums denken lässt, verhindert allerdings ein Abrücken vom Kollektivsingular. Beispielsweise definiert er savagery als „the infantile period of man's existence"; auf dieser Stufe sei der Mensch noch „a child in the scale
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of humanity" und stehe noch „at the bottom of the scale" (ebd., 38). Soweit Morgans Lehre vom Menschheitsfortschritt. Wie verhält sich Marx dazu im Exzerpt? Ancient Society beinhaltet vier Teile, von denen jeder dem Wachstum auf einem besonderen Gebiet gewidmet ist: Part I. Growth of intelligence through inventions and discoveries; Part II. Growth of the idea of government; Part III. Growth of the idea of the family; Part IV. Growth of the idea of property. Marx hält sich in seinen Aufschrieben nicht an diese Reihenfolge (Krader 1973, 24). Auch die an der Entwicklung der technischen Mittel orientierte Periodisierung Morgans und seine Ausführungen über die Familienformen scheinen ihn nicht wirklich zu interessieren. Sein Interesse gilt fast ausschließlich dem zweiten und vierten Teil des Werkes über die Gentilverfassung bzw. die Entwicklung des Eigentums (Lucas 1964a, 165). An Morgans Differenzierungen im allgemeinen Entwicklungsgang und seiner Aufspaltung in eine östliche und eine westliche Hemisphäre ab der mittleren Stufe der Barbarei, hält Marx jedoch fest. Das Exzerpt bezieht sich speziell auf den Seiten 4, 10, 14 und 22 auf die Verschiedenheit der Entwicklungen von Familie und Technik bei den einzelnen Völkern (Marx 1972, lOlf., l l l f . , 117f., 128f.). Auffällig ist, dass das Morgan-Exzerpt nur wenige kritische Bemerkungen zu Morgans Darstellung und Methode enthält (Lucas 1964a, 163/1964b, 328). So wird Morgans Stufenschema in den Aufschrieben scheinbar kritiklos übernommen (Lucas 1964b, 334). Umso erstaunlicher ist deshalb, dass Marx ein Kapitel nicht exzerpiert: Und zwar reduziert er den Teil I fast um die Hälfte des ursprünglichen Umfangs, indem er ausgerechnet das dritte Kapitel mit dem Titel ,Ratio of human progress' komplett übergeht (Krader 1973, 25). Was darf in diese Auslassung hineingelesen werden? Ein Mangel an Zeit oder mangelndes Interesse? Es kann dafür viele Gründe geben, die nicht unbedingt auf eine Abneigung gegen Morgans universalfortschrittliche Perspektive zurückzuführen sind. Im Exzerpt finden sich außerdem durchaus Stellen, wo Marx Morgans Ausführungen mit dieser Bedeutung unkommentiert abschreibt (1972, 127, 128, 133). Aber immerhin ist das dritte Kapitel von herausgehobener methodischer Bedeutung, insofern Morgen dort sein zentrales Konzept des geometrischen Fortschritts entwickelt. Wenn Marx sich also nicht offen gegen Morgans Behauptung eines historischen Fortschritts der Menschheit ausspricht, so zeigt er sich auch nicht sonderlich beeindruckt davon. Beispielsweise hält er die von Morgan als neuzeitliche Errungenschaft behauptete Monogamie und die damit angeblich einhergehende progressive Gleichstellung der Frau für eine bürgerliche Fassade (soviel steht ja schon im Manifest). Anders als Morgan scheint Marx davon auszugehen, dass die Frühgeschichte überhaupt nicht mit dem moralischen Maßstab der Gegenwart beurteilt werden sollte. Lucas kommt daher zu dem Schluß: „Als einziges progressives Element [das Marx bei Morgan gelten lässt] ist nur die technische Entwicklung geblieben." (1964a, 168) Marx schätzt vor allen Dingen Morgans Darstellung des von ihm untersuchten Gegenstandes der Geschichte der menschlichen Gesellschaft aus ethnologischer Perspektive. Das heißt nicht, dass er dessen Beurteilung dieses Gegenstandes als kontinuierliche Höherentwicklung von den primitivsten Ursprüngen bis zum komplexen, zivilisierten Gemeinwesen vorbehaltlos teilt.
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Marx' Bemerkungen zu Comte, seine Reaktion auf die Rezeption seiner ersten systematischen Darstellung der Kritik der politischen Ökonomie und der Morgan-Konspekt belegen, dass die Frontstellung gegen die Ineinssetzung von Fortschritt und Geschichte in das Spätwerk hineinwirkt. Im Vergleich mit der Proudhon-Kritik steht sie indessen auf einem theoretisch weniger elaborierten Niveau: Einerseits erteilt Marx der Idee des Menschheitsfortschritts eine deutliche Absage, andererseits hält er es nicht für nötig, seine Position ausführlich zu begründen. Das kann so interpretiert werden, dass er im Spätwerk an dem Standpunkt festhält, den er sich mit der Kritik des traditionellen Konfliktmodells erarbeitet hat: Komplexe Zusammenhänge wie die Gesellschaft oder die Geschichte der Menschheit dürfen nicht zu Subjekten des Fortschritts gemacht werden. Angesichts dieser Standortbestimmung mag freilich die These, Marx kehre ab Mitte der 1840er Jahre zur „universalhistorischen Sicht" (Wilke 1999, 226) zurück, dennoch ihre Berechtigung haben - solange damit nicht die vorsätzliche Rückkehr zur Universalität des Fortschritts im Sinne des Kollektivsingulars gemeint ist. Die Frage nach dem Fortbestand dieser älteren Form des Fortschrittsdenkens in der Marxschen Theorie ist damit indes nicht gänzlich erledigt. Sie könnte unter dem Gesichtspunkt der Stufenfolge und der ,Logik der Übergänge' zwischen den Gesellschaftsformationen eingehender diskutiert werden. Freilich immer unter dem Vorbehalt, dass weder das Stufentheorem noch das Postulat einer wie auch immer gearteten ,Logik', der dieses folgt, bedeutet, dass die Stufenfolge im Ganzen als Fortschritt beurteilt wird. Und selbst wenn das traditionelle Konfliktmodell in der materialistischen Geschichtsauffassung mit dem originellen Marxschen Konfliktmodell koexistieren sollte, dann kann sich Marx diese Parallelität angesichts der Ergebnisse seiner wiederholten Eingriffe in bestehende Fortschrittsdiskurse eigentlich nicht leisten.
6.
Abschließende Bemerkungen
Spätestens seit Louis Althusser sind die verschiedenen Kurswechsel in der Entwicklung der Marxschen Theorie ein Thema, mit der sich Interpretationen des Marxschen Werkes beschäftigen müssen. Was nun das Marxsche Fortschrittsdenken anbelangt, so kann es jedoch nicht einfach in so viele klar unterscheidbare Perioden zerstückelt werden, in denen dann der authentische Marx entweder zum Vorschein kommt oder eben nicht. Zweifellos arbeitet Marx bis 1847 einen originellen Begriff von Fortschritt heraus. Die theoretischen Neuerungen, die mit dieser Entwicklung einhergehen, sind von dauerhaftem Charakter. Aber das muss im Umkehrschluss nicht bedeuten, dass die alten Konzepte jetzt ein für alle Mal besiegt sind und keine Rolle mehr spielen. Die Bedeutsamkeit der Periode bis 1847 für das Marxsche Fortschrittsdenken ist leider im Rahmen der viel weitläufigeren Diskussion der materialistischen Geschichtsauffassung allenfalls oberflächlich untersucht worden. In diesem Zusammenhang steht auch die Rede von der ,Dialektisierung des Fortschritts'. Wie ich versucht habe zu zeigen, setzt die Dialektisierung des Fortschritts die Historisierung der Dialektik voraus. Die Frage ist demnach, inwiefern Marx die Historisierung der Dialektik zugeschrieben werden
ABSCHLIESSENDE B E M E R K U N G E N
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kann. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass das Marasche Denken in diesem Zeitraum eine Entwicklung durchläuft, während der es sich nicht einfach in allen Punkten verfeinert, sondern sich bisweilen regelrecht gegen sich selbst wendet und mit sich ringt. Beispielsweise setzt Robertos Untersuchung (2001) die Marxsche Dialektisierung des Fortschritts wiederholt als selbstverständlich voraus, erwähnt aber mit keinem Wort, dass die Historisierung der Dialektik diese erst möglich macht; kein Wort von der Leistung der Spekulationskritik; kein Wort von dem Bedürfnis nach finaler, universeller Versöhnung, die das traditionelle Konfliktmodell des Fortschritts immer wieder an apriorische Konstruktionen und an die Teleologie ausliefert; kein Wort vom Unterschied zwischen dem traditionellen Konfliktmodell und dem Marxschen Konfliktmodell; kein Wort von der geschichtsphilosophischen Aporie, in welche die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte sich zu verrennen scheinen, wenn sie die Selbstversöhnung der Menschen mit ihrer wesensgemäßen Bestimmung als fortschrittlichen Kreislauf herbeiführen wollen. Anstelle einer Diskussion dieser Themen stellt Roberto den von ihm vorausgesetzten, antagonistischen Marxschen Fortschrittsbegriff in einen Gegensatz zum vermeintlich nicht-antagonistischen, linear-evolutionären Fortschrittsbegriff à la Comte. Dieser spielt aber in der Marxschen Kritik bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Marx gewinnt seinen originellen Fortschrittsbegriff nicht in Auseinandersetzung mit diesem Fortschrittsbegriff, sondern in selbstkritischer Auseinandersetzung mit dem gegensätzlich-evolutionären Fortschrittsdenken auf der Grundlage der Bestimmungsteleologie. Außerdem überführt das wachsende Bewusstsein von den Mängeln der entstehenden bürgerlichen Industriegesellschaft den linear-evolutionären Fortschrittsbegriff schon sehr bald der Absurdität. Der Idee von der monolinear und beständig sich entfaltenden Vervollkommnung des Menschengeschlechts und die Konfrontation dieser Idee mit den Ambivalenzen der tatsächlichen Geschichtsentwicklung (zum Beispiel durch Rousseau) gehört ins 18., nicht ins 19. Jahrhundert. Bei der Entstehung des impliziten Marxschen Fortschrittsbegriffs treffen also zwei verschiedene Gegensatzkonzeptionen aufeinander. Haug und Reitz beschreiben Marxens Vorgehens während der Mitte der 1840er Jahre als ein Eingreifen in bereits bestehende Fortschrittsdiskussionen, das den Zweck hat, „die Rede vom Fortschritt mit dessen Dialektik zu konfrontieren oder den faulen Frieden eines inkonsistenten Gedankens aufzustöbern" (1999, 720). Sie beziehen sich unmittelbar auf den Kernsatz ,Ohne Gegensatz kein Fortschritt', stellen allerdings fest, dass es sich hierbei zunächst um eine „zur unspezifischen ontologischen Formel überverallgemeinerte Beobachtung" (ebd.) handele, die noch weiter zu spezifizieren sei. Dieses Kapitel hat gezeigt, wie Marx' Eingriffe in den universalistischen Fortschrittsdiskurs im Einzelnen aussehen. Nur ist es meines Erachtens nicht gut genug, diesen Eingriff als Dialektisierung des Fortschritts hingestellt zu haben, als ob Marx sich damit gegenüber dem bestehenden Fortschrittsdiskurs irgendeinen Vorteil verschaffen würde. In Wirklichkeit wäre damit gegenüber Hegel, Cieszkowski, Heß und Proudhon nur wenig gewonnen, da deren Fortschrittsentwürfe bereits als verschiedene, mehr oder weniger gelungene und mehr oder weniger explizite ,Dialektiken' existieren - und zwar auf dem Boden desselben
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Grundsatzes: ,Ohne Gegensatz kein Fortschritt'. Der Fortschrittsdiskurs, den Marx vorfindet, an dem er in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten selbst noch beteiligt ist, und den er im Zuge der Spekulationskritik zu hinterfragen beginnt, hat bereits die Form eines Konfliktmodells (Fortschritt-als-Gegensatz). Die Aufgabe, den Gegensatz ins Innere des Fortschritts zu verlegen, stellt sich daher nicht mehr. Die These, Marx reagiere auf diese bestehende Dialektik des Fortschritts, indem er den Fortschritt dialektisiere, scheint mir deswegen unzureichend. Sie trägt nichts zur Klärung der Frage bei, wie eine genuin Marxsche .Dialektik des Fortschritts' jenseits des traditionellen Konfliktmodells aussehen könnte. Dieser Frage wendet sich das nächste Kapitel über die formale Dimension des Fortschritts zu. Es geht um die Gegensatzproblematik, das heißt um das Verhältnis von Fortschritt und Gegensatz. Was meint Marx, wenn er sagt: ,Ohne Gegensatz kein Fortschritt'? Welchen Beitrag leistet er unter dieser Überschrift zur Erneuerung des Fortschrittsdenkens? Ist es überhaupt sinnvoll, von einer Marxschen ,Dialektik des Fortschritts' zu sprechen, oder begnügt sich Marx, wie typischerweise im Falle Proudhons, mit der Zerstörung solcher vermeintlichen Dialektiken im Denken anderer? Um diese Fragen beantworten zu können, muss das Verhältnis von Fortschritt und Gegensatz sehr genau untersucht werden. Über die Hegeische Dialektik und Proudhons Auffassung davon sagt Marx: „Hegel hat keine Probleme zu stellen. Er kennt nur die Dialektik. Herr Proudhon hat von der Hegeische Dialektik nur die Redeweise. Seine eigene dialektische Methode besteht in der dogmatischen Unterscheidung von Gut und Schlecht." (Elend der Philosophie, MEW 4, 132) Sowohl die Dialektik Hegels als auch ihre Bearbeitung durch Proudhon werden als mangelhaft angesehen. Die Aufgabe der Rekonstruktion der formalen Dimension des originellen Marxschen Fortschrittsbegriffs kann deshalb nur darin bestehen, den Charakter der ihm zugrunde liegenden Entgegensetzung so zu bestimmen, dass eine kritische Distanz sowohl zum Hegeischen Original als auch zu dessen Auslegung durch Proudhon sichtbar wird. Ich schlage vor, in diesem Zusammenhang vom Fortschrittsverhältnis zu sprechen. Gemeint ist damit das doppelte Verhältnis von Fortschritt und Gegensatz: einmal das allgemeine Verhältnis des Fortschrittsbegriffs zum Gegensatz der historischen Bewegung, und zweitens das speziellere Verhältnis der Begriffe Fortschritt und Gegensatz zueinander.
V Die formale Dimension: Der Marxsche Fortschrittsbegriff als Bewegungsbegriff
1.
Fortschritt als Bewegungsbegriff
Die Marxsche Theorie enthält einen positiven Begriff von Fortschritt. Wenn dieser Begriff jedoch nicht einfach als Ausgeburt einer überschwänglichen Erwartungshaltung an die Geschichte abgetan werden soll, dann muss er als das Resultat der Auseinandersetzung mit dem traditionellen Konfliktmodell der Geschichtsentwicklung und des Fortschritts anerkannt werden. In kritischer Auseinandersetzung mit dem Fortschrittsdenken seiner Zeitgenossen entwickelt Marx einen impliziten Begriff von Fortschritt, der verkannt worden ist, und der einer zeitgemäßen Konzeption des Fortschrittsverhältnisses als Grundlage dienen könnte. Diesen Begriff nenne ich: Fortschritt-im-Gegensatz. Jeder Fortschrittsbegriff hat eine formale und eine axiologische (ethische) Dimension. Fortschritt ist einerseits ein Wertbegriff; andererseits bezieht sich Fortschritt als Bewegungsbegriff auf die Verlaufsform einer bestimmten Veränderung. Fortschrittsdenken erschöpfend verstehen - das heißt, es auch als eine Erkenntnisleistung zu verstehen - bedeutet demnach, es als ein Denken zu begreifen, das sowohl aus axiologischen als auch aus formalen Elementen besteht. Diesem Denken ist die Festlegung der Bedeutung des Fortschritts als .Verbesserung' genau so wichtig wie die Bestimmung des Bewegungscharakters dieser Verbesserung. Bei dieser Herangehensweise besteht immer die Gefahr, dass der Fortschrittsbegriff dermaßen in seine einzelnen Bestandteile zergliedert wird, dass der Eindruck entsteht, die beiden Dimensionen des Fortschritts könnten auf Dauer sinnvoll getrennt von einander betrachtet werden. Das ist freilich nicht der Fall. Angesichts der Verfassung der zeitgenössischen Fortschrittskritik ist es allerdings meine Überzeugung, dass dem Fortschrittsbegriff zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur gerecht wird, wer sich um die Gleichberechtigung dieser beiden Dimensionen bemüht, um der grassierenden Reduktion des Fortschrittsdenkens auf ein übermütiges Heilsdenken effektiv entgegenzuwirken.
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Das gilt insbesondere für Marx. Tendenziell setzt sich im 20. Jahrhundert die Verkürzung der Marxschen Theorie auf eine wohlmeinende und in vielerlei Hinsicht durchaus reizvolle, aber dennoch hoffnungslos utopische Philosophie oder Theorie der Geschichte durch. Für konkurrierende Konzeptionen des gesellschaftlichen Fortschritts, die sich in einem Kampf mit der materialistischen Geschichtsauffassung wähnen, stellt dies natürlich einen wichtigen Sieg dar, besonders wenn sie ihre eigene formale Seite nicht weit genug ausgebildet haben. Am meisten profitiert von dieser Verkürzung jedoch die jüngere philosophische Fortschrittskritik. Sie hat jetzt noch mehr Belege für ihre tendenziell pessimistische These, das moderne Fortschrittsdenken habe keinen erkenntnistheoretischen Wert und gründe vor allem in der subjektiven, prophetischen Voraussetzung von Geschichtszielen. Bei ihrem Hinarbeiten auf diese Ziele verausgaben sich die Subjekte oder sie richten sich ganz zugrunde. Fortschritt sei daher eine widersprüchliche Bewegung. Innerhalb der Rekonstruktion des impliziten Marxschen Fortschrittsbegriffs ist die nun folgende Untersuchung zur Bewegungsform des Fortschritts vor allem als Antwort auf diesen (im dritten Kapitel bereits dargestellten) Standpunkt zu verstehen. Wenn man von der formalen Seite des Fortschritts spricht, dann meint man damit eigentlich nur, dass der Fortschritt ein Bewegungsbegriff ist. Das Wort Fortschritt' stammt etymologisch von .Schreiten' ab. Die Kombination der beiden Wortteile verleiht dem Begriff eine räumliche Komponente (fast schon etwas Körperliches). Gerade durch das ,Schreiten' wird dem noch eine zeitliche Dimension hinzugefügt. Das deutsche Wort Fortschritt' ist übrigens eine Einbürgerung des französischen progrès, dessen ursprünglicher physikalischer Sinn die Beziehung zwischen der Masse eines Körpers, seiner Geschwindigkeit und seiner Richtung bezeichnete. Von Interesse ist hier natürlich nicht die Bewegung selbst, sondern die Form - man könnte auch sagen: der Charakter der Bewegung, die dem Fortschritt zugeschrieben wird. Genau darum wird es in diesem Kapitel gehen: um die analytische Rekonstruktion der Bewegungsform des Marxschen Fortschrittsbegriffs. Diese Analyse kommt jedoch nicht ohne die Verwandlung der empirischen Bewegung in logische Kategorien aus. Bezeichnet Marx nicht im Elend der Philosophie genau diese Methode verächtlich als das ,Ersäufen' der „wirklichen Welt" in der „Welt der Abstraktionen" (MEW 4, 128)? Er meint natürlich Hegels Methode der Abstraktion bzw. Proudhons Behauptung, diese in sein Système des contradictions économiques aufgenommen und auf den Bereich der politischen Ökonomie angewandt zu haben. Marx unterscheidet nämlich die wirkliche Bewegung (den empirischen Geschichtsprozess) von der Bewegungsform (das Werk der Abstraktion). Die Hegeische Vorstellung von Bewegung fasst er so zusammen: „Alles, was existiert, was auf der Erde und im Wasser lebt, existiert nur, lebt nur vermittelst irgendwelcher Bewegung." (Ebd.) Zum Verständnis dieser Bewegung, das heißt zur „rein formellen Bewegung, zu der rein logischen Formel der Bewegung" (ebd.), gelangt man allerdings nur über die Abstraktion, welche die Eigenschaften der tatsächlichen Bewegung in rein „logische Kategorien" (ebd.) verwandelt. Unzulässig ist allein die Übertreibung der Abstraktion - das heißt, die Logifizierung der Wirklichkeit. In diesem Fall begreift die logische Formel die reale Bewegung nicht mehr bloß, sondern das Denken umfasst die Wirklichkeit und setzt sie
FORTSCHRITT ALS BEWEGUNGSBEGRIFF
195
als das Material seiner eigenen Verwirklichung regelrecht aus sich heraus. Ich verstehe also unter Logifizierung eine Auffassung von Wirklichkeit, die - wie Hegel - das Fundierungsverhältnis von Denken und Wirklichkeit umgekehrt und den Denkprozess als Subjekt konstruiert (vgl. Arndt 1985, 262). Diese besondere Form der Reduktion der tatsächlichen, konkreten Bewegungen auf logische Kategorien ist eben das, was Marx der absoluten Methode Hegels vorwirft (und auf diesem Wege Proudhon, der ja vorgibt, das Gleiche für die politische Ökonomie zu leisten). Der Vorwurf der ,Metaphysik' konzentriert sich also auf die Konstruktion der Welt ausschließlich nach der Bewegung der Gedanken, nicht auf die Möglichkeit der Abstraktion per se. Die Abstraktion ist sogar notwendig, solange nur der Bereich „ausserhalb des Kopfes in seiner Selbständigkeit bestehn" (Einleitung 1857, MEGA II/l.l, 37/MEW 42, 36) bleibt. Proudhon macht den Fehler „als echter Philosoph die Dinge auf den K o p f (Elend der Philosophie, MEW 4, 130) zu stellen und in den wirklichen Verhältnissen nur die Realisierung der Kategorien zu sehen. Dabei sind - ein Rückgriff auf ein Thema der als Die deutsche Ideologie versammelten Texte - die Kategorien, Ideen, Gedanken selbst historisch bedingte, vorübergehende Produkte der ebenso historischen wirklichen Verhältnisse. Die Möglichkeit der Abstraktion von der Bewegung dieser Verhältnisse bringt Marx mit Lukrez auf den Punkt: „,mors immortalis'" (ebd.).1 Mit anderen Worten: die Verhältnisse unterliegen dem historischen Wandel; aber die Möglichkeit sie zu verstehen - und das heißt durchaus, sie abstrakt in ihrer Bewegungsform zu verstehen - ist,unsterblich'. Das Gesagte soll gleich zu Anfang Missverständnissen vorbeugen. Die Rekonstruktion des formalen Aspekts des nicht-spekulativen Marxschen Fortschrittsbegriffs wird hier nicht als einseitig logifizierende Darstellung betrieben; also als eine Darstellungsweise, die Marx selbst als spekulatives Herangehen an die Fortschrittsthematik abgelehnt hätte. Es sollte möglich sein auf der Grundlage der Marxschen Epistemologie selbst, zu der logischen Bewegungsform eines Phänomens vorzudringen, ohne dieses voll und ganz in der ,Welt der Abstraktionen' zu ersäufen. Diese Möglichkeit besteht demnach auch für konkrete Fortschritte, die ja nichts anderes sind, als Bewegungen des Guten in den moralischen, politischen, ökonomischen, ästhetischen und wissenschaftlichen Sphären des gesellschaftlichen Lebens in einer bestimmten historischen Situation. Nun geht die Marxsche Geschichtsauffassung aber nicht von einförmig-linearen Bewegungen aus, sondern von Bewegungen mit gegensätzlichem Charakter. Mit Hilfe einer eigentümlichen Konzeption von Gegensätzlichkeit hält Marx einerseits am ursprünglichen positiven Sinngehalt der Urteilskategorie Fortschritt fest und umgeht gleichzeitig das, was er als die eigentliche Krux des traditionellen Konfliktmodells des Fortschritts erkannt hat: die Erhebung des Fortschritts zum Prinzip oder Gesetz des Geschichtsprozesses, das gewissermaßen über den Gegensätzen steht. Diese Substantivierung des Fortschritts und seine Erhebung zu einem Universalbegriff wird in der gegenwärtigen Fortschrittsliteratur unter dem Begriff , Kollektivsingular' geführt. 1
Lukrez wörtlich: „mortalem vitam mors cui immortalis ademit" („das sterbliche Leben hat ihm der unsterbliche Tod genommen") (De rerum natura, III, 882).
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Demgegenüber holt die Marasche Kritik den Fortschritt in den Gegensatz zurück. Das ist gemeint, wenn Marx im Elend der Philosophie sagt: ,Ohne Gegensatz kein Fortschritt'. Diese Operation wird heutzutage - und manchmal etwas unglücklich - als ,Dialektisierung' des Fortschritts bezeichnet. Fetschers Beispiel ist symptomatisch für diese Interpretation: Neben der Eliminierung des fiktiven Subjektes des Weltgeistes bestehe Marx' „critical reformulation" der Hegeischen Philosophie in der „prolongation of the dialectical process of historical development into the future". „Marx only used Hegel's dialectic methodologically and tacitly to ground his belief in historical progress." ( 1 9 8 3 , 1 9 9 , 200f.) Dieser Interpretationsansatz projiziert Cieszkowskis Projekt der Erlangung eines Vorwissens über die zukünftige Realisation des Guten auf die Marxsche Theorie und verwandelt dieses somit zurück in ein altes Fortschrittsdenken nach dem Muster des traditionellen Konfliktmodells. Der erste Schritt einer Untersuchung der besonderen Bewegungsform des Marxschen Fortschrittsbegriffs muss darum die Festlegung des spezifischen Gegensatzcharakters dieser Bewegung sein. Das ist aber nur auf dem Umweg über eine ausführliche Untersuchung der Marxschen Konzeption des Gegensatzes möglich. Erst im Anschluss daran wird der Fortschrittsbegriff selbst wieder in den Mittelpunkt rücken. Es wird dann behauptet werden, bei Marx bewege sich nicht der Gegensatz im Fortschritt, sondern umgekehrt der Fortschritt im Gegensatz.
2.
Übersicht über die Gegensatzproblematik
Der Terminus .Gegensatz' wird hier als generischen Überbegriff für eine ganze Reihe von verschiedenen Gegensatztypen verwendet, die den Widerspruch (die Kontradiktion) einschließt. Das scheint mir eine sinnvolle Typologie zu sein, zumal sich das Wort G e gensatz' (lat. oppositio) auch auf Realverhältnisse (das Entgegen-Setzen) bezieht und nicht wie der , Wider-Spruch' im ursprünglichen Wortsinne auf logische, argumentative Beziehungen. Der Begriff ,Gegensatz' ermöglicht es uns, scheinbar fixe Realitäten als ,Momente' ,Pole' oder .Extreme' eines systematischen Kontextes oder eines Entwicklungsganges zu begreifen. Das rückt ihn - gerade im Kontext der Marxschen Theorie in die Näher anderer Begriffe, wie Widerspruch, Antithese, Negation, usw. Gegenüber der Terminologie des Widerspruchs hat der Gegensatz jedoch den Vorteil, dass er nicht unbedingt auf eine vorausgegangene Einheit verweist.
a.
Gegensatz und Widerspruch bei Kant und Hegel
Kant unterscheidet drei Oppositionsarten: die .analytische' (logische), die ,dialektische' und die .reale' Entgegensetzung. Grundsätzlich besteht der Gegensatz aus Etwas, das aufhebt, was durch ein Anderes gesetzt ist. Das geschieht (wie beim analytischen oder dialektischen Widerspruch) entweder logisch oder real, also ohne Widerspruch. Im Falle einer solchen widerspruchsfreien, realen Opposition spricht er von ,Realrepugnanz'.
Ü B E R S I C H T ÜBER DIE GEGENSATZPROBLEMATIK
197
Die Realrepugnanz ist ein reines Negativitätsverhältnis, auch wenn selbst real entgegengesetzte Bestimmungen sich aufheben können, zum Beispiel wenn zwei Kräfte aus verschiedener Richtung auf einen Körper einwirken und ihn so zum Stillstand bringen. Kant hält allein die analytische (oder logische) Oppositionsart für einen echten Widerspruch. Genauer ist die analytische Opposition eine Entgegensetzung im Verhältnis zwischen zwei Urteilen über einen Gegenstand, von denen das eine im Prädikat über den Gegenstand affirmativ aussagt, was das andere verneint. ,Widerspruch', das heißt also bei Kant: dasselbe Ding wird gleichzeitig bejaht und verneint. Dies ist jedoch kein bloßes Aussagenverhältnis, sondern eine Beziehung von Prädikaten, die den Dingen zukommen oder nicht zukommen. Daher der Kantische Satz des Widerspruchs: „Keinem Dinge kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht." Dieser Satz ist „ein allgemeines Kriterium ... aller Wahrheit, gehört aber auch darum bloß in die Logik" (1787, A151/B190, 196). Anders ausgedrückt ist die logische Entgegensetzung das Verhältnis zwischen einer .Bestimmung' und dem Mangel derselben Bestimmung an ein und demselben Gegenstand. Darum hat der Widerspruch für Kant zur Folge, dass das der Entgegensetzung zugrunde liegende Ding etwas nicht Denkbares ist. Das Denkbare ist demnach für Kant allein durch seine Widerspruchslosigkeit definiert (ausführlicher Wolff 1981, 44). Der Widerspruch sei „ein Prinzip ... welches von allem überhaupt gilt, was wir nur denken mögen, es mag ein sinnlicher Gegenstand sein und ihm eine mögliche Anschauung zukommen, oder nicht; weil er vom Denken überhaupt, ohne Rücksicht auf ein Objekt, gilt". (1790, A18, 306) Hegel geht in seiner Konzeption des Widerspruchs weit über Kant hinaus, der seiner Meinung nach beim Entweder-Oder stehen bleibt. Der Widerspruch sei aber immer auch ein Sowohl-als-Auch. Natürlich ist der Widerspruch immer von Etwas ,das Negative seiner selbst'. Nur sieht Hegel in der Widersprüchlichkeit durchaus etwas Positives. Somit wendet er sich gegen das „Grundvorurtheil" (1816, 243), dass die Dialektik allein negative Resultate habe und dass ein widersprüchlicher Gegenstand entweder zur Nichtigkeit seiner selbst oder zur Nichtigkeit des Erkennens (nämlich zu falschen Aussagen) führen müsse. Der Hegeische Widerspruch mündet in der Aufhebung, in der Negation der Negation. Diese ist als Endpunkt eines Dreischritts konzipiert: als .Schluss'. „Der Begriff selbst ist ... sowohl das An sich seyende Allgemeine, als das Für sich seyende Negative, als auch das Dritte an und für sich seyende, das Allgemeine, welches durch alle Momente hindurchgeht; aber das Dritte ist der Schlußsatz, in welchem er durch seine Negativität mit sich selbst vermittelt, hiemit für sich als das Allgemeine und identische seiner Momente gesetzt ist." (Ebd., 248) Das Allgemeine realisiert sich also auf dem Umweg über die beiden Ersten, die deutlich als bloße „abstracte, unwahre Momente" (ebd.) bezeichnet werden. Wie sich noch zeigen wird, ist es gerade diese Auffassung von den Momenten und vom Vorgang des ,Hindurchgehens', die in der Marxschen Gegensatzkonzeption auf Widerstand stößt. Das Vermittelnde bei diesem Hindurchgehen ist die zweite Bestimmung: das Negative,
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das Andere des ursprünglichen ,,allgemeine[n] Erste[n]" (ebd., 243). Mehr noch, das Negative ist das Vermittelnde und wird selbst vermittelt, weil es „sich selbst und das Unmittelbare in sich schließt, dessen Negation es ist". (Ebd., 247) Die Selbstbezüglichkeit der Negativität hebt den Widerspruch auf und realisiert die „Einheit" der ersten beiden Bestimmungen (Position und Negation). Das wiederhergestellte, „mit sich identische Ganze" ist somit eine Konstellation, die als vermittelte Unmittelbarkeit „wieder ein Anfang seyn kann" (ebd., 248). Hegels Dialektik, der Ausgangspunkt des Marxschen Gegensatzdenkens, verkehrt also die Einheit in den Gegensatz und umgekehrt den Gegensatz - in seiner radikalisierten Form als Widerspruch - in die Einheit, so dass eine fortlaufende Entwicklungsreihe entsteht, die sich im Dreischritt Identität Unterschied (Gegensatz)2 - Widerspruch (Aufhebung) fortbewegt. Widerspruch und Gegensatz sind zentrale Begriffe der Hegeischen Dialektik. Schließlich ist es Hegels Standpunkt, „daß die Natur des Denkens selbst die Dialektik ist, daß es als Verstand in das Negative seiner selbst, in den Widerspruch, gerathen muß" (1830a, 51). Aber vielleicht wird die Hegeische Dialektik verständlicher, wenn auch die Begriffe Totalität und Verhältnis ins Spiel gebracht werden. Etwas ist, was es ist, immer in Beziehung auf etwas Anderes, was es nicht ist. Es hat demnach Einheit (Aufeinanderbezogenheit) und Unterschied an sich und ist gleichzeitig innerhalb der Einheit (als der Totalität der Beziehungen) unterschieden. „Hegel geht es primär gar nicht darum, das Unbedingte zu bestimmen, vielmehr ist ihm die Bestimmung jedes ,Dinges' als das, was es ist, nur in der Perspektive der Totalität möglich, weil sie diesem ,Ding' selbst eingeschrieben ist." Der Eindruck der ,Verflüssigung', der so erreicht wird, stellt sich dabei wie folgt dar: „Indem ein anfängliches Unmittelbares sich als das andere seiner selbst bestimmt und in ein Negativitätsverhältnis zu sich tritt, verliert es seine Unmittelbarkeit und geht in den Widerspruch über." (Arndt 2003, 116) Wir haben es jetzt nicht mehr mit Unmittelbarkeit zu tun, sondern mit einem Verhältnis.
b.
Gegensätze bezeichnen Verhältnisse
Gegensätze bezeichnen Verhältnisse des begrifflichen, räumlichen oder zeitlichen Andersseins. Dabei lassen sich drei kategoriale ,Grundmomente' als grundlegende Merkmale aller Gegensätzlichkeit unterscheiden, mit deren Hilfe sich das Verhalten der Gegensätze sehr gut darstellen lässt. Was nämlich das Verhältnis der entgegengesetzten Relate oder Extreme zueinander anbelangt, kann ein Gegensatz primär durch deren Divergenz (erstes Grundmoment) bestimmt sein, die sich in Trennung, Unterschied, 2
Der Gegensatz vollendet gewissermaßen den Unterschied. Er ist im Hinblick auf die , Reflexionsbestimmungen' „die Einheit der Identität und Verschiedenheit; seine Momente sind in Einer Identität, so sind sie entgegengesetzte". (Hegel 1812/13, 272) Verschiedenheit heißt: als Entgegengesetzte sind die Relate selbstredend nicht identisch. Identität heißt: ein Gegensatz ist immer ein Verhältnis spezieller Verschiedenheit, insofern ja nicht irgendetwas engegengesetzt ist. In diesem Sinne sind positive und negative Relate in einer Identität verschiedene.
ÜBERSICHT ÜBER DIE GEGENSATZPROBLEMATIK
199
Selbständigkeit und Unabhängigkeit, partiellem Anderssein, Auseinanderfallen, etc. ausdrückt. Ein anderer Gegensatz zeichnet sich vorrangig durch die Konvergenz (zweites Grundmoment) aus, also durch die Einheit, Identität, Aufeinanderangewiesensein, Interdependenz und das Ineinanderübergehen der Entgegengesetzten. Schließlich gibt es als drittes Grundmoment noch das konstatierende Moment, ohne das ein Gegensatz erst gar nicht zustande kommen kann, da es für die Beziehbarkeit seiner Extreme aufeinander unerlässlich ist. 3 Über die Terminologie der Grundmomente findet man einen leichten Einstieg in die Gegensatzproblematik. Die ersten beiden Grundmomente beziehen sich auf das Verhältnis der Entgegengesetzten zueinander, das heißt auf den Charakter und den Grad ihrer Vermittlung, der freilich umso geringer ist umso stärker die Divergenz der Entgegengesetzten ist. Das dritte Grundmoment bezeichnet den Rahmen der Entgegensetzung: das Substrat, an dem die Entgegensetzung stattfindet (sozusagen die .gemeinsame Basis'). Es determiniert den Wesenscharakter oder besser: die existenzielle Beschaffenheit der Entgegengesetzten. Bei der Analyse eines Gegensatzes sollte nämlich grundsätzlich die Frage gestellt werden, ob man es mit Entgegengesetzten ein und desselben Wesens oder mit Entgegengesetzten unterschiedlichen Wesens zu tun hat. In der Philosophie ist die Vermittlung (lat. mediatio) der Gegenbegriff zur Unmittelbarkeit. Die Unmittelbarkeit ist die direkte, nicht durch Zwischenglieder hergestellte Beziehung. Die ursprüngliche Bedeutung des Verbs vermitteln' war etwas gleich einem Keil ,als Mittelstück zwischen unvermittelte Dinge einschieben'. Damit implizierte es sowohl Verbindung als auch Trennung. Inzwischen hat sich aber die erstere Bedeutung durchgesetzt, die mit Vermittlung die Überwindung des Grabens zwischen den Entgegengesetzten meint, also deren Verbindung (Arndt 2001b, 722f.). In diesem Sinne wird die Vermittlung hier verwendet werden; mit dem Zusatz, dass es freilich Abstufungen im Grad dieser Verbindung gibt. Die existenzielle Beschaffenheit und die Vermittlung der Extreme sind die beiden wesentlichen Aspekte der Gegensatzproblematik. Unter diesen zwei wesentlichen Gesichtspunkten soll die Gegensätzlichkeit des Marxschen Konfliktmodells des Fortschritts in diesem Kapitel hauptsächlich betrachtet werden. Das Interessante an der gegensätzlichen Theoretisierung von Verhältnissen ist außerdem, dass sie ein hermeneutisches Problem mit sich bringen können: Ein bestimmtes Gegensatzverhältnis mag den Namen eines bestimmten Gegensatztyps tragen, ohne ihm Ehre machen zu können, weil seine Extreme nicht konsequent so vermittelt sind, wie sie es dem Namen nach sein sollten. Das kann zu erheblichen Verwirrungen führen. Man kann sich beispielsweise ein Verhältnis vorstellen, das als Widerspruch bezeichnet wird, dessen divergierendes Moment aber in der theoretischen Darstellung so stark betont wird, dass es in Antagonismus umbenannt werden könnte. Es geht also darum, einen angemessenen Namen für ein bestimmtes Gegensatzverhältnis zu finden, zum Beispiel für den Fortschritt-im-Gegensatz. Hier stellt sich nämlich die Frage, unter welchen Bedingungen im Zusammenhang mit diesem originellen Marxschen Begriff von einem ,Widerspruch' und von ,Dialektik' gesprochen werden kann. 3
Die Terminologie der ,Grundmomente' stammt von Bendig (1992, 35-37).
2 0 0 D I E FORMALE DIMENSION: M A R X ' FORTSCHRITTSBEGRIFF ALS BEWEGUNGSBEGRIFF
3.
Die Gegensatzproblematik bei Marx
Marx hat keine fertig ausgearbeitete Theorie des Gegensatzes. Deswegen wird hier zunächst nur von einer Konzeption des Gegensatzes die Rede sein, also von einer Grundvorstellung oder von einem Leitgedanken. Später wird diese Konzeption dann in den Kontext der Marxschen Dialektik gestellt. Das Marxsche Denken über den Gegensatz muss allerdings aus Texten, die thematisch vor allem politische Konflikte und ökonomische Verhältnisse zum Schwerpunkt haben, rekonstruiert werden. Dabei ist Material von nur unfertigem, fragmentarischem Charakter zu berücksichtigen. Der theoretische Wert dieser Fragmente ist nicht immer klar. Sie laden dazu ein, Aussagen für bare Münze zu nehmen, die zum Teil ironisch gemeint sind und möglicherweise von Engels durchgesehen' wurden.
a.
Die Marxsche Typologie der Gegensätze
Ausgangspunkt meiner Beschäftigung mit der Gegensatzproblematik ist das Manuskript Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie: Kritik des Hegeischen Staatsrechts, das Marx im Jahr 1843 in Kreuznach abfasst. Dieser Text untersucht das Verhältnis von Staat und Recht zur bürgerlichen Gesellschaft und der politischen Wirklichkeit in Preußen, eine Thematik, mit der sich Marx schon 1842 in einer Reihe von Artikeln für die ,Deutschen Jahrbücher' und für die ,Rheinische Zeitung' auseinandersetzt. Da die Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie jedoch viel deutlicher für einen Bruch mit der Spekulation steht, setzt sie sich einigermaßen systematisch mit der Gegensatzthematik auseinandersetzt, und zwar auf eine Art und Weise, die von Anfang an auf eine scharfe Eingrenzung des Potentials der Vermittlung hinausläuft.4 Nicht alle Gegensätze, argumentiert Marx, können vermittelt werden. In seiner politischen Philosophie werfe Hegel alle Elemente - Fürst, Stände, Regierung, bürgerliche Gesellschaft - durcheinander beim Versuch sie zu vermitteln. „Hier tritt das ganze Ungereimte dieser Extreme, die abwechselnd bald die Rolle des Extrems, bald der Mitte spielen hervor." {Zur Kritik, MEGA 1/2, 97/MEW 1, 292) Es sei Hegel nicht genug, dass das Extrem ein Extrem ist, es solle immer zugleich auch Mitte sein: „Wenn das eine Extrem ruft: ,jezt bin ich Mitte', so dürfen es die beiden andern nicht anrühren, sondern nur nach den andern schlagen, das eben Extrem war. Man sieht, es ist eine Gesellschaft, die kampflustig im Herzen ist, aber zu sehr die blauen Flecke fürchtet, um sich wirklich zu prügeln und die beiden, die sich schlagen wollen, richten es so ein, daß der Dritte, der dazwischen tritt, die Prügel bekommen soll, aber nun tritt wieder einer der beiden als der
4
Wie Arndt feststellt, kommt die Besonderheit der Marxschen Hegel-Kritik insbesondere darin zum Ausdruck, dass Hegel nicht, wie damals üblich, „das Fehlen einer wahren Unmittelbarkeit" vorgeworfen wird, „sondern eher eine defizitäre Theorie der Vermittlung" (2001a, 1250).
D I E GEGENSATZPROBLEMATIK BEI M A R X
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Dritte auf, und so kommen sie vor lauter Behutsamkeit zu keiner Entscheidung." (Ebd.) Diese Behutsamkeit gefällt Marx deshalb nicht, weil es sich hier um politische Gegensätze handelt, die er mit seiner Kampfterminologie (.Gegner', .Streitende', ,Prügel') umschreibt. Der Versuch, diese entgegengesetzten .wirklichen Extreme' zu vermitteln, ist zum Scheitern verurteilt: „Wirkliche Extreme können nicht mit einander vermittelt werden, eben weil sie wirkliche Extreme sind. Aber sie bedürfen auch keiner Vermittlung, denn sie sind entgegengesetzten Wesens." (Ebd.) Marx will also das Unversöhnliche der Denkform der Extreme erhalten, insofern es sich um .wirkliche' Gegensätze handelt. In Hegels Vermittlungsbestrebungen drücke sich das Bedürfnis aus, Ordnung und Harmonie an die Stelle des Streites zu setzen und für die Befriedung der Entgegensetzung zu sorgen. Sein „Irrthum" rühre vor allem daher, dass er „die Entschiedenheit wirklicher Gegensätze, ihre Bildung zu Extremen ... als etwas möglicher Weise zu verhinderndes oder schädliches" auffasst (ebd., 98/293). Beim Versuch, wirkliche Extreme zu vermitteln, handele es sich sogar um die „Vertuschung des Gegensatzes" (ebd., 100/295). Marx nennt den speziellen Gegensatztyp, der auf der Entgegensetzung von wirklichen Extremen beruht schlicht .Gegensatz' oder aber .Antagonismus'. Warum können .wirkliche' Extreme nicht vermittelt werden? Weil sie „nichts miteinander gemein" (ebd., 97/292) haben. Das heißt, sie sind existenziell verschiedenen Wesens. Das ist überhaupt der springende Punkt. In diesem frühen Text wird eine Verteilung von drei verschiedenen Gegensatztypen auf zwei Lager unternommen, von denen das eine alle Gegensätze umfasst, deren Extreme von gleicher Existenz sind, das andere alle Entgegensetzungen von Extremen von verschiedener Existenz. In Einklang mit seiner Einsicht in die begrenzten Möglichkeiten der Vermittlung spricht Marx sinnvoller Weise von einem Unterschied, nämlich vom .Unterschied eines Wesens' im ersten Fall bzw. vom .Unterschied der Existenz' im zweiten. So sind beispielsweise Nordpol und Südpol, männliches und weibliches Geschlecht gleichen Wesens: „ihr Wesen ist identisch", denn Nord- und Süd-, männlich und weiblich sind bloß „entgegen gesezte Bestimmungen eines Wesens; der Unterschied eines Wesens auf seiner höchsten Entwicklung. Sie sind das differenzierte Wesen ... Wahre wirkliche Extreme wären Pol und Nichtpol, menschliches und unmenschliches Geschlecht. Der Unterschied ist hier ein Unterschied der Existenz, dort ein Unterschied der Wesen, zweier Wesen." (ebd., 98/293) Soweit die beiden ersten Gegensatztypen der Typologie von 1843: der wirkliche und der wesensidentische. Als dritten Gegensatztyp erwähnt Marx noch den abstakten Gegensatz: „Jedes Extrem ist sein anderes Extrem. Der abstrakte Spiritualismus ist abstrakter Materialismus', der abstrakte Materialismus ist der abstrakte Spiritualismus der Materie." (Ebd.) Der abstrakte Gegensatz ist also eine Variante des wesensidentischen Gegensatzes bei dem der Grad der Vermittlung sehr hoch ist. Besonders problematisch ist es überdies, wenn Abstraktionen als wirkliche Gegensätze aufgefasst, aber trotzdem wie abstrakte Gegensätze vermittelt werden (ebd., 97/292). Bei wirklichen Gegensätzen handelt es sich allerdings um Realverhältnisse, nicht um Abstraktionen. Und die lassen
202
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sich, wie gesehen, nicht vermitteln. Die wirklichen Gegensätze können nur dann vor der „Absurdität der Vermittlung" (ebd.) bewahrt werden, die sie bei Hegel erhalten, wenn die Extreme sozusagen aufeinander einschlagen dürfen. Bei einer Entgegensetzung von Extremen gleichen Wesens ist der Grad der Vermittlung natürlich niemals im selben Maße eingeschränkt wie bei wirklichen Extremen. Das divergierende Moment kann bei einem ,Unterschied der Wesen' (Entgegensetzung innerhalb desselben Wesens) schlechterdings so schwer wiegen, wie bei einem .Unterschied der Existenz' (Entgegensetzung verschiedener Existenzen). Logisch betrachtet ist der Graben zwischen Nordpol und Südpol niemals so tief wie der zwischen Pol und Nichtpol. Erstaunlicherweise wird die Frage nach der existenziellen Beschaffenheit der Extreme in der Literatur zur Gegensatzthematik selten gestellt. Deswegen kann Bendig ohne Schwierigkeiten alle Gegensatztypen - selbst den schwer vermittelbaren .polaren Gegensatz', den Antagonismus und den Dualismus (krasse Zweiheit) - unter Heraklits Prinzip der „widerstrebenden Harmonie" (1992, VII) versammeln. Selbst diejenigen Gegensatztypen, die das divergierende Moment sehr stark betonen, ließen sich angeblich soweit regeln, bis das konvergierende Moment wieder zum Tragen kommt. Das einheitsgefáhrdende Potential der Divergenz sei bei bestimmten Gegensätzen auf ein erträgliches Maß reduzierbar. Im Ernstfall ließe sich deshalb immer ein kontrollierbares ,,übergeordnete[s] Fließgewicht" (ebd., 85) herstellen. Trotzdem bevorzugt Bendig einheitsbildende Gegensatztypen wie den komplementären Gegensatz, die seiner Annahme einer urgründigen „Konvergenz allen Seins" (ebd., 69) entgegenkommen. Wer sich einmal mit Marx' Differenzierung im Begriff des Gegensatzes vertraut gemacht hat, den wird die Anpassung aller Gegensatztypen an dieses Prinzip nicht mehr überzeugen. Mit dem .wirklichen Gegensatz' kennt Marx außerdem einen Gegensatztyp, der jeglicher Harmonie entbehrt und der sich nicht vermitteln oder anderweitig .regeln' lässt. Das herausragende Merkmal der Marxschen Gegensatzkonzeption ist allerdings, dass der Vermittlung scheinbar für alle Gegensatztypen Grenzen gesetzt sind. Das zeigt sich zwanzig Jahre später in der Konzeption der ,Widersprüchlichkeit' der ökonomischen Krisen. Diese Konzeption hebt zwar nicht primär das divergierende Moment hervor, aber sie betont mit Nachdruck die, wie Marx jetzt treffend formuliert, „Verselbständigung gegen einander" und die „Selbständigkeit, die die zu einander gehörigen und sich ergänzenden Momente gegen einander einnehmen" (Manuskript 1861-1863, MEGA II/3.3, 1123/MEW 26.2, 501). Auch für den Widerspruch gilt demnach das Prinzip der ,Verselbständigung gegeneinander'. In diesem Fall darf dieses Prinzip allerdings nicht als ein aller Vermittlung entbehrender Dualismus missverstanden werden. Der Widerspruch steht ja auf dem Boden der Wesensidentität der Extreme: „Es giebt keinen wirklichen Dualismus des Wesens." (Zur Kritik, MEGA 1/2, 99/MEW 1, 294)
D I E GEGENSATZPROBLEMATIK BEI M A R X
b.
203
Die zwei grundlegenden Gegensatzbegriffe in Marx' Sprachgebrauch
Die Differenzierung innerhalb der Vermittlung und der Beschaffenheit der Extreme ist das allgemeine Merkmal der Marxschen Gegensatzkonzeption. Im Zentrum steht das Bewusstsein, dass die Vermittlung bei Gegensätzen auf der Linie von der wesensverschiedenen, unvermittelten (immediata) Entgegensetzung bis hin zur wesensidentischen, vermittelten (mediata) Entgegensetzung zunimmt. Es handelt sich also um eine Gegensatzkonzeption, die den Grad der Vermittlung (bzw. das konvergierende Moment) je nach Gegensatztyp variiert. Im Blick auf die Fortschrittsthematik geht es also darum, herauszufinden, wo die spezifische Gegensätzlichkeit des Fortschritt-im-Gegensatz auf dieser Achse anzusiedeln ist. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass Marx gerade was den Zusammenhang zwischen Gegensätzlichkeit und historischer Gesellschaftsentwicklung angeht mit mehreren, ineinander greifenden oder sich doch zumindest überlagernden Gegensatztypen arbeitet. Godelier beispielsweise identifiziert im Kapital zwei verschiedene Typen von »Widersprüchen': den Widerspruch zwischen Kapitalisten und Arbeitern, und den zwischen den Produktionsbedingungen von Wert und Mehrwert und dessen Realisierung (der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen). Ersterer, der Klassenwiderspruch, befinde sich innerhalb der Struktur der Produktionsverhältnisse: er sei strukturintern und für die kapitalistische Produktionsweise spezifisch. Letzterer sei ein Widerspruch nicht innerhalb einer Struktur, sondern zwischen zwei Strukturen, der nicht von Anfang an besteht und sich verschärft (vgl. Kapital III, MEGA 11/15, 238, 855f./MEW 25, 252, 891). Dieser zweite Widerspruch sei grundlegend und erkläre letztlich das Verschwinden des Kapitalismus als Gesellschaftsordnung. Er sei deshalb ein Grenzbegriff: seine Grenzen sind dem Kapitalismus .immanent' und nicht zu überwinden. Wobei die Grenze selbst vorrangig eine objektive sei, die sich nicht aus den subjektiven Eigenschaften und Neigungen der Kapitalisten oder Arbeiter als Individuen oder als ökonomische Agenten herleiten lasse (Godelier 1970, 2Iff.). Godeliers strukturalistische Interpretation ist im Ansatz richtig. Die unglückliche Subsumierung verschiedenartiger Gegensatztypen unter dem Begriff des Widerspruchs ist jedoch kein Zufall. Sie steht symptomatisch für das Versäumnis der Marxliteratur, ernsthafte Differenzierungen in der Marxschen Konzeption des Gegensatzes vorzunehmen, die sich die Frage nach den allgemeinen Merkmalen der Vermittlung und der Beschaffenheit der Entgegengesetzten stellen. Marx selbst spricht nicht ohne Grund von „Widersprüche[n] und Gegensätze[n] der bürgerlichen Production" (Manuskript 18611863, MEGA II/3.3, 1122/MEW 26.2., 500), wobei,Gegensatz' in der Regel austauschbar ist mit .Antagonismus' - also: „Widersprüche und Antagonismen" (Kapital, MEGA II/6, 424 und 475/MEW 23, 465 und 526). 1.) Der Begriff des Antagonismus: Der Antagonismus wurde im Marxismus-Leninismus als .unversöhnlicher Widerspruch' zwischen Klassen oftmals fast schon dualistisch gedacht. Mehr noch als andere Gegensatztypen betont der Antagonismus (gr. antagonismos - ,Widerstreit', ,Gegenwirkung') die dynamische Komponente von Konflikten und
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das diametrale Wechselspiel von Kräften und Interessen. Der Antagonist ist ein Gegner im Krieg, beim Wettkampf, vor Gericht etc., und bei Marx vor allem in der Politik. Marx verwendet den Antagonismusbegriff vor allem im Zuge seiner Analyse von Ausbeutungsverhältnissen. Die Identifikation von Lohnarbeiter und Kapitalist beispielsweise ist unzulässig. Werden diese beiden Bestimmungen zusammengeschmissen, dann „wird wieder der Gegensatz weggeleugnet dadurch, daß von einem wirklichen in der Production vorhandnen Gegensatz abstrahirt wird". (Manuskript 1861-1863, MEGA II/3.3, 1141, MEW 26.2, 520) Bereits im Pariser Manuskript von 1844 wird der Antagonismus als wesentlicher Bestandteil der kapitalistischen Produktionsweise dargestellt: Der „Arbeitslohn wird bestimmt durch den feindlichen Kampf zwischen Capitalist und Arbeiter". (MEGA 1/2, 189) Und im Vorwort von 1859 heißt es: „die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprocesses" (MEGA II/2, 101/MEW 13, 9). Marx nimmt aber noch eine weitere Differenzierung vor: Der Antagonismus bezeichnet nur die Grundform eines epochenübergreifenden sozialen Gegensatzes. „Alle bisherige Gesellschaft beruhte", so das Manifest, „auf dem Gegensatz unterdrückender und unterdrückter Klassen." (MEW 4, 473) Dieser Gegensatz ist also etwas Dauerhaftes, den verschiedenen Gesellschaftsformen Gemeinsames. Er muss nicht unbedingt von Beginn an als der politische Kampf sichtbar sein, dem er sozusagen als Grundlage dient. Wenn der Klassengegensatz sich jedoch artikuliert, dann als ein solcher Antagonismus, der als der „mehr oder minder versteckte Bürgerkrieg innerhalb der bestehenden Gesellschaft" (ebd.) beschrieben wird. In dieser Form - als historisch bedingte Artikulationen des Klassengegensatzes, das heißt: der Politik - unterliegt Marx' Auffassung vom Antagonismus nur sehr geringfügigen Veränderungen. 2.) Der Begriff des Widerspruchs: Bei der Analyse der strukturellen Zerrissenheit der kapitalistischen Ökonomie oder gar der kapitalistischen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit operiert Marx überwiegend mit dem Begriff des ,Widerspruchs', zum Beispiel als „die Widersprüche der capitalistischen Production", die „wegzuraisonniren" (Manuskript 1861-63, MEGA Π/3.3, 1118/MEW 26.2, 495) dem Verständnis dieser Produktionsweise im Wege steht. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang der Krisenbegriff, auch wenn der sich im Laufe der drei großen Entwürfe zur Kritik der politischen Ökonomie (den Grundrissen von 1857/58 und den Manuskripten von 186163 bzw. 1863-65) verändert. Zum Beispiel ist die Krise in den Grundrissen noch etwas wesentlich Zerstörerisches: Sie ist die Endkrise, welche die Auflösung der kapitalistischen Produktionsweise anzeigt. Im Manuskript von 1861-63 erscheint sie bereits nicht mehr primär in dieser Form, sondern gewissermaßen als ständiger Begleiter dieser Produktionsweise. Schließlich entsteht ein neuer Krisenbegriff, der sich zwar nicht endgültig festlegen lässt, der sich aber zumindest dadurch auszeichnet, dass er sich sowohl von der Vorstellung der Zusammenbruchskrise wie auch von der einer bloßen Ausgleichsbewegung temporärer Ungleichgewichte abhebt (Heinrich 1995, 133, 138, 149). Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist aufgrund seiner inneren Widersprüche besonders krisenanfällig. Ursprünglich gehen die Krisen auf die Überproduktion zurück, die einerseits zwar dem natürlichen Bevölkerungswachstum entspricht, „andererseits eine
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immanente Basis zu den Erscheinungen bildet, die sich in den Crisen zeigen". (Manuskript 1861-1863, MEGA II/3.3, 1114/MEW 26.2, 492). Deshalb hat die Krise zunächst die Trennung zu ihrer „Elementarform" (ebd., 1124/502). Das bedeutet konkret die immerwährende Möglichkeit eines räumlichen und zeitlichen Auseinanderfallens der beiden Phasen der Metamorphose der Ware (Verkauf und Kauf). Gleichzeitig ist die Krise aber auch die gewaltsame Herstellung der Einheit, das heißt „wesentlich die Einheit beider Phasen" (ebd., 1123/501), also die Einheit der Unterschiedenen. Die Krise ist demnach Einheit und Trennung zugleich. Beim Lesen der entsprechenden Texte ist nicht zu übersehen, dass Marx mit seinem Anliegen diesen beiden Polen gerecht zu werden während der Entwicklung seines Krisenbegriffs schwer zu kämpfen hat. Auch ist seine Vorstellung von Widersprüchlichkeit auf den ersten Blick nicht besonders originell, insofern sie natürlich an der Identität der Extreme festhält. Sie ist eben nur deshalb von Interesse, weil Marx gleichzeitig ebenso passioniert der Verselbständigung der Extreme gegeneinander die Treue hält. Genau darin unterscheidet sie sich meiner Ansicht nach von der traditionellen Widerspruchskonzeption im allgemeinen und von der Hegeischen Dialektik im besonderen; vor allem von der unterschwelligen Fixierung der letzteren auf die Einheit der Entgegengesetzten - die Einheit der Identität und des Unterschieds im Grund werden dem Gegensatz vorgeordnet. Das führt zur Hypothese, es gäbe eine innere Lösung des Widerspruchs innerhalb einer Struktur; die Synthese ist ja im Widerspruch angelegt. Marx lehnt einen derartigen Automatismus der Auflösung ab. Einer von vielen möglichen Gründen dafür, warum ihm dennoch immer wieder ein solcher Automatismus vorgeworfen wird, ist die Herausgabe einzelner Bände und Auflagen des Kapitals durch Engels. Von Engels sind, um nur ein Beispiel zu nennen, Überschriften wie „Entfaltung der inneren Widersprüche des Gesetzes" im Abschnitt über den tendenziellen Fall der Profitrate im dritten Band (ausführlicher zu Engels Edition des 3. Bandes: MEGA 11/15, Apparat, 912, 917ff.), die dem Fall der Profitrate einen sehr stark auf die unvermeidliche Auflösung anspielenden Ausdruck verleihen. Das spielt natürlich denjenigen in die Hände, die den Widerspruchsbegriff der Kritik der politischen Ökonomie als Kernstück einer teleologischen Geschichtsphilosophie deuten wollen, welche im Stufengang der Gesellschaftsformationen auf den Zusammenbruch einer bestimmten Formation immer eine qualitativ höhere folgen lässt.
c.
Zur Semantik des Gegensatzes:, Aufhebung' und ,Moment' bei Marx
Der Versuch, der Vermittlung mit dem Prinzip der Verselbständigung gegeneinander der Extreme Grenzen zu setzen bereitet Marx einige Schwierigkeiten. Wie im vorhergehenden Kapitel bereits angesprochen wurde, tritt die Kritik der Spekulation schon im Elend der Philosophie hinter die Kritik der politischen Ökonomie zurück. Der Ausstieg aus der Philosophie (aus der .Spekulation') wird ab Mitte der 1840er Jahre nicht mehr nur angestrebt, sondern auch mehr oder weniger gewaltsam durchgesetzt. Das hat allerdings zur Folge, dass eine ganze Ansammlung unbewältigter philosophischer Begriffe
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mitgeschleppt werden müssen, zum Teil über die ganze Strecke eines sich verändernden Forschungsprogramms. Ihre Weiterverwendung ist jedoch immer dann problematisch, wenn diese Begriffe in ihrer ursprünglichen Bedeutung eben jenes teleologisches Fortschrittsdenken zu untermauern scheinen, das Marx zu überwinden sucht. Mit ,unbewältigten Begriffen' meine ich Begriffe, die Marx dem Umfeld seiner philosophischen Prägung entnimmt (also dem Hegeischen System, dem Hegelianismus und Feuerbach). Wie verhält sich Marx zu diesen Begriffen? Werden sie weiterhin in ihrer ursprünglichen Bedeutung verwendet, oder werden sie inhaltlich neu besetzt (umgedeutet)? Außerdem sind jeweils die neu eingeführten Begriffe zu berücksichtigen, die mit den scheinbar Unbewältigten konkurrieren. Dieses Schema einer möglichen Umdeutung will ich jetzt an zwei zentralen Begrifflichkeiten der Gegensatzthematik verdeutlichen: am Begriff .Aufhebung' (bzw. ,Auflösung') und am Begriff ,Moment'. Der Gebrauch dieser Begriffe ist insofern problematisch, als er Marx' erklärtes Ziel der Verselbständigung der Extreme gegeneinander gerecht zu werden, zu unterminieren droht oder doch zumindest auf die Probe stellt. Das hat wiederum Folgen für das Verständnis des Marxschen Fortschrittsbegriffs gehabt. Insbesondere der Begriff der Aufhebung/Auflösung hat ja in der Rezeption der Marxschen Geschichtsauffassung als historische Dialektik, welche in systematischer Manier nach einer den geschichtlichen Gesamtprozess umfassenden ,Logik der Übergänge' bis hinauf zum Kommunismus sucht, eine wesentliche Rolle gespielt. In Wirklichkeit ist das Bild, das man damit von Marx zeichnet, das Bild eines historisierten Cieszkowski, der eine Art angewandte Historiosophie ,ohne Geist' betreibt. Ausgehend von diesem Bild wurde bekanntlich lange Zeit unter dem Oberbegriff Historischer Materialismus eine lebhafte Diskussion über die materialistische Geschichtsauffassung geführt. Man ging davon aus, dass es eine fertige Marxschen ,Theorie der Geschichte' gibt. Eine der deutlichsten (und zumindest im englischen Sprachraum bis zum heutigen Tage einflussreichen) Stellungnahmen zu diesem Thema ist G. A. Cohens Schrift Karl Marx' Theory of History: A Defence (1991). Cohen setzt die Existenz einer ausgearbeiteten Marxschen ,Theorie der Geschichte' also schon im Titel als fait accompli voraus. Die Strömung der Marx-Interpretation, die diese Voraussetzung akzeptiert, geht für gewöhnlich davon aus, dass diese universale Theorie Geschichte als Widerspruchs- und also Aufhebungsstruktur versteht. Aus heutiger Sicht scheint sich diese Voraussetzung nicht mehr selbstverständlich. Eine Untersuchung der Marxschen Geschichtsauffassung sollte überprüfen, ob Marx größere geschichtliche Zeiträume und Zusammenhänge tatsächlich als Stufengang von auf Auflösung drängenden gesellschaftlichen Widerspruchsverhältnissen darstellt. Und sie sollte sich die Frage stelle, ob Marx ein solches Unterfangen auf der Grundlage seiner Einstellung zum Verhalten der Gegensätze im allgemeinen und der Widersprüche im besonderen theoretisch überhaupt durchführen kann. Kann Marx es sich überhaupt leisten, den historischen Fortschritt als Aufhebungsakt darzustellen? Werfen wir also zunächst einen Blick auf den Begriff der Aufhebung und seine Bedeutung für die historische Dialektik.
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Bei Hegel bezeichnet die ,Aufhebung' eines Widerspruchs zugleich „aufbewahren, erhalten" und „aufhören lassen, ein Ende machen". (1812/13, 58) Das Aufgehobene ist also nicht im eigentlichen Sinne etwas gänzlich Nichtiges, weil es sich dabei nach dem Hegeischen Verständnis um etwas Unmittelbares handelt. Im Gegensatz zur völligen Nivellierung, Auflösung oder Vernichtung der Entgegengesetzten ist das Aufgehobene aber etwas Vermitteltes, das zwar einerseits als Resultat etwas Nichtseiendes ist, andererseits aber noch die alte Bestimmtheit seines Ausgangspunktes an sich hat. Denn etwas ist immer nur insofern aufgehoben, „als es in die Einheit mit seinem Entgegengesetzten getreten ist". (Ebd.) So erhält sich also die Aufhebung das Alte, das nicht mehr gültig ist, als ,etwas Anderes'. Das muss auch als ein Emporheben verstanden werden, das eine neue Funktion des Ganzen oder einen qualitativen Sprung nach oben anzeigt. Im Unterschied zu dieser Auffassung entwickelt Marx die Position, dass die .Auflösung' - er verwendet diesen Terminus häufiger als ,Aufhebung' - eines Gegensatzverhältnisses sogar dessen Entwicklung' bedeuten kann. Auch der Satz ,,[d]ie Entwicklung der Widersprüche einer geschichtlichen Produktionsform ist jedoch der einzig geschichtliche Weg ihrer Auflösung und Neugestaltung" (MEGA II/6, 467/ MEW 23, 512) im Kapital kann in diesem Sinne gedeutet werden. In der Marxschen Konzeption des Gegensatzes hat zumindest der Aspekt der Hegeischen Aufhebung, der die Zusammenführung der Extreme voraussetzt, keine unbeschränkte Geltung. Dieser Gedanke findet einen interessanten Ausdruck in der Analyse der Metamorphose der Waren, die ja eine nicht ganz unerhebliche Relevanz für Marx' Verständnis von der zeitlich begrenzten Natur der bürgerlichen Gesellschaftsform hat. Marx führt aus, dass der Austauschprozess der Waren widersprechende Beziehungen einschließt. „Die Entwicklung der Ware hebt diese Widersprüche nicht auf, schafft aber die Form, worin sie sich bewegen können. Dieß ist überhaupt die Methode, wodurch sich wirkliche Widersprüche lösen." (Ebd., 129/118) Anders ausgedrückt: Die Lösung dieser Widersprüche besteht darin, dass sie sich eine Form schaffen, innerhalb derer sie sich bewegen können und die ihre Realität (.wirkliche Widersprüche') nicht aufhebt. Marx Bemerkung, dass die Überwindung der bestehenden sozialen Ordnung nicht „nicht auf gemütlichem Wege vorgehen kann" (Brief an Kugelmann, 17. März 1868, MEW 32, 541) schließt an diese Überlegungen an. Zur Lösung des im Vorwort von 1859 ebenfalls typischerweise als »Widerspruch' charakterisierten historischen Verhältnisses von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft kann es nämlich nicht auf theoretischem, sondern nur auf praktischem Wege kommen, das heißt auf dem Weg der Umgestaltung der Produktionsverhältnisse selbst, die diese wieder mit den sich rasch entwickelnden Produktivkräften kompatibel macht. Es geht also im Grunde um eine Angleichung5 der beiden Strukturen. Das setzt wiederum die Überwindung des Privateigentums an den Produktionsmitteln voraus, und ruft die politische Subjektivität als ungemütliche' Artikulation der sozialen Antagonismen auf den Plan. 5
Rohbeck, der diese „geschichtsphilosophische Kernthese" (2006, 90) schwächer formulieren möchte, schlägt vor, den Terminus .Angemessenheit' zu verwenden, um diesen „Spielraum zwischen Determinierung und Horizonteröffnung zu kennzeichnen" (ebd., 91).
