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German Pages 386 Year 2018
Formelhafte Sprache in Text und Diskurs
Formelhafte Sprache Formulaic Language
Herausgegeben von Natalia Filatkina, Kathrin Steyer und Sören Stumpf Wissenschaftlicher Beirat Harald Burger (Zürich), Joan L. Bybee (New Mexico), Dmitrij Dobrovol’skij (Moskau), Stephan Elspaß (Salzburg), Christiane Fellbaum (Princeton), Raymond Gibbs (Santa Cruz), Annelies Häcki Buhofer (Basel), Claudine Moulin (Trier), Jan-Ola Östman (Helsinki), Stephan Stein (Trier), Martin Wengeler (Trier), Alison Wray (Cardiff)
Band 2
Formelhafte Sprache in Text und Diskurs Herausgegeben von Sören Stumpf und Natalia Filatkina
ISBN 978-3-11-060101-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-060231-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-059926-8 Library of Congress Control Number: 2018953957. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort und Danksagung Dieser Band geht auf die internationale Tagung „Europhras 2016. Wortverbindungen im Sprachsystem und in der Sprachverwendung: theoretisch, methodisch, integrativ“ zurück, die vom 1.–3. August 2016 an der Universität Trier stattgefunden hat. Mit der Trierer Tagung, an der 220 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 36 Ländern teilgenommen haben, wurde die nun knapp 20jährige Tradition der Europhras-Tagungen fortgesetzt, die jedes zweite Jahr vom Vorstand der Europäischen Gesellschaft für Phraseologie an unterschiedlichen Orten ausgerichtet werden. Auch diese Tagung war ein Ort des Austauschs für renommierte und junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich im weitesten Sinne des Wortes mit Besonderheiten der Verbindungen von Wörtern als Grundkonstituens der verbalen und nonverbalen menschlichen Kommunikation sowie der Repräsentation von Weltwissen beschäftigen. Der vorliegende Band, der die Reihe „Formelhafte Sprache/Formulaic Language“ fortführt, fokussiert „nur“ einen, gegenwärtig aber kaum ausdiskutierten Aspekt der sprachlichen Formelhaftigkeit, nämlich ihre Entfaltungen, Rolle und Funktionen in Texten und Diskursen. Der Kreis der am Band mitwirkenden Kolleginnen und Kollegen wurde über den Kreis der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Tagung hinaus erweitert. Wir bedanken uns bei allen Autorinnen und Autoren für ihre Bereitschaft, sich an der Weiterentwicklung text- und diskurslinguistischer Ansätze innerhalb der Phraseologie zu beteiligen, sowie allen Gutachterinnen und Gutachtern, die durch ihre wertvollen Kommentare wesentlich zur Qualität des Bandes beigetragen haben. Bedanken möchten wir uns bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Europäischen Gesellschaft für Phraseologie und der Universität Trier für die finanzielle Unterstützung der Tagung. Der Europäischen Gesellschaft für Phraseologie danken wir darüber hinaus herzlich für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Unser Dank gilt zudem dem De Gruyter Verlag – namentlich Daniel Gietz, Olena Gainulina und Albina Töws – für die Unterstützung bei der Fertigstellung des Manuskripts. Dass der Band in dieser Form erscheinen kann, verdanken wir dem engagierten Einsatz von Carolin Geib.
Trier und Luxemburg, im Juli 2018 Sören Stumpf und Natalia Filatkina
DOI 10.1515/9783110602319-201
Inhalt Sören Stumpf & Natalia Filatkina Einleitung: Formelhafte Sprache in Text und Diskurs | 1
Theoretische und methodologische Überlegungen zu formelhafter Sprache in Texten und Diskursen Stephan Stein Vorgeformtheit aus text(sorten)linguistischer Perspektive | 15 Christian Pfeiffer Zur Identifikation modifizierter Phraseme in Texten: ein Vorschlag für die analytische Praxis | 49 Torsten Leuschner Das V1-Konditionalgefüge zwischen Phraseologie und Politolinguistik | 85 Sören Stumpf & Christian D. Kreuz Phrasem-Bild-Beziehungen im Diskurs. Theoretische Überlegungen und methodische Ansätze zur multimodalen und diskurssemantischen Phrasem-Analyse | 115 David Römer Diskursphraseme – Modellierung und Beispiel | 147
Formelhafte Sprache in Textsorten Nadine Rentel Dicke Arme machen oder mit offenen Karten spielen. Funktionen von Phrasemen in Online-Kundenbeschwerden | 163 Monika Hanauska „Polemisches Vergleichen von Äpfeln mit Tomaten“ – Idiomatische Phraseologismen in argumentativen Kontexten am Beispiel der Löschdiskussionen auf Wikipedia | 181
viii | Inhalt
Mikaela Petkova-Kessanlis „Hier wäre es sinnvoller gewesen“ – Formulierungsmuster für BEWERTEN in wissenschaftlichen Rezensionen | 217 Alexander Quack Phraseme der „NS-Sprache“. Eine textlinguistische Untersuchung zur Verwendung von Phrasemen in ausgewählten Reden des NS-Agitators Joseph Goebbels | 255
Formelhafte Sprache in Diskursen Marina Iakushevich Phraseme in medialen Medizindiskursen: das Fallbeispiel Depression | 283 Pavla Schäfer Formelhafter Sprachgebrauch in Fachdiskursen der Schulmedizin, Naturheilkunde und Homöopathie. Erste Überlegungen zu einem Forschungsvorhaben | 311 Nikola Vujčič Phraseme als diskursrelevante Analyseobjekte in politischen Diskursen. Eine linguistische Untersuchung am Beispiel des Jugoslawiendiskurses in der SPIEGEL-Berichterstattung | 351
Sören Stumpf & Natalia Filatkina
Einleitung: Formelhafte Sprache in Text und Diskurs 1 Ausgangspunkte und Forschungsstand 1.1 Formelhafte Sprache in Text- und Diskurslinguistik Dass sich Formelhaftigkeit innerhalb einer Sprache nicht nur auf lexikalischer Ebene beobachten lässt, sondern über einzelne feste Wortverbindungen hinausgeht und globaler gefasst werden muss, zeigt insbesondere ein Blick in text- und diskurslinguistische Arbeiten. Spätestens seit sich die Textlinguistik unter dem Einfluss der kognitionspsychologischen Erkenntnisse über die Rolle der Schemata, Rahmen bzw. Skripte bei der Wissensaneignung, -organisation, -speicherung, -produktion und -verwendung das Verständnis von Textkonstitution als kognitiven Vorgang und von Texten als Ergebnisse mentaler Vorgänge zu eigen gemacht hat, gehört das Wissen über so genannte globale Muster, komplexe Muster oder Textmuster (vgl. Heinemann & Heinemann 2002: 129–165) zu den festen Größen im Forschungsprogramm, insbesondere im Rahmen der Kontextualisierungstheorie (vgl. Fillmore 1976; Gumperz 1982) und der Formulierungs- und Textproduktionsforschung (vgl. Antos 1982, 1989). Bereits van Dijk (1980) spricht von „konventionalisierten Darstellungsstrukturen, die per Konvention eingehalten werden.“ Warnke (1999: 219) registriert in verschiedenen Texten und Diskursen „standardisierte Formen verbalen Handelns“, die „der formalen und inhaltlichen Organisation von sprachlichen Handlungen im Hinblick auf jeweilige Funktionen“ dienen. Die synonym verwandten Begriffe beziehen sich nicht direkt nur auf die sprachliche Oberfläche der Texte und formelhafte Wendungen; beide sind allerdings unabdingbare Teile der globalen Muster im textlinguistischen Sinn. Globale Muster sind kognitive Rahmeneinheiten und Operationsfolgen, auf erfolgreichen kommunikativen Erfahrungen basierende Orientierungsschemata, die den handelnden Individuen ein situationsangemessenes verbales Agieren und Re-Agieren bei Textproduktion und Textrezeption erlauben. Globale Muster sind somit auch das intuitive Wissen über den prozessualen und prozeduralen Charakter der mündlichen und schriftlichen Text(sorten)gestaltung – der Kontextualisierung – im Einvernehmen mit den in einer Gesellschaft etablierten Formulierungskonventionen. So verfügt jede Sprecherin/jeder Sprecher über solch ein intuitives Rahmenwissen in Bezug auf die Makroebene der Textmuster Bitte,
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Entschuldigung, Privatbrief oder Alltagsgespräch. Weniger verbreitet mag wohl die Beherrschung der Textmuster Leitartikel oder wissenschaftlicher Projektantrag sein. Die Muster oder Rahmen werden textintern, d. h. auf der Mikroebene der sprachlichen Formulierungen, durch partiell vorgefertigte Äußerungsstrukturen nach dem Prinzip der Formulierungsadäquatheit „aufgefüllt“. Viele davon sind konventionell geprägte Wortverbindungen. Bei den Erläuterungen des Begriffs Textmuster führen z. B. Heinemann & Heinemann (2002: 130–131) als Beispiele für solche Strukturen fast ausschließlich Phraseme im klassischen Sinn an, ohne allerdings auf den Mehrwortcharakter explizit aufmerksam zu machen. Adamzik (1995: 28) spricht in diesem Zusammenhang von kommunikativen Routinen; Heinemann (2000a: 516) von Stilmustern oder Text-Teilmustern; Heinemann (2000b: 356–369) und Gülich & Hausendorf (2000: 369–385) von Vertextungsmustern, um nur einige wenige Begriffe zu nennen. Sie dienen der Textgliederung (vgl. Stein 2003), der Strukturierung von Texten und erleichtern als wiederkehrende markante formale Textmerkmale die Identifikation verschiedener Texte als Exemplare einer Textsorte (vgl. exemplarisch Stein 2010a zu Todesanzeigen oder Stein 2011a zu Werbetexten). Sie sind in ihrer Kombinatorik und Platzierung im Text nur eingeschränkt durch andere sprachliche Mittel austauschbar. Somit verleiht die ausdrucksseitige formelhafte Geprägtheit einem Text einen kulturellen Eigenwert, den Tophinke (1996: 103) als „kulturelle Expressivität“ bezeichnet. Mikrostrukturelle vorgefertigte Äußerungsstrukturen sind aber genauso an typisierte Situationen des sozialen Handels gebunden. Seit der pragmatischen Wende ist dies mehrfach bewiesen worden, so z. B. bereits von Coulmas (1979: 239). Der Gedanke findet sich unter dem Stichwort Regelmäßigkeiten im Sprachgebrauch (vgl. Busse 2005: 35) in der modernen Diskurslinguistik wieder und wird dort durch den sozial-kooperativen Charakter des sprachlichen Handels begründet. Regelmäßigkeiten indes, die in der Ausformung und im Gebrauch sprachlicher Mittel entdeckt werden können, sind nichts anderes als Regelmäßigkeiten in spezifischen Formen sozialen Handelns. Soziales Handeln erfordert immer, konform mit in der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppe geltenden Handlungsmustern zu agieren. Dies ist bei sprachlichem Handeln nicht anders als bei anderen Formen sozialen Handelns. Vielleicht ist bei sprachlichem Handeln nur der Konformitätszwang, d. h. die Notwendigkeit der Übereinstimmung jeder Äußerung mit den je geltenden Regelmäßigkeiten, wegen der spezifischen Funktion der Sprache, Kommunikation und koordiniertes Handeln zu ermöglichen, größer als bei anderen Formen gesellschaftlicher Interaktion.
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Das Verständnis der konventionalisierten Regelmäßigkeiten des Sprachgebrauchs ist für die moderne linguistische Diskursanalyse zentral (vgl. Busse & Teubert 2013: 13–30), auch wenn es nicht in der Linguistik entstanden ist. Es findet gegenwärtig bei der Analyse der Argumentationsmuster und -topoi verstärkt Verwendung (vgl. Wengeler 2003; Römer 2017). Das Ziel besteht darin, durch die Untersuchung der typischen textoberflächlichen Sprachgebrauchsmuster Rückschlüsse über den gesamten Diskurs und die Mentalitätsgeschichte zu ziehen. Die Gemeinsamkeit zwischen „Formelhafter Sprache“-Forschung und Diskurslinguistik liegt somit in der Suche nach musterhaften, rekurrent auftretenden sprachlichen Strukturen mit einem pragmatischen und tiefensemantischen Mehrwert (vgl. Kühn 1985). So betont Felder (2013: 175) aus diskurslinguistischer Sicht, dass sich die Manifestation von „Spuren des Denkens“ auf unterschiedlichsten Sprachbeschreibungsebenen zeige: von Lexemen über Kollokationen und idiomatische Wendungen bis hin zu Sätzen und ganzen Texten. Von einer systematischen Berücksichtigung formelhafter Wendungen innerhalb der Diskurslinguistik kann zum heutigen Zeitpunkt jedoch noch keine Rede sein.
1.2 Text- und diskurslinguistische Ansätze in der Phraseologieforschung Auch aus phraseologischer Sicht lässt sich die wissenschaftsgeschichtliche Annäherung an Texte und Diskurse skizzieren. So hat sich das phraseologische Interesse bereits früh auf die Funktionen von Phrasemen in Texten und ihr Vorkommen in bestimmten Textsorten gerichtet (vgl. stellvertretend Koller 1977 und Burger, Buhofer & Sialm 1982: Kap. 4.2.5). Die eher sprachsystematisch arbeitende Forschung, die sich mit definitorischen und taxonomischen Fragestellungen der Phraseologie beschäftigte, wird gegen Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre vor allem durch die textpragmatische Fragestellungen berücksichtigende, sprachgebrauchsbezogene Herangehensweise ergänzt (vgl. Stein & Lenk 2011: 7–9). Dabei konnte nachgewiesen werden, dass Phraseme eine entscheidende Rolle bei der Textkonstitution spielen. Unter der „textbildenden Potenz“ versteht Sabban (2004: 242, Hervorhebung im Original), dass Phraseme (als Exponenten bestimmter Phrasemtypen) und bestimmte Verwendungsweisen von Phrasemen für Texte konstitutiv in folgendem Sinne sein [können]: sie leisten einen entscheidenden Beitrag zu Texten oder Teiltexten in ihrer jeweiligen Beschaffenheit und den damit realisierten Funktionen; im besonderen Fall konstituieren sie selbst den Text als solchen.
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Phraseme besitzen also „im Vergleich zu Einzellexemen besondere[s] Potential […], zu verschiedenen Dimensionen des Textes einen wesentlichen oder gar den entscheidenden Beitrag zu leisten“ (Sabban 2007: 238). Die textbildende Potenz zeigt sich vor allem in der auffälligen Verwendung von Phrasemen, in erster Linie also in der formalen und/oder semantischen Modifikation (vgl. hierzu Ptashnyk 2009). Darüber hinaus steht das Vorkommen von Phrasemen in bestimmten Textsorten in vielen Studien im Fokus. So wurde schon „in den Anfängen der germanistischen Forschung […] die starke Abhängigkeit des Phraseologiegebrauchs von der jeweiligen Textsorte thematisiert und nachgewiesen“ (Burger 2005: 32). Eine vollständige Auflistung an Arbeiten, die sich mit dem „Zusammenhang zwischen Phrasemtyp, Phrasemhäufigkeit und Textsorte“ (Stein & Lenk 2011: 11) beschäftigen, ist heutzutage kaum mehr möglich. Hervorzuheben, da gut untersucht, sind vor allem Studien, die sich dem Gebrauch von Phrasemen in Werbetexten (vgl. Hemmi 1994; Balsliemke 2001; Janich 2005, 2006), in Pressetexten (vgl. Burger 1999; Pociask 2007; Skog-Södersved 2007) und in belletristischen Texten widmen (vgl. Burger 1997; Palm-Meister 1999; Eismann 2007; Richter-Vapaatalo 2007). Schließlich können auch ganze Texte als phraseologisch bzw. formelhaft angesehen werden (vgl. Stein 1995: Kap. 6.4.6). Ob diese sogenannten „formelhaften Texte“ wie Verkehrsmeldungen im Radio oder Bahnansagen dem Gegenstandsbereich der Phraseologie angehören, ist jedoch innerhalb der Forschung umstritten. Zurzeit geht die Tendenz allerdings in Richtung eines Einbezugs dieser textwertigen Einheiten in die Phraseologie (vgl. Dausendschön-Gay, Gülich & Krafft 2007; Stein 2011b; Filatkina 2018: Kap. 6). So ist es vor allem ihre Anknüpfbarkeit an die Konzepte der Routineformeln und der Modellbildungen, die für eine Integration sprechen. Denn formelhafte Texte besitzen zum einen eine bestimmte kommunikative Funktion und zum anderen enthalten sie in der Regel Leerstellen, die je nach Situation mit konkretem lexikalischen Material aufgefüllt werden können (vgl. Gülich 1997: 146–149). Bei Betrachtung dieses textlinguistischen „Schwerpunkt[s] der Phraseologieforschung“ (Fleischer 1997: 213) ist auffällig, dass kaum Publikationen existieren, die den Phrasemgebrauch über Einzeltexte und Textsorten hinaus thematisieren. Die Berücksichtigung von formelhaften Wendungen und Phrasemen innerhalb der Diskurslinguistik (vgl. Busse & Teubert 2013; Spitzmüller & Warnke 2011) bzw. der Einbezug diskursanalytischer Phrasemanalysen in die Phraseologie kann als ein größeres Desiderat bezeichnet werden (vgl. den Überblick in Stumpf & Kreuz 2016: 2–6). Dies ist verwunderlich: Widmen sich doch sowohl Phraseologie als auch Diskurslinguistik der Auffindung sprachlicher Regularitäten, man
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könnte auch sagen Muster, deren Strukturbeschreibung und der Aufdeckung eines bestimmten semantisch-pragmatischen Mehrwerts solcher Muster. Ausgehend von einer korpusbasierten Analyse der Sprachoberfläche soll eine semantische Tiefenebene erreicht werden. In der Diskurslinguistik beschreibt man über diese Tiefenebene das kollektive Wissen bzw. die Mentalitäten im Sinne von Dispositionen des Denkens, Fühlens, Wollens und Sollens (vgl. Hermanns 1995). Ähnliches formuliert auch Ehrhardt (2005: 37) für die Phraseologie und für das Zugriffsobjekt Phrasem, wenn er die „diskursive Funktion des Phraseologismengebrauchs“ betont und hervorhebt, dass Phraseme nicht nur und nicht in erster Linie auf Gegenstände, Personen oder Situationen referieren, sondern diese auch in einen Kontext einordnen, eine emotionale Bewertung transportieren oder eine bestimmte Perspektive auf Ereignisse vermitteln. (Ehrhardt 2005: 37–38)
Eine systematische Bearbeitung der Frage, „in welcher Weise Phraseme einzeltextübergreifend Text(sorten)ketten und Diskurse prägen (können)“ (Stein 2010b: 410), erscheint somit vor allem deshalb lohnenswert und fruchtbringend, da Phraseme „geradezu prädestiniert sind für die diskursanalytische Aufdeckung kollektiven Wissens bzw. der Mentalitäten gesellschaftlicher Gruppen einer Zeit“ (Stumpf & Kreuz 2016: 2). Ehrhardt (2007: 262) spricht in Anlehnung an die „textbildende Potenz“ von „diskursbildenden Potenzen von Phrasemen“, wobei er die wichtigste Funktion „in der Erzeugung von Kontexten, Strukturen kollektiven Wissens und gruppenspezifischen Konventionen und Normen“ (Ehrhardt 2007: 262) sieht.
2 Zielsetzung und Fragestellungen des Bandes Der vorliegende Band knüpft an den aktuellen Forschungsstand an und erweitert diesen um bisher kaum beachtete Themenbereiche und Fragestellungen. Ziel ist es, sowohl theoretische als auch empirische Beiträge, die sich mit formelhafter Sprache aus text- und diskurslinguistischer Perspektive beschäftigen, zu vereinen. Dabei wird unter anderem folgenden Fragestellungen nachgegangen: – Welche Methoden sind generell geeignet für textlinguistische und diskurslinguistische Untersuchungen formelhaften Sprachgebrauchs? (vgl. die Beiträge Pfeiffer, Stumpf & Kreuz, Römer, Schäfer, Vujčić) – Wie ist die Beziehung zwischen Phrasemtypen/-häufigkeit und bestimmten Textsorten gekennzeichnet bzw. inwiefern stellen formelhafte Wendungen
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und Formulierungsmuster Indikatoren für Textsorten dar? (vgl. den Beitrag Quack) Welche Funktionen besitzen Phraseme in bestimmten Textsorten? (vgl. die Beiträge Rentel, Hanauska) Inwiefern stellen Texte/Textsorten selbst formelhafte Einheiten dar? (vgl. die Beiträge Stein, Petkova-Kessanlis) Wie lassen sich die beiden Teildisziplinen „Phraseologie“ und „Diskurslinguistik“ theoretisch und methodisch miteinander verbinden? (vgl. die Beiträge Stumpf & Kreuz, Römer, Iakushevich, Schäfer, Vujčić, Leuschner) Welche Rolle spielen bzw. welchen Status haben bestimmte formelhafte Wendungen und Phraseme in einzeltextübergreifenden thematischen Diskursen? (vgl. Römer, Iakushevich, Vujčić) Können Phraseme für bestimmte Diskurse konstitutiv/markierend sein bzw. für Diskurse eine Indikatorfunktion besitzen? (vgl. die Beiträge Stumpf & Kreuz, Quack, Römer, Vujčić)
Es ist hervorzuheben, dass die meisten Beiträge des vorliegenden Bandes weit über ein traditionelles Verständnis von Phraseologie hinausgehen. Es finden sich daher nicht nur die gängigen Termini Phrasem, Phraseologismus und formelhafte Wendung wieder, sondern es werden auch – je nach Blickwinkel und (theoretischer sowie methodischer) Ausrichtung der einzelnen Studien – weitere Begrifflichkeiten wie Formulierungsmuster, vorgeformte Einheit, Konstruktion, Diskursphrasem usw. verwendet, um den Untersuchungsgegenstand sprachlicher Verfestigungen in Bezug auf sein Verhältnis zu konkreten Textsorten und Diskursen zu beschreiben.