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Daraus folgt zunächst, dass die sogenannte ,Logik des Übergangs' von der bürgerlichen Produktionsweise in eine zukünftige Produktionsweise von Marx nicht als singuläre kontradiktorische Struktur eines abstrakten Gesamtzusammenhangs .Gesellschaft' oder .Geschichte' begriffen wird, innerhalb dessen sich ein progressiver Automatismus der Aufhebung des Alten in das Neue abspielt, sondern als das Zusammenwirken von verschiedenartigen Gegensatztypen. Marx' Betrachtungen zur Übergangsthematik drehen sich um das komplizierte Verhältnis der gegenseitigen Bedingung (Wechselwirkung) grundlegender Gegensatzverhältnisse von unterschiedlichem Charakter. Das lässt sich dann möglicherweise verallgemeinern und als Marxsche .Theorie der Geschichte' auch auf gesamtgeschichtliche, mehrere Gesellschaftsformationen übergreifende Zusammenhänge übertragen. Der Geschichtsprozess ist aber nicht auf den einen Gegensatztyp Widerspruch und seine Aufhebung reduzierbar. Die Bewegungsform der Geschichtsentwicklung ist auch im Marxschen Konfliktmodell selbstverständlich eine gegensätzliche, aber sie enthält nicht das Versprechen der Aufhebung. Darum können ihre Fortschritte, anders als etwa bei Cieszkowskis Historisierung der Hegeischen Dialektik, keine reinen Aufhebungsakte sein. Wenn Marx also sagt, die Lösung der Widersprüche einer geschichtlichen Produktionsform sei ihre »Entwicklung', dann ist das auch so zu verstehen, „daß die Lösung des Widerspruchs zwar Ausschluß Selbständiger, nicht aber Aufhebung der Selbständigkeit der Prozeßelemente bedeutet". (Arndt 1985, 258) Diese Position kann deshalb noch genauer bestimmt werden, wenn man sich klar macht, dass die Marxsche Auseinandersetzung mit der spekulativen Philosophie Hegels und der Hegelianer eine unausgesprochenen Kritik des Momentbegriffs enthält. Diese Kritik ist aus zwei Gründen von besonderer Bedeutung für den Marxschen Fortschrittsbegriff. Erstens bekräftigt sie den Kern der Marxschen Gegensatzkonzeption: die Verselbständigung gegeneinander der Entgegengesetzten. Der originelle Marxsche Fortschrittsbegriff, der sich um die Mitte der 1840er Jahre herausbildet, muss im Zusammenhang mit diesem Anspruch der Marxschen Gegensatzkonzeption gesehen werden. Zweitens verdeutlicht die Momentkritik, warum dieser Begriff nicht der a priori vorausgesetzte Kollektivsingular sein kann, von dem man erwarten darf, dass er seine Momente schon in die empirische Wirklichkeit setzen wird. Das Wort ,Moment' wird in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als .Zeitpunkt' aus dem Französischen in die deutsche Sprache eingeführt. Gemeint sind jedoch nicht beliebige Zeitpunkte, sondern besondere Augenblicke, in denen sich etwas bewegt. Bei Kant erhält das Moment dann die zusätzliche Bedeutung einer unselbständigen Entität, die aus der Zergliederung einer Einheit hervorgeht, in bezug auf welche sie allein Bedeutung hat; und Schelling spricht bereits von den Momenten in der Geschichte des Selbstbewusstseins (vgl. Borsche 1984, lOOff.). Hegel wird beide Bedeutungen von Moment - also Zeitpunkt und unselbständiges Einzelding - vereinigen und universalisieren, und so einen wichtigen Bezug zur Bewegung und zur Aufhebung herstellen. Beispielsweise in der Phänomenologie, wo vom Geist behauptet wird, dass er seine Momente „unterscheidet und bei einzelnen verweilt". (1807, 325) „Sie haben so isoliert den Schein, als ob sie als solche wären; aber wie sie nur Momente oder verschwinden-
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de Größen sind, zeigte ihre Fortwälzung und Rückgang in ihren Grund und Wesen; und dies Wesen eben ist diese Bewegung und Auflösung dieser Momente." (Ebd., 325f.)6 Das ist der Momentbegriff, den Marx bei Hegel vorfindet. Er selbst benutzt das Wort ,Moment' regelmäßig, obwohl dies seiner Absicht, die Selbständigkeit der Extreme wieder in ihr Recht zu setzen eigentlich zuwiderläuft. Nur muss sich das Moment bei ihm mit dem .Extrem', den .Entgegengesetzten', dem ,Pol', und manchmal sogar mit dem .Gegensatz' die Arbeit teilen. So erhält es meines Erachtens eine Modifikation, die beispielsweise in der Bestimmung des aus „Momenten" zusammengesetzten „organischen Ganzen" (Einleitung 1857, MEGA II/l.l, 35/MEW 42, 34) als Totalität deutlich wird: „Das Resultat wozu wir gelangen, ist nicht, daß Produktion, Distribution, Austausch, Konsumtion identisch sind, sondern daß sie alle Glieder einer Totalität bilden, Unterschiede innerhalb einer Einheit." (Ebd.) Diese Momente sind mehr als Hegels .verschwindende Größen', die einem übergeordneten Werden dienen. Sie bewahren sich ihre Selbständigkeit als nicht-identische und vollwertige .Glieder' eines bestimmten Bezugsrahmens. Das Moment erhält also einen ganz neuen Stellenwert. Diese geänderte Bedeutung darf man sich durchaus räumlich als periphere Position vorstellen, im Unterschied zu Hegel, für den das Moment (wie oben gesehen) immer zugleich .Mitte' sein muss. Und die konsequent zuende gedachte periphere Position ist die extreme Position. Wieder sind wir auf die Grenzen der Vermittlung verwiesen. Für ein Denken, das sich als kritische Wissenschaft versteht ist das eigentlich nicht weiter verwunderlich. Für ein solches Denken ist es sogar ganz unerlässlich, dass es sich den Respekt vor dem erhält, wofür das Moment steht: das Eingeschränkte, Besondere, Einzelne, ohne in ihm nur einen vergänglichen Baustein für das bedeutsamere Allgemeine zu sehen. Die implizite Kritik des spekulativen Momentbegriffs leuchtet ein, weil sie die Idee der ,Verselbständigung gegeneinander' der Entgegengesetzten noch weiter befestigt. In systematischen Bezugssystemen (,Totalitäten'), Gegensatzverhältnisse eingeschlossen, stehen sich Momente gegenüber, deren Eigenständigkeit sich erst nachvollziehen lässt, wenn man sie als Extreme denkt. Es wird sich noch zeigen, warum diese Bedeutungsverschiebung für die Bestimmung des Fortschritts als Extrem in einem Gegensatzverhältnis, in Opposition zum althergebrachten Konfliktmodell, von so enormer Wichtigkeit ist. Warum die Selbständigkeit der Momente durchgesetzt werden muss ist allerdings nur schwer zu verstehen, solange man nicht einen Blick auf die Rolle des Moments in der Hegeischen Spekulation geworfen hat. In seiner Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie beschreibt Marx nämlich einen Vorgang, den man treffend als Logifizierung der empirischen Wirklichkeit bezeichnen könnte. Das ist keine ganz neue Entdeckung, und jedenfalls kein neuer Vorwurf. Marx wiederholt im Grunde den Standpunkt Feuer-
6
„[Des Geistes] Dasein ist das allgemeine Sprechen und zerreißende Urteilen, welchem alle jene Momente, die als Wesen und wirkliche Glieder des Ganzen gelten sollen sich auflösen, und welches ebenso dies sich auflösende Spiel mit sich selbst ist." (Hegel 1807, 386)
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bachs.7 Und er ist sich bewusst, dass Hegel die empirische Wirklichkeit nicht einfach verneint, sondern dass er sie aufnimmt „wie sie ist" {Zur Kritik, MEGA 1/2, 9/MEW 1, 207). Die Spekulation geht durchaus von der empirischen Wirklichkeit aus, nur wird diese merkwürdigerweise nicht als die Bedingung, die sie ist, „sondern als mystisches Resultat gefaßt". (Ebd., 10/208) Die Auflösung der Empirie in der Spekulation, die Logifizierung, vollzieht sich also nicht als Leugnung der Empirie, sondern subtiler als Verwandlung der Empirie in den Inhalt der Idee. Die innere Logik der empirischen Verhältnisse selbst tritt hinter die Logik der Idee zurück. Marx' Kritik der spekulativen Logifizierung der Empirie richtet sich also gegen Hegels Vernachlässigung der logischen Zusammenhänge wie sie sich aus ihrer eigenen Natur entwickeln zugunsten einer „Natur des Begriffs" (ebd., 19/ 217). Es handelt sich bei der Logifizierung demnach auf den ersten Blick um eine Begriffsteleologie, die sich allerdings bei genaueren Hinsehen als Pseudoteleologie entpuppt, wie Marx am Beispiel der spekulativen Rechtfertigung der Monarchie und des Erbrechts nachweist: Hegel versuche, die Geburt eines Menschen zum Monarchen anhand des Übergangs des Begriffs in die Natürlichkeit des Seins zu ,beweisen', indem er die Konkretisierung der Souveränität als „das Umschlagen des vorgestellten Zwecks in das Dasein" (ebd., 35/236) rekonstruiere. Da aber bei diesem Vorgang „kein handelndes Subjekt vorhanden" sei, und damit auch kein subjektiver Wille und also keine Zwecksetzung, hinke Hegels Vergleich mit dem teleologischen Akt des Willens. Übrig bleibe „ein inhaltsloses Handeln der Idee", und der eigentliche Zweck stelle sich als die Absicht des Willens des Philosophen heraus, „den erblichen Monarchen aus der reinen Idee zu construiren". (Ebd., 36/236) Marx' Reaktion auf diese Konstruktion ist ein ausgezeichnetes Beispiel für seine strikte und hier sogar theoretisch durchgeführte Zurückweisung der Methode der idealen Zwecksetzung, wie sie dann in der Proudhon -Kritik mit Hilfe von entsprechenden Ausdrücken praktiziert wird: Die Erbmonarchie ist sozusagen eine ,Lieblingsidee' Hegels , die Methode ihrer Konstruktion die .Entleerungsbewegung seines Kopfes', und das Umschlagen dieses Zwecks in das Dasein ist die .Unterschiebung eines Zieles' (vgl. Kapitel IV, Abschnitt 4.b.). Dass dabei die konkreten Bestimmungen übergangen werden ist für Marx ein Grundzug der idealen Zwecksetzung - eine konsequente Folge des Umstandes, dass die Spekulation an den wirklichen Zusammenhängen vorbeigeht. Die konkreten Bestimmungen des Staates seien Hegel nur „hors d'oeuvres" (Nebensachen) (ebd., 19/216), das heißt sie dienen allein dem logischen Sinn des Staates und werden nicht um ihrer selbst 7
Schon in Feuerbachs frühen Aufzeichnungen aus den Jahren 1827/28 finden sich unter der Überschrift ,Zweifel' ernsthafte Bedenken gegenüber Hegels Philosophie: „Wie verhält sich das Denken zum Sein, wie die ,Logik' zur Natur? Ist der Übergang von dieser zu jener begründet? Wo ist die Notwendigkeit, wo das Prinzip dieses Übergangs? ... wie kann denn die Idee, als die alle diese Bestimmungen [Sein, Nichts, Etwas, Endliches, Wesen] zusammenfassende Totalität, in gleiche Kategorie mit ebendiesen ihren endlichen Bestimmungen gesetzt werden?" Das Denken ist also dazu gezwungen, anzuerkennen, „daß es noch ein andres Element gibt", die Natur, die nicht aus der Logik abgeleitet werden kann. „Gäbe es keine Natur, nimmermehr brächte die unbefleckte Jungfer: ,Logik' eine aus sich hervor." (1822-1844, 155f.)
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Willen geschätzt. Hegel gehe nicht von den „wirklichen Subjekten als den Basen des Staates" (ebd., 24/224) aus. Am Ende erscheinen die Subjekte als das Resultat des Staates (dem verselbständigten Prädikat), „während vom wirklichen Subjekt auszugehen und seine Objektivation zu betrachten ist". (Ebd.) Marx wirft Hegel vor, die konkrete Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit der Subjektivität der Idee zu unterstellen, die das Ganze in all seinen Momenten beherrscht. Dieser Vorwurf richtet sich also gegen das unkritische totalisierende Verfahren der Dialektik (Arndt 2003, 119). Dagegen macht Marx nun die Logik des jeweiligen Gegenstandes stark: Die konkreten Bestimmungen und die wirklichen Subjekte müssen als der eigentliche Ausgangspunkt des theoretischen Erklärens wahrgenommen werden. Aus diesem Grund stellt sich meiner Meinung nach an dieser Stelle die Frage, ob die Marxsche Spekulationskritik nicht eine ausdrücklichere Kritik des Momentsbegriffs nach sich ziehen müsste. Das setzt natürlich voraus, dass das Hegeische Moment als Inbegriff der Rekonstruktion der konkreten Wirklichkeit nach den Bedürfnissen des Ideellen aufgefasst wird - und das tut Marx. Trotzdem gibt es lediglich Bruchstücke einer unausgesprochenen Kritik des Momentbegriffs. Diese zusammenzutragen ist allerdings lohnenswert, weil sie zur Verständlichkeit der Marxschen Bestimmung des Fortschritts als Extrem im Gegensatz beitragen. Marx' These lautet: Hegel schreibt nicht die wirkliche Geschichte, sondern die Lebensgeschichte der Idee. Die Empirie wird allein „als ein reales Moment der Idee entwickelt". {Zur Kritik, MEGA 1/2, 40/MEW 1, 241) Das empirische Dasein ist das ,X>asein der Idee" (ebd.). Die wirklichen Subjekte werden auf die Stufe bloßer „Gefässe" herabgesetzt, deren Bedeutung sich auf den Dienst beschränkt, den sie als empirische Verkörperungen der Idee - als deren „Lebensmomente" - leisten können (ebd.). Nun ist es eine der dringlichsten Anliegen Marxens im Kreuznacher Manuskript, die Wirklichkeit vor der Auflösung in die Abstraktion zu bewahren und speziell den .wirklichen' Subjekten ihre schöpferische Fähigkeit zurückzugeben, die ihnen durch Hegels Postulat der schöpferischen Tätigkeit der Idee genommen wird. Sein Ziel ist es, die „wirkliche empirische Person" (ebd., 40/240) als „wirklichen Grund" (ebd., 31/231) der politischen Verhältnisse und Institutionen zu etablieren. Deshalb muss er eine äußerst kritische Einstellung zum Momentbegriff haben. Und wenn er auch nicht so weit geht, diesen Begriff als etwas Überflüssiges abschaffen zu wollen, so ließe sich zumindest argumentieren, dass er dies um der Konsequenz seiner Theorie willen eigentlich tun müsste. Im Hinblick auf den positiven Marxschen Fortschrittsbegriff sind in diesem Zusammenhang vor allem folgende Überlegungen von Bedeutung. Marx behauptet: Die einzige philosophische Bestimmung, die Hegel uns gibt, ist die der Subsumtion des Einzelnen und des Besonderen unter das Allgemeine. Diese Subsumtion muss um jeden Preis durchgesetzt werden, und so nimmt Hegel „irgend eine der empirischen Existenzen des preussischen oder des modernen Staats, (wie sie ist mit Haut und Haar), welche unter anderm auch diese Categorie verwirklicht, obgleich mit derselben nicht ihr spezifisches Wesen
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ausgedrückt ist ... Hegel fragt nicht, ist dieß die vernünftige, die adaequate Weise der Subsumtion? Er hält nur die eine Categorie fest und begnügt sich damit, eine entsprechende Existenz für sie zu finden. Hegel giebt seiner Logik einen politischen Körper, er giebt nicht die Logik des politischen Körpers (§287)." (Ebd., 52/250) Marx versteht Hegel also so, dass das Allgemeine sich empirische Existenzen sucht, die seinen (Hegels) Plänen und Absichten ins Konzept passen. Nirgends geht es um die Verwirklichung der empirischen Existenzen selbst. Wenn die Empirie auch nicht übergangen wird, so wird sie doch als ein bloß zweitrangiger Bereich der Wirklichkeit angesehen, der in logische Kategorien aufzulösen ist (ebd., 68f./267). So funktioniert die spezifisch Hegeische Variante der Logifizierung des Seins, wovon weiter unten noch ausführlicher die Rede sein wird. Eigentlich haben wir es hierbei sogar mit einer Art Zwei-Reiche-Lehre zu tun - Marx spricht von einem ,,abstrakte[n] Mysticismus" (ebd., 66/265) - , die Ansichsein und Fürsichsein als Inhalt und Form trennt. Ersteres muss in Letzterem empirisch als Moment zur Geltung kommen. Andersherum ausgedrückt: Hegel lässt „das letztere als ein formelles Moment äusserlich hinzutreten". (Ebd., 66/264) Es ist genau dieses Modell des Sich-Bahn-Brechens des Allgemeinen (bzw. der Idee oder des Geistes), dem der Fortschrittsbegriff der im weitesten Sinne Hegelianisch beeinflussten spekulativen Geschichtsphilosophie bis hin zu Proudhon nachgebildet ist. Auch in jener Tradition ist der Fortschritt ja das bestimmende, übergeordnete Allgemeine, zu dem die empirische Wirklichkeit schon Einzutreten' wird. Die Relevanz der impliziten Marxschen Momentkritik für die Fortschrittsproblematik liegt eben darin, die Absurdität dieses Vorgangs verdeutlicht zu haben. Vor diesem theoretischen Hintergrund kann jetzt die Bestimmung des Fortschritts als ein Extrem im Gegensatz weiter ausgebaut werden. Denn wenn Marx darauf besteht, dass Fortschritt dieses seine Momente in die Wirklichkeit setzende Allgemeine nicht sein kann, müsste er ihn dann nicht ausgehend vom Prinzip der Verselbständigung gegeneinander der Entgegengesetzten als etwas Beschränktes und Besonderes denken? Müsste der Fortschritt nicht selbst ein Moment sein? Aber im Marxschen Sinne von ,Moment' - müsste Fortschritt nicht ein Extrem sein?
4.
Der eigentümliche Gegensatzcharakter des Fortschritts-im-Gegensatz
Die Darstellung der Entstehung des originellen Marxschen Fortschrittsbegriffs hat gezeigt, dass Marx im Elend der Philosophie auf dem Umweg der Auseinandersetzung mit Proudhons geschichtsphilosophischem Entwurf der vermeintlich .dialektischen' Entwicklung der ,guten Seite' eine solche Bestimmung des Fortschritt als Extrem im Gegensatz gelingt. Diese Bestimmung wird zwar nur implizit vorgenommen, dennoch mangelt es ihr nicht an Deutlichkeit, so dass eine Rekonstruktion versucht werden kann. Wenn Marx im Elend der Philosophie sagt ,Ohne Gegensatz kein Fortschritt',
D E R EIGENTÜMLICHE GEGENSATZCHARAKTER DES FORTSCHRITTS-IM-GEGENSATZ
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dann meint er nicht die Widersprüchlichkeit des Fortschritts. Im Kern sagt Marx: Fortschritte sind nicht die übergreifenden Determinanten der historischen Entwicklung, sie sind ihrerseits bestimmte Phänomene. Ein Fortschritt ist immer in einen Bezugszusammenhang eingebunden, der sein Ausmaß und seine Bedeutung übersteigt: in die historische Bewegungen selbst. Die historische Bewegung ist aufgrund ihrer Mannigfaltigkeit aber nicht auf den Triumphzug der ,guten Seite' reduzierbar. Es handelt sich hier um einen Grundsatz der materialistischen Geschichtsauffassung, der, in einem anderen Zusammenhang, auch noch im dritten Band des Kapitals zur Sprache kommt: „Daß die Entwicklung der Produktivkraft in den verschiednen Industriezweigen nicht nur in sehr verschiednen Proportionen, sondern oft in entgegengesetzter Richtung vorgeht, entspringt nicht nur aus der Anarchie der Konkurrenz und der Eigenthümlichkeit der bürgerlichen Produktionsweise. Die Produktivität der Arbeit ist auch an Naturbedingungen gebunden, die oft minder ergiebig werden im selben Verhältnis wie die Produktivität - soweit sie von gesellschaftlichen Bedingungen abhängt - steigt. Daher entgegengesetzte Bewegung in diesen verschiednen Sphären, Fortschritt hier, Rückschritt dort." (MEGA 11/15, 256/MEW 25, 270)8 Marx sieht im Fortschritt nicht mehr das Gesetz oder das Prinzip der geschichtlichen Bewegung. Den Gedanken, Fortschritt sei der alle Menschen umfassende Kollektivsingular, der auf allen Gebieten wirksame Universalbegriff, der das traditionelle Konfliktmodell beherrschte, lässt er hinter sich. Im Fortschritt sieht er - wie im Zitat die Entwicklung von .Sphären' innerhalb der übergeordneten .entgegengesetzten Bewegung' eines historischen Zusammenhangs. Das Extreme des Begriffs Fortschritt-imGegensatz hat hier die Bedeutung des Sphärischen.
a.
Die konträre Bewegungsform des Fortschritts-im-Gegensatz
Die .entgegengesetzte Bewegung' ist also nicht die Bewegung des Fortschritts, sondern eines größeren Zusammenhangs (wie beispielsweise im genannten Fall der ökonomischen Entwicklung). Für die Rekonstruktion des Marxschen Fortschrittsbegriffs bedeutet das Folgendes: Selbst eine Formulierungen wie ,In unseren Tagen geht al8
Diese Passage entnimmt Engels vermutlich dem Manuskript 1863-1867. Dort endet der letzte Satz aber so: „verschiednen Sphären, so daß die Productivität der Arbeit nach der einen Seite steigt, während sie nach der anderen fällt". (MEGA II/4.2., 334) Die Gegenüberstellung .Fortschritt hier, Rückschritt dort' fehlt komplett. Da der dritte Band des Kapitals erst nach Marx' Tod erscheint, könnte es sich um einen Zusatz Engels handeln. Es sei denn, Engels entnimmt die Passage einer anderen, mir unbekannten Stelle des Manuskripts. Leider gibt MEGA II/4.2 keine Auskunft über die Herkunft dieser bezeichnenden Formulierung. Selbst wenn dieser prägnante Zusatz aus Engels Feder stammen sollte, so fasst er doch das, was ihm vorausgeht, mit passenden Worten und ganz im Sinne der Marxschen Fortschrittsauffassung zusammen.
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les mit seinem Gegenteil schwanger' aus der Londoner Rede von 1856 laufen nicht unweigerlich auf die gegenwärtig überaus populäre These hinaus, der Rückschritt stolziere im Gewand des Fortschritts herum oder sei in ihm angelegt. Spätestens seit der Proudhon-Kritik bettet Marx den Fortschritt zwar in die Widersprüche und Antagonismen der historischen Bewegung ein; anders als die spekulativen Geschichtsphilosophen denkt er ihn aber nicht als etwas in sich selbst Widersprüchliches. Wir müssen uns den Marxschen Fortschrittsbegriff deshalb als einen widerspruchsfrei gedachten Widerspruch vorstellen. Ich werde nun eine Bestimmung des Charakters der .entgegengesetzten Bewegung' vornehmen, die dem Marxschen Konfliktmodell der Geschichtsentwicklung und des Fortschritts zugrunde liegt. Und zwar bestimme ich den Charakter dieser Bewegung als einen konträren Gegensatz. Auf diese Weise schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe. Denn erstens entspricht das Marx' Anspruch, der Vermittlung für alle Gegensatztypen Grenzen zu setzen und also das divergierende Moment nicht zu vernachlässigen. Zweitens macht die Kontrarietät einen systematischen Angriff auf das Denkmuster der Ambivalenztheorie möglich, das mit der Vorstellung von der immanenten Widersprüchlichkeit des Fortschritts unter dem Deckmantel der .Dialektik' eine Identifizierung von Fortschritt und Rückschritt betreibt, die meines Erachtens einem zeitgemäßen Nachdenken über konkrete Verbesserungen im Weg steht. Wohlgemerkt, hier soll nicht behauptet werden, der konträre Gegensatz sei ein unvermittelter Gegensatz, der gänzlich ohne die Aufeinanderbezogenheit der Extreme auskommt. Schließlich reserviert Marx die gänzlich unvermittelte Entgegensetzung für die .wirklichen' Gegensätze oder Antagonismen. ,Konträr' heißen Begriffe traditionell dann, wenn sie einander ausschließen, und zwar in der Weise, dass zwischen ihnen ein mittlerer dritter Begriff (Tertium) möglich ist; kontradiktorisch' heißen sie dann, wenn sie einander ausschließen, ohne dass ein solcher mittlerer Begriff möglich ist (vgl. Wolff 1981, 101). So sind beispielsweise blau und gelb konträre Begriffe, während blau und nichtblau kontradiktorische Begriffe sind, da nichtblau alle anderen Farbbegriffe abdeckt. Somit beschreiben sowohl kontradiktorische als auch konträre Gegensätze Relationen unterschiedlicher Begriffe innerhalb von Gleichartigem, was auf ein Mindestmaß an Vermittlung schließen lässt. Der kontradiktorische Gegensatz ist allerdings viel radikaler, da er das Zusammentreffen einer Proposition und einer Verneinung bezeichnet. Als besonders auflösungsbedürftiger Gegensatztyp stellt er so normalerweise die Vernichtung des zugrunde liegenden Substrats in den Vordergrund (bzw. in der Hegeischen Dialektik dessen Aufhebung in etwas Anderes). Dagegen hat der konträre Gegensatz den Vorzug, dass er der Kontradiktion, was den Grad der Divergenz der Extreme angeht, in nichts nachsteht. Zugleich ist er aber wesentlich belastbarer, weil er eben nicht von Beginn an auf , Aufhebung' drängt. Er erlaubt uns darum, ein dauerhaftes Nebeneinanderherlaufen der Extreme vorzustellen und damit entspricht er der von der Marxschen Gegensatzkonzeption geforderten Bewahrung der relativen Selbständigkeit der Entgegengesetzten (,Verselbständigung gegeneinander'). Von den beiden Gegensatztypen hat der konträre sozusagen den längeren Atem. Deshalb muss man sich die Bewegungsform des Fortschritt-im-Gegensatz so vorstellen,
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dass sie in etwa dem Marxschen Widerspruchsbegriff gleichkommt, der oben an den Beispielen des Krisenbegriffs und der Metamorphose der Ware dargestellt wurde. Dieser eigentümliche konträre Widerspruch ist kein Vernichtungsmittel mehr, sondern er garantiert die Selbständigkeit der Extreme und betont die Entwicklung der zugrunde liegenden Entgegensetzung. Der konträre Gegensatz ist schon Aristoteles bekannt. Die Kontrarietät, auf die ich hinaus will, darf durchaus Aristotelisch gedacht werden, als das, „was unter dem der selben Gattung angehörigen sich am meisten unterscheidet, und was, an demselben aufnehmenden (Substrat) vorkommend, sich am meisten unterscheidet, und was sich unter dem demselben Vermögen angehörigen am meisten unterscheidet, und das, dessen Unterschied der größte ist, schlechthin oder der Gattung oder der Art nach". ( 1 9 8 2 , 2 0 9 ) 9 Die Kontrarietät legt den Nachdruck auf das, ,was unter dem der selben Gattung angehörigen sich am meisten unterscheidet'. Daher macht der konträre Gegensatz noch am ehesten mit der Verselbständigung der Entgegengesetzten ernst. Was allerdings die existenzielle Beschaffenheit der Entgegensetzten angeht, ist trotzdem eine Unterscheidung nur des Wesens gegeben. Die Unterscheidung findet ja an ein und demselben aufnehmenden Substrat' statt. Das verbietet es uns, im Marxschen Sinne von einem antagonistischen .wirklichen' Gegensatz oder von einem mechanischen Aufeinanderprallen von dinghaften Entitäten verschiedener Existenz (Kantische Realrepugnanz) zu sprechen. Gemeint ist statt dessen der größte Unterschied auf der Basis ein und desselben konstatierenden Moments. Gemeint ist also ein wesensidentischer Gegensatz, und der wird von Marx gewöhnlich für einen ,Widerspruch' gehalten. Nur muss man sich in der Anwendung dieses Gegensatztyps auf die Bewegungsform des Fortschritts das .Substrat' gerade nicht als den Fortschritt vorstellen, denn damit wäre gegenüber dem traditionellen Konfliktmodell der Geschichtsentwicklung nichts gewonnen. Das Substrat ist die .entgegengesetzte Bewegung' des historischen Prozesses. Um die Notwendigkeit dieser Betrachtungsweise zu verdeutlichen, kehre ich noch einmal kurz zu Proudhon als typischen Vertreter des traditionellen Konfliktmodells zurück. Auch bei Proudhon ist freilich die Geschichte das Substrat der gegensätzlichen 9
Aristoteles unterscheidet in der Metaphysik insgesamt sechs verschiedene Gegensatztypen (1982, V, 1018a: 20-25): 1. der Widerspruch, 2. der konträre Gegensatz, 3. das Relative (die Beziehung), 4. Privation (Beraubung) und Haben, 5. das, woraus und wodurch sich eine Bewegung vollzieht (Entstehen und Vergehen) und 6. das, was sich nicht zugleich an dem für beides zugleich aufnahmefähigen Ding/Subjekt finden lässt. Die Gegensatztypen fünf und sechs sind eigentlich nur Sichtweisen, unter denen der zweite bzw. der vierte Gegensatztyp betrachtet werden können. Die drei Gegensatztypen Widerspruch, Kontrarietät, Privation und Haben betreffen das Sein bzw. Nichtsein, da der eine Gegensatz die Aufhebung des anderen mit sich bringt. Von diesen drei ist der radikalste und schärfste aber der kontradiktorische, weil er rein gar nichts übrig lässt und das Sein ganz aufhebt. Zweitstärkster Gegensatz ist der privative, der das Sein seiner subjektiven Formbestimmung beraubt. Der konträre Gegensatz ist nur der drittstärkste. Am Seienden hebt er nur eine Bestimmung auf, belässt ihm aber sowohl Subjekt als auch Gattung (vgl. Kommentar, 1982, 391).
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Entwicklung. Da für ihn die Geschichte allerdings gleichbedeutend ist mit Fortschritt, ist in Wirklichkeit der Fortschritt das Substrat, das sich an sich selbst in zwei Glieder unterscheidet: „La société, en avançant toujours, se balance sur elle-même. Mais son but est d'avancer, de marcher droit, non de boiter des deux jambes. Les petits enfants s'écartent plus de la perpendiculaire en marchant que les hommes faits; et parmi ces derniers, les danseurs moinsque les paysans. Or, comme la procession sur deux jambes comporte toujours avec elle un balancement de droit à gauche, si faible qu'il soit, comme la marche consiste pour ainsi dire dans ce balancement alternatif sur les deux pieds, et tend toujours à tomber soit à droit soit à gauche, avant ce résoudre en progrès, ainsi dans la société. Tout cela n'est ni abus ni exagération: c'est conséquence directe. En même temps que le corps se porte sur la jambe gauche, la droite se lève et ramène l'équilibre." (Proudhon 1960, 376f.) Dieses Bild veranschaulicht Proudhons Konzeption des gesellschaftlichen Fortschritts. Wie ein betrunkener Seemann schreitet die Gesellschaft schwankend voran und bleibt trotzdem brav bodenständig. Die Gesellschaft wird zum Subjekt gemacht - vermenschlicht. Der Fortschritt ist ihr persönlicher Ausflug, wofür sie natürlich, wie jeder normale Mensch, beide Beine gebraucht. Nicht das Fortschrittsverhältnis steht im Vordergrund, sondern Fortschritt wird in Analogie zu einer sich selbst ständig austarierenden Person gedacht. Hier kommt also weder ein im Hegeischen Sinne dialektischer Begriff von Fortschritt zum Ausdruck, da Fortschritt sich nicht selbst negiert und übersteigt und sich statt dessen immer mit einem Bein abstützt. Fortschritt ist kein Aufhebungsakt und darum verhält er sich nicht wie ein im Hegeischen Sinne .vernünftiger' Akt. Noch entspricht diese Passage einem im Marxschen Sinne dialektischen Fortschrittsbegriff, weil Fortschritt auch nicht als selbständiges Extrem im Gegensatz wahrgenommen wird und stattdessen den Ausgleich mit sich selbst sucht: das Equilibrium. Die These, Marx betrachte »gegensätzliche Bewegung' von der Warte einer konträren Widersprüchlichkeit,10 versetzt uns in die Lage, den Fortschritt-im-Gegensatz als Element eines Konfliktmodells aufzufassen, mit dessen Hilfe sich über Veränderungen unter dem Gesichtspunkt des größtmöglichen Unterschiedes zwischen dem Extrem Fortschritt und dem ihm zuwiderlaufenden Extrem Rückschritt gesprochen werden kann. Jetzt erst kann die Beurteilung von geschichtlichen Entwicklungen auf die volle inhaltliche Bedeutungskraft der Urteilskategorien ,Fortschritt' und ,Rückschritt' zurückgreifen. Ich fasse die bereits gewonnenen Resultate der Rekonstruktion des besonderen Gegensatzcharakters des Marxschen Fortschrittsbegriffs kurz zusammen: Es empfiehlt sich, die entgegengesetzte Bewegung als einen konträren Gegensatz aufzufassen, in den 10
Die konträre Widersprüchlichkeit spielt auch in der Logik P. F. Strawsons eine Rolle. Strawson unterscheidet zwischen contrary statements und contradictory statements. Beide können Varianten eines Widerspruchs sein (1971, 16f.).
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der Fortschritt als ein untergeordnetes Phänomen eingeschrieben ist. Die Reflexion der ökonomischen Widersprüche und der sozialen Antagonismen ergibt zusammengenommen ein Bild vom konträren Bewegungscharakter der gesellschaftlichen Entwicklung. Der konträre Gegensatz ermöglicht uns, das Verhältnis von Fortschritt und Rückschritt auf der Grundlage des ,größten Unterschieds' als .Verselbständigung gegeneinander' zu bestimmen, ohne über das Ziel hinauszuschießen und dieses Verhältnis in einen aus unvermittelten Positionen bestehenden Dualismus zu verwandeln.
b.
Das Fortschritt-Rückschritt-Verhältnis
Mit dem Ausdruck entgegengesetzte Bewegung' versucht Marx, das Nebeneinander von qualitativ verschiedenartigen Entwicklungssträngen zu begreifen: Fortschritt hier und Rückschritt dort. Es handelt sich de facto um ein Fortschritt-Rückschritt Modell. Fortschritt muss nicht unbedingt als eine in sich selbst widersprüchliche Entwicklungsform gedacht werden. Denkbar ist auch ein Konfliktmodell, das im Fortschritt zu differenzieren vermag ohne vorauszusetzen, Fortschritt und Rückschritt bedingten sich notwendigerweise gegenseitig oder seien sogar dasselbe. Eine frühe Äußerung Schlegels geht in diese Richtung: „Das eigentliche Problem der Geschichte ist die Ungleichheit der Fortschritte in den verschiedenen Bestandteilen der gesammten menschlichen Bildung, besonders die große Divergenz in dem Grade der intellectuellen und der moralischen Bildung; die Rückfälle und Stillstände der Bildung, auch die kleinern partiellen" (1795, 8). Die Marxschen Überlegungen zur Geschichtsentwicklung knüpfen an dieses Denken an. Sein Fortschritt-Rückschritt Modell zeichnet sich durch seine Empfindsamkeit für die unterschiedliche Qualität von zeitgleich vor sich gehenden Entwicklungen in den verschiedenen Sphären aus und wird aus diesem Grund für die Sozialwissenschaften und für die wissenschaftliche Geschichtsschreibung relevant. Ausgehend vom konträren Gegensatzcharakter der entgegengesetzten Bewegung soll es jetzt aber nicht so sehr um diese allgemeine Thematik gehen, sondern speziell um das Fortschritt-Rückschritt Verhältnis. In diesem Zusammenhang muss der seltene Versuch einer genauen Bestimmung dieses Verhältnisses in Marxistischer Absicht erwähnt werden, den Hartwig Schmidt 1989 im Rahmen der Fortschrittsdiskussion der Deutschen
Zeitschrift für Philosophie
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ternimmt. Schmidts Aufsatz ist deshalb von besonderem Interesse, weil er sich den Positionen annähert, die hier bisher mit dem Marxschen Fortschrittsbegriff in Verbindung gebracht wurden. Er ist außerdem eine Ausnahmeerscheinung, da er sehr deutlich auf die Verfehlungen der Ambivalenztheorie des Fortschritts eingeht: „Das Vermögen, Fortschritt und Rückschritt als objektive dialektische Gegensätze konsistent darstellen zu können, betrachte ich als eine Art Prüfstein für die Tragfähigkeit einer Fortschrittsauffassung. Fortschritt und Rückschritt sind Korrelate. Man kann nicht über einen Fortschritt in unserer wirklichen gesellschaftlichen Welt sprechen, ohne zugleich anzuerkennen, daß es in dieser wirklichen Welt selbst auch Rückschritte gibt. Mit dieser Anerkennung
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wiederum kann man nicht ernst machen, ohne Fortschritt und Rückschritt objektiv zu unterscheiden. Wobei Fortschritt und Rückschritt nicht zwangsläufig so unterschieden sein müssen, wie zwei räumlich auseinanderliegende und zeitlich aufeinanderfolgende Vorgänge. Vielmehr gilt zunächst, der Fortschritt hat seinen Gegensatz, den Rückschritt unmittelbar an sich. Ein und derselbe Prozeß mag zugleich Fortschritt in der einen Rückschritt in der anderen Hinsicht beinhalten oder Fortschritt für die einen und Rückschritt für die anderen. Fortschritt kann in Rückschritt umschlagen, auch in einer Weise, die von Adorno und Horkheimer in .Dialektik der Aufklärung' moniert wurde. Aber offenkundig lässt sich selbst die innerlichst Verschränkung von Fortschritt und Rückschritt nicht sezieren, wenn man zwischen beiden nicht unterscheidet. Eine Fortschrittsauffassung, die das nicht hergibt, stellt sich selbst in Frage." ( 1 9 8 9 , 1 0 1 4 ) Zu Recht empört sich Schmidt darüber, dass die Grenzen zwischen Fortschritt und Rückschritt zunehmend verschwimmen. Gleichwohl entsteht beim Lesen dieser Passage der Eindruck, dass er die von ihm geforderte ,objektive Unterscheidung' von Fortschritt und Rückschritt womöglich selbst nicht durchsetzen kann. Schmidts erste These lautet: .Fortschritt und Rückschritt sind Korrelate. Wir benötigen beide Kategorien, um wirklich anerkennen zu können, dass es in der Welt auch Rückschritte gibt. Mit dieser Anerkennung wiederum kann ohne die objektive Unterscheidung von Fortschritt und Rückschritt nicht ernst gemacht werden. ' - Davon abgesehen, dass Fortschritt und Rückschritt sich nicht als bloße .Korrelate' gegenüberstehen, sondern als selbständige Extreme, entspricht dies im wesentlichen dem Begriff Fortschritt-im-Gegensatz. Schmidts zweite These lautet: .Fortschritt und Rückschritt müssen nicht zwangsläufig so unterschieden sein, wie zwei räumlich auseinanderliegende und zeitlich aufeinanderfolgende Vorgänge. Der Fortschritt hat seinen Gegensatz, den Rückschritt, unmittelbar an sich. Ein und derselbe Prozess mag deshalb sowohl einen Fortschritt als auch einen Rückschritt bedeuten: einen Fortschritt für die einen, aber einen Rückschritt für die anderen.' - Die Behauptung, der Fortschritt habe sein Gegenteil Rückschritt .unmittelbar an sich', wiederholt zunächst nur die Grundposition der Ambivalenztheorie, die ja hinterfragt werden soll. Denn damit kann nur gemeint sein, dass beide in dem Maße miteinander identisch sind, dass sie nicht mehr getrennt voneinander gedacht werden können. Sollte dies wirklich der Fall sein, dann ist allerdings die von der ersten These geforderte Möglichkeit einer klaren .objektiven' Unterscheidung nicht mehr gegeben und Schmidts Fortschrittsauffassung stellt sich selbst in Frage. Die Vorstellung, Fortschritt und Rückschritt stünden in besonders enger Verbindung, ist auf der Begriffsebene durchaus berechtigt. Dennoch bleibt in der unterschiedlichen Beurteilung ein und desselben Vorgangs durch verschiedene Personen - was in der Sinndeutung der einen ein Fortschritt ist, ist in der des anderen ein Rückschritt - die Selbständigkeit der unterschiedlichen Bedeutungen der Begriffe erhalten: Fortschritt bleibt eindeutig Fortschritt, Rückschritt bleibt eindeutig Rückschritt. Darüber hinaus gibt es übrigens keinen Grund,
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warum empirische Prozesse, die wir als Fortschritte oder Rückschritte bezeichnen, nicht als räumlich und zeitlich getrennte Vorgänge vorstellbar sein sollten. Wäre dies nicht der Fall, dann könnte man sich den Anspruch auf eine pluralistische Geschichtsauffassung, die sich durch ihr Gespür für die Koexistenz qualitativ verschiedenartiger Ereignisse und Entwicklungen auszeichnet, nämlich sparen. Schmidts dritte These lautet: ,Ein Fortschritt kann in einen Rückschritt umschlagen.' - Selbstverständlich kann sich die Qualität ein und derelben Entwicklung im Laufe der Zeit verändern. Ja, es kann sogar zu einer Verkehrung ins Gegenteil kommen. Wenn dem Fortschritt dieses Umschlagen allerdings als Tendenz unterstellt wird, dann bedeutet das nur den Ausbau der Identitätsthese (zweite These) zur negativen Geschichtsteleologie, die ich in Kapitel ΠΙ, Abschnitt 5.a., als negative Inkarnation bezeichnet habe. Jedes Kind kennt heutzutage die eine oder andere Version der Geschichte vom katastrophalen Potential der fortschrittlichen Entwicklung, die gegen die Eindeutigkeit des Fortschrittsbegriffs ins Feld geführt wird. Nehmen wir beispielsweise an, der in der Naturbeherrschung zum Zwecke der Bedürfnisbefriedigung gründende wissenschaftlich-technische Fortschritt schlage um in Ereignisse und Vorgänge, welche diesem Zweck zuwiderlaufen (Umweltkatastrophen, die Steigerung der militärischen Zerstörungskraft, moralisch zweifelhafte Forschungsmethoden, etc.). Wie ich im dritten Kapitel dargestellt habe, ist die Konzeption solcher Entwicklungen als Verkehrung der Idee in ihr Gegenteil das zentrale Thema der Dialektik der Aufklärung. Die Frage ist nur, ob diese Vorstellung ein legitimes theoretisches Mittel ist, um die Fortschrittskategorie in Zweifel zu ziehen. Schließlich ist ja zunächst von zwei qualitativ verschiedenen Prozessen die Rede, die sich vielleicht nicht getrennt voneinander wahrnehmen, wohl aber getrennt voneinander beurteilen lassen - nämlich als .Verbesserung' respektive Verschlechterung'. Das Umschlagen der einen in die andere sollte allein als Möglichkeit, niemals aber als Notwendigkeit verstanden werden. Wer glaubt, Fortschritt schlage deshalb in sein Gegenteil um, weil er es .unmittelbar an sich' hat, der läuft Gefahr, den Fortschritt teleologisch als ein auf den Rückschritt Angelegtes zu denken. Müsste dann nicht umgekehrt gelten, dass der Rückschritt den Fortschritt .unmittelbar an sich' hat? Zwingt uns diese Konzeption des Verhältnisses von Fortschritt und Rückschritt nicht dazu, aus jedem Rückschritt einen neuen Fortschritt abzuleiten? Denkt man nämlich die Identitätslogik konsequent zu Ende, so werden die horrenden Erscheinungen, die sie dem Fortschritt zuschreibt, ihrerseits zu Fortschritten.11 Die nun folgenden Beispiele 11
Wie selbst eine Katastrophe noch ihre gute Seite herauszukehren vermag, das schildert Heinrich von Kleist in seiner vom Lissabonner Erdbeben von 1755 inspirierten Erzählung Das Erdbeben in Chili: Jeronimo Rugera erlangt durch die Katastrophe seine Freiheit zurück - ein Erdbeben befreit ihn aus dem Gefängnis. Donna Josephe, zum Tode verurteilt, weil sie sich mit Jeronimo „in einem zärtlichen Einverständnis befunden hatte" (1996, 355), wird durch das Erdbeben vor der Hinrichtung bewahrt. Die Stimmung ist gut: „Ein Gefühl, das [Josephe] nicht unterdrücken konnte, nannte den verflossnen Tag, soviel Elend er auch über die Welt gebracht hatte, eine Wohltat, wie der Himmel noch keine über sie verhängt hatte. Und in der Tat schien mitten in diesen grässlichen Augenblicken, in welchen alle irdischen Güter der Menschen zugrunde gingen und die ganze Natur verschüttet zu werden drohte, der menschliche Geist selbst wie eine
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belegen die Beliebtheit und überaus weite Verbreitung des katastrophalen' Denkmusters.
c.
Die ,Dialektisierung' des Fortschritts in der zeitgenössischen Ambivalenztheorie
Der Begriff Fortschritt-im-Gegensatz macht mit der objektiven Unterscheidung zwischen Fortschritt und Rückschritt ernst. Für Marx entspricht Fortschritt gerade nicht jenem Rousseauschen Gegensatz, den Engels in ihm zu erkennen glaubt: „Aber dieser Fortschritt war antagonistisch, er war zugleich ein Rückschritt." (Anti-Diihring, MEGA 1/27, 335/MEW 20, 130) Auch die zeitgenössische Diskussion des modernen Fortschrittsgedankens zieht es vor, sich auf die Ambivalenz des Fortschritts zu konzentrieren und nicht über das Fortschritt-Rückschritt Verhältnis nachzudenken. Wenn es um die Marxsche Theorie geht ist dann die Vorstellung von der ,Dialektik' bzw. der ,Dialektisierung' des Fortschritts ein zentraler Gedanke. 12 Aber wie sieht der dialektische' Fortschritt aus? Das fragt sich auch die Zeitschrift Das Argument. Getragen von der Sorge um die relativistische Erosion der Zuversicht in die Möglichkeit des gesellschaftlichen Fortschritts, führt sie 1999 unter der Fragestellung „Was kann .Fortschritt' heute bedeuten?" eine Umfrage unter Philosophen und Sozialwissenschaftlern durch. Als Orientierungshilfe dient Walter Benjamins Satz: „Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren." Die Befragten sollen sich darüber verständigen, wie diese Katastrophe heute zu begreifen ist. Außerdem versucht man, diesem angeblich „anders fundierten Fortschrittsbegriff' näher zu kommen, den Benjamin anzudeuten scheint - und zwar unter ausdrücklicher Berück-
schöne Blume aufzugehen. Auf den Feldern, so weit das Auge reichte, sah man Menschen von allen Ständen durcheinander liegen, Fürsten und Bettler, Matronen und Bäuerinnen, Staatsbeamte und Tagelöhner, Klosterherren und Klosterfrauen: einander bemitleiden, sich wechselseitig Hilfe reichen, von dem, was sie zur Erhaltung ihres Lebens gerettet haben mochten, freudig mitteilen, als ob das allgemeine Unglück alles, was ihm entronnen war, zu einer Familie gemacht hätte. [...] Ja, da nicht einer war, für den nicht an diesem Tage etwas Rührendes geschehen wäre oder der nicht selbst etwas Großmütiges getan hätte, so war der Schmerz in jeder Menschenbrust mit so viel süßer Lust vermischt, daß sich, wie sie meinte, gar nicht angeben ließ, ob die Summe des allgemeinen Wohlseins nicht von der einen Seite um ebensoviel gewachsen war, als sie von der anderen abgenommen hatte." (1996, 361f.) Kleist lässt die Geschichte nicht gut ausgehen: Nicht die Katastrophe wird Jeronimo und Josephe zum Verhängnis - sie werden von einem Mob gelyncht. 12
Marshall Bermans in der englischsprachigen Welt nach wie vor überall anzutreffende Schrift All that is Solid Melts into Air steht exemplarisch für den geradezu inflationären Gebrauch von ,Dialektik' im Bezug auf die Marxsche Geschichtsauffassung. Berman spricht vom „dialectical flow", mit der „Marx's vision" (1988, 103) besonders im Kommunistischen Manifest ausgestattet sei. Diese „dialectics of modernity" (ebd., 105), „so Marx prophesies" (ebd., 97), führe schließlich als „fulfilment of modernity" (ebd., 104) zur versöhnlichen Auflösung der Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise in das Entwicklungsideal des Kommunismus.
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sichtigung der Kategorien .Rückschritt' und .Reaktion' (1999, 186). Die Zielsetzung ist klar: ,Den Fortschritt neu denken - Rethinking Progress'. So ist der Band überschrieben. Angesichts einer Problemstellung, die den Fortschritt in der Katastrophe verankert, überrascht es kaum, dass der Gedanke einer notwendigen, unmittelbaren Verbindung des Fortschritts mit dem Bösen immer wieder in den Antworten der Umfrageteilnehmer auftaucht. Für Bischoff steht jedenfalls fest, dass das „Zeitalter der Katastrophe" vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges bis zu den Nachwirkungen des Zweiten Benjamins Forderung, den Begriff des Fortschritts auf dem der Katastrophe zu basieren, zu einer der „großen Herausforderungen des zu Ende gehenden .Zeitalters der Extreme'" (1999, 193) macht. Und Herkommer ist sich sicher, dass sich die Idee des sozialen Fortschritts an „die unstrittige Janusköpfigkeit unseres .Zeitalters der Extreme'" halten müsse (1999, 207). Nachdem das Feld mit dieser etwas ungenauen Formel .Zeitalter der Extreme'/.Zeitalter der Katastrophe' abgesteckt ist, holt Löwy zum Schlag aus: „Wenige Jahre nach [Benjamins] Tod nahm der Fortschritt' die monströse Gestalt von Auschwitz und Hiroshima an." (1999, 216) Liedman glaubt sogar, der Fortschritt sei mit dem Herrn der Finsternis höchstselbst im Bunde: „Erkenntnisse, Wissen und Technologie können auch Waffen in die Hände des Teufels setzen" (1999, 214). Beweise dafür, dass „Fortschritte sehr gut mit Barbarei vereinbar sind" gibt es ja wie Sand am Meer: „Hitlers ... Ermordung von Juden und Zigeunern, Stalins ... Schlachtung von Menschenmassen, die imperialistischen Ausrottungskriege, die totale Verarmung der ... vierten Welt" usw. usf. (ebd.). Kein denkbares Übel in der Welt, an dessen Entstehung der Fortschritt nicht beteiligt gewesen wäre. Es handelt sich hier keineswegs um ein originelles Denkmuster. Koselleck ruft in Erinnerung, dass in der frühen Neuzeit schon einmal „jeder Rückschritt auf das Konto des Fortschritts verbucht" wurde (1980, 226). So gerieten Fortschritt und Rückschritt „in ein asymmetrisches Spannungsverhältnis, das es den Aufklärern erlaubte, auch jeden Verfall und jeden Umweg als einen Schritt zu deuten, dem um so schnellere Fortschritte folgen würden". (Ebd.) Diese Gleichsetzung der beiden Kategorien ist mit der Methode der zeitgenössischen Ambivalenztheorie durchaus vergleichbar, gleichwohl die Ambivalenztheorie die alte Zielsetzung auf den Kopf stellt: Ursprünglich überging man den Rückschritt, um die Wirklichkeit des Fortschritts umso deutlicher nachweisen zu können. Heutzutage versucht man umgekehrt auf dem Umweg über die Universalität des Fortschritts, die Wirklichkeit des Rückschritts nachzuweisen, allerdings ohne diesen beim Namen zu nennen. Diese Anklagen gegen den Fortschritt kommen als ein produktives ,Neudenken' daher, das vor allem darin neu ist, dass es in seinem Interesse für das Böse an das alte Theodizeeproblem erinnert.13 Man fühlt sich geradezu dazu aufgefordert, die Ambi13
.Theodizee' ist der Versuch, Gott widerspruchsfrei zu denken, um ihn gegen die Vorwürfe zu verteidigen, die ihm aus der Existenz des Bösen in einer Welt seiner Schöpfung erwachsen. Leibniz bildet den Begriff 1697 im Anschluss an Römer 3, 5. Das Problem ist umschrieben mit dem Trilemma: Gottes Allmacht - Gottes Güte - Übel der Welt. Die klassische Problemstellung
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valenztheorie in die Nähe der Theologie zu rücken. In der Theologie ist die „Neuorientierung" auf das Böse in der Geschichte nämlich „schon seit langem im Gange" (Häring 1985, 145). Mit der „Bearbeitung" der „neuen Symbole des Bösen ... Krieg und die Atombombe, Umweltzerstörung und Ausbeutung der Erde, Auschwitz, Verelendung und politische Gewalt" ist „die Theologie wieder bei ihrem Thema". (Ebd., 147) Neben den thematischen Überschneidungen gibt es natürlich noch einen viel wichtigeren Grund für diese Gemeinsamkeiten. Ohne sich dessen bewusst zu sein, teilt die Ambivalenztheorie nämlich ein zentrales Axiom der Theodizee: Insgeheim geht auch sie von einem übergeordneten Guten aus, das durch die faktische Existenz des konkreten Bösen in Frage gestellt wird. Daraus wird wiederum ersichtlich, warum sie sich die Verbindung dieser entgegengesetzten Bereiche als so außerordentlich innig vorstellt. Die Enge dieser Verbindung ist durch die ,Dialektik' verbürgt. Neben der Existenz des Bösen in der Geschichte werden die Experten nämlich vor allem von der .dialektischen' (also der immanent-kontradiktorischen) Natur des Fortschritts umgetrieben, die das Böse überhaupt erst in die Welt setzt. Schon Proudhon nimmt sich vor, das Böse mit seinem dialektischen Seriengesetz - das heißt, mit seinem Fortschrittsgesetz zu erklären: Expliquer l'origine du mal par la loi des Antinomies: - c.à.d. expliquer à priori par une application de la loi sérielle, la cause de Vordre et du désordre dans la société; de l'égalité et de l'inégalité de la Propirété et de la Communauté, de la monarchie et de la Démocratie etc." ( 1 9 6 0 , 5 2 ) Im Rahmen der Fortschrittsdiskussion im Argument wärmt Negt dieses Thema jetzt noch einmal auf: „Fortschritt und Regression, Vorwärtsentwicklung und Wiederkehr des Alten - das sind sich bedingende Seiten desselben Sachverhalts" ( 1 9 9 9 , 2 1 7 ) . Nur versteht er unter Sachverhalt' nicht etwa die Entwicklung oder die Geschichte; diese Problematik ergebe sich vielmehr aus den „gegenläufigen Entwicklungen im Fortschritt selbst" (ebd.). Fortschritt und Rückschritt stehen also in einem Identitätsverhältnis zueinander: „Und beide sind untrennbar miteinander verbunden" (Klenner 1999, 211). „Es gibt bei Marx", fasst Löwy zusammen, „eine Konzeption der Dialektik des Fortschritts, welche die dunkle Seite der kapitalistischen Moderne in Betracht zieht." ( 1 9 9 9 , 2 1 5 ) Das Kapital versteht er als Nachweis, „dass jeder ökonomische Fortschritt zugleich eine soziale Katastrophe bedeutet" (ebd.). Erbarmungslos wird die Katastrophe in das Wesen des Fortschritts hineingetragen, der Widerspruch in den Kern des Fortschrittsbegriffs verpflanzt. Das geschieht auf eine Art und Weise, die den Fortschritt letztendlich als den Produzenten der Katastrophe denunziert. Ausgerechnet Marx muss als Wegbereiter dieses Gedankens herhalten. Eine Ausnahme ist Wilke, der von „zunehmend differenzierte[n] Sichten und Dialektisierungen" des Fortschrittsdenkens bei Marx und Engels spricht und dieses als „prinzipiell war schon in der Antike gegeben, allerdings zum Zwecke der Widerlegung Gottes. Zum Beispiel bei Epikur: Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht; oder er kann es und will es nicht; oder er will es und kann es nicht. In jedem Fall ist Gottes Allmachtstellung fragwürdig, und möglicherweise ist Gott den Menschen gegenüber missgünstig eingestellt (Häring, 1985, 130f.).
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antagonistische Konzeption" (1999, 225) bezeichnet, womit gegenüber dem in der Ambivalenztheorie meist unkritisch vorausgesetzten Widerspruchsschema immerhin terminologisch etwas gewonnen ist. Das Bestreben, den Fortschritt zu retten oder zu rehabilitieren ist ein wesentlicher Bestandteil der Ambivalenztheorie. Bei all dem Leid, das er verursacht haben soll, kann ein bisschen Läuterung dem Fortschritt auch nicht schaden. Dazu kommt noch, dass sich schließlich niemand gegen den Fortschritt stellen und sich damit dem Vorwurf aussetzen will, gegen Verbesserungen zu sein. Und die Ambivalenztheorie zweifelt ja nicht ernsthaft daran, dass Fortschritt eigentlich diese Bedeutung hat und deshalb gerettet werden sollte. Losurdo hat ein Paradebeispiel der Rettungsliteratur abgeliefert. Sein Beitrag zur Fortschrittsdiskussion des Arguments, will den Fortschritt „rehabilitieren", da es sich angeblich um eine „heute verrufene Idee" (1999, 235) handelt. Die „Dialektiken der Aufklärung" seien immer auch „Dialektiken des Fortschritts", die ihrerseits darum bemüht seien, „die enormen menschlichen und sozialen Kosten hervorzuheben, die Pathos und Verbreitung der Aufklärung und des .Fortschritts' mit sich gebracht hatten." (Ebd.) Wir sollen uns Hegels Mahnung in der Phänomenologie zu eigen machen und den „Ernst des Negativen" in sein Recht setzen. „Es geht darum, die Opfer des Fortschritts nicht aus den Augen zu verlieren." (Ebd., 237) Der ,Ernst des Negativen' ist also nur ein blumiges Synonym für die alte .Katastrophe'. Genau wie diese steht auch der ,Ernst des Negativen' für die Fehlentwicklungen, die der Fortschritt hervorbringt, obwohl sie doch seiner Bedeutung zuwiderlaufen. So wird eine direkte Verbindung zwischen den zwei möglichen Entwicklungstendenzen Verbesserung und Verschlechterung hergestellt, wobei allerdings allein der Fortschritt die Rolle der Ursache spielen darf. Das ist eben der Grund, warum hier eigentlich keine Rede davon sein kann, dass die Kategorien Fortschritt und Rückschritt in ihrer relativen Eigenständigkeit und in ihrem Unterschied ernst genommen werden. Statt dessen wird das Fortschritt-Rückschritt Verhältnis zum ,Ernst des Negativen' hochstilisiert, der dem .Zeitalter der Katastrophen' huldigt, indem er ihm in Form des Fortschritts täglich neue Opfer erbringt. Losurdo ist sich des Dilemmas seiner Argumentation bewusst: Er wolle die Geschichte nicht auf Hegels ,Schlachtbank' reduzieren (ebd., 246). Nur ergibt sich das Dilemma aus den zitierten Formulierungen Losurdos und der anderen erwähnten Umfrageteilnehmer. Von ihm befreien könnten sie sich nur unter der Voraussetzung, dass sie die Selbstbezüglichkeit eines kontradiktorischen Universalfortschritts zugunsten einer Hinwendung zum tatsächlichen Verhältnis zwischen Fortschritt und Rückschritt aufgeben. Dieses Verhältnis liegt jenseits einer vermeintlichen ,Dialektik', mit der allem Anschein nach ein einfaches Determinationsverhältnis zwischen fortschrittlichen Ursachen und rückschrittlichen Wirkungen als notwendige Abfolge von Phasen innerhalb ein und desselben Entwicklungsgangs gemeint ist. Die Fortschrittsdiskussion, die im Argument Sonderband unter dem Vorsatz, den Fortschritt ,neu' zu denken geführt wird, basiert in Wirklichkeit auf der alten Frage nach dem Preis des Fortschritts. Hätte jeder Fortschritt seinen ,Preis', dann wäre noch verhandelbar, ob der Preis eines bestimmten Fortschritts zu hoch ist oder ob er sich ,unter dem Strich' vielleicht doch lohnt. Nicht mehr nachvollziehbar ist allerdings, wa-
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rum sich Menschen auf etwas einlassen sollten, dass in die Katastrophe führt. Wer den Widerspruch mit der besonderen Absicht in den Fortschritt verlegt, diesen als Katastrophe zu bestimmen, der steht am Ende ganz ohne Fortschritt da. Es wäre hochgradig unvernünftig den katastrophalen Fortschritt zu retten oder zu rehabilitieren. Selbstverständlich stellt auch die materialistische Geschichtsauffassung die Frage nach dem Preis bestimmter historischer Entwicklungen. Stellenweise stellt sie sogar die Frage nach dem Preis des Fortschritts. Beispielsweise sagt Marx über die bürgerliche Produktionsweise, sie habe all ihre „historischen Fortschritte" „zunächst durch die völlige Verelendung der unmittelbaren Producenten" „erkauft" (Kapital, MEGA 11/15, 606/MEW 25, 631). Solche Bemerkungen, in denen Marx, Losurdo zufolge, „die Aufmerksamkeit und die Besorgnis für die Opfer des Fortschritts" (1999, 239) teilt, müssen jedoch sehr genau analysiert werden. Losurdo bezieht sich direkt auf den vielzitierten Satz aus dem Artikel ,The Future Results of British Rule in India', den Marx 1853 für die New York Daily Tribune schreibt: „When a great social revolution has mastered the results of the bourgeoisepoch, the market of the world and the modern powers of production, and subjected them to the common control of the most advanced peoples, then only will human progress cease to resemble that hideous pagan idol, who would not drink the nectar but from the skulls of the slain." (MEGA 1/12, 253) Warum sollte ausgerechnet dieser auf Englisch für ein amerikanisches Publikum geschriebene Artikel, der mit einer großen Portion Zynismus gerade jene Viktorianer angreift, die im britische Imperialismus eine zivilisatorisch und sittlich wertvolle Unternehmung sehen, ein stimmiges Zeugnis davon ablegen, was Marx unter Fortschritt versteht? Zumal sich Marx zu diesem Zeitpunkt bereits von dem abstrakten, spekulativen Konstrukt des Menschheitsfortschritts verabschiedet hat. Zu ermitteln wäre eventuell, ob diese (oder ähnliche) Äußerungen als Rückkehr zu einem Universalbegriff bzw. Kollektivsingular einzustufen sind. Ein systematischer Rückgang vor den Fortschritt-imGegensatz zum traditionellen Konfliktmodell konnte aber für die spätere Entwicklung der Marxschen Theorie bereits ausgeschlossen werden (Kapitel IV, Abschnitt 5.b.). Außerdem wird der Fortschritt in diesem Satz von Marx wieder einmal nur insofern mit seinem Gegenteil zu einem morbiden Cocktail vermischt, als er auf seinem Gegenteil beruht bzw. aus ihm hervorgegangen ist. Auch darf nicht übersehen werden, dass diese Vermischung, so offenkundig sie die gesamte Fortschrittsidee tatsächlich in Frage stellt, Marx jedenfalls nicht davon abhält, den Fortschritt nichtsdestotrotz wohlmeinend mit ,Nektar' zu vergleichen, ihn also bildhaft als etwas Positives und Wünschenswertes darzustellen. Es ist sogar denkbar, dass der Preis, der für den Nektar zu entrichten ist, hier als Messlatte für den bei Marx weit verbreiteten Gebrauch von .Fortschritt' als rein quantitative Urteilskategorie (auch genetischer Fortschrittsbegriff genannt) dient. Das Wort .progress' wird erfahrungsgemäß im englischen Sprachraum häufig in diesem wertneutralen Sinne verwendet. Der angesprochene ,human progress' wäre dann gleichbedeutend etwa mit der .Fortentwicklung' oder einfach mit der .Geschichte' der
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Menschheit. Dass die Geschichte Opfer produziert ist unbestritten. Nur lässt sich daraus nicht der Schluss ziehen, das Böse werde von Marx als tragischer aber wesentlicher Bestandteil von authentischen, qualitativen Fortschritten angesehen. Mit der Rede von der ,Dialektik' oder ,Dialektisierung' des Fortschritts ist zumindest im vorliegenden Fall in Wirklichkeit die Ambivalenz des Fortschritts gemeint. Das ist ein Denken, das sich selbst immer wieder ganz bewusst mit der Hegeischen Geschichtsphilosophie in Verbindung gebracht hat - allen voran die Historiosophie Cieszkowskis. Marx selbst macht in seinen Untersuchungen zur Arbeitsteilung in der Deutschen Ideologie, im Elend der Philosophie und im Kapital wiederholt deutlich, wie das Böse seit den Anfängen der modernen Geschichtsphilosophie zugleich als essentieller Bestandteil und als Wirkung des Fortschritts mitgedacht wird. Zum Beispiel bei Adam Ferguson und bei Proudhon, die den Begriff der Arbeitsteilung als Fortschritt und Niedergang der bürgerlichen Gesellschaft doppelt besetzen. Wie wir gesehen haben, stellt sich dieses Mitdenken der Antithese zum Fortschritt im Fortschritt selbst in Proudhons Système des contradictions économiques (1846) emphatisch als eine Dialektik dar. Das wirklich Neudenken des Fortschritts beginnt deshalb mit der Kritik des, wie ich es nenne, traditionellen Konfliktmodells und der ihm eigentümlichen Vorstellung von der Widersprüchlichkeit des Fortschritts. Nur so kann der Fortschritt in seiner tatsächlichen Beschränktheit als ein extremes Phänomen begriffen werden. Und die Beschränkung des Fortschritts ist ja wohl das, was die Ambivalenztheorie in Anbetracht ihrer Einsicht, dass Böses in der Geschichte existiert, mit der ,Dialektisierung' eigentlich bezweckt. In Wirklichkeit bewirkt sie genau das Gegenteil: Sie bauscht den Fortschritt zu seiner alten Größe von im wahrsten Sinne des Wortes katastrophalem Ausmaß auf. Dieses besondere Programm der ,Dialektisierung des Fortschritts' macht schließlich überhaupt nur dann einen Sinn, wenn der Fortschritt wie im traditionellen Konfliktmodell bereits stillschweigend als das im Geschichtsprozess angelegte widersprüchliche Prinzip gesetzt ist: Fortschritt-als-Gegensatz. Wie könnte der Fortschritt sonst für die Katastrophen, also für das Nicht-Fortschrittliche, verantwortlich gemacht werden? Nur gibt es - genau das soll uns besagtes Dialektisierungsprogramm ja vermitteln - speziell für die Prämisse, dass Fortschritt und Geschichte identisch sind keine erfahrbaren Gründe. Der Fortschrittsdiskussion im Argument liegt also folgender Kurzschluss zugrunde: Der Fortschritt ist in der Katastrophe zu verankern. - Unser Zeitalter ist das ,Zeitalter der Katastrophen' - Unser Zeitalter muss ein Zeitalter des Fortschritts sein. Hier beißt sich also die sprichwörtliche Katze in den eigenen Schwanz. Die Art und Weise, wie der Gedanke von der Dialektisierung des Fortschritts hier vorgetragen wird, läuft in erster Linie auf eine Begriffsverschiebung hinaus. Das Wort .Dialektik' muss für eine anderes Wort herhalten, auf das man es eigentlich abgesehen hat: .Pluralismus'. Darin sieht man eine Alternative zu vermeintlich naiven Vorstellungen von der Bewegungsform der Geschichte und des Fortschritts. 14 Mit der ,Dialek14
Pluralismus setzt Mannigfaltigkeit voraus. Darunter können aber zwei ganz verschiedene Dinge verstanden werden, da diese Voraussetzung im Auftrag einer analytischen Denkweise oder einer moralischen Denkweise gemacht werden kann. Analyse bedeutet die Zerlegung einer Ganzheit
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tisierung' des Fortschritts glaubt man, der Mannigfaltigkeit der vergangenen und der zukünftigen Geschichtsentwicklungen gerecht werden zu können, also gerade auch denjenigen Entwicklungen, die sich nicht sinnvoll unter dem Begriff Fortschritt versammeln lassen. Darum stellt Löwy die Marxsche Dialektik des Fortschritts als Alternative zu den „naiven (Condorcet) oder apologetischen (Spencer) Sichtweisen der graduellen und unwiderstehlichen Verbesserung des sozialen Lebens" dar ( 1 9 9 9 , 2 1 5 ) . Freilich taugt die historische Dialektik nicht immer als Garant der Vielheit. Was Marx anbelangt, so stellen manche seiner Texte, die das Programm einer historischen Dialektik andeuten oder aktiv verfolgen (die Manuskripte von 1844, das Vorwort von 1859 und Stellen im Kapital), die Menschheitsgeschichte relativ undifferenziert als graduellen Fortschrittsprozess dar. Zweitens findet hier eine Verschiebung des Problems statt, nicht seine Lösung. Genauer gesagt handelt es sich um die Verschiebung der Probleme, die sich aus dem Universalbegriff Fortschritt in seiner Bedeutung als Kollektivsingular ergeben, auf das Gebiet eines vermeintlich komplizierteren Modells der multilinearen Entwicklung, das aber weiterhin unter der Ägide desselben Universalbegriffs steht. Anstelle der Überwindung dieser besonderen Fortschrittsidee durch die Herabsetzung des Fortschritts zu einem in ein alternatives Gegensatzverhältnis eingeschriebenes und dennoch selbständiges Extrem - das dann freilich nicht mehr für alles Böse in der Welt verantwortlich gemacht werden kann - ist dies also ein Festhalten am traditionellen Konfliktmodell auf neuer konzeptioneller und moralischer Grundlage. Wenn der Fortschritt in der Dialektisierungsdebatte überhaupt mit dem Begriff des Extrems in Verbindung gebracht wird, dann geschieht dies nicht im Geiste der Marxschen Gegensatzlogik, wonach das Potential der Vermittlung einzuschränken ist, sondern in Geiste des Geschichtspessimismus, der im Fortschritt eine Bedrohung sieht, die bereits ein ganzes ,Zeitalter der Extreme' in die Katastrophe gestürzt hat. Den Fortschritt neu denken, das heißt ihn nicht so zu denken, wie Ferguson, Hegel, Heß, Proudhon und andere es vorgemacht haben: als Substrat einer kontradiktorischen Entgegensetzung. Das neue Denken über den Fortschritts beginnt mit einem verbesserten Konfliktmodell, das mit einem feineren Gespür für den besonderen Gegensatzchain voneinander verschiedene Bestandteile und die Betrachtung dieser Teile in ihrem Verhältnis zum Ganzen. Das ist wieder auf zweierlei Weise denkbar: Meristisch genannt wird eine Betrachtungsweise, die versucht, eine Ganzheit aufgrund der Natur oder der Wirkungsweise ihrer Teile zu begreifen. Umgekehrt wird die Betrachtungsweise, welche die Teile von der Ganzheit aus begreiflich zu machen versucht, holistisch genannt. Im Unterschied dazu verfolgt der moralische Pluralismus die Annerkennung der Teile als Gleichwertige (oder Gleichberechtigte). Hier sind also zwei verschiedene Motivationen am Werk: Einmal geht es um die Erklärung des Verhältnisses der Teile - und allgemein der Vielheit - zum Ganzen; das andere Mal geht es darum, wie mit einem solchen Verhältnis umgegangen werden soll. Marx vertritt so weit ich sehen kann vor allem den Standpunkt des methodischen Pluralismus. Wenn er sich also auf die Untersuchung derjenigen Gesellschaften spezialisiert, in denen die kapitalistische Produktionsweise herrscht, dann ist das als eine Eigenschaft seines pluralistischen Weltverständnisses zu verstehen, das die Koexistenz unterschiedlicher Gesellschaftsformen berücksichtigt.
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rakter der .entgegengesetzten Bewegung' ausgestattet ist. Dieses Modell ist auch nicht in der Katastrophe zu fundieren, sondern in dem Satz aus dem Elend der Philosophie·. ,Ohne Gegensatz kein Fortschritt.' Vorausgesetzt man akzeptiert, dass mit .Gegensatz' hier nicht die Widersprüchlichkeit bzw. Ambivalenz des Fortschritts gemeint ist. Nicht der Fortschritt umfasst den Gegensatz - der Gegensatz umfasst den Fortschritt, geht ihm voraus und liegt ihm zugrunde. Die Antwort auf das Universalismusproblem im formalen Fortschrittsdenken lässt sich also wie folgt zusammenfassen: Der Fortschritt ist kein allumfassendes, übergeordnetes Prinzip, das seine Momente in die Wirklichkeit setzt, sondern er ist ein Extrem im Gegensatz.
5.
Der Fortschritt-im-Gegensatz als Ergebnis der Spekulationskritik
Eine philosophische Untersuchung des Marxschen Fortschrittsbegriffs versucht nachzuvollziehen, wie sich die Spekulationskritik auf diesen Begriff auswirkt. Die Beschäftigung mit dieser Thematik soll hier (im Anschluss an Abschnitt l.b. von Kapitel IV und Abschnitt 3.c. dieses Kapitels) fortgesetzt und noch weiter vertieft werden. Dabei geht es jetzt speziell um die Entmachtung des Kollektivsingulars Fortschritt (also um die räumliche Universalität eines die Menschheit nicht nur der Gegenwart, sondern aller Zeiten umfassenden Begriff). Das Denken als eine auf sich selbst gegründete und also selbstgenügsame Veranstaltung wird gemeinhin Spekulation' genannt. Im Marxschen Sprachgebrauch ist Spekulation' eine Bezeichnung für das in seiner eigenen Logik befangene, gegenstandslose und daher rein selbstbezügliche Denken, das Marx insbesondere Hegel und den Hegelianern diagnostiziert. Schon die Thesen ad Feuerbach enthalten mit dem Ausdruck „gegenständliche Tätigkeit" einen Hinweis darauf, wie ein erfolgreicher Gegenentwurf zur Spekulation aussehen könnte. Der dort vorgeschlagene ,neue' Materialismus hebt auf die Tätigkeit in sozialen Verhältnissen und den praktischen Charakter von Erkenntnis ab. Marx unterscheidet zwischen .Gegenstand' (das Ding selbst) und ,Objekt' (die Form, in der sich dieses Dings in der Anschauung darstellt): Aller bisheriger' Materialismus (auch der Feuerbachs) sei mangelhaft, weil er „den Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit" nur objektiv gefasst habe: als Objekt der Anschauung ... nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv" (MEW 3, 5). Es geht aber nicht um ein Substitutionsverfahren. Der neue .subjektive' Materialismus der Praxis soll den ,alten' Materialismus nicht ersetzen; das würde der Gegenständlichkeit ein Ende machen, und schließlich wird Feuerbach dafür gelobt, gegenüber dem „abstrakten Denken" die Anschauung immerhin zu wollen, wenngleich er diese nicht als Praxis fasst (ebd., 6). Der theoretische Fortschritt besteht also in der Erweiterung des bisherigen Materialismus um die ,subjektive', praktische Seite, welche die vom bloßen Gedankenobjekt verschiedenen Objekte in ihrer sinnlichen, gegenständlichen Wirklichkeit erfasst. Die
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folgenden Punkte verdeutlichen, dass der originelle Marxsche Fortschrittsbegriff immer auch ein Ausdruck dieses Materialismus Verständnisses ist.15
a.
Die Bedeutung der Kritik des ,abstrakten' Fortschritts
Marx bemängelt vor allem die totalisierende Tendenz der Hegeischen Dialektik: die Vernachlässigung der Spezifität der bestimmten Verhältnisse durch die Spekulation. .Spekulation' bedeutet, dass die „sogenannte ,wirkliche Idee' (der Geist als unendlicher, wirklicher)" {Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, MEGA 1/2, 7/MEW 1, 205) als etwas dargestellt wird, das sich in endliche Sphären scheidet (Familie, bürgerliche Gesellschaft). Der Geist wird somit zum tätigen Subjekt gemacht und aus der „wirklichen Vermittlung" wird eine bloße Erscheinung einer Vermittlung, welche die wirkliche Idee mit sich selbst vornimmt und welche hinter der Gardine vorgeht. Die Wirklichkeit wird nicht als sie selbst, sondern als eine andere Wirklichkeit ausgesprochen". (Ebd., 8/206) Hegels Auffassung von Wirklichkeit basiert demnach auf der Vorstellung eines übergreifenden, ideellen Prozesses, in den das Konkrete als Moment des Werdens der Idee sozusagen „eingemeindet" ist (Arndt 1985, 252). So sind Familie und bürgerliche Gesellschaft zwar die eigentlich Tätigen, „aber in der Spekulation wird es umgekehrt" und die wirklichen Akteure werden zu „unwirklichen anderes bedeutenden Momenten der Idee". (Zur Kritik, MEGA 1/2, 8/MEW 1, 206) In diesem Sinne betont Marx in der Einleitung von 1857 gegenüber den „Hegelianern" ausdrücklich: „Die Gesellschaft als ein einziges Subjekt betrachten, ist sie überdies falsch betrachten; spekulativ." (MEGA II/l.l, 30/MEW 42, 29) Hegels Ansatzpunkt ist aber immer die abstrakte Idee. Es ist die Idee, die sich .entwickelt', ,teilt' usw.; sie ist die eigentliche waltende Kraft. Für Marx ergeben Hegeische Sätze wie ,der Staat ist die Entwicklung der Idee zu ihren Unterschieden' keinen Sinn, da sie nichts erklären und nichts erkennen: „Eine Erklärung, die aber nicht die differentia specifica [die besondere Unterscheidung] giebt, ist keine Erklärung. Das einzige Interesse ist ,die Idee' schlechthin, die ,logische Idee' in jedem Element ... wiederzufinden, und die wirklichen Subjekte ... werden zu ihren blossen Namen, so daß nur der Schein eines wirklichen Erkennens vorhanden ist, denn es bleiben unbegriffne, weil nicht in ihrem spezifischen Wesen begriffne Bestimmungen." (Zur Kritik, MEGA 1/2, 12f./MEW 1, 210f.) Hegel kann das spezifische Wesen' aus folgendem Grund auch gar nicht begreifen: „Er entwickelt sein Denken nicht aus dem Gegenstand, sondern den Gegenstand nach einem mit sich fertig und in der abstrakten Sphäre der Logik mit sich fertig geword15
Mit der Entgegensetzung von ,altem' und ,neuem' Materialismus (in der 10. These) knüpft Marx „wirkungssicher an den seit der Querelle des Anciens et des Modernes gepflegten Subtext der Moderne als Fortschrittsgeschichte an" (Wolf 2003, 193).
DER FORTSCHRITT-IM-GEGENSATZ ALS ERGEBNIS DER SPEKULATIONSKRITIK
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nen Denken." (Ebd., 15/213) Die Spekulation besteht also darin, grundsätzlich alles in ein Verhältnis zur abstrakten Idee zu setzen, anstatt die bestimmte Idee von bestimmten Verhältnissen zu entwickeln. In diesem Sinne ist sie „eine offenbare Mystification" (ebd.).16 Zwar werden die Verhältnisse immerhin unter dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit betrachtet, aber auch das nur, weil sie durch die Natur des Begriffs bestimmt sind. Zum Beispiel behauptet Hegel in der Philosophie des Rechts: „Die Verfassung ist also vernünftig, insofern der Staat seine Wirksamkeit nach der Natur des Begriffs in sich unterscheidet und bestimmt." (Zit. n. ebd., 19/217) Darauf erwidert Marx: der Begriff sei wiederum bloß „der Sohn in der ,Idee"' (ebd., 15/213). „So ist die ganze Rechtsphilosophie nur Parenthese der Logik." (Ebd., 19/217) Die Marxsche Kritik richtet sich gegen die besondere Hegeische Variante der Logifizierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, aber keinesfalls gegen den Gedanken, den Verhältnissen liege eine erkennbare logische Struktur zugrunde. Marx bringt die Verfehlungen der Spekulation auf den Punkt: „Nicht die Logik der Sache, sondern die Sache der Logik ist das philosophische Moment." (Ebd., 18/216) Demnach sieht er in der Entwicklung der ,Logik der Sache' die eigentliche Aufgabe. Die ,Logik der Sache' ist das Motto des Marxschen Gegenprogramms zur spekulativen Vernachlässigung der Spezifität der Verhältnisse zugunsten ihrer Auflösung in der spekulativen Logik. Nachdem klargestellt ist, dass sich die Spekulationskritik gegen diese besondere Form der Logifizierung der Wirklichkeit richtet, können jetzt mit Hilfe der Resultate dieser Kritik gewisse Marxsche Äußerungen, die sich gegen den .abstrakten' Fortschrittsbegriff richten, verständlich gemacht werden. Diese Äußerungen sind problematisch, da sie Marx unschwer als grundsätzliche Zurückweisung des Fortschrittsbegriffs ausgelegt werden könnten. Die Kategorie des Fortschritts sei „völlig gehaltlos und abstrakt", eine „abstrakte Phrase" (MEW 2, 88), schreibt er beispielsweise in der Heiligen Familie. Er bezieht sich damit auf den bestehenden Fortschrittsdiskurs der Linkshegelianischen ,kritischen Kritik', speziell auf Bruno Bauer. Marx wirft Bauer vor, den Fortschritt „als absolut anzuerkennen" und somit an den „wirklichen Grundlagen der jetzigen Gesellschaft" (ebd.) vorbeizugehen. Dieser Vorwurf muss im Kontext der Spekulationskritik gesehen werden: Bauers Fortschrittsbegriff ist zu .abstrakt', weil er ein spekulativer Begriff ist; er geht an den .wirklichen Grundlagen' vorbei, weil er sich nicht um die spezifische Logik der Sache kümmert. Das ist im übrigen auch gar nicht möglich, weil Bauer die Geschichte als „ein ätherisches, von der materiellen Masse getrenntes Subjekt" (ebd., 85, vgl. 83) phrasenhaft, spekulativ und teleologisch als Werden der Wahrheit zum Selbstbewusstsein konzipiert. Man darf diesen Angriff auf den abstrakten Fortschritt also nicht so verstehen, als stelle er den Fortschritt vor die Wahl, entweder sein Gegenteil in sich aufzunehmen oder auf alle Zeit eine hohle Phrase zu bleiben. Es ist nicht Marx' Absicht, mit der ,abstrakten Phrase' auch gleich die positive Bedeutung 16
Das erinnert an Feuerbachs Hegel-Kritik. In Zur Kritik der Hegeischen Philosophie wirft Feuerbach Hegel vor, die Gedanken nicht aus den Dingen zu gewinnen, sondern umgekehrt die Dinge aus den Gedanken. Die Hegeische Philosophie sei daher eine „rationelle Mystik" (1839, 42).
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der Fortschrittsidee (Fortschritt als Idealobjektivation) zu verwerfen. Diese schließt ja mitnichten aus, dass der Fortschritt in einem besonderen Verhältnis zu anderen Kategorien steht. Jahre später wiederholt Marx die Position der Heiligen Familie in der Einleitung zu den Grundrissen: „Ueberhaupt der Begriff des Fortschritts nicht in der gewöhnlichen Abstraction zu fassen." (MEGA Π/l.l, 44/MEW 42, 43) Diese Bemerkung bezieht sich auf den ihr unmittelbar vorausgehenden Satz, in dem die Ungleichmäßigkeit der Geschwindigkeit und die Verschiedenheit der Entwicklung in den einzelnen Sphären der gesellschaftlichen Totalität an einem Beispiel festgemacht werden: „das unegale Verhältnis der historischen Entwicklung der materiellen Production ζ·Β· zur künstlerischen". (Ebd.) Marx opponiert gegen das .abstrakte' Fortschrittsdenken, weil es Fortschritt zu einem Universalbegriff, zu einem Kollektivsingular erhebt, mit dem sich unegale Verhältnisse nicht mehr begreifen lassen. Dieser alle Erfahrung übersteigende Fortschritt ist bloß eine weitere Reinkarnation der apriorischen Idee, nach welcher der Geschichtsprozess konstruiert wird. Michael Joseph Roberto macht vor, wie man die Bemerkungen zu den Mängeln des .abstrakten' Fortschrittsbegriffs nicht verstehen soll, indem er die Marxsche Geschichtsauffassung als radikale Abkehr von der nationalistischen' Tradition des Fortschrittsdenkens interpretiert: „Bacon can be said to represent those who viewed progress as an abstraction, the product of rational enquiry alone. Marx was the first to go beyond the idea itself, to make progress intelligible only in the context of historical and social development." (2001, 243) Meines Erachtens empfiehlt es sich nicht, diese Trennlinie zu ziehen. Es geht vielmehr darum, die Marxsche Kritik an dem bestehenden Diskurs des Hegelianischen Geschichtsdenkens zu rekonstruieren. In dieser Konfrontation - nicht in der pauschalen Kritik irgendeines Rationalismus - wurzelt der originelle Marxsche Fortschrittsbegriff. Statt dessen reproduziert Roberto die verallgemeinernde Aufteilung des Fortschrittsdenkens in eine linear-rationalistische und eine gegensätzlich-praktische Entwicklungslinie. Marx stelle den Gipfelpunkt der Entwicklung einer ambivalenten und zugleich praktischen Idee von Fortschritt dar: ,,[H]e conceptualized progress as contradictory, paradoxical and, ultimately, based on the practical activity of humans." (Ebd.) Warum sollten diese Attribute so besonders vorteilhaft sein? Wenn der Fortschritt nämlich tatsächlich gleichzeitig auf der Praxis ,basierte' und ,paradox' wäre, müsste dann nicht die ihm zugrunde liegende praktische Aktivität ebenso paradox sein? Die praktische Basis von Fortschritt erhellt außerdem aus dem Begriff selbst. Fortschritt war immer eine praktische Idee, die sich auf die menschliche Tätigkeit bezieht - selbst dann, wenn sie religiös aus Gott oder nationalistisch' aus dem Geist abgeleitet wurde. Marx spricht also kein absolutes Verbot gegen das .Abstrakte' als das unzulässige Gegenteil zur praktischen Tätigkeit aus. .Abstrakt' bezeichnet hier vielmehr den universalistischen Zug der Spekulation. Es ist nicht seine Absicht, den Fortschritt in einen krassen Gegensatz zur Idee vom Fortschritt des .Geistes' oder der ratio - den es in einem besonderen Sinne für Marx sehr wohl gibt - zu stellen. Es geht ihm um die viel allgemeinere Feststellung, dass Fortschritturteile der Logik ihres jeweiligen Gegenstandes entsprechend - also nicht spekulativ - gefällt werden müssen.
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b.
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Arbeit als Ausgangspunkt der Geschichte Geschichte als Ausgangspunkt des Fortschritts
Die Zurückweisung der abstrakten Fortschrittsauffassung besagt im Kern zunächst Folgendes: Das Fortschrittsdenken kann nicht aus dem Leeren schöpfen. Es hat sich, wie alles andere Denken auch, nach einem bestimmten Gegenstand zu richten. Wenn das Fortschrittsdenken nicht eine in seine eigene Logik eingeschlossene, selbstbezügliche Angelegenheit sein soll, dann muss es sich an einem Gegenstand orientieren, von dem es seinen Ausgang nimmt. Dieser Ausgangspunkt kann nur im Geschichtsprozess selbst liegen. Marx' Hinwendung zur Geschichte erfolgt mit Entschlossenheit Mitte der 1840er Jahre, besonders in den unter dem Titel Die deutsche Ideologie bekannt gewordenen Entwürfen, deren Bedeutung für die materialistische Geschichtsauffassung umstritten ist. Ich denke, das Neuartige dieser Texte entspringt nicht der Absicht der Autoren, eine .Theorie der Geschichte' zu entwerfen. Ihr Interesse gilt überhaupt nicht primär dem Begriff der Geschichte, sondern dem, was selbst der Geschichte noch vorausgeht, nämlich der viel wesentlicheren „Produktion des materiellen Lebens" als „die erste Voraussetzung aller menschlichen Existenz, also auch aller Geschichte", als „erste geschichtliche That" und „Grundbedingung aller Geschichte" (Marx/Engels 1845/46, 12). Die Produktion der menschlichen Existenz ist zunächst vor allem als doppeltes Verhältnis zur Natur und zur Gesellschaft zu verstehen. Nur ist damit noch nicht automatisch Geschichte ,gemacht'. Die Geschichte kommt ins Spiel, weil hier ein „materialistischer Zusammenhang" besteht, „ein Zusammenhang, der stets neue Formen annimmt und also eine .Geschichte' darbietet" (ebd., 15). Diese materialistische Theorie ist kein Historismus, der alle Bereichen des menschlichen Lebens dem beständigen Fluss der Zeit unterwirft. Vielmehr setzt sich in der Deutschen Ideologie die Spekulationskritik auf neuer Grundlage fort. Es geht Marx und Engels in erster Linie darum, den typisch ,deutschen' Standpunkt der Voraussetzungslosigkeit zu bekämpfen. Sie wollen den Deutschen zeigen, dass alles seine Vorbedingungen hat, sogar ,die Geschichte', die im Hegelianismus (und im Anschluss daran auch im Frühsozialismus) vermenschlicht und in ein frei handelndes Subjekt verwandelt wird. Wenn die Deutsche Ideologie die Geschichte also zum ,,reale[n] Grund" (ebd., 30) erhebt, dann tun sie das unter Berücksichtigung ihrer materiellen Bedingungen. Die Relevanz der Marxschen Geschichtsauffassung ergibt sich hier speziell aus ihrer Betonung der historischen Dynamik der verschiedenen Arbeitsweisen. Die erste Voraussetzung ist die physische Existenz der Menschen und ihre Eingebundenheit in die natürliche Umgebung. „Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst." (Deutsche Ideologie, MEW 3, 21) Zweite Voraussetzung ist die historische Spezifik der Produktion, die Zeitgebundenheit der Art und Weise, wie die Menschen auf die naturgegebenen Bedingungen reagieren. „Alle Geschichtsschreibung muss von diesen natürlichen Grundlagen und ihrer Modifikation im Laufe der Geschichte durch die Aktion der Menschen ausgehen." (Ebd.) Dritte Voraussetzung ist, dass Arbeit nicht individuell, sondern immer in einem
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sozialen Zusammenhang verrichtet wird (ebd., 25). In diesen drei Voraussetzungen wird ein wesentlicher Aspekt des Doppelcharakters der Arbeit deutlich: Arbeit ist einerseits immer ein Verhältnis zwischen den Menschen und der ihnen äußerlichen Natur, andererseits ist es das „bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst" und hat also einen „gesellschaftlichen Charakter" (Kapital, MEGA II/6, 103/MEW 23, 86, 87). Schon in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten bezieht Marx die Geschichte direkt auf die menschliche Arbeit: „Indem aber für den socialistischen Menschen die ganze sogenannte Weltgeschichte nicht anders ist als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit" (MEGA 1/2, 398). Und wenn spätere Texte wie die Deutsche Ideologie ganz ohne Zweifel auch einen groben Abriss über die Abfolge der verschiedenen Formen der Arbeitsteilung und gesellschaftlichen Produktionssysteme bis hin zur Weltgeschichte und ihrer Aufhebung in den Kommunismus enthalten, so steht der Geschichtsbegriff hier trotzdem nicht im Mittelpunkt. Zwar wird die Historizität der sozialen Verhältnisse jetzt zu einer Konstante des Marxschen Denkens, aber sie bleibt doch relativ weit gefasst und tritt insbesondere hinter den fundamentaleren Bereich der Arbeit (die ,doppelte' Produktion des Lebens als Naturund Gesellschaftsverhältnis) zurück und auch hinter die Kritik der spekulativen Voraussetzungslosigkeit, die diesen nicht gebührend behandelt. Dieser besonderen Stellung des Geschichtsbegriffs sollte man sich im weiteren Verlauf der Argumentation stets bewusst sein. Meine Rekonstruktion des originellen Marxschen Fortschrittsbegriffs als Fortschritt-im-Gegensatz macht den Vorschlag, diesen als einem Begriff anzusehen, der mit beiden Beinen fest auf dem Boden des ,realen Grundes' der Geschichte steht. Ausgedrückt in der Terminologie der Hegelkritik von 1843 handelt es sich um den Versuch, das gegensätzliche Verhältnis von Fortschritt und Rückschritt nicht-spekulativ als .Unterschied eines Wesens auf seiner höchsten Entwicklung' zu bestimmen (siehe oben, Abschnitt 3.a.), nämlich so, dass die Geschichte - nicht der Fortschritt - als das grundlegende ,differenzierte Wesen' erkennbar wird. Ich möchte ausdrücklich feststellen, dass es sich beim Fortschritt-Rückschritt Verhältnis nicht um einen in der Geschichte sich abspielenden Dauerkonflikt zwischen Verbesserungen und Verschlechterungen (bzw. Gut und Böse) handelt. Natürlich begreift Marx historische Prozesse als gegensätzliche Bewegungen, beispielsweise als „die widerspruchsvolle Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft". (Nachwort zur 2. Auflage, Kapital, MEGA II/6, 709/MEW 23, 28) Nur können sich die Gegensätze der historischen Bewegungen auf vielerlei Art und Weise artikulieren und sie erschöpfen sich nicht in fortschrittlichen oder rückschrittlichen Erscheinungen. Der Begriff Fortschrittim-Gegensatz besagt also zunächst nur, dass Marx den Fortschritt als Extrem innerhalb von Geschichtsprozessen denkt, die schon deshalb von fundamental gegensätzlicher Natur sind, weil sie ,Formen' der doppelten Produktion des Lebens sind. Die Geschichte hat dabei die Stellung des konstatierenden Moments (des Substrats) der Entgegensetzung inne. Sie ist nicht mehr - wie noch bei Hegel, bei den Junghegelianern, und bei Proudhon - letztendlich der Siegeszug der ,guten Seite'. Marx nimmt dem Fortschritt die räumliche Universalität und befreit ihn von seiner Rolle als Kollektivsingular, die ihm das traditionelle Konfliktmodell zugewiesen hatte. Der Fortschritt wird degradiert.
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Sein Status ist der einer spezifischen, geschichtlichen Erscheinung. Dabei müssen im Hinblick auf das Verhältnis von Geschichte und Fortschritt zwei wesentliche Aspekte unterschieden werden, die die begriffliche und die kategoriale Ordnung betreffen. Was nämlich das Verhältnis der Begriffe anbelangt, nimmt die Geschichte den Platz des Genus (der Gattung) ein, der sich u. a. in die Spezies (Arten) Fortschritt und Rückschritt ausdifferenziert. Die Geschichte ist beiden gemeinsam, vor allen Dingen ist sie ihnen aber übergeordnet - als ,Erkenntnisgrund', wie Kant sagen würde. 17 Ein anderes Beispiel: animal ist als Gattungsbegriff den Unterarten homo und bestia übergeordnet. Dank des gemeinsamen Genus besteht zwischen den beiden Spezies sowohl partielle Gleichheit als auch gegenseitiger Ausschluss. Die partielle Gleichheit bringt beide unter ein Genus, demgegenüber sie jedoch inhaltreicher sind. Der gegenseitige Ausschluss der Spezies kommt dadurch zustande, dass sie im Blick auf ihren Inhalt nicht miteinander vereinbar sind. Dieses gegenseitige Ausschließen, die differentia specifica, ist eben das Zusätzliche, was jede Spezies im Unterschied zur anderen auszeichnet und begründet. (So dachte man lange Zeit vom Menschen, er allein sei ein animal rationale, im Gegensatz zum Tier, dem animal non-rationale.) Sie ist der Grund, weshalb die Spezies nicht aufeinander reduzierbar sind. Noch einmal Marx: „Eine Erklärung, die aber nicht die differentia specifica gibt, ist keine Erklärung." (Zur Kritik, MEGA 1/2, 12f./ MEW 1, 21 Of.) Was nun die kategoriale Ordnung anbelangt, so lässt sich gerade an den Entwürfen zur Deutschen Ideologie deutlich ablesen, dass die Geschichte dem Fortschritt auch deshalb begrifflich vor- oder übergeordnet ist, weil sie das zu bewertende Phänomen ist. Als solches geht sie der Urteilskategorie Fortschritt voraus. Die Geschichte dient dem Fortschritt sozusagen als Daseinsgrundlage. Das klingt trivialer als es ist: Man kann sich die Geschichte sehr gut ohne Fortschritt vorstellen, nicht aber den Fortschritt ohne die Geschichte. Wenn nun die Löwithsche Formel behauptet, die neuzeitliche Geschichtsphilosophie habe grundsätzlich die Form einer säkularisierten Heilslehre und setze also die Geschichte mit dem Fortschritt gleich, dann weist sie vor allem auf ein ganz bestimmtes Motiv des Denkens hin: auf den anmaßlichen Anthropozentrismus, der das teleologische Denken schlechthin auszeichnet. Damit behandelt sie sicherlich eine wichtige sozialpsychologische Vorbedingung des modernen Fortschrittsoptimismus, aber dabei bleibt sie auch stehen. Aus philosophischer Sicht ist das Interessante an der Ineinssetzung von Fortschritt und Geschichte nicht das emotionale Moment des Optimismus oder der Heilserwartung, sondern dass es sich dabei um einen krassen Kategorienfehler handelt. Theorien, die an der Ineinssetzung von Forschritt und Geschichte festhalten und dazu gehört das traditionelle Konfliktmodell der Geschichtsentwicklung ebenso wie der Großteil der Rede von der Dialektisierung des Fortschritts in der zeitgenössischen
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„Der niedere Begriff ist nicht in dem höhern enthalten; denn er enthält mehr in sich als der höhere; aber ist doch unter demselben enthalten, weil der höhere den Erkenntnisgrund des niederen enthält." (Kant 1800, A152, 529)
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Fortschrittsliteratur - sind Instanzen dieses Kategorienfehlers. In beiden Fällen haben wir es mit der Überbewertung einer untergeordneten Kategorie zu tun. Diese Bemerkungen zum begrifflichen und kategorialen Verhältnis von Fortschritt und Geschichte machen auch deutlich, dass eine starke Aufeinanderangewiesenheit und Aufeinanderbezogenheit von Fortschritt und Rückschritt auf der Bedeutungsebene auftritt. Einen Widerspruch von Fortschritt und Rückschritt gibt es vor allen Dingen im Hinblick auf die Bedeutung dieser Begriffe als Verbesserung bzw. Verschlechterung. Der Begriff Fortschritt wird in der Tat verständlicher, wenn wir uns ein Bild von seinem Anderen machen, also von dem, was er gerade nicht ist: Regression, Niedergang, Verfall. Darum ist es auf der Bedeutungsebene durchaus sinnvoll, von einer kontradiktorischen, dialektischen Beziehung zwischen den beiden Begriffen Fortschritt und Rückschritt zu sprechen. Schließlich gibt es nach der Marxschen Konzeption des Gegensatzes keinen Dualismus des Wesens (Abschnitt 3.a. oben). Eine dualistische Entgegensetzung der Kategorien Fortschritt und Rückschritt käme einem Rückfall in eine unvermittelte Gegenüberstellung von Gut und Böse gleich - einer Art Historisierung der Manichäischen Zwei-Reiche-Lehre.18 Und freilich soll die Rekonstruktion des Fortschritt-im-Gegensatz nicht noch ein weiteres moralisches Weltbild zu Tage fördern, sondern einen Begriff, mit dessen Hilfe sich progressive Entwicklungen als Bestandteile der vielschichtigen .entgegengesetzten Bewegung' denken lassen. Dualistischen Weltbilder haben bekanntlich als Vorstellung vom Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Okzident und Orient, Zivilisation und Barbarei, Reform und Stillstand in den letzten Jahren großen Zulauf gehabt und möglicherweise dominieren sie gegenwärtig den Fortschrittsglauben. Im Gegensatz zu diesen Vereinfachungen soll die begriffliche Aufeinanderbezogenheit zwischen Fortschritt und Rückschritt dialektisch gedacht werden, jedenfalls solange damit nicht einem Extrem ermöglicht wird, sich zur Alleinherrschaft aufzuschwingen und schließlich einen einseitigen Triumphzug anzutreten. Das ist mit Proudhons Konfliktmodell ja schon einmal geschehen und wird jetzt allem Anschein nach in der zeitgenössischen Fortschrittsdiskussion wieder zur Regel. Ganz anders verhält es sich natürlich in der geschichtlichen Wirklichkeit. Hier können Fortschritte und Rückschritte in verschiedenen Sphären geographisch oder zeitlich voneinander getrennt verlaufen. Es bedarf allerdings eines besonderen Konfliktmodells der Geschichtsentwicklung, um diese konkrete ,Verselbständigung gegeneinander' auch theoretisch einzufangen. In der Tat ist ohne ein solches Modell eine pluralistische Auffassung des Verhältnisses von Geschichte und Fortschritt undenkbar.
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Die zentrale Idee des Religionsstifters Mani ist die Existenz zweier anfangsloser, ewiger Prinzipien, die über ihre jeweiligen Reiche herrschen, wovon eines gut und eines schlecht ist. Gut und Böse sind unvermittelte und unversöhnlich bleibende Gegensätze. Im Unterschied zur Gnosis und dem Frühchristentum ist das Böse also nicht irgendwie aus dem Guten entstanden oder aus ihm heraus erklärbar, sondern das Verhältnis von Gut und Böse ist „ein zeitloses sachliches, gleichsam horizontales Gegenüber" (Simonis 2001, 141). Dieser Gegensatz wird universalisiert und als radikaler Dualismus zum ordnenden Prinzip des Seins erhoben.
D E R Z U S A M M E N H A N G VON DIALEKTIK UND FORTSCHRITTSDENKEN
6.
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Der Zusammenhang von Dialektik und Fortschrittsdenken
Dieser Zusammenhang berührt auch den vieldiskutierten Status der Dialektik in der Marxschen Theorie. Die Bestandsaufnahme der Bemühungen um eine .Dialektik des Fortschritts' hat gezeigt, dass eine Verständigung darüber, was damit gemeint sein könnte, noch aussteht. Aus diesem Grund werde ich jetzt versuchen, etwas mehr Klarheit in das Geflecht aus Dialektik, Geschichte und Fortschritt zu bringen. Zu diesem Zweck muss zunächst auf die Ontologisierung des Gegensatzes eingegangen werden, da im Marxismus, der lange Zeit Interpretationshoheit über das Marxsche Werk hatte, eine bestimmte Oppositionsart zum Triebmittel der Entwicklung auf allen Seinsbereichen erklärt wurde. Für die folgende Diskussion stellt sich daher u. a. die Frage, inwiefern Marx die Dialektik als Realdialektik bzw. Naturdialektik versteht.
a.
Die Ontologie der Gegensätze
Es gibt eine für das moderne Fortschrittsdenken typische Vorstellung, die Fortschritt als Spaltung im Sein versteht: als Konfrontation des mangelhaften Ist-Zustandes mit einem Sollen. Gerade im Blick auf Marx verdeutlicht diese Vorstellung den problematischen Zusammenhang von Dialektik und historischer Entwicklung. Bestimmte Strömungen der Marx-Interpretation verstehen diesen Zusammenhang im Sinne einer Ontologie der Gegensätze. Ein Beispiel ist Schmidt-Soltaus ,Bilanz' des Marxismus, die die Marxschen Dialektik als eine „revolutionäre Haltung gegenüber dem de facto" (1997, 14) versteht. Im Gegensatz zum Marxismus reduziere Marx die Wirklichkeit nicht auf eine „.dialektische Weltformel'" (ebd.). Er zertrümmere statt dessen, „die scheinbare Selbstverständlichkeit des de facto, um hinter den .objektiven' Strukturen des Seins selbst dieses bislang unbekannte Sein zu suchen und zu dechiffrieren [...] Die Marxsche Dialektik ist keine spekulative, enzyklopädische' Dialektik des Denkens, der Natur und des Geistes wie die Dialektik Hegels, sondern die Dialektik der Geschichte in ihrem konkreten Moment der Transformation des de facto zu einem Kommunismus" (ebd., 14f.). Läuft das nicht auf eine .dialektische Weltformel' hinaus? Schmidt-Soltau behauptet schließlich erstens, Marx mache die Dialektik zu einer fortschrittsorientierten .Dialektik der Geschichte', die er in den Kommunismus münden lasse. Zweitens behauptet er offensichtlich die Ontologisierung der Marxschen Dialektik, indem er von Marx sagt, er verteile das Sein auf ein oberflächliches de facto und ein dahinter verborgenes, kommunistisches ,unbekanntes Sein', das zu suchen und zu dechiffrieren ein revolutionärer Akt sei. Einmal davon abgesehen, dass Unbekanntes natürlich weder gesucht noch dechiffriert werden kann, sind die Ontologisierung und die Historisierung der Dialektik genau das, was Schmidt-Soltau zu kritisieren bemüht ist, wenn er sagt, der Marxismus habe der Dialektik fälschlicherweise einen „an Hegel geschulten" „Charakter eines allgemeinen Seinsgesetzes" (ebd., 16) gegeben. Folglich interpretiert er ausgerechnet jene
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Aspekte als positive Charakteristika in die Marasche Dialektik hinein, die er zuvor als negative Charakteristika der Marxistischen Dialektik zurückgewiesen hat. Problematisch scheint mir auch die Annahme, es sei revolutionär, das de facto zu durchbrechen. Das Sein, oder besser: die Welt ist uns in letzter Konsequenz immer de facto gegeben, wenn sie sich auch verändert und also historisch ist. Ausreichend .revolutionär' ist allerdings die Entschlüsselung dieser unser Leben bestimmenden tatsächlichen Welt. Das weiß auch Schmidt-Soltau, der ja in der zitierten Passage angibt, dass das de facto selbst Gegenstand der großen ,Transformation' sein soll - was nichts anderes heißt, als dass das bereits gegebene de facto in ein anderes de facto verwandelt werden soll. Dafür bedarf es keines ontologischen Dualismus, welcher der erhofften Zukunft als zweitem Sein huldigt. Es gibt keine Differenzierung im Sein. Es gibt nur das eine Sein, das, wie Feuerbach sagt, immer schon „alles in allem ist": „Das wahre Verhältnis vom Denken zum Sein ist nur dieses: ... Das Denken ist aus dem Sein, aber das Sein nicht aus dem Denken ... Sein wird nur durch Sein gegeben." (1843b, 258). Wie verhält sich Marx selbst zum Verhältnis von Gegensatz und Ontologie? Immerhin soll er 1880 in einem Interview auf die Frage „What is?" geantwortet haben: „Struggled (MEGA 1/25, 443). Daran lässt sich jedoch nicht festmachen, wie ,tief' Marx die Gegensätze wirklich gehen lässt. Das herauszufinden wird dadurch erschwert, dass die Reduktion der Komplexität der Marxschen Gegensatzkonzeption auf ein einprägsames Schema immanenter Widersprüchlichkeit schon mit Engels beginnt und dann vom Offizialmarxismus weitergeführt wird. Die materialistische Geschichtsauffassung wird auf diese Weise in eine Lehre von der gesetzmäßigen Abfolge historischer Klassengegensätze und Produktionsverhältnisse (also Gesellschaftsformationen) verwandelt. Diese Lehre gibt vor, die Geschichte dialektisch zu betrachten und dialektisch betrachtet stehe am Ende jeder dieser Formation ihre Aufhebung in eine neue Formation qua Negation der Negation. Dieses fortschrittsorientierte Theorem nennt sich bald Historischer Materialismus. Der Historische Materialismus ist eine Dialektik der Geschichte und somit ist er eine Realdialektik. Das entspricht einer schwachen Ontologisierung des Gegensatzes. Und obwohl Marx in der Proudhon-Kritik Einspruch gegen die Verwandlung des (Hegeischen) Widerspruchs zum , Entwicklungsmittel ' der Geschichte erhebt (Kapitel IV, Abschnitt 4.c.), ist freilich auch die Marxsche Dialektik eine Realdialektik, die die Bewegung realer Widersprüche erfasst (vgl. Arndt 1985, 248).19 Eine bestimmte Variante des Marxismus geht aber noch einen Schritt weiter. Um den Materialismus nach allen Seiten gegen die Bewegungslosigkeit abzusichern erhebt er das zugrundeliegende, treibende Motiv des Widerspruchs zu einem universellen Prinzip der Veränderung alles Seienden: In allen Dingen herrschen Widersprüche, aufgrund derer sie sich beständig weiterentwickeln. So nimmt die Gegensätzlichkeit eine Form
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Marx ontologisiert also den Widerspruch, um ihn „als realen Widerspruch für reale Vermittlungsprozesse in Anspruch nehmen" zu können (Arndt 2001a, 1251). Bedingung hierfür ist allerdings, „dass die Totalität, in der die Widersprüche prozessieren, nicht als Subjekt gefasst werden d a r f (ebd., 125 lf.).
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an, die sie bei Marx nie hatte. Der resultierende sogenannte Dialektische Materialismus steht für eine starke Ontologisierung des Gegensatzes: er ist eine Naturdialektik10 Bereits Aristoteles denkt Gegensätze als Prinzipien, die sowohl ontologische als auch logische und praktische Aspekte haben. Die Gegensätze beziehen sich also auf das Sein, auf das Erkennen und auf das Handeln. Damit sind sie in einem ontologischen Bezugsystem verankert, das sich in anderer Form exemplarisch schon bei den Vorsokratikern finden lässt: Empedokles spricht von der beständigen Vereinigung und Teilung der vier Elemente durch den „Wettstreit der beiden Kräfte" (1956, B20, 318): „Und dieser Tausch Wechsel hört nimmer auf: bald vereinigt sich alles durch Liebe zu Einem, bald auch trennen sich wieder die Einzelnen Stoffe im Hasse des Streites." (Ebd., Β17, 315f.) Heraklit postuliert bekanntlich die Einheit des Gegensätze in der widerstrebenden Harmonie. Inbegriff der gegensätzlichen Ontologie nach der Aufklärung ist freilich die Hegeische Philosophie. 21 Nicht nur das Denken, ,,[a]lle Dinge sind an sich selbst widersprechend". (1812/13, 286) „Die Knospe verschwindet in dem Hervorbrechen der Blüte, und man könnte sagen, daß jene von dieser widerlegt wird ... Diese Formen unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als unverträglich miteinander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten der organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so notwendig als das andere ist, und diese gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus." (Hegel 1807, 12) Durch die überall wirksamen Widersprüche hindurch begreift die im Sein angelegte Vernunft sich selbst und überführt sich so aus ihrer Abstraktheit in ein konkretes, erfülltes Sein, das wahrhaft absolut ist. Das zu sich selbst gekommene Absolute aber ist die Idee. Im Prinzip ist dieser Gedanke die idealistische Form von Cusanus' coincidentia oppositorum: Gott als absolute, den Gegensätzen übergeordnete Einheit, die das Gegensätzliche in sich aufhebt. Aber nicht nur das Prinzip der Einheit von Identität und Verschiedenheit - alle wesentlichen Kategorien der Gegensätzlichkeit, die später im Marxismus zum Zuge kommen, finden sich bekanntlich bereits bei Hegel: die Ne20
21
Arndt zeigt, dass Marx' Bemerkungen zur Dialektik nicht immer auf den Bereich der Gesellschaft eingeschränkt sind und bisweilen auf Naturprozesse anspielen (1985, 234, 249). Gleichwohl Marx also gelegentlich reale Widersprüche in der Natur behauptet, gibt es freilich keine systematische Marxsche Naturdialektik (ebd., 266). Für Hegel können Widersprüche nicht dadurch aufgelöst werden, dass man sie für undenkbar hält. Es gibt für ihn vielmehr bestehende Widersprüche, die nicht in unserem Irrtum über die Dinge wurzeln, sondern im Wesen der Dinge selbst. Hegels „Angriff auf die Grundlagen der klassischen formalen Logik" (Wolff 1981, 36) - auf den Satz der Identität - besteht im Kern in der Auffassung, dass die Unhaltbarkeit dieser Widersprüche anders beschaffen sein muss als die auf bloßen Irrtümern beruhende Falschheit von Aussagen. Er meint, dass kontradiktorischen Aussagen stets ein objektiver Widerspruch zugrunde liegt. Nach Wolff trifft der immer wieder gegen Hegel erhobene Vorwurf der ,Ontologisierung' des Widerspruchs daher schon zu, vorteilhafter sei es aber, von ,Objektivierung' zu sprechen (ebd., 169).
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gation der Negation, die Aufhebung, der Übergang der Bestimmungen ineinander, etc. Dies sind auch die Begrifflichkeiten, auf die Engels sich stützt, während er sich zum Vorläufer jener starken Ontologie des Gegensatzes macht, die sich später Dialektischer Materialismus nennen wird. In seiner Dialektik der Natur postuliert Engels seine berühmten drei Gesetze der Dialektik: das Gesetz des Umschlagens der Quantität in Qualität, das Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze, und das Gesetz von der Negation der Negation. Die Gesetze der Dialektik sollen aus der Geschichte der menschlichen Gesellschaft, der Natur und des Denkens abstrahiert werden. Hegel habe bloße idealistische ,J)enkgesetze" entwickelt, und diese dann der Natur und der Geschichte „aufoktoyirt, nicht aus ihnen abgeleitet" (MEGA 1/26, 355/MEW 20, 348). Aus diesem Grunde gibt Engels vor, Marx' „Umstülpung" der Hegeischen Dialektik (ebd., 333/335) zu einer kohärenten Theorie auszubauen. In Wirklichkeit verabsolutiert er die Dialektik zu einem universalen Schema immanenter Widersprüchlichkeit: „Die Dialektik, die sogenannte objektive, herrscht in der ganzen Natur, und die s. g. subjective Dialektik, das dialektische Denken, ist nur Reflex der in der Natur sich überall geltend machenden Bewegung in Gegensätzen, die durch ihren Widerstreit und ihr schließliches Aufgehen in einander, resp. in höhere Formen, eben das Leben der Natur bedingen." (Ebd., 361/481)22 Dieses .Aufgehen ineinander' der Gegensätze meint freilich die Negation der Negation, die Reproduktion des Alten auf jeweils „höherer Stufe" (Materialien zum AntiDühring, MEGA 1/27, 89/MEW 20, 583). „Was also ist die Negation der Negation? Ein äußerst allgemeines und eben deswegen äußerst weitwirkendes und wichtiges Entwicklungsgesetz der Natur, der Geschichte und des Denkens." (Anti-Dühring, MEGA 1/27, 336/MEW 20, 131) Engels erhebt also die Negation der Negation zu einem Entwicklungsmittel, das auf allen Wirklichkeitsbereichen wirkt. Für den gesellschaftlichen Fortschritt bedeutet das, dass er jetzt als das unweigerliche Resultat des treibenden Motivs des Widerspruchs und seiner Aufhebung erscheint. Wollte man dieses Aufsteigen zu immer höheren Formen in einer Gleichung ausdrücken, man 22
Kritiklos schreibt Engels Hegels Wesenssatz ab: „Die wahre Natur der ,Wesens'bestimmungen von Hegel selbst ausgesprochen. Enzycl. I, § 111, Zusatz: ,1m Wesen ist alles relativ'." (Dialektik der Natur, MEGA 1/26, 365/MEW 20, 483) „Daß die Identität mit sich von vornherein den Unterschied von allem andern zur Ergänzung nöthig hat, ist selbstredend." (Ebd., 367/484) Den Satz der Identität tut Engels dementsprechend als „altmetaphysischen Fundamentalsatz" (ebd., 366/484) ab. So artikuliert er vor allem das Bedürfnis, alles miteinander in einer dynamischen Weltanschauung verbinden zu können, die sich auf ein Prinzip zurückführen lässt: Die Dialektik, „die die fixen metaphysischen Unterschiede ineinander überführt ... und die Gegensätze vermittelt, ist die einzige ihr in höchster Instanz angemessne Denkmethode". (Ebd., 362/482) Mit dieser Methode könne man „den Anhängern des Alten" (ebd., 366/484) entgegentreten, deren Ziel es ist die Unveränderlichkeit der Dinge zu untermauern, zu welchem Zwecke sie mit dem Satz der Identität eine besonders wirkungsvolle Waffe in ihrem Arsenal haben. Eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Satz der Identität bleibt (anders als bei Hegel) aus.
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müsste die Geschichte vor das Gleichheitszeichen setzen und den Fortschritt dahinter. Wie die Rekonstruktion der Entstehung des originellen Marxschen Fortschrittsbegriffs im vorausgegangenen Kapitel unschwer erkennen lässt, steht dieses Schema innerhalb der materialistischen Geschichtsbetrachtung für das Festhalten am traditionellen Konfliktmodell, welches im Fortschritt das Prinzip der Geschichtsentwicklung sieht. Deshalb ist Engels' Fortschrittsdenken in seinen wesentlichen Zügen zum Zeitpunkt der Naturdialektik Mitte/Ende der 1870er Jahre nicht weiter entwickelt als es 1844 schon war. Engels setzt die Menschheitsgeschichte mit dem Fortschritt gleich und bleibt somit beim Universalbegriff Fortschritt im Sinne des Kollektivsingulars stehen: „Man sieht ein, daß der Fortschritt das Wesen der Menschheit ist." (Die Lage Englands, MEGA 1/3, 576/MEW 1, 578). Selbstverständlich muss Engels philosophisches Spätwerk vor dem Hintergrund der philosophischen und wissenschaftlichen Debatten des späten 19. Jahrhunderts verstanden werden. Andernfalls würde Engels allzu voreilig als direkter Vordenker eines Stalinistischen Marxismus hingestellt. Das ist nicht die Absicht dieser Darstellung. Unbestreitbar ist jedoch, dass die Ontologie des Gegensatzes im Anschluss an Engels im Offizialmarxismus vollends zu einer Art Katechismus ausgebaut wird. In ihrer weltanschaulichen Ausprägung mutieren Engels zweifelhafte Sätze endgültig zu vermeintlich nicht-metaphysischen, pseudo-positiven .Entwicklungsgesetzen'. Mao Tsetung und Josef Stalin sind wahrscheinlich die zwei einflussreichsten - weil mächtigsten - Figuren dieser theoretischen Entwicklung, und nur aus diesem Grund werden sie hier erwähnt. Nach Mao ist ,,[d]as Gesetz des Widerspruchs, der den Dingen innewohnt, oder das Gesetz der Einheit der Prinzipien ... das fundamentalste Gesetz der materialistischen Dialektik." (1937, 27) Stalin behauptet, es sei ein Grundzug der Dialektik im „Gegensatz zur Metaphysik" davon auszugehen, dass alle Dinge durch ihre innere Widersprüchlichkeit vorangetrieben werden. Alle Dinge „haben ihre negative und positive Seite, ihre Vergangenheit und Zukunft ... daß der Kampf dieser Gegensätze, der Kampf zwischen Altem und Neuen ... zwischen Ablebendem und sich Entwickelndem, den inneren Gehalt des Entwicklungsprozesses, den inneren Gehalt des Umschlagens quantitativer Veränderung in qualitative bildet". (1956, 40) Der Gedanke, Marx entwerfe eine Theorie der Universalgeschichte, mit welcher sich die gesellschaftliche Höherentwicklung bis hin zur klassenlosen Gesellschaft dialektisch darstellen und begründen lässt, läuft immer Gefahr, sich auf diese bestimmte Rezeptionslinie zu beziehen, die ausgehend von der starken Ontologisierung des Gegensatzes in das doppelte Paradigma des Historischen und Dialektischen Materialismus mündet.
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b.
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Probleme mit der dialektischen Geschichtsentwicklung
Die dialektische Geschichtsentwicklung bildete die Grundlage der Marxistischen Fortschrittsideologien des 20. Jahrhunderts. Wenn nun diese Vorstellung auf Marx' kritische Theorie des 19. Jahrhunderts zurückgeführt wird, dann entsteht möglicherweise ein schiefes Bild von dessen originellem Fortschrittsbegriif. Genau das ist der Fall, wenn etwa behauptet wird, die Marxsche Theorie habe das gleiche intensive Interesse an der Entwicklung und an den Zielen der Universalgeschichte wie Engels und der Marxismus und sie bemühe sich vor allem darum, von dieser eine stabile Theorie zu entwerfen. Ein typisches Beispiel ist Kosellecks bekannter Aufsatz über die Entstehungsgeschichte des Fortschrittsbegriffs. Für Koselleck ist Marx' zentraler Satz zur Fortschrittsproblematik ,Ohne Gegensatz kein Fortschritt' lediglich ein „Allgemeinsatz", eine „post-hegelsche Wendung", die in Engels Dialektik der Natur in dem Gedanken fortlebe, dass (er zitiert Engels) „in der Geschichte der Fortschritt als Negation des Bestehenden auftritt". (1979a, 419). In Wirklichkeit gibt es erhebliche Unterschiede zwischen Engels Ontologisierung des Widerspruchs und der originellen Marxschen Gegensatzkonzeption, die ja für die theoretische Entwicklung weg von der schematischen Übertragung der Dialektik auf den Geschichtsprozess steht. Die Unterschiede zwischen Marx und dem Marxismus hinsichtlich der Auffassung und Konzeption der Dialektik sind in den - weitgehend unausgesprochenen - theoretischen Differenzen zwischen Karl Marx und Friedrich Engels exemplarisch enthalten. Die dialektische Ontologie behauptet, die Veränderung eines jeden Dinges oder Sachverhaltes damit begründen zu können, dass sie einen Gegensatz in sich tragen. Problematisch ist diese Auffassung deshalb, weil diese Gegensätze pauschal als Widersprüche vorausgesetzt werden, die sogar innerhalb von konkreten Einzeldingen herrschen. Typisch ist Maos Bild von der Bombe als Einheit von Extremen. Diese Einheit wird aufgrund ihrer immanenten Gegensätzlichkeit zur Explosion gebracht. Es verhalte sich grundsätzlich mit „allen Naturerscheinungen" so, dass die Entstehung des Neuen auf die „Lösung des alten Widerspruchs" folge (1937, 78). Die Auflösung des Widerspruchs ist das treibende Motiv aller Veränderungen. Freilich müssen Widersprüche nicht zwingend so gedacht werden, dass sie immer auf ihre Auflösung hinauslaufen. Oben wurde bereits argumentiert, dass Marx 1.) diesen Automatismus der Auflösung nicht vorauszusetzen scheint, und dass er - zumindest für ,wirkliche' Gegensatzverhältnisse - 2.) ein alternatives Verständnis zugrunde legt, das unter .Auflösung' nicht die Versöhnung der Entgegengesetzten miteinander versteht. Als Bewegungsprinzip des Geschichtsprozesses birgt die Auflösung ein erhebliches Gefahrenpotential, insofern damit der Rechtfertigung teleologischer Positionen in der Geschichtsphilosophie Tür und Tor geöffnet wird. Marx hat zwar mit dem Krisenbegriff durchaus eine Vorstellung von einer kontradiktorischen Struktur mit erheblicher Relevanz für den weiteren geschichtlichen Verlauf der bürgerlichen Gesellschaft. Der Krisenbegriff ließe sich allerdings nur dann als Baustein einer vom Fortschrittsoptimismus geleiteten Konstruktion des Übergangs vom Kapitalismus in eine höhere Ordnung auslegen, wenn der Doppelcharakter der Ware
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- ganz wie Maos Bombe ein bis zum Bersten mit Krise vollgestopfter Sprengsatz - in seinem Ausdruck als .Widerspruch' von Gebrauchswert und Tauschwert die bürgerliche Ordnung mit Notwendigkeit in den Abgrund führte. Das ist aber nicht der Fall. Aus der Notwendigkeit, die Ware in Geld zu verwandeln (Metamorphose der Ware), ergibt sich immer nur in potentia eine ökonomischen Krise. Dieses Potential ist tatsächlich in der Grundstruktur des Kapitals permanent angelegt, aber eben als „abstracteste Form der Crise (und daher formelle Möglichkeit der Crise)" (Manuskript 1861-1863, MEGA II/3.3, 1131/MEW 26.2, 510). Muss dies als eine Art Zwei-Reiche Lehre verstanden werden, nach der die Widersprüche von einer tieferen, .abstrakten' Ebene aus auf konkretere Verhältnisse determinierend Einfluss nehmen? Marx sagt nämlich: „je weiter wir in [der bürgerlichen Ökonomie] vordringen, müssen einerseits neue Bestimmungen dieses Widerstreits entwickelt, andererseits die abstracteren Formen desselben als wiederkehrend und enthalten in den konkreten nachgewiesen werden". (Ebd., 1131/5 lOf.) Das widersprüchliche Abstrakte eingehüllt in das Konkrete: Das könnte als ontologische Verankerung der Widersprüchlichkeit als treibendes Motiv auf einer .tieferen' Ebene unterhalb der Oberfläche der gesellschaftlichen Wirklichkeit aufgefasst werden. Gewissermaßen als .materialistische' Variante der Hegeischen Logifizierung der Wirklichkeit. Aber Marx sagt an derselben Stelle: „Warum also diese Formen ihre kritische Seite herauskehren, warum der in ihnen potentia enthaltne Widerspruch actu als solcher erscheint, ist aus diesen Formen allein nicht zu erklären." (Ebd., 1133/513) Geschichtstheoretisch umformuliert bedeutet das: Obwohl die Bedrohung durch Widersprüche in Form von ökonomischen Krisen eine Konstante der bürgerlichen Produktionsweise ist, entscheiden nicht allein die Widersprüche darüber, ob die bürgerliche Produktionsweise in eine höhere Formation übergehen wird oder nicht. Wäre das der Fall, dann wäre die Ware, oder besser: der warenimmanente Widerspruch das Subjekt des Prozesses. Mit der Erreichung der historischen Stufe der Warenproduktion wäre ein Formationsfortschritt über diese Produktionsweise hinaus also bereits vorprogrammiert. Das ist aber nicht Marx' These. .Ohne Gegensatz kein Fortschritt' bedeutet statt dessen, dass der Formationsfortschritt aus dem Zusammenwirken von Widerspruch (krisenhafte Auflösung des Reproduktionsprozesses) und Antagonismus (revolutionäre politische Subjektivität) hervorgeht. Außerdem präzisiert Marx den Gedanken, die Ware sei unmittelbarer Widerspruch von Gebrauchswert und Tauschwert, den er im Kapital in der ersten Auflage des ersten Bandes behauptet (MEGA II/5, 54), im Verlauf der fortlaufenden Überarbeitung dieser Schrift. Folgende Ausgaben behaupten, die Ware stelle sich so nur im Austauschverhältnis zu einer anderen Ware dar: „Wenn es im Eingang dieses Kapitels in der gang und gäben Manier hieß: Die Waare ist Gebrauchswerth und Tauschwerth, so war dieß genau gesprochen, falsch. Die Waare ist Gebrauchswerth oder Gebrauchsgegenstand und ,Werth'. Sie stellt sich dar als dies Doppelte, was sie ist, sobald ihr Werth eine eigne, von ihrer Naturalform verschiedene Erscheinungsform besitzt, die des Tauschwerths, und sie besitzt dies Form niemals isolirt betrachtet, sondern
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stets nur im Werth- oder Austauschverhältniß zu einer zweiten, verschiedenartigen Waare. Weiß man das jedoch einmal, so thut jene Sprechweise keinen Harm, sondern dient zur Abkürzung." (MEGA Π/6, 92/MEW 23, 75, d. Verf.) .Austauschverhältnis', .Sprechweise', ,Abkürzung' - das sind die Ausdrücke, auf die es hier ankommt. Die Betonung verlagert sich von der Ware als widersprüchliche Einheit auf die besonderen Verhältnisse einer Gesellschaft, die Gebrauchsgegenstände als Waren produziert und austauscht. Im realen Austauschprozess stellt sich das Doppelte der Ware - ihre Eigenschaft gleichzeitig Gegenstand und Wert zu sein - als Widerspruch dar. In diesem Sinne ist die Marxsche Dialektik wie gesagt eine Realdialektik. Die Rolle einer geschichtlichen Aufhebungsstruktur spielt sie aus den genannten Gründen dennoch nicht, von einem universalen Widerspruchsschemas (Naturdialektik) ganz zu schweigen. Marx betrachtet die Dialektik in erster Linie als Methode: „Meine dialektische Methode" (Nachwort zur 2. Auflage, MEGA II/6, 709/MEW 23, 27). Und spätestens seit den Grundrissen ist damit die Methode der Erfassung und der Darstellung der politischen Ökonomie gemeint, die, obwohl sie selbstverständlich ein historisch vermitteltes Forschungsgebiet ist, keine systematische Theorie der Geschichte ist. Marx' Behauptung, Hegels Dialektik sei „unbedingt das lezte Wort aller Philosophie" (an Lassalle, 31. Mai 1858, MEGA III/9, 155/MEW 29, 561) ist außerdem nicht so zu verstehen, dass die Begriffe, die er dieser Philosophie entnimmt, ihre alte Bedeutung beibehalten. Schließlich hat er nicht mehr den Anspruch, Philosophie zu betreiben, sondern auf einem anderen Gebiet etwas ganz anderes zu tun. Wenn dieser Wechsel des Betätigungsfeldes gebührend nachvollzogen wird, dann kann Marx nur unter großen Schwierigkeiten eine geschichtsphilosophische Anwendung der Widerspruchslogik des deutschen Vernunftidealismus nachgewiesen werden. Als Methode bezeichnet die Dialektik eine bestimmte Art zu Denken - das ist die .subjektive' Dialektik, von der Engels spricht, bevor er den Widerspruch wieder in das Sein verlegt - , also einen bestimmten ,Weg' (von griech. hodos, vgl. Wolf 2002, 44), der das Denken an den Gegenstand heranführt. Wenn Marx in diesem Sinne über seine Dialektik spricht, dann meint er die denkerische Erfassung und Darstellung der Bewegung des Gegenstandes (sei es die Ware, die arbeitsteiligen Produktionsverhältnisse oder die bürgerliche Gesellschaft). Die Bestimmung dieser Methode ist nicht ganz einfach. Marx äußert sich zwar immer wieder zur Dialektik, hinterlässt jedoch keine systematische Untersuchung zu diesem Thema. Von besonderem Interesse ist darum das Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals. Hier lässt Marx einen seiner Kritiker für sich sprechen: Ein gewisser 1.1. Kaufmann darf auf gut eineinhalb Seiten die Methode des Kapitals vorstellen, weil er das „so treffend ... so wohlwollend" tut (Nachwort zur 2. Auflage, MEGA II/6, 708f./MEW 23, 27). Kaufmanns Erläuterungen heben drei wesentliche Merkmale der Marxschen Dialektik hervor, die auch für den Fortschrittsbegriff der materialistische Geschichtsauffassung von Relevanz sind: „[Marx] bemüht sich ... nur um eins: durch genaue wissenschaftliche Untersuchung die Notwendigkeit bestimmter Ordnungen der gesellschaftlichen
DER ZUSAMMENHANG VON DIALEKTIK UND FORTSCHRITTSDENKEN
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Verhältnisse nachzuweisen ... Hierzu ist vollständig hinreichend, wenn er mit der Nothwendigkeit der gegenwärtigen Ordnung zugleich die Nothwendigkeit einer andren Ordnung nachweist, worin die erste unvermeidlich Übergehn muß ... Marx betrachtet die gesellschaftliche Bewegung als einen naturgeschichtlichen Proceß, den Gesetze lenken, die nicht nur von dem Willen, dem Bewußtsein und der Absicht der Menschen unabhängig sind, sondern vielmehr deren Wollen, Bewußtsein und Absichten bestimmen ... Nach ihm existiren solche abstrakte Gesetze nicht ... Nach seiner Meinung besitzt im Gegentheil jede historische Periode ihre eignen Gesetze ... Sobald das Leben eine gegebne Entwicklungsperiode überlebt hat ... beginnt es auch durch andere Gesetze gelenkt zu werden." (Zit. n. Marx, ebd., 707f./26) Marx ist mit diesem Abriss seiner dialektischen Methode durch Kaufmann so zufrieden, dass er ihn nicht weiter kommentiert und sich im Anschluss auf einige abschließende Erläuterungen beschränkt. Kaufmanns Ausführungen machen die Bedeutung dieser Methode für das Begreifen von historischen Prozessen in drei Punkten deutlich: 1.) Eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung existiert mit Notwendigkeit und wird mit ebensolcher Notwendigkeit irgendwann in andere Ordnung übergehen. Damit ist zunächst nur die simple Tatsache ausgedrückt, dass es sich bei Gesellschaften um historisch gewachsene Gebilde handelt, die nicht ewig währen. 2.) Historische Vorgänge sind nicht willkürliche, sondern gesetzmäßige und intelligibele Prozesse. 3.) Jede spezifische historische Ordnung folgt spezifischen historischen Gesetzen. Die jeweils herrschenden Gesetzmäßigkeiten haben also Gültigkeit nur innerhalb einer bestimmten historischen Ordnung. Es gibt keine formationsübergreifende, für alle Zeiten gültige Gesetzmäßigkeit. Die Marxsche Dialektik ist deshalb nicht mit dem positivistischen Postulat eines überhistorischen gesetzmäßigen Stufengangs (Comte) vergleichbar. Sie ist auch nicht mit Cieszkowskis Historiosophie vergleichbar, die dem historischen Gesamtprozess eine Widerspruchs- und Aufhebungsstruktur gewissermaßen überstülpt, so dass sich jeder Übergang in eine neue Form als Fortschritt darstellen lässt; von Engels ,Gesetzen' der Dialektik ganz zu schweigen.23 Der Historische Materialismus hat aus der Marxschen Konzeption der Notwendigkeit und der Gesetzmäßigkeit das Modell einer aufsteigenden Stufenfolge der Gesellschaftstypen bis hinauf zum Kommunismus gemacht. Rohbeck bemerkt dazu: „Wird dieser aufsteigenden Linie von Gesellschaftsformationen ,historische Notwendigkeit' oder gar .Gesetzmäßigkeit' zuerkannt, gerät die Geschichtsphilosophie wieder in die Nähe der alten Teleologie, von der sie Marx ja längst losgelöst hat." (2006, 89) Genau genommen führt jedoch nicht die in beiden Kategorien enthaltene Behauptung der Zwangsläufigkeit in die Teleologie, sondern das Element, das Rohbeck mit dem Adjektiv aufsteigend' belegt. Weder die Gesetzmäßigkeit noch die Notwendigkeit unterstellen automatisch eine finale Zweckmäßigkeit. Schon Schlegel spricht von den „notwendigen Stufen der in23
Dazu schreibt Carver: „I find it impossible to discover Marx saying even once what Engels claims is the foundation of ,the system' - the three ,laws of dialectics'." (1998, 201)
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nern Entwickelung" und fordert die Erhebung zum „notwendigen Gesetz der erklärten Erscheinungen" (1795, 6): „nur die Voraussetzung, daß alle Erscheinungen nothwendig seien, kann dahin führen, den Grund immer mehrerer zu erforschen." (Ebd., 7) Notwendigkeit wird hier nicht teleologisch begriffen und bedeutet vielmehr das systematische Zurückgehen entlang der Ursachenkette, das heißt die Zurückführung einer Erscheinung auf ihren Grund. Die Marxsche Methode steht durchaus in dieser Tradition. Genau so wenig impliziert die Vorstellung von der Linearität einer Entwicklung grundsätzlich einen Finalnexus. Es ist allein die qualitative Bestimmung einer Entwicklung in Kombination mit der Voraussetzung der Zweckmäßigkeit dieser Entwicklung, die als teleologisches Denken bezeichnet werden kann. In die Nähe zur Teleologie gerät das Stufengangtheorem also erst dann, wenn es die Geschichte als .Aufstieg' zu einem höheren Zweck oder Ziel begreift. Teleologisch ist nicht das Denken, das die Notwendigkeit der Entwicklung seines Gegenstandes begreift - teleologisch ist das Denken, das der Entwicklung seines Gegenstandes eine Vorgabe hinsichtlich der Qualität dieser Entwicklung macht. Im Kreuznacher Manuskript kennzeichnet Marx diesen Vorgang als Logifizierung der Wirklichkeit: Teleologisch denkt, wer seinem Gegenstand die Logik und also die Richtung seiner Entwicklung nicht entnimmt (,Logik der Sache'), sondern sie ihm vorgibt (,Sache der Logik'). Für das Verhältnis von Fortschritt und Dialektik bedeutet das, dass selbst die Figur der Negation der Negation relativ unproblematisch ist, solange sie als formales Erklärungsmuster im Dienste der Logik der Sache fungiert - als ,Abstraktionsformel\ wie Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten formuliert (siehe Kapitel IV, Abschnitt 3.b.). Problematisch wird die Dialektik des Fortschritts erst dann, wenn diese Abstraktionsformel mit der Bestimmungsteleologie zu einem optimistischen Versöhnungsdenken zusammenführt wird. Dann erst wird aus der Dialektik des Fortschritts eine historische Dialektik im Sinne der Historiosophie: die Subsumierung der Geschichte unter den Kollektivsingular Fortschritt. Diese Universalität des Fortschritts lässt sich zwar gelegentlich auch bei Marx finden, aber sie ist kein spezifisches Merkmal seiner Theorie. Ausgehend von den Axiomen dieser Theorie könnte er einen solchen .abstrakten' Fortschrittsbegriff auch gar nicht behaupten. Das Elend der Philosophie enthält übrigens eine bemerkenswerte und dennoch wenig beachtete Kurzdarstellung der Hegeischen Dialektik: „Um griechisch zu sprechen haben wir These, Antithese und Synthese. Für die, welche die Hegeische Sprache nicht kennen, lassen wir die Weihungsformel folgen: Affirmation, Negation, Negation der Negation. Das nennt man reden." (MEW 4, 127, d. Verf.)24 Die Dialektik Hegels habe sowohl ihre Vorzüge als auch ihre Nachteile. Sie sei zwar vernünftig, jedoch gewissermaßen ohne Gehalt, denn „es ist die Sprache dieser reinen, vom Individuum getrennten Vernunft". (Ebd.) Es handele sich bei ihr deshalb „um Abstraktion, nicht um Analy24
„Nun, wenn dem so ist, so kann das Wort .Dialektik' eigentlich nur eines bedeuten: die Lehre von der Struktur der Sprache; aber in einem weiteren Sinne als die Rede verstanden, die ihrer eigenen Struktur ... bewußt ist. Die erste ihrer eigenen Struktur bewußte Rede war die hegelsche Philosophie." (Kojève 2002, 317)
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se", um die Reduktion der Dinge auf die „logischen Kategorien" (ebd.)· Das Problem ist aber nicht darin zu sehen, dass überhaupt Abstraktion betrieben wird, sondern dass die Abstraktion sich in eine Logifizierung der gegenständlichen Welt fortsetzt, weil die „Metaphysiker", „die, je mehr sie sich von den Gegenständen entfernen, sie desto mehr zu durchdrängen wähnen" (ebd.). Das vorausgehende Kapitel hat am Beispiel Proudhon demonstriert, dass diese Metaphysik in ihrer methodischen Anwendung auf die Empirie zu der Vorstellung führen kann, die Menschheitsgeschichte sei wesentlich ein Fortschritt. Dass die Dialektik und die Geschichtsentwicklung in der Marxschen Theorie eine Verbindung eingehen, das soll hier keineswegs bestritten werden. Es soll hier nur festgestellt werden, dass die Marxschen Theorie kein allgemeingültiges Muster der universellen Vermittlung bereithält, nach dem der Widerspruch als das alles durchdringende Strukturprinzip der Wirklichkeit die Entwicklung der Gesellschaft zu immer ,höheren' Formen garantiert. Marx denkt vielmehr die „Widersprüche im Endlichen, deren A u f lösung' das Ende eines bestimmten Endlichen anzeigt, ohne daraus per Negation der Negation eine neue Gesellschaft als Position hervorgehen zu lassen". (Arndt 2003, 120) Und er geht nicht ohne Grund davon aus, dass die zweite Stufe oder der zweite Schritt der Dialektik - die Antithese oder Negation - der eigentliche Ort der dialektischen Bewegung ist: „Der Kampf dieser beiden gegensätzlichen, in der Antithese enthaltenen Elemente, bildet die dialektische Bewegung." (Elend der Philosophie, MEW 4, 129) Die Marxsche Theorie geht also nicht notwendigerweise über die Negation des Bestehenden hinaus. Statt dessen hält sie an der Dialektik in ihrer „rationellen Gestalt" fest, weil diese uns die Möglichkeit bietet, „dem positiven Verständniß des Bestehenden zugleich auch das Verständniß seiner Negation, seines nothwendigen Untergangs" entgegenzustellen. Dialektik bedeutet, das Bestehende nach seiner „vergänglichen Seite" aufzufassen (Nachwort, 2. Auflage, MEGA II/6, 709/MEW 23, 27f.). Diese Methode stellt nicht die Notwendigkeit der Negation der Negation in den Vordergrund, sondern die Notwendigkeit der Negation. Marx zeigt also auf eine Grenze, welche die dialektische Methode nicht übertreten darf, wenn sie ihre rationale Gestalt behalten soll: Die Dialektik darf nicht im Sinne einer Aufhebungsstruktur zu einem universellen Bewegungsmuster der Geschichtsentwicklung gemacht werden. Folglich ist diese Grenze immer auch eine Grenze des Marxschen Fortschrittsdenkens. Sie ist sogar das, was die eigentliche Leistung und das kritische Potential der Dialektik ausmacht, weil mit ihrer Hilfe das Bestehende von der Seite seiner Vergänglichkeit her aufgefasst werden kann und also in seiner Begrenztheit sichtbar wird. Wenn Dialektik diese Bedeutung hat, dann ist natürlich auch der Fortschritt .dialektisch' zu verstehen. Fortschritte übersteigen das Bestehende ja nicht grundlos; sie übersteigen es, weil es qualitativ mangelhaft ist. Fortschritt bezieht sich demnach immer auf die negative Seite dessen, was durch ihn verbessert wird. Und selbstverständlich sind alle historischen Spielarten des Fortschrittsdenkens - selbst jene ,naiven' Varianten, über die man heute gerne die Nase rümpft - in diesem besonderen Sinne dialektisch. Das Fortschrittsdenken ist nämlich grundsätzlich das intellektuelle Element, das die
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Konfrontation zwischen dem Konformismus und dem Angriff auf die etablierte Ordnung auf den Begriif bringt (Balibar 1995, 91). Somit ist das Fortschrittsdenken nicht bloß ein Denken über den Fortschritt, sondern es setzt immer ein progressives Weltbild voraus und ist potentiell sogar ein Fortschritt im Denken selbst. Diese besondere Dialektik des Fortschritts unterschiedet sich ganz erheblich von dem, was die Verfechter der Ambivalenz einer jeden historischen Verbesserung darunter verstehen. Sie behaupten nicht, Fortschritt sei dialektisch, weil er das Negative zum Gegensatz habe und somit darauf verweise, sondern weil er es in sich trage und aus sich selbst heraussetze - kurzum: weil Fortschritt selbst das Negative sei. In dieser Form beruht die Forderung nach der Dialektisierung des Fortschritts auf einem Vorurteil gegenüber der etwa seit der Aufklärung als eigenständige Disziplin auftretenden Philosophie der Geschichte. Die Geschichtsphilosophie wird als ein ,naives', das heißt als ein die Ziele des von ihr bedingungslos vorausgesetzten Fortschritts nicht im Verhältnis auf ihre Mittel reflektierendes und also schwärmerisches und formell monolinear konzipiertes Denken angesehen. (Zumal der Begriff Fortschritt als „das eigentliche Parteiwort des liberalen Bürgertums im 19. Jahrhundert" (Haug/Reitz 1999, 716) vorbelastet sei, weshalb er sich für viele Autoren aus weltanschaulichen Gründen automatisch selbst disqualifiziert.) Dabei wird schlichtweg übersehen, dass es lange vor Marx Versuche gab, den Widerspruch im Fortschritt selbst anzusiedeln und die somit gewonnene .Dialektik' als traditionelles Konfliktmodell auf die Geschichte zu übertragen (Fortschrittals-Gegensatz). Es ist Zeit anzuerkennen, dass sich das positive Marxsche Fortschrittsverständnis auf dem Weg der Kritik an diesem Diskurs schärft. Der Begriff, der sich auf diese Weise herausbildet, ist keine bloße Neuauflage der alten Dialektisierung des Fortschritts. Die Zeit, in der die philosophische Fortschrittskritik selbst noch ein fortschrittliches Denken repräsentierte (zum Beispiel die Kritische Theorie) liegt größtenteils bereits hinter uns. Was die gegenwärtige Fortschrittskritik noch mit dieser Periode verbindet sind einige wichtige Grundgedanken: die Verkehrung der Idee gegen sich selbst; die Verwandlung der Idee in Herrschaft; und schließlich die damit einhergehende pessimistische Grundstimmung. Mit diesen Konzepten (re)produziert vor allem die Ambivalenztheorie das heutzutage gängige Bild vom Menschen als Opfer nicht der objektiven Verhältnisse, sondern des eigenen Willens und der eigenen Pläne hinsichtlich ihrer Verbesserung. Diese Prämisse hat oftmals zur Folge, dass nicht die Kritik der Verhältnisse betrieben wird, sondern Vernunftkritik. Das ist aber der Grund, warum die Ambivalenztheorie selbst unter der Überschrift .Dialektik' die Retterin des Fortschrittsdenkens nicht sein kann: diesem elementaren Versuch der Menschen, den Freiraum des Guten in einer offenbar von Zwangsverhältnissen geprägten Welt zu begreifen. Sie ist außerdem etwas Paradoxes, da sie die Idealobjektivation Fortschritt spontan als die Verbesserung voraussetzt, die sie in der empirischen Wirklichkeit nicht finden kann. Enttäuscht macht sie die missglückte Suche dem Fortschritt zum Vorwurf, der ihr nun zwangsläufig als etwas Zweideutiges vorkommen muss. Sie kommt zu dem Schluss, Fortschritt' könne keine Fortschritte bezeichnen bzw. es gebe keine Fortschritte. Dabei hatte sie selbst doch den Fortschritt zum einzigen Maßstab auserkoren (Kollektivsingular), was sich
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typischerweise im Verschwinden der Rückschrittskategorie aus dem Gelehrtendiskurs ausdrückt. Mit den Mitteln der Marxschen Spekulationskritik ausgedrückt ist dies ein Verfahren, das an seinem Gegenstand vorbeigeht. Die eigentliche Fortschrittsproblematik wird am Beispiel von Marx' impliziten Begriff Fortschritt-im-Gegensatz deutlich. Sie ergibt sich aus dem Verhältnis des Fortschritts zu seinem Gegenteil oder zu etwas anderem, in dem er nicht aufgeht und mit dem er nicht immer schon in Verbindung stand. Deshalb spricht man richtiggehend von den Ursachen, Inhalten, Zeiträumen, Wirkungsgebieten, Trägern und Nutznießern des Fortschritts, die allenfalls Anzeiger des Fortschritts sind, die sich aber nicht auf den Fortschritt reduzieren lassen. Auch das will Marx sagen, wenn er sich gegen den ,abstakten', die Menschheit oder die Geschichte umfassenden Begriff von Fortschritt wendet. Er konzentriert sich statt dessen auf sphärische Fortschritte in ,der Industrie', ,der Landwirtschaft', auf Fortschritte in bestimmten sozialen Beziehungen und in den Wissenschaften. So erhält ein jeder Fortschritt gleichzeitig seine Bestimmtheit und seine Beschränkung. Und das, worauf er sich bezieht, erhält seine Bewertung und wird dadurch ein wenig verständlicher.
7.