3 Beiträge des Bandes 3.1 Theoretische und methodologische Überlegungen zu formelhafter Sprache in Texten und Diskursen Der erste Teil fokussiert allgemeinere theoretische und methodologische Überlegungen zu formelhafter Sprache in Texten und Diskursen. Der Band wird eingeleitet mit dem Beitrag von Stephan Stein. In dem sowohl theoretischen als auch beispielorientierten Aufsatz wird formelhafte Sprache aus text(sorten)linguistischer Perspektive betrachtet. Stein weitet das traditionelle phraseologische Verständnis verfestigten Sprachgebrauchs aus und plädiert für den Terminus „Vorgeformtheit“, der insbesondere im Hinblick auf textuelle Phänomene eine sinn-
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volle Erweiterung darstellt. Sprachtheoretisch knüpft er an das Konzept der Common sense-Kompetenz und die Theorie der idiomatischen Prägung nach Feilke (1994, 1996) an, um Vorgeformtheitserscheinungen jenseits der gängigen Phrasemklassen zu erfassen. Exemplarisch wird textuelle Vorgeformtheit mithilfe der textpragmatischen Phraseologie sowie anhand von sogenannten Formulierungsmustern und formelhaften Texten verdeutlicht. Der Beitrag schließt mit der Frage, welcher Nutzen, aber auch welche Kosten mit dem Rekurs auf Vorgeformtes verbunden sind. Christian Pfeiffer beschäftigt sich aus empirisch-methodischer Sicht mit der Frage der Identifikation formal modifizierter Phraseme in größeren Korpora. Dabei kritisiert er, dass die Einteilung in usuelle Varianten und okkasionelle Modifikationen bislang stark von der Introspektion der Forschenden geprägt ist. Pfeiffer schlägt demgegenüber ein mehrstufiges Analyseverfahren vor, das neben lexikografischen Informationen auch Korpusdaten berücksichtigt, um die Entscheidung über den Modifikationsstatus zu erleichtern. Im Beitrag von Torsten Leuschner werden vor dem Hintergrund disziplinenüberschreitender Fragestellungen der Phraseologie V1-Konditionalgefüge als Sprichwortformel behandelt. Als richtungsweisend kann insbesondere das Bemühen angesehen werden, phraseologische und politolinguistische Interessen an vorgeformten Einheiten auf Satzebene wechselseitig zu integrieren. Zur Illustration greift Leuschner auf den von Angela Merkel geprägten salienten Satz Scheitert der Euro, scheitert Europa zurück. Sören Stumpf & Christian D. Kreuz verbinden Phraseologie, Diskurslinguistik und Multimodalitätsforschung miteinander, indem sie verdeutlichen, wie Phraseme als diskursive Bildspender in multimodalen Texten gebraucht werden. Exemplarisch greifen sie dabei auf eine größere Sammlung an Karikaturen zurück, in denen der saliente politische Satz/das geflügelte Wort Wir schaffen das realisiert ist. Der Teil schließt mit dem als programmatisch anzusehenden Beitrag von David Römer. Der Autor postuliert, dass es sich bei Phrasemen um eine genuin diskursanalytische Kategorie handelt. Er wirft zahlreiche methodische und theoretische Fragen auf, denen in zukünftigen Studien nachgegangen werden sollte. Zur Erforschung sogenannter Diskursphraseme schlägt Römer induktive korpusbasierte Analysen vor, die er anhand eines eigenen Beispiels (Grenzen des Wachstums) illustriert.
3.2 Formelhafte Sprache in Textsorten Im zweiten Teil finden sich Beiträge, die sich mit formelhafter Sprache in diversen Textsorten auseinandersetzen. Im Vordergrund stehen dabei Textsorten, denen bislang weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde. So nimmt Nadine Rentel die Funktionen von idiomatischen Phrasemen in Online-Kundenbeschwerden in
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den Blick. Ihre qualitative Studie kommt unter anderem zu dem Ergebnis, dass durch die Bildhaftigkeit von Phrasemen der kritisierte Sachverhalt verdeutlicht wird und andere Kunden durch deren Verwendung schneller von der Meinung der Textproduzenten überzeugt werden können. Auch Monika Hanauska untersucht eine Textsorte bzw. kommunikative Gattung, die sich dem Bereich der sogenannten Neuen Medien zuordnen lässt. In Löschdiskussionen der enzyklopädischen Plattform Wikipedia arbeitet sie heraus, welche Rolle idiomatische Phraseme innerhalb argumentativer Strategien spielen. Sie zeigt, dass bestimmte Eigenschaften von Phrasemen wie beispielsweise ihr expressives Potenzial und ihre semantische Vagheit gut innerhalb von Argumentationen eingesetzt werden können. Hanauska stellt jedoch auch fest, dass das Phrasemvorkommen in den ausgewählten Löschdiskussionen aus quantitativer Sicht eher gering ist. Mikaela Petkova-Kessanlis rückt die Textsorte „wissenschaftliche Rezension“ in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Dabei zeigt sie anhand einer breiten Materialsammlung auf, welche Formulierungsmuster eingesetzt werden, um bestimmte bewertende Sprachhandlungstypen zu vollziehen. Alexander Quack untersucht ausgewählte Reden des NS-Agitators Joseph Goebbels. Neben der Auswertung der verwendeten Phraseme steht insbesondere die Überlegung im Zentrum, inwiefern Phraseme eine „ideologische Kondensatorfunktion“ besitzen.
3.3 Formelhafte Sprache in Diskursen Der dritte Teil führt mit der Verbindung von formelhafter Sprache und Diskurslinguistik die Diskussion an der Schnittstelle zwischen den beiden Forschungsrichtungen weiter. Marina Iakushevich richtet den Fokus auf die Funktionen von Phrasemen in Medizindiskursen der Massenmedien. Sie veranschaulicht am Beispiel „Depression“, wie formelhafte Wendungen dabei behilflich sind, dieses Krankheitsbild zu konstituieren und dessen Wissensvermittlung zu entfalten. Ebenfalls im Bereich medizinscher Diskurse ist Pavla Schäfers Beitrag zu verorten. Im Mittelpunkt des Interesses steht die Formelhaftigkeit innerhalb der Schulmedizin, Naturheilkunde und Homöopathie. Aus methodischer Sicht schlägt Schäfer eine Kombination korpuslinguistischer, diskurslinguistischer und konstruktionsgrammatischer Ansätze vor, wobei sie ihr Vorgehen mithilfe erster Fallbeispiele veranschaulicht. Auch Nikola Vujčić plädiert ähnlich wie Römer dafür, Phraseme innerhalb der Diskurslinguistik systematischer zu berücksichtigen. Für deren Untersuchung stellt er ein vierstufiges Analysemodell zur Diskussion, das aus einer propositionalen, semantischen, textpragmatischen und diskursiven Ebene besteht. Dass sein Modell ein hilfreiches Werkzeug zur diskursiven Er-
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forschung von formelhaften Wendungen sein kann, verdeutlicht Vujčić am Beispiel des Jugoslawien-Diskurses. Anhand von authentischen Belegen zeigt er auf, inwiefern in Phrasemen diskursiv konstruiertes und geteiltes Wissen kondensiert ist.
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| Theoretische und methodologische Überlegungen zu formelhafter Sprache in Texten und Diskursen
Stephan Stein
Vorgeformtheit aus text(sorten)linguistischer Perspektive Zusammenfassung: Es gehört zu den Alltagserfahrungen einer jeden Sprachverwenderin und eines jeden Sprachverwenders, dass sich auch im Umgang mit Texten Phänomene der Rekurrenz ausmachen lassen und sich gleichsam usuelle Formen der Formulierungs- und Textgestaltung beobachten lassen. Im Mittelpunkt des Beitrags steht deshalb die Frage, welche Erscheinungsformen von Vorgeformtheit auf Textebene im Sprachgebrauch zu unterscheiden sind und mit welchen Instrumentarien sie sich beschreiben lassen. Als sprachtheoretische Grundlage kann zwar in Teilen auf die Konzepte der traditionellen Phraseologieforschung zurückgegriffen werden, es ist aber ergiebiger, an das Konzept der Common sense-Kompetenz und die Theorie der idiomatischen Prägung anzuknüpfen. Auf dieser Grundlage werden Möglichkeiten einer textpragmatischen Beschreibung usueller Wortverbindungen vorgestellt, im Anschluss daran werden die beiden zentralen Ausprägungen von Vorgeformtheit auf Textebene, Formulierungsmuster und formelhafte Texte, an Beispielen erläutert und die Möglichkeiten ihrer Einbindung in herkömmliche Phraseologieauffassungen diskutiert. Der Beitrag schließt mit Überlegungen dazu, welche Kosten und welcher Nutzen mit dem Rückgriff auf textuelle Vorgeformtheit verbunden sind.
1 Warum „Vorgeformtheit“? Dass ich hier, abweichend von der Titelgebung des gesamten Bandes, an der Bezeichnung „Vorgeformtheit“ festhalte und sie dem durchaus weiter verbreiteten und etablierten Ausdruck „Formelhafte Sprache“ vorziehe, hat Gründe, die sich im Wesentlichen aus dem Untersuchungsgegenstand und der Forschungsbilanz ergeben. Denn wie der Titel verdeutlicht, geht es nicht allein um Phraseme, sondern auch um andere Erscheinungsformen von Vorgeformtheit, die primär oder ausschließlich auf Textebene relevant und fassbar werden. Dass sich das Spektrum an Phänomenen, die unter dem Etikett der Phraseologie oder anderer sprachwissenschaftlicher Herangehensweisen (Analyse von Formelhaftigkeit, Routinisierung, Ritualisierung usw. des Sprachgebrauchs) behandelt werden, vor allem in den letzten drei Dekaden kontinuierlich erweitert hat bzw., treffender formuliert, erweitert worden ist, zieht u. a. die Konsequenz nach sich, dass nicht nur noch erheblicher empirischer Untersuchungsbedarf besteht, sondern
DOI 10.1515/9783110602319-002
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dass auch Grundfragen – teilweise noch, teilweise wieder – recht unterschiedlich beantwortet werden. Das betrifft auch Fragen der Konstitution des Gegenstandsbereichs: So wäre aus Sicht der ursprünglichen Bezugsdisziplin für die Untersuchung rekurrenter sprachlicher Formen, der herkömmlichen Phraseologieforschung, etwa zu fragen, was (heute) phraseologisch genau heißt, was (noch bzw. schon) zur Phraseologie gehört, wie der Bestand an einzubeziehenden Sprachphänomenen geordnet und klassifiziert werden soll und, nicht zuletzt, wie mit Formen sprachlicher Vorgeformtheit (auf Textebene) umgegangen werden soll, die üblicherweise nicht zu den phraseologischen Phänomenen gerechnet werden. Richtet man den Blick auf rekurrente Phänomene aller Art und unterschiedlicher Komplexität auf Textebene, die erheblich über das in der herkömmlichen Idiomatik und Phraseologie Erfasste und Erfassbare hinausgehen (können), bewegt man sich in einem Forschungsbereich, in dem die Rede ist u. a. von Phrasem/Phraseologismus bzw. Phraseologizität, Formel(haftigkeit), Muster(haftigkeit) (z. B. Formulierungsmuster, Textmuster, Stilmuster), Modell(haftigkeit), Verfestigung/Petrifizierung, Prägung bzw. Vorgeprägtheit, (kommunikative, Text-/Formulierungs-)Routine bzw. Routinisierung, (pragmatische/textuelle) Stereotyp(i)e und Ritual bzw. Ritualisierung, womit zwangsläufig z. T. nur partiell verschiedene, z. T. aber auch grundverschiedene Perspektiven auf den jeweiligen Untersuchungsgegenstand verbunden sind. Ungeachtet der Verschiedenheit der Untersuchungsperspektiven lässt sich im Vergleich der jeweiligen Untersuchungsgegenstände jedoch ein übereinstimmendes wesentliches Grundmerkmal erkennen, das darin besteht, dass in der Kommunikationspraxis etwas – sprachliche Strukturen und Ausdrücke, Abläufe und Abfolgen, Entstehungsprozesse, Verwendungsanlässe und -motive – wiederholt auftritt, sodass im Ergebnis ein Textprodukt entsteht, dem etwas mehr oder weniger stark Wiedererkennbares anhaftet. Man ist dabei gezwungen, zu (Un-)Schärfe anzeigenden Ausdrucksmitteln wie mehr oder weniger fest zu greifen, da man es in der Regel nicht mit dichotomisch (z. B. phraseologisch – nicht phraseologisch) geprägten Phänomenen zu tun hat, sondern mit sprachlichen Einheiten, deren Wiederverwendungscharakter und damit zusammenhängend deren Wiedererkennbarkeit unterschiedlich stark ausgeprägt sein bzw. empfunden und beurteilt werden können. Bei der Suche nach einem dafür passenden Oberbegriff hat „Vorgeformtheit“ gegenüber den anderen Begriffsprägungen den Vorteil, theoretisch unvorbelastet, anschaulich und auch allgemeinverständlich, vor allem aber geeignet
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zu sein, die z. T. auf ganz unterschiedlichen sprachlichen Ebenen angesiedelten Phänomene in ihrem gemeinsamen Kern zu erfassen.1 Als wesentliche Bestimmungsgrundlage dienen dabei Rekurrenz und Usualität, d. h. Folgen davon, dass bestimmte Formulierungs- und Textstrukturierungswahlen bzw. -entscheidungen für die kommunikative Praxis ausschlaggebend sind, gleichsam der gesellschaftlichen Norm (und demzufolge Erwartung) entsprechen und damit vom Zwang und Aufwand für jeweils neue, individuell zu findende Lösungen befreien (können). Dieser Aspekt wird auch aus Sicht korpuslinguistischer Analyseverfahren betont: „‚Musterhaftigkeit‘ lässt sich als Phänomen der Textoberfläche denken, als Phänomen rekurrenten, für bestimmte Kontexte typischen Sprachgebrauchs“ (Bubenhofer 2009: 30), den nicht nur Sprachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, sondern auch Sprachteilhaberinnen und -teilhaber als linguistische Laien erkennen (können). Entscheidend ist also, sowohl dass sich etwas in vergleichbaren Kommunikationszusammenhängen – gesellschaftlich akzeptiert, wenn nicht sogar erwünscht – wiederholt, als auch dass etwas aufgrund des Wiederholtwerdens ganz oder teilweise wiedererkennbar ist, weil es eine oder sogar die sozial typisierte Art der Kommunikationsdurchführung darstellt.
2 Sprachtheoretische Grundlage: Common senseKompetenz und Theorie idiomatischer Prägung 2.1 Konzept Als Beschreibungsgrundlage ist ein sprachtheoretisches Konzept erforderlich, das wesentlich weiter gefasst ist als die herkömmliche phraseologische Modellierung sprachlicher Einheiten auf der Grundlage von Eigenschaften wie Polylexikalität und Idiomatizität, vor allem aber „Gebräuchlichkeit“. Da man Gebräuchlichkeit etwas vereinfachend als „Kenntnis“ und durch sie ermöglichte Verwendung der entsprechenden Zeichenkomplexe verstehen kann, wird üblicherweise angenommen, dass sich Gebräuchlichkeit in verschiedenen Ausprägungen von Festigkeit (psycholinguistische, strukturelle und ggf. pragmatische Festigkeit)
|| 1 Die Anmerkung eines anonymen Gutachters (dem ich auch für andere Hinweise herzlich danke) aufgreifend, ist dabei in Rechnung zu stellen, dass die mit dem Begriff „Vor-Geformtheit“ verbundene Perspektive auf das im heutigen Sprachgebrauch manifeste Rekurrente zielt und nicht auf die zugrunde liegenden Prozesse des Formens bzw. Herausbildens.
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manifestiert (vgl. stellvertretend Burger 2015: 16–17). Zu kurz kommt bei dieser weit verbreiteten Sehweise jedoch die Rolle der sozial eingespielten Praxis, da auch die pragmatische Festigkeit lediglich darauf bezogen ist, dass sich zur Bewältigung bestimmter kommunikativer Aufgaben mündlicher wie schriftlicher Art bestimmte sprachliche Formen verfestigt haben. Hinzukommen muss daher die Kenntnis der Gebrauchszusammenhänge und -bedingungen, wie sie in dem von Feilke entwickelten Konzept der Common sense-Kompetenz angelegt ist: Die Common sense-Kompetenz ist kommunikationstheoretisch eine ‚Kontextualisierungs‘Kompetenz, d. h. sie ist eine wichtige Grundlage unserer Fähigkeit, gemeinsame Kontexte für Meinen und Verstehen zu erzeugen. […] Eine Common sense-Kompetenz ermöglicht die pragmatische Strukturierung von Situationen im Hinblick auf Anschlußmöglichkeiten für das verständigungsrelevante Weltwissen und Handeln der sozialen Akteure. (Feilke 1994: 366; Hervorhebung im Original)
Gemeint ist, dass die pragmatische Fixierung bzw. die „rekurrente Kontextkonstellation“ (Feilke 2004: 47) zum entscheidenden Kriterium und Auslöser „idiomatischer Prägung“ (vgl. dazu Feilke 1994: 238) wird. Die Auffassung, dass die zwischen Kontextfaktoren und Ausdrucksformen bestehende Bindung grundsätzlich pragmatischer Natur ist, findet sich durchaus bereits in Idiomatik und Phraseologieforschung, und zwar insofern, als ihre Vertreter seit den 1970er Jahren den Einbezug von „pragmatischen Idiomen“ und „pragmatischen Phraseologismen“ bzw. „Routineformeln“ diskutieren und mehrheitlich favorisieren, womit eine kontinuierliche Erweiterung des Gegenstandsbereichs zugunsten von nicht (allein) aufgrund strukturlinguistischer, sondern nur aufgrund pragmatischer Eigenschaften fassbaren Phänomenen einhergeht. Das dabei zugrunde liegende Verständnis von Vorgeformtheit unterstreicht unabhängig von syntaktischen oder semantischen Ausdrucksauffälligkeiten (wie vermeintlichen Irregularitäten etwa bestimmter Phrasemtypen) (grundlegend und ausführlich dazu Stumpf 2015) die Annahme, „dass es in jeder Sprache eine unbekannte Zahl pragmatisch konventioneller und zugleich strukturell motivierter, semantisch kompositioneller, komplexer Zeichen gibt“ (Feilke 2004: 48). Der gängigen Auffassung zufolge „können [dies] Wörter (Komposita), Phrasen und Sätze sein“ (Feilke 2004: 48) – allerdings m. E. auch Textteile und ganze Texte, die als Muster der Textproduktion funktionsspezifisch geprägt sind und sich in Gestalt von Text(herstellungs)mustern manifestieren.