Abschließende Bemerkungen
Das Marxsche Denken ist in hohem Maße ein Denken in Verhältnissen. Auch beim Fortschritt geht es Marx um das Fortschrittsverhältnis: Wie steht der Fortschritt zu seinem Gegenteil, dem Rückschritt? Wie verhält es sich mit seinem Eingebundensein in den .realen Grund' der Geschichte? An der Bestimmung des Fortschritts als eigenständiges Phänomen führt kein Weg vorbei, da er weder mit dem Rückschritt noch mit der Geschichte identisch ist. Anders als Engels stellt sich Marx nicht prinzipiell gegen den Satz der Identität und behauptet, dass das, was in einem Gegensatzverhältnis steht (selbst wenn es sich dabei um ein wesensidentisches Gegensatzverhältnis handelt) nicht ohne Widerspruch mit sich selbst identisch sein kann. Zumal er sich gerade in diesem Punkt ausdrücklich vornimmt, der Hegeischen Dialektik ,Grenzen' zu setzen. Er spricht deutlich von einer ,¿Dialektik der Begriffe" (in diesem Fall: Produktivkraft und Produktionsverhältnis), „deren Grenzen zu bestimmen und die realen Unterschiede nicht aufhebt". (Einleitung 1857, MEGA 11/1.1, 43/MEW 42, 43) Marx verwendet die Dialektik vor allem zur Kennzeichnung von Verhältnissen zwischen den Dingen - egal ob damit einzelne Gegenstände (Waren), ökonomische Großvorgänge (Konsumption, Produktion) oder umfassende soziale Prozesse (Klassenkämpfe, Krisen) gemeint sind - in einer vielschichtigen, von gegenseitiger Überlagerung gekennzeichneten Totalität. In diesem Sinne ist auch die Marxsche Dialektik eine Realdialektik. Marx nimmt natürlich an, die Widersprüche und die Antagonismen seien in dem Sinne objektiv und ,real', dass sie nicht ausschließlich logische Argumentationsfehler bezeichnen. Gerade darin liegt unter anderem der Wert und die Bedeutung seiner Gegensatzkonzeption. Sie hat maßgeblich zur Ausweitung
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der gesamten Gegensatzthematik auf konkrete Verhältnisse (die Politik und die Ökonomie) beigetragen. Fortschritt ist ohne Gegensatz nicht denkbar. Die Frage ist: Unter welchen Bedingungen ergibt die Rede vom widersprüchlichen Fortschritt einen Sinn? Das moderne Zeitalter sieht für gewöhnlich den Fortschritt selbst als die Wurzel einer Entgegensetzung an, die kontradiktorische Bestimmungen enthält: Fortschritt-als-Gegensatz. Sowohl die aus der Aufklärung herkommende Geschichtsphilosophie als auch die Kritik dieser Philosophie durch die Ambivalenztheorie akzeptieren die These, dass der Fortschritt sein Gegenteil in sich trägt und es aus sich heraussetzt. (Die Ambivalenztheorie ist sich ihrer Übereinstimmung mit dem Gegenstand ihrer Kritik freilich nicht bewusst, und reflektiert sie deshalb nicht.) Es gelingt Marx, diesen Begriffs zu überwinden, weil er in seinem Fortschrittsdenken eine wichtige Errungenschaft seiner Spekulationskritik umzusetzen versucht: die Einsicht in die Begrenztheit der Vermittlung, die sich im Prinzip der ,Verselbständigung gegeneinander der Entgegengesetzten' ausdrückt. An dieses Prinzip halten sich allen Gegensatztypen, auch der Widerspruch. Das Interessante an Marx' Gegensatzkonzeption ist ja, dass er selbst den Widerspruch nicht mehr ausschließlich vom Standpunkt der Aufhebung denken will. Für den Begriff Fortschritt-im-Gegensatz besteht die Aufgabe demnach darin, den spezifischen Charakter des ihm zugrunde liegenden Gegensatzes zu bestimmen. Ich habe hier argumentiert, dass die Verhältnisse, in denen der Fortschritt sich bewegt, als konträre Verhältnisse vorgestellt werden sollten. Fortschritt und Rückschritt stehen sich als Gleichberechtigte gegenüber. Das Dialektische, das Widersprüchliche an dieser Bewegung ist für Marx gewissermaßen ihre Zweigleisigkeit und ihr Spannungsverhältnis. Gerade weil der Gegensatz zum Rückschritt auf der Bedeutungsebene stark gemacht werden soll, müssen Fortschritte auf der praktischen Ebene aber als selbständige Entwicklungen angesehen werden. Der Fortschritt-im-Gegensatz vermeidet also folgende charakteristische Aspekte der dialektischen Ontologie: die Ausmerzung der Selbständigkeit der Entgegengesetzten, und das ständige Insistieren auf die Aufhebung der Entgegensetzung selbst. Gleichwohl ist es eine Tatsache, dass Marx wiederholt auf die immanente Widersprüchlichkeit des Fortschritts anspielt. Und zweifellos bedient er sich gelegentlich ambivalenter Bilder, um geschichtliche Prozesse und gesellschaftliche Geschehnisse darzustellen. Das gilt besonders für Beschreibungen des widersprüchlichen Charakters der bürgerlichen Produktionsweise, die - mit zunehmender Industrialisierung und im Zuge der Ausbreitung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung - auf der einen Seite zur Steigerung der Produktivkraft und des potentiell verfügbaren gesellschaftlichen Reichtums führt, auf der anderen Seite aber zur Zunahme des Leids der Arbeiter. Nur gibt uns die verbale Konstatierung dieser augenscheinlichen Gegensätze nicht das Recht zur Annahme, Marx denke Fortschritte systematisch und ausnahmslos als Prozesse, die sich selbst negieren. In Wirklichkeit setzt er, wie die meisten Menschen, Fortschritte intuitiv als Prozesse mit einem eindeutig positiven Wertgehalt voraus. Ungefähr ab Mitte der 1840er Jahre sieht Marx im Fortschritt auch nicht mehr das Prinzip der Geschichte. Vielmehr nimmt der Fortschritt innerhalb der ihn umfassenden
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und ihm kategorial übergeordneten .entgegengesetzten Bewegung' eine extreme Position ein. Ausgehend von den Erkenntnissen der Spekulationskritik darf diese konfliktbeladene Bewegung nicht mehr als eine singulare, auf Auflösung der gegensätzlichen Verhältnisse drängende Struktur angesehen wird, so wie das beim Fortschrittsuniversalismus auf der Basis des traditionellen Konfliktmodells der Fall war. Marx ergreift zwei Maßnahmen, um den Fortschrittsuniversalismus zu überwinden: 1.) Eine logische Standortbestimmung des Fortschritts: Der Fortschritt wird in der entgegengesetzten Bewegung der geschichtlichen Prozesse verankert. Die entgegengesetzte Bewegung ist das konstatierende Moment (der ,reale Grund') des Fortschritts. Das hat 2.) eine Entmachtung des Fortschrittsbegriffs zur Folge: Fortschritte sind gut und sie sind möglich, aber sie sind nichts Überhistorisches (Bestimmung, Anlage, Ziel oder Zweck der Geschichte oder der Menschheit). Der Fortschritt ist jetzt nicht mehr das abstrakte Prinzip (der Inbegriff) oder gar - wie bei Comte oder Spencer - das (Natur)Gesetz der historischen Entwicklung. In Marx' positivem Fortschrittsdenken sind Fortschritte eigenständige Extreme. Als solche sind sie aber nicht zu verwechseln mit den spekulativen Hegeischen Momenten, diese „Janusköpfe, die sich bald von vorn, bald von hinten zeigen und vorn einen anderen Charakter haben, als hinten" (Zur Kritik, MEGA 1/2, 97/MEW 1, 292), und die nur darauf warten, in der übergeordneten Idee aufgehen zu dürfen. Die Unterstellung der Kontrarietät als spezifischem Gegensatzcharakter der historischen Bewegung ermöglicht es Marx, die Eindeutigkeit der Verbesserung als Bedeutung des Fortschritts zu bewahren. Man könnte freilich fragen, ob die Rekonstruktion eines eindeutigen Marxschen Fortschrittsbegriffs in ihren Resultaten nicht ausgerechnet Positionen reproduziert, die Proudhon im Elend der Philosophie vorgehalten werden - also die Reduktion der dialektischen Bewegung „auf die einfache Prozedur Gut und Schlecht einander gegenüberzuhalten" (MEW 4, 133). Führt die Rekonstruktion des Fortschritt-imGegensatz nicht zu eben diesem Ergebnis? Dieser Einwand ist nicht haltbar, weil er übersieht, dass der eigentliche Zweck dieser Prozedur bei Proudhon darin besteht, „das Schlechte auszumerzen und eine Kategorie als Gegengift gegen die andere zu verabreichen" (ebd.). Und genau das will Marx verhindern, weil damit den Kategorien die Selbstständigkeit genommen und das Spiel der Gegensätze in „pure Moral" (ebd., 134) verwandelt wird. Die bisherige Rekonstruktion hat gezeigt, dass Marx einen impliziten Begriff von Fortschritt entwickelt, der die relative Selbständigkeit des Fortschritts im Gesamtzusammenhang der geschichtlich-gesellschaftlichen Bewegung garantiert. Dieser Begriff mag manchmal so erscheinen, als sei er als ein Gegengift gegen die schlechte Seite' beabsichtigt. In Wirklichkeit ist er aber außerstande, das zu leisten, was Marx als die Krux des traditionellen Konfliktmodells erkannt hat: die Ausschaltung der schlechten Seite' zugunsten der Verwirklichung der ,guten Seite'. Im Gegensatz dazu versteht Marx die .schlechte Seite' so, dass sie sich nur unter spekulativen Voraussetzungen ausmerzen und in den Fortschritt aufheben lässt. Dieses Bewusstsein findet seinen Ausdruck im Fortschritt-im-Gegensatz. Dieser Begriff ist philosophiegeschichtlich gesehen das Kontrastprogramm zum Universalfortschritt im Sinne des Kollektivsingulars und
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des traditionellen Konfliktmodells; hinsichtlich der Bedeutung seiner formalen Dimension ist er das Kontrastprogramm zur vermeintlichen Rettung des Fortschritts durch die Ambivalenztheorie. Betrachten wir ihn nun in seiner Bedeutung als Wertbegriff.
VI Die ethische Dimension: Der Marxsche Fortschrittsbegriff als Wertbegriff
1.
Der Wertbegriff Fortschritt im Rückblick auf den Heilslehrenvorwurf
Das Fortschrittsdenken entsteht am Schnittpunkt von Geschichtsphilosophie und Ethik. Der Begriff Fortschritt bezieht sich auf die Form oder den Charakter der Bewegung des Guten bzw. auf ein Gutes. Diese formale Seite des Fortschritts wurde im letzten Kapitel behandelt. Als bloße Bewegung ist der Fortschritt aber abstrakt und ,leer'. Daher wird er als Wertbegriff mit Vorstellungen von einem erstrebenswerten Guten, letztlich mit Werten oder Idealen, sozusagen aufgefüllt. Das ist die ethische (oder axiologische) Dimension von Fortschritt. Selbstverständlich unterliegt die inhaltliche Bestimmung des Fortschritts - im Gegensatz zu seiner feststehenden Bedeutung als Verbesserung' - aus dem einfachen Grund einem historischen und kulturellen Wandel, weil die Vorstellung vom Guten selbst einem solchen Wandel unterliegt. Was immer wieder neu bestimmt wird ist also genau genommen nicht die Bedeutung der Idealobjektivation Fortschritt (.Verbesserung'), sondern der Sinngehalt dieser Bedeutung, wenn man so will: die Bedeutung der Bedeutung. Die zeitgenössische Fortschrittsdebatte neigt dazu, die formale Seite des Fortschritts zu vernachlässigen. Die Gleichberechtigung der formalen und der axiologischen Dimension des Marxschen Fortschrittsbegriffs ist deshalb ein methodischer Grundsatz dieser Arbeit. Wenn die vorausgegangene Rekonstruktion der formalen Dimension über den Umweg der Gegensatzthematik gewissermaßen als Antwort auf die im zweiten Kapitel dargestellte Ambivalenztheorie gesehen werden kann, so bezieht sich die nun folgende Untersuchung des Wertbegriffs Fortschritts vor allen Dingen auf den im selbigen Kapitel besprochenen Heilslehrenvorwurf. Genauer gesagt geht es darum, auf dem Umweg über die Marxsche Ethik eine Antwort auf die folgende Frage zu finden: Welche Rolle spielt die Projektion idealer Zwecke, die Marx in seiner Kritik am traditionellen Konfliktmodell der Geschichtsentwicklung und des Fortschritts als apriorische
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.Unterschiebung von Lieblingsideen' aufs schärfste kritisiert, in seinem eigenen Denken? Anders ausgedrückt: Lässt sich der besondere Marxsche Fortschrittsbegriff auf ein teleologisches Erklärungsmuster zurückführen, das den Heilslehrenvorwurf gegen die materialistische Geschichtsauffassung bestätigt? Wie die letzten beiden Kapitel gezeigt haben, bildet sich Mitte der 1840er Jahre vor dem Hintergrund einer allmählichen Verschiebung des Forschungsschwerpunktes von der Kritik der Spekulation zur Kritik der politischen Ökonomie ein eigentümliches Marxsches Konfliktmodell von Geschichtsentwicklung und Fortschritt heraus. Im Hinblick auf diese Entwicklung ist die These, die Marxsche Geschichtsauffassung sei der Versuch, die Höherentwicklung des Gattungswesens mittels eines dialektischen Schemas zu begründen, nicht ganz falsch. Sie ist nur viel zu pauschal angelegt. Die Pariser Manuskripte von 1844 enthalten tatsächlich das Programm einer historischen Dialektik, das Marx aber noch im selben Text wieder einschränkt, um es dann im Elend der Philosophie in der Polemik gegen die Übertragung einer ebensolchen Dialektik auf die politische Ökonomie durch Proudhon Stück für Stück zu demontieren. Die materialistische Geschichtsauffassung beinhaltet keine ausgearbeitete Dialektik der Geschichtsentwicklung und des Fortschritts. Trotzdem tendiert Marx bisweilen dazu, Formationssprünge und auch menschheitsgeschichtliche Zusammenhänge nach dem Muster des Konfliktmodells Fortschritt-als-Gegensatz als Aufhebungsstrukturen darzustellen. Am deutlichsten geschieht das wahrscheinlich im berühmt gewordenen Vorwort von 1859, einer Zusammenfassung der Arbeitshypothesen der materialistischen Geschichtsauffassung. Sehr allgemeine Bemerkungen zur Bewegungsform geschichtlicher Entwicklungen finden sich auch im Kapital. Hier ist die Dialektik einmal bloße Methode, an anderer Stelle aber das Bewegungsmuster der fortschrittlichen Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise, die qua „Negation der Negation" zum „Reich der Freiheit" führt (MEGA II/6, 683, MEGA II/15, 794, 795/MEW 23, 791, MEW 25, 828). Es sind Vorstellungen wie diese, auf die sich der Heilslehrenvorwurf stützt. Der Heilslehrenvorwurf erkennt im Fortschrittsbegriff nicht das Vermögen, Entwicklungsstränge zu beurteilen und wertzuschätzen, sondern ausschließlich das fragwürdige Postulat oder das Versprechen einer besseren Zukunft. Diese Verkürzung hat zur Konsequenz, dass Fortschritt so dargestellt wird, als könne er grundsätzlich nur teleologisch gedacht werden - nämlich als die Projektion von Idealzuständen, die für die Zukunft zu realisieren sind. Der speziell gegen Karl Marx gerichtete Heilslehrenvorwurf ist freilich so alt wie die Marxsche Theorie selbst. Erzürnt über den Einfluss des Kreises um Marx auf die Strategie der Ersten Internationalen und über seinen von Marx bewirkten Rausschmiss aus dieser Organisation auf dem Den Haager Kongress von 1872, behauptet schon Bakunin, Marx strebe nach dem „Despotismus" einer ,,privilegierte[n] Minorität" aus „Marxisten" und den ihnen ergebenen Arbeitern. Diese „Diktatur" „wirklicher oder angeblicher Gelehrten" sei umso gefährlicher, als die ,Marxisten' sie als Ausdruck des Volkswillens anpriesen (zit. n. Marx, Konspekt zu Bakunins Buch .Staatlichkeit und Anarchie', MEW 18, 635, 636). Bei Gerhardt findet man diesen Gedanken noch heute: „Der Kom-
DER WERTBEGRIFF FORTSCHRITT IM RÜCKBLICK AUF DEN HEILSLEHRENVORWURF
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munismus ... stellt die weltgeschichtliche Selbstinthronisation der Intellektuellen in Aussicht." (2001, 371) Allerdings richtet sich der Heilslehrenvorwurf meist nicht direkt gegen Marx' politische Ziele. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wird in der Philosophie vor allen Dingen immer wieder die Meinung vertreten, die Marxsche Theorie - oder besser: das, was man für die ihr zugehörige .Theorie der Geschichte' hält - habe gewissermaßen ein epistemologisches Defizit: sie verfüge nicht über einen rationalen Apparat der Analyse und der Erklärung. Statt dessen sei sie eine an die Geschichte gerichtete, auf Sollensforderungen beruhende säkulare Eschatologie. Max Scheler nennt Marx darum einen ,,Glücksprophet[en]", der sich erdreiste, der Geschichte „den Sinn eines Fortschrittes' unterzulegen, die nur von blinder ökonomischer Kausalität bewegt ist. Diese Stimmung übernahm er unbesehen von Hegel, nur daß diese Stimmung bei Hegel wenigstens innerhalb seines Systems berechtigt ist, da ja die göttliche Idee nach ihm sich selbst in der Geschichte entfalten soll" (1919/20, 142). Der Versuch der materialistischen Geschichtsauffassung, die geschichtliche Bewegung unter besonderer Berücksichtigung ökonomischer Faktoren ,kausalistisch' zu erklären, wird also als Ausdruck einer .Stimmung' angesehen, die Marx dazu verleitet, die noch theologisch behaftete absolute Identität von Geschichte und Fortschritt aus der Tradition des Vernunftidealismus zu übernehmen. Dies führe jedoch nicht zur Erkenntnis der Entwicklungsgesetze, sondern Marx trete vielmehr mit einer subjektiven Erwartungshaltung an die Geschichte heran, um diese mit moralischem ,Sinn' aufzufüllen. Nun ist eine Heilslehre - egal, ob sie nun theologischer oder säkularer Natur ist nichts anderes als eine ethische Lehre. Das zeigt sich besonders deutlich in Theodor Lessings Schrift Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, die einen frühen Heilslehrenvorwurf gegen das moderne Geschichtsdenken darstellt. In seiner Zurückweisung aller Bemühung um eine objektive Geschichtsbetrachtung ist Lessing ein regelrechter Wegbereiter der Löwithschen Formel. Als erster habe Vico „die Lehre vom notwendigen Zusammenhang und Fortsachritt in der Zeit als wissenschaftliche Überzeugung" vorgetragen (1927, 71).' Darwin , Hegel und Marx stünden für die verschiedenen, von Vico ausgehende „Irrwege" (ebd., 11). Lessing spricht von „den Formeln des 19. Jahrhunderts: .Geschichte ist die Entwicklung zum idealen Staat' (Kant ); .Geschichte ist das Weltgericht' (Schiller); .Geschichte ist Ethik en marche' (Marx)". (Ebd., 210, Fn. 1) Schließlich hat niemand dem Heilslehrenvorwurf einen größeren Dienst erwiesen als Karl Löwith, der generell in allen Formen des neuzeitlichen Geschichtsdenkens, mit Vorliebe aber in der Marxschen Geschichtsauffassung, nur Varianten der idealen 1
Dieser „Historismus", so Lessing weiter, trete ihm „in drei Verkleidungen ... entgegen: a) als Naturwissenschaft, ausgehend von der Entwicklungslehre Darwins, b) als Geschichtswissenschaft, ausgehend von der Lehre vom .Kulturprozeß' (Hegel), c) als Wirtschaftswissenschaft, ausgehend von der Lehre des historischen Materialismus, der Kapitalisations- und Verelendungstheorie und des dialektischen Prozesses (Marx). Dies sind die drei Masken, die mein Buch entlarvt." (1927, 72).
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D I E ETHISCHE D I M E N S I O N : M A R X ' FORTSCHRITTSBEGRIFF ALS W E R T B E G R I F F
Zwecksetzung sieht, nämlich die Motivation der Gegenwart durch eine causa finalis durch ein Geschichtsziel mit Idealcharakter: „Daß man ein letztes Ziel der Geschichte im großen und ganzen nicht nur erwarten, erhoffen und glauben, sondern auch wissen und philosophisch begreifen könne, ist die These von Hegels Philosophie der Geschichte gewesen. Es ist das aber auch die These des historischen Materialismus von Marx, für den die Wissenschaft von der Geschichte sogar die »einzige' wahre Wissenschaft ist, weil sie alles, was den Menschen angeht, umfasst und ein bestimmtes Ziel und darin ihren Sinn hat: das künftige .Reich der Freiheit', zu dessen Verwirklichung es einer klassenlosen Gesellschaft bedarf." (1967, 33) Dass sich der Fortschrittsgedanke ausschließlich auf die Zukunft orientiere und folglich eine vorhersagende und prophetische Funktion habe, wird auf systematische Weise vielleicht erstmals von Immanuel Kant behauptet (1798, A131f., 351). Die genannten Beispiele unterstreichen, wie stark das heutige Denken über den Fortschritt immer noch von der Voraussetzung der Zukunftsorientierung und von dem Schema der idealen Zwecksetzung geprägt ist. Wie die Bestandsaufnahme der zeitgenössischen Fortschrittskritik im zweiten Kapitel gezeigt hat, ist die Annahme, die ideale Zwecksetzung - die Projektion von Moralvorstellungen - sei der modus operandi allen Fortschrittsdenkens einer der Gründe dafür, dass sich inmitten einer Zeit überschwänglicher Fortschrittsgläubigkeit das Gefühl breit machen konnte, es habe eine allgemeine Ernüchterung hinsichtlich der modernen Fortschrittsidee stattgefunden, da die von ihr versprochenen Inhalte nicht nachhaltig oder jedenfalls nicht moralisch überzeugend verwirklicht werden konnten. Beweist nicht das .extreme', ,katastrophale' usw. 20. Jahrhundert mit seiner eiskalt berechnenden Wissenschaftsgläubigkeit, mit seiner zerstörerischen Technik und seinen ideologisch verblendeten politischen Praktiken, dass das Böse auf den Plan gerufen wird, wenn Menschen versuchen, die guten Ideen zu realisieren, die sie sich als Zweck setzen und also zu Idealen machen? Haben sich diese Ideale nicht allesamt in ihr Gegenteil verkehrt? In dieser pessimistischen Weltsicht sind Gut und Böse auf das engste miteinander verbunden. Nun sind Gut und Böse das zentrale Kategorienpaar der ethischen Wertorientierung. Weil also der Heilslehrenvorwurf dieses Kategorienpaar instrumentalisiert, muss bei dem Versuch, ihn zu entkräften, ein Umweg über die Ethik gemacht werden.
GRUNDZÜGE DER MARXSCHEN ETHIK
2.
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Grundzüge der Marxschen Ethik
Voraussetzung dafür ist freilich die Untersuchung des Verhältnisses zwischen Marxscher Theorie und Moral. Denn insofern die Marxsche Ethik überhaupt stattfindet, findet sie als kritische Auseinandersetzung mit der Moral statt.2 Diese Auseinandersetzung konstituiert meines Erachtens in einem ganz einfachen Sinne eine doppelte Ethik. Damit meine ich, dass die Marxsche Ethik zwei Seiten hat, die sich nicht in ein harmonisches Verhältnis zueinander setzen lassen, die sich sogar widersprechen, und die im Folgenden als deskriptive bzw. präskriptive Seite der doppelten Ethik bezeichnet werden. In der Rezeption der Marxschen Theorie wird dieser Widerspruch schon seit geraumer Zeit wahrgenommen; ernst genommen wird er indessen nicht. Selbst die Existenz der Marxschen Ethik wird bisweilen angezweifelt. Nach Schweppenhäuser „gibt es in der marxschen Theorie keine Ethik". (1997, 875) Es gehe Marx allein um die immanente Kritik der bürgerlichen Gesellschaft. Dass diese Kritik nicht ohne normative Voraussetzungen auskommt, die vom philosophischen Frühwerk bis zur Kritik der politischen Ökonomie zu finden sind, das sei „kein Widerspruch, wie bis heute immer wieder behauptet wird". (Ebd.)3
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Das Adjektiv moralis wird von Cicero als Übersetzung von éthiké gebildet. Die ,Ethik' als Disziplin und Disziplintitel geht auf Aristoteles zurück, der zwischen areté ethiké und arelé dianoethiké („sittliche Tugenden" bzw. „Verstandestugenden") unterscheidet (1985, 1103a 4ff., vgl. 1139a Iff.). In seiner griechischen Bedeutung beschreibt .ethisch' den gewohnten Ort des Wohnens, die Gewohnheit, den Brauch, die Sitte. Aristoteles bezieht sich damit auf das Problem der Legitimation der Sitten und der Institutionen in der Polis: „Das sittlich Gute und das Gerechte ... zeigt solche Gegensätze und solche Unbeständigkeit, daß es scheinen könnte, als ob es nur auf dem Gesetz, nicht auf der Natur beruhe." (Ebd., 1094b 14f.) Die Termini ,Ethik' und ,Moral' wurden in der Philosophie lange Zeit synonym verwendet; so auch bei Kant und Marx, in dessen Theorien die .Ethik' allerdings terminologisch keine besondere Rolle spielt. Wenn Hume von „moral philosophy, or the science of human nature" (1748, 87) spricht, dann wird daran ein noch relativ undifferenzierter Gebrauch des Moralbegriffs deutlich. Zu Humes Zeiten konnte sich das Wort ,Moral' auf Anstandsregeln, auf eine Theorie der Ethik, des Geistes oder des Handelns beziehen. In der heutigen Bedeutung bezeichnet die ,Moral' für gewöhnlich die Gesamtheit der Prinzipien, die das ethische Leben - die Sittlichkeit - regeln. Im Unterschied zur Praxis der Moral, der Sitten und Gebräuche bezeichnet die ,Ethik' die Wissenschaft oder die philosophische Theorie (Moralphilosophie), die diesen Gegenstand behandelt und die gegebenenfalls versucht, selbst verbindliche Regeln aufzustellen und Werte zu begründen. Der Eindruck eines Widerspruchs zwischen nichtnormativer kritischer Theorie und moralisierender Kritik, so Schweppenhäuser weiter, müsse aber unweigerlich entstehen, weil Marx die Hegeische Theorie von der immanenten Widersprüchlichkeit des Bewusstseins der Moralität fortsetze und gewissermaßen materialistisch aufrüste (1997, 876). Nach Hegel fordert die „moralische Weltanschauung" (1807, 442) einerseits beständig die Aufhebung der moralischen Sollensforderung in einen moralischen Seinszustand, gleichzeitig versucht sie sich gegen eben diese Aufhebung zu schützen, indem sie die Sollensforderung verewigt und die Moral damit zur unendlichen Aufgabe stilisiert, die niemals erfüllt sein darf (ebd., 446f.).
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a.
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Marx und die Moral
Immer wieder haben Autoren versucht, eine eindeutige Positionierung Marxens für bzw. wider die Moral herauszuarbeiten, um sich dann selbst auf eine Seite schlagen zu können. Diesen Versuchen liegt demnach immer ein Rekonstruktionsvorhaben zugrunde, das im Kern reduktionistisch ist, weil es entweder die Existenz der moralisierenden Kritik der gegebenen Verhältnisse bestreitet (Immoralismusthese), oder aber einen einheitlichen Marxschen Moralstandpunkt bezüglich eines bestimmten Wertes oder einem Geflecht von Werten herzustellen versucht, da eine solche präskriptive Ethik im Marxschen Werk als ausgearbeitete Lehre nicht existiert. Für die Immoralismusthese spricht zunächst, dass die wissenschaftliche Geisteshaltung in Marx' Augen nicht moralisch motiviert sein darf. Der Wissenschaftler hat, wie Marx selbst formuliert, seinen Gegenstand „stoisch, objektiv, wissenschaftlich" zu erforschen, und er darf auf keinen Fall „sentimental" für den einen oder den anderen Aspekt Partei ergreifen (Manuskript 1861-63, M E G A II/3.3, 771, 768). 4 Der Objektivitätsanspruch des Marxschen Forschungsprogramms hat Geltung auch für die Auseinandersetzung mit der Moral, die dem Wesen nach sicherlich kritisch ist, die aber eben auch deskriptiv und analytisch sein soll. Daraus folgt allerdings nicht zwingend, dass es Marx auch gelingt, sich aus dem moralischen Urteilen ganz herauszuhalten. Dennoch
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Beispielsweise sagt Marx in seiner Verteidigung von Ricardos „wissenschaftlicher Ehrlichkeit": „Ricardo betrachtet mit Recht, für seine Zeit, die capitalistische Productionsweise als die vortheilhafteste zur Erzeugung des Reichthums. Er will die Production der Production halber und dies ist Recht. Wollte man behaupten, wie es sentimentale Gegner Ricardo's gethan haben, daß die Production nicht als solche der Zweck sei, so vergißt man daß Production um der Production halber nichts heißt als Entwicklung der menschlichen Productivkräfte, also Entwicklung des Reichthums der menschlichen Natur als Selbstzweck. Stellt man, wie Sismondi, das Wohl des Einzelnen diesem Zweck gegenüber, so behauptet man, daß die Entwicklung der Gattung aufgehalten werden muß, um das Wohl des Einzelnen zu sichern; daß also z. B. kein Krieg geführt werden dürfte, worin Einzelne jedenfalls kaputtgehen ... Daß diese Entwicklung der Fähigkeiten der Gattung Mensch, obgleich sie sich zunächst auf Kosten der Mehrzahl der Menschenindividuen und ganzer Menschenklassen macht, schließlich diesen Antagonismus durchbricht und zusammenfällt mit der Entwicklung des einzelnen Individuums, daß also die höhre Entwicklung der Individualität nur durch einen historischen Proceß erkauft wird, worin die Individuen geopfert werden, wird nicht verstanden [...] Die Rücksichtslosigkeit Ricardo's war also nicht nur wissenschaftlich ehrlich, sondern wissenschaftlich geboten für seinen Standpunkt. Es ist ihm aber deßhalb auch ganz gleichgültig ob die Fortentwicklung der Productivkräfte Grundeigenthum todtschlägt oder Arbeiter [...] Einen Menschen aber, der die Wissenschaft einem nicht aus ihr selbst (wie irrthümlich sie immer sein mag), sondern von aussen, ihr fremden, äußerlichen Interesse entlehnten Standpunkt zu accomodiren sucht, nenne ich ,gemein'. Es ist nicht gemein, von Ricardo, wenn er den Proletarier der Machinerie oder dem Lastvieh oder der Waare gleichsetzt, weil es der production' (von seinem Standpunkt aus) befördert, dass sie blos Machinerie oder Lastvieh oder weil sie wirklich blos Waaren in der bürgerlichen Production seien. Es ist dieß stoisch, objektiv, wissenschaftlich. So weit es ohne Sünde gegen seine Wissenschaft geschehn kann, ist R. immer Philanthrop, wie er es auch in der Praxis war." (Manuskript 1861-63, MEGA II/3.3, 768 - 771)
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sollte der metanormative Anspruch der Marxschen Theorie grundsätzlich ernst genommen werden. Freilich führt Marx' anthropologische Frühphase mit der Bestimmung der authentischen Menschlichkeit als nichtentfremdetes Gattungswesen zur normativen Kritik von Philosophie und Gesellschaft. Für den jungen Marx besteht das Dilemma darin, dass die Philosophie ihre Inhalte nicht verwirklichen und daher das Bewusstsein nicht reformieren kann. Zwar führe die bürgerliche Revolution zur rechtlichen Anerkennung der Bürger als freie und gleiche Personen; nur bleibt diese Anerkennung aufgrund der herrschenden ökonomischen Bedingungen rein formelles Recht. In der anthropologischen Bestimmung des menschlichen Wesens deutet sich dann auch die Hoffnung auf eine, wie Engels im Anti-Diihring formuliert, „wirklich menschliche Moral" auf einer zukünftigen „Gesellschaftsstufe" an (MEGA 1/27, 295/MEW 20, 88). Allerdings stimmt der junge Marx mit Hegel darin überein, dass das Sein nicht unter das Sollen subsumiert und also a priori vorausgesetzt werden darf, sondern dass „aus den eigenen Formen der existirenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren Endzweck" zu entwickeln ist (Brief an Ruge, MEGA 1/2, 487/MEW 1, 345). Das Sollen bezieht seine Kraft gewissermaßen daraus, dass es im Sein angelegt ist. Um die Mitte der 1840er Jahre verschiebt sich jedoch auch die Sichtweise auf die Moral: Die Frage nach dem Sollen und damit verwandte Begriffe (wie das Ideal etc.) werden jetzt kritischer betrachtet. Mit dem IdeologiebegrifT rückt die funktionale Analyse der bestehenden Moralsysteme in den Vordergrund. Problematisch ist nur, dass die normative Gesellschaftskritik damit keineswegs verschwindet. Der Begriff, der in der Marxschen Ethik am häufigsten Verwendung findet, ist die ,Moral'. Allerdings hat es den Anschein, als werde die ,Moral' (die ,Moralität' sowieso) in Marx' Sprachgebrauch ab Mitte der 1840er Jahre seltener. Bemerkungen zur Moral tauchen jetzt fast nur noch in Zitaten auf (Elend der Philosophie, MEW 4, 100, 115, 165, 176; Kapital, MEGA II/6, 257, 450, 470, 473/MEW 23, 267, 493, 517, 522); oder sie finden sich lediglich am Rand, in Fußnoten (MEGA II/6, 120, Fn. 49, 400, Fn. 163/MEW 23, 107, Fn. 49, 434, Fn. 163); und auch hier oft wieder nur in Zitaten (ebd., 236, Fn. 32, 280, Fn. 131, 431, Fn. 226/242, Fn. 32, 294, Fn. 131, 471, Fn. 226). Damit soll nicht gesagt sein, dass Marx das Wort ,Moral' ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr in den Mund nehmen will, sondern lediglich, dass das Thema Moral möglicherweise aufgrund der ausführlicheren Behandlung der ideologischen Bewusstseinsformen in der Deutschen Ideologie als erledigt angesehen und darum beiseite gelegt wird oder zumindest zunehmend in Vergessenheit gerät. Mit ,Moral' meint Marx das, was Hegel unter dem Begriff der Sittlichkeit vereint, nämlich die Gesamtheit der Regeln, nach denen sich das ethische Leben einer Gesellschaft richtet, und weniger die subjektive Moralität. Bei Hegel ist die Sittlichkeit die Versöhnung von Recht (die bloß formale Regelung des Allgemeinen an sich) und Moral (die praktische Vernunft als leerer subjektiver Wille: „moralische[r] Standpunkt", „Standpunkt des Willens") (Hegel 1821, 203).
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„Die Einheit des subjektiven und des objektiven an und für sich seienden Guten ist die Sittlichkeit, und in ihr ist dem Begriffe nach die Versöhnung geschehen. Denn wenn die Moralität die Form des Willens überhaupt nach der Seite der Subjektivität ist, so ist die Sittlichkeit nicht bloß die subjektive Form und die Selbstbestimmung des Willens, sondern das, ihren Begriff, nämlich die Freiheit zum Inhalte zu haben. Das Rechtliche [Gesetz] und das Moralische [subjektiver Wille] kann nicht für sich existieren, und sie müssen das Sittliche zum Träger und zur Grundlage haben, denn dem Rechte fehlt das Moment der Subjektivität, das die Moral wiederum für sich allein hat, und so haben beide Momente für sich keine Wirklichkeit." (Ebd., 290f.) Diese Wirklichkeit erhalten Recht und Moral nämlich erst im Staat. Der Staat konkret und allgemein zugleich - ist gewissermaßen der Körper oder die existentielle Grundlage der Sittlichkeit: „Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee" (Hegel, zit. n. Marx, Zur Kritik des Hegeischen Staatsrechts, MEGA 1/2, 112/MEW 1, 307). Diesen Gedanken hält Marx für außerordentlich wichtig: „Man hat Hegel vielfach angegriffen über seine Entwicklung der Moral. Er hat nichts gethan als die Moral des modernen Staats und des modernen Privatrechts entwickelt. Man hat die Moral mehr vom Staat trennen, sie mehr emancipieren wollen! Was hat man damit bewiesen? Daß die Trennung des jetzigen Staats von der Moral moralisch ist, daß die Moral unstaatlich und der Staat unmoralisch ist. Es ist vielmehr ein grosses, obgleich nach der Seite hin (nämlich nach der Seite hin, daß Hegel den Staat ... für die reale Idee der Sittlichkeit ausgibt) unbewußtes Verdienst Hegels, der modernen Moral ihre wahre Stellung angewiesen zu haben." (Ebd., 118/313) Wenn die Moral bei Marx also im Sinne von Sittlichkeit als ein vorgefundenes gesellschaftliches Wertesystem zu verstehen ist, dann ist freilich der subjektive .moralische Standpunkt' (die persönliche Wertorientierung im Bereich des Handelns) durchaus auch in diesem Begriff enthalten. Die strenge Auseinanderhaltung von Moralität und Sittlichkeit, ein Merkmal von Hegels Kantkritik, scheint es demnach bei Marx nicht mehr zu geben. Dass Hegels konkrete Verankerung der Moral in Staat und Gesellschaft von Marx als ein theoretischer Fortschritt aufgefasst wird, ist bereits der erste Schritt auf dem Weg zur Interdependenz von Moral und Interesse, die charakteristisch für die Marxsche Moralauffassung ist, und die schließlich zum Ideologiebegriff als dem Herzstück dieser Moralauffassung führt. Allerdings wäre es sicherlich falsch zu behaupten, Marx betrachte die Moralität nicht unter geläufigen philosophischen Gesichtspunkten. Zwar stellt er nirgendwo explizit die Frage nach der Natur und dem Inhalt des Guten; auch bestreitet er vehement, eigene Vorstellungen vom Guten als verbindliche Normen setzen zu wollen. Dennoch unterscheidet sich die Marxsche Theorie zumindest in einem Punkt nicht von der traditionellen Ethik: in gewisser Weise sucht auch sie nach den Mechanismen, durch welche die obersten Prinzipien und Leitlinien des für gut befundenen Handelns festgelegt
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werden. Allein, Kants strenger Unterteilung der Ethik - den alten Griechen folgend unterteilt Kant die Philosophie in formale Logik und materiale Ethik und Physik, wovon die letzten beiden jeweils in einen empirischen und einen gegensätzlichen reinen Bereich auseinander fallen - kann Marx' Moralauffassung schon deshalb nicht standhalten, weil sie ,unrein' ist. Schließlich richtet sie sich nach bestehenden Werten und bestehenden Moralsystemen. Sie befasst sich also nicht, „von allem Empirischen sorgfältig gesäubert" (Kant 1785, A388, 5), wie es das Reinheitsgebot der Metaphysik der Sitten verlangt, mit der deontologischen (von griechisch dei, ,man muss') Grundlegung einer auf apriorisch gegebenen Prinzipien begründeten rationalen Moral. Nach der Kantischen Einteilung wären Marx' Ausführungen über Moral also bestenfalls dem ,,empirische[n] Teil" der Ethik zuzuordnen, der „praktische[n] Anthropologie" (ebd., A388, 4f.), und die hat sich um den rationalen Teil der Ethik, um die eigentliche' Moral, die es dieser Anthropologie Kant zufolge vorauszuschicken gilt, nicht zu kümmern. Nach meiner Überzeugung, sollte heutzutage an der Marxschen Ethik vor allem das hervorgehoben werden, wodurch sie sich von der Kantischen Ethik unterscheidet. Neuerdings wird ja wieder verstärkt versucht, Kant und Marx bei ihrem ,Epochengespräch' zu belauschen (Negt 2005, 6ff., 44ff., 73) oder vermeintliche .Bewegungen' von dem einen zum anderen nachzuvollziehen (Howard 2006, 10f., 15, 50). Dabei ist die Kantische Ethik in der Tat - der Klischeevorstellung entsprechend - eine von den Lebensumständen der Menschen doch eher abgehobene Angelegenheit. Im krassen Gegensatz dazu bildet die Subjektivität der sich in den gesellschaftlichen Konfliktverhältnissen gegenüberstehenden Gruppen die Grundlage der Marxschen Ethik. An der Moral interessiert Marx im Besonderen ihre Bindung an das praktische Interesse einzelner Klassen sowie ihre ideologische Funktion in diesen historisch gewachsenen Verhältnissen. Wenn Kant die Willensfreiheit zum obersten Prinzip der Moral erklärt, so kann man mit einigem Recht davon sprechen, dass Marx das Interesse als das bestimmende Prinzip der Moral auserkoren hat. Das gilt für beide Seiten seiner doppelten Ethik: 1.) Die nicht-normative, deskriptive Seite der doppelten Ethik nenne ich Moralauffassung. Marx analysiert die historisch gewachsenen gesellschaftlichen Moralsysteme als ideologische Phänomene. Es geht also nicht um die Festlegung des Guten, sondern darum, die Umstände zu erklären, unter denen eine Handlung oder eine Gesinnung als ,gut' bewertet wird. Die Marxsche Moralauffassung präsentiert sich zudem als eine dezidierte Absage an moralische Stellungnahmen im Rahmen der wissenschaftlichen Forschung. Hier besteht freilich die Gefahr, dass die Moral im Sinne eines eliminativen Emotivismus zum bloßen Ausdruck subjektiver Gefühle herabgesetzt wird (wie es typischerweise Rudolf Carnap getan hat). Aber es gibt eine Möglichkeit diese Gefahr zu umgehen. Ich werde die deskriptive Marxsche Ethik in die Nähe von Moritz Schlicks Konzeption der Ethik als ,Tatsachenwissenschaft' rücken. Durch diesen Vergleich lässt sich eine Verschiebung der Problemstellung weg vom Moralimperativ der traditionellen Ethiken bewirken. Nicht Kants Frage nach dem praktischen Vernunftinteresse ,Was soll ich tun?' steht für diese Ethik im Vordergrund, sondern die Fragen: Wie stellt sich das moralische Verhalten der Menschen tatsächlich dar? Warum stellt es sich so dar?
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2.) Die präskriptive, evaluative Seite der doppelten Ethik bezeichne ich als moralisierende Kritik. Die Kritik des Bestehenden im Namen eines höheren Sollens ist Marx zweifellos ein Gräuel. Damit ist aber nicht gesagt, dass es ihm auch gelingt, sich dieser Kritik zu enthalten. Wie ich zeigen werde, hat die Marxsche Theorie ein besonderes Interesse an der Idee der Selbstbetätigung. Die Realisierung dieser Idee beinhaltet in der Tat die Vorstellung von einer besseren Zukunft. Allerdings ist fraglich, ob die moralisierende Kritik als ein geordnetes System dargestellt werden kann, oder ob von ihr als einem systematischen Beitrag zur Moralphilosophie gesprochen werden kann. Marx setzt dem ideologischen Moralsystem zwar bestimmte Werte entgegen, die vielleicht sogar Idealcharakter haben, aber dies geschieht nicht auf gewöhnliche Weise als Setzung eines Pflichtgebots, sondern als Bereitstellung einer Alternative zur etablierten Wirtschaftsordnung. Mit dieser Unterscheidung zwischen deskriptiver Seite (Moralauffassung) und präskriptiver Seite (moralisierende Kritik) innerhalb der Marxschen Kritik halte ich mich an die gängige Praxis, normative und metanormative Theorien auseinander zu halten. Erstere legen selbst fest, was wertvoll und gut ist, während letztere das Wesen der Werte analysieren und keine eigenen moralischen Werturteile aussprechen. Ich argumentiere, dass die Marxsche Moralauffassung bemüht ist, mit beiden Beinen fest auf dem Boden der metanormativen Theorie zu stehen, wobei ich mich hauptsächlich auf die fragmentarisch gebliebene Deutsche Ideologie stütze. Der von Leist angeprangerte „Mythos der Ideologiekritik" - das Paradoxon, dass die Ideologiekritik einerseits den Anspruch erhebt, eine nicht-normative Methode zu sein, aber gleichzeitig normativ bedeutsame Resultate liefern will - bereitet meiner Argumentation keine größeren Schwierigkeiten, weil ich (genauso wenig wie Leist) davon ausgehe, dass Marx mit seiner ideologiekritischen Moralauffassung in erster Linie einen normativen „kritischen Effekt" ( 1 9 8 6 , 59) erzielen will. Das Ziel seiner Analyse der moralischen Ideologie ist die Erlangung von funktionaler Erkenntnis. Man könnte auch von einer Selbstverständigung über den Spielraum und die relative Gebundenheit des Bewusstseins sprechen - in Auseinandersetzung mit der Hegelianischen Tradition der Philosophie, die für Marx' Geschmack eine völlig überzogene Vorstellung von der Macht des Bewusstseins hat. Dass die so gewonnene Moralauffassung darüber hinaus eine normative Messlatte anlegt, indem sie die bestehende Moral nicht nur als Ideologie begreift, sondern sie auch verurteilt, das kann man - einen entsprechenden Begriff von Kritik vorausgesetzt - als den performativen Widerspruch deuten, den Leist anspricht. Trotzdem bezieht sich der .Widerspruch' der doppelten Marxschen Ethik, auf den ich abhebe, nicht auf die innere Kohärenz der Ideologiekritik, sondern er bezeichnet den Graben zwischen Marx' rein deskriptiver Moralauffassung und seiner präskriptiven, moralisierenden Kritik. Die moralisierende Kritik kann in gewissem Maße durchaus als ideale Zwecksetzung bezeichnet werden, weshalb sie von erheblicher Relevanz für Marx' Verständnis vom historischen Fortschritt ist. Nur findet die moralisierende Kritik nicht im Rahmen der Bestimmung der Moral als Ideologie (Moralauffassung) statt und lässt sich auch nicht mit dieser versöhnen. Wir haben es mit zwei verschiedenen ethischen Betätigungsfeldern zu tun. Es mag ein Leichtes sein, Marxsche Moralvorstellungen aufzulisten, aber solche Aufzählungen
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beweisen keineswegs, dass Marx einen einheitlichen ethischen Standpunkt vertritt. Ganz zum Schluss dieses Kapitels werde ich jedoch die Besonderheiten der doppelten Ethik noch einmal rekapitulieren und in den größeren Zusammenhang der heteronomen Ethik stellen. Auf diese Weise führe ich ein versöhnliches Element ein, das den Widerspruch zwischen den beiden ethischen Betätigungsfeldern relativiert und gleichzeitig deutlich macht, worin die praktische Verbindung zwischen Ethik und Fortschritt besteht.
b.
Ein Widerspruch und der Versuch, ihn aufzulösen
Die Deutsche Ideologie behauptet: „Die Kommunisten predigen überhaupt keine Moral ... Sie stellen nicht die moralische Forderung an die Menschen: Liebet Euch untereinander, seid keine Egoisten pp." (MEW 3, 229) Ganz ähnlich das Manifest: „[Die Kommunisten] stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen. [...] Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind." (MEW 4, 474) Moralische Forderungen scheinen Marx und Engels grundsätzlich etwas Verdächtiges und wissenschaftlich Überholtes zu sein. Man denke nur an die Aussage, die wissenschaftlichen Entdeckungen hätten „aller Moral ... den Stab gebrochen" (Deutsche Ideologie, MEW 3, 404). Die Philosophisch-ökonomischen Manuskripte sprechen höhnisch von der „Gefahr ... der vollendeten reinen Moral" (MEGA 1/2, 381/MEW Ergänzungsband, 1. Teil, 528), vor der sich Gesellschaften vergeblich zu schützen versuchen. Dem widerspricht ganz offensichtlich der selbstsicheren Kommunisten wiederholte Bemängelung der bürgerlichen Verhältnisse, namentlich der Ausbeutung und der Armut, sowie der intellektuellen und kulturellen Verkümmerung der arbeitenden Menschen. Diese Kritik befindet sich oft in unmittelbarer Nähe zur Bekundung, man betreibe wertfreie Wissenschaft. Um nur ein Beispiel zu nennen: „Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose ,bare Zahlung'. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt." {Manifest, MEW 4, 464f.)
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Um Missverständnissen vorzubeugen setzen Marx und Engels dem voraus, dass die Bourgeoisie „eine höchst revolutionäre Rolle gespielt" (ebd., 464) hat, dass also dem Vergangenen keineswegs nachgetrauert werden soll. Da allerdings das Bürgertum seinen Part jetzt .unbarmherzig',,gefühllos', .egoistisch' und .gewissenlos' spielt, werden hier ganz offensichtlich Werturteile gefällt - wird moralisierende Kritik betrieben. Beim Lesen der Sekundärliteratur zu diesem Thema bekommt man schnell den Eindruck, es handele sich bei diesem Widerspruch zwischen nicht-normativem Anspruch und moralisch motivierter Gesellschaftskritik um ein Problem, welches unbedingt aus der Welt geschafft werden müsse. Seit Jahrzehnten plagt es die Gelehrten.5 Immer wieder versuchen sie, diesen Widerspruch aufzulösen, um Marx als systematischen Denker auftreten lassen zu können. Für die Marxisten musste er schließlich entweder ein konsequenter Moralist oder ein konsequenter Immoralist sein; für Popper , Löwith und den anderen Vertretern des Heilslehrenvorwurfs gegen den Marxismus ist er notwendigerweise der ,Prophet', der, durch eine tiefe Empörung über das Bestehende motiviert, eine bessere Zukunftsgesellschaft heraufbeschwört. Der Reiz der Marxschen Theorie, so muss dieser Gedanke verstanden werden, liegt nicht in ihrer Erkenntnisleistung (in ihrem Vermögen, bestimmte Entwicklungen zu erklären), sondern in ihrer moralischen Perspektive. So ist das Kapital für Popper „weitgehend eine Abhandlung über Sozialethik" (1970, 244). Obgleich Marx „jeden Versuch einer moralischen Rechtfertigung der sozialistischen Ziele nachdrücklich ablehnte", ist seine Verurteilung des Kapitalismus dennoch „im Grunde ein moralisches Urteil". (Ebd., 243) Es gibt also zwei verschiedene Varianten des Rekonstruktionsanliegens: die moralistische und die immoralistische. Eine gründliche Fassung der Immoralismus-These findet sich in einem Aufsatz von Allen Wood. Wood begnügt sich zunächst damit, die beiden widersprüchlichen Seiten der doppelten Ethik festzuhalten. Marx' Schweigen zu ethischen Belangen sei kein Ausdruck von Gleichgültigkeit, sondern es gründe vielmehr „auf einer Einstellung offener und dezidierter Feindschaft gegenüber moralischen Theorien, moralischen Werten und Auffassungen der Sozialkritik, ja gegenüber der Moral selber". (1986, 19) Trotzdem sei Marx freilich alles andere als ein neutraler Betrachter, was sich direkt in ganz bestimmten Wertvorstellungen niederschlage: „Ganz offenkundig betrachtet Marx gesellschaftliche Wohlfahrt, wirtschaftliche Sicherheit, menschliche Freiheit, die ungehinderte und volle Entfaltung menschlicher Fähigkeiten, die Kooperation und Solidarität der Arbeitenden als unbestreitbares Gut; Armut, Krankheit, Unterdrückung, Unwissenheit, Ausbeutung und Entfremdung als klares Übel." (Ebd., 21)6 5
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Während des Kalten Krieges wurde die Thematik neu aufbereitet: als Streitgespräch zwischen dem Marxismus und denen, die vor weltlichem Messianismus und den totalitären Zielen des ,Historizismus' warnen. Die Frage, ob Marx dem Sozialismus nur eine wertfreie Wissenschaft oder zusätzlich sogar eine Ethik geschenkt hat, war ja schon gegen Ende des vorletzten Jahrhunderts innerhalb der 2. Internationalen ausgiebig debattiert worden. Siehe dazu: Marxismus und Ethik. Texte zum neukantischen Sozialismus, herausgegeben von Hans Jörg Sandkühler und Rafael de la Vega, 1974. Gewisse Marxsche Ansichten, die besser zum moralischen Horizont der Viktorianischen Epoche passen, verschweigt Wood indessen. Dazu gehören eine Abneigung gegen bestimmte Formen
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Da dieser Wertekatalog ganz offensichtlich mit der Immoralismus-These konfligiert, siedelt Wood ihn geschickt „außerhalb der ,Moral'" (ebd.) an, und macht so die Auflösung des Widerspruchs nach der Seite des Immoralismus perfekt. Das Problem mit dieser Argumentation ist nur, dass die Einforderung von Freiheit, Wohlfahrt, Sicherheit so lobenswert ist wie sie gehaltlos ist, weil sie sich fast jedem Menschen zuordnen lässt. Wir erfahren nur wenig über den moralischen Horizont einer Person, die solche Werte befürwortet, unabhängig davon, ob diese nun als ,moralisch' eingestuft werden oder nicht. Bei genauerem Hinsehen entpuppen sie sich als die Worthülsen, zu denen sie heutzutage zunehmend gemacht werden - wenn sie nicht bereits vor 150 Jahren Worthülsen waren. Genau das scheint Marx in seiner Kritik des Gothaer Programms am Beispiel des Freiheitsbegriffs anzudeuten: „Freier Staat - was ist das?" (MEGA 1/25, 21/MEW 19, 27) ,„Freiheit der Wissenschaft' lautet ein Paragraph der preussischen Verfassung. Warum also hier?" (Ebd., 24/31) ,„GewissensfreiheitV Wollte man zu dieser Zeit des Kulturkampfs dem Liberalismus seine alten Stichworte zu Gemüth führen, so konnte es doch nur in dieser Form geschehn" (ebd.).7 Wer ist nicht für Wohlfahrt, Sicherheit und Freiheit? Gibt es irgendwo auf der Welt nennenswerte Gruppen von Menschen, die Armut, Krankheit, Knechtschaft und dergleichen positiv wertschätzen? Es ist ethisch kaum relevant, ob man sich der Moral mit Werten entziehen kann, die ,außerhalb der Moral' stehen. Die Frage Welche Werte sollen Geltung haben? wird nicht existenziell für oder wider die Moral entschieden. Eine viel wichtigere Frage betrifft die Möglichkeit der Verwechslung von Gut und Böse, die schon Epikur thematisiert: „Niemand erblickt ein Übel und wählt es dennoch, sondern man wird von ihm geködert als sei es ein Gut." (2001, 83)8
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der ,,sittenwidrig[en]" Frauenarbeit, die Befürwortung der Kinderarbeit (deren Abschaffung unter gegebenen Bedingungen „reaktionär" sei), sowie der Gefángnisarbeit als „einziges Besserungsmittel" von Verbrechern (Kritik des Gothaer Programms, MEGA 1/25, 24f.). Jüngst hat Simon Blackburn darauf hingewiesen, dass das Wort „Freiheit" dehnbar genug, um alle möglichen Ziele abzudecken: „freedom of economic activity is compromised in order to bring about freedom from economic disadvantage; freedom of association is compromised in order to bring about freedom from tension and hatred. Almost any positive good can be described in terms of freedom from something. Health is freedom from disease; happiness is a life free from flaws and miseries; equality is freedom from advantage and disadvantage. The word is itself available to everyone" (2003, 82f.). In The Adventures of Huckleberry Finn behandelt Mark Twain dieses Problem auf höchst unterhaltsame Weise im Rahmen einer umfassenden Darstellung der Prägung der Moral eines Einzelnen durch sein kulturelles Umfeld. Huckleberrys Hilfeleistung für den entlaufenen Sklaven Jim ist mit den Konventionen der Südstaatengesellschaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht vereinbar. Ja, Huckleberrys ganzer ,unzivilisierter' Lebenswandel ist ein Affront gegen das, was von seiner Umgebung für richtig befunden wird, so dass er schließlich selbst an der Richtigkeit seines Handelns zu zweifeln beginnt. Immer häufiger wird er von seinem schlechten Gewissen geplagt und schließlich beinahe von einem als Tugend verkleideten Bösen geködert. Gemeinsam bewahren die Bereitschaft zu lügen und gute Erinnerungen an die Zeit mit Jim Huckleberry in der entscheidenden Situation davor, seinen Freund zu verraten.
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Das Bedürfnis, Marx in ein eindeutiges Verhältnis zur Moral zu setzen, gilt auch für die zweite Variante des Rekonstruktionsanliegens, die von der These ausgeht, die Marxsche Theorie sei eine beabsichtigte moralisierende Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft. Ein gutes Beispiel ist Nielsen, der ähnlich wie Wood das Dilemma der doppelten Ethik auf der Ebene des existenziellen Wesens der Werte aufzulösen versucht - allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Er stellt eine Liste von Werten zusammen, die auch Marxisten vertreten können, denn diesmal handelt es sich zwar um „moral beliefs", aber von der Sorte „non-ideological" (1989, 34). Seltsam nur, dass sie den von Wood genannten Werten - die ja gegensätzlicher, nicht-moralischer Natur sein sollen so ähnlich sind: „1. Pleasure is good. 2. Health is good. 3. Freedom is good. 4. Servitude is bad. 5. Suffering is bad." (1989, 34f.)9 Ich möchte jetzt ausführlicher auf Marco Iorios Interpretation von Marx' Verhältnis zur Moral eingehen. In Karl Marx - Geschichte, Gesellschaft, Politik (2003) registriert Iorio zunächst den widersprüchlichen Charakter der Marxschen Auseinandersetzung mit der Moral und wirft dann die Frage auf, woher die ,Empörung' eines Denkers rühre, der nach eigenen Angaben an moralischer Kritik nicht interessiert ist. Sich auf die Deutsche Ideologie stützend stellt Iorio dann fest, dass Marx die Moral als eine überbauliche Bewusstseinsform versteht, die als solche keine eigene Geschichte haben könne. Die Bewusstseinsformen seien schließlich abhängig von der jeweils herrschenden ökonomischen Gesellschaftsform und würden von dieser auch reproduziert. Folglich sei es kaum verwunderlich, wenn sich die vorherrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen mit dem kapitalistischen Wirtschaftsprozess decken. Es gehe daher nicht an, dass Marx sich angesichts dieses Umstands über den moralischen Überbau der zu stürzenden Verhältnisse „moralisch empört" (2003, 265). Marx leide an einem klassischen Selbstanwendungsproblem: Wenn alle Theorie in letzter Instanz ein ideologischer Ausdruck des Bestehenden ist, „dann gilt dies freilich auch für die Theorie von Marx, die eben besagt, dass alle Theorie nur Reflex der bestehenden Verhältnisse sei". (Ebd., 266) Auf diese Weise bringt das Selbstanwendungsproblem den Widerspruch innerhalb der Marxschen Ethik auf den Punkt. Für Iorio ist darum die Überwindung des Selbstan-
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Hier zeigt sich, dass es sinnlos ist, Güter zu verabsolutieren, die sich auf die natürliche Verfassung des Menschen beziehen, solange keine bestimmte Wahl- oder Entscheidungssituation angesprochen ist. Warum sollte die Lust ein allgemeines Moralkriterium sein, wenn es doch die Nämliche ist, die der Triebtäter verspürt? Nicht einmal der durchaus einleuchtende Gedanke, unsere moralischen Vorstellungen hätten etwas mit Lust und Unlust als Wertmesser zu tun - und ließen sich möglicherweise nicht unabhängig von dieser Erfahrung begründen - lässt den Schluss zu, die Lust sei, wie die Utilitaristen behaupten, per se gut. G. E. Moore hat die Verbindung der seiner Ansicht nach undefinierbaren Eigenschaft ,gut' mit .natürlichen' Eigenschaften (Lust, Gesundheit, etc.) sogar als naturalistic fallacy bezeichnet. Sie führe nämlich unweigerlich zu tautologischen Sätzen (aus ,Lust ist gut' wird ,gut ist gut', usw.). Es mag sogar zutreffen, dass Lust gut ist, aber eben nicht per Definition (1993, 58, 62). Moores These ist umstritten, aber wir erkennen daran immerhin, dass eine Frage der Form Ist Lust gut? eine offene Frage ist. Offen bleibt, wie bei meinem Beispiel, ob das, was die Lust maximiert, ebenso gut ist wie die Lust selbst angeblich ist.
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Wendungsproblems die Lösung des Widerspruchs. Doch zunächst macht er mit Hilfe des Selbstanwendungsproblems aus diesem Widerspruch zwischen zwei verschiedenen ethischen Betätigungsfeldern ein erkenntnistheoretisches Problem: Wie kann sich Marx angesichts seiner eigenen Prämisse der Abhängigkeit der Moral von fundamentaleren Verhältnissen kritisch zu bestehenden Moralvorstellungen verhalten, ja, sich sogar von ihnen distanzieren? Wahrscheinlich soll - Iorio ist hier etwas ungenau - das diagnostizierte Selbstanwendungsproblem gleich doppelt verheerend wirken: Die Annahme, alle Theorie sei ideologisch, soll beide Seiten des Widerspruchs - die deskriptive Moralauffassung und den präskriptiven moralischen Stanpunkt (die ,Empörung') - in Frage stellen. Deshalb ist es im Vorgriff auf folgende Betrachtungen lohnenswert, sich zuerst Iorios These anzunehmen, es gehe Marx tatsächlich um so etwas wie Empörung. Die Empörung bezeichnet ja ein Sich-Erheben über vorgefundene Gegebenheiten. Sie drückt also den Wunsch aus, der eigenen Zeit durchaus auch in einem moralischen Sinne voraus das heißt: unzeitgemäß - zu sein. Ein solches epochales Bewusstsein oder Gefühl, in einer bedeutungsschweren Zeit des Umbruchs zu leben, findet sich auch beim jungen Linkshegelianer Marx. Im Mai 1843 schreibt er an Ruge: „Laßt die Toten ihre Toten begraben und beklagen. Dagegen ist es besonders beneidenswert, die ersten zu sein, die lebendig ins neue Leben eingehen; dies soll unser Los sein." Aber Marx schreibt bereits zu dieser Zeit: „Es ist wahr, die alte Welt gehört dem Philister. Aber wir dürfen ihn nicht wie einen Popanz behandeln, von dem man sich ängstig wegwendet. Wir müssen ihn vielmehr genau ins Auge fassen." (MEGA 1/2, 475/MEW 1, 338) Kritik bedeutet demnach nicht ein Hinausgehen über das Bestehende aus moralischen Gründen, sondern eine Annäherung an die Welt wie sie ist. Insofern Marx sich tatsächlich sein Leben lang über die Verhältnisse und einzelne Personen empört (Bürgerliche schlechthin als Philister beschimpft), unterläuft er natürlich seinen Anspruch auf .stoische', ,objektive' Wissenschaftlichkeit. Daraus mag man folgern können, dass die Marxsche Moralkritik inkonsequent durchgeführt wird, nicht aber, dass sie aus epistemologischen Gründen unmöglich ist (Selbstanwendungsproblem). Marx schreibt bewusst für die Zeit, in der er lebt. Er hat für seine Arbeit nicht die Unzeitmäßigkeit eines Nietzsche im Sinn. Iorios Behauptung, Marx habe die Absicht, „eine Theorie des Anderen bzw. eine Theorie einer anderen, nämlich kommunistischen Zukunft" (2003, 266) zu entwerfen, ist deshalb nicht richtig. Marx' Arbeitsgebiet ist die Kritik der politischen Ökonomie, und auf diesem Weg versucht er, den inneren Zusammenhang der bürgerlichen Ordnung zu erfassen. Im Kern entspricht seine Vorgehensweise doch Hegels Verdikt aus der Vorrede zur Philosophie des Rechts, die Philosophie sei ihre Zeit in Gedanken gefasst. - Einmal ganz davon abgesehen, dass sie sowieso immer ,zu spät' komme, um die Welt auch noch darüber zu belehren wie sie sein solle. An diesem Anspruch muss auch die Marxsche Theorie gemessen werden. Iorio beabsichtigt indessen, das von ihm postulierte Selbstanwendungsproblem der Marxschen Kritik aus dem Weg zu schaffen, um die Marxsche Moral als eine in sich schlüssige Einheit rekonstruieren zu können. Zu diesem Zweck führt er den Gedanken ein, Marx sei kein „pauschaler", sondern ein „punktueller" Kritiker der Moral auf
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moralischer Grundlage (ebd., 281): Das heißt, er kritisiere Aussagen darüber, warum das, was ist auch sein soll nicht von einem wissenschaftlichen (rein deskriptiven, wertneutralen, nicht-ideologischen) Standpunkt aus, sondern er vertrete statt dessen eigene Vorstellungen vom Sollen. So entkommt der Moralist Marx in Iorios Darstellung der Falle des Selbstanwendungsproblems, die sich der Moralkritiker Marx mit seinem absoluten Ideologiebegriff (der nicht-ideologische Stellungnahmen angeblich unmöglich macht) selbst gestellt hat. Das Resultat sei der „Umwerter" Marx (ebd., 285), der der Gegenwart eine Moral der Zukunft entgegenstellt. Dieser letzte Schritt von Iorios Rekonstruktion der Marxschen Ethik beginnt mit einer kurzen Bemerkung zu Aristoteles, der davon ausgeht, dass es den Menschen eigentümlich sei, unter günstigen Bedingungen ihre Fähigkeiten und Anlagen zur Entfaltung zu bringen. Alle Menschen streben die Vervollkommnung ihrer Fähigkeiten und Tugenden an (letztlich die Eudaimonie). Nun gibt diese teleologische Ethik - die heute auch als Perfectionism diskutiert wird, durchaus mit Marx im Blick (Hurka 1996, 3, 12, 13) jedoch vor, deskriptiv zu sein und einen Fakt zu beschreiben. Sie behauptet nicht, Menschen sollen oder müssen diesem Ziel entgegenstreben. Auch Marx behauptet zunächst lediglich, die Bedingungen für die Selbstentfaltung seien im Kapitalismus nicht günstig. Nur will er es, laut Iorio, mit dieser rein deskriptiven Ebene nicht bewenden lassen. Er trete vielmehr dafür ein, „die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zugunsten anders gearteter Verhältnisse zu ersetzten, um den Menschen ein gutes, d.h. ein emanzipiertes und von jeder Entfremdung befreites Leben zu ermöglichen". (Ebd., 287) Marx halte es nämlich für nötig „den Menschen neue Ideen, also auch neue moralische Ideen in den Kopf zu setzten", weil er „das Ziel verfolgt, eine neue Gesellschaftsform herbeizuführen". (Ebd., 288)10 Iorio unterstellt damit eine Heilslehre im Löwithschen Sinne, das heißt: eine Geschichtstheorie, die der idealen Zwecksetzung dient. Freilich kennzeichnet Marx gerade diese Methode in der Proudhon-Kritik als projektive ,Entleerungsbewegung des Kopfes' und als Unterschiebung von Zielen' (Kapitel IV, Abschnitt 4.b.). Da Iorio aber davon ausgeht, Marx' zentrales Anliegen sei die Herbeiführung einer „besseren Welt" (ebd., 289), befindet sich der Umwerter Marx natürlich „mittendrin im moralphilosophischen Diskurs" (ebd., 287). Nachdem der Marxsche Moralstandpunkt aus der Projektion einer .besseren Welt' abgeleitet wurde, fällt es Iorio dann allerdings schwer, den verbalen Immoralismus zu erklären, der einem aus den Texten dieses passionierten Weltverbesserers geradezu in die Augen springt. Für dieses Problem findet er folgende Lösung: Der Moralphilosoph Marx scheue die moralphilosophische Auseinandersetzung mit dem Bürgertum, weil dieses bestimmte zentrale Begriffe bis zur Unkenntlichkeit entstellt habe (zum Beispiel habe es den Begriff der Freiheit auf Konkurrenz und Ausbeutung verkürzt). Marx erkenne die Begrenztheit der „Reichweite und Stoßkraft moralischer Forderungen im konkreten Klassenkampf'. (2003, 289) Auf einmal heißt es darum: „Die neuen Ideen, die die Menschen brauchen, um die kapita10
Über das In-den-Kopf-Setzen und das Sich-aus-dem-Kopf-Schlagen von .fixen Ideen' mokiert sich Marx am Beispiel Max Stirners (Deutsche Ideologie, MEW 3, 404).
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listischen Verhältnisse, und damit den Stand der Unfreiheit zu überwinden, sind nicht so sehr moralischer Natur." (Ebd.) 11 Wollte uns Iorio nicht gerade noch davon überzeugen, Marx stecke .mittendrin' in der Moralphilosophie, da er seinen Lesern Werte ,in die Köpfe' setze, um auf diese Weise eine »bessere Welt' herbeizuführen? Urplötzlich wird aus dem frisch rekonstruierten Moralisten und Weltverbesserer ein politischer Stratege, der weiß, dass das Proletariat unbeirrt seinen Weg geht, bis zum Sieg über die Bourgeoisie. Warum also moralisch argumentieren, wenn doch womöglich „die Anwendung von Gewalt, ja von Terror" (ebd.) gegen diese Leute auf dem Plan steht? Leidet Iorios Beweisführung in diesem Punkt nicht selbst unter dem Selbstanwendungsproblem? Ein Moralphilosoph, der vermittels der Wertsetzung gleich eine ganz ,neue Gesellschaftsordnung' herbeiführen will, scheut die Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Moral nicht. Es ist gerade der Wettkampf um die mit Werten zu füllenden Köpfe, der seinen Arbeitstag ausmacht. Ein solcher Moralphilosoph zweifelt auch unter den Bedingungen des Klassenkampfes nicht an der Strahlkraft seiner Werte, die schließlich eine wichtige Rolle in der Entscheidung dieses Konfliktes spielen werden. Wenn Marx aus politischem Pragmatismus oder aus Furcht vor der moralischen Konkurrenz einer Ablehnung der moralisierenden Kritik verpflichtet wäre, wieso hätte er dann und das war schließlich der Ausgangspunkt von Iorios Argumentation - überhaupt am ,moralphilosophischen Diskurs' teilnehmen und mit dem leidigen Wertesetzen anfangen sollen?
3.
Die zwei Seiten der doppelten Ethik
Iorios Rekonstruktion des Marxschen Moralstandpunktes reiht sich ein in eine lange Kette von Versuchen, das Unüberbrückbare zu überbrücken. Man stellt sich entweder auf die Seite der Marxschen Moral oder auf die Seite des Marxschen Anti-Moralismus und versucht dann, die jeweils andere Seite entweder zu integrieren oder zu beseitigen, auf dass ein einheitliches - vielleicht sogar systematisches - Marxsches Verhalten gegenüber der Moral zum Vorschein komme.
a.
Die deskriptive Seite: Moral als Ideologie
Dabei ist die Bestimmung der Moral als ein ideologisches Phänomen, die besonders in den Fragmenten zur Deutschen Ideologie vorgenommen wird, die einzige Seite der doppelten Ethik, die einigermaßen systematisch ausgearbeitet ist. Hier gilt der Satz, den Schopenhauer seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral als Motto voran" In der Tat glaubt Marx nicht an die Überzeugungskraft von moralischen Argumenten. Er setzt auf die praktische Wirkung wissenschaftlicher Erkenntnisse und auf die Politik. Erwähnenswert ist in dieser Hinsicht seine Schilderung der Aussichtslosigkeit (und auch die Ironie) des „moralischen Widerstandes der Chinesen" (Die Geschichte des Opiumhandels, M E W 12, 553) angesichts der Erbarmungslosigkeit des britischen Imperialismus während der Opiumkriege.
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stellt: „Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer." Auch Marx geht es um die Begründung der Moral, und nicht um ihre inhaltliche Neubestimmung. Diese Unternehmung wird häufig pauschal als Moralkritik ausgegeben, was Marx' Anliegen jedoch nicht treffend wiedergibt. Marx bemüht sich vorrangig um eine Analyse der Ursachen und Gesetzmäßigkeiten der Moralität. In diesem Sinne könnte man seine Moralauffassung eine Realwissenschaft nennen. Was sie primär leistet ist eine Erklärung sowohl der Form als auch der Funktion von Moral; erst in zweiter Instanz versteckt sich dahinter auch eine Kritik der Moral. Im Manifest wird sehr deutlich auf den Punkt gebracht, dass die Moral die Funktion hat, bürgerliche Interessen zu legitimieren: Gesetze, Moral und Religion sind für die Proletarier „ebenso viele bürgerliche Vorurteile, hinter denen sich ebenso viele bürgerliche Interessen verstecken". (MEW 4, 472) Die „bürgerlichen Vorstellungen von Freiheit, Bildung, Recht usw." seien „Erzeugnisse der bürgerlichen Produktions- und Eigentumsverhältnisse" (Ebd., 477).12 Dem geht mit der Deutschen Ideologie eine genauere Bestimmung der Moral als ideologische „Bewußtseinsform" (MEW 3, 405) und als Ausdruck eben dieses Willens, dieser Interessen und dieser Verhältnisse voraus. In der Ideologie entschuldigt der Apologet die moralisch bedenklichen Verhältnisse umso entschlossener, „je lauter die Thatsachen seiner Ideologie ins Gesicht schreien", tKapital, MEGA II/6, 684/MEW 23, 792) In Form von Recht und Moral werden die Herrschaftsverhältnisse „den Individuen der beherrschten Klasse als Lebensnorm entgegengehalten ... teils als Beschönigung oder Bewusstsein der Herrschaft, teils als moralisches Mittel derselben. Hier, wie überhaupt bei den Ideologen, ist zu bemerken, daß sie die Sache notwendig auf den Kopf stellen und ihre Ideologie sowohl für die erzeugende Kraft wie für den Zweck aller gesellschaftlichen Verhältnisse ansehen, während sie nur ihr Ausdruck und Symptom ist." (Deutsche Ideologie, MEW 3, 405) Nach dieser Auffassung hat die Moral also keinen von den gesellschaftlichen Verhältnissen unabhängigen Ursprung (wie wir dies von religiösen Moralsystemen mit ihren göttlich gestifteten Moralprinzipien kennen). Grundsätzlich seien Ideologien keine voraussetzungslosen Gebilde. „Wir müssen bei den voraussetzungslosen Deutschen damit anfangen", schreiben Marx und Engels, „daß wir die erste Voraussetzung aller menschlichen Existenz, also auch aller Geschichte constatiren, nämlich die Voraussetzung dass die Menschen im Stande sein müssen zu leben ... Zum leben aber gehört vor allem essen und trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges andere. Die erste ge12
Marx spricht im Grunde das an, was Niklas Luhmann die „Legitimationssemantik der Werte" nennt (2000, 362). Da externe Systeme (etwa die Religion) die „Selbstlegitimation" der heutigen Gesellschaft offenbar nicht mehr bewerkstelligen können, läuft diese jetzt über Werte wie Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit. Die Kommunikation unterstellt, dass diese Werte akzeptiert werden. Darum „redet trivial", wer Werte bejaht oder Unwerte ablehnt (ebd., 359).
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schichtliche That ist also ... die Produktion des materiellen Lebens selbst, und zwar ist dies eine geschichtliche That, eine Grundbedingung aller Geschichte". (1845/46, 12) Eine .Grundbedingung aller Geschichte' - also auch der Geschichte der geistigen Produktion. „Jetzt erst", nach der Betrachtung dieser „ursprünglichen, geschichtlichen Verhältnisse", „finden wir, daß der Mensch auch ,Bewußtsein' hat. Aber auch dies nicht von vorn herein als ,reines' Bewußtsein. Der ,Geist' hat von vornherein den Fluch an sich, mit der Materie .behaftet' zu sein" (ebd., 15f.). Erst mit der Teilung der materiellen und geistigen Arbeit kann sich das Bewusstsein von seiner materiellen Behaftung freimachen - oder wenigstens so tun, als ob es sich davon freigemacht hätte. „Von diesem Augenblicke an kann sich das Bewußtsein wirklich einbilden, etwas Andres als das Bewußtsein der bestehenden Praxis zu sein, wirklich etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches vorzustellen - von diesem Augenblicke an ist das Bewußtsein im Stande, sich von der Welt zu emanzipieren und zur Bildung der ,reinen' Theorie, Theologie Philosophie Moral &c überzugehen". (Ebd., 17) Als bestimmte Bewusstseinsform ist die Moral demnach durchaus etwas Ideelles; als solche ist sie zugleich bedingt durch die praktische Wirklichkeit, und als Ausdruck dieser Wirklichkeit ist sie ein Denk-Produkt: „Religion, Familie, Staat, Recht, Moral, Wissenschaft, Kunst etc sind nur besondre Weisen der Produktion und fallen unter ihr allgemeines Gesetz". (Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEGA 1/2, 390) Aber die Moralvorstellungen sind eben keine voraussetzungslosen, im Kantischen Sinne ,reinen' Denkprodukte. Dieser vieldiskutierte Aspekt des Materialismus, der die Eingebundenheit des Bewusstseins in den gesellschaftlichen Zusammenhang betrifft, wird von Marx und Engels übrigens nicht als besonders erklärungsbedürftig erachtet: „Bedarf es tiefer Einsicht, um zu begreifen, daß mit den Lebensverhältnissen der Menschen, mit ihren gesellschaftlichen Beziehungen, mit ihrem gesellschaftlichen Dasein, auch ihre Vorstellungen, Anschauungen und Begriffe, mit einem Wort, auch ihr Bewußtsein ändert? Was beweist die Geschichte der Ideen anders, als daß die geistige Produktion sich mit der materiellen umgestaltet? Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse". (Manifest, MEW 4, 480) Diese Passage mag aufgrund ihrer deutlichen Gegenüberstellung von geistiger und materieller Produktion an die hierarchische Seinsordnung des Substanzmaterialismus erinnern, den Marx als ,alten Materialismus' bezeichnet. In Wirklichkeit erklärt sie die sozialen Beziehungen und die dementsprechenden Vorstellungen und Anschauungen zu lebendigen, zeitgebundenen Phänomenen. Die Verortung des Ideellen in einem durch die Produktion vermittelten gesellschaftlichen Zusammenhang ist ein wesentliches Merkmal des Marxschen Materialismus.
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Zusammenfassend lässt sich über die Bestimmung der Moral als ideologische Bewusstseinsform, also über die deskriptive Seite der doppelten Marxschen Ethik, folgendes sagen: Sie ist 1.) ihrem Umfang nach absolut: Der Fokus liegt auf der bestehenden Moral in ihrer Gesamtheit, nicht etwa auf dem Inhalt einzelner Normen. Sie ist also keineswegs von Beginn an als ein Umwerten, als ein ideales Anderes gedacht, wie Iorio behauptet. Als Umwerter hätte Marx ja nichts anderes zu tun, als bereits bestehende Werte und Normen mit umgekehrten Vorzeichen zu versehen, so wie Nietzsche dies tut (ein zu großes Wissen ist schlecht, ein gefährliches Leben ist gut, Fortschritt ist schlecht, etc.). 2.) Die Moralauffassung ist ihrem Selbstverständnis nach wissenschaftlich: Marx will nicht moralisieren, er will die Moral erklären. In diesem Punkt erinnert die Marxsche Ethik an Schlicks Vorstellung von dem, was Ethik sein soll: eine Tatsachenwissenschaft (1984, 54). Eine Norm ist für Schlick „durchaus nichts anderes ... als die bloße Wiedergabe einer Tatsache der Wirklichkeit, sie gibt nämlich nur die Umstände an, unter denen eine Handlung oder eine Gesinnung oder ein Charakter tatsächlich als ,gut' bezeichnet, d.h. sittlich gewertet werden". (Ebd., 64f.) Genau wie für die deskriptive Seite der Marxschen Auseinandersetzung mit der Moral hat auch für Schlick die Ethik das Sammelsurium der gesellschaftlichen Werte zum Gegenstand. Die Ethik versucht nicht, das Gute zu definieren oder Werte zu setzen. Sie gibt keine Anleitungen, sie gebietet nicht und sie verbietet nicht. Nicht die Schöpfung des Guten ist die ihre Aufgabe, sondern die Einordnung des Guten „in allgemeinere Zusammenhänge" und - das ist ganz wichtig - seine Zurückführung „auf etwas anderes" (ebd., 58). Marx teilt diese Auffassung von Ethik. Moralisierende Kritik üben in seinen Augen nur diejenigen, die nicht wissenschaftlich arbeiten wollen oder können. Zum Beispiel Proudhon, der „unfähig, den ökonomischen Ursprung von Grundeigentum und Rente zu begreifen ... gesteht, daß ihn diese Unfähigkeit zwingt, zu Erwägungen der Psychologie und Moral seine Zuflucht zu nehmen". (Elend der Philosophie, MEW 4, 165) 3.) Die Moralauffassung ist ihrer Methode nach historisch-relativistisch: Ein kritisches Potential entwickelt die Marxsche Moralauffassung nicht durch die Prüfung und anschließende Widerlegung einzelner Normen, sondern durch die historische Relativierung der Moral, also dadurch, dass sie die Moralvorstellungen als gewachsene Denkprodukte erkennt, die auf die jeweils vorherrschenden Eigentumsverhältnisse passen. Aus diesem Grund schreibt Marx im ersten Entwurf zu The Civil War in France über die Anhänger Comtes: „They do not even know that every social form of property has ,morals' of its own" (MEGA 1/22, 73). Für dieses Verhältnis von Norm und gesellschaftlicher Realität verwendet Marx den Terminus .Entsprechung'. Allerdings ist das gewachsene Verhältnis von Gesellschaft und Moral schwer zu durchschauen, da jede gesellschaftliche Ordnung sich andauernd zu legitimieren versucht und dabei nicht davor zurückschreckt, die Moral zur Verschleierung von Missständen zu verwenden. Auch das ist eine Bedeutung von Ideologie'. Gleichwohl will Marx mit dem Ideologiebegriff weder den Nutzen noch die Notwendigkeit von moralischen Werten bestreiten; noch will er behaupten, moralische Werte (und die von ihnen ausgehenden Beurteilungen) seien grundsätzlich illusionär.
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Im Kapital wird die historische Entsprechung der Normen am Beispiel des Problems der Gerechtigkeit im Hinblick auf die Aneignung des Mehrwerts und der Mehrarbeit durch den Kapitalisten festgemacht. Der herrschende Begriff der Gerechtigkeit entspricht den Bedingungen kapitalistischer Ausbeutung - ist ein Ausdruck dieser Verhältnisse: „Die Gerechtigkeit der Transaktionen, die zwischen den Produktionsagenten vorgehn, beruht darauf, dass diese Transaktionen aus den Produktionsverhältnissen als natürliche Konsequenz entspringen. Die juristischen Formen, worin diese ökonomischen Transaktionen als Willenshandlungen der Beteiligten, als Äußerung ihres gemeinsamen Willens und als der Einzelpartei gegenüber von Staats wegen erzwingbare Kontrakte erscheinen, können als bloße Formen diesen Inhalt selbst nicht bestimmen. Sie drücken ihn nur aus. Dieser Inhalt ist gerecht, sobald er der Produktionsweise entspricht, ihr adäquat ist. Er ist ungerecht, sobald er ihr widerspricht. Sklaverei, auf Basis der kapitalistischen Produktionsweise ist ungerecht." (MEGA 11/15, 33If./MEW 25, 35 If.) Bei dieser besonderen Form des ethischen Relativismus geht es um die Hervorhebung des Verhältnisses zwischen der Moral und anderen gesellschaftlichen Bereichen. Es ist dies also nicht der gewöhnliche Relativismus, demzufolge die Wahl der Werte beliebig ist, so dass sich die Individuen nach ihrem eigenen Gutdünken einen Standpunkt zurechtlegen können. Sehr deutlich nachgezeichnet wird die historische Entsprechung moralischer Systeme auch in der Polemik gegen den Publizisten Karl Heinzen mit dem Titel Die moralisierende Kritik und die kritisierende Moral. Die Schrift schildert Heinzens Empörung über das Fürstentum als unvernünftige, der .Menschenwürde' widersprechende Hauptursache allen Elends und aller Not. Marx wirft Heinzen vor, „die Entstehung des Fürstentums vermittelst moralischer Gemeinplätze" (MEW 4, 345) begründen zu wollen, anstatt das Aufeinanderangewiesensein der Moral und dieser bestimmten Herrschaftsform zu erklären. „Die Schwierigkeit bestände für diesen Normalverstand [Heinzen] aber darin darzutun, wie der Gegner des gesunden Menschenverstandes und der moralischen Menschenwürde [das Fürstentum] geboren wurde, und sein merkwürdig zähes Leben Jahrhunderte fortschleppte ... In anderen Worten, der Verstand und die Moral von Jahrhunderten entsprachen dem Fürstentum, statt ihm zu widersprechen. Und eben diesen Verstand und diese Moral vergangener Jahrhunderte versteht der .gesunde Menschenverstand' von heute nicht. Er begreift ihn nicht, aber dafür verachtet er ihn. Aus der Geschichte flüchtet er in die Moral, und nun kann er das sämtliche schwere Geschütz seiner sittlichen Entrüstung spielen lassen." (Ebd., 344f., d. Verf.) Diese Passage kennzeichnet die moralisierende Kritik als sittliche Entrüstung. Weil Heinzen die historische Genese des Fürstentums und die dementsprechenden Moralvorstellungen nicht versteht, .flüchtet' er in die sittliche Entrüstung und pocht auf die
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Menschwürde, von der er anzunehmen scheint, dass sich Kraft des Verstandes schon ein Zugang zu ihr finden wird. Das moralische Übel wird nicht in seiner historischen Entwicklung gesehen, sondern aus der angeblichen Unfähigkeit abgeleitet, zu den vernünftigen Prinzipien des moralisch Guten vorzustoßen. Dieser Ansicht zufolge wird also das moralisch Gebotene - das für Marx wie gesagt zugleich ein Denkprodukt und ein Resultat der gesellschaftlichen Verhältnisse ist - auf dem Wege einer unvermittelten Gegenüberstellung von Gut und Böse aus der reinen Geistestätigkeit heraus entwickelt. Das, was in Wirklichkeit eine Entsprechung und also ein Verhältnis ist, soll sich selbst produziert haben. Die Frage nach der moralischen Qualität der Verhältnisse wird in letzter Instanz auf eine reine Vernunftfrage reduziert.
b.
Die präskriptive Seite: Selbstbetätigung in der moralisierenden Marxschen Kritik
Die nicht-normative, deskriptive Seite der doppelten Ethik, von der bisher die Rede war, hat für das Marxsche Fortschrittsdenken keine unmittelbare Relevanz. Trotzdem war dieser Umweg über Marx' Moralauffassung ein notwendiger Schritt zur Vorbereitung auf die Darstellung der gegensätzlichen Seite der moralisierenden Marxschen Kritik, die von ganz erheblicher Bedeutung für den eigentümlich Marxschen Fortschrittsgedanken ist. Sie muss schon deshalb besprochen werden, weil die Marxrezeption mehrheitlich davon ausgegangen ist, die Zukunftsorientierung der materialistischen Geschichtsauffassung laufe weniger auf die Verdeutlichung der notwendigen historischen Begrenztheit des Bestehenden hinaus als auf eine moralisch motivierte Übersteigerung desselben. Das wirft folgende Fragen auf: Welchen Charakter hat die präskriptive Seite der doppelten Ethik? Welches sind ihre Vorstellung vom Guten? Konstruiert Marx ein moralphilosophisches System mit obersten Moralprinzipien oder gar mit einer Vorstellung von einem summum bonuml Setzt er diese Prinzipien als für die vom Fortschritt zu erfüllenden Ziele voraus, obwohl er selbst die ideale Zwecksetzung in der Proudhon-Kritik als spekulative Konstruktion der Entwicklung nach dem Maßstab der ,guten Seite' verwirft? Um diese Fragen beantworten zu können, muss man zunächst innerhalb von Marx' moralisierender Kritik zwischen der immanenten und der externen Kritik unterscheiden (Heinrich 1992, 93). Zum einen gibt es bei Marx eine theoretisch schwache Form der moralisierenden Kritik: das aggressive Polemisieren gegen Schriftsteller und Offizielle, die bezichtigt werden, die bestehenden Verhältnisse zu verklären, sowie die unzähligen Stellen (besonders im Kapital), in denen die Grausamkeit der Unterwerfung der Arbeitenden „unter das Juggernautrad des Kapitals" (MEGA II/6, 588/MEW 23, 674) im Detail beschrieben wird. In diesem Fall demonstriert die Kritik, dass die bürgerliche Gesellschaft ihren eigenen moralischen Ansprüchen nicht gerecht wird: sie ist in diesem Sinne immanente Kritik. Meistens handelt es sich um kaum mehr als geringschätzende Bemerkungen über ,Pfaffen' und ,Philister', die massenhaftes Elend entschuldigen. Beispielsweise hat der Pfaffe Townsend, den Marx im Kapital zitiert, eine ganz eigene
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Dialektik des Fortschritts: selbst im Hunger erkennt er noch etwas Tugendhaftes, weil „der Hunger nicht nur ein friedlicher, schweigsamer, unaufhörlicher Druck, sondern als natürliches Motiv zur Industrie und Arbeit die machtvollste Anstrengung hervorruft". (Ebd., 589/676) Marx dagegen verhöhnt den von den Umständen erzwungenen Handel mit der Arbeitskraft als „ein wahres Eden der angeborenen Menschenrechte. Was allein hier herrscht ist Freiheit, Gleichheit, Eigenthum und Bentham. Freiheit! denn Käufer und Verkäufer einer Ware, z.B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie kontrahiren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Aequivalent für Aequivalent. Eigenthum! Denn jeder verfügt nur über das Seine. Bentham! Denn jedem von beiden ist nur um sich zu thun. Die einzige Macht, die sie zusammen und in ein Verhältniß bringt, ist die ihres Eigennutzes, ihres Sondervortheiis, ihrer Privatinteressen." (Ebd., 191/189f.) Der Hohn dieser und unzähliger vergleichbarer Passagen ist selbstverständlich moralisch motiviert. Nur impliziert diese Form der Bemängelung zwar eine Verurteilung des Gegenstandes der Kritik, aber sie setzt ihm dennoch keine alternativen Werte entgegen. Sie hat deswegen bestenfalls einen sehr begrenzten moraltheoretischen Wert. Auch wird gerne übersehen, dass es sich dabei weniger um eine Schuldzuweisung handelt, die der Bourgeoisie das Leid der Lohnarbeiter in Rechnung stellt. Vor allen Dingen werden bestimmte Individuen bezichtigt, die Verhältnisse falsch aufgefasst und falsch dargestellt und sie damit legitimiert zu haben. Weil das laut Marx aber andauernd geschieht, ist seine Polemik nicht bloß ein Ausdruck seiner Gehässigkeit oder seines Humors, sondern fast schon Methode. Das bedarf einer kurzen Erläuterung, weil ein polemischer Ton überdies das gesamte Marxsche Werk durchzieht: Die Polemik ist grundsätzlich nicht nur die Schlechtmacherei, für die sie meist gehalten wird, sondern eine besondere stilistische Arbeitsweise, die sich durch Komik auszeichnet, und die sich der Bösartigkeit oder Ehrabschneidung in erster Linie zum Zweck der Unversöhnlichkeit bedient. Historisch betrachtet ist die Polemik eine bestimmte Tradition des theologischen Streits. Ihr Gegenstück war nicht die vorurteilsfreie, objektive oder sachliche' Darstellung, sondern die Irenik - der Versuch der katholischen Kirche im theologischen Diskurs Einheitsdenken und Harmonie gegen die Polemik durchzusetzen. Vielleicht sollte das polemische Moment der immanent moralisierenden Kritik als Zynismus verstanden werden; und zwar im eigentlichen Wortesinne als illusionslose Beschreibung der Zustände, wie sie sich jenseits allen Sollens tatsächlich darstellen. 13 Über Ricardo sagt Marx bewundernd, sein Zynismus habe „die ökonomischen Beziehungen in ihrer Nacktheit aufgedeckt" (Elend der Philosophie, M E W 4, 83). 13
„Cynik, n. A blackguard whose faulty vision sees things as they are not as they ought to be." (Bierce 1993, 21)
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Die zweite Variante der moralisierenden Marxschen Kritik lässt sich tatsächlich in die Nähe einer präskriptiven moralischen Haltung rücken, und damit in die Nähe der Heilslehre, denn sie funktioniert als Setzung externer, noch zu realisierender Werte. Der Maßstab der Verbesserung ist dem Bestehenden nun nicht mehr immanent, sondern äußerlich. Es ist diese Äußerlichkeit, welche die Setzung für den Marxschen FortschrittsbegrifF so bedeutsam macht, denn sie entspricht in der Tat dem, was Iorio mit dem ,Anderen', mit der ,besseren Welt' meint, die Marx angeblich mittels seiner Theorie herbeiführen will. Nur wird hier nicht etwa, wie Iorio behauptet, eine ,Umwertung' vorgenommen - diese müsste ja von gegebenen Werten ausgehen - , sondern eine Neubewertung. An dieser Stelle kann also festgehalten werden, dass der Heilslehrenvorwurf (mitsamt dem darin enthaltenen Teleologievorwurf) gegen die Marxsche Auffassung vom historischen Fortschritt nur dann berechtigt ist, wenn er sich auf die externe Variante der moralisierenden Kritik bezieht, auf die Äußerlichkeit der besonderen Marxschen Werte gegenüber dem Bestehenden. Die externe moralisierende Kritik setzt neue, transzendente Werte, die auf neuer Grundlage zu verwirklichen sind. Solche Werte sind Abstraktionen von der Wirklichkeit, das heißt irreale Ideale, die für die Zukunft geltend gemacht werden sollen. Ideale stellen eine Forderung nach einer alternativen Wirklichkeit. Die externe moralisierende Kritik ist damit die Marxsche Variante der idealen Zwecksetzung. Setzt Marx allerdings ideale Zwecke, dann tut er dies sozusagen wider Willen: Die ideale Zwecksetzung wird in seiner Theorie weder bewusst noch systematisch durchgeführt. Iorios These, die Praxis der Wertsetzung mache Marx zu einem vollwertigen Teilnehmer am , moralphilosophischen Diskurs', scheint mir daher etwas voreilig. Schließlich weist Marx die ideale Zwecksetzung in der Proudhon-Kritik als Verdrängung der eigentlich zu leistenden theoretischen Arbeit entschieden zurück. Gleichzeitig kennzeichnet er die Moral als Ideologie und verwirft somit auch die moralisierende Kritik. Warum sollte ausgerechnet er sich eines solchen Schemas bedienen? Dass er genau das tut, das ist das Dilemma - das eigentliche Selbstanwendungsproblem - der doppelten Ethik. Radikal formuliert macht dieses Dilemma den Anteil des prospektiven Fortschrittsdenkens - wenn man so will: der Heilslehre - an der Marxschen Theorie deutlich. Dass Marx und Engels sich dieser Dimension ihrer Arbeit nicht bewusst sind, dass also die Heilslehre nicht emphatisch, sondern implizit auftritt (so sie überhaupt auftritt), das geht schon aus ihrer Sorge hervor, der Kommunismus könne als etwas Ausgedachtes aufgefasst werden und nicht als die reale Bewegung, für die sie ihn ausgeben. Der Idealbegriff wird explizit angegriffen: „Der Communismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [sie.]. Wir nennen Communismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung." (Marx/Engels 1845/46, 21) Eine beabsichtigte Setzung idealer Zwecke ist des weiteren unwahrscheinlich, weil die ganze philosophische Auseinandersetzung mit den Junghegelianern um die Mitte der 1840er Jahre auf den Vorwurf zugespitzt ist, es sei falsch, alle Probleme und Fragen als Bewusstseinsfragen aufzufassen. Das Ziel, das alte, religiöse und moralische Bewusstsein durch neues »menschliches', ,egoistisches',
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.kritisches' oder wie auch immer geartetes Bewusstsein zu ersetzen, ist für Marx und Engels gleichbedeutend mit der Anerkennung des Bestehenden auf der Grundlage einer neuen Interpretation - und gerade nicht mit dem Sturz des Bestehenden. Diese Ahnungslosigkeit gegenüber der eigenen normativen Kreativität schließt aus, dass sich die Marxschen Wertvorstellungen als allgemeine Prinzipien in ein geordnetes System einer präskriptiven Ethik einordnen lassen. Für ein solches System argumentiert Agnes Heller, nach der es bei Marx zwei universelle Wertaxiome gibt, aus denen jeder seiner Werte und jedes seiner Werturteile abzuleiten sei. Das erste Wertaxiom besage: „Wert ist alles, was zur Bereicherung der gattungsmäßigen Wesenskräfte gehört, was diesen Vorschub leistet". (1972, 9) Das zweite Wertaxiom laute: „Der höchste Wert besteht darin, dass die Individuen sich den gattungsmäßigen Reichtum aneignen können". (Ebd.) Die primäre Kategorie, auf der diese Axiome wiederum basieren, sei der gesellschaftliche Reichtum, der als „allseitige Entfaltung der gattungsmäßigen Wesenskräfte" (ebd.) definiert ist, worunter wiederum Gesellschaftlichkeit, Arbeit, Freiheit, Bewusstheit und Universalität zu verstehen seien (ebd.). Auf andere Weise wird eine in sich schlüssige Marxschen Ethik auch von Martin Hundt behauptet. Marx' „ethische Haltung" (1998, 571) müsse aus seinen philosophischen Positionen, seiner Methode und seiner praktischen Tätigkeit erschlossen werden. Sie beinhalte sogar „noch allgemeinere moralische Prinzipien menschlichen Verhaltens, die nicht oder nicht unmittelbar vom Wechsel der Gesellschaftsformationen betroffen sind". (Ebd., 574) 14 Hundt erinnert an die Forderung der Inaugural Address von 1864, dass die „einfachsten Gesetze der Moral und des Rechts, welche die Beziehungen von Privatpersonen regeln" auch „als die obersten Gesetze des Verkehrs von Nationen" (MEGA 1/20, 25/MEW 16, 13) geltend gemacht werden sollten. Hundt erwähnt nicht, dass Marx diese Bemerkungen nur unter großem Widerwillen und zu propagandistischen Zwecken beifügt. Das stellt er in einem Brief an Engels vom 4. November 1864 für die ganz ähnlichen Formulierungen in den Provisional Rules klar: „Meine Vorschläge wurden alle angenommen vom subcomité. Nur wurde ich verpflichtet in das Préamble der Statuten zwei ,duty' u. ,right' Phrasen, ditto ,truth, morality and justice' aufzunehmen, was aber so placiert ist, daß es einen Schaden nicht thun kann." (MEGA III/13, 43/MEW 31, 15) Das Marxsche Wertesystem, so Hundt, drehe sich vor allem um das zentrale Ideal des (historischen) Wissens. Marx eigne sich Geschichtswissen an, „damit die Menschen freikommen vom Selbstlauf der Geschichte, der sich gegen ihre Emanzipation richtet. Entfaltung der menschlichen Wesenskräfte, .Selbstbetätigung der Individuen' waren seine ethischen Ziele [...] Die Forderung nach Wissen, hier: Wissen von Geschichte, ist 14
Dass beispielsweise die Forderung nach Freiheit und Gerechtigkeit in allen Zeitaltern erhoben wurde, erklärt Marx damit, dass „die Ausbeutung des einen Teils der Gesellschaft durch den anderen ... eine allen vergangenen Jahrhunderten gemeinsame Tatsache [ist]. Kein Wunder daher, daß das gesellschaftliche Bewußtsein aller Jahrhunderte, aller Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit zum Trotz, in gewissen gemeinsamen Formen sich bewegt" (Komunistisches Manifest, MEW 4, 480).
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im Grunde ein ethisches Postulat." (1998, 576) Hundt kommt hier auf ein wichtiges Thema zu sprechen: Das Wachstum des Wissens, sowie das von diesem Wissen geleitete bewusste Handeln, ist Marx in der Tat ein Fortschrittsinhalt. Aber vielleicht fragt man besser: In welchem Sinne kann von Marx' ,ethischer Haltung' gesprochen werden, und wie könnte diese aussehen? Ein moralisches System kann man sich zum Beispiel als Pyramide vorstellen, das heißt als eine vertikale, hierarchische Anordnung der Normen bis hin zur obersten Norm, der alle anderen unterstehen, und die gewissermaßen die Definition des Guten schlechthin ist - das Moralprinzip. (Von den obersten Normen kann es wieder mehrere geben - es sei denn, die höchste Normenreihe lässt sich unter eine einzelne oberste Norm zusammenfassen.) Gibt es mehrere Moralprinzipien, dann gibt es auch mehrere Bedeutungen des moralisch Guten. (Das wohl bekannteste Beispiel für eine derartige Anordnung sind die Zehn Gebote.) In den traditionellen Ethiken besteht die Rechtfertigung einer Norm im Aufzeigen der Bedeutung und der Zugehörigkeit zu einer höheren Norm (Regel) in der Normenpyramide. Wie Schlick zeigt, ist das Grundproblem einer solchen Normwissenschaft, dass sie unter Ethik die Festlegung des Begriffs des Guten versteht. Auf die Frage, warum eine bestimmte Handlung moralisch ist, kann sie nur antworten: Weil sie unter eine höhere Regel fällt, die wiederum unter die nächsthöhere Regel fällt usw., bis hinauf zu den höchsten Normen - den Moralprinzipien (Schlick 1984, 65). Aber es gibt keine Instanz unter die diese wiederum subsumiert werden könnten, und das ruft letztendlich den Versuch der Letztbegründung durch Offenbarung, Platonische Präexistenz oder die Pflicht (Imperativ) auf den Plan. Welchen Wert hat die Rede von Karl Marx als dem ,Umwerter' , ,Moralphilosophen und Verfechter allgemeiner Prinzipien', wenn sie nicht letzten Endes auf ein solches Gefüge hinausläuft? Die Marxsche Theorie kann aber ein solches Gefüge nicht begründen. Statt dessen kann ihre ethische Dimension auf der Grundlage des Ideologiebegriffs als eine Art Vorläufer der auf sozialethischen Begründungen beruhenden Konzeption einer Tatsachenwissenschaft angesehen werden, wie sie beispielsweise Schlick vorschlägt. Was als ,gut' und ,sittlich' gilt, als Wert oder als höchster Wert, muss demnach zunächst im Lichte des sozialen Lebens der jeweiligen Gesellschaft betrachtet werden. Ich bezweifele deshalb, dass Marx neben seiner Theorie vom ideologischen Charakter der Moral (das heißt, die Marxsche Moralaufassung, die ja vor allen Dingen eine Funktionsanalyse und erst in zweiter Ordnung eine Kritik der Moral ist) auch einen umfassenden Beitrag zur präskriptiven Ethik leistet. Was es allerdings sehr wohl gibt, ist die versprengt auftauchende moralisierende Marxsche Kritik. Und gerade im besonderen Fall der externen moralisierenden Kritik wird durchaus der Versuch unternommen, das Gute inhaltlich zu bestimmen. Diesen Versuch kann man untersuchen, und man kann Marx' moralisierende Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft durchaus auf einen gemeinsamen Nenner bringen, ohne die Marxsche Theorie in das Korsett der Normwissenschaft zu zwängen oder auf die Voraussetzung einer präskriptiven Ethik im Sinne der oben angesprochenen Wertelisten zurückzufallen.
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In der Tat enthält die Marasche Theorie mit der Selbstbetätigung eine Wertvorstellung, die die inhaltliche Bedeutung des Marxschen Fortschrittsbegriffs auf den Punkt bringt. Was die externe moralisierende Kritik bemängelt lässt sich nämlich auf das Fehlen bewusster, selbstbestimmter Subjektivität zuspitzen. Diesen Mangel nennt Marx Entfremdung: „Dieses sich Festsetzen der sozialen Thätigkeit, diese Consolidation unseres eignen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt, unsre Berechnungen zu nichte macht, ist eines der Hauptmomente in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung." (Marx/ Engels 1845/46, 21) Die Entfremdung ist ein kritischer Begriff. Wer entfremdet ist (oder sich zumindest so fühlt), der bewertet seine Situation negativ. Und auch wenn der Entfremdungsbegriff bereits 1845 nur noch mit Vorbehalten verwendet und in Anführungszeichen gesetzt wird - „diese ,Entfremdung', um den Philosophen verständlich zu bleiben" (ebd.) - , so bedeutet die Distanzierung von diesem Begriff doch nicht, dass für Marx die damit verbundene Kritik einer bestimmten Form des äußerlichen Zwanges und der Unfreiheit beendet ist. Unter den herrschenden Bedingungen haben menschliches Denken und Tun für Marx nämlich weitgehend Zwangscharakter. Davon sind nicht nur die sozialen Verhältnisse zwischen den Menschen betroffen, in denen die vom Kapital enteignete und vergegenständlichte Arbeit sich in entfremdeter Form darstellt, sondern auch das Verhältnis der Menschen zu der ihnen äußerlichen dinglichen Welt (Natur). In der Tat waren alle bisherigen Gesellschaftsformen durch diese - zugegebenermaßen etwas weit gefasste - Unfreiheit gekennzeichnet. Nebenbei bemerkt: die Behauptung, Marx verstehe die Geschichte „als Ergebnis des bewussten Handelns des Menschen" (Burgio 2003, 169) scheint mir in dieser Form nicht haltbar zu sein. Schließlich unterscheidet Marx nicht ohne Grund zwischen „Menschengeschichte" und „Naturgeschichte", weil die Menschen „die eine gemacht und die andre nicht gemacht haben" {Kapital, MEGA II/6, 364, Fn. 89/MEW 23, 393, Fn. 89). Da nun aber die eine nicht unabhängig von der anderen gedacht werden kann - denn „das aktive Verhalten zur Natur" (gemeint ist die Technik) ist der „unmittelbarfe] Produktionsproceß seines Lebens" (ebd.) - ist freilich der Spielraum für bewusstes Handeln aus Marx' Sicht eher begrenzt. Manche seiner Aussagen deuten an, wie beschwerlich das ,bewusste' Geschichte-Machen ist. Im Vorwort von 1859 ist von der Entsprechung der gesellschaftlichen Formen des Bewusstseins und der ökonomischen Struktur die Rede, die ein Ensemble von willensunabhängigen Produktionsverhältnissen bildet, die wiederum einer bestimmten Stufe in der Entwicklung der Produktivkräfte entsprechen (MEGA II/2, 100/MEW 13, 8). Im Kapital werden die Individuen als „Personifikation ökonomischer Kategorien ... Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen", und Lohnarbeiter als „nur eine besondre Existenzweise des Kapitals" oder als „Organe" des Produktionsmechanismus dargestellt (MEGA II/5, 14, MEGA II/6, 329f., 334/MEW 23, 16, 352f., 358). Die Menschen ,machen' sich die Welt nicht nach ihren Vorstellungen, so als sei sie auf ihre Bedürfnisse angelegt. Subjektivität ist bei Marx eben nicht rein teleologisch konzipiert, sondern immer auch als ein Reagieren auf vorgefundene Bedingungen.
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In diesem materialistischen Kontext steht auch die Verbindung von Ökonomie und Ethik. Die Freiheit des Willens, auf welche die Kantische Vernunftbegründung der moralischen Handlungen insistiert, kann in Marx' Überlegungen zur Moral keine prominente Rolle spielen. Es sind ja gerade die Unterwerfung der Subjekte unter den Selbstlauf der Prozesse und das Walten der Strukturen als äußere Zwecke jenseits eines bewusst steuernden Willens - denn all dies bedeutet der Begriff der Entfremdung - , denen Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten die Vervollkommnung der ,Wesenskräfte', in der Deutschen Ideologie das Ideal der Selbstbetätigung und schließlich im Kapital die Idee vom ,Reich der Freiheit' entgegensetzt. Bewusstes, selbstzweckmäßiges und in diesem Sinne freies Handeln wird in der Marxschen Theorie gerade deshalb als so überaus wertvoll angesehen, weil sie unter den vorherrschenden Bedingungen kaum möglich ist. Darum kann dieser Wert nur über die Umwälzung der „materiellen Basis" der „wirklichen Lebensverhältnisse" (MEGA II/6, 364, Fn. 89/ MEW 23, 393, Fn. 89) durchgesetzt werden, die ihm im Wege stehen. Aus diesem Grund ist die Frage nach der Eigentümlichkeit der Marxschen Wertvorstellungen für die Fortschrittsproblematik von größter Relevanz. Diese besondere Bedeutung von Freiheit als bewusste und selbstzweckmäßige Subjektivität ist aber nur ein erster, allgemeiner Aspekt der Marxschen Konzeption der Selbstbetätigung. Ein zweiter Aspekt der Selbstbetätigung betrifft unmittelbar die Arbeit selbst. Er wird vor allem in den Entwürfen zur Deutschen Ideologie diskutiert. Unter den Bedingungen der Arbeitsteilung und des Privatbesitzes existieren die Individuen als „abstrakte Individuen" (Marx/Engels 1845/46, 89). Das heißt, ihre Arbeit hat „allen Schein der Selbstbethätigung verloren & erhält ihr Leben nur, indem sie es verkümmert". (Ebd.) Wieder anders ausgedrückt: Selbstbetätigung und Arbeit (die „Erzeugung des materiellen Lebens") fallen jetzt so auseinander, dass die Arbeit in einem solchen Maße zu einem bloßen Mittel zum Zweck des materiellen Lebens verkommt, dass sie nur noch als „die negative Form der Selbstbethätigung" existiert (ebd.). In diesem Sinne kämpfen die „von aller Selbstbetätigung vollständig ausgeschlossenen Proletarier" (ebd., 90) um die Sicherung ihrer Existenzgrundlage. Und trotzdem sind nur im Stande, die „vollständige, nicht mehr bornirte Selbstbethätigung ... durchzusetzen" (ebd.). Gemeint ist damit die Aneignung der Produktivkräfte und die damit einhergehende Weiterentwicklung von Fähigkeiten. Erst mit dieser Überwindung des Privateigentums an den Produktivkräften und der darauf beruhenden Arbeitsteilung wird die Arbeit, die bisher reines Mittel zum Zweck der Selbsterhaltung war, mit der Selbstbetätigung sozusagen wiedervereinigt·. Die Arbeiter werden zu „totalen Individuen" (ebd., 91), die selbst zu einer positiven Entwicklung außerhalb der bloßen Reproduktion ihrer Existenz in der Lage sind. Erst auf dieser „Stufe" der durchgeführten proletarischen Revolution fallen Selbstbetätigung und materielles Leben wieder zusammen, „& dann entspricht sich die Verwandlung der Arbeit in Selbstbethätigung & die Verwandlung des bisherigen bedingten Verkehrs in den Verkehr der Individuen als solcher". (Ebd., 91 f.) Selbstbetätigung lässt sich also im Kern als die Zusammenführung von Autonomie und Arbeit beschreiben: als das Ideal selbstbestimmter Arbeit. Die Entwicklung auf dieses Ziel hin charakterisieren Marx und Engels als „Selbstentfremdungsprozeß" (ebd., 92),
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oder besser: als die Überwindung der Entfremdung durch die Aufhebung der Arbeitsteilung und des Privateigentums. Deshalb wird meines Erachtens der Kommunismus am Ende des zur Deutschen Ideologie gehörenden Entwurfs , Feuerbach und Geschichte' nicht glaubhaft als notwendiges Resultat der vorgefundenen Bedingungen aus der wirklichen Bewegung abgeleitet. Jedenfalls beziehen Marx und Engels hier auch moralisch Stellung für den Kommunismus; Erklärung und moralisierende Kritik vermischen sich. Umso deutlicher dies auch an anderer Stelle im Marxschen Werk der Fall ist, umso mehr gleicht freilich die Marxsche Geschichtsauffassung einer fortschrittsoptimistischen Setzung idealer Zwecke. Schließlich wird der große „Umwälzungsprocess" stellenweise noch im Kapital zumindest sprachlich so dargestellt, als laufe er zwangsläufig auf das „Ziel" hinaus, „das Theilindividuum" als bloßen „Träger einer gesellschaftlichen Detailfunktion" „durch das total entwickelte Individuum, für welches verschiedne gesellschaftliche Funktionen einander ablösende Bethätigungsweisen sind", zu ersetzen (MEGA II/6, 466, 467/MEW 23, 512). Grundsätzlich definiert Marx die Selbstbetätigung als Betätigung um ihrer selbst willen - als Selbstzweck. An Aristoteles erinnert, dass die Norm eines von der Entfremdung befreiten Lebens im Ideal einer bewussten, selbstzweckhaften Tätigkeit besteht (vgl. Rohbeck 2006, 54). Als Selbstzweck ist der Zwecke selbst Gegenstand der Abwägung, und das nicht nur in dem trivialen Sinne, dass Zwecke selbst Mittel für weitere Zwecke sein können. Schon in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten schreibt Marx, die Betätigung solle sich freimachen vom äußeren (.dritten') Zweck der Exploitation und der bloßen „Nützlichkeit", die diese bewirke. Die Aufhebung des Privateigentums werde dazu führen, dass „das Bedürfnis und der Genuß ... ihre egoistische Natur und die Natur ihre blose Nützlichkeit" verlieren, „indem der Nutzen zum Menschlichen Nutzen geworden ist". (MEGA 1/2, 393) Hier wird deutlich, dass dem .Selbst-' der Selbstbetätigung eine Bedeutung zukommt, die nicht allein als Überwindung der äußeren Zwänge ausgelegt werden darf, und schon gar nicht als Aufwertung des Individuums im Gegensatz zur Gesellschaft. „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen", freuen sich Marx und Engels im Manifest, „tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist." (MEW 4, 482) Im Zusammenhang mit der Bestimmung des Selbstbetätigungsideals können daher ein paar Worte zum Problem der Allseitigkeit der Betätigung nicht schaden. Die Allseitigkeit der individuellen Betätigung wird nämlich manchmal im Sinne eines direkten Gegensatzes zur Spezialisierung der Fähigkeiten und der Beschäftigung als der eigentliche Kern dessen angesehen, was Marx für wertvoll und erstrebenswert hält. Der zumindest für die englischsprachige Debatte nach wie vor wichtige Philosoph G. A. Cohen beispielsweise gibt an, bei Marx einen sehr starken Wunsch nach einer solchen Allseitigkeit erkennen zu können. Neben einer philosophischen Anthropologie, einer Theorie der Geschichte und einer ökonomischen Theorie habe Marx nämlich auch eine Zukunftsvision entworfen, welche die soziale Rollenverteilung ganz aufhebe, damit die Individuen sich vollständig entfalten und sich also nicht nur einer, sondern einer Vielzahl unterschiedlicher Aktivitäten widmen können. Die freie Entwicklung der Indi-
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viduen auf der Grundlage der Arbeit als Selbstzweck wird hier also als die vollständige Entwicklung aller denkbaren Fähigkeiten eines jeden einzelnen Menschen ausgelegt. Cohen bezieht sich auf die möglicherweise nicht ganz ernst gemeinte Stelle in der Deutschen Ideologie, die ein Bild vom Kommunismus als einer Gesellschaft zeichnet, „wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Thätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann", in der es ihm also frei steht, „heute dies, morgen jenes zu thun, Morgens zu jagen, Nachmittags zu fischen, Abends Viehzucht zu treiben u. nach dem Essen zu kritisiren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger Fischer Hirt oder Kritiker zu werden". (1845/46, 20f.) Dieses Idyll möchte Cohen nun hinterfragen. Er fragt sich, „why roles should be abolished, and even why, ideally, people should engage in richly various activities". (1988, 142) Die freie Entwicklung der Individuen setze nicht automatisch die vollständige Entwicklung nach allen Seiten voraus. Die Frage ist nur, ob Marx, wenn er im Unterschied zur gesellschaftlichen Arbeitsteilung von der ,,allseitige[n] Tätigkeit" und der „Ausbildung aller unserer Anlagen" (MEW 3, 237) spricht, tatsächlich an das gleiche denkt wie Cohen: nämlich an die unbeschränkte Freiheit jedes Einzelnen in der Wahl seiner Betätigung und also an die Abschaffung der sozialen oder beruflichen ,Rollen'. Vielleicht sollte man Marx besser so verstehen, dass er die qualitative Vervollkommnung der Fähigkeiten im Sinn hat, die die Individuen bereits mitbringen. Das wäre aber etwas ganz anderes als die Ausbildung der größtmöglichen Zahl von Fähigkeiten in jedem einzelnen Individuum. So verstanden bedeutete das Ziel der allseitigen Ausbildung, dass Menschen in die Lage versetzt werden sollen, aus ihrer Tätigkeit eine Bereicherung auch für ihr eigenes Leben machen zu können. Marx kommt in diesem Zusammenhang auf eine Form von Reichtum zu sprechen, die sich erst jenseits der notwendigen Arbeit entfaltet und dann positiv wieder auf diese zurückwirkt: „der wirkliche Reichtum ist die entwickelte Produktivkraft aller Individuen. Es ist dann keineswegs mehr die Arbeitszeit, sondern die disposable time [freie Zeit, ,Nicht-Arbeitszeit'] das Maß des Reichtums." (Grundrisse, MEW 42, 604) Eine Bereicherung in diesem Sinne ist Marx zufolge in der bürgerlichen Gesellschaft schlichtweg unmöglich, weil die kapitalistische Produktionsweise die Ausbeutung der Arbeitskraft so organisiert, dass die Individuen ihre Fähigkeiten nicht voll ausbilden können. So verstanden steht die Idee der Selbstbetätigung nicht mehr für das unrealistische Programm Jeder soll alles machen können', sondern für eine Gesellschaftsform, die rational ist, weil sie Arbeit erstens effektiv organisiert, indem sie die Produzenten ihren Fähigkeiten entsprechend einsetzt; zweitens, weil die Produzenten im Umkehrschluss aus ihrer Arbeit über die Reproduktion ihrer Lebensgrundlage hinaus einen tatsächlichen Nutzen - freie Zeit - und somit eine wirkliche Bereicherung auch für sich selbst ziehen können. Die Idee der Selbstbetätigung hat aber nicht nur diese soziale Seite. Sie muss auch kognitiv verstanden werden: als Prozess der Bewusstwerdung und der verstandesmäßigen Durchdringung der Verhältnisse. So wird in der Marxschen Ethik mit dem Ideal der Selbstbetätigung ein weiterer Aspekt von Freiheit deutlich: die Freiheit des bewussten Umgangs mit Anderen und mit den Dingen. Erst „durch die kommunistische Revolution ... & die damit Identische Aufhebung des Privateigenthums" wird die „all-
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seitige Abhängigkeit ... verwandelt in die Controle & bewußte Beherrschung dieser Mächte, die ... [den Individuen] bisher als durchaus fremde Mächte imponirt & und sie beherrscht haben". (Marx/Engels 1845/46, 25f„ d. Verf.) Selbstbetätigung ist die progressive Überwindung der Entfremdung - im zitierten Sinne eines Kontrollverlustes an .fremde Mächte', weshalb also nicht erst eine auf eine Bestimmungsteleologie hinauslaufende Versöhnung mit einem ursprünglichen menschlichen Wesen zugrunde gelegt werden muss - , und die von ihr getragene Vorstellung von Freiheit sollte dementsprechend als eine Form der praktischen und der geistigen Autonomie (von griech. autonomia: ,nach eigenen Gesetzen leben') verstanden werden. Es handelt sich also um einen Rückgriff auf ein Thema der Aufklärung, das in massiver Abwandlung zu einem Fortschrittsziel erweitert wird. Die Autonomie ist ja schon bei Kant Vorbedingung der Sittlichkeit - allerdings unter Voraussetzung einer bereits bestehenden Freiheit des Willens, und nicht wie bei Marx als praktisches Resultat der geschichtlichen Bewegung: „Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten"; sie ist „das alleinige Prinzip der Sittlichkeit" (1788, A58, 39). 15 Marx geht es natürlich um Autonomie im Rahmen des bereits erwähnten, unhintergehbaren doppelten Verhältnisses der Produktion des Lebens: 1.) das gesellschaftliche Verhältnis, 2.) das Naturverhältnis. Und freilich wird es niemals möglich sein, diesen Verhältnissen allen Zwangscharakter zu nehmen; der Kommunismus werde ein „Reich der Notwendigkeit" bleiben (Kapital, MEGA 11/15, 795/MEW 25, 828). Was sich aber reduzieren lässt, ist die Bewusstlosigkeit gegenüber diesen Verhältnissen. Denkt man sich nämlich die gesteigerte Befriedigung der Bedürfnisse dazu, die mit dem erhöhten Wachstum der Produktivkräfte und der Neuordnung der Produktionsverhältnisse im Kommunismus möglich wird, so eröffnet sich ein wesentlich vergrößerter Handlungsspielraum. Die politisch errungene und der Natur abgerungene neue Freiheit ermöglicht den „vergesellschaftete[n] Mensch[en]" vor allen Dingen, den „Stoffwechsel mit der Natur ... unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle [zu] bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden". (Ebd.) Konkret bedeutet das eine neue Einstellung zu besagtem Stoffwechsel - also zur Arbeit - , der erstens „mit dem geringsten Kraftaufwand" und zweitens unter den „würdigsten und adäquatesten Bedingungen" vollzogen werden soll. Gleichzeitig beinhaltet dies auch eine - aus heutiger Sicht - wesentlich experimentellere Einstellung hinsichtlich der arbeitsfreien Zeit. Denn die eigentliche „menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt", basiert auf der Arbeit und liegt doch zugleich jenseits davon. Darum ist „die Verkürzung des Arbeitstags ... die Grundbedingung" (ebd.) für die Verwirklichung dieser neuen Freiheit und also ein fundamentaler Inhalt des Marxschen FortschrittsbegrifFs. 16 15
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,,[D]enn Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe" (Kant 1785, A450, 76). Diese Entwicklung könnte sogar zur Überwindung der Moral selbst führen - zumindest in ihrer festgeschriebenen Form als Recht: „In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Theilung der Arbeit, damit auch
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Selbstverständlich gibt es nicht nur eine einzige Marasche Wertvorstellung. Sicherlich haben auch andere Vorstellungen wie Emanzipation, Gleichheit, Gerechtigkeit, und - was oft vergessen wird - die wissenschaftliche Erklärung der Welt, für Marx Idealcharakter. Nur handelt es sich hierbei eben nicht um typisch Marxsche Werte. In der beschriebenen Form ist die Selbstbetätigung, das bewusst gesteuerte, selbstzweckmäßige Arbeiten der assoziierten Produzenten, jedoch ein eigentümlich Marxscher Wert. Dieser Begriff scheint demnach die anderen genannten Werte in sich zu vereinigen. Er tut dies außerdem auf eine Weise, die einen Bezug zur Kritik der politischen Ökonomie herstellt, in der schließlich Marx' Hauptleistung zu sehen ist. Aus diesem Grund habe ich nicht irgendein Ideal von Wissenschaftlichkeit oder Emanzipation als den zentralen Inhalt des Marxschen Fortschrittsdenkens besprochen, sondern eben die Idee der Selbstbetätigung, in der die genuin Marxsche Vorstellung von der Bewegung des Guten zum Ausdruck kommt.
4.
Moralische Werte und ideale Zwecksetzung
Um den Widerspruch zwischen der deskriptiven und der präskriptiven Seite der doppelten Ethik auf die Spitze zu treiben, stelle ich jetzt die These auf, dass diese beiden Betätigungsfelder auf zwei unterschiedlichen Wertauffassungen beruhen. Die Moralauffassung (Moral als Ideologie) geht von einem den Dingen und Verhältnissen immanenten, wenngleich historisch relativen Wertcharakter aus. Die moralisierende Kritik hingegen ist eine Variante der subjektiven Wertsetzung und hält in ihrer externen Variante dem Bestehenden eine bessere Gesellschaftsordnung entgegen. Dadurch konstatiert sie dem Bestehenden einen fundamentalen Mangel, wodurch die vorausgesetzte Wertvorstellung zum Maßstab der gewünschten Verbesserung wird, die über das Bestehende hinausweist. Das ist die ideale Zwecksetzung.
a.
Zwei Auffassungen vom moralisch Wertvollen
Die verschiedenen Betätigungsfelder der Marxschen Auseinandersetzung mit der Moral entsprechen im wesentlichen zwei unterschiedlichen moralphilosophischen Werttheorien.17 Die erste Position betont das subjektive Moment der Wertsetzung seitens der Wertenden, die aus freiem Willen, aus Bedürftigkeit oder Zielstrebigkeit erfolgen kann. der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit, verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Productivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichthums voller fliessen - erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, Jedem nach seinen Bedürfnissen!" (Kritik des Gothaer Programms, MEGA 1/25, 15) 17
Die altgriechische Philosophie kennt keinen allgemeinen moralischen Wertbegriff, kommt ihm aber mit dem höchsten Gut (summum bonum) nahe. Der Wert ist erstmals bei Eduard von Hart-
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Das setzt natürlich voraus, dass die Dinge an sich keinen Wert haben. Erst durch das Werturteil wird ihnen über ihre objektiven Attribute hinaus eine moralische Bedeutung zugesprochen. Philosophiegeschichtlich muss dies vor allem als das Paradigma der Verinnerlichung des Guten gedacht werden, wie sie gerade auch von Kant betrieben wird, der die Freiheit des Willens zum alleinigen Prinzip der Moral erhebt: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille." (1785, A393,
10) Die zweite Position ist eine Spielart des ethischen Realismus, die nicht mehr zwischen der Bewertung des Gegenstandes und dem Gegenstand selbst unterscheidet, sondern davon ausgeht, dass es von den Subjekten unabhängige objektive Werte gibt. Die Werthaftigkeit einer Sache wird also nicht an der subjektiven Bewertung festgemacht, sondern an den existentiellen Merkmalen der Güter. Nun beschäftigt sich die Marxsche Moralauffassung mit ideologischen Werten und Normen, die moralische Vorstellungen repräsentieren, die sich zumindest de jure bereits durchgesetzt haben. Im Unterschied dazu strebt die moralisierende Kritik konkrete soziale Zustände an, die historisch erst noch zu realisierenden sind. Diesen Unterschied kann Marx, wie gesagt, nicht sichtbar machen. Er hätte ihn überhaupt nur dann artikulieren können, wenn ihm seine eigene moralisierende Kritik als solche bewusst gewesen wäre. Deshalb wird die Differenz zwischen den beiden Bereichen der doppelten Marxschen Ethik von allen Interpreten sehr richtig als problematisch aufgefasst. Bewusst vertritt Marx nämlich lediglich die zweite der genannten Strömungen der Werttheorie. Das stellt sich in seiner funktionalen Erklärung der Moral so dar, dass jeder Wert und jede Norm als ein Bestandteil einer Ideologie angesehen wird, die wiederum als notwendiger Ausdruck bestimmter klassenspezifischer Interessen in den gesellschaftlichen Verhältnissen begründet ist. Diese Werte und Normen gehören also zum Wesen der sie umgebenden Gesellschaft, und in diesem Sinne sind sie objektiv. Das heißt auch, dass die in ihnen enthaltenen Forderungen zumindest prinzipiell bereits realisiert sind, insofern sie gängige Handlungsweisen für sittlich befinden und gutheißen: „Es sind lauter Forderungen, die, soweit nicht in phantastischer Vorstellung übertrieben, bereit realisirt sind." (Kritik des Gothaer Programms, MEGA 1/25, 22/MEW 19, 29) Der ideologische Charakter dieser Werte und Normen besteht erstens darin, dass sie nicht in ihrer historischen Entstehung gesehen werden; zweitens darin, dass sie das moralische Fundament der herrschenden Interessen bilden, die sie also legitimieren. Zu diesem Zweck werden mann Gegenstand einer eigenständigen philosophischen Lehre, der Axiologie (von griechisch axios, wertvoll). Der Wert wird gewöhnlich als ,das Gute' verstanden (auch als das ideale Seinsollen). Im Unterschied dazu werden Handlungsanweisungen, Gebote und Verbote Normen (von griech.-etrusk.-lat. ,Winkelmaß, Richtschnur, Regel') genannt. Philosophiegeschichtlich stellt der Wert ein aus der Nationalökonomie importiertes Ersatzwort dar. Der Statusverlust des Guten im philosophischen Diskurs, den dieser Import verdeutlicht, ist bedauert worden. Helmut Kuhn beispielsweise will das nach-metaphysische, ontologisch entwurzelte und auf den Bereich des menschlichen Tun beschränkte Gute als .Wert' nicht mehr gefallen; es sei nur noch .geltend' (wie eine Währung) und daher wenig interessant (1973, 672).
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sie dann bisweilen auch auf Bereiche angewendet, auf die sie nicht passen (was ja der Gegenstand von Marx' immanenter moralisierender Kritik ist). Die bestehende Moral ist also nicht in erster Linie deshalb ideologisch, weil ihre Forderungen nur zum Schein erfüllt wurden, oder weil sie nicht wirklich für das Gute stehen. Dass beispielsweise die bürgerliche Gesellschaft ihre Vorstellung von Freiheit tatsächlich verwirklicht (oder im Begriff ist sie zu verwirklichen), wird von Marx weder angezweifelt noch für schlecht befunden. Es wäre ganz falsch anzunehmen, Marx mache sich über den bürgerlichen Freiheitsgedanken lustig, weil er darin einen Trugschluss oder eine Illusion sieht. Die bürgerliche Gesellschaft hat auch für ihn den Wert, eine beschränkte Form von Freiheit tatsächlich umzusetzen. Da die ideologische Moral in diesem Sinne in den gesellschaftlichen Verhältnissen verankert ist, handelt es sich bei ihr um ein Geflecht objektiver Werte, die sich in einem Moraldiskurs verselbständigen mögen, die aber keine ,reinen' Willensschöpfungen sind. Wie wir gesehen haben geht es der Marxschen Moralauffassung um den Nachweis der .historische Entsprechung' der Moral. Im Gegensatz zur ideologischen Moral sind die in Marx' externer, moralisierender Kritik enthaltenen Wertvorstellungen den bestehenden Verhältnissen (mitsamt den darauf basierenden MoralaufFassungen) äußerlich. Nur handelt es sich hierbei weder um besonders ungewöhnliche Werte, die unter den sich aus der Ideologietheorie ergebenden epistemologischen Bedingungen gar nicht hätten entstehen können (das Selbstanwendungsproblem in der Fassung Iorios), noch fallen diese Werte gänzlich aus dem Rahmen der Moral heraus (Immoralismusthese). Sie kommen jedoch auf anderem Wege zustande als die bereits bestehenden ideologischen Wertvorstellungen. Anders als Woods nicht-moralische Werte sind sie nicht der Moral per se äußerlich, wohl aber dem dominanten Wertekanon. Das ist der Grund, weshalb sie überhaupt eine Chance haben, der notwendig gewachsenen ideologischen Moral zu entrinnen. Es sind dies im besten Sinne alternative Werte. Und obwohl sie auch der Ideologie nicht äußerlich sind (schließlich ist die Moral nach Marx grundsätzlich eine ideologische Bewusstseinsform), müssen sie dennoch in eingeschränktem Maße nicht-ideologisch gedacht werden (vgl. Nielsen 1989, 35), da sie die wichtige ideologische Funktion der moralischen Legitimation der bestehenden Gesellschaft nicht erfüllen. Abgesehen davon ist die Frage nach der Zugehörigkeit der Marxschen Werte, wie sie von Nielsen und Wood gestellt wird (Abschnitt 2.b. in diesem Kapitel), eigentlich zweitrangig. Letzten Endes verhilft uns allein das Wissen um den Inhalt einer bestimmten Moralvorstellung zu einem vernünftigen Urteil über ihren Sinn oder Unsinn.
b.
Fortschrittsdenken und Teleologie: die ideale Zwecksetzung
Kommen wir nun zum Ausmaß der idealen Zwecksetzung in der Marxschen Theorie: zu den Konsequenzen, die dem Marxschen Fortschrittsdenken durch die Äußerlichkeit der von der externen moralisierenden Kritik implizierten Wertvorstellungen (namentlich die Selbstbetätigung) entstehen.
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Natürlich hat das Fortschrittsdenken immer einen moralischen Kern, da es ein Werturteil über die Bewegung des Guten im historischen Prozess fallt. Besonders reizvoll ist die Reflexion der Möglichkeiten der Verbesserung, wenn sie mit der Gegenwart bricht und sich ganz auf die Zukunft orientiert. Diese Orientierung birgt allerdings ein ständiges Gefahrenpotential, da sie dazu tendiert, die in die Zukunft hineinprojizierte Höherwertigkeit als ,Entwicklungsmittel' in die Erklärung der historischen Bewegung mit aufzunehmen. Wenn dies geschieht, dann gleitet die Erklärung in die Geschichtsteleologie ab. Für die materialistische Geschichtsauffassung bedeutet das ganz konkret die Gefahr eines Zurückgehens zum Fortschritt als Kollektivsingular und als Prinzip des traditionellen Konfliktmodells (Fortschritt-als-Gegensatz). Problematisch ist die Marxsche Konzeption der gegensätzlichen historischen Bewegung der Gesellschaft also nicht etwa deshalb, weil sie mit den falschen Kategorien operiert - als ob Kategorien wie Produktivkraft, Produktionsverhältnisse, Proletariat etc. heute bedeutungslos geworden wären - , sondern weil sie diese Kategorien und die darauf aufbauenden Erklärungsmuster manchmal mit den in den vorangegangenen Kapiteln beschriebenen Bestimmungsteleologie vermischt. Auf diese Vermischung stürzt sich dann der Heilslehrenvorwurf. Was dieser allerdings zu verschweigen pflegt, ist, dass Marx selbst die Vermischung von Erklärung und Bewertung als apriorische Konstruktion der Entwicklung nach vorausgesetzten ,Lieblingsideen' erkennt und als .spekulative' Geschichtsteleologie zurückweist. Marx selbst formuliert also das Teleologieproblem als die Projektion idealer Zwecke. Trotzdem ist nicht von der Hand zu weisen, dass die materialistische Geschichtsauffassung gelegentlich Erklärung und Bewertung durcheinander wirft. Unter Erklärung verstehe ich die nach Marxschem Verständnis „einzig materialistische und daher wissenschaftliche Methode" (Kapital, MEGA II/6, 364, Fn. 89/MEW 23, 393, Fn. 89), welche historische Entwicklungen in ihrer ,materiellen Basis' und den .wirklichen Lebensverhältnissen' verankert. Immer wieder bewertet Marx diese Entwicklungen nach der Maßgabe subjektiver Zielvorstellungen. Auf diese Weise wird aus der Analyse der gegensätzlichen Gegenwart scheinbar ein Gegensatz zwischen der Gegenwart und einem zukünftigen Geschichtsziel, wenngleich Marx diesen Gegensatz niemals - wie von der Löwithschen Formel behauptet - absolut voraussetzungslos in das Geschichtsziel aufhebt, sondern stets von Seiten der gegensätzlichen Gegenwart. Wie ich im vierten Kapitel gezeigt habe, lässt sich dieses Methodenproblem in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten an Marx' Diskussion der Hegeischen Negation der Negation (und der Behandlung, die sie durch Feuerbach erfährt) nachvollziehen. Freilich ließe sich selbst ein solches abgemildertes Aufhebungsschema in den ,Universalschlüssel' einer überhistorischen Geschichtsphilosophie verwandeln (siehe Kaptel IV, Abschnitt 5.b.), mit dessen Hilfe die Entwicklung als Reifungsprozess eines bestimmten Geschichtssubjektes dargestellt werden kann (Bestimmungsteleologie). Die Theorie der Geschichte kennt im wesentlichen zwei konkurrierende Erklärungsmuster: Einerseits die ursächliche und in diesem Sinne immanente Erklärung, die den Gegenstand als ein aus seinen Bedingungen - und also aus seiner Selbstbewegung - heraus erschließbares Phänomen begreift; andererseits das finalistische Denkmus-
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ter, welches den Gegenstand aus seinen angenommenen Entwicklungszielen heraus zu verstehen versucht. Telische Konzepte in Wissenschaft und Philosophie erklären Phänomene, indem sie sie durch ihre Ziele (teloi) begründen. Die Vorstellung die Geschichte habe einen bestimmten finalen Zustand zum Ziel oder Zweck scheint außerdem zunächst mit einer nicht-spekulativen, immanenten Erklärung ihres Verlaufs vereinbar zu sein. Wie wir gesehen haben, kokettiert Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten mit beiden Erklärungsmustern. Dieser Deutung zufolge wäre die Teleologie in der Geschichte dann eine Variante des Kausalitätsprinzips (zumal es ein allgemeiner Zug der Teleologie ist, Ursachen als zweckmäßig für ihre Wirkungen zu betrachten.): nämlich die Umkehrung der gewöhnlichen Kausalsequenz. Diese Determination des Gegebenen durch das Zukünftige - also der Ursache durch die Wirkung - verleiht dem Geschichtsprozess einen tieferen ,Sinn'. Aufgrund dieses Sinnstiftungscharakters hat sich die Teleologie in der Geschichte als eine besonders reizvolle Variante des Fortschrittsdenkens herausgestellt. In diesem Punkt muss man den Anhängern der Löwithschen Formel sicherlich Recht geben. Will man also die These vertreten, der Marxsche Fortschrittsbegriff habe nicht primär die Funktion, dem Geschichtsprozess einen Sinn zuzusprechen, so muss man zunächst sein Verhältnis zur Teleologieproblematik untersuchen. Marx ist zweifelsohne von Beginn an bestrebt, den geschichtlichen Wandel als gegensätzliche Selbstbewegung zu begreifen. Die Frage nach dem Anteil der Geschichtsteleologie an seiner Theorie muss daher behutsam formuliert werden: Wird der Versuch unternommen, historische Entwicklungen mit Hilfe von an ihn gerichtete Wertvorstellungen zu erklären? Oder wird der Geschichtsprozess aus sich selbst heraus, das heißt durch seine innere Notwendigkeit, erklärt? Diese letzte Erklärungsform könnte man unter Berufung auf die immer wieder auftauchende Redeweise von den .materiellen' Bedingungen der Gesellschaft und den .wirklichen' Lebensverhältnissen der Produzenten auch gegenständliche Erklärung nennen. In andere Worte gefasst ist dies also der methodische Gegensatz zwischen der idealen Zwecksetzung (die hier bereits als die ,externe' Variante der moralisierenden Marxschen Kritik charakterisiert wurde) und einer letztlich auf dem Konzept der gegenständlichen Vermittlung beruhenden Erklärung historischer Prozesse, die Marx schon im Pariser Manuskript anvisiert. Wichtig ist die Feststellung, dass die ideale Zwecksetzung sich vielleicht nicht ganz aus der Marxschen Theorie wegdiskutieren lässt, dass sie aber mit den durch die Spekulations-Kritik gewonnenen Ergebnissen, das heißt auf der Grundlage der Marxschen Theorie selbst, kritisch - selbstkritisch - reflektiert werden kann. Das Ausmaß der idealen Zwecksetzung in der Marxschen Theorie lässt sich noch weiter einschränken, wenn man sich vor Augen hält, dass genau genommen selbst die Projektion eines Geschichtszieles (egal ob darunter nun eine Durchgangsetappe oder ein finaler Zustand verstanden wird) noch nichts darüber aussagt, wie die Erreichung dieses Zieles (die Telosrealisation) begründet wird. Dass das Erreichen eines wie auch immer bestimmten Stadiums als erstrebenswert angesehen wird heißt schließlich nicht zwingend, dass dieses Stadium die treibende Kraft der Herbeiführung seiner selbst ist. Zum Beispiel machen Marx und Engels keinen Hehl daraus, dass sie im Kommunis-
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mus eine wünschenswerte und in diesem Sinne ,höhere' Gesellschaftsordnung sehen. Es wird ihnen kaum entgangen sein, dass sie damit einen Wertmaßstab an den Geschichtsprozess ansetzen. Dass ihre Darstellung der geschichtlichen Entwicklung dieses evaluative Moment hat, bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass hier eine im strengen Sinne teleologische Argumentation zugrunde liegt. Jedenfalls verkaufen Marx und Engels ihre Darstellungen des Übergangs zum Kommunismus als völlig wertfrei. Sie gehen offensichtlich davon aus, die historische Notwendigkeit des Kommunismus in völliger Absehung von dem, „was sich die Philosophen als »Substanz' & ,Wesen des Menschen' vorgestellt", begründet zu haben - ihn also gegenständlich erklärt zu haben, aufbauend nur auf dem als gegeben vorgefundenen ,,reale[n] Grund" der vorgefundenen „Summe von Produktivkräften, Kapitalien & sozialen Verkehrsformen" (1845/46, 30). Dass Marx im Kommunismus etwas Besseres sieht, dass also die kommunistische Gesellschaft einem erklärten Kommunisten ein Ziel ist, genügt nicht als Beweis für die Richtigkeit der Löwithschen Formel, nach der die Marxsche Geschichtsauffassung eine teleologische Heilslehre ist. Löwith behauptet immerhin, das gesamte moderne Geschichtsdenken, „nicht nur die radikal weltlichen Fortschrittsphilosophien von Condorcet, Saint Simon, Comte und Marx, sondern nicht minder ihr Umschlag in negativ fortschreitende Verfallstheorien, zwischen denen der gegenwärtig herrschende Fortschrittfatalismus die Mitte hält", sei „eschatologisch von der Zukunft her motiviert". (1967, 38) 18 Wenn die Löwithsche Formel aber nicht bei dieser bloßen Unterstellung stehen bleiben will, dann muss sie den Beweis erbringen, dass die materialistische Geschichtsauffassung die historische Bewegung eben nicht auf der Grundlage des vorgefundenen Gegebenen entwickelt, sondern retroaktiv unter Zuhilfenahme einer Finalursache, dass also ein irrealer Zustand, subjektiv als Zweck der Entwicklung des Bestehenden vorausgesetzt, das Bestehende sozusagen auf sich zieht. Fortschritt wäre dann eine der Geschichte innewohnende (wenn nicht gar übergeordnete) Potenz. Sollte diese Annahme zutreffen, dann wäre aber die Angriffsfläche des Heilslehrenvorwurfs
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Damit akzeptiert Löwith implizit die gängige Vorstellung von der Teleologie als Umkehrung des gewöhnlichen Kausalnexus. Nicolai Hartmann weist in Teleologisches Denken ausführlich nach, dass sich die Kategorie der Finalität überhaupt nur „in erster Näherung" als eine solche Umkehrung der Kausalität darstellt, „nämlich als die zeitliche Umkehr der Dependenzrichtung im Prozeß: Abhängigkeit des Früheren vom Späteren ... Das bedeutet nicht nur die Umkehrung des Kausalnexus, sondern auch der Zeitfolge. Und da die Zeitfolge in Wirklichkeit durch keine Macht der Welt umgekehrt werden kann, so muß man vielmehr sagen: der Finalnexus ist eine Determination, welche der Richtung des Zeitflusses und der Prozeßabläufe entgegen läuft." (1966, 3) In der Teleologie greift also das Spätere dem Früheren (bereits Gewordenen) vor. Das heißt: das Irreale greift dem Realen vor. Das ist aber nur möglich, wenn das Zukünftige irgendwie als im Gegenwärtigen enthalten angenommen wird. „Das, was nur in Gedanken vorweggenommen werden kann, wird ohne ein Denken als vorweg bestehend vorausgesetzt." (Ebd., 4) Aus diesem Grund hat die Teleologie einen Entwicklungsbegriff, in dem der Wortsinn des ,Auswickelns' noch nicht verblasst ist: ein vorbestimmtes Endstadium ist in den bestehenden Verhältnissen ,eingewickelt' enthalten (ebd.). Der Komplementärbegriff zur Entwicklung ist darum das Angelegtsein auf ein Endstadium: die Anlage (potentia).
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herunter zu brechen auf einen verträglichen und ganz klar umrissenen Bereich der Marxschen Theorie. So nämlich der Heilslehrenvorwurf die Marxsche Theorie überhaupt trifft, dann in der Verbindung von materialistischer Geschichtsauffassung und präskriptiver Ethik (beispielsweise im Pariser Manuskript), die hier als externe moralisierende Kritik rekonstruiert wurde. Der Marxschen Geschichtsauffassung ein allgemeines teleologisches Erklärungsmuster anzulasten dürfte um so schwieriger sein, als Marx und Engels der Teleologie im Zuge der Spekulationskritik Mitte der 1840er Jahre eine dezidierte Absage erteilen. Mehr oder weniger präzise Kurzanalysen der teleologischen Argumentationsweise finden sich schon in der Heiligen Familie, in den Fragmenten zur Deutschen Ideologie, im Elend der Philosophie und dann später in den sehr deutlichen, wenngleich oberflächlichen und knappen Bemerkungen zu Darwin.19 In der Deutschen Ideologie begreifen Marx und Engels die Teleologie in der Geschichte bereits als den Versuch, die zeitliche Umkehr der Abhängigkeit des Früheren vom Späteren im Prozess durchzusetzen: „Die Geschichte ist nichts als die Aufeinanderfolge der einzelnen Generationen, von denen Jede die ihr von allen vorhergegangenen übermachten Materiale, Kapitalien, Produktionskräfte exploitiert, daher also einerseits unter ganz veränderten Umständen die überkommene Thätigkeit fortsetzt und andrerseits mit einer ganz veränderten Thätigkeit die alten Umstände modifiziert, was sich nun spekulativ so verdrehen lässt, daß die spätere Geschichte zum Zweck der früheren gemacht wird ... wodurch dann die Geschichte ihre aparten Zwecke erhält & eine ,Person neben anderen Personen' ... wird, während das, was man mit den Worten ,Bestimmung', ,Zweck', ,Keim', ,Idee' der früheren Geschichte bezeichnet, weiter nichts ist als eine Abstraktion von der späteren Geschichte ist [sie.], eine Abstraktion von dem eben aktiven Einfluß, den die frühere Geschichte auf die spätere ausübt." (1845/46, 23f.) Dieses Zitat beweist freilich nicht, dass sich die gegenständliche Erklärung dauerhaft gegen die Verlockungen des teleologischen Denkens durchsetzen kann. Trotzdem be19
Marx vereinnahmt Darwin geradezu für seine Kritik des teleologischen Denkens. Erste Äußerungen zu Darwin kommen allerdings von Engels, der The Origin of Species gleich nach seinem Erscheinen am 24. November 1859 liest. In seinem Brief an Marx vom 12. Dezember 1859 schreibt er, Darwin sei „ganz famos. Die Teleologie war nach einer Seite hin noch nicht kaput gemacht, das ist jetzt geschehn." (MEGA III/10, 127/MEW 29, 524) Da Engels sich auf die Seite der organischen Natur bezieht, erachtet er die Teleologie auf der anderen Seite (also auf der Seite der Philosophie) wahrscheinlich als bereits erledigt. Marx liest The Origin of Species ungefähr ein Jahr später. Am 19. Dezember 1860 schreibt er an Engels, das Werk enthalte „die naturhistorische Grundlage für unsere Ansicht" (MEGA III/ll, 271/MEW 30, 131). Diese Aussage wiederholt er am 16. Januar 1861 in einem Brief an Lassalle: „Sehr bedeutend ist Darwin's Schrift u. paßt mir als naturwissenschaftliche Unterlage des geschichtlichen Klassenkampfes. Die grob englische Manier der Entwicklung muß man natürlich mit in den Kopf nehmen. Trotz allem Mangelhaften ist hier zuerst der ,Teleologie' in der Naturwissenschaft nicht nur der Todesstoß gegeben, sondern der rationelle Sinn derselben empirisch auseinandergelegt." (MEGA III/ll, 316/MEW 30, 578)
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schränkt Marx selbst den Geltungsbereich teleologischer Erklärungen auf die Darstellung des Arbeitsprozesses, auf die „zweckmäßige Thätigkeit oder die Arbeit selbst": „Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vorn herein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprocesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht daß er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt, verwirklicht er im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Thuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muß." (Kapital, MEGA II/6, 193/MEW 23, 193) Marx macht immer wieder deutlich, dass die gesellschaftliche Entwicklung eben nicht in Analogie zu der Tätigkeit des Baumeisters zu denken ist. Die gesellschaftliche Ordnung wird nicht zuerst ,im Kopf' bzw. in der .Vorstellung' entworfen und dann nach diesem vorgefassten Plan gebaut. Diese ungewöhnliche Teleologiearmut verbürgt die philosophische und sozialwissenschaftliche Relevanz der materialistischen Geschichtsauffassung bis zum heutigen Tag. Trotzdem werden Marx auch heute noch in Form des Heilslehren- und Utopievorwurfs regelmäßig teleologische Argumentationsmuster unterstellt, ohne dass diejenigen, die diese Vorwürfe erheben, sich die Zeit nehmen zu präzisieren, was genau damit eigentlich gemeint sein soll. Schließlich sind zwei ganz verschiedene Teleologiebegriffe denkbar: Erstens ein subjektiver, psychologischer Begriff, der sich im Bereich des Willens und der Zweckrationalität bewegt, und also die Veräußerlichung von ursprünglich bewusstseinsimmanenten Zielen beschreibt, wie es Marx am Beispiel des Arbeitsprozesses schildert. Zweitens ein älterer, objektiver Begriff, der eine wie auch immer geartete planmäßige Lenkung der Geschicke von Mensch und Natur auf ein bestimmtes Ziel hin durch eine transzendente äußere Kraft voraussetzt, die über dem menschlichen Willen steht. Wenn heutzutage mit dem Teleologievorwurf gegen den modernen Fortschrittsgedanken vorgegangen wird, dann wird gewöhnlich argumentiert, dieser oder jener Denker verspreche auf die eine oder andere Art die Errichtung des „Himmels auf Erden", was bloße „Prophetie" sei (Popper 1990, 107, 232). Hier spielt also der erste der beiden genannten Teleologiebegriffe die Hauptrolle. Interessant ist, dass Marx denselben Begriff ins Feld führt, wenn er etwa Proudhons spekulative Methode als , Entleerungsbewegung seines Kopfes' (Kapitel IV, Abschnitt 4.b.) bezeichnet. In diesem Punkt ist Marx manchmal etwas voreilig. Denn diese und ähnlichen Charakterisierungen erinnern an die zeitgenössische Fortschrittskritik, die ja grundsätzlich die Rationalität von Fortschritt in Abrede stellen möchte - und das ist nicht Marx' Absicht. Die zeitgenössische Kritik verwendet zweckrationalistische Theoreme, um das Zweck-Mittel Verhältnis im Fortschritt selbst zum Ursprung allen Übels zu machen. Sie behandelt also das durchaus praktische und stets in historische Naturverhältnisse eingebundene Phänomen Fortschritt in Analogie zur
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zweckmäßigen Handlung. So entsteht letztendlich der Eindruck, Fortschritt bestehe allein im nachträglichen Vollzug eines, wie Marx im Zitat formuliert, ,in der Vorstellung ideell schon Vorhandenen'. Das läuft allerdings auf die weitgehende Beschränkung des Fortschritts auf den Willen der planenden Subjekte hinaus. Wie schon der ,abstrakte' FortschrittsbegrifF der Hegelianer vernachlässigt diese Herangehensweise die Tatsache, dass Fortschritt nicht nur geplant, sondern immer auch erarbeitet werden muss. Statt das Marxsche Fortschrittsdenken pauschal als Geschichtsteleologie zu verurteilen, sollte in jedem Fall geprüft werden, wie Marx zu einem bestimmten Fortschrittsurteil kommt. Wird der Fortschritt aus dem Gegebenen abgeleitet, oder wird er (wie in der von Marx selbst kritisierten spekulativen Verdrehung) zum Zweck gemacht und also a priori als das Prinzip der Geschichte vorausgesetzt? Man könnte dieselbe Frage im Rückblick auf die Rekonstruktion der formalen Seite des Fortschritts auch so formulieren: Herrscht in den Marxschen Studien zu größeren geschichtlichen Zusammenhängen wie der sogenannten ,Logik der Übergänge' ein Konflikt zwischen der gegenständlichen und der teleologischen Methode? Wird von dem Übergang von einer bestimmten Gesellschaftsformation zur nächsten gesagt, er stehe auf der bedeutungsschweren Grundlage eines Sollensl Oder wird von ihm gesagt, er gehe notwendig aus den sich überlagernden gesellschaftlichen Gegensätzen hervor, die dann gegebenenfalls die nachträgliche Bewertung dieser Entwicklung als Fortschritt rechtfertigt? Wieder anders ausgedrückt: Fällt Marx auf die Figur eines krassen unvermittelten Gegensatzes zwischen dem Alten/Sein (Position) und dem Neuen/ Sollen (Negation) auf neuer Grundlage zurück, die er selbst bei Feuerbach kritisiert, oder macht er mit seiner Vorstellung von der von Widersprüchen und Antagonismen gekennzeichneten Selbstbewegung der gegenständlich vermittelten Entwicklung ernst? Ausgedrückt mit den Worten des Kreuznacher Manuskripts von 1843 zur Hegel-Kritik repräsentieren diese unterschiedlichen Ansätze jeweils die , Sache der Logik' und die ,Logik der Sache' (siehe Kapitel V, Abschnitt 5.a.). Immer dann, wenn Marx die Geschichtsentwicklung tatsächlich unter dem Gesichtspunkt eines Sollens betrachtet, stellt sich auch die Frage nach den Adressaten dieses Sollens. Derer gibt es bei Marx zwei: die Philosophie und das Proletariat. Wenn sie ins Spiel kommen tendiert Marx dazu, den Geschichtsprozess zu vermenschlichen und zum Subjekt zu erheben. Beispielsweise erklärt der junge Marx, die Philosophie stehe „im Dienste der Geschichte", und er verweist auf die , Aufgabe der Geschichte" mit Hilfe der Philosophie „die Wahrheit des Diesseits zu etablieren" und die „religiöse Entfremdung zu bekämpfen". (Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEGA 1/2, 171/MEW 1, 379) Später spricht er von der „historic mission" der Arbeiterklasse, die zwar keine Ideale oder utopischen Vorstellungen zu verwirklichen habe, deren Emanzipation jedoch „to that higher form to which present society is irresitibly tending" führen werde (The Civil War in France, MEGA 1/22, 143). Indem Marx die Geschichte ,Missionen' von diesen wechselnden Subjekten einfordern lässt, unterläuft er sprachlich seinen streng anti-teleologischen Anspruch. Freilich ist Fortschritt zwangsläufig ein ethischer Begriff, da mit ihm eine Bewegung des Guten gedacht wird, die dem Ausgangspunkt dieser Bewegung eine moralische Un-
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zulänglichkeit unterstellt. Im Fortschrittsurteil stehen sich Mangelhaftes und Verbessertes gegenüber. Damit steht aber nicht allein das zukunftsorientierte Fortschrittsdenken, sondern generell alles Fortschrittsdenken - wie der Heilslehrenvorwurf nicht müde wird zu betonen - potentiell an der Schwelle zur Teleologie. Bei Marx beschränkt sich allerdings der Anteil des teleologischen Fortschrittsdenkens auf die externe moralisierende Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Diese Variante der Marxschen Ethik könnte man passend auch als die „verborgene Moral von Marx" (Rohbeck 2006, 17, 67) bezeichnen. In dem Maße, in dem Marx im Zuge seiner moralisierenden Kritik dem Bestehenden originelle Wertvorstellungen wie die Selbstbetätigung entgegenstellt, ist seine Theorie in der Tat - um auf den eingangs bereits zitierten Theodor Lessing zurückzukommen - Ethik en marche. Doch darin erschöpft sich die Marxsche Vorstellung vom gesellschaftlichen Fortschritt nicht. Es gibt überhaupt keine systematisch durchgeführte Marxsche Theorie irgendeines .Anderen' oder irgendeiner ,besseren Welt' (Iorio), die sich in diesem Sinne deuten ließe. Die Gesellschaftsentwicklung wird von Marx ausdrücklich nicht-normativ auf dem Weg der Analyse und der Darstellung des inneren Zusammenhangs und der Historizität des Gegebenen behandelt. Eine Marxsche Theorie, die Entwicklung grundsätzlich mit Fortschritt gleichsetzt, gibt es nicht, und es kann sie auch nicht geben. Zudem bekämpft die Marxsche Theorie den teleologischen Nachweis eines Universalfortschritts ausdrücklich. Zwar kann die externe moralisierende Kritik als die Marxsche Variante der idealen Zwecksetzung angesehen werden, und also als ein teleologisches Residuum im Marxschen Denken; aber sie ist eben nur eine Seite der .doppelten' Ethik: nämlich diejenige Seite, die auf der Grundlage dessen, was Marx selbst ausführt, keine Anerkennung findet.