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2.2 Konsequenzen aus „pragmatischer Fixierung“ und „rekurrenten Kontextkonstellationen“ Im Vergleich mit der traditionellen Phraseologieforschung ergeben sich aus der Perspektive der Theorie idiomatischer Prägung Konsequenzen insbesondere 1. hinsichtlich des Umfangs und der Ordnung des Gegenstandsbereichs: Was in der herkömmlichen Phraseologie aufgrund struktureller „Auffälligkeiten“ im Zentrum steht, baut auf dem wesentlich breiteren Fundament aus phraseologisch als peripher eingestuften regulär gebildeten Einheiten, sprich: usuell rekurrenten Kollokationen, auf; der in Zentrum-Peripherie-Modellen (vgl. zur Kritik Stumpf 2017) im Zentrum angesiedelte bzw. in Feilkes (2004: 58) Ebenen-Modell herausgehobene Bereich der Phraseologie stellt bekanntlich nur einen kleinen, aufgrund struktureller Eigenschaften jedoch besonders auffälligen und damit leicht identifizierbaren Teil vorgeformter Einheiten dar (z. B. vollidiomatische Phraseme mit „unikalen“ Komponenten wie jmdn. ins Bockshorn jagen oder ebenfalls paradigmatisch wie auch syntagmatisch sehr stark eingeschränkte Paar-/Zwillingsformeln wie frank und frei). Es ist deshalb auch gut nachvollziehbar, dass strukturell motivierte und grammatischsemantisch völlig regulär gebildete Zeichenkomplexe (z. B. onymische Wortgruppen wie Rotes Kreuz, Gemeinplätze wie Gesagt ist gesagt, Sprichwörter wie Gelegenheit macht Diebe) und mehr noch satzübergreifende Einheiten die herkömmliche Phraseologie vor schwierige Zugehörigkeits- und Abgrenzungsfragen stellen und dass sich die Phraseologie mit dem Einbezug satzförmiger und satzübergreifender Einheiten schwertut, sofern diese nicht von vornherein aus dem Gegenstandsbereich ausgeschlossen werden. Letztlich erscheinen alle entsprechenden Kontroversen als Niederschlag der strittigen Frage, ob „Phraseologie“ als Oberbegriff und Sammelbecken für alle Phänomene vorgeformter sprachlicher Einheiten verstanden werden kann und soll – oder nicht. Damit zusammen hängen weitere Fragen nach 2. Eigenschaften und Bestimmungskriterien: Weit verbreitet ist in Arbeiten zur Phraseologie und zu formelhafter Sprache die Redeweise von struktureller und psycholinguistischer Festigkeit, die meist auf die Häufigkeit im Gebrauch zurückgeführt wird (vgl. stellvertretend Steyer 2000: 108 und 121). Sieht man davon ab, dass völlig unklar ist, ab bzw. bei welcher Intensität von einem gehäuften Gebrauch gesprochen werden kann, scheint zwischen Festigkeit bzw. Verfestigung und Gebrauchshäufigkeit ein zwar naheliegender, aber kaum nachweisbarer kausaler Zusammenhang zu bestehen. Feilke
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(2004: 53) zufolge ist jedenfalls bloße usuelle Rekurrenz als Kriterium der Bestimmung „völlig unzureichend“ und allenfalls ein potenzieller Indikator für idiomatische Prägungen; entscheidend sei vielmehr die subjektive (und intersubjektiv zu bestätigende) Ausdruckskenntnis, die sich im Spiegel von Kollokationsforschung und Kookkurrenzanalysen jedoch ebenfalls als unzuverlässiger bzw. schwer zu bestimmender Faktor entpuppen kann (was vor allem eine angemessene Phraseo- und Vorgeformtheitsdidaktik erforderlich macht). Hinzuweisen ist außerdem darauf, dass sprachsystembezogen an der vermeintlichen Festigkeit von idiomatischen und phraseologischen Ausdrücken festgehalten wird, obwohl sprachgebrauchsbezogen der spielerisch-verändernde Umgang mit den syntaktischen und semantischen Beschränkungen (also allem, was üblicherweise als „Modifikation“ eingeordnet wird) in bestimmten Verwendungsbereichen fast schon der Normalfall ist und sich aus Häufungen von Modifikationen bestimmter Phraseme auch neue Modellbildungen entwickeln können (vgl. Stumpf 2016). Das sprachspielerische Potenzial setzt zum einen als Hintergrund zwangsläufig die Verfestigung und deren Bekanntheit bzw. Wahrnehmung voraus (wie es etwa von Fix 1997 am Beispiel von Textmustervariationen beschrieben wurde), es bezeugt zum anderen die im Phrasem grundsätzlich angelegte Flexibilität, die so weit reichen kann, dass „die ursprünglich okkasionell bedingten Modifikationen eines Phraseologismus durch zunehmende Frequenz und Gebrauchshäufigkeit selbst einen usuellen Charakter annehmen“ (Steyer 2000: 121). Entscheidend ist, dass Sprachteilhaber die entsprechenden Ausdrücke und Zeichenkomplexe pragmatisch als Einheiten kennen bzw., genauer gesagt, ihren Status als idiomatisch geprägte Einheiten im Feilkeschen Sinne erkennen und entsprechend behandeln. Feilke (1996: 204; Hervorhebung im Original) selbst hat seine Auffassung im Blick auf Sprichwörter verdeutlicht: So setzt der Gebrauch eines Sprichworts vor allem die Fähigkeit zu einer dem sprachlichen Common sense entsprechenden Produktion bzw. Interpretation voraus. Das heißt, man muß wissen, wann man ein bestimmtes Sprichwort gebrauchen kann und wie es dann zu verstehen ist. […] Das entsprechende Wissen ist Bestandteil einer ausdrucksbezogenen Kompetenz, die erst durch die typisierte Gebrauchserfahrung entsteht.
Es erscheint legitim, diesen Gedanken sinngemäß auf andere Erscheinungsformen völlig regulär gebildeter vorgeformter Einheiten auf Satz- und Textebene zu übertragen und ihn entsprechend zu verallgemeinern.
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Ordnet man die Typen idiomatischer Prägung, wie es Feilke (1996: 217) macht, anhand der Morrisschen Zeichentrias in (dann in durchaus streitbarer Weise weiter differenzierte) syntaktische, semantische und pragmatische Prägungen, fällt im Vergleich mit Klassifikationsvorschlägen der Phraseologieforschung auf, dass sich die üblicherweise unterschiedenen Phrasemtypen und phraseologischen Klassen quer über die drei Prägungstypen verteilen. Auch darin schlägt sich im Blick auf die wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung nieder, dass sich die Phraseologie kontinuierlich herausgefordert gesehen hat, den phraseologischen Status vor allem von syntaktischen und pragmatischen Prägungstypen zu reflektieren – in vielen Fällen mit dem Ergebnis, den phraseologischen Bestand und die phraseologische Zuständigkeit auszubauen, aber ohne in ausreichendem Maße oder oft nur zögerlich die mit der Art der jeweiligen Prägung verbundenen pragmatisch relevanten Potenziale und Beschreibungsnotwendigkeiten anzuerkennen. Darin ist die bereits erwähnte Ursache für die Kontroverse über die Zugehörigkeit satzförmiger Phraseme zu sehen, wie auch für die notorischen Abgrenzungsschwierigkeiten zu Konzepten pragmatischer Prägungen (pragmatische Phraseme, kommunikative Formeln/Routinen, Routineformeln, Textformeln, „institutionale Rituale“ (Antos 1986), Stereotype u. a.); diese umfassen Ausdrücke sowohl mit (Aller Anfang ist schwer, das ist ja sowas von […]) als auch ohne Satzstruktur (Hammer!, aber hallo, nur zu, aber so was von [als verstärkende Replik auf eine vorausgehende Bewertungshandlung]), stellen Einheiten der Äußerungsebene dar und haben das Potenzial, eigenständige Kontextualisierungsleistungen zu erbringen. Mit anderen Worten: Ausdrücke unterschiedlicher struktureller Komplexität können Hinweise geben auf einen usuellen Verwendungskontext oder ihn auch evozieren. Vor allem die pragmatischen Prägungen haben als Einheiten der Äußerung einen entsprechenden Gebrauchswert, d. h. sie verweisen auf Typen von Verständigungssituationen bzw. Handlungsschemata und dienen als Handlungen oder Handlungssegmente. Geht man von typisierten Gebrauchsbedingungen bzw. konventionalen oder rekurrenten Kontextkonstellationen für usuelle Einheiten des Sprachgebrauchs aus, ist insgesamt festzuhalten, 1. dass Ausdrucksformen unabhängig von ihrer Art bzw. Bauweise und ihrer Komplexität in den Blick kommen: Das (phraseologische) Kriterium der Polylexikalität, dessen Geltungsbereich zu Kontroversen um sogenannte „Einwortidiome“ bzw. „Einwortphraseme“ geführt hat und das ursächlich ist für die Versuche, bestimmte Ausdrucksformen als „Wortgruppenlexeme“ oder „Satzlexeme“ in der (lexikalisch orientierten) Phraseologie zu verankern, verliert an Geltungskraft und erweist sich nahezu als irrelevant;
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dass für das Phänomen der Verfestigung von Wortverbindungen das Kriterium „situative Rekurrenz“ (des Gebrauchs) (Feilke 2004: 46) zu verallgemeinern ist: Wiederholter Gebrauch kann Verfestigung nach sich ziehen, hinzukommen muss aber, dass Wortverbindungen innerhalb rekurrenter Kontextkonstellationen, man kann auch sagen: aufgrund der Typizität von Situationen der Textproduktion, fixiert sind, sodass die Kenntnis der üblichen Gebrauchszusammenhänge und darauf bezogene (Bezeichnungs-)Leistungen ausschlaggebend sind (vgl. Feilke 2004: 47); dass sprachlich vorgeformten Einheiten aufgrund der mit der Vorgeformtheit verbundenen Auffälligkeit bzw. ihres „distinktiven Signalwerts“ (Feilke 2004: 52) das Potenzial zukommt, spezifische Kontexte als Verstehenshintergrund aufzurufen: Das entsprechende Sprachgebrauchswissen besitzt ein kontextschaffendes Potenzial, d. h. Erscheinungsformen sprachlicher Vorgeformtheit wirken als Ausdrucksmittel, die entweder selbst Kontextbindung auslösen können oder die auf Kontextbindung auslösende (außersprachliche und sprachlich-textliche) Faktoren zu beziehen sind; dazu gehören insbesondere Situationsmerkmale (Kommunikationsbereich, Handlungsbereich, Handlungsrollen, institutionelle Einbindung usw.), inhaltlich-thematische Fixierung und Textsortencharakteristika sowohl makrostruktureller (Textgesamtarchitektur) als auch mikrostruktureller (textsortentypische Kollokationen) Art.
Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, den Blick zunächst noch einmal auf eher phraseologieinterne Entwicklungen, die zu kontinuierlichen Ausweitungen des Untersuchungsgegenstands der Phraseologie geführt haben, und im Anschluss daran auch auf phraseologieexterne Ansätze zu richten, die sich mit der Prägung von Formulierungsmustern und mit formelhaften Texten beschäftigen (u. a. Textlinguistik, Textstilistik, Formulierungstheorie, Textproduktionsforschung).
3 Vorgeformtheit auf Textebene I: Textpragmatische Phraseologie und textpragmatische Analyse von Wortverbindungen Dass die traditionelle Phraseologie ihren Gegenstandsbereich kontinuierlich zugunsten sprachlicher Verfestigungen aufgrund situations-, textsorten- und medienspezifischer Prägung ausgeweitet hat und dass sich damit zunehmend pragmatische Beschreibungskonzepte in der Phraseologie etabliert haben, ist als we-
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sentlicher Aspekt der jüngeren wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung der Phraseologie bereits angesprochen worden; detaillierte Darstellungen dazu liegen vor (vgl. etwa Filatkina 2007), weshalb es ausreicht, wesentliche Folgen dieser Entwicklung herauszustellen und einige Bemerkungen zum Forschungsstand zu machen. Weitreichende Folgen der Pragmatisierung der Phraseologie sind darin zu sehen, dass Vorgeformtheit auf Satzebene („satzwertige Phraseme“ unterschiedlicher Art) und teilweise auf Textebene („formelhafte Texte“ bzw. „Phraseme auf Textebene“) im Umfeld der Phraseologie untersucht und z. T. auch verortet werden, dass sich damit aber auch Untersuchungsperspektiven jenseits der Phraseologie verbinden (vgl. Gülich 1997: 170–172). Ohne die Frage nach dem phraseologischen Status bestimmter Erscheinungsformen wie etwa Sprichwörter aufzugreifen und zu diskutieren, bringt es diese Entwicklung mit sich, dass die Phraseologieforschung zunehmend unscharfe Ränder bekommen hat und sich die Frage stellt, ob sich der Terminus „Phraseologie“ für einen entsprechend ausgeweiteten Gegenstandsbereich und die damit befasste Disziplin überhaupt eignet und ob es nicht angemessener wäre, z. B. von „Vorgeformtheitsforschung“ zu sprechen, in der die „Phraseologie“ dann einen (nach wie vor wichtigen) Platz einnehmen könnte. Über diese Problematik der Gegenstandskonstitution und -abgrenzung und der treffenden Etikettierung einer entsprechenden Bezugsdisziplin hinaus erscheint es wichtig zu betonen, dass die sprachgebrauchsbezogene Untersuchung von Phrasemen und Wortverbindungen infolge der skizzierten Entwicklung ein grundsätzlich textpragmatisches Profil bekommen hat. Die Analyse von Phrasemen in Textexemplaren erfolgt – auch im Blick auf einzeltextübergreifende Phänomene wie Diskurse oder Sprachverwendungs-/Kommunikationsbereiche wie Sprache in der Werbung, in der Politik usw. – textsortenbezogen und ist an ein Verständnis von Textsorte als Handlungsmittel zur Erreichung eines spezifischen kommunikativen Ziels gekoppelt. Im Rahmen der Analyse der Textkonstitution und der Textsorteneigenschaften wird relevant, inwieweit z. B. Phraseme als textkonstituierendes und/oder als textstilistisches Mittel bzw. Prinzip eine Rolle spielen, wie es etwa im Konzept der Analyse der „textbildenden Potenzen“ von Phrasemen der Fall ist (vgl. Sabban 2004 und 2007). Die Text- und Textsortenorientierung verbindet sich mit einem Spektrum unterschiedlicher Untersuchungsziele und Erkenntnisinteressen, die ein umfassendes textpragmatisches Profil ergeben; dazu zählen Analysen – der textstrukturellen Positionierung (Vorkommen in mehr oder weniger exponierten Textstellen bzw. Textteilen) und der Häufigkeit von Phrasemen
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und Phrasemklassen im Text, der Art der Einbettung in den Kotext (metakommunikative Markierung usw.), der Verwendungsweise (Nennform, usuelle Variante, okkasionelle formale und/oder semantische Modifikation oder fehlerhafte Verwendung), ggf. Bestimmung der Modifikationsweise, der mit der Verwendungsweise zusammenhängenden textuellen Wirkungen und Funktionen (Zusammenhang zwischen Phrasemverwendung, Textgestalt und Textproduzentenimage und intendierten Rezeptionseffekten aufgrund des phraseostilistischen Potenzials [u. a. Phrasemhäufung, Ambiguierung, Phraseme spezifischer inhaltlich-thematischer Ausrichtung, Anspielungstechniken und -muster]), der Textsortenspezifik (Distribution von Phrasemtypen, Beitrag der Phraseme zum „Textsortenstil“, Bestimmbarkeit des Phrasemgebrauchs als Indikator für bestimmte Text- und Gesprächssorten), des Zusammenhangs zwischen Phraseologie und Kommunikationsbereich (vergleichende Analysen thematisch und/oder funktional verwandter Textsorten in verschiedenen Medien), ggf. von Textsortenketten/-netzen und der Diskursspezifik.
Für derartige textpragmatische Facetten der Verwendung von Phrasemen unterhalb und bis zur Satzgrenze liegt eine kaum mehr überschaubare Fülle an Studien vor (vgl. u. a. Lenk & Stein 2011). Dabei geht es um die Bestimmung ihrer Leistung für die Textkonstitution, um Möglichkeiten besonderer textstilistischer Gestaltung und um ihre Charakteristik in bestimmten Textsorten, z. T. auch aus diachroner, kontrastiver oder varietätenlinguistischer Perspektive. Den mit textpragmatischen Analysen verbundenen Nutzen und Gewinn kann man durchaus auch an Einzelexemplaren einer Textsorte verdeutlichen; zur Illustration ein Beispiel für den Fall, dass Phraseme, hier am Beispiel einer Karikatur (Süddeutsche Zeitung 23./24.07.2016, 14, vgl. Abbildung 1) zum politischen Zeitgeschehen in der Türkei im Jahr 2016, zum Auslöser für die Text-Bild-Relation und zum Drehund Angelpunkt für die Textrezeption werden. Die Karikatur bezieht ihren persuasiven Reiz daraus, dass der Karikaturist Denis Metz mit Zu Hause bei Erdoğans die Alltagssituation der gemeinsamen Mahlzeit darstellt, sie aber über die der Hausherrin in den Mund gelegte Frage in einen Kontrast zu der in der Türkei nach dem gescheiterten Putschversuch am 15. Juli 2016 betriebenen rigorosen und alle gesellschaftlichen Bereiche betreffenden Säuberungspolitik des türkischen Präsidenten bringt. Nicht nur, dass Erdoğan in der Pose eines ungeduldig am Tisch schon Wartenden erscheint und sich offenbar gegenüber seiner Frau rechtfertigen muss, was die Autorität des feinen Herrn
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Autokraten in den eigenen vier Wänden in Zweifel zieht, sondern gerade auch das Spiel mit dem semantischen Gegensatz zwischen dem im politischen Kontext euphemistischen säubern und der alltagsweltlichen Praxis des (Hände-)Waschens erhebt unausgesprochen Anklage gegen den Präsidenten mit seinen im Original
Abb. 1: Zu Hause bei Erdoğans; Süddeutsche Zeitung 23./24.07.2016, 14
roten, also blutverschmierten, Händen und stellt dessen Verantwortlichkeit für die Säuberungsaktionen heraus. Unterstützt wird diese sprachlich-bildliche Negativwertung dadurch, dass Anspielungen auf verschiedene Phraseme gegeben sind (sich die Hände schmutzig machen, an jmds. Händen klebt Blut, sich die Hände rein waschen), dass dabei aber auch der Bezug auf die Passionsgeschichte im Neuen Testament mitschwingt (sich die Hände in Unschuld waschen), wodurch dem türkischen Präsidenten ein Pontius Pilatus-gleicher Vorsatz unterstellt wird, sich durch die Handlung und das Ritual des Händewaschens den Anschein von Schuldlosigkeit zu geben. Die vorliegenden textpragmatischen Studien lassen weiterhin erkennen, dass bestimmte Kommunikationsbereiche und entsprechende Gebrauchstextsorten sehr intensiv untersucht worden sind (insbesondere Werbetexte, Horoskope in den Medien, Rezensionen, [meinungsbetonte] Pressetexte, Fachtexte, Popsongs); zu erwähnen ist auch die Analyse der Phrasemverwendung in literarischen Texten, insbesondere in der Kinder- und Jugendliteratur. Verortet man die
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intensiver untersuchten Textsorten im Nähe-Distanz-Modell von Koch & Oesterreicher (2007: 349), wird deutlich, dass vor allem im Bereich gesprochensprachlicher Konzeption und medialer Mündlichkeit noch größerer Untersuchungsbedarf besteht. Vermutlich auch aufgrund der wesentlich einfacheren und schnelleren Erhebbarkeit von Daten dominieren also Studien, die vor allem im Bereich konzeptioneller Schriftlichkeit, weniger im Bereich konzeptioneller Mündlichkeit auf einzelne Textsorten oder Textsortenverbünde bezogen sind. Dagegen finden sich nur wenige Distributionsanalysen, die, auf der Grundlage einer Ordnung der phraseologischen Typen, herauszuarbeiten versuchen, welche Phrasemtypen in welchen Textsorten in welcher Häufigkeit usw. verwendet werden, um so phraseologische Domänen sichtbar werden zu lassen (wie es beispielsweise in den frühen Untersuchungen im Handbuch der Phraseologie von Burger, Buhofer & Sialm 1982 der Fall war). Bilanziert man entsprechende sprachgebrauchsbezogene Studien, lässt sich die Veränderung und Ausweitung der Erkenntnisinteressen bei der Untersuchung von Phrasemen in Text(sort)en folgendermaßen zusammenfassend charakterisieren: Die Aufmerksamkeit – richtet sich zunächst auf die Leistungen von Phrasemen (im Text als Produkt) für die Textkonstitution – mit dem Ziel, generalisierbare Funktionen von Phrasemen in Texten zu bestimmen und allgemeine Funktions-Typologien zu erstellen, – weitet sich aus auf die Charakterisierung der Verwendungsweisen und Funktionen in Abhängigkeit von der Textsorte bzw. der kommunikativen Situation – mit dem Ziel, phraseologische Domänen zu ermitteln und phraseologische Text- und Gesprächssortenprofile zu beschreiben, – und reicht bis hin zur Frage nach dem Zusammenhang zwischen Phrasem(typ) und Textproduktion/Formulierungstätigkeit – mit dem Ziel, Motive für die Phrasemverwendung und − allgemeiner − für den Rekurs auf Vorgeformtes als Formulierungsverfahren zu bestimmen (vgl. dazu Gülich & Kraft 1998; Stein 2011a).