5.
Die Relevanz der Marxschen Ethik für den Fortschrittsbegriff
Mit seiner doppelten Ethik hat Marx uns daher einen unüberwindbaren Widerspruch hinterlassen. Der Abstand zwischen der moralisierenden Kritik auf der einen Seite und der deskriptiven Moralauffassung auf der anderen ruft Rekonstruktionen der Marxschen Ethik auf den Plan, die bemüht sind, diesen Widerspruch auszumerzen. Der Versuch, Marx ein eindeutiges Verhältnis zur Moral zurechtzulegen, läuft aber zwangsläufig auf eine Reduktion seiner Ethik entweder auf eine Moralphilosophie oder auf die Immoralismusthese heraus. Vor allem die Rekonstruktion der materialistischen Geschichtsauffassung als sinnstiftendes Moralurteil über den historischen Gesamtprozess ohne Erkenntniswert erscheint aus heutiger Sicht kleinlich. Der Gedanke, Marx vermische den szientistischen Anspruch und die moralisierende Wirklichkeit seiner Theorien zu dem berauschenden Cocktail einer säkularisierten Heilslehre, unterschlägt die wesentlichen Differenzierungen seiner Theorien. Man verweist auf die erbauliche moralische Wirkung der Marxschen Theorie, macht sich aber nicht die Mühe, sich ernsthaft mit der ethischen Relevanz dieser Theorie auseinanderzusetzen.
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a.
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Die zwei Seiten der doppelten Ethik im Vergleich
Ich rekapituliere noch einmal die unterschiedlichen Formen von Marx' Auseinandersetzung mit der Moral: 1.) Die moralisierende Kritik oder die präskriptive Seite der doppelten Ethik. Hier müssen wiederum die immanente und die externe Variante unterschieden werden. Die immanente Variante äußert sich angesichts der gesellschaftlichen Realität zynisch über die vorherrschenden und möglicherweise im Recht festgeschriebenen Normen. Die bürgerliche Gesellschaft wird an ihren eigenen moralischen Ansprüchen gemessen. Vorstellungen davon, wie diese Gesellschaftsform überwunden werden könnte, kommen auf dieser Ebene der Kritik noch nicht ins Spiel. Erst die externe moralisierende Kritik setzt selbst Werte, die für die Zukunft zu realisieren sind (allen voran die Selbstbetätigung). Das ist die Marxsche Variante der idealen Zwecksetzung. Eine Rekonstruktion des Marxschen Moralstandpunktes, der die Bedingungen des Heilslehrenvorwurfs erfüllt, kann allein auf der Grundlage der externen Variante der moralisierenden Kritik durchgeführt werden. 2.) Die Moralauffassung oder die deskriptive Seite der doppelten Ethik. Hierbei handelt es sich um den Versuch, die Funktion der Moral aus ihrer gesellschaftlichen und historischen Vermittlung heraus zu erklären, indem auf die Entsprechung zwischen den Werten und den historisch gewachsenen Eigentumsverhältnissen gepocht wird. Diese Form des ethischen Relativismus zielt also nicht auf die Beliebigkeit der Werte; historische Werte können für ihre Zeit eine verpflichtende Gültigkeit haben. Aber die Moral legitimiert die bestehende Ordnung und bildet in diesem Sinne eine Ideologie. Die ideologische Moral erscheint folglich als ein Reich objektiver Werte, die unabhängig von jeder Erfahrung wahr sind und Gültigkeit haben (man denke nur an die lauter werdende Rede von nationalen oder zivilisatorischen ,Wertegemeinschaften'). Auf dieser moralischen Grundlage kann sich kein zukunftsorientiertes Fortschrittsdenken herausbilden, da aus ihr keine .höheren' Formen abgeleitet werden können. Das Ideologische ist an seine Zeit gebunden und kann nicht ohne weiteres in die Zukunft vorgeschoben werden. Es ist ein Ergebnis der Marxschen Kritik der Mitte der 1840er Jahre, dass Fortschrittsentwürfe, die trotzdem eine Verbindung von Geschichtsphilosophie und ideologischer Moral eingehen, zum Scheitern verurteilte Konstruktionen sind. Es ging mir zunächst vor allem darum, die Bestimmung der Moral als Ideologie in all ihrer Deutlichkeit wiederzugeben und festzuhalten, was der IdeologiebegrifF leistet. Speziell in den Fragmenten und Entwürfen zur Deutschen Ideologie kann die Marxsche Ethik, Schlicks Terminologie folgend, als ,Tatsachenwissenschaft' bezeichnet werden, weil sie sich mit vorgefundenen Moralvorstellungen und Moralsystemen befasst; sie ist nicht die ,Normwissenschaft', die sich seit Kant die Frage stellt, mit welchem Recht die sittliche Billigung oder Missbilligung erfolgt, und schon gar nicht ist sie die Wissenschaft, die sich über die vorgefundenen Werte hinausgehend mit dem Seinsollenden beschäftigt. Moritz Schlick ist an dieser Stelle interessant, weil er die auf Hume zurückgehende These relativieren möchte, dass es unmöglich sei, von faktischen Prämissen auf
D I E RELEVANZ DER MARXSCHEN ETHIK FÜR DEN FORTSCHRITTSBEGRIFF
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moralische Urteile zu schließen. 20 Er behauptet, dass ethische Sätze sehr wohl überprüfbare (das heißt: verifizierbare) faktische Sätze sein können. Überträgt man Schlicks Einwand auf die deskriptive Seite der Marxschen Ethik, dann wird deutlich, dass die Theorie vom ideologischen Charakter der Moral nicht als Herabsetzung der Moral zu verstehen ist. Sie besagt zunächst lediglich, dass Menschen in der jeweils herrschenden Normenpyramide gefangen sind und in ihren moralischen Stellungnahmen für gewöhnlich das wiedergeben, was zur Zeit für ,gut' befunden wird. Diese Stellungnahmen sind in dem ganz einfachen Sinne Tatsachenaussagen, dass sie die herrschenden Wertvorstellungen reflektieren. Als solche sind sie aber nicht automatisch falsch oder illusorisch, sondern sie können wie alle anderen Aussagen auch mit ihrer Umwelt abgeglichen und verifiziert bzw. widerlegt werden.21 Der Vergleich mit der Schlickschen Ethik zeigt, dass die Theorie vom ideologischen Charakter der Moral eben nicht als der von Gerhardts Version der Immoralismusthese (2001, 358) unterstellte .positivistische' ethische Eliminativismus verstanden werden darf. Die Marxsche Moralauffassung spricht den moralischen Aussagen sogar einen besonderen Geltungsbereich und eine besondere Funktion zu. Indem sie gelegentlich den Vorwurf der , Flucht in die Moral' erhebt, behauptet sie zwar weiterhin, dass derartige Aussagen in der Wissenschaft nichts zu suchen haben; aber sie behauptet nicht, Moralaussagen könnten unter keinen Umständen wahr sein. Die Marxsche Moralauffassung ist daher nicht der von Gerhardt angeprangerte „ökonomistische Verrat an der Moralität" (ebd., 352), sondern eine Erklärung derselben, welche die veränderliche ökonomische Grundlage der gesell-
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Die These vom sogenannten Is-Ought Gap wurde als Hume's Law oder auch Hume's Guillotine bekannt. Hume wörtlich: „In every system of morality, which I have hitherto met with, I have always remark'd, that the author proceeds for some time in the ordinary way of reasoning, and establishes the being of a God, or makes observations concerning human affairs; when of a sudden I am surpriz'd to find, that instead of the usual copulation of propositions, is, and is not, I meet with no proposition that is not connected with an ought, or an ought not. This change is imperceptible; but is, however, of the last consequence. For as this ought, or ought not, expresses some new relation or affirmation, 'tis necessary that it shou'd be observ'd and explai'd; and at the same time that a reason should be given, for what seems altogether inconceivable, how this new relation can be a deduction from others, which are entirely different from it." (1739/40, 245f.) Damit ist nicht ausgeschlossen, dass es gute Gründe anderer, nicht-deduktiver Art für ethische Schlussfolgerungen gibt. Hume sagt lediglich, dass diese Art der Argumentation .inconceivable' ist, dass der Graben zwischen Is und Ought logischer Natur ist. Ethische Aussagen sind demnach logisch mangelhaft, weil sie etwas Zusätzliches enthalten, das über den Gehalt der Prämissen hinausgeht. Für Schlick ist jedoch die Möglichkeit wahrheitsgemäßer ethischer Aussagen dadurch verbürgt, dass ihre Prämissen normativ indifferent sind: Denn der faktische Inhalt, den ethische Aussagen auch transportieren, ist moralisch neutral und deshalb können diese Aussagen objektiv sein und verallgemeinert werden (vgl. Culjak 2004, 150).
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Schlick vertritt damit den Stanpunkt der Supervenienz: Eine Eigenschaft A ist supervenient, wenn es eine andere Eigenschaften gibt, die bewirkt, dass etwas A ist. Wenn moralische Fakten in dieser Beziehung zu empirischen Fakten stehen, so kann man sagen, dass die moralische Wahrheit auf nicht-moralischer Wahrheit superveniert. Und zwar ist ein moralisches Urteil genau dann wahr, „wenn das, was in ihm beurteilt wird, auch objektiv der Fall ist" (Halbig 2007, 237).
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schaftlichen Verhältnisse in Betracht zieht, um zu zeigen, dass auch die Moral zum gesellschaftlichen Machtdiskurs gehört. Wendet man nun die These vom Tatsachencharakter der Moralaussagen auf die gegensätzliche präskriptive Seite der Marxschen Ethik mit ihren alternativen Wertvorstellungen an, so wird man feststellen, dass selbst diese besonderen Vorstellungen immerhin einen Bezug zu tatsächlichen Begebenheiten haben. Auf diese Weise lässt sich der hier besonders krass gezeichnete Widerspruch zwischen den beiden Seiten der doppelten Marxschen Ethik ein Stück weit zurücknehmen. Denn jetzt lässt sich erklären, warum dieser Widerspruch Marx nicht bewusst wird: Die moralisierende Bemängelung der bestehenden Verhältnisse, die mit der parallel laufenden ideologiekritischen Moralauffassung unvereinbar ist, ist vermutlich in seinen Augen eine durchaus objektive Beschreibung und Beurteilung der tatsächlichen Zustände. In diesem Sinne kann sich also selbst die moralisierende Kritik auf ihr objektives Urteilsvermögen berufen. Trotzdem bleibt mit dem Ideal der Selbstbetätigung im ,Reich der Freiheit' eine als Fortschrittsdenken auftretende Sollensforderung. In diesem Punkt hat der Heilslehrenvorwurf recht. Er übersieht jedoch, dass dieses Denken mehr ist als die bloße Stiftung eines ,Sinnes der Geschichte', weil es im Kern von einer epistemologisch korrekten Beurteilung eines tatsächlichen, gegenwärtigen Mangels ausgeht: Unter den gegebenen Bedingungen kann es die besondere Form der Freiheit, die in der Selbstbetätigung zum Ausdruck kommt, nicht geben. Marx' vorausschauende - oder, um mit Kant zu sprechen, .prophezeiende' - Fortschrittsurteile sind eben nicht, wie der Heilslehrenvorwurf behauptet, allein ,νοη der Zukunft her' motiviert, sondern sie erhalten sich ihren Bezug auf das Gegebene. Der Grund dafür ist wiederum in ihrer prinzipiellen Unreinheit zu sehen, in ihrer nicht rein rationalen Fundierung - das heißt in ihrer Orientierung am Gegenstand der Kritik der politischen Ökonomie, für den sie durchaus Erklärungscharakter haben. Wenn Marx die Moral ursprünglich im Anschluss an Hegels Begriff der Sittlichkeit als die Forderung auffasst, die eine Gesellschaft an den Einzelnen stellt, um ihre Erhaltung gewährleisten zu können, dann erhält diese Auffassung mit dem Begriff der Ideologie ein zusätzliches kritisches Moment. Marx' Beteuerung, er befasse sich allein mit der .wirklichen Bewegung' und seine immer wieder offen bekundete Abneigung gegen Begriffe wie Ziel und Ideal beweisen jedoch nicht, dass er sich der idealen Zwecksetzung gänzlich enthält. Zwar lässt sich die moralisierende Kritik nicht als moralphilosophisches System rekonstruieren; dennoch wird mit der Selbstbetätigung die Vorstellung von einer besonderen Form von Freiheit deutlich, die Marx immer wieder einfordert und die zur antizipatorischen Perspektive seines Fortschrittsdenkens gehört. Und selbstverständlich impliziert diese Perspektive eine Sollensforderung, die sich auf ein Noch-nicht-Realisiertes bezieht, also auf Irreales; sie hat per Definition Idealcharakter. Mir ist deshalb schleierhaft, welchen Nutzen die Marxforschung aus der Behauptung zu ziehen glaubt, Marx trete grundsätzlich ,,[d]er Welt nicht mit einem Seinsollenden gegenüber [...]" (Haug 1986, 37); seine Moralvorstellungen würden „der Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft aber nicht abstrakt als Ideal gegenübergestellt, hinter dem sie zurückbleibt" (Schweppenhäuser 1997, 879). Zumindest der formationsübergreifen-
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de, zukunftsorientierte Marxsche Fortschrittsbegriff ist ohne solche Ideale und ohne ein solches Seinsollendes schlichtweg undenkbar. Allerdings wendet sich Marx an ein Subjekt, das seiner Meinung nach diese Forderungen umsetzen kann. Im Gegensatz zu den ideologischen Werten, die einer sozialen Ordnung sozusagen ,an sich' zukommen und also bereits prinzipiell realisiert sind, haben Idealvorstellungen eine große praktische Relevanz, die darin besteht, dass sie in einem Fortschrittsprozess erst zu verwirklichen sind. Da aber Marx' Projektion idealer Zwecke im Widerspruch zu seiner programmatischen Absage an jegliche moralische Stellungnahme steht, ist die Möglichkeit eines Riickfalls in die teleologische Geschichtsphilosophie mit einem dementsprechenden Fortschrittsbegriff immer gegeben. Anders als die Immoralismusthese und die Rekonstruktion eines systematischen, expliziten Marxschen Moralstandpunktes konstatiert die doppelte Ethik der Marxschen Theorie also eine gewisse Inkohärenz. Und genau darin liegt ihr Nutzen. Denn es ist ja nicht gesagt, dass die sich gegenseitig ausschließenden Bereiche der Marxschen Auseinandersetzung mit der Moral nicht jeweils produktiv nutzbar gemacht werden können. Man befürchtet freilich, mit der Anerkennung bestimmter Ungereimtheiten liefere man gleich den ganzen Marx an seine Kritiker aus. Man möchte die Marxsche Geschichtsauffassung verständlicherweise nicht als ideale Zwecksetzung verstanden wissen und sie damit dem Heilslehrenvorwurf aussetzen. Das ist aber auch gar nicht nötig. Die ideale Zwecksetzung ist eben nur ein Teil der Marxschen Auseinandersetzung mit der Moral. Der Nutzen meiner Konzeption der doppelten Ethik liegt darin, dass sie diese Auseinandersetzung in ihre einzelnen Bereiche herunterbricht. Nur auf diesem Weg eröffnet sich die Möglichkeit, jenseits des Heilslehrenvorwurfs eine ernsthafte Diskussion über die Marxschen Wertvorstellungen zu führen, die nicht mehr auf die einseitige Reduktion der Marxschen Ethik entweder auf die Immoralismusthese (zum Beispiel Wood) oder auf die Rekonstruktion einer zusammenhängenden Marxschen Normenpyramide (zum Beispiel Heller) hinausläuft. Allerdings beruht die Marxsche Ethik auch nicht auf der ebenso einseitigen Zurückweisung der Vernunftbegründung der Moral. Es geht vielmehr darum, der Moral eine, wenn man so will: gefühlsmäßige Grundlage zu belassen und diese mit dem Vernunftanspruch zu vermitteln. Es ist diese „Begründung auf die Natur der Dinge und Menschen", welche die Moral in den Worten Friedrich Jodls „von dem Traum des hirnverbrannten Schwärmers unterscheidet". (1891, 9)
b.
Das Interesse als Prinzip der Marxschen Ethik
Nach allem, was hier über den widersprüchlichen Charakter der doppelten Ethik gesagt wurde, soll jetzt abschließend das Element eingeführt werden, dass ihre beiden Betätigungsfelder verbindet: das Interesse. Die Fassung der Moral unter den Ideologiebegriff erlaubt es Marx, die Behauptung aufzustellen, die Moral könne nicht getrennt von der besonderen Art und Weise betrachtet werden, wie eine Gesellschaft materiellen und kulturellen Reichtum produziert und verteilt. Darum lässt sich seiner Ansicht nach die Moral ohne eine Bezugnahme auf das Interesse der Beteiligten gar nicht verstehen.
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Kant anerkennt das Interesse bekanntlich nicht als ethisch relevanten Begriff. Er spricht ja von der „Idee der Pflicht und der sittlichen Gesetze"; und wenn diese als Gebote gelten sollen, dann darf „der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen oder den Umständen der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden ... sondern a priori lediglich in den Begriffen der reinen Vernunft" (Kant 1785, A389, 5). Nun sind freilich ,die Umstände der Welt, darin der Mensch gesetzt ist' genau diejenigen Umstände, die Marx interessieren. Im Rahmen der Moralauffassung untersucht er sie vermittels des Ideologiebegriffs. Formulierungen wie ,die herrschenden Ideen sind die Ideen der herrschenden Klasse' sprechen einen Interessenkonflikt an. Indem die ökonomische Entwicklung die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelte, hat ,,[d]ie Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen". (Elend der Philosophie, MEW 4, 180f.) Was sind wiederum Interessen, moralphilosophisch ausgedrückt, wenn nicht auf Bedürfnissen beruhende Neigungen? Kant ist sich der Verbindung der Begriffe Neigung, Bedürfnis und Interesse sehr wohl bewusst. Aber er sieht darin bloß die „subjektiven Ursachen", das Angenehme" (1785, A413, 33) - so als sei dies etwas Schlechtes. Die Neigung definiert er zwar treffend als die „Abhängigkeit des Begehrungsvermögens von Empfindungen", als Bedürfnis" (ebd., Anm.), aber damit spricht er ihr eine größere ethische Bedeutsamkeit ab. Ebenso untauglich für die Ethik scheint ihm das Interesse selbst zu sein, das ja für die Abhängigkeit eines Willens steht: „Soviel ist nur gewiß: daß [das Sittengesetz] nicht darum für uns Gültigkeit hat, weil es interessiert (denn das ist Heteronomie und Abhängigkeit der praktischen Vernunft von Sinnlichkeit, nämlich einem zum Grunde liegenden Gefühl, wobei sie niemals sittlich gesetzgebend sein könnte)" (ebd., A460f., 88).22 Im Unterschied zu dieser Tradition der reinen Vernunftbegründung erklärt Marx das Interesse - und damit die Neigung und das Bedürfnis - zum Prinzip der Moral. Beispielsweise würdigt Die heilige Familie die materialistischen Ansätze in Helvétius' 22
Bernard Williams kann die anthropologischen Voraussetzungen von Kants Projekt einer praktischen Vernunft überzeugend darstellen. Kant setze eine anspruchsvolle ,Reinheit der Motive' als Grundlage der Moralität voraus, die er grundsätzlich durch nicht-moralische Veranlagungen bedroht sieht (1985, 55). Es geht sozusagen ein Riss durch die Kantische Person: Als moralisch Handelnde steht sie außerhalb der Zeit und der Kausalität; alle anderen Handlungen, die nicht auf moralischen Prinzipien beruhen, versteht Kant aber scheinbar als empirisch determinierten egoistischen Hedonismus (ebd., 64). Die moralische Person soll aber den objektiven Standpunkt der Unvoreingenommenheit einnehmen, so dass die Gesetze, die sie stiftet, für sie selbst sowie für alle anderen verpflichtende Geltung haben. Um diesen Standpunkt einnehmen zu können, muss sie folglich von den eigenen subjektiven Wünschen und Interessen Abstand nehmen (ebd., 65). Die Frage ist nun, ob ein Mensch, der einerseits durch seine „selbstsüchtige tierische Neigung" „verleitet" wird (Kant 1784, A397, 40), andererseits in seinen von rein rationaler Reflektion angeleiteten moralischen Urteilen von dieser Neigung absehen kann. Williams meint, dass es wohl möglich sei zwischen diesen beiden Bereichen zu unterscheiden, dass es aber weit fragwürdiger ist, ob sie voneinander getrennt werden können. Kants Fehler liege eben darin, dass er die rationale Reflektion als völliges Absehen von allem Subjektiven versteht, das unteilbar zur Person gehöre: „the mistake ... lies in equating ... reflection and detachment" (1985, 69).
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Moralphilosophie: „Die sinnlichen Eigenschaften und die Selbstliebe, der Genuss und das wohlverstandene Eigeninteresse sind die Grundlage aller Moral." (MEW 2, 137) Der französische Materialismus führe „direkt in den Sozialismus und Kommunismus" (ebd., 138); zwischen dem materialistischen Empirismus und dem Sozialismus/ Kommunismus bestehe demnach ein „notwendige[r] Zusammenhang" (ebd.). Vor dem Hintergrund dieser philosophiegeschichtlichen Reflektion erfolgt dann eine genauere Bestimmung des Interesses als Moralprinzip: „Wenn der Mensch aus der Sinnenwelt und der Erfahrung in der Sinnenwelt alle Kenntnis, Empfindung etc. sich bildet, so kommt es also darauf an, die empirische Welt so einzurichten, daß er das wahrhaft Menschliche in ihr erfährt ... Wenn das wohlverstandene Interesse das Prinzip aller Moral ist, so kommt es darauf an, dass das Privatinteresse mit dem menschlichen Interesse zusammenfällt." (Ebd.) Trotz der vermeintlichen Beschränktheit des Interesses bleibt der allgemeinmenschliche Fokus in diesem Fall sogar bestehen, aber er wird nicht als Vermittlung von gutem Willen und Tat gedacht, sondern fortschrittsrelevant als Vermittlung von besonderem und allgemeinem Interesse. Die Marxsche Ethik erhält ihr hohes Maß an praktischer Relevanz durch den Rückgriff auf das Interesse und durch ihre Ausrichtung an dem fortschrittlichen Ziel der Überwindung des „faktischen, bestehenden, universellen Widerspruchs zwischen den Verhältnissen und den Bedürfnissen der Menschen" (Deutsche Ideologie, MEW 3, 415). 23 Es geht Marx nicht allein um den Nachweis, dass tugendhafte Handlungen die Bedingung zu erfüllen haben, vernünftig zu sein; es geht ihm auch darum zu zeigen, dass Handlungen dann vernünftig sind, wenn sie einen Zustand herbeiführen, der gut ist, weil er angenehm ist. Mit dem kategorischen Imperativ allein ist es darum nicht getan: „Während die französische Bourgeoisie sich durch die kolossalste Revolution, die die Geschichte kennt, zur Herrschaft aufschwang [...] brachten es die ohnmächtigen deutschen Bürger nur zum ,guten Willen'. Kant beruhigte sich bei dem bloßen ,guten Willen', selbst wenn er ohne alles Resultat bleibt, und setzte die Verwirklichung dieses guten Willens, die Harmonie zwischen ihm und den Bedürfnissen und Trieben der Individuen, ins Jenseits. Dieser gute Wille Kants entspricht vollständig der Ohnmacht, Gedrücktheit und Misère der deutschen Bürger, deren kleinlichen Interessen nie fähig waren, sich zu gemeinschaftlichen, nationalen Interessen einer Klasse zu entwickeln." (Ebd., 176f.) 23
Im Rückblick auf die Mittel-Zweck Relation im Fortschritt (Kapitel III, Abschnitt 3.a.) sei hier angemerkt, dass die typische Bindung der technischen Mittel an die Nützlichkeit auf die Bedürfnisse „als basale Kategorie" verweist (Hubig 2002, 29, 31). In diesem Sinne rekonstruiert schon Hegel die Entstehung eines Systems der Mittel, auf dem (im gleichnamigen Kapitel der Rechtsphilosophie) ein ,System der Bedürfnisse' ruht.
298
DIE ETHISCHE DIMENSION: MARX' FORTSCHRITTSBEGRIFF ALS WERTBEGRIFF
Diese Passage ist erstens bemerkenswert, weil sie mit der Abtrennung des ,kleinlichen' vom .gemeinschaftlichen' Interesse die Möglichkeit einer größeren Allgemeinheit des Interesses in Aussicht stellt. Gleichwohl sollte das Interesse (und seine Neigungen) natürlich nicht deckungsgleich mit einer vernünftigen Allgemeingültigkeit gedacht werden, impliziert es doch Besonderheit und sogar Einseitigkeit (gerade auch in diesem letzten Fall als nationales' Interesse). Im Hinblick auf das Allgemeine ist die Interessenvertretung bisweilen unvernünftig - ein weiterer Aspekt, der im Ideologiebegriff mitgedacht wird. Zweitens wird hier ausdrücklich festgestellt, dass ein guter Wille zwecklos ist, wenn er ,ohne alles Resultat bleibt'. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Marx bezieht hier Stellung für das, was man in der Ethik Konsequentialismus nennt - ursprünglich die alternative Position zur Deontologie, die sich Vorstellungen wie der von der inneren Freiheit des selbstbestimmten Individuums bedient, um argumentieren zu können, es gebe Handlungen, die unabhängig von ihren Konsequenzen als an sich gut oder schlecht definiert werden können.24 Nach Kant hat eine aus Egoismus oder Eigenliebe begangene Tat unabhängig von ihren Folgen keinerlei moralischen Wert, weil sie als Handlungsprinzip nicht zur Verallgemeinerung taugt. Die moralische Qualität einer Handlung ist nicht in ihrem Resultat, sondern in ihrem Ausgangspunkt begründet: in dem von aller Empirie und von allen natürlichen Neigungen und Trieben bereinigten guten Willen. Wenn aber die Vernunft als der alleinige Maßstab des Guten verbleibt, dann drängt sich zu Recht der Verdacht auf, dass die Handlungsresultate ausgeblendet werden. Zumindest läuft man Gefahr, das Ziel der Handlung aus den Augen zu verlieren und die Vernunft zum Selbstzweck zu machen. Einsam zieht dann die Moral ihre Kreise in der ,reinen' Vernunft: Das Prinzip der Moral wird der Vernunft entnommen, um als Imperativ wieder in dieselbe zurückgesetzt zu werden. Von Tauschwert und Konsumzwang geplagte Zeitgenossen mögen geneigt sein, sich durch Kants Beschreibung der menschlichen Neigungen und Bedürfnisse als Äquivalente des moralisch wertlosen ,,Marktpreis[es]" im Gegensatz zum „inneren Wert" der „Würde" (1785, A434f., 58) imponieren zu lassen; aber schneidet man sich mit dieser These nicht in Wirklichkeit von einem Verständnis der .äußeren' Verursachung des menschlichen Handelns ab, die auch ein Gegenstand der ethischen Diskussion sein sollte? Blackburn beobachtet, dass deontologische Konzepte gut in ein moralisches Klima passen, in dem Handlungen einfach richtig oder falsch, erlaubt oder verboten sind. Die entsprechende Geisteshaltung sei die des Richters. Eine Diskussion der wahrhaft sozia-
24
Die moralische Relevanz der Handlungskonsequenzen ist ein sinnvolles Kriterium zur Unterscheidung ethischer Theorien. Schroth argumentiert allerdings, dass im heutigen Sprachgebrauch eigentlich nur noch diejenige Position als .Konsequentialismus' bezeichnet wird, die die Richtigkeit von Handlungen nur von ihren Konsequenzen abhängig macht. Die Einsicht, dass die Richtigkeit von Handlungen nicht nur, aber auch von den Konsequenzen abhängt habe sich aber durchgesetzt. Sie bezeiche allerdings mittlerweile den Standpunkt der .moderaten' Deontologie, da keine vernünftige Ethik die Konsequenzen von Handlungen völlig außer Acht lassen könne (2009, 57, 58, 62).
D I E RELEVANZ DER M A R X S C H E N E T H I K FÜR DEN FORTSCHRITTSBEGRIFF
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len Güter sei aber erst möglich, wenn der Zweck von Handlungen auf die möglichen Folgen oder Ergebnisse bezogen wird, die damit erzielt werden (2003, 75f.)· Bei Marx ist die Sache jedoch noch komplizierter, da immer gefragt werden muss: Um wessen Zwecke handelt es sich? Sowohl die deskriptive als auch die präskriptive Seite der doppelten Ethik sind über die Zwecke des überaus bedürftigen Subjekts des Proletariats mit der Neigung und mit dem Interesse verbunden. Deshalb werden die moralischen Wertvorstellungen freilich auch bei Marx von einem Willen getragen. Sie sind aber deswegen keineswegs von allem Empirischen bereinigt, sondern sehr wohl in der vollen Lebenserfahrung ihrer Träger verwurzelt. Im so geformten Interesse schlägt sich demnach sowohl die Vernunft als auch die sinnliche Erfahrung unbefriedigter Bedürfnisse nieder. Beide gebieten. Marx kann es sich deshalb erlauben, vom „categorischen Imperativ" zu sprechen, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" (Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEGA 1/2, 177/MEW 1, 385) und die Befreiung von diesen Verhältnissen praxisrelevant als Ziel eines geschichtlichen Fortschritts zu formulieren. Aber die bloße Erwähnung des kategorischen Imperativs stellt keine inhaltliche Nähe zwischen den unterschiedlichen Freiheitsvorstellungen der Marxschen und der formalen Kantischen Ethik her. Wie soll eine Ethik den Umsturz jener Verhältnisse als Imperativ formulieren können, wenn sie auf die sinnlichen Beweggründe dieses Umsturzes herabblickt und sie nicht als motivierende Faktoren anerkennt? Zu Marxens Zeit stellen sich diese Verhältnisse so dar, dass bestimmte grundlegende Bedürfnisse nicht befriedigt werden, wodurch Erniedrigte und Geknechtete produziert werden, deren Interessen diese Verhältnisse zwangsläufig zuwiderlaufen. Der kategorische Imperativ besagt: Handele so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten können. Nun mögen die Maxime der Handlungen, die allein das .Reich der Freiheit' (die Zusammenführung von Autonomie und Arbeit in der Selbstbetätigung) herbeiführen können, das Marx vorschwebt, zwar moralisch gerechtfertigt sein, aber sie sind auch situationsgebunden und also partikulär. Sie lassen sich nicht unter allen Umständen zum Prinzip einer von jeglicher Sinnlichkeit entbundenen allgemeinen Gesetzgebung machen. Die ethische Gesetzmäßigkeit, an der Marx sich orientiert, entspricht nicht dem Gesetz der besonderen Freiheit, die Kant im Sinn hat: die Unbedingtheit des Willens. Er geht vielmehr von bestehenden Formen des Zwangs aus. Allein das durch partikuläre Interessen (also letztlich durch Neigungen) motivierte Handeln kann zu einer Steigerung der praktischen Freiheit führen. Sein Urteil, die bürgerlichen Gesellschaft bewege sich in Richtung auf ein ,Reich der Freiheit', kann nur dann vor dem Heilslehrenvorwurf in Schutz genommen werden, wenn anerkannt wird, dass die Marxschen Wertvorstellungen auch im Begriff des Interesses verwurzelt sind. Die Kantische Moralphilosophie sucht den Grund der moralischen Verbindlichkeit, das Gebot und das Verbot, kurz: das moralische Gesetz. Aber sie sucht dieses nicht in den praktischen Lebensumständen der Menschen, sondern a priori in der reinen Vernunft, und brüstet sich geradezu damit, nicht auf die empirischen Verhältnisse ein-
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zugehen, sondern Gesetze zu stiften und Verbote auzusprechen. Sie vermischt die Gesetzmäßigkeit der Ethik, die sie in der Gesetzmäßigkeit der Willensfreiheit erblickt, mit der Gesetzgebung selbst: mit dem Pflichtgebot des kategorischen Imperativs. An dieser Stelle wird die Deontik problematisch, da der Wille in Wirklichkeit auf Verursachung durch äußere Faktoren und Motive beruht. Gänzlich indeterministische Willensentscheidungen könnten keine sittliche Gesetzmäßigkeit begründen, weil sie keine Ursachen hätten und also zufällig wären. Zufall bedeutet aber nicht Freiheit, sondern Gesetzlosigkeit. Darum muss der Begriff der moralischen Verantwortung auf dem Prinzip der Verursachung beruhen, nämlich auf der „Gesetzlichkeit der Willensentschlüsse" (Schlick 1984, 164). Die Marxschen Theorie entspricht dieser Bedingung, denn sie verankert besagte Gesetzlichkeit in den Lebensumständen der Menschen und begreift diese Verankerung mit dem Konzept der Ideologie, das seinerseits auf das Interesse als Prinzip der Moral verweist. Obwohl ihre beiden Seiten im Clinch miteinander liegen, stellt die doppelte Marasche Ethik mit ihrer deutlichen Positionierung auf der Seite der heteronomen Ethik eine geschlossene Einheit dar. Die Marxsche Ethik steht nicht mit der Kantischen Ethik in Einklang. Zwar gibt es die Vermischung der Suche nach der Gesetzmäßigkeit der Ethik einerseits und der Stiftung von Moralgeboten andererseits als Widerspruch zwischen der deskriptiven Moralauffassung und der präskriptiven moralisierende Kritik in abgewandelter Form auch bei Marx; aber eben nicht als den radikalen Zirkelschluss der .Metaphysik der Sitten'. Dieser setzt den autonomen Willen als das an und für sich unbedingte Gute, als das Vermögen, nach objektiven Vernunftgesetzen zu handeln. Dieses Vermögen soll über alles Empirische und Subjektive erhaben sein, über die Interessen und Neigungen, die individuellen Erfahrungen sowie die Natürlichkeit der Triebe und Bedürfnisse. Letztlich dürfen die Prinzipien der Moral allein der unbedingten Vernunft entnommen werden, bevor sie als Gebote/Verbote wieder darin zurückgesetzt werden. Als reines Vernunftgebilde - Sittlichkeit existiert, wenn Vernunft existiert - hat die Moral mit den , wirklichen Lebensverhältnissen', wie Marx sagen würde, und mit der unvermeidbaren Vereinzelung der Erfahrung dieser Verhältnisse als BedürfnisNeigung-Interesse nicht mehr viel zu tun. Derart in dieser ihrer Selbstbezogenheit schachmatt gesetzt, lässt sie sich nur sehr schwer in praktische Fortschrittsziele übersetzen, und darum macht Marx sie nicht mit. Als Selbstbetätigung ist die Autonomie auch ihm ein Ziel - aber sie ist nicht das Prinzip seiner Ethik.
VII Schluss
Im Folgenden sollen die Ergebnisse der Rekonstruktion des Marxschen Fortschrittsbegriffs zu einem finalen Argumentationsstrang zusammengefügt werden. Zunächst werden die einzelnen Themenbereiche rückblickend in ihren wichtigsten Aspekten noch einmal zusammengefasst. Anschließend wird die Bedeutung der Marxschen Konzeption des Fortschritts als ein in den Gegensatz der historischen Bewegung eingeschriebenes Extrem (Fortschritt-im-Gegensatz) erläutert. Sinn und Zweck dieser abschließenden Betrachtungen ist es jedoch, das Gesagte nicht einfach zu wiederholen, sondern den Marxschen Beitrag zur Entwicklung eines originären Fortschrittsgedankens in einen größeren Rahmen zu stellen und die gewonnenen Resultate der Rekonstruktion in ihrer weiteren theoretischen Bedeutung darzustellen. Deshalb beziehe ich mich auch auf die Entwicklung und den inneren Zusammenhang der Marxschen Theorie. Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit dem modernen Fortschrittsgedanken wird gleichzeitig die Aktualität des Marxschen Fortschrittsbegriffs ausdrücklich betont. Gerade die politische Relevanz dieses Begriffs ist ja ein Aspekt, der bisher etwas unterbelichtet bleiben musste. In diesem Zusammenhang muss allerdings an einen bestimmenden Charakterzug dieser Arbeit erinnert werden: Ihr Gegenstand ist nicht in erster Linie Marx' progressives Weltbild, sondern die Art und Weise wie Marx den Fortschritt als die historische Bewegung des Guten denkt, wie er sich also eine positive Vorstellung davon erhält, was Fortschritt bedeutet.
302
SCHLUSS
1.
Rückblick: Die zentralen Themen- und Problembereiche
a.
Die Zielsetzung und die Methode dieser Arbeit
Das erklärte Ziel dieser Arbeit ist die systematische Rekonstruktion des impliziten Begriffs von Fortschritt, den Marx in kritischer Auseinandersetzung mit dem traditionellen Konfliktmodell der Geschichtsentwicklung entwickelt, das ihm vor allem in Form der Hegelianisch geprägten Geschichtsphilosophie begegnet. Der Satz ,Ohne Gegensatz kein Fortschritt' aus dem Elend der Philosophie ist zugleich das Resultat und der Leitspruch dieses - letztlich selbstkritischen - Eingriffs in ein bestehendes Denken. Diese Rekonstruktion sollte vor allem zweierlei deutlich machen: Die Marxsche Kritik richtet sich primär gegen die Ineinssetzung von Geschichte und Fortschritt, durch die Zusammenhänge wie die Menschheitsgeschichte oder die Gesellschaft unter den Kollektivsingular Fortschritt subsumiert und also zum Subjekt erhoben werden. Auf diese Weise wird dem Fortschritt zwangsläufig der Rückschritt einverleibt, was ihn der Ambivalenz überführt. Im Gegensatz zu diesen Vorstellungen erarbeitet sich Marx den Begriff Fortschritt-im-Gegensatz. Dieser Begriff bewahrt die Integrität des Sinngehalts von Fortschritt als eindeutige Verbesserung. Gleichzeitig bezeichnet er eine extreme Entwicklungsform: Fortschritt ist immer im Verhältnis zu anderen Entwicklungsformen zu denken, und ist also Bestandteil eines Konfliktmodells der Geschichtsentwicklung, das heißt eines Fortschritt-Rückschritt Modells. Ich komme nicht zuletzt deshalb zu diesem Ergebnis, weil ich die formale und die ethische Dimension des Fortschrittsbegriffs gleichberechtigt behandele. Nachdem die Entstehungsgeschichte des Marxschen Fortschrittsbegriffs zunächst in den Kontext der Entwicklung der Marxschen Theorie gestellt wurde (viertes Kapitel), wurde dieser besondere Begriff dann als Bewegungsbegriff (fünftes Kapitel) und schließlich als Wertbegriff (sechstes Kapitel) analysiert. Die Gliederung der Arbeit wurde diesem methodischen Grundsatz komplett untergeordnet. Eine chronologische Ordnung war daher nicht möglich, und sie scheint mir im Umgang mit dem Thema unangebracht. Statt dessen habe ich den Gegenstand in einzelne Problembereiche unterteilt. Auch die Entwicklung der Marxschen Theorie selbst wurde als ein solcher Problembereich behandelt. Die Notwendigkeit einer rekonstruktiven Methode ergibt sich freilich erst durch das implizite Vorkommen eines positiven Fortschrittsbegriffs bei Marx. Denn explizit hat Marx bisweilen sogar eine negative Auffassung von Fortschritt; zum Beispiel wendet er sich sehr deutlich gegen die viktorianische Fortschrittsgläubigkeit und gegen den ,abstakten' Fortschrittsbegriff der Geschichtsphilosophie. Dieser Umstand darf nun gerade nicht als eine prinzipielle Abneigung gegen den Fortschritt gedeutet werden. Wenn Marx also im Kapital über den typischen Kapitalisten sagt, er sei „ein entschiedner Fortschrittsmann" (MEGA II/6, 200/MEW 23, 200f.), dann heißt das nicht, dass er die Idee vom gesellschaftlichen Fortschritt für überflüssig erachtet. Im Laufe der Rekonstruktion wurden genau genommen nur zwei Aussagen über die Originalität des spezifisch Marxschen Fortschrittsbegriffs gemacht. Auf diese Weise wird ein doppelter Einspruch gegen nach wie vor einflussreiche Sichtweisen erhoben,
RÜCKBLICK: D I E ZENTRALEN T H E M E N - UND PROBLEMBEREICHE
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die aus den beiden wichtigsten der hier besprochenen Problembereichen, die Teleologieproblematik und die Gegensatzproblematik, hervorgehen: Ich richte mich erstens gegen das Herzstück des Heilslehrenvorwurfs, also gegen den Gedanken, Marx denke den Fortschritt teleologisch. In Wirklichkeit wendet Marx selbst das Konzept der Heilslehre auf das spekulative Fortschrittsdenken an. Weiter unten werde ich näher auf die bisher vernachlässigte retrospektive Dimension des Marxschen Fortschrittsdenkens eingehen, um den nicht-teleologischen Charakter dieses Denkens zu unterstreichen. Fortschritt findet in der Marxschen Theorie nämlich vor allen Dingen als rückblickende Urteilskategorie Verwendung. Meine Argumentation richtet sich zweitens gegen die Auffassung, Marx denke den Fortschritt nach dem Muster des traditionellen Konfliktmodells der Geschichtsentwicklung als widersprüchliches - ,paradoxes', ,dialektisches' oder .ambivalentes' Kollektivsingular. Was also die Frage nach der Universalität von Fortschritt betrifft, so stelle ich die These auf, dass Marx den Fortschritt als ein Extrem innerhalb der übergeordneten Gegensätze der historischen Entwicklung konzipiert: Fortschritt-imGegensatz. Im Folgenden soll noch einmal dargestellt werden, wie man sich den extremen Fortschritt in seinem Verhältnis zum Rückschritt konkret vorstellen kann. Fortschritt-im-Gegensatz, das heißt nicht nur, dass Marx eine weitgehend nicht-teleologische Geschichtsauffassung hat, sondern auch, dass er ein Gespür für die begrenzte Reichweite von historischen Verbesserungen hat, die er dementsprechend als sektorale Fortschritte versteht. Eine Vorstellung von der planmäßigen Perfektibilität des Menschengeschlechts, wie sie der Geschichtsphilosophie manchmal pauschal nachgesagt wird, gibt es bei Marx nicht. Im Zuge seiner Kritik der Nachhegelschen Philosophie interveniert er mit Entschlossenheit gegen den Versuch, diese Vorstellung in veränderter Form für das 19. Jahrhundert zu erhalten. Die Marxsche Geschichtsauffassung kann darum in dem besonderen Sinne als pluralistisch' bezeichnet werden, als sie einerseits den evolutionären Charakter des allgemeinen Geschichtsprozesses anerkennt, ohne andererseits diesen Prozess als uniforme Sequenz von Entwicklungsstufen darzustellen, an dem sich die Menschheit beständig und mit Notwendigkeit nach ,oben' bewegt. Grundlage meiner Rekonstruktion ist nicht irgendein Fortschrittsbegriff. Ich verstehe den Marxschen Fortschrittsbegriff als Bestandteil der materialistischen Geschichtsauffassung und somit als Teil des Marxschen Erkenntnisinteresses. In Frage stellen möchte ich allerdings das Paradigma des Historischen Materialismus, das von einer fertig ausgearbeiteten, stabilen Marxschen Philosophie oder Theorie der Geschichte ausgeht. Zwar ist unbestritten, dass Marx nicht bloß ein historisches Interesse hat, sondern dass er darüber hinaus ein viel allgemeineres Interesse an der Historizität der Verhältnisse hat, die er untersucht. Das ist sicherlich eine Vorbedingung von Geschichtsphilosophie. Trotzdem konstituieren die wesentlichen Kategorien, auf denen die Marxsche Geschichtsauffassung beruht, keine Philosophie der Geschichte im strengen Sinne; zumal sie ja aus dem Kontext einer durchaus ernst gemeinten Kritik einer bestimmten Form von Geschichtsphilosophie verstanden werden muss (vgl. Wolf 2001, 460). Und obwohl diese Kategorien in unterschiedlicher Form regelmäßig in seinen Schriften auftauchen teile ich Rohbecks Einschätzung, dass sie zusammen-
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SCHLUSS
genommen im Unterschied zur Kritik der politischen Ökonomie vermutlich „keine zusammenhängende Geschichtstheorie" (2006, 83) ergibt. Meine Rekonstruktion läuft sogar darauf hinaus, dem FortschrittsbegrifF gerade dadurch einen herausgehobenen Stellenwert im Marxschen Denken einzuräumen, dass sie die Bedeutung dieses Begriffs für die materialistische Geschichtsauffassung und für die Marxsche Theorie im Ganzen relativiert.1
b.
Die Bedeutung des modernen Fortschrittsgedankens
Das erste Kapitel machte den Versuch, die Bedeutung des Begriffs Fortschritt' festzulegen. Dort wurden auch diejenigen Elemente erläutert, die den Fortschritt zu dem besonderen Begriff machen, mit dem wir heutzutage umgehen: der Progressivismus, die Eigenarten der Fortschrittsidee im 19. Jahrhundert, das traditionelle Konfliktmodell, die ,Krise' des Fortschritts, usw. Meine These ist, dass Fortschritt im modernen Zeitalter als Idealobjektivation angesehen werden muss. Damit ist die feststehende Bedeutung des Fortschritts als .Verbesserung' gemeint, die der Fortschritt selbständig voraussetzt. Das heißt, wir verstehen unter .Fortschritt' immer schon die historische Bewegung des Guten. Was umstritten ist, ist nicht diese Bedeutung, sondern die Inhalte oder die Ziele, mit denen diese nun wiederum in Verbindung gebracht werden. Als Idealobjektivation ist Fortschritt hinsichtlich seiner Bedeutung ein eindeutiger Begriff.
c.
Die philosophische Rezeption des modernen Fortschrittsgedankens
Diese Begriffsbestimmung widerspricht der These, Fortschritt sei als „allgemeine Relations-Kategorie ... so neutral, so elastisch und so unbestimmt, um alle historischen Entwicklungen benennen zu können, die sich raum-zeitlich vollziehen". (Bergsdorf 1997, 121) Die ambivalenztheoretische Variante der Fortschrittskritik beißt sich meiner 1
Diese Relativierung könnte auch erfolgen, indem man die materialistische Geschichtsauffassung als Niedergangstheorie interpretiert. Pike argumentiert, dass Marx die Wiederbelebung einer solchen Theorie in Anlehnung an die soziale Ontologie des Aristoteles bewusst verfolgt. Seine Untersuchung des krisenhaften Charakters und der letztendlich auf ihren Untergang ausgerichteten bürgerlichen Gesellschaft basiere auf Aristoteles' Konzept phthorá (1999, 112). Phthorá steht in der klassischen griechischen Philosophie für das Ende der kinesis (Bewegung, Wandel) und bedeutet wörtlich das Ableben, Verschwinden oder Verfallen, wobei der erste Begriff die philosophische Bedeutung eines Übergangs ins Nicht-Sein besonders gut einfangt. Aristoteles setze sich damit gegen die festgefahrene Stabilität der Platonischen Formen (eide) oder des Parmenidischen Eins (on) zur Wehr (ebd., 113). Pike zufolge baut Marx phthorá zum Begriff des Verfalls- oder Niedergangsprozesses von Objekten als Gebrauchswerte aus (ebd., 127). Als solche müssen die Gegenstände nämlich erhalten werden. Gerade die Arbeit hat aber das Potential, dem entgegenzuwirken, indem die potentiell auftretende Überproduktion den Produktionsprozess unterbricht. Das führe schließlich zum Niedergang des ganzen sozialen Organismus (ebd., 130). In diesem Sinn ist der gesellschaftliche Fortschritt die Konsequenz aus dem selbstproduzierten Niedergang einer bestimmten Produktionsweise.
RÜCKBLICK: D I E ZENTRALEN T H E M E N - UND PROBLEMBEREICHE
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Meinung nach an der Idealobjektivation Fortschritt die Zähne aus, da man sich für gewöhnlich schon vor dem Fällen eines Fortschrittsurteils über seine Bedeutung einig ist. Eine systematische Untersuchung zum Fortschrittsbegriff - eine Untersuchung, die sich also nicht auf die ständigen Verschiebungen im Sinngehalt von .Verbesserung' konzentriert - muss sogar von diesem Einvernehmen ausgehen, das insgeheim auch von der Ambivalenztheorie zugegeben wird. Wie soll man sonst ihre Beteuerungen verstehen, sie wollten den Fortschritt,retten', .rehabilitieren' usw.? Fortschritt ist nur hinsichtlich seiner Bedeutung ein Universalbegriff. Das wird von den Hauptformen der zeitgenössischen Fortschrittskritik, Heilslehrenvorwurf und Ambivalenztheorie, entweder nicht erkannt oder jedenfalls nicht anerkannt. Das zweite Kapitel sollte einen Überblick über die wichtigsten theoretischen Mittel dieser unterschiedlichen Kritikformen geben. Die gegenwärtige Diskussion der Fortschrittsidee geht in ihren Grundzügen auf die philosophische Kritik der Verbindung von Rationalismus und modernem Geschichtsdenken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück. Offen ausgetragen wird diese Diskussion dann nach dem Zweiten Weltkrieg. Löwiths Weltgeschichte und Heilsgeschehen erscheint zuerst in englischer Sprache in Amerika, und die Fortschrittskritik ist freilich mittlerweile international geworden. Aber sie hatte ursprünglich einen unübersehbaren deutschen Charakter. Warum ist das so? Ein Grund ist sicherlich, dass die Jugend und also die intellektuelle Prägung einiger der führenden Köpfe der philosophischen Fortschrittskritik - Löwith, Adorno und Horkheimer, aber auch Popper, Arendt und viele mehr - im deutschsprachigen Kulturraum stattfindet und in die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg (und also nach dem Scheitern der revolutionären Bemühungen) fällt. Beispielsweise nimmt Popper als junger Mann an der sozialistischen Bewegung teil und wird erst unter dem Eindruck dieser unsicheren und gewalttätigen Periode ein strenger Richter allen .prophetischen' Denkens und ein bekennender „Marx-Gegner (als Folge von Erfahrungen mit Kommunisten)" (1990, 99). Diese Zeit mündet schließlich in die scheinbar ausweglosen Jahre von 1933 bis 1941, die für die genannten Autoren mindestens ebenso prägend sind, und durch die sie in ihrem Leben bedroht und ins Exil getrieben werden. Am gravierendsten ist die resultierende Desillusionierung wohl bei Horkheimer und Adorno, die sich schließlich von allen real existierenden Gesellschaftssystemen lossagen und die dürftigen Überreste kritischer Vernunft in ihrer eigenen Geistestätigkeit konzentriert sehen. Was bleibt von dieser Literatur? Sicherlich stellt sie einen berechtigten ersten Versuch dar, den Fortschritt auf einigermaßen systematische Weise kritisch zu reflektieren, ohne ihn völlig aufzugeben, wie es die Vitalisten und die Theoretiker der Dekadenz und des Niedergangs im 19. Jahrhundert getan hatten. Diese Bemühungen um eine produktive ,relative' Fortschrittskritik müssen jedoch heute als gescheitert angesehen werden, weil sie sich langfristig in ihren Auswirkungen in eine ,absolute' Fortschrittskritik (Kapitel III, Abschnitt l.a.) verwandelt haben. Aus diesem Grund sind die im zweiten Kapitel behandelten Klassiker der Ambivalenztheorie und des Heilslehrenvorwurfs sozusagen epistemologische Hindernisse, die einer Neuordnung des Feldes der Fortschrittstheorie im Wege stehen. Im Grunde habe ich argumentiert, dass die Haupt-
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formen der zeitgenössischen Fortschrittskritik nicht für die Überwindung, sondern für die kritische Verkehrung des traditionellen Konfliktmodells der Geschichtsentwicklung und des Fortschritts stehen. Sie sind deshalb in ihren elementaren Denkstrukturen älter als der originelle Marxsche Fortschrittsbegriff. Eine unübersehbare Charakteristik der zeitgenössischen Fortschrittskritik - und in meinen Augen ihr größter Mangel - ist ihr auf die Erspähung von immer umfangreicheren Katastrophen verengter Blickwinkel. Wenn beispielsweise Paul Virilio in Panische Stadt, die „kommende Eröffnung des KATASTROPHENMUSEUMS" beschwört, und dann ohne dies zu begründen behauptet, der technische Fortschritt sei „außer Kontrolle" und führe in den ,„Zeitunfall'" „der TYRANNEI DER ECHTZEIT" (2007, 72) was auch immer das sein mag - , dann fällt das schon gar nicht mehr als etwas äußerst Sonderbares auf. Vielleicht liegt das daran, dass hier eigentlich nichts Neues geschieht: „Durch alle Jahrhunderte tönt die Klage über die Verderbtheit und Schlechtigkeit der Menschen." (Jodl 1891, 16) Neu ist, dass die heutigen Gegner des Fortschritts u.a. auch deshalb nicht mehr als Propheten des sittlichen und geistigen Verfalls wahrgenommen werden, weil sie sich selbst als Progressive ausgeben. Sollte allerdings der Tendenzpessimismus weiter zunehmen, dann besteht die Gefahr, dass er langfristig die wissenschaftliche und die philosophische Forschung auf seine theoretischen Mittel verpflichtet: auf die Rede vom Preis des Fortschritts, auf die Verkehrung der guten Idee gegen sich selbst (das Verkehrungsschema) und auf den Heilslehrenvorwurf. Hinter dem Tendenzpessimismus verbirgt sich eine Einengung der historischen Subjektivität auf die Vorstellung, Menschen seien durch und durch zerstörerische Kreaturen. Ständig wird auf einen menschlichen Willen zur Herrschaft über andere Menschen und über die natürliche Umwelt angespielt, der, vom modernen Fortschrittsbegriff legitimiert, sich in den wissenschaftlichen und technischen Mitteln dieser Herrschaft verdinglicht. Was nun speziell den Heilslehrenvorwurf anbelangt, so sollte hier nicht der Beweis geführt werden, er verbreite eine falsche Vorstellung davon, was eine Heilslehre ist, da er auf einer fehlerhaften Definition von Fortschritt als Säkularisat ursprünglich theologischer Vorstellungen basiert. Der Heilslehrenvorwurf irrt nicht darin, dass er den Nutzen der idealen Zwecksetzung als geschichtsphilosophisches Erklärungsmuster anzweifelt; der Heilslehrenvorwurf irrt in der Annahme, Geschichtsdenken sei ohne ideale Zwecksetzung gar nicht möglich. Es geht also nicht darum, das kritische Konzept der Heilslehre fallen zu lassen - Marx selbst wendet ja dieses Konzept in seiner Polemik gegen Proudhon sehr erfolgreich an. Es geht vielmehr darum, die Gründe anzuführen, warum gerade die Marxsche Geschichtsauffassung keine Heilslehre ist. Dass allerdings einzelne Marxsche Äußerungen und Überlegungen der Konstruktion von historischen Entwicklungen nach der Vorlage von Heilsvorstellungen bedenklich nahe kommen, das sollte hier nicht bestritten werden. Die gewichtigere der beiden Hauptformen der zeitgenössischen Fortschrittskritik ist die von mir sogenannte Ambivalenztheorie. Die Ambivalenztheorie verlegt den Widerspruch ins Innere des Fortschritts und hat daher ihre besondere Bedeutung im Blick auf die Gegensatzproblematik. Ambivalenz kann allerdings zwei verschiedene Dinge bedeuten. Gemeint ist entweder die gegenwärtig überaus mächtige Auffassung, der Fort-
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schritt trage sein Gegenteil in sich und setze es über kurz oder lang aus sich heraus. Fortschritt wird jetzt nicht mehr als ein Trugschluss oder ein moderner Mythos verstanden (Nietzsche), sondern als Verkettung des Guten mit dem Bösen: Fortschritt und Rückschritt sind Kehrseiten derselben Medaille. Fortschritt ist dazu verdammt, sich unweigerlich in sein Gegenteil zu verkehren. Er ist schon als bloße Idee etwas Gefährliches. Nicht das Ausbleiben von Fortschritt ist das Problem, sondern der Fortschritt selbst. Aus dieser Auffassung ergibt sich die vernunftkritische Lesart des Fortschritts und ihr Lieblingsproblem: die Frage nach seinem Preis. Mit der Ambivalenz kann auch eine besondere Variante des Verkehrungsschemas gemeint sein, die zwar mit dem ersten Punkt übereinstimmt, die allerdings die vorausgesetzte Widersprüchlichkeit des Fortschritts ausdrücklich begrüßt und sie speziell Marx als eine feinfühlige Dialektik des Fortschritts auslegt: Marx wird als Vertreter einer historisierten (und also .materialistisch' oder .praktisch' aufgebesserten) Hegelschen Dialektik gelesen. Ein typisches Beispiel für diese Lesart ist Roberto, dessen Arbeit zum Thema (2001) in diesem Gedanken zusammengefasst werden kann. Eine solche Dialektik des Fortschritts kann Marx aber nur dann nachgesagt werden, wenn sein Konfliktmodell der Geschichtsentwicklung als Ineinssetzung von Geschichte und Fortschritt verstanden wird, so dass der Gegensatz, der in der einen herrscht, auf den anderen übergeht. Ausgerechnet dieses Geschichtsverständnis ist freilich seit Mitte der 1840er Jahre Gegenstand einer eingehenden Marxschen Kritik.
d.
Die Entstehung des Marxschen Fortschrittsbegriffs
Die Marxsche Theorie bildet kein feststehendes, unveränderliches Ganzes. Das liegt einmal daran, dass die Beschäftigung mit wechselnden Forschungsgegenständen Marx regelmäßig einen Kurswechsel geradezu aufzwingt. Wir haben es außerdem mit einem Werk zu tun, das in einem Zeitraum von vierzig Jahren in vier verschiedenen Ländern (Deutschland, Frankreich, Belgien und England) entsteht, immerhin in drei Sprachen (Deutsch, Französisch und Englisch) geschrieben ist, und das sich mit so unterschiedlichen Gebieten wie der atomistischen Naturphilosophie, dem deutschen Idealismus und der Politik im frühen Industriezeitalter befasst. Zusätzlich besteht dieses Werk teils aus Geschichtsschreibung, teils aus theoretischen Studien zu im weitesten Sinne ökonomischen Themen, und es setzt sich keineswegs allein aus fertiggeschriebenen Büchern zusammen, sondern aus einem Sammelsurium von unveröffentlichten Fragmenten, Notizen, Exzerptheften und journalistischen Artikeln. Marx' Lebensumstände (Verfolgung, Exil, Armut, Großfamilie, Krankheiten) und der Umstand, dass er keine akademische Lehrtätigkeit ausübt, tragen dazu bei, dass sein Denken einer Vielzahl von Einflüssen ausgesetzt ist und sich in dieser ungewöhnlichen Form niederschlägt.2
2
Marx selbst scheint keine ausgeprägte Vorstellung von seiner Forschungstätigkeit zu haben, die dem entspricht, was man gemeinhin als ,Werk' oder .Oeuvre' bezeichnet. Seine Einschätzung des Charakters der einzelnen Arbeiten gibt uns indessen einen Hinweis darauf, wie fragmentarisch und
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Daraus folgt freilich weder, dass Marx seine Konzepte nur ungenügend entwickelt; noch folgt daraus, dass es keine Themen gibt, die ihn dauerhaft beschäftigen. Trotzdem vertritt Marx gerade in seinem Entwicklungsdenken weder im Hinblick auf sein Verständnis der historischen Entwicklung noch im Hinblick auf die Auswertung der Qualität dieser Entwicklung eine inflexible Doktrin. Diese Umstände machen die Rekonstruktion des originellen Begriffs Fortschritt-im-Gegensatz, der in der Marxschen Geschichtsauffassung implizit enthalten ist, erst möglich. Das Wörtchen ,implizit' verweist deshalb nicht nur auf den verborgenen, unausgesprochenen, nicht ausdrücklichen Charakter dieses Begriffs; .implizit' bedeutet im theoriegeschichtlichen Zusammenhang immer auch, dass dies möglicherweise nicht der einzige Begriff von Fortschritt ist, der sich bei Marx finden lässt. Etwas zu rekonstruieren heißt, die ihm zugrunde liegenden, aber noch nicht ausgesprochenen Bestandteile nachzuzeichnen - sie also auf den Begriff zu bringen. Schon die hier vorgebrachten Thesen zur Entstehung des Marxschen Fortschrittsbegriffs sind in dieser Hinsicht nicht unproblematisch. Schließlich wird eine Differenz im Fortschrittsdenken vorausgesetzt, die ein Abweichen von der gewöhnlichen Darstellung der ideengeschichtlichen Entwicklung dieses Denkens nahe legt. Es sollte dabei nämlich nicht an den Unterschied zwischen der linearen - möglicherweise finalistischen - Geschichtsauffassung auf der einen Seite und dem vermeintlich komplexeren Konfliktmodell der Geschichtsentwicklung auf der anderen Seite gedacht werden. Vielmehr muss innerhalb des Konfliktmodells selbst differenziert werden. Nun ist der originelle Marxsche Begriff Fortschritt-im-Gegensatz aber nicht allein das Resultat der Marxschen Kritik an der Hegelianischen Variante des traditionellen Konfliktmodells; er ist immer auch das Ergebnis einer Selbstkritik. Daraus folgt, dass die Differenz im Konfliktmodell in der Marxschen Theorie fortlebt. Deshalb stellt sich die Frage, wie sich das Rekonstruktionsanliegen zum inneren Zusammenhang der Marxschen Theorie verhält. Ich habe versucht nachzuweisen, dass die Proudhon-Kritik die wesentlichen theoretischen Elemente des originellen Begriffs Fortschritt-im-Gegensatz bereitstellt. Aus diesem Grund hat das dritte Kapitel schwerpunktmäßig den relativ kurzen Zeitraum 1844-1847 betrachtet, vor allem die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte (1844) und das Elend der Philosophie (1847). Der Vergleich dieser beiden Schriften sollte den theoretischen Durchbruch dieser Phase im Bezug auf den Fortschrittsbegriff verdeutlichen. Das Elend der Philosophie macht die Pariser Manuskripte (oder ähnliche Stellungnahmen) aber nicht überflüssig. Darum ist an dieser Stelle - vor allem in Anleh-
bruchstückhaft gebliebene Texte gewichtet werden sollten: „Ich kann mich aber nicht entschliessen irgend etwas wegzuschicken, bevor das Ganze vor mir liegt. Whatever shortcomings they may have, das ist der Vorzug meiner Schriften, daß sie ein artistisches Ganzes sind, u. das ist nur erreichbar mit meiner Weise, sie nie drucken zu lassen, bevor sie ganz vor mir liegen." (An Engels, 31. Juli 1865, MEGA III/13, 510/MEW 31, 132) Diese Sätze legen einen vorsichtigen Umgang mit jenen Schriften nahe, die den Status eines .Ganzen' nicht erreichen.
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nung an die Untersuchungen von Arndt (1985/200 la/2003/2004) - von dem doppelten Programm' der Manuskripte die Rede gewesen. Die ganz außergewöhnlichen Manuskripte sind sogar von erheblicher Bedeutung für meine Argumentation. Dieser Text verbindet gewissermaßen Cieszkowskis Projekt einer Historisierung der Hegeischen Dialektik mit dem sozialen Programm des Frühsozialismus (kommunistische Menschwerdung), wie es sich typischerweise bei Heß findet. Das Interessante an Cieszkowskis Historiosophie ist die Art und Weise, wie Geschichte vermittels der Bestimmungsteleologie zum Knecht des Fortschritts gemacht wird. Der junge Marx vertritt ja mit der Vorstellung vom Gattungswesen und der darauf basierenden Entfremdungstheorie eine ganz ähnliche Bestimmungsteleologie. In diesem Sinne beruht das in den Manuskripten vertretene Entwicklungsdenken teilweise noch auf dem traditionellen Konfliktmodell der Geschichtsentwicklung. Anhand des .doppelten Programms' der Manuskripte lässt sich demonstrieren, dass die theoretische Figur der Negation der Negation für das Marxsche Entwicklungsdenken problematisch bleibt, solange Marx an einer historischen Anthropologie festhält, die die Geschichte als Prozess der wesensgemäßen Ausbildung des .menschlichen' Menschen versteht; solange er sich also nicht - wie bereits von ihm selbst in diesem Dokument gefordert - mit der Negation der Negation als ,Abstraktionsformel' zufrieden gibt, sondern sie gewissermaßen Aristotelisch denkt: als Werden zur Substanz. In diesem Fall reichert Marx die Negation der Negation mit der Idealvorstellung von einer Versöhnung der Entfremdeten mit ihrem authentischen Wesen normativ an. Den Prozess dieser Versöhnung verankert er dann in der logischen Struktur der geschichtlichen Entwicklung. Wie bei allem teleologischen Denken handelt es sich hierbei in erster Linie um ein Versöhnungs- und Einheitsdenken. Versöhnung und Einheit beziehen sich aber nicht vorrangig auf den Erkenntniszweck (die Einheit/Ganzheit der sich geschichtlich wandelnden Welt als Erkenntnisgegenstand), sondern auf den sozialen Frieden. Allerdings ist dieses Ziel auf dieser Stufe in der Entwicklung der Marxschen Theorie mit Marx' eigenem Verständnis von Gesellschaft und Politik bereits nicht mehr vereinbar. Diese Seite der den Pariser Manuskripten zugrunde liegenden Dialektik begnügt sich nicht mit der Feststellung, dass das Neue kein auf sich selbst gegründetes, rein positives Neues sein kann. Sie mutiert zu einer Struktur der sukzessiven Aufhebung in historische Formen, die für den Zweck der Menschwerdung zunehmend wertvoller werden. Diese Struktur läuft also Gefahr, zum Garanten für die Identität von Geschichte und gesellschaftlichem Fortschritt zu werden. In dem Maße, in dem Marx eine solche Identität andeutet, unterläuft und widerspricht er seiner eigenen Kritik der Nachhegelschen Spekulation, indem er einen, wie er selbst sagen würde, »abstrakten' Begriff vom Fortschritt postuliert - einen prätentiösen Kollektivsingular Fortschritt nach dem Muster des traditionellen Konfliktmodells, der die „beständigen Rückschritte und Kreisbewegungen" (.Heilige Familie, MEW 2, 88) im Entwicklungsprozess ausblendet. Im Gegensatz dazu basiert der implizite Begriff Fortschritt-im-Gegensatz, den sich Marx im Verlauf der Spekulationskritik erarbeitet, nicht mehr auf der Deduktion der Geschichte aus der vorausgesetzten Rückkehr der Entfremdeten in ihr menschliches Wesen. Statt der Wiedereinholung oder der Rückkehr in eine ursprüngliche Menschlichkeit wird der Be-
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griff Fortschritt aus seiner Abhängigkeit von der Vorstellung eines unveränderlichen menschlichen Wesens herausgelöst. An den Beispielen Cieszkowski und Heß wurde außerdem deutlich gemacht, dass das traditionelle Konfliktmodell nur den Anschein einer antagonistischen Konzeption von historischer Entwicklung erzeugt, insofern es diese letztendlich vom Standpunkt der Versöhnung betrachtet. Es ist aber gerade der geschichtsphilosophische Versuch, die Entwicklung der Gesellschaft als eine auf Versöhnung ausgerichtete Struktur zu konzipieren, gegen die sich das , doppelte Programm' bereits 1844 wendet. Die ausdrückliche Abwendung vom versöhnungsorientierten Geschichtsdenken bedarf allerdings der Proudhon-Kritik, die darum in ihrer Bedeutung für diese Arbeit gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Das Denken anderer spielt eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Marxschen Theorie. In philosophischer Hinsicht ist das für Hegel und Feuerbach, sogar für Aristoteles und Kant, schon lange klar. Es ist an der Zeit, dass Marx' Auseinandersetzung mit Proudhon ein größerer - ja, überhaupt irgendein - Stellenwert eingeräumt wird. Marx setzt sich immerhin schon in den Ökonomischphilosophischen Manuskripten, der Heiligen Familie und der Deutschen Ideologie mit Proudhon auseinander - und zwar einigermaßen wohlwollend. In den Jahren 1846 und 1847 verschärft sich jedoch seine Einstellung im Brief an Annenkow und im Elend der Philosophie zur vernichtenden Polemik. Aber auch später noch, in den 1850er und '60er Jahren, wird sich Marx gelegentlich zu Proudhon äußern und an den Ergebnissen dieser Kritik festhalten. In der Entwicklung der Marxschen Theorie folgt die Proudhon-Kritik auf die Hegel-Kritik und auf die Kritik der Nachhegelschen Philosophie. Sie ist auch inhaltlich der verlängerte Arm dieser philosophischen Gefechte um die Mitte der 1840er Jahre. Marx empfiehlt das Elend der Philosophie Zeit seines Lebens seinen Lesern als eine Schrift, die einen verlässlichen Einblick in sein Denken gibt. Nehmen wir ihn beim Wort. Für die Rekonstruktion des impliziten Marxschen Fortschrittsbegriffs ist vor allem die philosophische Ebene der Proudhon-Kritik von Interesse. Elend der Geschichtsphilosophie wäre ein ebenso passender Titel für Marx' erstes Buch gewesen. Schließlich stellt es, wie schon die Kritik der linken Hegelschule, die Frage, wie man es mit der Hegeischen Dialektik halten soll. Die Proudhon-Kritik hat darum eine ganz erhebliche Bedeutung gerade für das Verständnis der philosophischen Relevanz des Marxschen Werks. Marx demonstriert hier nicht nur seine Abneigung gegen die unkritische Weiterentwicklung der Hegeischen Philosophie - das wäre nichts Neues; er rechnet gleichzeitig in aller Deutlichkeit mit der Verwendung von telischen Konzepten in der Erklärung von historischen Prozessen ab. Er unterstellt Proudhon eine apriorische Konstruktion der historischen Bewegung der sozialen Verhältnisse nach der Maßgabe von eigenhändig projektierten Idealvorstellungen (,Lieblingsideen'). Er diagnostiziert also einen finalistischen, versöhnungsorientierten Fortschrittsbegriff, der sich hinter einer .dialektischen' Methode versteckt. Dieser Aspekt der Polemik gegen Proudhon muss vor allem im Lichte von Marx' Kritik an dem Versuch gesehen werden, mit spekulativen und vermeintlich Hegeischen Mitteln zu einem theoretischen Modell der Geschichtsentwicklung zu kommen, das dem Gegensatzcharakter dieser Entwicklung gerecht wird.