4 Vorgeformtheit auf Textebene II: Formulierungsmuster und formelhafte Texte 4.1 Grundannahmen Dass im Blick auf Vorgeformtheit auf Text- und Textsortenebene auch andere Phänomene in den Blick kommen, liegt auf der Hand. Es sind dafür zunächst wesentliche Grundannahmen von Text(sorten)linguistik (1. und 2.), Textproduk-
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tionsforschung und Formulierungstheorie (3.) sowie Textstilistik (4.) voranzustellen: 1. liegt der Analyse von Text(sort)en die Annahme zugrunde, dass jedes Textexemplar (zumindest) einer Textsorte zuzurechnen ist (Textsortenbezogenheit bzw. typologische Intertextualität), was besagt, „dass man sich bei der Textproduktion grundsätzlich an historisch überlieferten komplexen Mustern orientiert“ (Adamzik 2004: 102 und 2016: 326). 2. werden Produktion und Rezeption von Texten darüber hinausgehend mit dem Rückgriff auf Text(handlungs)muster modelliert: „Textmuster sind zunächst allgemein [kognitive, St. St.] Muster von Texten, d. h. von Textstrukturen und Textformulierungen, zugleich für die Generierung von Texten und ihr Verstehen“ (Heinemann & Heinemann 2002: 133). Ihre Verwendung hat zur Folge, „dass das Individuelle […] auf einen Varianz-Spielraum beschränkt ist, der den muster-bestimmten ‚Kernbereich‘ des Handelns nur in begrenztem Maße tangiert“ (Heinemann & Heinemann 2002: 132). Diese Ansicht ist deshalb von einiger Tragweite, weil sie eine nicht unerhebliche makro- und mikrostrukturelle Konstanz erwarten lässt, ohne auszuschließen, aber doch den vielleicht vermuteten Normalfall zu relativieren, „dass kein Text dem anderen gleicht, dass folglich dieselbe kommunikative Aufgabe von verschiedenen Handelnden in der Regel in unterschiedlicher Weise gelöst wird […]“ (Heinemann & Heinemann 2002: 132). 3. wird die Textproduktion als konstruktive, schöpferische Tätigkeit und Problemlöseaktivität und werden Texte als Resultate von Textherstellungshandlungen (vgl. Antos 1982: 146–150 und 2008: 243) verstanden, für die Formulierungsleistungen zu erbringen sind; dass Formulieren kognitive Anstrengung bedeutet und dass für das Formulieren Leistungen zu erbringen sind, schlägt sich darin nieder, dass Formulierungen Gegenstand von Beurteilungen sein können und dass Textproduzenten u. U. und mit allen denkbaren Konsequenzen Verantwortung für Formulierungen übernehmen müssen. Alleine schon die damit verbundene Brisanz legt den Rückgriff auf Vorgeformtes als typisches Lösungsverfahren für wiederholt bzw. häufig auftretende Formulierungsaufgaben nahe (vgl. Gülich 1997: 166), d. h. dass es in der Sprachgemeinschaft eine Präferenz für bewährte (sozial eingespielte) Mittel zur Bewältigung lokaler und globaler Formulierungsaufgaben gibt (hinzuweisen ist allerdings darauf, dass der Rekurs auf Vorgeformtes streng genom-
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men kein echtes Formulieren (mehr) darstellt, sondern ein reproduzierendes Verbalisieren).2 4. schließlich spielt textstilistisch die Annahme der Unikalität der Problemlösungen (vgl. Sandig 1986: 147–149 und 2006: 152) eine zentrale Rolle. Zu unterscheiden ist nach Sandig (1986: 147–149) zwischen den Polen der Typisierung und der Unikalisierung als Endpunkten eines Kontinuums von Gestaltungsmöglichkeiten für Textexemplare: Typisiert wird, um ohne besonderen Aufwand handeln zu können und die Textsortenkonventionen zu befolgen; unikalisiert wird dagegen, um Textsortenkonventionen zu unterlaufen und dadurch bestimmte Wirkungen zu erzielen. Textsorten- und Textmusterwissen schließen also prototypisches Wissen über makro- und mikrostrukturelle Eigenschaften von Texten ein, lassen aber auch Handlungsfreiräume, die sich individuell und situationsbezogen nutzen lassen. Zu fragen ist also, unter welchen Bedingungen stärker typisiert oder stärker unikalisiert wird. Man kann diese Frage auf einzelne Textproduzenten beziehen, aber auch auf z. B. gruppenprägende Teile wie auch auf die Gesamtheit der Sprachgemeinschaft im Umgang mit Textsorten. Hinsichtlich jeder einzelnen, im Fokus stehenden Textsorte ist von einem charakteristischen Spannungsverhältnis zwischen mehr oder weniger Standardisiertheit der Textsorte und Unikalität der Textprodukte auszugehen; denn: Nicht in allen Textsorten muss man einen prononcierten Leistungsaufwand betreiben. Man kann sich zudem […] an der Mündlichkeit orientieren oder man senkt das Formulierungsniveau und greift […] vermehrt auf ‚vorfabrizierte‘ Sprache oder auf formelhafte Formulierungsmuster zurück. (Antos 2008: 241)
Obwohl die Beobachtung, dass Vorgeformtheit oder Formelhaftigkeit zur Reduktion des Leistungsaufwands beiträgt und Entlastungspotenziale bietet, sicherlich zutreffend ist, lässt sie den Rekurs auf „‚vorfabrizierte Sprache‘“ m. E. in einem
|| 2 Vor allem schriftliche Textherstellung erscheint aufgrund der Produktionsbedingungen als Resultat von Problemlöseaktivitäten. Insofern läge der Schluss nahe, dass Vorgeformtes im Bereich der Mündlichkeit weiter verbreitet sein und gesprochene Sprache – sofern überhaupt quantifizierbar – in größerem Maße vorgeformt und insgesamt formelhafter sein müsste als geschriebene Sprache; Schwitalla (2012: 177) zufolge aber ist „Gesprochenes […] insgesamt nicht formelhafter als manche geschriebenen Textsorten auch.“ Hier besteht m. E. noch erheblicher Forschungsbedarf, da sich die Rolle des Vorgeformten kaum in einer pauschalen Gegenüberstellung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, sondern allenfalls in einer differenzierten empirisch gestützten vergleichenden Untersuchung von Text- und Gesprächssorten bestimmen lässt (vgl. dazu auch Stein 2007).
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zu negativen Licht erscheinen. Zu prüfen wäre nämlich, in welchen Fällen oder unter welchen Kommunikationsbedingungen gerade die Vorgeformtheit die sozial akzeptierte, wenn nicht favorisierte und daher erwartbare Art der Textproduktion darstellt. Insgesamt ist vor diesem Hintergrund festzuhalten, dass Vorgeformtes als Formulierungsressource und der Rekurs auf Vorgeformtes als Textproduktionsverfahren aufgefasst werden kann. Für die Bestimmung der Rolle des Vorgeformten ist deshalb zu klären, unter welchen Kommunikationsbedingungen sich ein Textproduzent aus welchen Gründen bzw. mit welchen Motiven und ggf. mit welchen Konsequenzen zur Erreichung seines Handlungsziels für die Verwendung welcher (Art von) vorgeformter sprachlicher Einheit als Ausdrucksmittel entscheidet.3
4.2 Formulierungsmuster Für eine gewisse Verbreitung der Redeweise von „Formulierungsmustern“ haben die Arbeiten von Heinemann & Viehweger (1991: 166) und Sandig (1997) gesorgt, in anderen Arbeiten ist auch von Formulierungsroutinen (vgl. Gülich 1997: 166) oder Textroutinen (Feilke & Lehnen 2012; Lüger 2014) die Rede. Der u. a. im Bereich der (mehrdimensionalen bzw. holistischen) Textsortenanalyse angesiedelte Terminus betont, dass nicht nur aus dem jeweiligen Handlungsbereich „Formulierungsvorgaben“ (z. B. bestimmte Kommunikationsmaximen) resultieren, sondern dass es auch auf Textsorten bezogen „prototypisches Wissen über Formulierungsmerkmale“ (Heinemann & Viehweger 1991: 165) gibt. Der Begriff „Formulierungsmuster“ erscheint dabei allerdings eher unscharf und wird unterschiedlich weit ausgelegt. Erfasst werden teilweise auch textsortentypische Einzellexeme (wie z. B. auch bei Routineformeln), vor allem aber bestimmte Wortfolgen, Textteile und auch ganze Texte, die charakteristisch entweder für die Textproduktion in bestimmten Domänen und Kommunikationsbereichen oder für spezifische Aktivitäten im Zuge der Textproduktion sein können, sodass sich aufgabenspezifische Subtypen unterscheiden lassen; dazu gehören (jeweils illustriert an einigen ausgewählten Beispielen)
|| 3 Nur nebenbei sei erwähnt, dass diese Frage methodische Konsequenzen mit sich bringt: „Entsprechende Untersuchungen erfordern ein geeignetes methodisches Instrumentarium, denn aus der Art der Vertextung, wie sie mit dem fertigen Produkt vorliegt, kann nicht unmittelbar auf den Entstehungsprozess geschlossen werden“ (Sabban 2007: 251) – und, so kann man ergänzen, auch nicht ohne Weiteres auf Verwendungsmotive.
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1.
Gliederungs- bzw. Textorganisationssignale als metakommunikative intratextuelle Verweise und formulierungsbezogene/-kommentierende Ausdrücke, z. B. in Wissenschaftstexten: Daraus ergibt sich zwangsläufig die Frage, […], Zusammenfassend lässt sich festhalten, […], Im vorigen/vorausgehenden Kapitel wurde aufgezeigt/dargelegt/erwähnt …, […], Im Klartext heißt das: […], nur nebenbei bemerkt: […] u. v. a. 2. Formulierungsmuster des Kommentierens/Bewertens, z. B. in meinungsbetonten Pressetexten (vgl. Sandig 2010; Lenk 2014): Das ist (so), als ob […] (Ausdruck kritischer Distanz), Von […] keine Spur. (Bewerten mit Emphase/ Emotion), Mag sein, dass […] (Evidenzabschwächung), Es ist eben doch so, dass […] (Evidenzverstärkung), Mag […] auch [negative Bewertung], so […] doch [positive Bewertung] (Kontrastieren verschiedener Bewertungen) u. a. 3. sachverhaltsbereich-typische „feststehende Inhaltsfiguren“ (Kühtz 2007: 235), z. B. in medizinischen Fachtexten: im Frühstadium, therapeutische Maßnahmen, das Mittel der Wahl, unkomplizierter Verlauf, ungünstige Prognose u. v. a. 4. Warn- und Gebrauchshinweise usw. aus Gründen juristischer Verbindlichkeit: Darf nicht in die Hände von Kindern gelangen! / Produkt außerhalb der Reichweite von Kindern aufbewahren!, Für Garderobe [übernehmen wir] keine Haftung / Für Garderobe wird nicht gehaftet, Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker., Betreten [der Baustelle / …] verboten. Eltern haften für ihre Kinder. u. v. a.
Die Subtypen für einige typische Vorkommensbereiche und die Beispielauswahl verdeutlichen, dass Formulierungsmuster durchaus teilweise auch den Charakter von Texten als Handlungsvollzügen haben können. Auffällig ist aber vor allem, dass Formulierungsmuster gegenüber Phrasemen „eine schwächer ausgeprägte strukturelle Fixiertheit“ (Kühtz 2007: 235) aufweisen, d. h. es zeigt sich im Vergleich mit der meist stabileren Ausdrucksstruktur von Phrasemen eine „variablere Musterhaftigkeit“ (Kühtz 2007: 237), die Sprachteilhabern größeren Variationsspielraum bietet. Als verbindendes Moment und klassenbildendes gemeinsames Merkmal anzusehen sind „rekurrente Form-Inhalts-Beziehungen: wiederkehrende Kombinationen von sprachlichem Strukturmuster und lexikalischer Besetzung, die in spezifischen Kommunikationssituationen zur Vermittlung bestimmter Inhalte bzw. zum Vollzug bestimmter sprachlicher Handlungen genutzt werden“ (Kühtz 2007: 235). Gemeint sind also im Sprachgebrauch (in bestimmten Kommunikations- und Handlungsbereichen, Institutionen, Textklassen oder Textsorten) usuell auftretende sprachliche Einheiten, die in einer bestimmten Form entweder mit einer
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bestimmten Bedeutung versehen oder für die Wahrnehmung bestimmter kommunikativer Aufgaben funktionalisiert sind. Nicht zu übersehen ist, dass Kühtz᾽ Begriffsbestimmung Parallelen aufweist zum konstruktionsgrammatischen Konzept der „Konstruktion“ als typischer Relation aus Form und Bedeutung (vgl. Ziem & Lasch 2013: 1). Wesentlich stärker profiliert ist bei „Formulierungsmustern“ allerdings der Handlungscharakter, da sie je nach Grad der situativ-funktionalen Gebundenheit einen Handlungskontext, eine Textsortendomäne oder eine bestimmte Textsorte als Verwendungs- und Verstehenshintergrund evozieren.
4.3 Vorgeformtheit auf Textebene und formelhafte Texte 4.3.1 Konzept Die oben unter 4. als Warn- und Gebrauchshinweise genannten Beispiele könnten ohne Weiteres auch als Beispiele für formelhafte Texte herangezogen werden, da sie als abgeschlossene Einheiten für den Vollzug sprachlicher Handlungen geeignet und verfestigt sind. Die grammatische Komplexität spielt dabei eine untergeordnete Rolle, da unter die Kategorie „formelhafter Text“ sprachliche Strukturen fallen, die den Umfang lediglich eines einfachen oder komplexen Satzes haben oder aber die, wie in den meisten Fällen, eine einzelsatzübergreifende Einheit darstellen. Vorgeformtheit auf Textebene prägt sich bevorzugt dann aus, wenn kommunikative Aufgaben aus Gründen der Textproduktionsökonomie immer wieder mit ähnlichen oder sogar gleichen Textstrukturen und Formulierungen bewältigt werden (können) und dadurch für die Handlungsbeteiligten den Charakter von Routineaufgaben annehmen, wie es z. B. auf viele Durchsagen im Rahmen des Bahnverkehrs zutrifft: Verehrte Fahrgäste, bitte beachten Sie den folgenden Hinweis: Aufgrund von Bauarbeiten zwischen […] und […] hat unser Zug zurzeit eine Verspätung von […] Minuten. Den nächsten Halt […] erreichen wir voraussichtlich um […]. Wir bitten noch um etwas Geduld. Über Ihre Anschlussmöglichkeiten werde ich Sie rechtzeitig informieren. Aus der Perspektive der Produzenten liegt die oben diskutierte Vermutung nahe, dass eine regelmäßige Wiederholung und ein gehäufter Gebrauch in der Bewältigung des Berufsalltags zu einer entsprechenden Verfestigung führt, die es – hier: dem verantwortlichen Zugbegleiter – erlaubt, die Leerstellen adäquat zu füllen (vgl. dazu die an den Konversationsmaximen ansetzenden Überlegungen von Janich 2008 zu den institutionellen Vorgaben und zu den tatsächlichen Umsetzungen von Bahndurchsagen). Aus der Perspektive der Rezipienten liegt eine ähnliche Vermutung nahe, nämlich dass – hier: zumindest bei regelmäßigen
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Nutzern der Deutschen Bahn – mit der Zeit nicht nur ein sofortiger Wiedererkennungseffekt eintritt, sondern auch eine Antizipierbarkeit der Art der zu vermittelnden Informationen, die es erlaubt, sich ebenfalls auf die Füllung der inhaltlich wichtigeren Leerstellen zu konzentrieren. Im Sinne des Konzepts der idiomatischen Prägung liegt in solchen Fällen eine Texthandlung vor, die einen gemeinsamen Wissens- und Verstehenshintergrund aufruft und eine entsprechende Kontextualisierung mit sich bringt. Wie bereits Gülich (1997: 146–149) aufgezeigt hat, finden sich für die Beschreibung solcher Erscheinungsformen textueller Formelhaftigkeit Anknüpfungsmöglichkeiten im Bereich der Phraseologie, und zwar an das Konzept der Phraseoschablone bzw. Modellbildung, das eine vorgeformte syntaktische Struktur mit situationsadäquat zu besetzenden Leerstellen vorsieht, und an das Konzept der Routineformel, das der Funktionalisierung für den Vollzug jeweils bestimmter Handlungen Rechnung trägt. Im Unterschied zum üblichen Verständnis von Routineformel, das auf Einheiten von bis zur Satzgrenze reichendem Umfang mit spezifischem Funktionsbezug bezogen ist, besteht das Charakteristische des formelhaften Texts jedoch darin, dass zum Vollzug der gesamten Handlung ein komplexeres Textangebot Züge der Vorgeformtheit aufweist. Man steht hier wieder vor dem oben erwähnten Dilemma, ob man solche Ausprägungen einfach der phraseopragmatischen Kategorie der Routineformel bzw. des pragmatischen Phrasems subsumieren will oder ob in Anbetracht der vorhandenen sprachlichen Komplexität nicht eine begrifflich Textualität zum Ausdruck bringende Bezeichnung wie „formelhafter Text“ oder (komplexe) „textuelle Prägung“ (Feilke 1996: 217) angemessener ist. Soweit ich sehe, hat die Bezeichnung „formelhafter Text“ trotz kritischer Einwände eine gewisse Verbreitung gefunden, weshalb es sinnvoll erscheint, an ihr festzuhalten. Bilanziert man die vorliegenden Studien zu „formelhaften Texten“ (insbesondere Drescher 1994; Gülich 1997; Dausendschön-Gay, Gülich & Kraft 2007; Stein 2001 und 2011b), zeichnet sich im Kern ein homogenes Profil ab, das ein eher enges Begriffsverständnis beinhaltet: „Konstante inhaltliche Textkomponenten, relativ feste Reihenfolge, formelhafte Realisierung der Komponenten, Bindung des ganzen Texts an eine bestimmte Situation, aus der sich eine Hauptfunktion ergibt“ (vgl. Gülich 1997: 154), bzw. die Gleichzeitigkeit von ausdrucksseitiger und inhaltsseitiger Konstanz (vgl. Stein 2001: 27). Bedingung ist damit also ein situationsgebundener Rekurs auf und eine entsprechende Wiedererkennbarkeit von sowohl verfestigter textueller Makro- als auch Mikrostruktur, weshalb Formelhaftigkeit auf Textebene nicht allein an der Verwendung von Formulierungen aus einem begrenzten Repertoire von Ausdrucksmustern festgemacht werden kann.
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Zu den (gut untersuchten) Textsorten, auf deren Textexemplare das im Großen und Ganzen zutrifft, gehören neben den erwähnten Durchsagen in öffentlichen Verkehrsmitteln, Danksagungen, Kündigungsschreiben und -bestätigungen, Absagebriefe, Grußworte und – zumindest in vielen Darstellungen angenommen – auch Todes- und Traueranzeigen. Sofern die Kommunikationspraxis das bestätigt, heißt das, dass sich die Textproduzenten bei der Bewältigung rekurrenter kommunikativer Aufgaben mehrheitlich gegen eine unikalisierende und für eine typisierende Textgestaltung entscheiden. Sie führt nicht nur zu einer textsortenkonventionenkonformen Textkonstitution, sondern lässt auch erkennen, dass in dem Bewusstsein gehandelt wird, dass in der Sprachgemeinschaft zur Bewältigung der Textproduktion die Gleichzeitigkeit von ausdrucks- und inhaltsseitiger Konstanz bevorzugt ist. Das schließt allerdings erstens nicht aus, dass die Textsortenpraxis auch – in nur empirisch bestimmbaren Anteilen – durch individualisierende Abweichungen von den Textsortenkonventionen gekennzeichnet sein und dass es dementsprechend Ausprägungen von Textsortenvariation geben kann, und unterstreicht zweitens, dass die Frage, welche kommunikativen Aufgaben eine Affinität zur Ausbildung textueller Vorgeformtheit in sich tragen, untrennbar mit der Bestimmung der jeweiligen Motive und Handlungszwecke verknüpft werden muss.
4.3.2 Todes- und Traueranzeigen als formelhafte Texte? Um das exemplarisch zu vertiefen, greife ich die insgesamt sehr gut untersuchten Textsorten Todesanzeige und Traueranzeige heraus. Die Frage nach dem formelhaften Charakter (der Exemplare) dieser Textsorten wird meistens als Entscheidungsfrage gestellt und im Blick auf die Textsortenpraxis in ihrer Gesamtheit bejaht; da das m. E. der Textwirklichkeit nicht in vollem Umfang gerecht wird, erscheint es angemessener, im Sinne einer Ergänzungsfrage (inwieweit handelt es sich bei den Exemplaren dieser Textsorten um formelhafte Texte?) die Ausprägungen der Vorgeformtheit, aber auch die davon abweichenden Gestaltungsweisen von Textexemplaren zu ermitteln. Denn trotz des gemeinhin angenommenen standardisierten, zuweilen auch schablonenartigen Charakters einer großen Zahl von Textexemplaren zeigt der Blick auf die Textsortenpraxis, dass Todes- und Traueranzeigen in weitaus größerem Maße Variation aufweisen, als auf den ersten Blick zu vermuten ist. So zeichnet sich schon im 20. Jahrhundert die Tendenz zunehmender Individualisierung der Textexemplare ab, was in den letzten Jahren an Bedeutung gewinnt. Man kann diesen partiellen Textsortenwandel als
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Ausdruck und zugleich als Katalysator eines allgemeinen soziokulturellen Wandels im Umgang mit Tod und Trauer in öffentlichen Medien auffassen, was in stärkerem Maße offensichtlich in regional verbreiteten Medien der Fall ist. Ohne es an dieser Stelle im Detail erörtern zu können, schlägt sich dieser soziokulturelle Wandel in unterschiedlichen Formen intentionaler Textsortenvariation nieder. Das zeigt sich in Gestalt von Textexemplaren, die die Textproduzenten auch oder in erster Linie als Handlungsmittel für die Erreichung weiterer oder anderer Zwecke als die öffentliche Bekanntmachung eines Todesfalls nutzen, indem sie sich um individualisierende Variation bemühen vor allem in Bezug auf die Textfunktion (z. B. Anprangern gesellschaftlicher Missstände und Anklageerheben), die Kommunikationssituation (z. B. völlige oder partielle Umkehr der Kommunikationsrichtung durch Adressierung der Hinterbliebenen im Rückgriff z. B. auf das Briefmuster), den Inhalt (z. B. explizite Thematisierung der Umstände und Ursachen des Sterbens) und die sprachlich-stilistische Gestaltung bzw. den Textsortenstil (z. B. Wechsel in ein anderes Register oder eine andere Varietät, etwa einen Dialekt) (vgl. dazu Stein 2010: 386–398). In Anbetracht dessen bieten Todes- und Traueranzeigen nicht nur die Möglichkeit, das Ausmaß der Orientierung an Mustern, wie sie bekanntlich viele Zeitungsredaktionen in Form von Textvorlagen bereithalten, zu untersuchen, sondern auch, den Rekurs auf Formelhaftigkeit als Formulierungsverfahren in Beziehung zu anderen Verfahren problemlösender Textproduktion zu setzen. Geht man von den Ergebnissen handlungstheoretischer Analysen der Textsorten aus (vgl. von der Lage-Müller 1995), zeichnet sich die Mehrheit der Textexemplare zum einen durch typische Kombinationen und Abfolgen textsortenspezifischer Teilhandlungen aus (vgl. von der Lage-Müller 1995: 146–147), für deren Realisierung zum anderen z. T. typische Ausdrucksformen etabliert sind, die vielfach den Charakter von Formulierungsmustern haben: – (die obligatorische) Todesmitteilung (Plötzlich und unerwartet verstarb […]), – Kontaktherstellung und -verweigerung (Die Beerdigung findet am […] statt; Von Beileidsbezeugungen am Grab bitten wir Abstand zu nehmen), – Gefühlsäußerung (In Liebe und Dankbarkeit: […]; Es trauern um […]: […]), – Handlungsanweisung (Anstelle von Blumen und Kränzen bitten wir im Sinne des Verstorbenen um eine Spende an […]), – Ehrung und Würdigung ([…] von meinem innigst geliebten Mann, meinem guten Vater und Sohn, […]), – Metakommunikation (Statt besonderer Anzeige / Statt Karten), – Danksagung (Wir sind voll des Dankes für seine stete Güte und seine Liebe),
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Ausdrücken von Wünschen und Hoffnungen (Erinnerungen an Deine Herzlichkeit, Deine Fürsorge, Dein Lachen und Deine treue Freundschaft sind immer in unserem Herzen).
Textexemplare, die aus einem entsprechenden Vorrat an Formulierungen für die vorgesehenen Teilhandlungen „komponiert“ sind oder auf der Übernahme eines „passenden“ Textexemplars beruhen, zeigen, dass die Textproduktion auf das Abrufen fertiger Textkomponenten, gegebenenfalls unter Auffüllen von Leerstellen, reduziert sein kann. Im Zusammenspiel wirken die sprachlich vorgeformten Komponenten und die vorgegebene Gesamtstruktur als Kontextualisierungsmerkmale, die gewährleisten, dass Rezipienten die Elemente und die Struktur als vorgeformt erkennen und einer bestimmten Art von Kommunikationssituation zuordnen können. So rufen im Sinne des Common sense-Konzepts auch hier bestimmte Formulierungsmuster und Struktureigenschaften einen charakteristischen situativen Verwendungszusammenhang auf: Todes- und Traueranzeigen verweisen auf die gesellschaftlich etablierte Praxis, die Öffentlichkeit über den Tod von Menschen zu informieren, Trauer zu bekunden und/oder Anteilnahme zum Ausdruck zu bringen. Entsprechende makro- und mikrostrukturelle Formelhaftigkeit auf Textebene ist bei Todesanzeigen in besonderem Maße bei geschäftlichen Todesanzeigen zu beobachten, die sich zuweilen nur in den personenbezogenen Angaben unterscheiden und damit – regelmäßige Zeitungslektüre vorausgesetzt – den Eindruck reiner Textschablonen hervorrufen, auf die Institutionen, Unternehmen usw. immer wieder zurückgreifen, zumindest sofern es sich bei den Verstorbenen um nichtprominente Bedienstete bzw. Angehörige handelt; ich illustriere es stellvertretend an zwei Anzeigen der Bayerischen Landesbank (Süddeutsche Zeitung vom 07.07.2016 und 13.07.2016), vgl. die Abbildungen 2 und 3. Von den personenbezogenen Angaben und entsprechenden textlichen Anpassungen abgesehen, fehlt in dieser Art geschäftlicher Todesanzeigen jegliche Individualität, es kommt nur darauf an, dass eine Anzeige veröffentlicht wird, um Anerkennung der Leistungen und Anteilnahme am Verlust zu bekunden. Es geht also allein um „die symbolische Bestätigung einer sozialen Struktur und bestimmter sozialer Werte“ (Feilke 1996: 278), was oft, so auch hier, mit einem „Zwang zur begrenzten textuellen Expansion“ (Antos 1986: 20) verbunden ist. Ein vergleichbares Ausmaß an Vorgeformtheit findet sich nicht nur im geschäftlichen Bereich, sondern durchaus auch bei privaten bzw. familiären Todes- und Traueranzeigen; so unterscheiden sich die vier Anzeigen auf den Abbildungen 4–7 aus einem Zeitraum von wenigen Wochen (Süddeutsche Zeitung vom 18.06.2016, 22.06.2016, 25.06.2016 und 22.07.2016) lediglich im typographischen
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Abb. 2: Süddeutsche Zeitung, 07.07.2016
Abb. 3: Süddeutsche Zeitung, 13.07.2016
Arrangement und in der sprachlichen Gestalt derjenigen Komponenten, die als Handlungsanweisungen für die Beisetzungsmodalitäten dienen. Es zeigt sich also, dass Standardisiertheit und sprachlich-textliche Vorgeformtheit im Umgang mit Tod und Trauer ganz wesentlich dazu beitragen, sich im öffentlichen Kommunikationsraum angemessen zu verhalten und dabei vor allem angemessen mit persönlicher Betroffenheit umzugehen: Die gesellschaftliche Erwartung, bei einem Todesfall auch emotionale Betroffenheit öffentlich zu bekunden, kann offenbar in solchen emotional extrem belastenden Situationen am sichersten mithilfe bewährter Formulierungen und Textstrukturen erfüllt werden. Die Vorgeformtheit erweist sich so als eine Art Schutzschild und Sicherheitsanker.
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Abb. 4: Süddeutsche Zeitung, 18.06.2016
Abb. 6: Süddeutsche Zeitung, 22.06.2016
Abb. 5: Süddeutsche Zeitung, 25.06.2016
Abb. 7: Süddeutsche Zeitung, 22.07.2016
Allgemeiner formuliert, besteht ein Zusammenhang zwischen der Formulierung einzelner Teilhandlungen und der Gestaltung eines Textexemplars, der Textsorte und dem usuellen Verwendungskontext. Die in der Kommunikationspraxis bei der Gestaltung von Textexemplaren, hier von Todes- und Traueranzeigen, mehrheitlich beobachtbare, aber nicht die Textsortenpraxis insgesamt prägende Vorgeformtheit schafft dabei erst den Hintergrund für die Textsortenvariation. Mit anderen Worten: Textproduzenten greifen zwar oft, aber nur unter ganz bestimmten Bedingungen auf Vorgeformtheitsstrukturen lokaler und globaler Art zurück, um Formulierungs- und Kommunikationsprobleme zu lösen. Sich im Zuge der Formulierungsarbeit und der Textproduktion an vorgeformten Strukturen (gleich welcher Komplexität) zu orientieren, heißt also, „mittels geeigneter lexikalischer Elemente [und mittels eines geeigneten makrostrukturellen Rahmens;
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St. St.] ein komplexes situatives Szenario mit konventionell festgelegter Bedeutung zu evozieren, das in der Regel mit einer üblichen Formulierung […] [und einem üblichen Textaufbau, St. St.] versehen wird […]“ (Dausendschön-Gay, Gülich & Krafft 2007: 477). Auf die damit verbundene Entlastung im Produktionsprozess und die Gewissheit, sozial akzeptiert zu handeln, kommt es den Textproduzenten gerade an.
4.4 Phraseologischer Status formelhafter Texte Obwohl die wesentliche Frage darauf abzielt, unter welchen Bedingungen und in welchem Ausmaß in der Sprachgemeinschaft formelhafte Texte als Mittel zur Bewältigung kommunikativer Aufgaben präferiert werden, ist vor dem hier behandelten Hintergrund nochmals die Frage aufzuwerfen, ob formelhafte Texte als textwertige Phraseme verstanden werden können. Die Antwort hängt natürlich vom Verständnis von „Phraseologie“ ab, aus naheliegenden Gründen dominieren in der herkömmlichen Phraseologie aber Skepsis und Zurückhaltung. Aufschlussreich ist dabei eine auf den ersten Blick nur geringfügige Veränderung im Rahmen der von Burger zugrunde gelegten „Basisklassifikation“, wie sie sich im Vergleich der ersten vier Auflagen zwischen 1998 und 2010 sowie der aktuellen fünften Auflage von 2015 zeigt, vgl. die Abbildungen 8 und 9:
Abb. 8: Burger (1998−42010), hier: (22003: 37)
Abb. 9: Burger (52015: 32)
Was wie eine Marginalie aussieht, schlägt sich noch deutlicher in einer entsprechenden textlichen Veränderung nieder: Gegenüber der Formulierung in den ersten vier Auflagen, hier zitiert nach der 2. Auflage, Phraseologismen […] der zweiten Gruppe [entsprechen] einem Satz (oder einer noch größeren Einheit). Hier kann man von satzgliedwertigen versus satzwertigen (bei größeren Einheiten allenfalls „textwertigen“) Phraseologismen sprechen. (Burger 22003: 37; Hervorhebung im Original)
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entfällt in der jüngsten Auflage das ohnehin schon durch die Klammerung bzw. das Modaladverb allenfalls eingeschränkte Zugeständnis, auch Einheiten jenseits der Satzwertigkeit als phraseologisch einzuordnen: Phraseme […] der zweiten Gruppe [entsprechen] einem Satz (oder einer noch größeren Einheit). Hier kann man von satzgliedwertigen versus satzwertigen Phrasemen sprechen. (Burger 52015: 32; Hervorhebung im Original)
Textökonomische Gründe können dafür zwar nicht ausgeschlossen werden, es drängt sich aber eher die Vermutung auf, dass als Grund hinter den Veränderungen die Auffassung steht, dass es angeraten sein könnte, textwertige Einheiten aus dem Gegenstandsbereich der Phraseologie auszuschließen. Die Suche nach Motiven für diese in der Phraseologieforschung mehrheitlich vertretene Ansicht liefert im Wesentlichen das folgende Bündel an Argumenten, die jeweils gegen den phraseologischen Charakter formelhafter Texte sprechen (jeweils durch ein exemplarisches Zitat belegt, alle Hervorhebungen von St. St.); argumentiert wird mit – der psycholinguistischen Festigkeit Sie [Sprichwörter] sind nicht im Lexikon einer Sprache als Benennungseinheiten gespeichert und werden demzufolge nicht wie lexikalische Einheiten ‚reproduziert‘, sondern wie andere Mikrotexte und Teiltexte (Gedichte und dgl.) ‚zitiert‘. (Fleischer 1997: 76)
–
den lexikographischen Beschreibungsmöglichkeiten Wenn auch ein solcher Forschungszugriff [St. St.: Formelhaftigkeit] durchaus spezifische Zusammenhänge aufdecken kann, so wird m. E. doch die gesonderte Beschreibung der Phraseologismen ‚im herkömmlichen Sinn‘ nicht überflüssig (man denke auch an die lexikographische Behandlung!). (Fleischer 1997: 259)
‒
der strukturellen Festigkeit Ebenfalls nicht zum phraseologischen Bereich gehören Wellerismen, Zusatzsprichwörter, Aphorismen und formelhafte Texte. Sie gelten entweder vom Umfang her nicht mehr als vergleichbare sprachliche Einheiten […], oder aber man kann ihren Wortlaut nicht in der gleichen Weise als festgelegt betrachten. (Lüger 1999: 51)
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in Verbindung mit der Polylexikalität, und zwar dem Überschreiten der Satzgrenze
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[…] bei Wellerismen und formelhaften Texten erscheint eine andere Zuordnung plausibel, da in diesen Fällen generell der Satzcharakter überschritten wird und somit keine vergleichbare Komplexitätsstufe mehr vorliegt. (Lüger 1999: 42)
‒
sowie dem Verweis auf die Zuständigkeit anderer linguistischer Teildisziplinen Die situationsspezifische Formelhaftigkeit lässt sich nicht nur auf die Phraseologie beziehen, sondern darüberhinaus auch auf ganze Texte anwenden: Besonders im schriftlichen Bereich gibt es eine Fülle von Text-Mustern, die in ähnlicher Weise ‚vorgefertigt‘ sind wie Phraseme. Formbriefe in der Wirtschaft oder der Verwaltung, Todesanzeigen, Danksagungen bei Todesanzeigen wären hier zu nennen. (Burger 2015: 46)
Es geht dabei nicht um ein Plädoyer für die Auffassung, formelhaften Texten phraseologischen Status zuzusprechen, sondern vielmehr darum zu verdeutlichen, dass die üblichen Argumente nicht überzeugen können: Formelhafte Texte werden nicht zitiert, sondern als Handlungsmittel in bestimmten situativen Kontexten eingesetzt und gegebenenfalls an die jeweiligen Situationsumstände angepasst. Auch andere phraseologische Einheiten bereiten bei der lexikographischen Darstellung nach wie vor Probleme oder werden gar nicht berücksichtigt, und auch viele andere, wenn nicht die meisten Phraseme sind im Wortlaut nicht wirklich festgelegt, sondern zeigen Ausprägungen von Variation und sind offen für Modifikation. Es bleibt schließlich die letztlich willkürliche Grenzziehung aufgrund des Überschreitens der Satzgrenze, die als Ausschlussargument auch mit dem Hinweis auf fehlende Zuständigkeit gekoppelt wird, wonach Phraseologie und Textlinguistik bzw. Textanalyse als sich ausschließende Bereiche aufgefasst werden; ausschlaggebend ist dabei vermutlich die wiederum psycholinguistische Überlegung, dass Texte nicht mehr oder nicht in vergleichbarer Weise wie Wortgruppen und Sätze (Wortgruppen-/Satzlexem in älteren Auffassungen) dem Lexikon zugerechnet werden können, sondern Teil der Äußerungsebene sind. Das wiederum trifft aber auch auf viele phraseologische Einheiten satz- und nicht-satzförmiger Bauweise zu (beispielsweise Aufforderungen, mit etwas aufzuhören: Ruhe/Schluss jetzt!, Jetzt ist Schluss damit!, Jetzt reicht es!, [Jetzt ist] Ende [im] Gelände! usw.). Kurzum: Wer Routineformeln unterhalb und bis zur Satzgrenze als Phraseme betrachtet – und das ist allgemeiner Konsens –, für den gibt es keinen Grund und kein triftiges Argument, textuelle Prägungen aus der Phraseologie auszuschließen (vgl. auch Dausendschön-Gay, Gülich & Krafft 2007: 470). Inwieweit ist tex-
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tuelle Vorgeformtheit also phraseologischer Natur? Die Frage erscheint mir eigentlich nachrangig zu sein. Denn ob man die textwertigen Phänomene der Phraseologie zurechnet oder nicht, hängt wie bereits erwähnt letztlich vom Phraseologieverständnis ab. Ich selbst halte die Redeweise von Vorgeformtheit oder auch Formelhaftigkeit, wenn es um Formulierungsmuster, formelhafte Texte usw. geht, für besser geeignet – die Phraseologie bzw. ihre Vertreter, die Textwertiges aus ihrem Untersuchungsgegenstand ausschließen, müssen sich aber inkonsequenter Grenzziehungen bewusst sein.
5 Rekurs auf sprachliche Vorgeformtheit und Kosten-Nutzen-Vergleich Anstelle einer Zusammenfassung oder Bilanz soll abschließend kurz die Frage angesprochen werden, mit welchem Nutzen, aber auch mit welchen Kosten Sprachteilhaber rechnen können bzw. müssen, wenn sie sich für den Rekurs auf etwas Vorgeformtes entscheiden.
5.1 Kosten Darauf, dass der Rekurs auf Vorgeformtheit auch „Kosten“ verursachen kann, ist in der bisherigen Forschung eher beiläufig hingewiesen worden. Schon Gülich (1997: 168–170) aber hat darauf aufmerksam gemacht, dass Sprachteilhaber auch beim Rückgriff auf vorgefertigte Formulierungen keineswegs gegen „Fehler“ gefeit sind (vgl. auch Stein 2010: 384–385 für Auffälligkeiten bei der Formulierungswahl in Todes- und Traueranzeigen). Fehlleistungen äußern sich darin, dass verfestigte Formulierungen – unabsichtlich, d. h. ohne einen für den Rezipienten erkennbaren Mehrwert und vermutlich auch im „Bemühen, es möglichst richtig oder besonders gut zu machen“ (Gülich 1997: 170) – u. a. unvollständig, im Wortlaut nicht stimmig oder auch kontaminiert sowie kontextunpassend verwendet werden und entsprechende Verstehensanforderungen stellen (vgl. dazu die Überlegungen von Bachmann-Stein & Stein 2005 zu Verstehensprozessen bei sprachlich devianten Texten).4 Zu beobachten ist etwa im Bereich spontaner
|| 4 Eine systematische Untersuchung von Auffälligkeiten, Schwächen und Fehlern bei der Verwendung vorgeformter Sprache erscheint sehr lohnenswert, liegt bisher aber nicht vor. Anhaltspunkte für Erklärungsmöglichkeiten finden sich in Labinskys (2016: 129–130) Überlegungen zu
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Schriftlichkeit im Alltag, dass alle Erscheinungsformen sprachlicher Vorgeformtheit gleichermaßen „anfällig“ für Formulierungsschwächen bzw. fehlerhaften Gebrauch sind; zur Illustration einige ausgewählte Internetbelege5 (in Originalschreibung): (1)
[…], aber davon geht dein Leben nicht unter.6
(2)
Ich mache mir jetzt schonmal ein paar Gedanken was ich mir für gute Vorsätze für das kommende Jahr machen könnte.7
(3)
jeder ist seines glückes selber schmied8
(4)
Ich muss einfach mal etwas Luft rauslassen und mich ausheulen.9
(5)
[…] wenn sich mir nun ein bestimmter Verdacht aufschleicht.10
(6)
[…] früher waren diese auch meines Erachtens nach alle blau.11
Es handelt sich hier um Fehler im Gebrauch sowohl satzförmiger Phraseme (davon geht die Welt nicht unter, jeder ist seines Glückes Schmied) als auch und überwiegend von Kollokationen (Vorsätze fassen, Luft ablassen, ein Verdacht drängt sich auf) und Formulierungsmustern (meines Erachtens / meiner Meinung nach). Im Umfeld von Online-Alltagsschriftlichkeit scheint es als Erklärung der Entste-
|| Kollokationsfehlern in Texten von Oberstufenschülern, insbesondere die normbezogene Beschreibung: „Wenn die Ausdrucks- und Gebrauchstypik von formelhafter Sprache verletzt wird und dies dem Leser auffällt, dann lässt sich die Leserwirkung zunächst als Irritation beschreiben, die ein Innehalten im Verlauf des Leseprozesses darstellt – man ‚stolpert‘ über eine Formulierung.“ (Labinsky 2016: 123–124) 5 Die Beispiele stammen aus einer studentischen Materialzusammenstellung für das Seminar „Formelhafte Sprache“ im Wintersemester 2017/2018 an der Universität Trier. Ich danke dafür nochmals Lutz Griese, Sara Junglas und Johanna Schäfer. 6 https://www.gutefrage.net/frage/ich-habe-versagt---wie-damit-umgehen; 13.01.2018. 7 https://www.gutefrage.net/frage/gute-vorsaetze-fuer-das-neue-jahr; 14.01.2018. 8 https://www.gutefrage.net/frage/wie-wird-man-im-leben-gluecklich-und-zufrieden; 14.01.2018. 9 https://www.gutefrage.net/frage/mein-bruder-macht-mich-total-sauer; 14.01.2018. 10 https://www.amazon.de/gp/customer-reviews/RK1JGF2LB5RCS/ref=cm_cr_arp_d_viewpnt ?ie=UTF8&ASIN=1408711400#RK1JGF2LB5RCS; 08.01.2018. 11 https://www.amazon.de/Hasbro-Spiele-15692398-Looping-Vor-schulspiel/product-reviews /B00VNYDEGO/ref=cm_cr_dp_d_hist_3?ie=UTF8&filterBy-Star=three_star&reviewerType=all_ reviews#reviews-filter-bar; 14.01.2018.
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hungsursachen plausibel, sie auf mangelnde Sorgfalt bei der Textproduktion zurückzuführen, sie lassen m. E. aber zumindest teilweise den Schluss zu, dass die Textproduzenten auch Kompetenzdefizite, d. h. nicht ausreichendes lexikalisches und stilistisches Wissen haben. Formulierungstheoretisch ausgedrückt, können in solchen Fällen Einbußen oder kann gar ein „Scheitern“ auf der Ebene der Glückens-Dimension des Textproduzentenimages die Konsequenz sein (vgl. dazu Antos 2008: 245–246). Evidenz dafür, dass in der Sprachwirklichkeit Textproduktionsleistungen (Formulierungen und Textgestaltung) in dieser Hinsicht beurteilt und zum Anlass für Qualitätszuschreibungen mittels formulierungskommentierender Ausdrücke werden, soll exemplarisch das folgende Beispiel eines Kommentars zu einer Kunden-Buchrezension bei Amazon (zu Benedict Wells’ Roman „Vom Ende der Einsamkeit“) illustrieren:12 Ganz so schablonenhaft wie diese Rezension ist der Roman nicht geschrieben Aber ungeschicktes Lob kann entlarvender (und vernichtender) sein als jede Kritik. Danke dafür!13
Vergleichbares gilt über Formulierungsauffälligkeiten hinaus auch bezogen auf die makrostrukturelle Gestaltung, die ursächlich sein kann für ein wesentlich geringeres Maß an „Ansehen“ für den Textproduzenten und an Textoriginalität, insbesondere wenn der Rekurs auf Vorgeformtheit als unangemessene Strategie für die Bewältigung einer kommunikativen Aufgabe angesehen wird.
|| 12 Es bleibt dabei allerdings offen, worauf sich der Kommentator mit dem Attribut schablonenhaft bezieht; im Umfeld von Kunden-Buchrezensionen dürfte das weniger die makrostrukturelle als vielmehr die mikrostrukturelle Ebene sein, d. h. die Art und Weise, wie der Rezensent den Inhalt referiert und sein subjektives Leseempfinden darstellt. Schaut man die Rezension im Hinblick auf formelhafte Formulierungen hin durch, fallen zwar durchaus Textorganisationssignale (Um es gleich vorweg zu sagen, Alles in Allem), auf die Beschreibung des Handlungsverlaufs bezogene Formulierungen (verlieren sich über lange Zeit ganz aus den Augen, Fragen nach dem Glück werden aufgeworfen, Die Palette der Erfahrungen ist breit gefächert, wie das Leben so spielt) und Formulierungen zur Wiedergabe der eigenen Leseeindrücke und -empfindungen, sprich: wirkungspsychologische Äußerungen ([…], sodass keine Minute Leerlauf oder Langeweile aufkommen kann, gerät man ganz in den Sog […], […] vermittelt uns der Autor einen Eindruck davon, […]) sowie typische Bewertungshandlungen ([…], den man sich nicht entgehen lassen sollte!) auf, allerdings nicht in einer für die Textsorte ungewöhnlichen oder anstößigen Dichte. 13 https://www.amazon.de/Vom-Ende-Einsamkeit-Benedict-Wells/product-reviews/32570695 88/ref=cm_cr_getr_d_paging_btm_2?ie=UTF8&filterByStar=five_star&reviewerType=all_revie ws&pageNumber=2#reviews-filter-bar; 21.02.2018.