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Gleichzeitig weist Marx darauf hin, dass der Begriff des Equilibriums als das Herzstück der Proudhonschen Gegensatzkonzeption - als Ziel- und Endpunkt aller gegensätzlichen Bewegungen, in dem die realen und ideellen Extreme sozusagen einen Burgfrieden miteinander schließen - sich wesentlich von der Hegeischen Synthese unterscheidet. Meines Erachtens ist die Polemik gegen Proudhon sogar der Ort, wo Marx' anti-teleologische Grundhaltung nicht nur verbal, sondern auch mit einiger philosophischer Elaboration zum Ausdruck kommt. Was ist Das Elend der Philosophie, wenn nicht die Marxsche Variante des Heilslehrenvorwurfs? Mir ist schleierhaft, warum das bisher von der Marxforschung nicht nutzbar gemacht wurde. Die gegen Marx erhobenen Einwände sind doch allzu oft kaum mehr als platte, als Heilslehrenvorwürfe kostümierte Teleologievorwürfe, denen man nicht zuletzt dank der Proudhon-Kritik mit einiger Gelassenheit begegnen darf. Im Gegensatz zum Kommunistischen Manifest, zu den Grundrissen, zum Kapital und den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten ist das Elend der Philosophie allerdings selten Gegenstand von ausführlichen Kommentaren gewesen. Und im Gegensatz zu den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten und den Grundrissen auf der einen Seite und der Deutschen Ideologie und dem Kapital auf der anderen, hat das Elend der Philosophie keine Rolle in der Herausbildung der unterschiedlichen Schulen der MarxInterpretation gespielt. Dabei ist die Proudhon-Kritik überaus hilfreich gerade im Blick auf unser Verständnis der Theorieentwicklung bei Marx, über die sich diese Schulen zerstritten haben. Sie illustriert nämlich eindrucksvoll, dass die Marxsche Kritik mit einer gehörigen Portion Humor immer auch als ein Prozess der Selbstkritik funktioniert, der ein Stück weit sogar bewusst vollzogen wird - etwa wenn Marx von dem .philosophischen Gift' des Hegelianismus spricht, mit dem er selbst Proudhon infiziert habe (vgl. Kapitel IV, Abschnitt 5.a.). Diese Aussage ist umso brisanter, wenn man bedenkt, dass Marx selbst nur wenige Jahre zuvor wegen desselben Gifts mit der Versöhnung der Entfremdeten mit ihrem Wesen in der kommunistischen Gesellschaft ein regelrechtes, wenn auch etwas paradox anmutendes Geschichtsziel vor Augen hat. Er verhält sich also Proudhon gegenüber alles andere als fair. Zumal die Wirkung dieses Giftes eine lang anhaltende ist. Schließlich ist noch zwanzig Jahre später im Kapital von der „unvermeindliche[n] Eroberung der politischen Gewalt durch die Arbeiterklasse" die Rede, und von „der Aufhebung der alten Theilung der Arbeit" als dem über alle „Zweifel" erhabenen „Ziel" der Umwälzung der ,,kapitalistische[n] Form der Produktion" (MEGA II/6, 467/MEW 23, 512). Der Niedergang dieser Produktionsweise wird stellenweise als eine unaufhaltsame und mit gesetzmäßiger Notwendigkeit vor sich gehende Entwicklung behauptet. Dass es so kommen wird und nicht anders, das „ist Negation der Negation". (MEGA II/6, 683/MEW 23, 791) Offensichtlich ist hier der Wunsch der Vater des Gedankens. Lassen sich Aussagen dieser Art mit der Proudhon-Kritik in Einklang bringen? Widersprechen sie nicht dem neuen Erkenntnisstand, den sich Marx dort erarbeitet? Tatsächlich begibt sich Marx mit seinen Formulierungen bisweilen unter das Niveau seiner (selbst)kritischen Theorie. Seine Bemerkungen zu Sinn und Zweck der Geschichte werden jedoch verständlich, wenn man sie in den Kontext der Spannung zwischen dem Fortbestand des Kollektivsin-
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gulars Fortschritt und der Herausbildung einer originellen Vorstellung von Fortschritt innerhalb seiner Theorie stellt. Das Problem lässt sich allerdings nicht einfach dadurch beseitigen, dass man unterstellt, die Entwicklung der Marxschen Theorie vollziehe sich in Brüchen (wobei mit jedem Bruch ein bestimmtes Strukturelement verlustig geht). Trotzdem kann man es auf zweierlei Weise begreifen: entweder negativ - als zerstörerische Widersprüchlichkeit der Marxschen Theorie was ihre Auffassung vom historischen Fortschritt anbelangt, wodurch dieser Theorie im Ganzen ein Makel auferlegt wird; oder eben positiv - als die Chance, den teilweise überbordenden Marxschen Optimismus einer Kritik zu unterwerfen, zu der Marx selbst die Mittel bereitstellt, die den Ausbau und die Weiterentwicklung seiner Erkenntnisse auf lange Zeit hinaus ermöglicht.
e.
Die formale Dimension des Marxschen Fortschrittsbegriffs
Diese Untersuchung ist darum bemüht, den Unterschied zwischen dem von der Ambivalenztheorie vorausgesetzten widersprüchlichen Fortschritt und der dem originellen Marxschen Fortschrittsbegriff zugrunde liegenden gegensätzlichen Bewegungsform, herauszuarbeiten. Die Rekonstruktion der letzteren ist nur auf dem Umweg über die Marxsche Gegensatzkonzeption möglich, und so vertieft sie gleichzeitig die Diskussion der Vorstellung von der Dialektik des Fortschritts. Diese Vorstellung ist dann unzureichend, wenn damit die Historisierung eines Widerspruchsschemas gemeint ist, das auf die Aufhebung aller Entgegensetzungen hinausläuft, und das zudem unter Aufhebung konkret die Aussöhnung oder Versöhnung der verschiedenen gesellschaftlichen Konfliktparteien miteinander versteht. In der Tat arbeitet der junge Marx auf eine solche Geschichtsdialektik hin: Er erkennt die Gegensätzlichkeit der Geschichte und postuliert doch zugleich mit der Wiederherstellung des Gattungswesens die universale Versöhnung dieser Gegensätze. Er nennt das zu diesem Zeitpunkt „die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen" (Ökonomisch-philosophische Manuskripte MEGA 1/2, 389/MEW Ergänzungsband 1, 536). Das dialektische Widerspruchsschema der Negation der Negation ist deshalb insofern problematisch, als sich mit ihm der Fortschritt als das Prinzip einer sich in Gegensätzen bewegenden Geschichte denken lässt. Das würde ja bedeuten, dass die Geschichte trotz - oder gerade wegen - ihrer Gegensätzlichkeit im Ganzen betrachtet ein Fortschritt ist. Geschichte wäre dann eine Aufhebungsstruktur, und der Widerspruch wie Marx bei Proudhon bemängelt - das „Entwicklungsmittel" (an Schweitzer, MEGA 1/20, 62/MEW 16, 27), das den zugrundeliegenden Gegensatz auf ,höherer' Stufe ausmerzt. Geschichte wäre dann wesentlich Fortschritt-als-Gegensatz. Die zeitgenössische Fortschrittskritik, die nur diesen Begriff von Fortschritt kennt, stellt daher ganz richtig fest, dass er logischerweise immer mit dem Begriff der Menschheit verbunden sei. Marx opponiert gegen diese Form der Universalität von Fortschritt. Allmählich kristallisiert sich der eigentümlich konträre Charakter der gegensätzlichen Bewegung heraus, der dem Marxschen Konfliktmodell der Geschichtsentwicklung zugrunde liegt. Konträr bedeutet zunächst ganz allgemein, dass Marx für diejenigen Gegensatztypen,
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die in seiner Geschichtsauffassung zum Zuge kommen, die Begrenzung des Potentials der Vermittlung zwischen den Entgegengesetzten anstrebt. Er bezeichnet das als die ,Verselbständigung gegeneinander' der Entgegengesetzten. Die ökonomischen Widersprüche und die sozialen Antagonismen der bürgerlichen Gesellschaft fügen sich in der Reflexion zu einem Bild von der Entwicklung dieser Gesellschaft zusammen, die sich nicht mehr als einheitliche Widerspruchsstruktur darstellen lässt. Marx geht nicht mehr von einem singulären , Entwicklungsmittel ' aus, sondern von dem Zusammenwirken und der Überlagerung von Widersprüchen (Potential der Krisen) und Antagonismen (die Politik als mögliche Artikulationsform der Krisen). Für Marx ist Fortschritt ein in die Gegensätze der gesellschaftlichen Entwicklung eingeschriebenes Extrem. Deshalb kann er ihn auf der Bedeutungsebene als Kategorie des Guten mit dem eindeutigen Sinngehalt von Verbesserung bewahren - als Idealobjektivation - , ohne gleichzeitig den ganzen Geschichtsprozess unter diese eine Kategorie zu fassen. Universalität kommt dem Fortschritt also vor allem hinsichtlich der Eindeutigkeit seiner Bedeutung zu, wohingegen er in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ein Extrem mit einer begrenzten Reichweite ist. ,Ohne Gegensatz kein Fortschritt' - die Kernaussage der Marxschen Auseinandersetzung mit dem modernen Fortschrittsgedanken aus dem Elend der Philosophie - lässt den Fortschritt nicht mehr als das Abstraktum erscheinen, an dem sich die Geschichte abwickelt. Statt dessen wird der Fortschritt als eine historisch bestimmte Entwicklungsform begriffen, die in die geschichtlichen Gegensätze verstrickt ist, ohne selbst widersprüchlich zu sein: als Fortschritt-im-Gegensatz. Marx' Vorstoß zu diesem Begriff stellt einen bemerkenswerten theoretischen Durchbruch dar, da er die Erforschung spezifischer gesellschaftlicher Zusammenhänge aus der notwendigen Bindung an den Menschheitsfortschritt herauslöst. Marx folgt jetzt einer alternativen gegensätzlichen aber nicht-teleologischen Konzeption von gesellschaftlicher Entwicklung, welche die Möglichkeit von eindeutigen Fortschrittsentwicklungen zulässt, ohne die gleichberechtigte Möglichkeit gegenläufiger Entwicklungsformen (namentlich Regression und Stillstand) in diese .aufzuheben'. Diese kontingente Auffassung berücksichtigt die Möglichkeit des Nichtfortschrittlichen und legt damit den Grundstein eines Fortschritt-Rückschritt Modells, das heute noch aktuell ist.
f.
Die ethische Dimension des Marxschen Fortschrittsbegriffs
Auch die Rekonstruktion des Fortschritts als Wertbegriff muss vor dem Hintergrund des Gegensatzes zwischen dem auf der Perfektibilität der Gattung basierenden Kollektivsingular Fortschritt und dem extremen Fortschritt gesehen werden. Letzterer schlägt sich in der materialistischen Geschichtsauffassung als Handlungsziel der Emanzipation der arbeitenden (und deshalb gesellschaftlichen Reichtum schaffenden) Bevölkerung nieder. Die sporadische Weiterverwendung des Kollektivsingulars auch nach der Kritik der 1840er Jahre wird auch dadurch abgeschwächt, dass sich die spezifisch Marxschen Wertvorstellungen zunehmend auf die besondere historische Figur des Proletariats beziehen. Die Proletarier - deren Zahl Marx im Kapital für England sogar nachrechnet
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(vgl. MEGA II/6,427f./MEW 23,469f.) - sind ja zahlmäßig weit unterhalb der Gattung einzustufen. Die Kategorie des Proletariats ist daher nicht nur in soziologischer, sondern auch in theoretischer Hinsicht überaus bedeutsam, da sich auf ihr kein Kollektivsingular Fortschritt errichten lässt. In Marx reift die Einsicht, dass sich die Emanzipation nur dieser einen Klasse - und sei sie nur ein vorübergehendes Etappenziel - nicht vernünftig als Menschheitsfortschritt darstellen lässt. Seine Entdeckung des Proletariats als politisches Subjekt um 1843/44 fällt nicht umsonst zeitlich mit der sich verschärfenden Opposition gegen die besondere historische Dialektik zusammen, mit der sich die Geschichte als Menschwerdungsprozess konstruieren lässt. Es ist kein Zufall, dass Marx' Vorstellung von Emanzipation in der stark empiristisch ausgerichteten Deutschen Ideologie viel konkreter ist, als das auf der Grundlage des Gattungsbegriffs möglich war. Auffällig bleibt jedoch, dass Marx uns nicht mitteilt, wer die Proletarier, die ja immerhin diese große ,Umwälzung' (wie es bei Marx gleich mehrfach heißt) bewerkstelligen sollen eigentlich sind. Ich meine nicht die ökonomische und soziologische Bestimmung dieser Klasse, sondern die politische und kulturelle. (Im dritten Band des Kapitals kann Marx noch fragen: „Was bildet eine Klasse?" (MEGA 11/15, 856f./MEW 25, 893) Auseinandergesetzt wird das aber wieder nur im Blick auf ökonomische und soziologische Faktoren und dann bricht der Text bekanntlich ab.) Marx' Vorstellung von den Zielen der historischen Entwicklung bleibt auch aus diesem Grund relativ unbestimmt. Er hat keine einheitliche Theorie davon, was die große .Umwälzung' moralisch bedeutet, weil seine revolutionäre Theorie unterentwickelt bleibt. Das ist ein weiterer Grund, warum oben von einer ,doppelten Marxschen Ethik' die Rede war. Also 1.) von der Moralauffassung oder der Theorie vom ideologischen Charakter der Moral: Marx geht davon aus, dass es schlichtweg zwecklos ist, der bestehenden Moral und Moralphilosophie einfach ein neuartiges Prinzip dessen entgegenzusetzen, was wahrhaftig gut ist. Statt dessen deutet sich bei Marx bereits eine Bestandsaufnahme der empirischen Moral an, wie sie sich die Philosophie erst viel später wieder zur Aufgabe macht. 2.) Die moralisierende Kritik, innerhalb derer allerdings zwischen der externen und der immanenten Variante unterschieden werden muss. Ganz wichtig ist der Nachweis, dass der Heilslehrenvorwurf nur im Bezug auf die externe Variante der moralisierenden Kritik einen Sinn ergibt. Was hier passiert ist auch keine Umwertung, sondern eine originelle Neubewertung, auf die sich der Anteil der idealen Zwecksetzung an der Marxschen Geschichtsauffassung beschränkt. Vorsätzlich betreibt Marx freilich zu keiner Zeit ideale Zwecksetzung. Wenn Marx tatsächlich eigene Werte setzt, so ist die Bedürftigkeit der Arbeitenden ausschlaggebend. Man könnte hier von einer Ökonomie der Moral sprechen, die eben von der Einsicht ausgeht, dass ausgerechnet die Bedürfnisse derjenigen, die arbeiten und also materiellen Wert schaffen, unbefriedigt bleiben. (Diese Gesellschaftsauffassung, überzeugt heute noch in dem Maße, in dem sie zeigen kann, dass Armut und andere Mängel der bürgerlichen Gesellschaft keine Folgen von fehlgeschlagener kapitalistischer Entwicklung sind, sondern inhärente Begleiterscheinungen und notwendige Resultate derselben.) Außerdem zeichnet sich hier ein Fortschrittsziel ab, das in einer Zeit, die von der Inarbeitsetzung von immer mehr Menschen zu immer höherer Intensi-
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tät geradezu besessen ist, wie Häresie wirken muss: Das Wachstum der Produktivkraft der Arbeit ist in Marx' Augen eine Triebfeder der Geschichte und damit immer auch ein Maß von Fortschritt; moralisch angebracht ist aber gerade die Reduzierung der Arbeitszeit. Dieses Fortschrittsziel sollte auf größeres Interesse stoßen, weil das Sich-zuTode-Arbeiten (in Japan als Karoshi, in China als Guolaosi bekannt) heutzutage auch in Erdteilen, wo potentiell ein noch nie da gewesener Wohlstand herrscht, keine Seltenheit ist. Bei Marx ist die Arbeitszeit ein Maßstab der Entfremdung. Er beklagt, „daß die Menschen gegenüber der Arbeit verschwinden". „Die Zeit ist alles, der Mensch ist nichts mehr, er ist höchstens noch die Verkörperung der Zeit. Es handelt sich nicht mehr um die Qualität. Die Quantität allein entscheidet alles." (Elend der Philosophie, MEW 4, 85) Die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise wird von Marx also unter der Bedingung als ein moralischer Fortschritt eingestuft, dass sie zur Errichtung einer Gesellschaftsform führt, welche die Produzenten erstens von der Lohnarbeit emanzipiert und zweitens die notwendige Arbeitszeit verringert. Arbeit würde dadurch zu einer selbstzweckhaften Tätigkeit aufgewertet, zur Selbstbetätigung. Als Marxsches Fortschrittsziel setzt die Selbstbetätigung der Arbeit allerdings kein Ende; sie begreift vielmehr die Zusammenführung von Autonomie und Arbeit als eine Form von Freiheit. Aus ethischer Sicht ist interessant, dass Marx sich für die Überwindung des Idealbegriffs sowie überhaupt allen Sollens einsetzt. Daran wird u.a. deutlich, dass Sittlichkeit für den stark durch Feuerbachs Humanismus geprägten Marx immer auch etwas Sinnliches, Greifbares, Fühlbares ist. Das Sittliche gründet namentlich im Umgang mit den Bedürfnissen der Menschen und nicht allein in den Geboten der praktischen Vernunft. Deshalb sollte von dem Versuch Abstand genommen werden, erneut irgendwelche Bewegungen von Kant nach Marx nachzuvollziehen. Und das nicht nur, weil Kants Postulat eines planmäßigen' Entwicklungsgangs hin zu einer bürgerlichen Weltfriedensordnung am Anfang des 21. Jahrhunderts phantastischer erscheinen muss denn je. Eine Verbindung zwischen Kant und Marx herzustellen, weil sowohl der Selbstbetätigungsgedanke als auch der kategorische Imperativ auf den Selbstzweck abheben, scheint mir übertrieben. Es gibt triftige philosophische Gründe, warum die Marxsche Ethik sich von der Kantischen deutlich unterscheidet: Marx glaubt nicht, die Verbindlichkeit der Werte in Absehung von den Handlungskonsequenzen oder von subjektiven Faktoren wie dem Interesse gewährleisten zu können. Interesse muss ja nicht unbedingt Selbstinteresse sein, es kann genauso gut das Interesse an dem Wohlergehen anderer sein - oder eine Verknüpfung beider Formen. Diesen Standpunkt vertritt Marx schon in einem Schulaufsatz, der „das Wohl der Menschheit" und „unsere eigene Vollendung" gegeneinander abwägt: „Man wähne nicht, diese beiden Interessen könnten sich feindlich bekämpfen, das eine müsse das andere vernichten, sondern, die Natur des Menschen ist so eingerichtet, daß er seine Vervollkommnung nur erreichen kann, wenn er für die Vollendung, für das Wohl seiner Mitwelt wirkt." (.Betrachtungen eines Jünglings bei der Wahl eines Berufs', MEGA 1/1, 457/MEW 40, 594)
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2.
SCHLUSS
Resultate: Die Bedeutung der extremen Konzeption von Fortschritt
Wir sollten uns dem Marxschen Werk prinzipiell in pragmatischer Absicht nähern, also unter dem Gesichtspunkt seiner Verwertbarkeit für die Gegenwart. Es mag freilich keine absolut verbindlichen, unverhandelbaren Kriterien dafür geben, welche Elemente des Marxschen Denkens aktuell sind und welche nicht. Nach der von mir vorgeschlagenen Terminologie ist jedoch der anthropologische Ansatz und die fortschrittsoptimistische Geschichtsphilosophie des jungen Marx lediglich die besondere Marxsche Variante des traditionellen Konfliktmodells. Ich bin darum einer alternativen Tendenz im Marxschen Denken nachgegangen, die von der ursprünglichen Orientierung auf Versöhnung der gesellschaftlichen Gegensätze im historischen Prozess wegführt. So stieß ich auf den impliziten Begriff Fortschritt-im-Gegensatz, der als eine Folge der Spekulationskritik als wesentlichem Merkmal von Marx' produktiver Überarbeitung der Dialektik anzusehen ist. Die Spekulationskritik führt erstens zur Begrenzung der Vermittlung. Zweitens unternimmt Marx eine bisweilen recht deutliche Kennzeichnung der Geschichtsteleologie als Logifizierung der gesellschaftlichen Realität (ideale Zwecksetzung). Diese Resultate der Spekulationskritik ermöglichen es Marx, wie gesagt, Fortschritte als extreme Entwicklungen innerhalb der vielschichtigen Gegensätzlichkeit der historischen Bewegung zu begreifen. Die Bedeutung der extremen Konzeption soll nun zunächst in Bezug auf die Frage nach dem Geltungsbereich von Fortschritt näher erläutert werden. Im Anschluss daran wird die besondere Erkenntnisleistung des Marxschen Fortschrittsdenkens an seiner retrospektiven Dimension festgemacht.
a.
Der extreme Fortschritt ist kein Kollektivsingular
Marx' Konzeption des extremen Fortschritts demonstriert sein Bestreben, zugunsten einer Darstellung der andauernden, unauflösbaren Gegensätzlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse aus dem Versöhnungsdenken auszusteigen. Aus diesem Grund muss der extreme Fortschritt zusätzlich vor dem Hintergrund der Teleologieproblematik gesehen werden. Das betrifft primär die Frage nach der Zweckrationalität von Fortschritt, also nach dem Zweck-Mittel Verhältnis im Fortschritt selbst, von der zumindest die philosophische Auseinandersetzung mit der Fortschrittsproblematik dominiert wird. Es ist darum nicht verwunderlich, dass leere Versprechen im Vordergrund stehen, wenn die Rede auf den Fortschritt kommt. Lassen sich die Gegensatzproblematik und die Teleologieproblematik wirklich nur auf diese Weise verhandeln? Warum wird nicht gründlicher in Richtung auf ein theoretisches Modell geforscht, mit dem sich der Fortschritt im Verhältnis zum Rückschritt denken lässt? Schließlich fordert praktisch jede zeitgenössische Publikation zum Thema Fortschritt mehr oder weniger direkt ein solches Modell (von besonderem Interesse ist Bonnauds Entwurf eines solchen Modells im Kontext der Globalisierung, 2003, 295ff.).
RESULTATE: D I E BEDEUTUNG DER EXTREMEN KONZEPTION VON FORTSCHRITT
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Das traditionelle Konfliktmodell ist ja im Prinzip als Fortschritt-Rückschritt Modell gedacht: Die gegensätzliche Bewegungsform der Geschichte soll sicherstellen, dass das Element der Kontingenz stets in die Bewertung der jeweiligen Entwicklungen eingeht. Genau an diesem Punkt scheitern die meisten Vertreter des traditionellen Konfliktmodells. Sie bleiben Teilnehmer an einem universalistischen Diskurs, der der Vorstellung von der Perfektibilität der Menschheit alle empirischen Erscheinungen einverleibt. Im Unterschied dazu ist der Fortschritt-im-Gegensatz tatsächlich befähigt, die Kontingenz der Geschichtsbewegung auf den Begriff zu bringen, da er auf dem Axiom der Verselbständigung gegeneinander der Entgegengesetzten beruht. Dieser originelle Begriff ist ein bedeutender Schritt in der Entwicklung eines Fortschritt-Rückschritt Modells, das den heutigen Anforderungen gerecht wird. In diesem Sinne lässt sich Marx in den Dienst der Erneuerung des Fortschrittsverständnisses stellen. Insbesondere könnte auf neuartige Weise über das Verhältnis der Geschichte zum Fortschritt und des Fortschritts zum Gegensatz nachgedacht werden. Konkret bedeutet die extreme Konzeption des Fortschritts, dass die Wirkung eines jeden Fortschritts auf ein bestimmtes Gebiet eingeschränkt ist. Während also das traditionelle Konfliktmodell der Geschichtsentwicklung und des Fortschritts unmöglich ohne den Begriff der Menschheit auskommt, hat der extreme Fortschritt einen mehr oder weniger klar abgegrenzten sektoralen oder sphärischen Geltungsbereich. Auf diese Weise umgeht Marx die räumliche Universalität des Fortschritts (Kollektivsingular) ohne gleichzeitig auf die Universalität der Bedeutung von Fortschritt (Idealobjektivation) zu verzichten. Das ist ja das Ziel, dass die ambivalenztheoretische Kritik der modernen Fortschrittsidee mit ihrer Rede vom ,Preis des Fortschritts' verfolgt. Um dieses Ziel zu erreichen, muss die Ambivalenztheorie ausgerechnet diejenige Universalität von Fortschritt voraussetzen, die sie selbst kritisiert. Wie das dritte Kapitel gezeigt hat, sind mit dem ,Preis des Fortschritts' primär die Mittel des Fortschritts gemeint. Gesetzt, der Fortschritt hätte keine universelle räumliche Geltung, dann gäbe es auch keinen Grund zu der Annahme, die Mittel seien tendenziell von anderer normativer Qualität als diese Ziele. Ein Nutzen, der sich folglich aus dem extremen Fortschrittsbegriff ziehen lässt ist der, dass er das Dilemma der normativen Differenz zwischen der als Entwicklungsziel in die Zukunft projizierten guten Idee und den katastrophalen' Anstrengungen diese zu verwirklichen zumindest relativiert, indem er es als ein Problem nicht des Begriffs Fortschritt selbst, sondern des sprachlichen Umgangs mit diesem Begriff sichtbar macht. Nicht in Frage stellen will Marx mit dem extremen Fortschritt den prinzipiell evolutionären Charakter der Geschichtsentwicklung. Was sich jedoch mit Hilfe dieses Begriffs in der Tat hinterfragen lässt, ist der besondere Typus des Geschichtsdenkens, wonach .evolutionär' bedeutet, dass Fortschritt eine ewige Begleiterscheinung und also das Prinzip oder das Gesetz des Geschichtsprozesses ist. Dazu gehört freilich auch die Vorstellung von der .dialektischen' Abfolge der Gesellschaftsformationen, die im 20. Jahrhundert in manchen Strömungen des Marxismus zu einer auf dem Formationsfortschritt basierenden Geschichtsauffassung heranreift. Vielleicht stellt sich als Ergebnis dieser Untersuchung wenigstens ansatzweise auch eine Veränderung in der Sicht auf das ein, was man die Stellung des Marxschen Denkens zum Universa-
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SCHLUSS
lismus nennen könnte. Damit meine ich den Bezug dieses Denkens auf Umfang und Geltungsbereich von Begriffen wie ,Geschichte', .Fortschritt' etc. Das 20. Jahrhundert hat in dieser Hinsicht doch ein eher gefälliges Bild von der materialistischen Geschichtsauffassung gezeichnet. Um Marx an seine Bedürfnisse anpassen zu können hat es behauptet, Marx entwerfe eine wie auch immer geartete Theorie oder Philosophie der Geschichte. Je nachdem wie die weltanschaulichen Loyalitäten verteilt waren, wurde darin entweder die neue Wissenschaft des Historischen Materialismus gesehen, die uns den ,Kontinent der Geschichte' (Althusser) überhaupt erst eröffne, oder aber eine säkulare Heilslehre und soziale Utopie, die an den szientistischen Anspruch auf Objektivität und Naturbeherrschung verfallen sei. Diese Auseinandersetzung hat sicherlich zu einer Bereicherung der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung und der Sozialphilosophie geführt. Der Umstand, dass Marx zwar wiederholt die Frage nach der Universalgeschichte stellt, dass er diese aber nicht als Universalfortschritt begreifen will, konnte unter diesen Bedingungen keinen Eingang in die Diskussion finden. Rufen wir uns am Beispiel Kants kurz in Erinnerung, was Universalfortschritt für gewöhnlich bedeutet. Im ersten Abschnitt des Streits der Fakultäten beginnt Kant seine Erörterung mit der erneuerten Frage', „ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei?" Er beginnt mit der Frage: „l.Was will man hier wissen?" (1798, A131, 351) Was dann in diesem ersten Abschnitt passiert ist hochinteressant. Fortschritt wird nicht nur auf das vorausschauende, prophezeiende Denken reduziert; er wird außerdem wie selbstverständlich als Kollektivsingular ausgelegt: „Übrigens ist es hier auch nicht um die Naturgeschichte des Menschen ..., sondern um die Sittengeschichte, und zwar nicht nach dem Gattungsbegriff (singulorum), sondern dem Ganzen der gesellschaftlich auf Erden vereinigten, in Völkerschaften verteilten Menschen (universorum) zu tun, wenn gefragt wird: ob das menschliche Geschlecht (im großen) zum Besseren beständig fortschreite." (1798, A132, 351)3
*
Als Vertreter des Kollektivsingulars Fortschritt ist Kant zwangsläufig ein Wegbereiter der Ambivalenztheorie. Wenn nämlich Fortschritt als das „unendliche" Hinarbeiten auf einen „Endzweck" vorausgesetzt wird, dann eröffnet dieser Fortschritt natürlich auch „ein Prospekt in eine unendliche Reihe von Übeln" (1794, A513, 184). Nur der vollständig realisierte Endzweck hat die Kraft, alle Übel zu vernichten, aber das ist in der Zeit 3
Der ,vorkritische' Kant kennt noch die Vorstellung eines in unendlicher Progression begriffenen Universums. Die .kritische' Wende besteht auch darin, dass Kant einen solchen, aus der Natur abgeleiteten und auf die Geschichte übertragbaren Verbesserungsglauben als unbeweisbar entlarven will (vgl. Koselleck 1979a, 383). Auf das Ziel eines republikanischen Völkerbundes hinzuarbeiten, ist aber der Menschen Berufung und ihre Pflicht. Die Ziele des Fortschreitens setzen sich die Menschen selber, und so können sie die Geschichte auch so schaffen, dass die Ziele verwirklicht werden. „So suchte Kant die allseitig beschworene Vervollkommnung aus einer begreiflichen, aber nur spekulativen Hoffnung in eine zwingende Forderung zu verwandeln, mit deren Annahme auch die Einsicht in die Handlungschancen wachse." (Ebd.) Mit der moralischen Forderung nach Fortschritt wird der Endzweck als Regulativ auch in den historischen Handlungsvollzug integriert.
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gar nicht möglich. Der Fortschritt schließt daher den Rückschritt mit ein. Das ergibt sich aus der von Kant aus freien Stücken gewählten Bezeichnung der Universalgeschichte als eine in einem beständigen Fortschritt „zum höchsten (ihm zum Ziel ausgesteckten) Gut" begriffenen Entwicklung (ebd., A512, 184). Dass die Geschichte im Ganzen ein unumkehrbarer Verbesserungsprozess ist, das hält Kant eben nicht nur für moralisch geboten, sondern auch für theoretisch belegbar. Die geschichtliche Erfahrung - gerade auch das ,Geschichtszeichen' der Französischen Revolution - zeigt ihm an: dies ist „ein nicht bloß gutgemeinter und in praktischer Absicht empfehlungswürdiger, sondern ein allen Ungläubigen zum Trotz auch für die strengste Theorie haltbarer Satz: daß das menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen sei, und so fernerhin fortgehen werde". (1798, A150f„ 362) Warum sollte es dem Fortschritt zwingend um ,das Ganze' zu tun sein? Die Universalität des Fortschritts ist nicht nur als Kollektivsingular denkbar. Am Beispiel des originellen Marxschen Fortschrittsbegriffs lässt sich eine andere Form von Universalität nachvollziehen. Marx hält sich zwar mit inhaltlichen Vorschlägen zum progressiven Programm zurück, legt aber dafür umso größeren Wert auf die Universalität der Bedeutung von Fortschritt. Der Unterschied zwischen der Universalität des Fortschritts als Kollektivsingular und als Idealobjektivation ist gleichzeitig der Unterschied zwischen dem traditionellen Konfliktmodell (Fortschritt-als-Gegensatz) und dem neuartigen Konfliktmodell (Fortschritt-im-Gegensatz). Mutiger wäre es freilich gewesen, Marx als Vertreter eines geschichtsphilosophischen Fortschrittsbegriffs im Stile des traditionellen Konfliktmodells zu lesen. Aber die Rekonstruktion des impliziten Begriffs Fortschritt-im-Gegensatz hat sich in eine andere Richtung entwickelt. Damit mag sie sogar im Trend liegen. In ihren Resultaten entspricht sie nämlich dem, was sich mit den Wörtern .Pluralismus' und ,Kontingenz' über die Anforderungen des Zeitgeistes an die theoretische Geschichtsbetrachtung sagen lässt. Das wirft wiederum eine Frage auf, an der das Wagnis dieses Rekonstruktionsvorhabens deutlich wird: Führt die Überwindung der aufgeklärten Vorstellung vom Universalfortschritt auf der Basis des traditionellen Konfliktmodells Marx nicht in Wirklichkeit zu einem sektoralen Begriff von Fortschritt zurück, der seinem Wesen nach vormodern ist? Wäre das der Fall, dann würde die Behauptung des .pluralistischen' und Kontingenten' Charakters des Marxschen Fortschrittsdenkens vermutlich nicht auf Anerkennung stoßen. Eine Relativierung des Fortschritts, die den Rückgang von dem einen Fortschritt zu den vielen Fortschritten - wie sie von Baumgartner (1997, 53) und Baumgart (1997, 333) vorgeschlagen wird - ist eben nur ein Teil der Lösung. Ein reiner Fortschrittspluralismus kann jedenfalls nicht das Ziel sein.
b.
Fortschritt als retrospektive Urteilskategorie
Fortschritt ist immer auch eine Urteilskategorie. In dieser Form ist er von erheblichem Wert für den Erklärungsanspruch der Marxschen Theorie. Den Fortschritt als Urteilskategorie betrachten heißt nämlich, ihn in seiner Bedeutung für die Erkenntnis ernst zu
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SCHLUSS
nehmen (vgl. Rapp 1992, 35). Natürlich ist gerade der Zweifel daran, dass sich die innige Verbindung von Fortschritt und Geschichte bzw. Menschheit überhaupt auf sichere Evidenzen berufen kann, eine Erkenntnisleistung des 20. Jahrhunderts gewesen. Marx' Beitrag zur Erhärtung dieses Zweifels zu einer Einsicht ist nicht ausreichend gewürdigt worden. Es mag ungewohnt sein, den Fortschrittsbegriff im Hinblick auf die Erkenntnis zu betrachten, da die entsprechende Literatur Fortschritt fast ausschließlich als Projektion des Willens bzw. als Voraussetzung von Zwecken dargestellt, von der gesagt wird, sie mache sich die Wirklichkeit nach Belieben zurecht. In der skeptischen Zuspitzung dieser Darstellung kann das Fortschrittsdenken dann ganz unverhohlen als Wunschdenken im unmittelbaren Wortsinn abgetan werden. Auf diese Weise wird also von vornherein ausgeschlossen, dass Fortschritt auch Erkenntnisinteressen vertreten kann. Dabei gibt es keinen Grund, warum über Fortschrittsaussagen nicht als Fortschrittsurteile und also als Teil der Erkenntnisgewinnung gesprochen werden sollte. Jeder Urteilsakt macht Aussagen über einen bestimmten Gegenstand, denen sich sowohl der Geltungsbereich als auch die Blickrichtung (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) des Urteils entnehmen lässt. So bezieht sich die Mehrzahl der von Marx gefällten Fortschrittsurteile nicht auf den Gegenstand der Universalgeschichte - auf den Formationsfortschritt oder die sogenannte ,Logik der Übergänge' zwischen seinen einzelnen Entwicklungsstufen - , sondern auf Verbesserungen in bestimmten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Hier sind zuvorderst die Ökonomie (Vergrößerung des gesellschaftlichen Reichtums, speziell durch die Verbesserung der technischen Arbeitsmittel), die Politik (offene Artikulation des Klassengegensatzes) und die Wissenschaft (Erkenntniszuwachs durch kritische Eingriffe in den Theoriebestand) zu nennen. Warum sollte die Beurteilung der Entwicklungen in diesen gesellschaftlichen Sphären nicht auf der Grundlage einer einheitlichen Bewertung möglich sein, ohne sofort die Preisfrage auf den Plan zu rufen? Um den nachträglichen Charakter des Urteilens zu betonen, ist das Urteil als sprachlicher Ausdruck der gesonderten Betrachtung der einzelnen Bestimmungsstücke eines konkreten „Erlebnisses" definiert worden (Mach 1991, 112). Freilich lässt sich nicht jedes Urteil auf sinnliche Eindrücke gründen, und gerade Fortschrittsurteile sind keineswegs immer auf Erlebnisse zurückzuführen; sie können in der Tat auch die Erwartungshaltung ausdrücken, mit der wir der zukünftigen Entwicklung begegnen. Eine ordentliche Bestandsaufnahme des Sprachgebrauchs beweist allerdings, dass Marx den Ausdruck Fortschritt' in den meisten Fällen in Verbindung mit rückblickenden Urteilen verwendet.4 Die retrospektive Dimension dominiert seinen Gebrauch von Fortschritt'. Das ist ungewöhnlich für einen progressiven Denker des 19. Jahrhunderts, besonders 4
Von diesen expliziten Fortschrittsaussagen sind wieder eine große Zahl - wenn nicht gar die Mehrzahl - quantitative, das heißt nichtnormative Urteile. Diese Urteile sind nicht zum Begriff des Fortschritts als historische oder gesellschaftliche Verbesserung zu zählen, der allein Gegenstand dieser Untersuchung ist, sondern zum sogenannten genetischen Fortschrittsbegriff (siehe Einleitungskapitel).
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im Vergleich mit der Erfahrungsarmut von Proudhons System der Lieblingsideen. Für Proudon ist uns der Fortschritt unmittelbar a priori gegeben: „immédiatement et avant toute expérience" (1853, 51). Marx ist um eine nicht-teleologische Geschichtsauffassung bemüht. Er begreift die Geschichtsentwicklung als gegensätzliche Selbstbewegung. Historische Formen werden im Sinne von Ursachenforschung aus ihren Bedingungen und aus ihrem inneren Zusammenhang heraus erklärt. Marx' Methode ist die „rückblickende Konstruktion von Entwicklungsbedingungen" (Lefèvre, 2000, 185) dieser Zusammenhänge. In den Grundrissen bringt er diese Methode mit einem berühmt gewordenen Aphorismus auf den Punkt: die Anatomie des Menschen liefere den Schlüssel zu der des Affen. Gleichzeitig warnt er davor, die historischen Voraussetzungen eines Zusammenhangs so darzustellen, als seien sie um dieser Sache Willen entstanden, und seien also Mittel zum Zweck. Marx fürchtet zu recht, einzelne historische Begebenheiten könnten aufgrund seiner Darstellung als notwendige Etappen auf dem Weg zu einem Geschichtsziel, als notwendige .Momente' eines Telos, verstanden werden. Nur ist diese Befürchtung eigentlich unbegründet, da die Notwendigkeit sich erst aus der Erfassung des Zusammenhangs ergibt. Logisches und Historisches werden in der Marxschen Theorie, anders als in der Hegelianischen Spekulation, eben nicht durcheinander geschmissen. Zwar hat die Teleologie stets versucht, die Notwendigkeit für sich in Anspruch zu nehmen; so ist der Eindruck entstanden, die Rede von der Notwendigkeit speziell der historischen Notwendigkeit - basiere auf teleologischen Voraussetzungen. In Wirklichkeit kann die Notwendigkeit erst dann ins Spiel kommen, wenn von den wirklichen Ursachen oder Bedingungen eines bestimmten Resultates die Rede ist. Streng genommen handelt die Teleologie aber nicht von Ursachen oder Bedingungen. Sie ist vielmehr der Versuch, einzelne Etappen eines Entwicklungsprozesses von etwas herzuleiten, das realiter gar nicht existiert, und das also den Prozess nicht begründen kann. In Wirklichkeit ist die Teleologie keine Abwandlung des Kausalitätsprinzips (auch nicht die Umkehrung dieses Prinzips: causa finalis), sondern sie ist eine Form von Sinngebung und verbreitet einen bloßen Schein von Notwendigkeit. Auch bei Marx hat Fortschritt teilweise eine teleologische Dimension. Wie das sechste Kapitel gezeigt hat gilt das speziell für die externe Variante der moralisierenden Marxschen Gesellschaftskritik. Darin erschöpft sich das Marxsche Fortschrittsdenken jedoch nicht. Die materialistische Geschichtsauffassung kann zeigen, dass hinter dem Fortschritt auch fundamentale nicht-mentale, willensunabhängige - und also im weitesten Sinne ,materiale' - Faktoren stehen. Das heißt konkret: die Ziele des Fortschritts müssen nicht nur vorgestellt und gewollt, sondern sie müssen auch tatsächlich erarbeitet werden. Hier stoßen die Menschen auf gesellschaftliche und natürliche Bedingungen, die sie nur geringfügig beeinflussen können. Wenn aber der moderne Fortschrittsgedanke ausschließlich als rationales und letztendlich als telisches Konzept angesehen wird, dann werden diese vorgefundenen Bedingungen ausgeblendet. Das hat sicherlich zur Reduktion des Fortschrittsbegriffs auf das vorausschauende Urteilen beigetragen. Die retrospektive Dimension, in der sich seine Erkenntnisleistung konzentriert, wird unterschlagen.
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SCHLUSS
Marx' Interesse gilt dem Abstand zwischen einem ungenügenden Zustand der Vergangenheit und der Verbesserung, die dieses Gebiet bis zum gegenwärtigen Zustand erfahren hat. Dabei konzentriert er sich insbesondere auf sein Spezialgebiet der politischen Ökonomie. In der Einleitung zu den Grundrissen lobt er den ,,ungeheure[n] Fortschritt von Ad. Smith jede Bestimmtheit der Reichthumzeugenden Thätigkeiten fortzuwerfen", und „Arbeit schlechthin" als Quelle des Wertes zu begreifen (MEGA Π/l.l, 39/MEW 42, 38). Und über Proudhon schreibt Marx zu einer Zeit, als er für ihn noch Respekt aufbringen kann: „Proudhon nun unterwirft die Basis der Nationalökonomie, das Privateigentum, einer kritischen Prüfung, und zwar der ersten entschiednen, rücksichtslosen und zugleich wissenschaftlichen Prüfung. Dies ist der große wissenschaftliche Fortschritt, den er gemacht hat, ein Fortschritt, der die Nationalökonomie revolutioniert und eine wirkliche Wissenschaft der Nationalökonomie erst möglich macht." (Heilige Familie, MEW 2, 32f.) Bei diesen Beispielen handelt es sich wissenschaftliche Fortschritte, wobei der Abstand zwischen dem vorhergehenden und dem neuen Wissensstand als Maßstab der Neuerung gilt. Dieser Abstand wird erst rückblickend sichtbar. Die Originalität der Verwendung des Fortschritts als rückblickende Urteilskategorie rührt nicht zuletzt daher, dass sie ein Korrektiv zu der philosophischen Tradition ist, nach der die theoretische Geschichtsbetrachtung ohne Zukunftsorientierung nicht denkbar ist. Diese Tradition kann es sich nicht vorstellen, dass die Einsicht in die Gesetzmäßigkeit und den evolutionären Charakter der Geschichtsentwicklung etwas anderes bedeuten könnte als die Realisierung zweckmäßig vorausgesetzter Fortschrittsziele. Die Annahme, Fortschritt habe ausschließlich diesen prospektiven und prophezeienden Charakter findet spätestens seit Kant Verbreitung (vgl. Anderson-Gold 2003, 269). Anzweifeln lässt sie sich schon anhand von Leibniz' formaler Bestimmung des Fortschritts als ,Anstieg' über einen zeitlich beliebigen ,Punkt': „Ich sage daher, daß der Anstieg das Wahre ist, wenn jetzt ein Punkt angenommen werden kann, unter den nicht weiter abgestiegen wird und wenn man nach irgendeiner Zeit, wie lange sie auch immer sein möge, zu einem höheren Punkt gelangt, unter den nicht weiter abgestiegen wird." (1694/96, 369) ,Ein Punkt' heißt es hier - also irgendein Punkt, der die Bedingung zu erfüllen hat, dass unter ihn ,nicht weiter abgestiegen wird'. Hier ist keine Rede davon, dieser Punkt müsse unbedingt in der Gegenwart liegen, so dass sich der Fortschritt mit Notwendigkeit von der Gegenwart in die Zukunft erstreckt. In der Tat ist heutzutage die einzige Konstante des Fortschritts die, dass er für die historische Bewegung des Guten steht, die sich am besten mit dem Wort Verbesserung' ausdrücken lässt. Verbesserung bedeutet lediglich, dass eine Bewegung stattfindet, die zu einem bestimmten Zeitpunkt von einem unbefriedigenden Zustand wegführt. Freilich gibt es ein historisches Argument für die bevorzugte Behandlung der prospektiven Dimension. Richtig ist, dass in der Geschichte der Philosophie diejenigen in der Mehrzahl waren, die die Fortschrittsidee in Verbindung mit den unterschiedlichsten Vorstellungen von zukünftigen Idealzuständen bemüht haben: die vernunftbürgerliche
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Weltfriedensordnung (Kant), die gerechte Assoziation (Proudhon), die absolute Versöhnung auf der finalen .dritten Stufe', sei es des Absoluten (Cieszkowski) oder der Positivität (Comte) usw. sind bekannte Beispiele. Im Gegensatz dazu bezieht sich der Großteil der Marxschen Fortschrittsaussagen auf Entwicklungen, die bereits hinter diesen Aussagen liegen. Marx macht keine utopischen Heilsversprechungen, er unternimmt rückblickende Beurteilungen. Es gibt auch keinen logisch zwingenden Grund, warum der Ausgangspunkt einer Verbesserung unbedingt die Gegenwart markieren sollte, niemals aber einen Zeitpunkt in der Vergangenheit. Genauso wenig gibt es einen logischen Grund für die Annahme, der Begriff des Fortschritts sei prinzipiell vorausschauend und also zukunftsorientiert. Folglich gibt es keinen Grund, warum die retrospektive Dimension des Fortschrittsdenkens in der philosophischen Reflexion dieses Denkens weiterhin unterschlagen werden sollte. Es ist ein wesentliches Merkmal der Marxschen Theorie, dass sie dieser Tendenz nicht folgt. Marx' Fortschrittsurteile müssen vor allem als Antworten auf die Frage ,Wie weit sind wir gekommen?' 5 verstanden werden. Freilich sind nicht alle Urteile Antworten. Trotzdem kann man Rickert zustimmen: „der Urteilsakt leistet nichts für die Erkenntnis, wenn er nicht auf eine Frage antwortet" ( 1 9 2 8 , 1 7 3 ) . Die Antwort gibt der Frage das, was ihr - abgesehen von dem Mindestmaß an Vorwissen über den zur Frage stehenden Gegenstand, den die Frage immer selbst mitbringt - noch fehlt. Daher ist das Fällen eines Urteils ein Akt der Entscheidung. Entschieden wird über wahr und falsch (und alle möglichen Schattierungen, die dazwischen liegen), und darin drückt sich immer auch eine Bejahung bzw. Verneinung aus. Treffe ich eine Entscheidung gegen etwas, dann verneine ich es und lehne es also ab. Entscheide ich mich für etwas, dann bejahe ich es und somit anerkenne ich es. Da nun sinnvolle Fortschrittsurteile immer positive Urteile über Entwicklungen sind, die uns wertvoll erscheinen, verdeutlicht der Fortschritt in seiner Funktion als Urteilskategorie, dass wir die Realität dieser Entwicklungen als Verbesserungen erkennen, als solche anerkennen und ihnen zustimmen. Ein Wort noch zum Urteil als Entscheidungsakt: Traditionell hat man das Urteil entweder als Verknüpfung oder als Zerlegung von Vorstellungen gesehen. Der Satz ,Der Stein ist rund' unterscheidet offensichtlich die Form vom Material. Ob man darin nun eine Auflösung des Satzgegenstandes in ,rund' und ,Stein' (Analyse) sehen will, oder die Zusammenfügung beider Wörter zu einer Einheit (Synthese), hängt sicherlich auch davon ab, in welchem Kontext der Satz ausgesprochen wird. Nur ist es eben in jedem Fall ein Zug des Urteilens, dass die Betrachtung aus ihrer Zurückhaltung herauskommt und sich zu einer Entscheidung aufrappelt. Wendet man dieses allgemeine Merkmal des Urteilens auf den extremen Fortschritt als besonderes Urteil über einen historischen Prozess an, so stellt man fest, dass er gerade nicht zu dessen Aufblähung führt, wie das für gewöhnlich von der Verbindung der Kategorien Fortschritt und Geschichte erwartet wird. Wenn Marx im Rahmen seiner Spekulationskritik sagt, Fortschritt dürfe 5
„Progress accordingly has two dimensions: retrospective (how far we have come) and prospective (where we have yet to go)." (Rescher 1997, 103)
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nicht ,abstrakt' gefasst werden, dann meint er damit, dass er nicht zur Beurteilung der Geschichte herangezogen werden darf, wie das etwa bei den Stufengangtheoremen der Junghegelianer oder Comtes der Fall ist, sondern allein zur Beurteilung von Ausschnitten daraus. Die Urteilskategorie Fortschritt trägt zu einem besseren Verständnis dieser Ausschnitte bei. Der Vorwurf, jede Bemühung der Fortschrittskategorie erhebe Anspruch auf ein absolutes Wissen prallt an dieser Konzeption ab. Beispielsweise läuft Lyotards Theorie von den ,großen Erzählungen' (siehe Kapitel III, Abschnitt 2.c.) auf die These hinaus, weder die Erkenntnis noch die Befürwortung von progressiven Inhalten aus moralischen Gründen, sondern allein die intellektuelle Herrschsucht sei das eigentliche Motiv des Fortschrittsdenkens. Es ist dies ein alter Gedanke, der bis zu den Anfängen der vitalistischen Tradition zurück geht. Der Vitalismus wollte noch nie etwas mit dem Fortschritt zu tun haben, weil er eine angeblich unintelligibele, ursprüngliche und immergleiche Balance des Lebens mit sich selbst aus seiner Verankerung schlägt und dem Fluss der Zeit unterwirft. Ein klassischer Vertreter dieses Denkens ist Vallentin, der diesem heute noch gängigen Vorurteil das Wort redet: „Niemals entstand der kultur ein gefährlicherer und zugleich schäbigerer feind als der fortschritt." (1910, 54, Kleinschreibung im Original) Interessant ist diese Kritik an dieser Stelle deshalb, weil Vallentin den Fortschritt als etwas ablehnt, das Zergliederung impliziert, nicht Einheit: „Der fortschritt hat seine teilmittel." (Ebd., 58) Fortschritt sei „mechanistische wesensteilung" und gerade deshalb bezeichne er „kein schreiten sondern ein versinken" (ebd., 59). Das einheitliche Ganze gehe verloren, weil Fortschritt das Urteil auf „Zerlegung und schluss, nicht auf überschau und Zusammenfassung" schule (ebd., 49). Wird damit nicht insgeheim zugestanden, dass Fortschrittsdenken wenigstens eine Bedingung für die Einsicht in den inneren Zusammenhang der Elemente von Totalitäten erfüllt? Es ist eben nicht zwangsläufig ein verabsolutierendes, diese Elemente dem Prozess der Verwirklichung von Idealvorstellungen unterwerfendes Denken; es kann auch ein erkennendes Denken sein, dem - wie das Beispiel von Marx' unausgesprochener Momentkritik zeigt (Kapitel V, Abschnitt 3.c.) - die Selbständigkeit der Elemente doch etwas bedeutet.
c.
Fortschritt als sphärisches Phänomen
Als Urteilskategorie bewertet der extreme Fortschritt konkrete Veränderungen zum Besseren auf bestimmten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Darin liegt sein sphärischer (oder sektoraler) Charakter. Wenn allerdings die materialistische Geschichtsauffassung nicht als Rückkehr zu einem vormodernen Konzept von Fortschritt (zu einem reinen Fortschrittspluralismus) verstanden werden soll, dann müssen sich die vielen sektoralen Verbesserungen zu einem historischen Fortschritt zusammenfügen lassen, der auch auf die Grenzen der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft verweist. Die wissenschaftliche Erkenntnis (die Wissenschaftlichkeit der Kritik der politischen Ökonomie), die Politik (der Klassenkampf) und die Produktivkraftentwicklung (das
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potentielle Wachstum des gesellschaftlichen Reichtums) sind diejenigen gesellschaftlichen Sphären, die von Marx bevorzugt in einen Zusammenhang mit dem Fortschritt gebracht werden. Genau genommen sind Wissenschaftlichkeit, Politik und Produktivkraftentwicklung die drei zentralen Kriterien des Marxschen Fortschrittsdenkens. Das Kriterium einer bestimmten Fortschrittsentwicklung ist allerdings nicht unbedingt dasselbe wie das angestrebte Ziel dieser Entwicklung. Daher muss zunächst zwischen dem ,Kriterium' und dem ,Ziel' von Fortschritt unterschieden werden. Ein ,Kriterium' ist ein Maß, nach dem etwas bewertet wird. Etwas wird auch als ein Kriterium von etwas anderem verstanden, wenn es notwendigerweise ein Beleg dafür ist und diese erklärt. Das Kriterium einer Fortschrittsentwicklung ist der Maßstab der Umsetzung eines bestimmten Fortschrittsinhalts, in dem sich die Vorstellung von etwas Wertvollem ausdrückt. Kriterium und Ziel des Fortschritts lassen sich freilich nicht immer klar auseinanderhalten, da ein bestimmtes Fortschrittskriterium zugleich ein Ziel von Fortschritt sein kann. Bei Marx gilt das eigentlich für alle drei der genannten Kriterien, ganz besonders aber für die gesellschaftlichen Antagonismen, die nach seinem Verständnis die Politik ausmachen. Nach Marx ist die Politik nämlich gleichzeitig ein Kriterium, ein Mittel und ein Ziel des historischen Fortschritts. Das wohl gewichtigste Kriterium des materialistischen Konfliktmodells der Geschichtsentwicklung und des Fortschritts ist allerdings das Konzept der Produktivkraftentwicklung. 1.) Produktivkraftentwicklung als Fortschrittskriterium: Immer wieder ist behauptet worden, die Vorstellung von der beständigen Vervollkommnung treffe - so sie überhaupt auf irgendetwas zutreffe - noch am ehesten auf die technische Entwicklung zu (vgl. Holz 2004, 56). Dies ist auch der Kerngedanke von G. A. Cohens engagierter Verteidigung der von ihm behaupteten Marxschen .Theory of History'. Nach Cohens Development Thesis' haben die Produktivkräfte die Tendenz, sich beständig weiterzuentwickeln. Und nach der daran angeschlossenen ,Primacy Thesis' ist der Entwicklungsstand der Produktivkräfte der bestimmende Faktor in Marx' Erklärung der Produktionsverhältnisse und der geschichtlichen Entwicklung im Ganzen (1991, 134). Cohen hat sich damit dem Vorwurf ausgesetzt, er reduziere Marx' Geschichtsauffassung auf einen ökonomischen Determinismus bzw. auf eine besondere Variante davon: den technischen Determinismus (vgl. Miller 1981, 9Iff.). Tatsächlich betont Marx die Bedeutung der ökonomischen Prozesse für den gesellschaftlichen Wandel, und er hebt insbesondere die Bedeutung der Produktivkraft hervor. Im Brief an Annenkow sind die „Produktivkräfte" der Menschen immerhin „die Basis ihrer ganzen Geschichte" (MEW 4, 548). Zwanzig Jahre später heißt es im Kapital über den kapitalistischen Produktionsprozess, er sei eine historisch bestimmte Form des „gesellschaftlichen Produktionsprocesses überhaupt" und als solcher sei er „sowohl Produktionsproceß der materiellen Existenzbedingungen des menschlichen Lebens, wie ein in specifischen, historisch-ökonomischen Produktionsverhältnissen vor sich gehender, diese Produktionsverhältnisse selbst, und damit die Träger dieses Processes, ihre materiellen Existenzbedingungen und ihre gegenseitigen Verhältnisse, d.h. ihre bestimmte ökonomische Gesellschaftsform producirender und reproducirender Proceß". (MEGA 11/15, 793/MEW 25, 826) Insofern also das Interesse auf den gesellschaftlichen Produktionsprozess überhaupt' gerichtet ist, ist es
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auf den .Produktionsprozess der materiellen Existenzbedingungen des menschlichen Lebens' und ihre verschiedenen Ausdracksformen gerichtet. Wenn die Kritik der politischen Ökonomie die Entwicklung einer bestimmten Gesellschaftsform erforscht, dann bedeutet das, dass sie diese Gesellschaft primär „nach ihrer ökonomischen Struktur betrachtet". (Ebd.) Marx vertritt in dieser Angelegenheit recht deutlich eine deterministische Position, insofern er allgemein der ökonomischen Struktur der Gesellschaft, und darin wiederum der Produktivkraftentwicklung, eine größere Bedeutung zuspricht als anderen Strukturen. In vergangenen Diskussionen um die Marxsche Theorie ist dies wie gesagt als problematisch angesehen worden, nämlich als eine besondere Form des Reduktionismus, der, wie es Marx im Vorwort von 1859 vormacht, den ideellen, rechtlichen, politischen etc. ,Überbau' der sozialen Verhältnisse aus der ,willensunabhängigen' ökonomischen Struktur (.Basis') ableitet bzw. auf diese zurückführt (MEGA II/2, 100/MEW 13, 8). Aber genau das tut Marx wiederholt. Dass alle nicht unmittelbar ökonomischen Verhältnisse dadurch an Einfluss verlieren, ist beabsichtigt und als eine Leistung seines Werkes anzusehen. Interessant ist, dass er sich dadurch von einer breiten Strömung innerhalb des Marxismus unterscheidet, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, ausgerechnet diesen Aspekt seiner politischen Ökonomie zugunsten eines Kontingenten' Erklärungsmusters zurückzudrängen. - Denn darum geht es hier schließlich: um die Erklärung gesellschaftlicher Zusammenhänge in ihrem historischen Wandel. Warum sollte dieser besondere Determinismus ein gravierendes theoretisches Problem darstellen? Man kann sich mit gutem Grund darüber streiten, welche Faktoren von einem bestimmten Erklärungsmuster als die bedeutsameren angesehen werden. Aber es gibt keinen guten Grund für den Satz, dass einer Erklärung grundsätzlich keine hierarchische Ordnung der Faktoren zugrunde liegen darf. Ein Erklärungsmuster, das unter Pluralismus nicht nur die Mannigfaltigkeit der Elemente einer Totalität versteht, sondern zusätzlich deren Gleichwertigkeit und also die Gleichberechtigung aller Faktoren zum Selbstzweck erhebt, ist ein Faktorenpluralismus. Ein Faktorenpluralismus kann aber kein Materialismus sein, da mit diesem Begriff bereits eine Präferenz für bestimmte Faktoren ausgedrückt wird. Die Ordnung der Faktoren sollte niemals an einen vorgefassten Grundsatz angepasst werden. Sie muss der Wirklichkeit entnommen werden. Gibt uns die Wirklichkeit nicht oft genug Anlass zu der Annahme, dass diejenigen Elemente, die Marx in Begriffen wie ,Produktivkraft', .ökonomische Struktur' oder .gesellschaftlicher Produktionsprozess' zusammenfasst - letztlich in den .materiellen Existenzbedingungen des menschlichen Lebens' - eine unverhältnismäßig große Wirkkraft haben? Was speziell das Produktivkraftwachstum als wesentlichen Antrieb der Geschichtsentwicklung betrifft, so handelt es sich hierbei sowieso nicht um einen rein ökonomischen Faktor, schon gar nicht um einen rein technischen Faktor. Die Produktivkraft besteht, auch wenn Marx wiederholt vom ,materiellen' Charakter der Produktion spricht, nicht bloß aus technischen Mitteln (Maschinen, Werkzeuge und andere Arbeitsmittel). Die verschiedenartigsten Dinge sind in dem Begriff der Produktivkraft zusammengefasst: „Die Produktivkraft der Arbeit ist durch mannigfache Umstände bestimmt, unter andren durch den Durchschnittsgrad des Geschickes der
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Arbeiter, die Entwicklungsstufe der Wissenschaft und ihrer technologischen Anwendbarkeit, die gesellschaftliche Kombination des Produktionsprocesses, den Umfang und die Wirkungsfähigkeit der Produktionsmittel, und durch Naturverhältnisse." (Kapital, MEGA II/6, 74/MEW 23, 54) Schließlich gehen die Menschen „in der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens" bestimmte Produktionsverhältnisse ein, von denen Marx behauptet, dass sie „einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft" (Vorwort 1859, MEGA II/2, 100/MEW 13, 8, d. Verf.). Dieser Formulierung zufolge gehören die ,Produktivkräfte' also zur ökonomischen Struktur der Gesellschaft', die ihrerseits ein notwendiger Ausdruck der gesellschaftlichen Produktion des Lebens sind. An dieser Stelle kommt der Fortschritt ins Spiel: Was nun die „Umwälzungen" anbelangt, die von einer Gesellschaftsform zur nächsten führt, so müssen wir sie „aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist." (Ebd., 101/9) Diese Kernaussage des spezifisch Marxschen Konfliktmodells der Geschichtsentwicklung kommt immer dann einer Theorie der Geschichte sehr nahe, wenn Marx die Verwandlung der Produktionsverhältnisse in ein Hemmnis der Produktivkraftentwicklung (das er gerne mit dem Wort ,Fessel' umschreibt) für alle historischen Gesellschaftsformen geltend macht: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung gerathen die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen ... innerhalb derer sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche socialer Revolution ein." (Ebd., 100f./9) Dass die Produktivkräfte überhaupt an diese Grenze stoßen setzt voraus, dass sie einem beständigen Wachstumsprozess unterliegen. Soweit ich sehen kann, hat Cohen in diesem Punkt mit seiner .Development Thesis' Recht. Das Produktivkraftwachstum ist ein dauerhaftes, quantitatives Kriterium für historischen Wandel im Allgemeinen und also für den gesellschaftlichen Fortschritt. Das kurze Vorwort von 1859 wird gerne als Marx' deutlichstes Statement zum Fortschritt als universalhistorischem Phänomen gelesen. Ganz falsch ist das nicht. Marx schreibt: „In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden." (Ebd., 101/9) Es lässt sich jedoch argumentieren, dass sich Marx mit progressiv' erstens nicht so sehr auf die chronologische Abfolge dieser Produktionsweisen bezieht, sondern auf ihr Verhältnis zueinander. (Mit diesem Verhältnis beschäftigt er sich ja schon in den Grundrissen.) Zweitens ist das, was das Vorwort von 1859 in der Sprache der politischen Ökonomie formuliert im Grunde ein alter Gedanke, den Marx schon Anfang der 1840er Jahre im Kontext seiner Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie fasst, den er aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Sprache der
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politischen Ökonomie auszudrücken vermag: dass nämlich die progressive Umwälzung der Gesellschaft grundsätzlich einer ,materiellen Grundlage' bedarf. „Die Revolutionen bedürfen nämlich eines passiven Elementes, einer materiellen Grundlage. Die Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist." (Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEGA 1/2, 178/MEW 1, 386) Im Zusammenhang mit dem Anspruch auf die Verwirklichung der Bedürfnisse heißt Produktivkraftwachstum eben auch: Fortschritt muss im wahrsten Sinne des Wortes erarbeitet werden. Von herausgehobenem Interesse sind deshalb diejenigen Beobachtungen, die die Begriffe »Arbeitskraft' und Gesellschaftsformation' zusammenbringen: „Dieselbe Wichtigkeit, welche der Bau von Knochenreliquien für die Erkenntniß der Organisation untergegangener Thiergeschlechter, haben Reliquien von Arbeitsmitteln für die Beurtheilung untergegangner ökonomischer Gesellschaftsformationen. Nicht was gemacht wird, sondern wie, mit welchen Arbeitsmitteln gemacht wird, unterscheidet die ökonomischen Epochen. Die Arbeitsmittel sind nicht nur Gradmesser der Entwicklung der menschlichen Arbeitskraft, sondern auch Anzeiger der gesellschaftlichen Verhältnisse, worin gearbeitet wird." (Kapital, MEGA II/6, 194/MEW 23, 194f.) Die Entwicklung der menschlichen Arbeitskraft wird hier als eine Konstante der Entwicklung der Gesellschaft dargestellt, die ihrerseits mit der Evolution der Arbeitsmittel - mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt - zusammenhängt: „die Produktivkraft der Arbeit ... entwickelt sich fortwährend mit dem ununterbrochnen Fluß der Wissenschaft und der Technik" (ebd., 554/63 lf.). Bemerkenswert ist jedoch, dass Marx durchscheinen lässt, dass ,Geschichte' nicht die fundamentale Kategorie ist, der alle anderen unterzuordnen sind, sondern vielmehr ein resultativer Prozess. Er spricht von der „Entwicklung der materiellen Produktion" als der „Grundlage alles gesellschaftlichen Lebens und daher aller wirklichen Geschichte" (ebd., 195, Fn. 5a/195, Fn. 5a). Die Konzeption der Produktivkraftentwicklung (genauso wie die Kategorie des Produktionsverhältnisses) trägt also dazu bei, dass eine besondere Verbindung zwischen der Kategorie der Geschichte und der Kategorie der Arbeit hergestellt wird. Arbeit ist im Sinne von ,Produktion' erstens lebensnotwendig, und zweitens „daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam" (ebd., 198/198). Das ist keine Marxsche Entdeckung; das ist eigentlich überhaupt kein besonders origineller Gedanke. Schon Mandeville schreibt: „Bare Virtue can't make Nations live." (1970, 76) Die vitale Bedeutung dieser Tatsache rührt gerade von ihrer Trivialität her: „Daß jede Nation verrecken würde, die, ich will nicht sagen für ein Jahr, sondern für ein paar Wochen die Arbeit einstellte, weiß jedes Kind." (Marx an Kugelmann, 11. Juli 1868, MEW 32, 552) Aus dem Gesagten ergibt sich schließlich eine scheinbar problematische Gemengelage von Ökonomie und Politik. Immer wieder wurde darum ein Widerspruch zwischen dem objektiven Prozess (Ökonomie) und den subjektiven Faktoren (Politik) in die Marxsche Theorie hineingelesen: Wenn der Kapitalismus aufgrund eingebauter Krisenhaftigkeit sowieso dazu verdammt ist in
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eine ,höhere' Produktionsweise überzugehen, wozu bedarf es dann noch der Revolution? Marx formuliert aber keine Geschichtstheorie, welche die politische Subjektivität überflüssig machen würde. Ein Aspekt dessen, was ich oben ,Ökonomie der Moral' genannt habe, ist sein Versuch, die Erkenntnisse der Kritik der politischen Ökonomie mit Überlegungen zur politischen Strategie zu vermitteln. Das führt ihn schließlich zu dem Gedanken, dass die Politik auf der Ebene der ökonomischen Verhältnisse geführt werden muss, also auf der Ebene der Eigentumsverhältnisse und der sozialen Klassen, die sich durch ihre Stellung zum Eigentum bestimmen. 2.) Politik als Fortschrittskriterium - oder Politik als Fortschritt Die Marxsche Auffassung von Politik beruht sicherlich einerseits auf der einfachen Idee, die Klasse der Besitzlosen sei das Subjekt der Geschichte. Und doch ist sie gleichzeitig viel spannender als diese Idee, weil Marx Politik als eine besondere Erscheinungsform der sozialen Antagonismen versteht: als Klassenkampf mit offenem Ausgang. Sehr deutlich wird das im Kommunistischen Manifest·. „Jeder Klassenkampf ist aber ein politischer Kampf." (MEW 4, 471) Ohne soziale Antagonismen keine Politik. Die Abschaffung des Privatbesitzes an den Produktionsmitteln im Kommunismus nivelliert schließlich „die Klassenunterschiede" und sind diese erst einmal „verschwunden ... so verliert die öffentliche Gewalt den politischen Charakter". (Ebd., 482) Marx behauptet weder, die Existenz noch den Kampf der Klassen entdeckt zu haben. Das haben die Historiker getan, die die Entwicklung bzw. die „ökonomische Anatomie" davon dargestellt haben. Als Erkenntnisleistung seiner eigenen Theorie nimmt er den Nachweis in Anspruch, „daß die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Production gebunden ist" (an Weydemeyer, 5. März 1852, MEGA III/5, 76). Wie wir gesehen haben sind diese Phasen sehr stark vom Grad der Produktivkraftentwicklung abhängig. In der bürgerlichen Gesellschaft ist die politische Subjektivität nicht in erster Linie durch den Moralimperativ, sondern durch die praktisch erfahrene Not motiviert. Schließlich ist das Ausbleiben der Befriedigung fundamentaler Bedürfnisse nicht zuletzt darin begründet, dass die Produktivkraftentwicklung nicht in Richtung auf dieses Ziel gelenkt wird. Der Mangel, der deswegen entsteht lässt sich moralisch bewerten, und das tut Marx auch; aber die Politik selbst wird sozusagen ,aus dem Bauch' heraus gemacht und muss nicht erst durch Gebote der praktischen Vernunft oder durch Appelle an moralische Werte losgetreten werden. Dies sollte eigentlich ein stimulierender Gedanke sein in einer Zeit, in der von der Politik gesagt wird, sie sei vorrangig die Verhandlung von Werten, die verteidigt werden sollen bzw. deren konkrete Umsetzung man sich für die Zukunft vorgenommen hat. Denn damit wird nicht nur das Offensichtliche ausgesagt: dass politisches Handeln immer auch eine moralische Komponente hat; vielmehr wird damit insinuiert, Politik sei der verlängerte Arm der Moralität. Ganz anders Marx: seine Verbindung von ökonomischer und politischer Theorie dient dem Zweck der Untersuchung der „objektiven Möglichkeiten für einen sozialen Wandel zum Besseren". (Rohbeck 2006, 77) Originell ist dieses Politikverständnis, weil es sich dieses Bessere nicht bloß in Gedanken vornimmt - die Politik selbst ist bereits dieses Bessere. Das ist schlechthin der Grund, warum die Marxsche Politikauffassung ganz unabhängig von der Diskussion um den
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Historischen Materialismus und die Stufenfolge der Gesellschaftsformationen (Formationsfortschritt) heute noch aktuell ist. Bei Marx ist die Politik keine permanente Begleiterscheinung von Gesellschaft, sondern sie wird durch stellenweise auftretende Gegensatzverhältnisse konstituiert. Bei jedem ihrer Auftritte ist sie dann gleichzeitig ein Anzeiger und eine Instanz des gesellschaftlichen Fortschritts. In diesem Zusammenhang ist wieder das Elend der Philosophie ein ganz wichtiger Text. Im zweiten Abschnitt über Koalitionen beleuchtet Marx die Politik von zwei Seiten. Da sind zunächst die besonderen historischen Vorbedingungen von Politik im bürgerlichen Zeitalter: „Die Großindustrie bringt eine Menge einander unbekannter Leute an einem Ort zusammen. Die Konkurrenz spaltet sie in ihren Interessen; aber die Aufrechterhaltung des Lohnes, dieses gemeinsames Interesse gegenüber ihrem Meister, vereinigt sie in einem gemeinsamen Gedanken des Widerstandes - Koalition." (MEW 4, 180) Diese neue Situation hat ihren ganz eigenen Charakter: „In diesem Kampfe - ein veritabler Bürgerkrieg - vereinigen und entwickeln sich alle Elemente für eine kommende Schlacht. Einmal auf diesem Punkte angelangt, nimmt die Koalition einen politischen Charakter an." (Ebd.) Weder das bloße Vorkommen von Arbeitern (und sei es noch so massenhaft) noch deren Zusammenschluss (Koalition) ist gleichbedeutend mit Politik. Diese Umstände sind nicht schon selbst politisch, sondern Vorbedingungen von Politik. Der politische Charakter von sozialen Verhältnissen muss sich erst herausbilden, und dieser Prozess hat bestimmte Voraussetzungen. Zuerst wird die Masse der Bevölkerung in Lohnarbeiter verwandelt. So ergibt sich eine Situation gemeinsamen Interesses. Die Masse ist jetzt bereits eine „Klasse", „aber noch nicht für sich selbst" (ebd., 181). Erst ,,[i]n dem Kampf ... findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen. Aber der Kampf von Klasse gegen Klasse ist ein politischer Kampf." (Ebd.) Die Politik ist der Ausdruck und das Resultat der Entwicklung von der ,Masse' zur ,Klasse'; und diese Entwicklung ist wiederum Vorbedingung für das bestimmende Merkmal der politischen Subjektivität: der Kampf der Klassen. Der politische Kampf ist in diesem Sinne als ein Fortschritt anzusehen. Dieser Gedanke unterscheidet sich wesentlich von der Vorstellung, wonach die Politik in erster Linie die Verhandlung von Werten ist. Für Marx ist die Politik nicht bloß Träger progressiver Inhalte. Sie ist in ihrer authentischen Gestalt selbst ein Fortschritt, der die antagonistischen Verhältnisse und Interessen derart zuspitzt, dass er zu einem ursächlichen Teil der Bewegung wird, die das Potential hat, die bestehende Gesellschaft zugrunde zu richten und an ihrer Stelle eine neue zu errichten: „Eine unterdrückte Klasse ist die Lebensbedingung jeder auf den Klassengegensatz begründeten Gesellschaft. Die Befreiung der unterdrückten Klasse schließt also notwendigerweise die Schaffung einer neuen Gesellschaft ein." (Ebd.) Voraussetzung dafür ist allerdings das bereits besprochene Fortschrittskriterium der Produktivkraftentwicklung: „Soll die unterdrückte Klasse sich befreien können, so muß eine Stufe erreicht sein, auf der die bereits erworbenen Produktivkräfte und die geltenden gesellschaftlichen Einrichtungen nicht mehr nebeneinander bestehen können." (Ebd.) Die Überwindung der bestehenden Verhältnisse bindet also mit der Politik und der Produktivkraftentwicklung zwei unterschiedliche Fortschrittskriterien aneinander.