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5.2 Nutzen Ungeachtet dessen, dass es genau genommen notwendig wäre, für eine allgemeine Bestimmung des Nutzens nach Erscheinungsformen vorgeformter Einheiten, nach Handlungsumständen und -beteiligten usw. zu differenzieren, sollen lediglich die mit dem Rückgriff auf phraseologische oder formelhafte Einheiten generell in Zusammenhang gebrachten Vorteile aufgelistet werden: Sie umfassen hauptsächlich 1. die Erleichterung der bzw. die Entlastung bei der Textproduktion und der Formulierungstätigkeit sowie der Textrezeption und der Bedeutungskonstitution, 2. die (subjektiv empfundene) Verhaltenssicherheit, vor allem wenn Vorgeformtheit als gesellschaftlich präferiertes Verfahren für die (Teil-)Textherstellung anzusehen ist (Einhaltung gesellschaftlicher, kommunikativer usw. Normen und Konventionen), 3. die Symbolisierung gruppenspezifischer oder gesamtgesellschaftlicher Zuund Zusammengehörigkeit (Schibbolethfunktion), insbesondere wenn Vorgeformtheit als Merkmal eines bestimmten sozialen Stils gilt, und 4. die Nutzung des semantischen und/oder pragmatischen Mehrwerts (im Interesse, bestimmte kommunikative, stilistische usw. Effekte wie Expressivität[ssteigerung], Verbesserung der Anschaulichkeit, Nutzung einer besonderen Bildhaftigkeit, Ausdruck von Einstellung und Bewertung usw. zu erzielen). Dabei kann der jeweilige Nutzen im konkreten Einzelfall unterschiedlich ausgeprägt sein und sich, wie man sieht, eher in kognitiver, sozialer oder sprachlichstilistischer Hinsicht niederschlagen.
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46 | Stephan Stein
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Christian Pfeiffer
Zur Identifikation modifizierter Phraseme in Texten: ein Vorschlag für die analytische Praxis Zusammenfassung: Im Zentrum des Beitrags steht die Frage, auf welcher Grundlage formal modifizierte Phraseme in großen Textkorpora zuverlässig und mit vertretbarem Aufwand identifiziert werden können. Gerade in korpusbasierten Studien zur Phraseologie einzelner Textsorten muss häufig für mehrere Tausend Phrasemvorkommen individuell entschieden werden, ob es sich um usuelle, um unabsichtlich vom Usuellen abweichende oder aber um intentional veränderte und damit modifizierte Gebrauchsweisen des jeweiligen Phrasems handelt. In den bislang vorliegenden textsortenorientierten Studien wurde diese Entscheidung allein auf lexikographische Angaben und/oder introspektive Verfahren gestützt. Im vorliegenden Beitrag soll hingegen gezeigt werden, dass ein solches Vorgehen keine adäquate Erfassung des Gegenstandsbereichs der Modifikation erlaubt. Vorgeschlagen wird stattdessen ein mehrstufiges Verfahren zur Identifikation modifizierter Phraseme, das neben lexikographischen Informationen systematisch auch Korpusdaten berücksichtigt und auf diese Weise die Bedeutung von Lexikographie und Introspektion für die Entscheidung über den Modifikationsstatus so weit als möglich zu reduzieren sucht.
1 Einleitung und Zielsetzung Phraseologische Modifikationen bildeten in den vergangenen Jahren einen wiederholt untersuchten Gegenstand der phraseologischen Forschung. Dabei lassen sich im Wesentlichen zwei Arten von Studien unterscheiden: Auf der einen Seite stehen Arbeiten, die das Phänomen der Modifikation primär aus theoretischer
|| Der vorliegende Text basiert auf einem Vortrag, den ich im August 2016 auf der Europhras-Tagung in Trier gehalten habe. Verschiedene Aspekte des Vortrags wie auch des Textes gehen auf Überlegungen zurück, die in zwei anderen Arbeiten bereits näher ausgeführt wurden (Pfeiffer 2016, 2017). Im Unterschied zu diesen liegt der Schwerpunkt des vorliegenden Beitrags jedoch auf der praktischen Vorgehensweise und den potenziellen Schwierigkeiten bei der Identifikation modifizierter Phraseme in Texten. Für wertvolle Hinweise und Anregungen danke ich den anonymen Gutachterinnen und Gutachtern der Reihe Formelhafte Sprache.
DOI 10.1515/9783110602319-003
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Perspektive betrachten und vor diesem Hintergrund insbesondere herausarbeiten, unter welchen semantischen, pragmatischen, strukturellen, kognitiven und/ oder korpusstatistischen Voraussetzungen der Gebrauch eines Phrasems als modifiziert anzusehen ist. Zu dieser ersten Gruppe gehören unter anderem die Beiträge von Dobrovol’skij (1997, 2000, 2001), Sabban (1998, 2000), Langlotz (2006), Jaki (2014) und Stumpf (2016). Auf der anderen Seite steht eine Reihe von Studien, die auf der Basis umfangreicherer, selbst zusammengestellter Korpora das Vorkommen und die Funktionalität phraseologischer Modifikationen in bestimmten Textsorten untersuchen, etwa in der Werbung (Hemmi 1994; Balsliemke 2001; Bass 2006), in parlamentarischen Reden (Elspaß 1998) oder allgemein für die Sprache der Printmedien (Ptashnyk 2009). Zu beobachten ist, dass sich solche textsortenorientierten Studien in ihren theoretischen Überlegungen zwar häufig auf Arbeiten der ersten Gruppe beziehen, die tatsächliche Entscheidung über den Modifikationsstatus einer bestimmten phraseologischen Gebrauchsweise dann jedoch in aller Regel auf einer anderen Grundlage getroffen wird. Dies ist zu einem erheblichen Teil sicherlich forschungspraktischen Restriktionen geschuldet: Die Erkenntnisse und Methoden der theoretischen Modifikationsforschung lassen sich schon deswegen nicht eins zu eins auf Arbeiten zu einzelnen Textsorten übertragen, weil in solchen Studien meist eine manuelle Bearbeitung Tausender verschiedener Phraseme geleistet werden muss. Die Analyse der einzelnen Wendungen kann daher zwangsläufig nicht die Detailtiefe theoretischer Arbeiten erreichen. Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht die Frage, auf welcher Grundlage sich formal modifizierte Phraseme dennoch auch in solchen Arbeiten möglichst zuverlässig identifizieren lassen. Eine Grundannahme des Beitrags ist dabei, dass textsortenorientierte Arbeiten von einer stärkeren Berücksichtigung der theoretisch orientierten Forschung durchaus profitieren können. In diesem Sinne bemüht sich der Beitrag um eine Art Brückenschlag zwischen den verschiedenen Herangehensweisen: Das Ziel besteht in der Entwicklung eines Verfahrens zur Identifikation modifizierter Phraseme, das einerseits so einfach handhabbar sein soll, dass es sich nicht nur für die Analyse einzelner Verwendungsweisen, sondern insbesondere auch für den Umgang mit größeren Datenmengen eignet, andererseits stärker als bislang in textsortenorientierten Arbeiten üblich auch Erkenntnisse der theoretisch orientierten Forschung aufgreift und integriert. Die folgenden Überlegungen streben in diesem Sinne stets auch nach einem Ausgleich zwischen theoretischem Ideal und realistischer Umsetzbarkeit in der Praxis textbasierten Arbeitens.
Zur Identifikation modifizierter Phraseme in Texten | 51
2 Definitorische Eigenschaften modifizierter Phraseme Bei allen Unterschieden zwischen den verschiedenen Fragestellungen und Herangehensweisen ist festzustellen, dass in der jüngeren Vergangenheit in den meisten Arbeiten zur Modifikation zumindest ein grundlegender Konsens in Bezug auf die Beschreibung des Gegenstandsbereichs zu herrschen scheint. Modifizierte Phraseme zeichnen sich hiernach durch mindestens drei Hauptmerkmale aus, nämlich 1.) Nicht-Usualität bzw. Okkasionalität der Phrasemstruktur, Phrasemsemantik und/oder -pragmatik, 2.) Intentionalität der Abweichung von einer usuellen Gebrauchsweise sowie 3.) mehr oder weniger starke Bindung der spezifischen Gebrauchsweise an einen bestimmten Text oder Kontext. Eine konzise Gegenstandsbestimmung nimmt in diesem Sinne Ptashnyk (2009: 75) vor, die Modifikationen beschreibt als „okkasionelle Transformationen der Semantik und/oder Struktur der Phraseologismen, welche von dem Sprachproduzenten mit einer bestimmten Intention für einen konkreten Text vorgenommen werden“. Was die innere Struktur des Gegenstandsbereichs angeht, erfolgt in der Literatur häufig eine Differenzierung zwischen formal und semantisch modifizierten Phrasemen (z. B. Burger 2015: 162–165) und damit einhergehend zwischen Modifikationen im engeren und im weiteren Sinne (Sabban 2007: 241): Als formale Modifikationen oder Modifikationen im engeren Sinne werden nach diesem Verständnis Gebrauchsweisen mit formseitiger Abweichung angesehen, wobei die formale Modifikation sich mehr oder weniger stark auf die Semantik der Wendung auswirken kann. Zu den Modifikationen im weiteren Sinne zählen hingegen auch formal usuelle, lediglich semantisch und/oder pragmatisch okkasionelle Gebrauchsweisen. Letztere werden im Weiteren jedoch nicht weiter berücksichtigt, stattdessen geht es nachfolgend allein um die Identifikation ausdrucksseitig modifizierter Phraseme. Die theoretische Begriffsbestimmung phraseologischer Modifikationen ist auf den ersten Blick also weitgehend konsensfähig, die definitorischen Merkmale der Okkasionalität, Kontextgebundenheit und Intentionalität finden sich – in teils unterschiedlicher Kombination und Gewichtung – in der Literatur immer wieder (z. B. Langlotz 2006: 199–205; Jaki 2014: 17; Burger 2015: 24). Bei der praktischen Arbeit mit Texten zeigt sich jedoch sehr bald, dass die bloße Ermittlung einzelner Modifikationsmerkmale noch keine verlässliche Entscheidung über den Modifikationsstatus einer bestimmten Gebrauchsweise erlaubt. So ist es gerade für Analysen zum Vorkommen modifizierter Phraseme in Texten nicht aus-
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reichend, Modifikationen als okkasionelle, intentional abweichende und kontextgebundene Formulierungen zu definieren. Erforderlich ist darüber hinaus auch eine nachvollziehbare Operationalisierung der einzelnen Kriterien, d. h. es ist festzulegen, unter welchen konkreten Bedingungen eine Gebrauchsweise als okkasionell, als intentional abweichend bzw. als kontextgebunden zu gelten hat. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, weisen die bislang vorliegenden Untersuchungen zur Modifikation in einzelnen Textsorten gerade an dieser Stelle ein Defizit auf, insofern entweder gar keine Operationalisierung der einzelnen Kriterien vorgenommen oder aber dem Aspekt der lexikographischen Kodifizierung eine zu große Bedeutung beigemessen wird. Auf die mit dem Kriterium der lexikographischen Kodifizierung verbundenen Schwierigkeiten wird im Folgenden noch ausführlicher eingegangen. An dieser Stelle soll zunächst gezeigt werden, dass ein operationalisierungsfreies Verfahren gerade in weniger eindeutigen Fällen schnell an seine Grenzen stößt, da man in diesem Fall allein auf die eigene Intuition zurückgeworfen ist. Die folgenden Textbelege geben einen Eindruck davon, welche Schwierigkeiten hieraus resultieren. Dabei ist anzumerken, dass es sich bei den zitierten Beispielen nicht um gesuchte Einzelfälle, sondern um typische Beispiele aus der analytischen Praxis handelt.1 Es stellt sich die Frage, welche der folgenden Belege modifizierte Phraseme im Sinne von okkasionellen, intentional abweichenden und kontextgebundenen Formulierungen enthalten. (1)
Ein weiterer Ansatzpunkt ist deine Lernstrategie: Kannst du hier noch etwas optimieren, zum Beispiel indem du dich einer Lerngruppe anschließt, dir einen Lernplan erstellst, Prioritäten setzt und auch mal Mut zur Lücke hast? (www.bento.de, 9.2.2017)2
(2)
Mythen zur Lücke: Seit Jahrzehnten ein Thema, noch immer nicht gelöst: Frauen verdienen weniger als Männer. Keine Partei macht diese Ungerechtigkeit zum Kern ihres Wahlkampfs. Stattdessen wird sie kleingeredet. (www.spiegel.de, 12.09.2017)
(3)
Der Euro steht unter massivem Druck, jede falsche Äußerung in Berlin oder Paris kann sich auf die Märkte auswirken. (Süddeutsche Zeitung, 22.1.2013, S. 5)
|| 1 So finden sich die zitierten Phrasemverwendungen mit Ausnahme der Internetbelege (1) und (2) in der jeweiligen Form auch im Korpus meiner Studie zur Phraseologie in kommentierenden Pressetexten (Pfeiffer 2016). 2 Markiert sind in den einzelnen Textausschnitten jeweils nur diejenigen Phraseme, die im Folgenden Gegenstand der Diskussion sind.
Zur Identifikation modifizierter Phraseme in Texten | 53
(4)
Die finnische Firma „SnowTek“ behauptet, Schnee sogar bei hochsommerlichen Temperaturen produzieren zu können. Die Probe aufs Exempel wird gleich nach Weihnachten beim Auftaktspringen für die Vierschanzentournee in Oberstdorf fällig. (Nürnberger Zeitung, 24.12.2014, S. 17)
(5)
An Romantikern, die sich das vorstellen könnten, fehlt es nicht. Wer ihnen folgen wollte, würde aber vom Regen in die Traufe geraten. (Süddeutsche Zeitung, 27.6.2011, S. 2)
(6)
Dagegen investieren die Minister kaum Geld in Unternehmen und Aktien. Nun wird kritisiert, sie gingen den Bürgern da mit schlechtem Beispiel voran. (Süddeutsche Zeitung, 18.4.2013, S. 7)
(7)
Wie immer waren unter den 50 Zugnummern viele, die tags vorher bereits in Fischbach und im Daal dabei waren. (Rhein-Zeitung, 12.2.2013, S. 19)
Mit Blick auf Beispiel (2) dürfte die Entscheidung pro Modifikation auch ohne weitere Operationalisierung der Kriterien recht eindeutig ausfallen: Intuitiv spricht hier wohl vieles dafür, die enthaltene Formulierung als okkasionelle, intentional abweichende und kontextgebundene Gebrauchsweise des zugrunde liegenden Phrasems Mut zur Lücke haben (Schemann 2011: 559) anzusehen. Umgekehrt ist die in Beleg (1) enthaltene Gebrauchsweise des gleichen Phrasems als vollkommen üblich und unauffällig anzusehen; sie ist auch nicht an einen bestimmten Kontext gebunden, sodass hier von einer usuellen Gebrauchsweise und damit nicht von einer Modifikation auszugehen ist. Das eigentliche Problem bei der Arbeit mit Korpora besteht nun aber darin, dass sich in authentischen Texten neben relativ klaren Fällen wie (1) und (2) stets auch eine mehr oder weniger große Anzahl phraseologischer Gebrauchsweisen findet, bei denen die Einstufung als usuell bzw. modifiziert deutlich weniger leichtfällt. Dies ergibt sich zwangsläufig aus der Unbestimmtheit der einzelnen definitorischen Kriterien. So ist beispielsweise auch mit Blick auf die weiteren oben zitierten Belege davon auszugehen, dass die Wendungen hinsichtlich ihrer Okkasionalität, Intentionalität und Kontextabhängigkeit intersubjektiv recht unterschiedlich eingeschätzt werden dürften. Was letztendlich als Modifikation bewertet wird, würde sich dann von Person zu Person mehr oder weniger erheblich unterscheiden – ein aus Forschungsperspektive natürlich eher unbefriedigender Befund.
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Die Entscheidung, ob eine bestimmte Phrasemverwendung im Text als modifiziert einzustufen ist, sollte folglich nicht allein auf introspektiver Basis getroffen werden, wie es in der Vergangenheit gelegentlich der Fall war.3 Vielmehr ist die Bedeutung des introspektiven Moments im Rahmen der Entscheidungsfindung so weit als möglich zu minimieren. An seiner Stelle sind geeignete empirische Indikatoren festzulegen, die einen Phrasemgebrauch als okkasionell, als kontextgebunden bzw. als intentional abweichend qualifizieren. Tatsächlich lassen sich überhaupt erst auf dieser Basis verlässliche quantitative und qualitative Aussagen zum Phänomen der Modifikation treffen. Ziel des vorliegenden Beitrags ist daher die Darlegung eines Verfahrens zur Identifikation formal modifizierter Phraseme, das zumindest so weit als möglich auf empirischen Kriterien beruht. Zu diesem Zweck werden zunächst verschiedene Möglichkeiten der Operationalisierung der einzelnen definitorischen Merkmale (Okkasionalität, Intentionalität, Kontextgebundenheit) diskutiert und im Anschluss die hier jeweils angewandten Formen der Operationalisierung dargelegt. Durch die Berücksichtigung der verschiedenen Kriterien ergibt sich ein gestuftes Verfahren, das in mehreren Schritten zu einer Entscheidung über den Status einer phraseologischen Gebrauchsweise als modifiziert oder nicht modifiziert führt. Vorab sind jedoch zwei Einschränkungen vorzunehmen: Zum einen ist einzuräumen, dass das Moment der Introspektion auch im vorliegenden Verfahren nicht gänzlich eliminiert werden kann, sondern lediglich eine weniger gewichtige Rolle spielt als bei anderen Herangehensweisen. Zum anderen erfordert eine handhabbare Operationalisierung der einzelnen Kriterien vergleichsweise scharfe Grenzziehungen, wodurch der Eindruck von binär angelegten Merkmalen und klar abgrenzbaren Kategorien entstehen kann. Dies entspricht sicherlich nicht der Realität, stattdessen haben wir es hier durchgängig mit graduellen Phänomenen zu tun. Wie der Gebrauch anderer Sprachzeichen sind auch phraseologische Verwendungsweisen im Normalfall nicht einfach usuell oder nicht-usuell, sondern mehr oder weniger usuell, sie sind nicht kontextgebunden oder nicht-kontextgebunden, sondern mehr oder weniger stark an ihren Kontext gebunden usw. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist das nachfolgend beschriebene Verfahren zweifelsohne simplifizierend und explizit als heuristisch zu verstehen.
|| 3 Vgl. unten Kapitel 3.
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3 Zur Operationalisierung der definitorischen Eigenschaften modifizierter Phraseme Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Frage, unter welchen konkreten Bedingungen eine Phrasemverwendung im Text als modifiziert zu gelten hat, bislang vor allem in eher theoretisch ausgerichteten Arbeiten behandelt wurde. In Studien zum Vorkommen und zur Funktionalität von Modifikationen in einzelnen Textsorten spielt sie traditionell hingegen eine untergeordnete Rolle. Manche dieser Arbeiten verzichten sogar vollständig auf Ausführungen zur Operationalisierung der definitorischen Kriterien. Diesem Verzicht liegt offenbar die Auffassung zugrunde, dass modifizierte Phraseme problemlos auf introspektiver Basis als solche identifizierbar seien. Besonders deutlich wird diese Grundhaltung, wenn Studien sich explizit mit modifizierten Phrasemen beschäftigen, dabei aber nicht nur auf Ausführungen zur Operationalisierung der Kriterien, sondern sogar gänzlich auf eine Erläuterung des Modifikationskonzepts verzichten (z. B. Bass 2006). Welche sprachlichen Erscheinungen als phraseologische Modifikationen zu bewerten sind, wird hier ganz offensichtlich als evident angesehen. Diese Auffassung aber ist –wie oben bereits gezeigt wurde und im Folgenden noch deutlicher herausgearbeitet werden soll – nicht haltbar. Stattdessen ist zweifelsfrei Sabban (2000: 213) zuzustimmen, wenn sie mit Blick auf phraseologische Modifikationen feststellt: „Beschreibung und Analyse eines Phänomens hängen ganz wesentlich von der Art und Weise ab, in der der zu beschreibende Gegenstand konzipiert wird.“ Es ist daher auf jeden Fall positiv zu bewerten, wenn in anderen Untersuchungen (z. B. Hemmi 1994; Balsliemke 2001; Ptashnyk 2009) durchaus dargelegt wird, unter welchen Voraussetzungen Phrasemverwendungen als modifiziert eingestuft werden. Problematisch bleibt aus meiner Sicht jedoch auch dann die konkrete Form der Kriterienoperationalisierung. Im Folgenden wird daher zunächst kurz skizziert, welche Schwierigkeiten für die verschiedenen definitorischen Merkmale mit der jeweiligen Art der Operationalisierung verbunden sind. Im Anschluss daran steht jeweils ein Vorschlag, wie die einzelnen Kriterien im Rahmen der praktischen Analyse von Texten alternativ erfasst werden können.
3.1 Okkasionalität Auf das Modifikationskriterium der Okkasionalität bin ich an anderer Stelle bereits ausführlich eingegangen (vgl. Pfeiffer 2017). Am Beispiel der lexikalischen
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Substitution wurden dort nicht zuletzt auch Möglichkeiten der Operationalisierung des Merkmals in der analytischen Praxis diskutiert. Die wichtigsten Aspekte werden im Weiteren noch einmal rekapituliert, für eine detailliertere Darstellung sei auf die entsprechenden Ausführungen im angegebenen Beitrag verwiesen. Inhaltlich gibt es im Vergleich zu den hier angestellten Überlegungen zwei zentrale Unterschiede: Zum einen zielt der vorliegende Beitrag, wie bereits erwähnt, stärker auf die einzelnen Verfahrensschritte und mögliche Schwierigkeiten bei der Identifikation modifizierter Phraseme, zum anderen geht es nicht um die exemplarische Auseinandersetzung mit einem einzelnen Modifikationstyp, sondern es werden verschiedene Formen der formalen Modifikation berücksichtigt. Im Folgenden beschränke ich mich also nicht auf Substitutionen, sondern beziehe mit Expansionen, Reduktionen und Permutationen auch die weiteren Grundtypen der formalen Phrasemmodifikation in die Überlegungen mit ein.4 Okkasionalität wird für gewöhnlich verstanden als Nicht-Usualität, die Beschreibung des Okkasionellen erfolgt daher vor allem durch die Negation von Usualitätsmerkmalen. In diesem Sinne lassen sich all jene sprachlichen Bildungen als okkasionell ansehen, die „in einem bestimmten ko(n)textuellen Zusammenhang ad hoc geprägt werden und nicht sprachüblich sind, d. h. von der Sprachgemeinschaft – noch – nicht akzeptiert“ (Christofidou 1994: 16) werden. Dieses verbreitete Verständnis von Okkasionalität hat in der phraseologischen Forschung dazu geführt, dass Modifikationen als Phänomen des Okkasionellen meist in expliziter oder impliziter Abgrenzung zum Bereich der usuellen Variation definiert werden. Zu den Varianten rechnet man die „usuellen (konventionellen), lexikographisch zu kodifizierenden und als normgerecht zu beurteilenden morphosyntaktischen [...] oder lexikalischen [...] Alternanten“ (Fleischer 2001: 135) eines Phrasems, als Modifikationen gelten in Abgrenzung hiervon dann diejenigen „Abwandlungen eines Phraseologismus, die nicht mehr in den Rahmen von ‚Varianten‘ fallen“ (Burger, Buhofer & Sialm 1982: 69). Eine solche Definition ex negativo ist grundsätzlich nicht zu kritisieren, setzt jedoch voraus, dass Varianten verlässlich als solche identifiziert werden können. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, ist dies jedoch nicht immer der Fall. Stattdessen hat die Konzeptualisierung von Modifikationen als Nicht-Varianten dazu geführt, dass || 4 Die Unterscheidung der vier basalen Modifikationstypen Expansion, Reduktion, Substitution und Permutation lässt sich auf die ‚Änderungskategorien‘ der antiken Rhetorik mit ihren Grundoperationen der adiectio (Hinzufügung), detractio (Auslassung), immutatio (Ersetzung) und transmutatio (Umstellung) zurückführen (vgl. Lausberg 1987: 79–80). Sie findet sich in der Literatur an verschiedenen Stellen (z. B. Fiedler 2007: 95; Jaki 2014: 20–27; Pfeiffer 2016: 275–285), wird für die Unterscheidung von Modifikationen gelegentlich jedoch auch als unzureichend kritisiert (Sabban 2000: 210).
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der Gegenstandsbereich der Modifikation in Arbeiten zu einzelnen Textsorten in einem Maße erweitert wurde, das vor dem Hintergrund der theoretischen Begriffsbestimmung kaum mehr angemessen erscheint. Hauptursache hierfür ist die in der einschlägigen Forschung verbreitete Identifikation von lexikographischer Kodifizierung, Usualität und Variation einerseits bzw. fehlender lexikographischer Kodifizierung, Okkasionalität und Modifikation andererseits. Ihren mutmaßlichen Ursprung haben diese Gleichsetzungen zum einen in verschiedenen Begriffsbestimmungen phraseologischer Varianten, in denen der Bereich der Variation als prinzipiell lexikographisch kodifizierbar angesehen wird (u. a. Burger, Buhofer & Sialm 1982: 67, Fleischer 1997: 206 und 2001: 135, Elspaß 1998: 152–153, Ptashnyk 2009: 64–65), zum anderen in der angesprochenen Konzeptualisierung von Modifikationen als Nicht-Varianten. Interessant zu sehen ist allerdings, dass das Kriterium der (potenziellen) Kodifizierbarkeit in der analytischen Praxis im Grunde gar keine Rolle spielt, sondern ersetzt wird durch das Kriterium der faktischen lexikographischen Kodifizierung. Die Unterscheidung zwischen usuellen und okkasionellen Gebrauchsweisen phraseologischer Wendungen wird dann folgendermaßen vorgenommen: Forschungspraktisch kann man als usuell die Phraseologismen mit einem solchen Komponentenbestand, einer solchen syntaktischen Struktur und einer solchen Gesamtbedeutung betrachten, wie sie in Wörterbüchern fixiert sind. Als ‚okkasionell‘ sind entsprechend die Gebrauchsweisen einzustufen, die inhaltlich oder formal von dieser lexikographisch fixierten Form abweichen. (Ptashnyk 2009: 65)
Sofern in anderen korpusbasierten Studien zur Modifikation überhaupt auf Fragen der Operationalisierung eingegangen wird, erfolgt die Differenzierung offenbar nach dem gleichen Prinzip (vgl. Hemmi 1994: 45; Balsliemke 2001: 68; Omazić 2007: 63). Okkasionell ist hiernach also alles, was nicht im Wörterbuch steht. Dieser Ansatz jedoch greift aus meiner Sicht in mehrerlei Hinsicht zu kurz. Problematisch ist im Grunde bereits die vorgeschaltete Annahme, wonach lexikographisch kodifizierte Formen von vornherein als usuell angesehen werden können. Zweifel an dieser Auffassung ergeben sich insbesondere vor dem Hintergrund der häufig mangelnden Aktualität der einschlägigen phraseologischen und allgemeinsprachlichen Wörterbücher, überdies sind gerade phraseologische und parömiologische Nachschlagewerke in vielen Fällen eher anthologisch ausgerichtet. Dies ist eine mögliche Erklärung dafür, dass auch lexikografisch kodifizierte Phrasemvarianten aus korpuslinguistischer Perspektive wenig relevant sein können (vgl. Stumpf 2015: 17). Für den hier verfolgten Zweck, die Identifika-
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tion modifizierter Phraseme in Texten, erscheint die Gleichsetzung von lexikographischer Kodifizierung und Usualität trotz dieser Vorbehalte zumindest heuristisch akzeptabel: Zum einen ist es als äußerst unwahrscheinlich anzusehen, dass eine gezielte Abweichung von einer usuellen Gebrauchsweise ausgerechnet zu einer lexikographisch kodifizierten, dabei aber wenig gebräuchlichen Formulierung führt. Zum anderen würde ein pauschales Infragestellen der Usualität kodifizierter Formen bedeuten, dass lexikographische Informationen für die Entscheidung über die Usualität bzw. Okkasionalität einer Gebrauchsweise überhaupt nicht genutzt werden dürften. So berechtigt entsprechende Zweifel im Einzelfall sind und so unabdingbar generell die Entkopplung von lexikographischer Kodifizierung und Usualität aus theoretischer Sicht ist, würde ein vollständiger Verzicht auf Wörterbücher bei der Arbeit mit größeren Textmengen einen kaum noch zu leistenden Mehraufwand verursachen, da in diesem Fall über die Usualität jeder einzelnen Gebrauchsweise individuell entschieden werden müsste. Trotz der nicht unproblematischen Reduktion werden lexikographisch kodifizierte Formen daher im Folgenden als usuell angesehen. Mit Blick auf die Identifikation modifizierter Phraseme in Texten bedeutet dies im Umkehrschluss, dass Modifikationen auf keinen Fall lexikographisch erfasst sein dürfen. Das Merkmal der fehlenden Kodifizierung stellt somit auch nach der hier vertretenen Auffassung ein erstes Indiz für eine okkasionelle Gebrauchsweise dar. Im Unterschied zu den oben erwähnten Arbeiten gilt die fehlende Kodifizierung jedoch nicht als hinreichendes Kriterium okkasionellen Phrasemgebrauchs. Vielmehr haben wir es hier mit einem einseitigen Bedingungsverhältnis zu tun: Zwar ist jede okkasionelle Gebrauchsweise nicht kodifiziert, gleichzeitig aber ist nicht jede nicht kodifizierte Gebrauchsweise zwangsläufig als okkasionell (und schon gar nicht zwangsläufig als modifiziert) anzusehen. Lexikographisch nicht kodifizierte Formen können daher zunächst lediglich als potenziell okkasionell gelten, ihre tatsächliche Okkasionalität ist im Anschluss auf einer anderen Grundlage zu überprüfen. Was die Operationalisierung des Okkasionalitätskriteriums angeht, ist demnach in einem ersten Schritt festzuhalten:
Operationalisierung – Okkasionalität (Schritt 1) Eine phraseologische Gebrauchsweise gilt als potenziell okkasionell, wenn sie lexikographisch nicht kodifiziert ist.
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Ein verlässlicher wechselseitiger Zusammenhang zwischen fehlender Kodifizierung und Okkasionalität wäre nur unter der Voraussetzung einer exhaustiven Erfassung sämtlicher usueller Gebrauchsweisen gegeben. Dabei aber handelt es sich um ein theoretisches Ideal, das in der lexikographischen Gegenwart nicht verwirklicht ist und nicht zuletzt aufgrund kontinuierlicher Veränderungsprozesse im Bereich des Usuellen wohl auch niemals verwirklicht werden kann (vgl. Barz 1992: 26). Die Gleichsetzung von fehlender lexikographischer Kodifizierung und okkasionellem Phrasemgebrauch vermag somit schon aus theoretischer Perspektive nicht zu überzeugen. Auf diesen Umstand wurde in der Forschung verschiedentlich aufmerksam gemacht (Barz 1995: 346; Sabban 2000: 204–205; Dobrovol’skij 2000: 223), die entsprechenden Hinweise fanden jedoch keinen nennenswerten Widerhall in textsortenorientierten Studien. Stattdessen basiert die Unterscheidung zwischen usuellem und okkasionellem Phrasemgebrauch in den meisten dieser Arbeiten auf einer wortwörtlichen Analyse von Wörterbucheinträgen: Alle Formen, die in den konsultierten Lexika nicht verzeichnet sind, gelten hiernach prinzipiell als okkasionell und – sofern sie nicht zur regulären Flexion des Phrasems gehören oder als fehlerhaft bewertet werden – als modifiziert. Zu welchen Ergebnissen dieses Vorgehen in der analytischen Praxis führt, soll im Folgenden anhand der oben zitierten Textbelege illustriert werden. Betrachtet man die Kodifizierung der verschiedenen Gebrauchsweisen in einschlägigen phraseologischen und allgemeinsprachlichen Nachschlagewerken (berücksichtigt wurden hier Duden 11 [=D11], Duden Universalwörterbuch [=DUW] und Schemann 2011), ergibt sich der folgende Befund: Das Phrasem, das den Beispielen (1) und (2) zugrunde liegt, ist ausschließlich in Schemann (2011) verzeichnet. Die dort genannte Form Mut zur Lücke haben entspricht der Verwendung in (1). Die in Beleg (2) gebrauchte Formulierung Mythen zur Lücke wird hingegen nicht aufgeführt, sodass hier von einer okkasionellen Gebrauchsweise auszugehen ist. Für die Wendung in (3) ist in sämtlichen konsultierten Nachschlagewerken lediglich die Form unter Druck stehen erfasst, nicht aber eine Variante mit dem attributiven Adjektiv massiv. Umgekehrt stellt sich die Situation für das Phrasem in Beleg (4) dar, für das die drei Nachschlagewerke unisono die Form die Probe aufs Exempel machen verzeichnen. Das Verb machen ist hiernach obligatorischer Bestandteil des Phrasems, die Form ohne Verb wäre folglich als okkasionell zu bewerten. Eine Abweichung in Bezug auf den Verbalbestandteil liegt auch in (5) vor: Kodifiziert sind hier lediglich die Varianten vom/aus dem Regen in die Traufe kommen, nicht aber die im Kontext vorliegende Form mit geraten – auch diese wäre somit als okkasionell anzusehen. Für die Wendung in (6) findet sich übereinstimmend in allen drei Lexika allein
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die Form mit gutem Beispiel vorangehen, die hier vorliegende Gebrauchsweise mit schlecht ist nicht kodifiziert. Das Phrasem in (7) wiederum ist lediglich in DUW und Schemann (2011) verzeichnet, dort jeweils mit den Varianten tags zuvor und tags davor.5 Auch hier also ist die kontextuell vorliegende Form tags vorher nicht belegt, sodass erneut eine okkasionelle Gebrauchsweise anzunehmen wäre. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass mit Ausnahme von Beispiel (1) keine der in den Textbelegen enthaltenen phraseologischen Gebrauchsweisen lexikographisch erfasst ist. Gemäß der Gleichsetzung von fehlender Kodifizierung und Okkasionalität ergäbe sich somit keine Differenz in Bezug auf die Belege (2) bis (7), diese wären unterschiedslos als okkasionell anzusehen. Vor diesem Hintergrund und angesichts der oben beschriebenen ex-negativo-Konzeption von Modifikationen als Nicht-Varianten ist davon auszugehen, dass die Beispiele (2) bis (7) in der textsortenorientierten Forschung bislang allesamt als modifiziert eingestuft worden wären –zumal es wohl in keinem der Fälle Anlass für die Annahme eines fehlerhaften Gebrauchs gibt.6 Beispiel (2) würde sogar als doppelt modifiziert bewertet (Substitution Mut durch Mythen und Reduktion von haben), Beleg (3) als Expansion durch massiven, (4) als Reduktion von machen und die Belege (5) bis (7) wiederum als Substitutionen im Vergleich zu einer usuellen Phrasemverwendung. Es stellt sich jedoch die Frage nach der Angemessenheit solcher Einstufungen. Haben wir es tatsächlich immer mit dem gleichen Phänomen zu tun? Gibt es nicht doch einen gewissen Unterschied zwischen den vermeintlichen Substitutionen in den Belegen (2), (5), (6) und (7)? Und ist es mit Blick auf Beleg (2) wirklich angemessen, eine doppelte Modifikation anzunehmen und damit den beiden vorliegenden Abweichungen von der kodifizierten Norm (Substitution Mut durch Mythen und Reduktion von haben) den prinzipiell gleichen Status zuzuschreiben? Vor dem Hintergrund der einleitend zitierten Modifikationsdefinition jedenfalls erscheint die Gleichbehandlung der einzelnen Fälle nicht wirklich plausibel. Daher soll im Folgenden dafür argumentiert werden, dass es sich in der Mehrheit der zitierten Fälle nicht um Modifikationen im Sinne von okkasionellen, intentional abweichenden und kontextgebundenen Formulierungen handelt, sondern || 5 Der Eintrag in Schemann (2011) lautet tags darauf/zuvor/davor. Hierdurch wird der Eindruck erweckt, dass es sich auch bei tags darauf um eine Variante des gleichen Phrasems handelt. In DUW hingegen werden die Formen tags zuvor/davor und tags darauf als separate Wendungen aufgeführt, was aufgrund der semantischen Differenz sicherlich angemessener ist. Die Wendung tags darauf wird daher auch im Folgenden als eigenständig angesehen und nicht weiter als Variante berücksichtigt. 6 Eine Ausnahme bildet hier womöglich die Gebrauchsweise in Beleg (7), vgl. hierzu jedoch unten Kapitel 3.3.
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lediglich um Gebrauchsweisen, die in dieser Form mehr oder weniger zufällig nicht kodifiziert sind. Das Merkmal der lexikographischen Kodifizierung erwiese sich damit sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht als nicht tragfähig für eine Unterscheidung usuellen und okkasionell-modifizierten Phrasemgebrauchs. Das in diesem Beitrag vorgeschlagene Verfahren führt zu anderen Resultaten in Bezug auf den Modifikationsstatus einzelner phraseologischer Gebrauchsweisen. Im konkreten Fall etwa enthalten die oben zitierten Textbelege nach dem hier skizzierten Verständnis nicht sechs, sondern lediglich zwei Wendungen, die als modifiziert einzustufen sind. Ausschlaggebend für die deutlich geringere Anzahl als modifiziert eingestufter Phraseme ist dabei insbesondere eine abweichende Operationalisierung des Kriteriums der Okkasionalität. Lexikographische Angaben spielen im hier angewandten Verfahren eine untergeordnete Rolle und sind nur insoweit relevant, als modifizierte Gebrauchsweisen nicht in Wörterbüchern erfasst sein dürfen. Die eigentliche Entscheidung über die Usualität bzw. Okkasionalität nicht-kodifizierter Gebrauchsweisen aber muss auf einer anderen Basis getroffen werden. Was die Möglichkeiten einer wörterbuchunabhängigen Differenzierung usueller und okkasioneller Gebrauchsweisen angeht, lassen sich grundsätzlich zwei Herangehensweisen unterscheiden. Die erste Möglichkeit (Dobrovol’skij 2000; Langlotz 2006: 185–201) setzt die Ermittlung generalisierbarer Usualitätskriterien voraus, wobei für die verschiedenen potenziell modifizierenden Mechanismen (Expansion, Substitution, Reduktion und Permutation, ggf. mit ihren jeweiligen Unterarten) im Umgang mit Phrasemen unterschiedliche Kriterien zu ermitteln sind. Zu untersuchen ist hier also zunächst, unter welchen Voraussetzungen die genannten Verfahren angewandt werden können, ohne die Grenzen des Usuellen zu verletzen. Der Abgleich der im Kontext vorliegenden Gebrauchsweise mit den ermittelten Regularitäten ermöglicht im Anschluss eine Bestimmung des Status der jeweiligen Formulierung als usuell oder okkasionell.7 Die zweite Möglichkeit basiert auf der Analyse sprachlicher Massendaten und besteht darin, den Status einer Formulierung von ihrer Vorkommensfrequenz in großen Korpora abhängig
|| 7 Zu berücksichtigen ist, dass der von Dobrovol’skij (2000, 2001) vertretene Usualitätsbegriff damit nicht vollständig deckungsgleich zu sein scheint mit dem diesem Beitrag zugrunde liegenden Begriffsverständnis. Usuell bedeutet bei Dobrovol’skij nicht unbedingt ‚sprachüblich‘ oder ‚gebräuchlich‘, sondern bezieht sich auf die Möglichkeit zur unauffälligen Anwendung eines bestimmten Mechanismus. Da aber auch dieses Verständnis von Usualität gerade auf eine Abgrenzung von Modifikationen als markierten Gebrauchsweisen zielt, kann dieser Unterschied für den vorliegenden Beitrag unberücksichtigt bleiben.