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Diese Verbindung habe ich im fünften Kapitel als das Zusammenspiel von Widerspruch und Antagonismus dargestellt. In Marx' Worten ist dies ein „Konflikt zwischen der materiellen Entwicklung der Produktion und ihrer gesellschaftlichen Form" (Kapital, MEGA 11/15, 856/MEW 25, 891). Allein kann weder die Politik noch die Produktivkraftentwicklung den Übergang von der bestehenden zu einer alternativen Produktionsweise und Gesellschaftsform bewirken. Marx verstrickt sich bei seiner Konzeption des gesellschaftlichen Fortschritts nicht in den Widerspruch zwischen objektivem Prozess (Ökonomie) und subjektiven Eingriffen (Politik). Hier ist auch keine Rede davon, dass die neue Gesellschaft notwendigerweise aus moralischer Sicht eine höherwertige sein wird. Marx sagt lediglich: wenn Emanzipation stattfinden sollte, dann jenseits der gegebenen Gesellschaft. Bedingung hierfür ist eine bestimmte Stufe in der Entwicklung der Produktivkräfte. Über ihre Verbindung zur Politik erhält die Produktivkraftentwicklung dann eine konkrete ethische Relevanz für Marx' originellen Begriff vom gesellschaftlichen Fortschritt. Auf diese Weise macht Marx auf einen interessanten Grundzug von Politik aufmerksam: Die bloße Existenz von Unterdrückung (die Unterdrückung einer Klasse durch eine andere Klasse) konstituiert für sich selbst genommen noch keine Politik im eigentlichen Sinne. Normalerweise hat der Klassengegensatz sogar diese vorpolitische Form. Politik, sagt Marx, ist der .Ausdruck' eines die Politik selbst übergreifenden und möglicherweise überdauernden Gegensatzverhältnisses. Politik ist also etwas Besonderes, nämlich etwas zeitlich Begrenztes. In dieser Begrenztheit stellt Politik in Marx' Augen einen Fortschritt dar; und zwar unabhängig vom Ausgang des Konfliktes. Politik ist nicht nur Mittel zu einem bestimmten Zweck (Verteidigung oder Realisation von ,Werten'), Politik ist Selbstzweck; und selbstverständlich repräsentiert Politik für Marx gerade dann einen Fortschritt, wenn sie letzten Endes als „höchstefr] Ausdruck" doch zur „allgemeinen Neugestaltung der Gesellschaft" führt (Elend der Philosophie, M E W 4, 182). Vor diesem Hintergrund ist es lohnenswert, den Ausarbeitungsgrad der Marxschen politischen Theorie zu überprüfen. Sicherlich ist die Politik bei Marx „ein unterbestimmtes Feld" (Arndt 1985, 266). Trotzdem könnte der Gedanke, der politische .Ausdruck' der gesellschaftlichen Gegensatzverhältnisse sei bereits selbst ein Fortschritt, wenigstens der Grundstein einer politischen Theorie sein. Dieser Gedanke unterstreicht die praktische Bedeutung und den extremen Charakter des Marxschen Fortschrittsdenkens. Nach Marx ist Politik keine dauerhafte gesellschaftliche Struktur, sondern die Sonderform eines dauerhaften sozialen Antagonismus, die sich aus einem Zustand der Abhängigkeit erst progressiv herausentwickeln muss. In der Einleitung zu den Grundrissen ist die Politik allerdings als anthropologische Konstante bestimmt: „Der Mensch ist im wörtlichsten Sinn ein [zoon politikon], nicht nur ein geselliges Thier, sondern ein Thier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann." (MEGA I I / l . l , 22/MEW 42, 20) Es ist bezeichnend, dass Marx im Kapital diese Verankerung auflöst und etwas Gegenteiliges behauptet: „daß der Mensch von Natur, wenn nicht, wie Aristoteles meint, ein politisches, jedenfalls ein gesellschaftliches Thier ist". (MEGA II/6, 323f./MEW 23, 346) Aristoteles' Definition des vollwertigen Menschen als Stadtbürger sei einem Vor-
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urteil geschuldet und müsse in ihrem historischen Kontext gesehen werden (ebd., 323, Fn. 13/346 Fn. 13). Das Marasche Politikverständnis ist zudem deshalb aktuell, weil die gängige Annahme einer permanenten politischen Struktur der eigentlichen Politik im Wege steht. ,Politik' bedeutet heute einerseits die Verdinglichung von Herrschaft in staatlichen Apparaten, und andererseits die Verharmlosung der sozialen Gegensätze als Wettbewerb der Werte. Das führt dazu, dass Politik kaum noch als ein antagonistisches Verhältnis wahrgenommen wird. 6 Das Marasche Praxisverständnis orientiert sich anders, da Marx der Zwecksetzung durch die politischen Subjekte generell einen verhältnismäßig geringen gesellschaftlichen Einfluss einräumt. Er begreift die Politik als Konsequenz der realen ökonomisch-materiellen Verhältnisse und als Ausdruck nicht von Werten, sondern von wahren Bedürfnissen. Im Anschluss an die Überlegungen zur Marxschen Ethik kann über die Politik gesagt werden, dass sie sittlich ist, weil sie sinnlich ist. Somit besteht die Möglichkeit einer weniger repressiven Form von Vergesellschaftung mit dem Ziel der Bedürfnisbefriedigung - zu der man freilich wieder moralische Vorstellungen bilden kann. Auch in diesem Sinne ist die Geschichte zwar nicht gleichbedeutend mit Fortschritt, aber sie hält die Möglichkeit von Fortschritt bereit.
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Die ehemalige britische Premierministerin Thatcher hat ihre Verärgerung angesichts dieses Antagonismus mit einem Franz von Assisi entlehnten Spruch auf den Punkt gebracht: „Where there is discord, may we bring harmony." Die Harmonie ist seither das Motto einer restaurativen Bewegung gegen die Politik gewesen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach dem Ausarbeitungsgrad der Marxschen politischen Theorie. Am Ziel vorbei schießt erst der Vorwurf, Marx' Überlegungen seien mit wirklicher Politik unvereinbar. Dieses Argument ist üblicherweise eine Variante des Heilslehren- oder Utopievorwurfs. Auf typische Weise vorgetragen wird es in Gerhardts ,Bilanz' des Marxismus: Unter der Überschrift .Radikalisierung aus dem bloßen Begriff' kreidet Gerhardt Marx ausgerechnet das als unpolitisch an, was ihn im Verlaufe des 20. Jahrhunderts immerhin politisch so bedeutsam gemacht hat, dass man sich noch im 21. Jahrhundert zu Bilanzierungen veranlasst fühlt: „Dann hat der Marxismus politische Wirksamkeit verlangt, aber ohne jeden Respekt vor den Besonderheiten der politischen Sphäre; er hat vor allem die Institutionen diskreditiert, hat die Meinungen, auf denen jede Politik basiert, nur als einen Appendix der ökonomischen Interessen angesehen, und für den in der Politik essentiellen Kompromiss fehlte ihm jedes Verständnis. Über die - von ihm so genannte - , vulgäre Demokratie' der .demokratischen Republiken', über Volksvertretungen, ja, selbst über den die Politik eigentlich erst konstituierenden Akt der Repräsentation hat er gelästert wie später die rechten Kritiker der Weimarer Republik." (2001, 348) Hier wird also unterstellt, die Kritik dessen, was gemeinhin unter Politik verstanden wird, bezeuge Marx' „Unfähigkeit zur Politik" (ebd., 349). Dieses Missverständnis entsteht, weil Marx das Politische nicht mit Dingen verwechselt, die aus seiner Sicht - isoliert betrachtet - politisch irrelevant sind: Zum Beispiel den ,Akt der Repräsentation'; das heißt, die offensichtliche Kontrolle einiger Weniger über das Staatswesen. In der abendländischen Philosophie wird Jahrhunderte lang eine terminologische Dreiteilung bzw. Vierteilung der Souveränität tradiert, der zufolge dieser Herrschaftstyp eine .Aristokratie' ist - im Unterschied zur Alleinherrschaft (.Monarchie'/,Tyrannei') und zur Herrschaft aller (.Demokratie') (typisch: Hobbes, Leviathan, Kapitel XIX). Wie die Konzeption der Politik als Artikulation dauerhafter Antagonismen zeigt gibt es in Wirklichkeit, was die .Besonderheit der politischen Sphäre' anbelangt, nur wenige feinfühligere Schriftsteller als Marx.
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3.) Erkenntnis als Fortschrittskriterium\ Wolfgang Fritz Haug beginnt seine Einführung in marxistisches Philosophieren mit einem Hinweis auf die moralische Motivation, die hinter diesem Philosophieren steht. Er bezieht sich auf Marx' (in Kapitel VI, Abschnitt 5.b. zitierte) Formulierung des kategorischen Imperativs, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen Menschen erniedrigt und geknechtet werden. In diesem Imperativ „verdichtet" sich der „Grundimpuls" der Marxschen Kritik (Haug 2006, 8). Diese Haltung ist nicht untypisch für das spätestens seit der Jahrtausendwende wieder zunehmende Interesse an Marx. Nun mangelt es unserer Zeit sicherlich nicht an Appellen zur Erneuerung. Trotz allem, was im letzten Abschnitt gesagt wurde, ist es doch Marx' zentrales Anliegen, die politische Ökonomie auf den Boden einer kritischen Wissenschaftlichkeit zu stellen. Zumal der Umsturz der Verhältnisse keine Aufgabe ist, die von einer Theorie bewältigt werden kann, sondern ein Handlungsziel. In diesem Sinne schreibt Marx eine Seite weiter: „Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen." (MEGA 1/2, 178/ MEW 1, 386) Man entscheide sich deshalb für Marxsche Begriffe und Analysen, insofern diese für die Behandlung der jeweils anstehenden Probleme geeignet sind. Mit diesem Leistungskriterium steht und fällt die Marxsche Theorie. Diese Einstellung unterscheidet sich ganz erheblich von der Betonung der Aktualität des Marxschen Denkens aufgrund einer Zuneigung zu den darin beförderten Werten, die übrigens in den meisten Fällen, wie ich argumentiert habe, keineswegs Marxsche Schöpfungen sind: Wer ist nicht gegen Knechtschaft, Ausbeutung usw.? Gewiss verbreitet die Marxsche Theorie in einer Zeit, in der sich viele ihrer Thesen bestätigen (die Folgen der wirtschaftlichen Globalisierung, Verkehrung von Schein und Wirklichkeit), ein erbauliches Wohlgefühl. Trotzdem sollte sie zunächst an ihrer Erkenntnisleistung gemessen werden. Marx selbst macht wiederholt deutlich, dass die Entwicklung der Wissenschaft ein Kriterium von Fortschritt ist. Am 2. April 1851 schreibt er an Engels: „Ich bin so weit, dass ich in 5 Wochen mit der ganzen ökonomischen Scheisse fertig bin ... Au fond hat diese Wissenschaft seit A. Smith und D. Ricardo keine Fortschritte mehr gemacht, so viel auch in einzelnen Untersuchungen, oft supradelikaten, geschehn ist." Er werde sich dann „auf eine andre Wissenschaft werfen" (MEGA III/4, 85/MEW 27, 228). Auch wenn es Marx bekanntlich nicht gelingt, binnen fünf Wochen mit der Ökonomie fertig zu werden, so darf man in diese Mitteilung doch hineinlesen, dass ihm Fortschritt zunächst das bedeutet: Aufklärung auf seinem Spezialgebiet der besonderen Theorieform der politischen Ökonomie. Diese Aufgabe stellt sich, weil die politische Ökonomie seiner Einschätzung nach seit geraumer Zeit keine wissenschaftlichen Fortschritte mehr macht. Der Fortschritt der Erkenntnis beinhaltet für Marx also immer auch ein Ideal von Wissenschaftlichkeit. Am 10. Oktober 1868 schreibt er an Engels: „Nur dadurch, daß man an die Stelle der conflicting dogmas die conflicting facts und die realen Gegensätze stellt, die ihren verborgenen Hintergrund bilden, kann man die politische Ökonomie in eine positive Wissenschaft verwandeln." (MEW 32, 181) Der Wunsch, an dieser Verwandlung mitzuwirken, scheint mir der eigentliche ,Grundimpuls' des Marxschen Denkens zu sein. Zweck dieser Verwandlung ist die Erkenntnis des Hintergründigen und Verborgenen. So charakterisiert Marx seine „dialektische Entwicklungsmethode"
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als eine Methode, die den inneren Zusammenhang der gegebenen Verhältnisse reflektiert: Die Vulgärökonomen reflektierten „immer nur die unmittelbare Erscheinungsform der Verhältnisse ... nicht deren innere[n] Zusammenhang". (An Engels, 27. Juni 1867, MEW31, 313). In Anbetracht der Resultate seiner Kritik der spekulativen Philosophie kann man Marx außerdem mit einigem Recht in die Nähe des philosophischen Realismus rücken. Er versteht die Einsicht in den Zusammenhang vor allem als die Aufgabe, eine »Logik des Gegenstandes' zu entwickeln, indem er Erkenntnisse aus der Vermischung von dialektischer und analytischer Methode gewinnt.7 Dieser erkenntnistheoretische Optimismus wird natürlich dadurch getrübt, dass besagte Einsicht unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft oftmals blockiert ist. Daraus entsteht das vor allem durch den IdeologiebegrifF gekennzeichnete Erkenntnisproblem, dass sich die sozialen und ökonomischen Verhältnisse nicht immer in einer Art und Weise darstellen, die eine klare Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Schein zulässt. Das Festhalten am Schein gegenüber dem inneren Zusammenhang ist das genaue Gegenteil von wissenschaftlicher Erkenntnis. Eine Aufgabe von Wissenschaft ist es daher, den Schleier des bloßen Scheins wegzureißen. In diesem Sinne kann die wissenschaftliche Erkenntnis eine aufklärerische Rolle spielen: „Mit der Einsicht in den Zusammenhang stürzt, vor dem praktischen Zusammensturz, aller theoretischer Glaube in die permanente Notwendigkeit der bestehenden Zustände. Es ist also hier absolutes Interesse der herrschenden Klassen, die gedankenlose Konfusion zu verewigen." (An Kugelmann, 11. Juli 1868, MEW 32, 553f.) Das entspricht einem Verständnis von Wissenschaft, wonach der Erkenntnisbegriff einerseits der Objektivität verpflichtet bleibt, andererseits aber immer auch in seiner sozialen Verstrickung gesehen wird. Ein Beispiel: Vor der Veröffentlichung seines Buches Zur Kritik der politischen Ökonomie schreibt Marx in einem Brief an Lassalle vom 12. November 1858, dort werde ein bedeutender Aspekt der gesellschaftlichen Verhältnisse erstmals „wissenschaftlich" dargestellt (MEGA III/9, 238/MEW 29, 566). Als das Buch dann wenig später veröffentlicht wird schreibt er an Weydemeyer: „Ich hoffe unserer Parthei einen wissenschaftlichen Sieg zu erringen." (1. Februar 1859, MEGA III/9, 295/MEW 29, 573) Siege auf diesem Gebiet sind umso wertvoller, als das bestehende Produktionsverhältnis zwar „selbst die Mittel seiner Abschaffung" hervorbringen mag, aber es schafft sich nicht selbst ab. Bedingung hierfür ist nicht zuletzt seine „allgemeine Erkenntniß" (Manuskript 1861-1863 MEGA II/3.4, 1396/MEW 26.3, 261). Im spezifisch Marxschen Kontext bedeutet das Motto Wissen ist Macht, dass die wissenschaftliche Weltsicht ein Wegbereiter von progressiver gesellschaftlicher Veränderung sein kann. Damit hält Marx am „Kerngedanken einer emanzipatorischen Macht
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Bei Marx deutet sich bereits eine Art evolutionärer Epistemologie an, da der Evolutionsgedanke sich auch in seinen erkenntnistheoretischen Überlegungen niederschlägt: „Da der Denkprozeß selbst aus den Verhältnissen herauswächst, selbst ein Naturprozeß ist, so kann das wirklich begreifende Denken immer nur dasselbe sein, und nur graduell, nach der Reife der Entwicklung, also auch des Organs, womit gedacht wird, sich unterschieden. Alles andere ist Faselei." (An Kugelmann, 11. Juli 1868, MEW 32, 553)
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des Wissens" fest (Wolf 2007, 1), und in einem noch weiteren Sinne ist er ein Teilnehmer am ,Bacon -Projekt', das in der „Verklammerung von Wissenschaft, Technologie und dem Allgemeinwohl" (Schäfer 1993, 96) besteht. Es geht hier wesentlich um das Verhältnis von Theorie und Praxis. Meines Erachtens stellt Marx die Wissenschaft nicht vor die Wahl, entweder kritisch oder bloßer Selbstzweck zu sein. Er scheint Wissenschaft vielmehr so zu verstehen, dass sie ihrem Wesen nach immer schon kritisch ist und deshalb den praktischen Zwecken nicht erst untergeordnet werden muss. Das ist der Grund, warum Wissenschaft und Politik - Theorie und Praxis - entgegen der Heilslehrenthese bei Marx nicht unmittelbar aufeinander bezogen sind. Man kann sich die wissenschaftliche Erforschung von Dingen als die Suche nach Erkenntnissen vorstellen. Im Begriff der Erkenntnis steckt aber nicht nur das Verb .erkennen', sondern es klingt hier - anders als etwa beim Diskurs oder bei der Interpretation - immer auch mit an, dass uns das Gefundene als etwas Neues erscheint. Eine Erkenntnis ist niemals bloß eine Neuordnung des bereits bestehenden Wissensstandes, sondern eine Vergrößerung desselben und erfüllt also einen wichtigen Zweck von Wissenschaft. Die Verbreitung und die Nutzbarmachung des somit gewonnenen Wissens hat direkt nichts mit diesem Zweck zu tun. Erkenntnisse werden freilich im Dienste von Zielen nutzbar gemacht, die ihnen äußerlich sind. Sie bewähren sich dann hoffentlich als Aufklärung, als sozialer oder technischer Fortschritt. Aber die Forschung bedarf zur Motivation weder des Ziels der Emanzipation des Bewusstseins oder der Gesellschaft noch des Ziels der Erleichterung des Lebens mit technischen Mitteln. Dass es sich tatsächlich so verhält, ist schon dadurch belegt, dass sich der außergewöhnliche und anhaltende wissenschaftliche Fortschritt zu keiner Zeit automatisch in eine entsprechende Zunahme im Grad der Aufklärung, der moralischen Qualität der gesellschaftlichen Verhältnisse oder der Erleichterung des Lebens mit Hilfe der Technik verwandelt hat. Diese Bemerkung scheint mir an dieser Stelle angebracht, weil es seit geraumer Zeit eine fragwürdige Taktik gewesen ist, einzelnen Denkern vorzuwerfen, sie hätten die eigentliche Aufgabe aus den Augen verloren. Von diesen Denkern wird gesagt, dass sie ihre Forschung nicht wirklich am Gegenstand ausrichten, sondern an irgendwelchen praktischen Idealen, zugunsten derer sie die Forschung gegebenenfalls manipulieren. So unterstellt beispielsweise Rorty, Marx sei der Romantisierung der Geschichte verfallen und lasse darum „die Unterscheidung zwischen dem Verstehen der Welt und dem Wissen, wie man sie verändern kann, verschwimmen". (2003, 336) Dieser Gedanke wird zwar nur selten in dieser Deutlichkeit ausgesprochen, dennoch durchzieht er tendenziell die gesamte Marx-Rezeption - und zwar sowohl die kritische als teilweise auch die wohlmeinende. Schon sehr früh setzt sich die Überzeugung durch, die Kritik der politischen Ökonomie sei als Spezialwissen eines historischen Subjektes konzipiert. Der Wert der Marxschen Theorie wird somit nicht primär in ihrem Vermögen gesehen, gesellschaftliche Verhältnisse aus ihrem inneren Zusammenhang heraus zu erklären. Wer einmal diesen Schritt getan hat, dem fällt es in der Regel nicht schwer die Behauptung aufzustellen, die Marxsche Theorie dürfe aufgrund des von Marx angestrebten Ziels einer gesellschaftlichen Neuordnung als präskriptive Ethik oder sogar - wie ich mehr-
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fach mit Hinweisen vor allem auf Roberto (2001) demonstriert habe - als Lehre vom universalen Menschheitsfortschritt gedeutet werden. Einmal davon abgesehen, dass Marx selbst mit manchen seiner Aussagen Wasser auf die Mühlen derer gießt, die so argumentieren, wird er auch deshalb immer wieder in dieses Licht gerückt, weil der Zusammenhang von Theorie und Praxis tatsächlich eines seiner zentralen Interessen ist. Nirgendwo kommt das deutlicher zum Ausdruck als in den Thesen ad Feuerbach von 1845. Dort wird behauptet: „alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch" (MEW 3, 7). Die 11. Feuerbachthese fordert bekanntlich, dass aktiv an der ,Veränderung' der ,Welt' gearbeitet werden solle: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern." (Ebd.) Engels Fassung der Feuerbachthesen von 1888 verstärkt bekanntlich den Gegensatz von ,Interpretation' und Veränderung', indem sie die beiden Satzteile mit einem Semikolon trennt und ein ,aber' einführt: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert·, es kommt aber darauf an, sie zu verändern." (Diese Fassung findet sich im Anhang zur Sonderausgabe der Schrift Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie.) ,Interpretation' und Veränderung' sind jetzt Antithesen in einem Gegensatz, der scheinbar zu ungunsten der Philosophen und ihrer angeblichen Methode aufzulösen ist. Ich glaube trotzdem, dass Engels' Eingriff Marx in gewisser Weise gerecht wird. Dass Theorie und Praxis tatsächlich in einem Gegensatz stehen, bedeutet nämlich zunächst lediglich, dass das, .worauf es ankommt', die .Veränderung' der Welt - ob sie nun moralisch geboten oder in einem anderen Sinne notwendig geworden ist - , von der Interpretation' allein nicht bewerkstelligt werden kann. Anders ausgedrückt: praktische Bedürfnisse können nicht allein mit theoretischen Mitteln befriedigt werden. Diese Einsicht in die relative Schwäche der Theorie bedeutet weder, dass diese der Praxis untergeordnet werden muss, noch, dass sie überflüssig geworden ist. Die Notwendigkeit, zu Erkenntnissen und also zu einem Wissen über die Welt zu gelangen, bleibt bestehen, wenngleich sich unsere Tätigkeit darin nicht erschöpfen darf. Die 11. Feuerbachthese stellt Theorie und Praxis in einen Gegensatz, der die Entgegengesetzten als Gleichberechtigte behandelt. Sie ist also nicht so zu verstehen, dass die Theorie allein zum Zweck der Veränderung der Welt betrieben oder von dieser gar verdrängt werden soll. Was Marx ausdrücklich anstrebt, ist ein Austritt aus der ,Philosophie' (womit er zu diesem Zeitpunkt die Nachhegelsche oder jedenfalls unter Hegelschem Einfluss stehende Philosophie meint). Ihm ist daran gelegen, seiner eigenen theoretischen Arbeit eine Form zu geben, die dem praktischen Aspekt des gesellschaftlichen Lebens gerecht wird. Er hat diesen Anspruch, weil er davon ausgeht, dass die bisherige Philosophie in diesem Punkt gescheitert ist. Aber weder in den Feuerbachthesen noch sonst wo argumentiert er, die Theorie müsse der Veränderung der Welt untergeordnet werden, denn das käme im schlimmsten Fall, in seinen eigenen Worten, einer ,Flucht in die Moral' gleich (Kapitel VI, Abschnitt 3.a.). Die Marxsche Theorie lässt sich deshalb nicht in dem Aufruf zum Umsturz der bestehenden Verhältnisse zusammenfassen. Sie ist genau so sehr der Versuch einer wissenschaftlichen Durchdringung dieser Verhältnisse. Zusammengenommen ist sie wohl beides: ein Aufruf zum gesellschaftlichen und ein Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt.
RESULTATE: D I E BEDEUTUNG DER EXTREMEN KONZEPTION VON FORTSCHRITT
d.
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Der sphärische Fortschritt und die Logik der Verbesserung
Mit der Untersuchung der Kriterien des Fortschritts verlagert sich das Interesse von der Notwendigkeit des Fortschritts zu den Bedingungen der Möglichkeit von Fortschritt. Diese Bedingungen werden jetzt in ihrer materiell-ökonomischen, sittlich-politischen und theoretisch-wissenschaftlichen Bedeutung sichtbar. Anhand der Fortschrittskriterien der Produktivkraftentwicklung, der Politik und der wissenschaftlichen Erkenntnis lässt sich Marx' extremer Fortschrittsbegriff außerdem sehr gut in seiner Anwendung auf konkrete Entwicklungen in einzelnen gesellschaftlichen Sphären beobachten. Darüber hinaus können sektorale Verbesserungen ein Kriterium von Fortschritt auch in einem größeren Rahmen sein. Sollten sie nämlich zusammenfallen, dann erhöhen sich die Chancen auf eine Umwälzung der bestehenden Gesellschaftsformation. Die sektoralen Fortschritte werden zu einem gesamtgesellschaftlichen Fortschritt gebündelt, gleichwohl selbst dann von einer gesetzmäßigen Perfektibilität der Menschheit keine Rede sein kann. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Frage, ob Marx die Kriterien des Fortschritts in einem besonderen Sinne nicht geradezu existenziell denkt. Er stellt sich Fortschritte zwar nicht als permanente Strukturen vor: Produktivkraft, Wissenschaft und Politik sind in ihrer Entwicklung nicht mit dem Fortschritt identisch. Wie ich aber bereits angedeutet habe, hat es jedoch oftmals den Anschein, als verstehe Marx unter Fortschritt gewissermaßen die Aktivierung oder das Stattfinden dieser Bereiche. Diesen Gedanken habe ich für den Fall der Politik am deutlichsten zu verfolgen versucht: Als ,Ausdruck' der elementaren sozialen Antagonismen ist die Politik fast schon gleichbedeutend mit Fortschritt. Das gilt in ähnlicher Weise auch für die Wissenschaft: Gelingt es, eine ,Logik des Gegenstandes' zu entwerfen und also eine Erklärung der historischen Genese und des inneren Zusammenhangs des jeweiligen Gegenstandes zu geben, wird sie das Antidot zum Schleier der Ideologie. Sollte diese Vermutung zutreffen, dann wäre besagtes Stattfinden wenigstens eine Bedingung der Möglichkeit eines sphärischen Fortschritts und bestenfalls ein Beleg für seine Existenz. Das ließe sich vielleicht sogar zu einer neuartigen Sprechweise über den Fortschritt ausbauen: Die Rede wäre dann nicht mehr vom wissenschaftlichen Fortschritt, vom politischen Fortschritt etc., wodurch impliziert wird, es gebe eine nicht-fortschrittliche Politik oder eine nicht-fortschrittliche Wissenschaft; die Rede wäre dann vom Fortschritt als Politik oder als Wissenschaft. Die Sphären des Fortschritts ließen sich somit in ihrem In-Erscheinung-Treten wieder als wertvolle Bereiche der gesellschaftlich relevanten Praxis begreifen. Auf diesem Weg ließe sich also ein stringentes Kriterium einführen, mit dessen Hilfe Menschen sich innerhalb der Formen, die gegenwärtig als Politik oder als Wissenschaft ausgegeben werden, orientieren und Unterscheidungen treffen können. Diese Formen würden wieder als diejenigen Sphären erkenntlich, in denen nicht an der Verewigung des Bestehenden, sondern an der Verbesserung des Lebens gearbeitet werden kann. Auf diesem Wege ließe sich vielleicht sogar eine alternative Vorstellung von dem Abstand zwischen Sein und Sollen konstruieren, der unweigerlich von jedem moralisch wertenden Fortschrittsbegriff vorausgesetzt wird.
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SCHLUSS
Zumindest sollte die auf diesem philosophischen Problem aufbauende Vorstellung von der Logik der Verbesserung neu überdacht werden. Im Fall der Marxschen Geschichtsauffassung hat das vor allem für die Idee einer Dialektik des Fortschritts Konsequenzen. Darum soll jetzt ein letztes Mal darauf eingegangen werden, wie sich diese besondere Dialektik in Bezug auf die Logik der Verbesserung denken lässt. Die geläufige Logik der Verbesserung geht von einer bestimmten moralischen Wertvorstellung aus, die den Fortschrittsinhalt darstellt. Der Fortschritt ist dann entweder die Realisierung dieses Inhalts oder, wenn er als Prinzip bereits realisiert wurde, die Steigerung seiner Potenz. Der zweite Fall kommt dem Gedanken nahe, die betreffende Wertvorstellung existiere permanent. Ein gutes Beispiel ist die für das moderne Fortschrittsdenken typische Vorstellung von der historischen Entwicklung der Freiheit, die eben nach diesem Muster (und gerade auch von Hegel) als eine beständige Zunahme im Grad der Freiheit verstanden worden ist. Marx problematisiert diesen Geschichtsoptimismus indirekt in der frühen Auseinandersetzung mit Hegels Logifizierung der Wirklichkeit, die er trefflich als das ,Umschlagen des vorgestellten Zwecks in das Dasein' beschreibt (Kapitel V, Abschnitt 3.c.). Im Kapital kehrt er kurz zu diesem Thema zurück: „Für Hegel ist der Denkproceß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, daß nur seine äußere Erscheinung bildet." (MEGA II/6, 709/MEW 23, 27)8 Dieser Vergleich passt in gewisser Weise auch auf Proudhons Konstruktion der gesellschaftlichen Entwicklung nach der Vorgabe einer ,Lieblingsidee', die im historischen Prozess ihr volles Potential entfaltet und sozusagen die Rolle des Demiurgen der sozialen Wirklichkeit spielt. Daraus geht hervor, dass Marx Fortschritt nicht im Sinne Hegels oder Proudhons mit der Steigerung von bereits im Prozess angelegten Werten begründet. Anders ausgedrückt: der historische Wandel zum Besseren wird nicht mehr als die Verwirklichung von prinzipiell bereits begriffenen Zwecken verstanden. Statt dessen wird eine grundlegende Veränderung der Sache selbst angestrebt: neue Werte auf neuer Grundlage. Der gesellschaftliche Fortschritt hat diese sehr allgemeine Bedeutung der Herbeiführung einer fundamentalen Neuordnung, die zugegebenermaßen in moralischer Hinsicht etwas arm ist. Diese Interpretation verträgt sich allerdings sehr gut mit dem, was im sechsten Kapitel über die Marxsche Ethik gesagt wurde, speziell über die Selbstbetätigung. Die Selbstbetätigung ist unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaftsordnung grundsätzlich nicht durchsetzbar. Dieser Begriff bezeichnet radikal neue Verhältnisse auf einer neuen gesellschaftlichen Grundlage. Damit ist möglicherweise ein Problem mit der Kohärenz der Marxschen Theorie angesprochen. Denn wie ich im vierten Kapitel gezeigt habe, ist das auf sich selbst 8
Das ist eine Anspielung auf den Schöpfergott in Piatons Timaios (28a-31b). Der Demiurg ist eine Art Weltbaumeister, der den Kosmos aus bereits existierender Materie formt (in diesem Fall die vier Elemente: Luft, Wasser, Feuer und Erde). Arndt betont, dass Marx Hegel also nicht vorhält, eine „bodenlose Konstruktion a priori" vorzunehmen; er hält ihm statt dessen vor, bei der gedanklichen Reproduktion der Wirklichkeit „von den realen Voraussetzungen abstrahiert zu haben". (2008, 46f.)
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gegründete, unvermittelte Neue auf neuer Grundlage genau das, was Marx vermeiden will. So will er jedenfalls seine dialektische Methode der Darstellung des ökonomischen Stoffes als Grundlage der gesellschaftlichen Bewegung nicht verstanden wissen. Daher besteht hier die Gefahr, dass die ethische Dimension und die formale Dimension des Marxschen Fortschrittsdenkens in einen Konflikt miteinander geraten: Auf der Seite der in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten als ,Abstraktionsformel' bezeichneten formalen Konzeption der historischen Bewegung hält Marx an dem Aspekt der Hegeischen Dialektik fest, mit dem sich das Neue in seiner Vermittlung mit dem Alten, aus dem es schließlich hervorgeht, denken lässt. Was allerdings die ethische Dimension des Fortschritts anbelangt, fordert er den Bruch mit der bestehenden Produktionsweise - die radikale gesellschaftliche Neuordnung. Andernfalls würde die Rede von der großen .Umwälzung' moralisch - ein Marxsches Moralverständnis vorausgesetzt - auch keinen Sinn ergeben. Es hat den Anschein, als könne der Fortschritt als Wertbegriff nichts Dialektisches bedeuten, sondern allein Umsturz und Bruch. Das Verhältnis der abstrakten Konzeption der Bewegungsform der Geschichtsentwicklung zur Bewertung dieser Bewegung (zum Beispiel durch den Wertbegriff Fortschritt) ist daher in der Marxschen Theorie alles andere als unproblematisch. Dieses Problem lässt sich sicherlich nicht ganz aus der Welt schaffen. Aber es lässt sich relativieren, indem man es im Kontext von Marx Bemerkungen zu den „Grenzen" seiner dialektischen Darstellung (MEGA II/2, 91, vgl. Wolf 2006, 159ff.) zu erklären versucht. Diese Grenzen sind immer auch als Grenzen der historischen Dialektik und also der Dialektik des Fortschritts zu verstehen. Zunächst setzt Marx mit seiner dialektischen Darstellung dem Fortschrittsdenken eine ganz allgemeine Grenze: eine Logifizierung der empirischen Geschichte, wodurch diese in eine Aufhebungsstruktur verwandelt wird, darf es nicht geben. Schließlich stößt diese Darstellung selbst in dem Punkt an eine Grenze, wo Fortschritt als Wertbegriff für den tatsächlichen Durchbruch zu einem radikal Neuen steht. Mit anderen Worten: Aus der Sicht des Fortschritts als Wertbegriff vollzieht sich die historische Bewegung des Guten als radikale Neuordnung - oder sie stellt zumindest keinen authentischen Fortschritt dar. Aus der Sicht des Fortschritts als Bewegungsbegriff bleibt die Negation das theoretische Mittel, mit dem sich überhaupt erst begreifen lässt, dass die geschichtliche Bewegung alles mögliche bedeuten mag, dass sie aber keineswegs einen einheitlichen Verbesserungsprozess darstellt. Eine Marxsche Dialektik des Fortschritts kann es deshalb nur unter der Bedingung geben, dass damit das Fortschrittsverhältnis gemeint ist: ein Fortschritt-Rückschritt Modell der Geschichtsentwicklung - nicht die Selbstbezüglichkeit des Fortschritts: die Verschmelzung der Kategorien Fortschritt und Geschichte. In den Fortschrittsdiskursen, in die Marx im Zuge seiner verschiedenen Kritiken um die Mitte der 1840er Jahre eingreift, ist der Fortschritt das Gesetz oder das Prinzip der Geschichtsentwicklung. Dem setzt er eine Auffassung entgegen, die Fortschritt als extreme Entwicklungsform begreift, die sich zu anderen Entwicklungsformen verhält.
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3.
SCHLUSS
Ausblick
Im Verlauf dieser Untersuchung bin ich zu dem Schluss gekommen, dass sich der Großteil der zeitgenössischen philosophischen Auseinandersetzung mit dem modernen Fortschrittsdenken in bestimmte Positionen verrannt und festgefahren hat. Diese Literatur kann darin nur mehr das erblicken: ein leichtgläubiges, Idealvorstellungen von globaler Geltung in die Zukunft projizierendes und darum - angesichts der unbestreitbaren Entwicklungen zum Gegenteil - unweigerlich in sich widersprüchliches Denken. Um sich in diesem Denken orientieren und gleichzeitig Aussagen über den spezifisch Marxschen FortschrittsbegrifF machen zu können, muss man der als selbstverständlich vorausgesetzten Problemlage mit einiger Zurückhaltung begegnen. So ergab sich erstens ein ganzer Kanon von Begriffen, die die zeitgenössische Fortschrittsdiskussion betreffen: ,Heilslehrenvorwurf' (,Löwithsche Formel'), ,ideale Zwecksetzung', .Ambivalenztheorie'; zweitens die historische Differenzierung im modernen Konfliktmodell der Geschichtsentwicklung zwischen dem ,Fortschritt-als-Gegensatz' und dem ,Fortschritt-im-Gegensatz'; drittens die Unterscheidung zwischen der Universalität des Fortschritts auf der räumlichen Ebene (Kollektivsingular) und auf der Bedeutungsebene (Idealobjektivation). Ich hoffe, diese Terminologie auf eine nachvollziehbare Art und Weise eingesetzt zu haben, die den anfangs genannten Zielsetzungen gerecht wird und einem besseren Verständnis des Marxschen Fortschrittsdenkens dienlich ist. Einige dieser Begriffe weisen außerdem darauf hin, dass bestimmte methodische Gewohnheiten im Umgang mit der modernen Fortschrittsidee überdacht werden sollten. Wo dies der Fall ist, habe ich das deutlich gemacht. Ich möchte hier nur an das Beispiel der Geschichtsschreibung der modernen Fortschrittsidee erinnern: Die Vorstellung, die Aufklärung erschöpfe sich in einem ,naiven', .linearen' Begriff von Fortschritt jenseits von jeglichem Gespür für die ,Kontingenz' der Geschichtsentwicklung ist nicht mehr zeitgemäß und sollte fallen gelassen werden. Das aufgeklärte Denken über Fortschritt arbeitet bereits mit Hilfe von teilweise sehr ausgereiften Konfliktmodellen. Aus diesem Grund sollte zukünftig in Richtung auf ein differenzierteres Bild des modernen, von der Aufklärung herkommenden Fortschrittsdenkens geforscht werden, das uns in die Lage versetzt, zwischen den traditionellen, teleologischen Konfliktmodellen und seinen nicht-teleologischen Widersachern zu unterscheiden. Einer dieser Widersacher ist der vorrangig retrospektive, extreme und daher sphärische Begriff Fortschritt-imGegensatz, der in der Marxschen Theorie implizit enthalten ist. Im Verlauf der Rekonstruktion dieses originellen Begriffs mögen einige Fragen offen geblieben sein. Die zwei wichtigsten sollen hier kurz angesprochen werden: 1.) Die Marxsche Theorie lässt sich nicht im Ganzen für die eine oder die andere Seite des Konfliktmodells der Geschichtsentwicklung und des Fortschritts verbuchen. Der ältere Fortschritt-als-Gegensatz kann schon deshalb nicht einfach aus dem Marxschen Denken verbannt werden, weil er mindestens bis zur Deutschen Ideologie und stellenweise darüber hinaus eine Facette dieses Denkens ist. Aus diesem Grund kann auch die Frage nach dem endgültigen Charakter einer spezifisch Marxschen Dialektik des Fortschritts nicht ein für alle Mal beantwortet werden. - Diese Dialektik ist ja ebenfalls einem theo-
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retischen Wandel unterworfen, und bedeutet schon 1847 im Elend der Philosophie etwas anderes als 1844 in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten. Das betrifft speziell die Figur der Negation der Negation in ihrer historischen Anwendung. Inwiefern ist sie ein teleologisches Residuum im Marxschen Denken? 2.) Zudem besteht zumindest die Möglichkeit, dass die Überwindung des traditionellen Konfliktmodells in ihrer letzten Konsequenz als eine Rückkehr zu einem sektoralen Begriff im vor- oder frühmodernen Sinne von Fortschritt gedeutet wird. Das war nicht das Ziel der Rekonstruktion, da in diesem Fall von einem Fortschritt-Rückschritt Modell, das sich auf Gesellschaft als historische Totalität bezieht, keine Rede mehr sein kann. Die vormoderne Konzeption von Gesellschaft und Geschichte gibt so etwas nicht her; ihr fehlen schlichtweg die Vergleichsmöglichkeiten, die sich erst mit der aufgeklärten, zunehmend globalen Perspektive auf die Menschheit als Gattung einstellen. Es dürfte in der Tat ein äußerst schwieriges, wenn nicht gar ein unmögliches Unterfangen sein, den Nachweis zu erbringen, dass Marx mit seinem Entwurf eines extremen und also sektoralen Fortschritts gleichzeitig auch ein Zurückgehen vor den modernen Begriff der Gesellschaft und ihrer geschichtlichen Entwicklung anstrebt. Unbestritten ist jedoch, dass das implizite Vorkommen des originellen Begriffs Fortschritt-im-Gegensatz für eine Relativierung der Bedeutung des Fortschrittsgedankens für die Marxsche Theorie spricht. Aus diesem Grunde soll mit der Berücksichtigung dieser denkbaren Einwände keineswegs der Eindruck vermittelt werden, die Resultate der Rekonstruktion seien eine Auslegungssache, zu der man sich nach Belieben verhalten kann. Die Rekonstruktion macht kein Auswahlangebot - sie drückt eine Präferenz aus. Wenn die ,neue Marxlektüre', von der jetzt vermehrt die Rede ist,9 nicht bloß für die erneuerte Lektüre stehen soll, sondern für einen Neuansatz im Nachdenken über die Bedeutung des Denkens von Karl Marx als Resultat dieser Lektüre, dann wird sie einen neuen Marx zum Vorschein bringen müssen. Ein solcher Neuansatz hätte sicherlich Folgen für unser Verständnis aller Bereiche der Marxschen Theorie, wahrscheinlich aber insbesondere für ihre geschichts- und sozialphilosophische Dimension. Ich vermute, dass auch ein neuer Marx nur dann im geistigen wie im gesellschaftlichen Leben weiterhin eine Rolle spielen wird, wenn er sich von dem alten Marx in einigen wesentlichen Punkten unterscheidet. Einer dieser Punkte ist die Vorliebe des alten Marx, Theorien zu entwickeln, aus denen sich tatsächlich in irgendeiner Form eine Heilslehre zurechtmachen lässt, die dann entweder im Namen einer ,materialistischen' Wissen9
Sehr aufmerksam unterscheidet Rohbeck innerhalb der neuen Marxlektüre mehrere, ihm bisweilen zweifelhafte Lesarten. Unter anderem diagnostiziert er eine Tendenz, „Marx gerade ohne Geschichtsphilosophie zu deuten" und auf methodologischem Feld „die Dialektik zu umgehen" (2006, 12). Dieser Tendenz ließe sich die vorliegende Untersuchung vielleicht noch am ehesten zuordnen. Allerdings steht meines Erachtens nicht zur Diskussion, ob man Marx mit oder ohne Geschichtsphilosophie liest, sondern welchen Marx man liest. Was die Dialektik anbelangt, so lässt sie sich freilich gar nicht umgehen. Trotzdem stellt sich zumindest mir die Frage, wie die immer wieder behauptete ,Dialektik des Fortschritts' im Marxschen Fall aussieht. Diese Dialektik soll nicht einfach vorausgesetzt werden - sie ist selbst erklärungsbedürftig.
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schaft legitimiert oder als säkulare Utopie zurückgewiesen werden kann. Ich beziehe mich natürlich nicht auf den historischen Karl Marx, sondern auf die Art und Weise wie dieser im Marxismus und von seinen Gegner interpretiert wurde. Diese ,alte Marxlektüre' hat in Marx vor allen Dingen einen Denker der Freiheit gesehen. In der Tat steht, wie schon bei Hegel, die Freiheit im Zentrum des Marxschen Fortschrittsdenkens. Nur ist Freiheit bei Marx nicht der .Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit'. Der Marxsche Heilslehrenvorwurf ist vielmehr eine Kritik der geschichtsteleologisch gedachten Freiheit - Freiheit als Begriff oder Ideal. Marx denkt an die konkreten Realisierungsstufen der Freiheit beispielsweise im Rahmen einer Ökonomie der Zeit (Arndt 2007). Er ergründet die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit. Die Marxsche Freiheitstheorie bewegt sich damit im Spannungsfeld zwischen dem , Reich der Notwendigkeit' und dem ,Reich der Freiheit'. Die Arbeit bleibt im Kern eine durch die Naturbedingungen gegebene Notwendigkeit. Das Reich der Freiheit ist daher durchaus als das Reich der Nicht-Arbeit zu verstehen; aber eben im Verhältnis zur Arbeit. Dass Marx Freiheit nie als reine Selbstbezüglichkeit modelliert, könnte sich als ein großer Vorteil herausstellen. Um sich Gehör zu verschaffen, wird der neue Marx nämlich auch einen Beitrag zur Erklärung eines Phänomens leisten müssen, das unsere Zeit vor allen anderen Dingen auszumachen scheint: Ich denke an eine tiefgreifende Unfreiheit in allen menschlichen Angelegenheiten. Unfreiheit also nicht allein im politischen Sinne eines hierarchischen Schichtenbaus der Gesellschaft; gemeint ist auch die noch viel weiter gehende Unfreiheit im doppelten Verhältnis der Menschen zur Natur: erstens die Eingebundenheit des Bewusstseins in die (physische und biochemische) Organisation des menschlichen Körpers; zweitens die Eingebundenheit der sozialen, kulturellen und ökonomischen Beziehungen in die natürliche Umwelt. Diese Eingebundenheit ist so stark, dass fast von einer Gefangenschaft gesprochen werden kann - Marx spricht von .Gebundenheit' und ,Bedingtheit' der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die jeweils vorherrschenden ,Naturbedingungen' (siehe Kapital, MEGA II/6, 482ff./MEW 23, 535, 537f.). Seine Teleologiefeindlichkeit und seine nüchterne Einschätzung des Zwangscharakters des Naturverhältnisses sind Kehrseiten ein und derselben Medaille. Der im dritten Kapitel angesprochene anthropozentristische Zug der zeitgenössischen Fortschrittskritik ist deshalb so bedenklich, weil er in diesem Verhältnis den Menschen und ihrer Willenskraft die größere Macht zuschreibt. Es ist dieselbe Sichtweise, die Marx' Fortschrittsverständnis als die zunehmende ,Befreiung von der Natur' auslegt. Robertos Fazit ist typisch: „In the most general sense, Marx saw social and historical progress as the result of man's growing emancipation from nature." (2001, 326) Tatsächlich weiß Marx, dass es weder in biologischer noch in ökologischer Hinsicht eine .Emanzipation' aus dem Naturverhältnis geben kann. Er reflektiert die im obigen Sinne allumfassende menschliche Unfreiheit zumindest ansatzweise als bestimmendes Merkmal der, wie man auf Englisch treffend sagt, human condition. Dieser Ansatz ist in der Marx-Lektüre bislang nicht genügend gewürdigt worden. Auch in dieser Hinsicht ist es ein Ziel dieser Arbeit gewesen, die Bedeutung des Fortschrittsgedankens für die Marxsche Theorie zu relativieren.
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Im Begriff der Selbstbetätigung denkt Marx die Freiheit nicht absolut im Blick auf den Grad der bereits erreichten Freiheit oder der Freiheit, die sein soll. Er denkt Freiheit durchaus für die Zukunft, aber stets im Verhältnis zur Unfreiheit, zum Zwang. Deshalb darf der Beitrag, den die Marxsche Theorie zur Emanzipation leisten kann, als Bestimmung des Ausmaßes der menschlichen Unfreiheit angesehen werden. Es ist dies ein Beitrag zu der uralten Frage: Wie viel Freiheit ist den Menschen als doppelt eingebundenen, das heißt gleichzeitig gesellschaftlichen und natürlichen Wesen überhaupt möglich? Marx versucht, die Freiheitsfähigkeit der Menschen zu umreißen und auszuloten. Er kommt zu dem Ergebnis, dass zwar ein sehr hoher Grad an politischer oder gesellschaftlicher Freiheit erreicht werden kann; aber im Hinblick auf die Natur, und das heißt im Hinblick auf die Arbeitskraft und die Erde als den beiden „Springquellen allen Reichthums" {Kapital, MEGA II/6, 477/MEW 23, 530), sieht es anders aus. Hier ist Freiheit nur in begrenztem Maße möglich. Das gegenwärtige Marx-Bild ist den gesellschaftlichen und intellektuellen Besonderheiten des 20. Jahrhundert eben so sehr geschuldet als Karl Marx selbst. Das vergangene Jahrhundert hat die Marxsche Theorie verständlicherweise an seine besonderen Bedürfnisse angepasst. Die Umstände, unter denen Marx gelesen und interpretiert wurde, ließen es nicht zu, dass allen Bereichen seines Denkens die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Jetzt soll die Leistung von Karl Marx auch im 21. Jahrhundert geltend gemacht werden. Sicherlich wirft das auch die Frage auf, inwiefern das noch unter dem Banner eines sozialwissenschaftlichen oder philosophischen Marxismus geschehen kann. Versuche, das Marxsche Denken als Marxismus zu erneuern haben ja mit der Jahrhundertwende zugenommen. Ich kann nicht beurteilen, ob die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung dieser Entwicklung förderlich sind. Ich gehe allerdings davon aus, dass der neue Marx zwar nicht ohne Geschichte oder ohne Politik auskommen wird, dass ihn jedoch die progressive Auswirkung des Verhältnisses von ökonomischer Struktur und politischer Subjektivität auf die Geschichtsentwicklung nicht im gleichen Maße interessieren wird, wie den alten Marx. Sollte diese Einschätzung zutreffen, dann wird der neue Marx insgesamt theoretischer sein - wenn man so will: philosophischer - als das bisher der Fall war. Dass Marx schon in jungen Jahren den Widerstand gegen die Kapitalherrschaft zum .kategorischen Imperativ' erklärt, ändert daran gar nichts. Die Politik kann ja dieses Ziel beibehalten, aber sie wird neue konkrete Formen zu seiner Durchsetzung finden müssen. Wirksame Welt-Veränderung ist nicht umsonst nach Marxschem Verständnis keine Sache der Welt-Anschauung. Ich vermute, das 21. Jahrhundert wird Marx Recht geben: der Fortschritt wird wieder vermehrt als .wirkliche Bewegung' auftreten. Im Vordergrund stand hier jedoch nicht das progressive Marxsche Weltbild. Es ging vielmehr darum darzustellen, wie Marx mit dem Fortschrittsbegriff die Bewegung des Guten zu denken versucht, und dass dieser Versuch wiederum eine gewisse Bedeutung für den Erkenntniszweck hat. Zu diesem Zweck musste das visionäre Element dieses Denkens in den Hintergrund gedrängt werden. Auf diesem Weg sollte vor allen Dingen ein Gedanke in Zweifel gezogen werden, der einem in der Literatur zu Geschichte und Fortschritt geradezu aufgedrängt wird: Der Gedanke, Marx müsse vor allem im Hinblick
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auf das .katastrophale' 20. Jahrhundert verortet werden - sei es als säkularisierte Heilslehre (die Löwithsche Formel), oder, wie zuletzt geschehen, in einer repressiven .großen Erzählung' der .Moderne' (Lyotard 1994). Dieser Gedanke hat sich zwar als durchschlagender Erfolg erwiesen, sagt aber leider nur sehr wenig über den historischen Charakter und die theoretische Bedeutung des impliziten Marxschen Fortschrittsbegriffs aus. Das Gleiche gilt für die scheinbar endlose Debatte um den Utopiegehalt der Marxschen Theorie, die jetzt im Zuge der erneuten Marx-Lektüre wieder aufblüht, sei es wohlwollend (zum Beispiel Roberto 2001 und Iorio 2003) oder abrechnend (Rorty 1998, Gerhard 2001 u. a.). Diese Debatte verschiebt die ganze Problematik auf das Gebiet der Gesinnung und räumt damit eine wirklich wichtige Frage aus dem Weg: Wie konzipiert Marx das Verhältnis des Fortschritts zum Gegensatz und zur Geschichte, und was bedeutet das für die Universalität von Verbesserung? Die vorliegende Arbeit wollte dieser Frage nicht länger aus dem Weg gehen. Ich hoffe gezeigt zu haben, dass der implizite, originelle Marxsche Begriff Fortschrittim-Gegensatz nicht deshalb ein guter und nützlicher Begriff ist, weil er uns eine wie auch immer geartete, zukünftige .bessere Welt' verspricht. Fortschritt-im-Gegensatz ist deshalb ein nützlicher und nach wie vor überaus aktueller Begriff, weil er einem konkurrierenden Begriff von Fortschritt, der auf einem konkurrierenden Konfliktmodell der Geschichtsentwicklung basiert, überlegen ist. In der materialistischen Geschichtsauffassung bricht sich nicht mehr ein abstrakt konzipierter Fortschritt die Bahn, der die gesellschaftliche Wirklichkeit seinen Zwecken unterwirft, sondern allenfalls die Arbeit in all ihren Organisationsformen als ,wirklicher Lebensprozess', als Stoffwechsel, als konkrete, wahrnehmbare Grundlage und Grundform des Verhältnisses der Menschen zueinander und zur Natur. Von den verschiedenen Ausformungen dieses Prozesses bildet man sich dann, wenn es angebracht ist, mit der Kategorie Fortschritt ein Urteil und gelangt somit zu einer erfreulichen Erkenntnis. Mit seinem Beitrag zu einem modernen Fortschrittsgedanken ist Marx nicht nur seiner eigenen Zeit voraus: Er entwickelt einen Begriff von Fortschritt, dessen Originalität bis zum heutigen Tag unvermindert anhält. Mit seinen Bemühungen um diesen Begriff bewahrt Karl Marx einer von Rückschritten gekennzeichneten Welt die Möglichkeit, die Bewegung des Guten zu erkennen.
Appendix: Das Elend der Philosophie im französischen Original
Marx verfasst Das Elend der Philosophie im Brüssler Exil in französischer Sprache unter dem Titel Misère de la philosophie. Réponse à ,Philosophie de la misère' de M. Proudhon. Die Veröffentlichung des Originals wird spätestens bis zum Jahr 2018 im Band 1/6: Werke-Artikel-Entwürfe Januar 1846 bis Februar 1848 der MEGA2 erfolgen. Das genaue Veröffentlichungsdatum steht momentan noch nicht fest. Das Elend der Philosophie liegt also weiterhin vor allem in der 1885 von Eduard Bernstein und Karl Kautsky besorgten deutschen Übersetzung im vierten Band der Werkausgabe MEW vor, die auch in der vorliegenden Arbeit verwendet wurde. Aufgrund der zentralen Bedeutung dieser Schrift habe ich diese Version mit einer Ausgabe des Originaltextes verglichen (Paris 1983). Die wichtigsten Zitate aus dem Elend der Philosophie (MEW 4) im Kapitel IV, Abschnitte 4.b. und 4.c., werden hier noch einmal in voller Länge im französischen Original wiedergegeben. Seite 165 Das Elend der Philosophie: „Man vereinfacht in der Tat die Sachen gar zu sehr, wenn man sie auf die Kategorien des Herrn Proudhon zurückführt. Die Geschichte geht nicht so kategorisch vor." (MEW 4, 145) Misère de la philosophie: „Certes, ce serait rendre les choses pas trop simples, que de les réduire aux catégories de M. Proudhon. L'histoire ne procède pas aussi catégoriquement." (1983, 273) Seite 167 Das Elend der Philosophie: „Da die Proportionalität alles für ihn ist, so muß er wohl oder übel in dem fertig gegebenen Prometheus, d.h. in der heutigen Gesellschaft, einen Anfang zur Verwirklichung seiner Lieblingsidee erblicken." (MEW 4, 123)
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DER PHILOSOPHIE
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Misère de la philosophie: „Comme la propotionnalité est tout pour lui, il faut bien qu'il voie dans le Prométhée tout donné, c'est-à-dire dans la société actuelle, un commencement de réalisation de son idée favorite." (1983, 244) Seite 168 Das Elend der Philosophie: „Man nehme an, wie Herr Proudhon es tut, daß der Genius der Gesellschaft die Feudalherren in der providentiellen Absicht geschaffen oder vielmehr improvisiert habe, die Zinsbauern in verantwortliche und gleichheitliche Arbeiter zu verwandeln, und man wird eine Unterschiebung von Zielen und Personen vollzogen haben, würdig der Vorsehung, welche in Schottland das Grundeigentum einführte, um sich das böswillige Vergnügen zu machen, Menschen durch Hammel zu ersetzen." (MEW 4, 139). Misère de la philosophie: „Supposez, comme le fait M. Proudhon, que le génie social ait produit, ou plutôt improvisé, les seigneurs féodaux dans le but providentiel de transformer les colons en travailleurs responsables et égalitaires\ et vous aurez fait une substitution de buts et de personnes toute digne de cette Providence qui, en Ecosse, instituait la propriété foncière, pour se donner le malin plaisir de faire chasser les hommes par les moutons." (1983, 265f.). Das Elend der Philosophie: „Mit dem Moment, wo die Zivilisation beginnt, beginnt die Produktion sich aufzubauen auf den Gegensatz der Berufe, der Stände, der Klassen, schließlich auf den Gegensatz zwischen angehäufter und unmittelbarer Arbeit. Ohne Gegensatz kein Fortschritt; das ist das Gesetz, dem die Zivilisation bis heute gefolgt ist." (MEW 4, 91f.) Misère de la philosophie: „Au moment même où la civilisation commence, la production commence à se fonder sur l'antagonisme des ordres, des états, des classes, enfin sur l'antagonisme du travail accumulé et du travail immédiat. Pas d'antagonisme, pas de progrès. C'est la loi que la civilisation a suivie jusqu'à nos jours." (1983, 201) Seite 171 Das Elend der Philosophie: „Somit erklärt sich Herr Proudhon unfähig, den ökonomischen Ursprung von Grundeigentum und Rente zu begreifen. Er gesteht, daß ihn diese Unfähigkeit zwingt, zu Erwägungen der Psychologie und Moral seine Zuflucht zu nehmen" (MEW 4, 165). Misère de la philosophie: „Ainsi, M. Proudhon se reconnaît incapable de comprendre l'origine économique de la rente et de la propriété. Il convient que cette incapacité l'oblige à recourir à des considérations de psychologie et de morale" (1983, 301). Das Elend der Philosophie: „Auch die feudale Produktion hatte zwei antagonistische Elemente, die man gleichfalls als gute und schlechte Seite des Feudalismus bezeichnet, ohne zu berücksichtigen, daß es stets die schlechte Seite ist, welche schließlich den Sieg davon trägt. Die schlechte Seite ist es, welche die Bewegung ins Leben ruft welche die Geschichte macht, dadurch, daß sie den Kampf zeitigt." (MEW 4, 140)
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Misère de la philosophie: „La production féodale aussi avait deux éléments antagonistes, qu'on désigne également sous le nom de beau côté et de mauvais côté de la féodalité, sans considérer que c'est toujours le mauvais côté qui finit par l'emporter sur le côté beau. C'est le mauvais côté qui produit le mouvement qui fait l'histoire en constituant la lutte." (1983, 266f.) Das Elend der Philosophie: „Soweit man sich nur das Problem stellt, die schlechte Seite auszumerzen, schneidet man die dialektische Bewegung entzwei." (MEW 4, 133) Misère de la philosophie: „Rien qu'à se poser le problème d'éliminer le mauvais côté, on coupe court au mouvement dialectique." (1983, 257)
Danksagung Dieses Buch ist eine geringfügig überarbeitete und aktualisierte Fassung meiner Dissertation „Der Fortschrittsbegriff bei Karl Marx. Marx' originärer Beitrag zur Entwicklung eines modernen Fortschrittsgedankens", die ich im August 2008 am Institut für Philosophie der Freien Universität eingereicht habe. Mein besonderer Dank gilt Honorarprofessor Dr. Frieder Otto Wolf und Prof. Dr. Andreas Arndt, die diese Arbeit betreut haben. Für die Zeit vom Frühjahr 2006 bis zum Sommer 2008 wurde mir ein Stipendium gemäß NaFöG (Nachwuchsförderungsgesetz) gewährt. Dafür möchte ich mich bei den Verantwortlichen bedanken. Ebenfalls danken möchte ich Dr. Mischka Dammaschke vom Akademie Verlag, der sich sehr für dieses Buch eingesetzt hat, und Dr. Veit Friemert, der an der Bearbeitung des Manuskripts beteiligt war. Ich bedanke mich ferner beim Berliner Verein zur Förderung der MEGA-Edition e. V. für die freundliche Unterstützung dieser Publikation. Mein Dank gilt schließlich allen, die sich die Zeit genommen haben, einzelne Kapitel dieser Arbeit zu lesen und zu diskutieren, oder die mich auf andere Weise unterstützt haben: insbesondere Lutz Mäder, Lisa Mäder, Boris Michalec, Wojtek Ostrowski, Tom Herre, Jan Meier, Christian Finger, Aleks Catina, Ian Everett und Solveig Puttrich.
Literaturverzeichnis
a.
Primärliteratur
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Personenregister
Adorno, Th. W. 45, 65, 7If., 78, 90, 99-101, 103, 108, 218, 305 Althusser, L. 190 Arendt, H. 69f., 305 Aristoteles 74, 80, 84, 95, 215, 237, 255, 279 Arndt, Α. 13, 152, 155, 200, 237 Bacon, F. 40, 47, 61f„ 101, 119, 335 Bakunin, M. A. 84, 120, 252 Balibar, E. 28 Bauer, B. 22, 129f„ 132, 140, 150, 229 Bauer, E. 129, 161 Baumgartner, Η. M. 319 Benjamin, W. 57, 220f. Bergsdorf, W. 97, 108 Berman, M. 220 Bischoff, J. 221 Blackburn, S. 263, 298 Blumenberg, H. 65 Bonnaud, R. 316 Brudney, D. 180 Carver, T. 243 Cieszkowski, A. v. 104, 128, 133-142, 145, 147f„ 150, 155, 158, 166, 181, 191, 196, 206, 208, 225, 243, 309f„ 323 Cioran, E. 70 Cohen, G. A. 206, 279f., 325, 327
Cohn, N. 80 Comte, Α. 1 If., 43, 48, 81, 126, 160, 167, 183-186, 190f„ 243, 249, 270, 287, 323f. Condorcet, M. J. A. N. C. 11, 287 Darwin, Ch. 288
27, 51f., 54f„ 92, 126, 187, 253,
Elbe, I. 28 Empedokles 237 Engels, F. 12, 17, 27, 30f„ 36, 43, 50, 65, 105, 126, 128, 132f„ 137, 140, 142, 161f„ 176, 179, 187, 200, 205, 213, 220, 222, 231, 236, 238-240, 242f„ 247, 257, 261f„ 268f„ 274f., 278f„ 286-288, 333, 336 Epikur 222, 263 Ferguson, A. 104, 225f. Fetscher, I. 196 Feuerbach, L. 13, 32, 126, 129f., 132, 142, 149-154, 156, 158f„ 206, 210, 227, 229, 236, 285, 290, 310, 315' Fleischer, H. 12 Fontenelle, B. le Bouvier de 39 Gerhardt, V. 68, 252, 293, 332 Godelier, M. 203 Grün, K. 140, 161f„ 179
366
PERSONENREGISTER
Haeckel, E. 55 Hartmann, Ν. 154 Haug, W. F. 43, 185, 191, 333 Hegel, G. W. F. 10-13, 16f., 21, 24f„ 36, 43, 55, 68f„ 72, 74, 77, 79, 81f„ 85, 88, 90, 104, 117f., 124f., 127, 129-139, 142, 149-159, 161, 163, 166, 172-175, 177, 179-181, 184f„ 191 f., 194-198, 200-202, 205-212, 214, 216, 223, 225-229, 232, 235-238, 242, 244, 247, 249, 253-255, 257f„ 265, 285, 290, 294, 297, 302, 307, 309-311, 327, 336, 338f„ 342 Heinrich, M. 157 Heller, A. 41, 275, 295 Heraklit 88, 106, 202, 237 Herkommer, S. 221 Herlihy, D. 110 Heß, M. 128, 133, 137, 140-145, 155f„ 158, 181, 191, 226, 309f. Hindrichs, G. 68 Hobsbawm, E. 51 Horkheimer, M. 16, 45, 71, 90, 95, 99-101, 103, 305 Hume, D. 63, 255, 292f. Hundt, M. 275f. Iber, Ch. Iorio, M. 344
28 183, 264-267, 270, 274, 284, 291,
Jaeschke, W. 76 Jaspers, Κ. 110 Jodl, F. 295 Jörn, Α. 37 Kant, I. 36f„ 39f„ 62, 69, 75, 94, 111, 176, 196f„ 208, 215, 233, 253-255, 259, 269, 278, 281, 283, 292, 294, 296-300, 310, 315, 318f., 322f. Kleist, Η. v. 219f. Koselleck, R. 43, 55, 125, 221, 240 Kuhn, H. 283 Kuhn, Th. 36 Labica, G. 113 Lefèvre, W. 54, 126 Leibniz, G. W. 38f., 221, 322 Leist, A. 260 Lenin, W. I. 27
Lessing, Th. 253, 291 Liedman, S.-E. 221 Locke, J. 41 Löwith, Κ. 16, 65, 71, 75, 77-82, 88, lOlf., 114, 117f„ 120f„ 131, 175, 233, 253, 262, 266, 285-287, 305, 340, 344 Löwy, M. 221f„ 226 Losurdo, D. 60, 223f. Luhmann, N. 268 Lukács, G. 137, 154 Lukrez 195 Lyotard, J.-F. 45, 70, 83f„ l l l f . Mandeville, B. 99, 328 Mao Tsetung 239 Masaryk, T. G. 112 Moore, G. E. 264 Moore, T. 86 Morgan, L. H. 186-190 Moscovici, S. 119 Musil, R. 113 Negt, O. 222 Neiman, S. 87 Nielsen, Κ. 264, 284 Nietzsche, F. 52f„ 70, 78, 91, 265, 270, 307 Nisbet, R. 37, 52 Pepperle, H. 131 Pepperle, I. 131 Pike, J. E. 304 Platon 38, 338 Popper, K. R. 262, 305 Proudhon, P.-J. 12, 17-19, 30, 32, 81, 120, 128, 146, 159-177, 179-182, 184-186, 190192, 194f., 210, 212, 214f., 222, 225f., 232, 234, 236, 245, 249, 252, 266, 270, 272, 274, 289, 306, 308, 310-312, 321-323, 338 Rapp, F. 23, 43, 45, 57, 78, 91f., 97 Reich, W. 98 Reitz, T. 43, 191 Rescher, N. 3 8 , 1 1 2 Ritter, J. 43 Roberto, M. J. 17f„ 24, 28f„ 31f., 168, 172, 175, 177f„ 191, 230, 307, 336, 342, 344 Roemheld, L. 161
367
PERSONENREGISTER Rohbeck, J. 43, 117, 146, 207, 243, 303, 341 Rorty, R. 85f., 335 Rousseau, J.-J. 104f„ 124, 191 Ruge, Α. 131, 156 Ryle, G. 35 Salvadori, M. 113 Scheler, M. 253 Schlegel, F. 217, 243 Schlick, M. 259, 270, 276, 292f. Schmidt, Ch. 157 Schmidt, H. 107, 2 1 7 - 2 1 9 Schmidt-Soltau, K. 235f. Schroth, J. 298 Schweppenhäuser, G. 255 Simmel, G. 116 Smith, A. 4 2 f „ 69, 104 Smith, C. 27 Spaemann, R. 84f. Stalin, J. 2 3 9 Stirner, M. 132, 2 6 6 Strawson, P. F. 2 1 6
Toulmin, S. 19 Tuchmann, Β . 110 Turgot, A. R. J. 63, 105 Twain, M. 52, 263 Vallentin, Β . 70, 91, 3 2 4 Vico, G. 81, 253 Virilio, P. 3 0 6 Von Wright, G. H. 10, 61, 64, 95f. West, N. 6 0 Wilke, J. 17, 182, 2 2 2 Williams, B. 296 Wittgenstein, L. 14, 31 Wolf, F.-O. 80, 126 Wolff, M. 237 Wood, A. 2 6 2 - 2 6 4 , 284, 295 Xenophanes
36
Zachriat, W. G.
24
Akademie Verlag Jan
Hoff
Marx global Zur Entwicklung des internationalen Marx-Diskurses seit den 60er Jahren 2009. 345 S. - 170 χ 240 mm, Festeinband, € 49,80 ISBN 978-3-05-004611-2 In seiner Studie zeigt Jan Hoff, dass im Zuge der theoretischen Entdogmatisierung des Marxismus seit Mitte der 6oer Jahre ebenso vielfältige wie fruchtbare Marx-Interpretationen und eine an der Marxschen Ökonomiekritik orientierte kritische Gesellschaftstheorie in zahlreichen Ländern der Welt ungeahnten Auftrieb erhielten. Insbesondere die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den verschiedenen Entwürfen zum Kapital hat sich in den letzten fünf Jahrzehnten beständig weiterentwickelt. In der Arbeit wird diese Globalisierung der Marx-Debatte, das komplexe Geflecht internationaler Theoriebezüge im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik, des Theorietransfers und der Herausbildung von Denkschulen über nationale und sprachliche Grenzen hinweg untersucht. Sie bricht mit dem theoretischen Provinzialismus
insbesondere der deutschen
Marx-Diskussion, der sich bislang hartnäckig
halten konnte. Der Autor gibt einen Überblick über die Marx-Rezeption in verschiedenen Weltregionen, wobei die außereuropäische Theoriebildung - etwa die facettenreiche Marx-Debatte in Japan - besondere Aufmerksamkeit erfährt. Der Marxismus im Sinne einer umfassenden Weltanschauung ist inzwischen historisch überwunden. Doch der Marxsche Theorienansatz, den inneren Zusammenhang der ökonomischen Kategorien und Verhältnisse zu explizieren und dabei mit einer kritischen Fetischismus- und Mystifikationstheorie eine „Entzauberung" der „verkehrten Welt" der Ökonomie zu leisten, ist nach wie vor von Aktualität und theoretischer Bedeutung.
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