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zu machen (vgl. Omazić 2007: 63). Im hier angewandten Verfahren wird von beiden Möglichkeiten Gebrauch gemacht. Vorteilhaft ist mit Blick auf die erste Variante, dass für einzelne Mechanismen im Umgang mit Phrasemen bereits herausgearbeitet wurde, unter welchen Voraussetzungen diese im Rahmen des Usuellen implementiert werden können (Fleischer 1997: 49–50, Dobrovol’skij 2000, 2001). Von besonderem Interesse für die vorliegende Arbeit sind dabei die Ausführungen Dobrovol’skijs (2000: 224– 227) zu den Bedingungen der Erweiterung von Idiomen durch adjektivische Attribute. Die Usualität adjektivischer Expansionen hängt hiernach von innersprachlichen, namentlich von semantischen Kriterien ab: Die Erweiterung durch ein attributives Adjektiv ist im Rahmen des Usuellen möglich, wenn 1.) die Wendung eine im Sinne der Teilbarkeitstheorie (vgl. Dobrovol’skij 1988) semantisch autonome Nominalphrase enthält, in die das Adjektiv als Adjunkt integriert wird, sowie 2.) das erweiternde Adjektiv sowohl mit der im Kontext vorliegenden phraseologischen Bedeutung der Wendung als auch mit der durch die wörtliche Bedeutung vermittelten Bildebene semantisch kompatibel ist. Von einer okkasionellen Gebrauchsweise ist im Umkehrschluss dann auszugehen, wenn mindestens eine der beiden Restriktionen verletzt wird. Vor diesem Hintergrund ist die Formulierung unter massivem Druck stehen in (3) zweifelsfrei als usuell zu betrachten: Die Erweiterung betrifft zum einen die semantisch autonome Konstituente Druck, zum anderen ist das attributiv gebrauchte Adjektiv sowohl mit der phraseologischen Bedeutung der Wendung (‚bedrängt werden‘ → ‚massiv bedrängt werden‘) als auch mit der wörtlichen Bedeutung des attribuierten Substantivs (massiver Druck) kompatibel. Dabei spielt es keine Rolle, dass die erweiterte Form lexikographisch nicht kodifiziert ist. Von einer okkasionellen Erweiterung wäre demgegenüber etwa im folgenden Textbeleg auszugehen: (8)
Die Steueraffäre von Bayern-Präsident Uli Hoeness wirbelt in Deutschland […] viel politischen Staub auf. (St. Galler Tagblatt, 25.4.2013, S. 6)
Bei der hier vorliegenden Expansion ist lediglich die erste, nicht aber die zweite Usualitätsbedingung erfüllt: Zwar ist das zugrunde liegende Phrasem Staub aufwirbeln (‚Unruhe schaffen, Aufregung bringen‘, D11) semantisch teilbar, auch kann der Komponente Staub die autonome Bedeutung ‚Unruhe, Aufregung‘ zugeordnet werden. Verletzt wird jedoch die zweite Bedingung, insofern das Adjektiv mit der wörtlichen Bedeutung des attribuierten Substantivs nicht kompatibel
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ist (*politischer Staub) und seine Verwendung gegen die bildliche Konsistenz verstößt. Die Erweiterung wäre hier somit als okkasionell (und letztlich auch als Modifikation) anzusehen. Die für die adjektivische Erweiterung von Idiomen ermittelten Usualitätskriterien sollten sich grundsätzlich auch auf semantisch nicht bzw. nur schwach idiomatische Phraseme sowie auf andere Formen der attributiven Expansion anwenden lassen. Bei nicht-idiomatischen Phrasemen ist freilich zu berücksichtigen, dass die Wahrscheinlichkeit einer okkasionellen Formulierung hier deutlich geringer ist, da weder die Bedingung der semantischen Autonomie der attribuierten Konstituente noch die der semantischen Kompatibilität mit der Bedeutung des Gesamtausdrucks überhaupt verletzt werden können. Okkasionelle Formulierungen ergeben sich hiermit allein aus Verstößen gegen die semantische Kompatibilität zwischen erweiternden und erweiterten Lexemen. Die Möglichkeit einer Ausdehnung auf andere Formen der attributiven Erweiterung ergibt sich aus der Art der Kriterien selbst. Die postulierten Usualitätsbedingungen sind nicht formal-kategorieller, sondern semantischer Natur und betreffen entweder ausschließlich die attribuierte Konstituente (semantische Autonomie) oder aber das Verhältnis zwischen attribuierter und attribuierender Konstituente (semantische Kompatibilität), in jedem Fall aber nicht direkt das Attribut. Es kann daher angenommen werden, dass die genannten Restriktionen das Verfahren der attributiven Erweiterung insgesamt steuern und nicht als spezifisch für eine einzelne grammatikalische Subkategorie der Expansion anzusehen sind. Mit Blick auf den Modifikationstyp der attributiven Erweiterung wird die Operationalisierung des Okkasionalitätskriteriums daher im Folgenden gemäß den skizzierten Usualitätskriterien vorgenommen. Es ist festzuhalten:
Operationalisierung – Okkasionalität (Schritt 2a) Eine potenziell okkasionelle phraseologische Gebrauchsweise gilt als tatsächlich okkasionell, wenn sie die für den jeweiligen Modifikationsmechanismus geltenden Usualitätskriterien verletzt.
Im Sinne einer einheitlichen Kriterienoperationalisierung wäre es wünschenswert, wenn auch für die weiteren potenziell modifikationsauslösenden Mechanismen entsprechende Usualitätsbedingungen formuliert werden könnten. Nach meiner Kenntnis liegen für Substitutionen, Reduktionen und Permutationen aktuell jedoch keine einschlägigen Studien vor. Gleichzeitig ginge die Ermittlung der jeweiligen Restriktionen als theoretisches Problem deutlich über die Fragestellung des vorliegenden Beitrags hinaus. Erschwerend kommt hinzu, dass sich
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die Formulierung geeigneter Bedingungen für die weiteren Mechanismen erheblich problematischer darstellen könnte. Insbesondere für die ersetzenden Mechanismen der Substitution und Permutation dürfte es angesichts der verschiedentlich nachgewiesenen Heterogenität möglicher Substitutionsbeziehungen (vgl. u. a. Hemmi 1994: 127–135; Sabban 1998: 165–347; Jaki 2014: 21) schwierig sein, zuverlässige Restriktionen zu ermitteln. Bei Reduktionen stellt die Unterscheidung zentraler und peripherer Phrasemkonstituenten (vgl. Burger, Buhofer & Sialm 1982: 68) eine denkbare Entscheidungsgrundlage dar. Jedoch handelt es sich auch hier um einen graduellen Unterschied, sodass es schwierig sein dürfte, hinreichend trennscharf zwischen zentralen und peripheren Konstituenten zu differenzieren. Zumindest bis zum Vorliegen geeigneter Differenzierungskriterien muss die Entscheidung über die Usualität bzw. Okkasionalität der Formulierung bei Substitutionen, Permutationen und Reduktionen folglich auf einer anderen Grundlage getroffen werden. Als Heuristik habe ich hierfür einen frequenzbasierten Ansatz vorgeschlagen, der auf der Vorkommenshäufigkeit der einschlägigen Belege im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) basiert (vgl. Pfeiffer 2017: 19–20): Eine usuelle Gebrauchsweise wird hiernach dann angenommen, wenn der Anteil der im Kontext vorliegenden, nicht kodifizierten Formulierung im Verhältnis zum Auftreten der für das betreffende Phrasem kodifizierten Form(en) mindestens 5% beträgt. Bei einem Anteil von weniger als 5% ist hingegen von einer okkasionellen Verwendung des Phrasems auszugehen. Eine ausführlichere theoretische Begründung für diese Form der Operationalisierung, insbesondere zum angenommenen Zusammenhang von Frequenz und Usualität sowie zur Festlegung der Usualitätsgrenze auf gerade 5% findet sich in Pfeiffer (2017: 19–20). An dieser Stelle sei lediglich festgehalten, dass erstens in Bezug auf das Verhältnis von Frequenz und Usualität zumindest „plausibel angenommen werden [kann], dass die Usualität mit Frequenz zu- und abnimmt“ (Bürki 2012: 269), zweitens der Schwellenwert von 5% darauf abzielt, einerseits Erscheinungsformen einer asymmetrischen, graduellen Variation (vgl. Klein 2003: 18) zu berücksichtigen, andererseits dem Umstand Rechnung zu tragen, dass nicht jede im Korpus mehrfach nachweisbare Formulierung automatisch als usuell zu betrachten ist. Aus ähnlichen Erwägungen heraus wird der Grenzwert von 5% auch in der variationsbezogenen Grammatikographie in vergleichbarer Funktion eingesetzt (vgl. Dürscheid & Elspaß 2015: 574). Dabei soll gar nicht bestritten werden, dass mit dieser Form der Operationalisierung eine Reihe von Schwierigkeiten verbunden ist. Wenig befriedigend erscheint insbesondere der Umstand, dass ein starrer Schwellenwert eine klare Abgrenzbarkeit von usuellen und okkasionellen Gebrauchsweisen suggeriert, die
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dem graduellen Charakter von Usualität nicht gerecht werden kann. Hinzu kommt, dass die Festsetzung der Usualitätsgrenze auf 5% nicht auf einer empirischen Grundlage beruht und infolgedessen zu Recht als relativ willkürlich kritisiert werden kann. Beides zusammen kann in der Praxis in einzelnen Fällen durchaus zu zweifelhaften Kategorisierungen führen, insbesondere wenn die errechneten Frequenzwerte relativ nahe an der festgelegten Usualitätsgrenze liegen. Trotz dieser Einschränkungen aber ist davon auszugehen, dass der vorgeschlagene Ansatz ein differenzierteres Urteil über die Okkasionalität einer bestimmten Gebrauchsweise erlaubt als die alleinige Bezugnahme auf das Merkmal der lexikographischen Kodifizierung – zumal dieses ja ebenfalls binär angelegt ist. In Bezug auf die Operationalisierung des Okkasionalitätskriteriums wird somit festgehalten:
Operationalisierung – Okkasionalität (Schritt 2b) Eine potenziell okkasionelle phraseologische Gebrauchsweise gilt als tatsächlich okkasionell, wenn der Anteil der nicht kodifizierten Gebrauchsweise im Verhältnis zum Auftreten der für das jeweilige Phrasem lexikographisch kodifizierten Form(en) im Referenzkorpus kleiner ist als 5%.
Was bedeutet diese Form der Operationalisierung für die noch ausstehenden Textbelege, die eine nicht kodifizierte Gebrauchsweise enthalten? Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden die einzelnen Belege im Folgenden zunächst noch einmal wiedergegeben, im Anschluss erfolgt dann jeweils die Berechnung der Vorkommensverteilung der einschlägigen Formen im DeReKo. Für Beleg (2) sind zwei Teilschritte erforderlich, da hier zwei Abweichungen von der lexikographischen Norm vorliegen. Berechnet wird zunächst in a) die Verteilung der Formen mit und ohne das Verb haben, sodann in b) das Verhältnis zwischen den Formen mit Mut bzw. Mythen: (2)
Mythen zur Lücke: Seit Jahrzehnten ein Thema, noch immer nicht gelöst: Frauen verdienen weniger als Männer. Keine Partei macht diese Ungerechtigkeit zum Kern ihres Wahlkampfs. Stattdessen wird sie kleingeredet. (www.spiegel.de, 12.9.2017)
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a) Usualität/Okkasionalität des Weglassens der Verbalkomponente8
Kodifizierte Form
Anzahl Belege
Form im Text
Anzahl Belege
Mut zur Lücke haben
154
Mut zur Lücke ø
228
Vorkommensanteil der Form im Text: 228/(154+228) = 59,7% → USUELL
b) Usualität/Okkasionalität der Ersetzung des Substantivs9 Kodifizierte Form
Anzahl Belege
Form im Text
Anzahl Belege
Mut zur Lücke haben
154
Mythen zur Lücke
0
Vorkommensanteil der Form im Text: 0/154 = 0% → OKKASIONELL (4)
Die finnische Firma „SnowTek“ behauptet, Schnee sogar bei hochsommerlichen Temperaturen produzieren zu können. Die Probe aufs Exempel wird gleich nach Weihnachten beim Auftaktspringen für die Vierschanzentournee in Oberstdorf fällig. (Nürnberger Zeitung, 24.12.2014, S. 17)10
|| 8 Form der Suchanfrage vom 13. September 2017 (Teilkorpus W-öffentlich): „((Mut /+w1 zur) /+w1 Lücke) /s0 &haben“ vs. „((Mut /+w1 zur) /+w1 Lücke) nicht &haben“. An dieser Stelle sollen zwei Erläuterungen zur Suchanfrage gegeben werden: Zum einen geht es hier zunächst allein um die Frage der Weglassbarkeit des Verbs, sodass auch die Anfrage für die verblose Formulierung mit dem kodifizierten Substantiv Mut durchzuführen ist. Zum anderen ist anzumerken, dass die Trefferzahlen für die konkurrierenden Formen im vorliegenden Fall manuell nachgezählt und angepasst werden mussten. Grund hierfür ist die Unmöglichkeit, mittels Suchanfrage zwischen der Verwendung von haben als Vollverb und Auxiliar zu differenzieren. Das DeReKo weist für die Suchanfrage mit dem Verb haben („((Mut /+w1 zur) /+w1 Lücke) /s0 &haben“) insgesamt 264 Treffer aus, in 110 dieser Belege jedoch tritt haben als Hilfsverb auf, während das Vollverb des Satzes ein anderes ist. Die entsprechenden Treffer sind daher nicht den Belegen mit, sondern den Belegen ohne haben zuzurechnen. Dies wurde im vorliegenden Fall entsprechend gehandhabt. Das skizzierte Problem tritt in allen Fällen auf, in denen haben oder auch sein und werden gemäß lexikographischer Kodifizierung als konstitutiver Bestandteil eines Phrasems anzusehen sind, und ist bis auf Weiteres wohl nicht anders zu lösen als durch eine manuelle Korrektur. 9 Form der Suchanfrage vom 13. September 2017 (Teilkorpus W-öffentlich): „((Mut /+w1 zur) /+w1 Lücke) /s0 &haben“ vs. „((Mythen /+w1 zur) /+w1 Lücke)“. 10 Form der Suchanfrage vom 9. September 2017 (Teilkorpus W-öffentlich): „(((die /+w1 Probe) /+w1 aufs) /+w1 Exempel) /s0 &machen“ vs. „(((die /+w1 Probe) /+w1 aufs) /+w1 Exempel) nicht &machen“.
Zur Identifikation modifizierter Phraseme in Texten | 67
Kodifizierte Form
Anzahl Belege
Form im Text
Anzahl Belege
die Probe aufs Exempel machen
2086
die Probe aufs Exempel 428 ø
Vorkommensanteil der Form im Text: 428/(2086+428) = 17,0% → USUELL (5)
An Romantikern, die sich das vorstellen könnten, fehlt es nicht. Wer ihnen folgen wollte, würde aber vom Regen in die Traufe geraten. (Süddeutsche Zeitung, 27.6.2011, S. 2)11
Kodifizierte Form
Anzahl Belege
Form im Text
vom/aus dem Regen in die Traufe kommen
749
vom Regen in die Traufe 106 geraten
Anzahl Belege
Vorkommensanteil der Form im Text: 106/(749+106) = 12,4% → USUELL (6)
Dagegen investieren die Minister kaum Geld in Unternehmen und Aktien. Nun wird kritisiert, sie gingen den Bürgern da mit schlechtem Beispiel voran. (Süddeutsche Zeitung, 18.4.2013, S. 7)12
Kodifizierte Form
Anzahl Belege
Form im Text
Anzahl Belege
mit gutem Beispiel vorangehen
11717
mit schlechtem Beispiel vorangehen
424
Vorkommensanteil der Form im Text: 424/(11717+424) = 3,5% → OKKASIONELL
|| 11 Form der Suchanfrage vom 24. September 2017 (Teilkorpus W-öffentlich): „((((((aus /+w1 dem) oder vom) /+w1 regen) /+w1 in) /+w1 die) /+w1 traufe) /s0 &kommen nicht &geraten“ vs. „((((((aus /+w1 dem) oder vom) /+w1 regen) /+w1 in) /+w1 die) /+w1 traufe) /s0 &geraten nicht &kommen“. Zur Vermeidung quantitativer Verzerrungen sind auch bei der Form mit geraten beide präpositionalen Varianten (vom/aus dem) berücksichtigt. Grund hierfür ist, dass es an dieser Stelle allein um die Alternanz des Verbs geht, nicht aber um die ohnehin kodifizierte Variation bezüglich der Präposition. 12 Form der Suchanfrage vom 13. September 2017 (Teilkorpus W-öffentlich): „((mit /+w1 gutem) /+w1 Beispiel) /s0 (&vorangehen oder (&gehen /s0 voran))“ vs. „((mit /+w1 schlechtem) /+w1 Beispiel) /s0 (&vorangehen oder (&gehen /s0 voran))“.
68 | Christian Pfeiffer
(7)
Wie immer waren unter den 50 Zugnummern viele, die tags vorher bereits in Fischbach und im Daal dabei waren. (Rhein-Zeitung, 12.2.2013, S. 19)13
Kodifizierte Form
Anzahl Belege
Form im Text
Anzahl Belege
tags zuvor/davor
16144
tags vorher
27
Vorkommensanteil der Form im Text: 27/(16144+27) = 0,2% → OKKASIONELL
Gemäß der hier zugrunde gelegten Operationalisierung des Okkasionalitätskriteriums sind die Nicht-Realisierung der Verbalkomponente in (2) ebenso wie die Gebrauchsweisen in (4) und (5) als usuell zu bewerten, da ihr Vorkommensanteil gemessen an den kodifizierten Varianten mit rund 60, 17 bzw. 12% jeweils über dem festgesetzten Usualitätswert von 5% liegt. In Beispiel (2) ist die lexikographisch nicht erfasste Gebrauchsweise ohne das Verb haben sogar deutlich häufiger belegt als die kodifizierte Form. Konstellationen wie diese sind keineswegs selten und verdeutlichen in besonderer Weise, weshalb das Kriterium der lexikographischen Kodifizierung für die Entscheidung über die Usualität einer bestimmten Gebrauchsweise nicht ausreicht: Wörterbücher verzeichnen eben nicht sämtliche gebräuchlichen Formen, in vielen Fällen bleiben sogar hochfrequente Varianten eines Phrasems unberücksichtigt. Insofern es sich bei der verblosen Formulierung in (2) ebenso wie bei (4) und (5) nun aber offensichtlich um gebräuchliche Verwendungsweisen handelt, scheidet auch eine Einstufung als Modifikation aus. Stattdessen haben wir es hier mit usuellen Varianten zu tun, die als solche auch lexikographisch zu kodifizieren sind. Anders verhält es sich mit den Formulierungen in (6) und (7), die nicht nur lexikographisch nicht kodifiziert sind, sondern mit Vorkommensanteilen von 3,5% bzw. 0,2% auch gemäß der hier vorgenommenen Form der Operationalisierung als okkasionell zu gelten haben. Gleiches gilt für den Austausch des Substantivs in (2), wo die im Text vorliegende Form im Korpus überhaupt nicht belegt ist (0% Vorkommensanteil). Alle drei Formen erfüllen also das Kriterium der Okkasionalität und verkörpern damit zumindest aussichtsreiche Kandidaten für
|| 13 Form der Suchanfrage vom 22. September 2017 (Teilkorpus W-öffentlich): „(tags /+w1 (zuvor oder davor))“ vs. „(tags /+w1 vorher)“. Die Ermittlung der Treffer wurde jeweils auf Kleinschreibungen von tags eingeschränkt, um substantivische Verwendungen (des Tags) auszuschließen. In Kauf genommen wird damit freilich ein Ausschluss des satzinitialen Gebrauchs der einzelnen Wendungen. Dies gilt jedoch für alle drei betrachteten Varianten in gleicher Weise, sodass hier nicht mit substantiellen Verzerrungen zu rechnen ist.
Zur Identifikation modifizierter Phraseme in Texten | 69
phraseologische Modifikationen. Für eine Einstufung als Modifikation ist es erforderlich, dass sie überdies auch als kontextgebunden und intentional abweichend angesehen werden können.
3.2 Kontextgebundenheit Das Merkmal der Kontextgebundenheit wird in der Literatur unterschiedlich ausgelegt, was in der Konsequenz wiederum auch zu unterschiedlichen Konzeptionen des Gegenstandsbereichs der Modifikation führt. Eine mögliche Interpretation versteht Kontextgebundenheit als Bindung an einen spezifischen und singulären Textzusammenhang. Nach dieser Auffassung sind nur solche Gebrauchsweisen als kontextgebunden anzusehen, die außerhalb ihres jeweiligen sprachlichen und situativen Zusammenhangs nicht verstanden werden können (Jaki 2014: 32; Burger 2015: 162). Im Umkehrschluss sind Formulierungen, die weitgehend aus sich selbst heraus verständlich sind, insofern sie etwa regelhaften semantischen Effekten wie Intensivierung, Antonymisierung etc. dienen, mangels exklusiver Bindung an einen spezifischen Kontext aus dem Gegenstandsbereich der Modifikation auszuschließen (vgl. Jaki 2014: 32). Am anderen Ende der Skala steht die Auffassung, wonach Phraseme, die in authentischen Texten auftreten, aufgrund ihrer Verortung in der Parole von vornherein als kontextgebunden und damit potenziell als modifiziert gelten können (Ptashnyk 2009: 76). Kontextgebundenheit bedeutet nach diesem weiten Verständnis nicht Kontextspezifik, sondern lediglich eine Kontextabhängigkeit der Äußerung im allgemeinsten Sinne. Jenseits der beiden Pole sind verschiedene Zwischenpositionen denkbar. So ließe sich Kontextgebundenheit beispielsweise auch von der Frage abhängig machen, inwiefern die jeweilige Gebrauchsweise aufgrund ihrer Beschaffenheit auf den umgebenden Text verweist (vgl. Sabban 2000: 209–211). Es ist klar, dass die verschiedenen Lesarten eine jeweils unterschiedliche Form der Operationalisierung erfordern. Versteht man Kontextgebundenheit als mehr oder weniger ausgeprägte Bindung an einen spezifischen Kontext, so ist festzulegen, unter welchen Bedingungen eine Phrasemverwendung als kontextspezifisch anzusehen ist. Betrachtet man die Frage der kontextfreien (Nicht-)Verständlichkeit als distinktives Merkmal, wäre etwa Beleg (6) trotz seines okkasionellen Charakters nicht zu den Modifikationen zu rechnen, da das Verstehen der durch die Ersetzung von gut durch schlecht ausgelösten Antonymisierung (mit gutem Beispiel vorangehen mit schlechtem Beispiel vorangehen) nicht an einen spezifischen Kontext gebunden, sondern kontextübergreifend möglich ist. Als
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kontextspezifisch wäre von den oben zitierten Belegen hingegen die Gebrauchsweise in (2) anzusehen, insofern die dort enthaltene Formulierung Mythen zur Lücke für sich genommen wohl in der Tat nicht unmittelbar verständlich ist. Problematisch ist freilich, dass es sich auch hier um Einschätzungen handelt, die allein auf Introspektion beruhen und somit von Außenstehenden weder nachvollzogen noch überprüft werden können. Wie schon bei der introspektionsbasierten Entscheidung über den Gesamtstatus als Modifikation wirkt sich dies vor allem in weniger eindeutigen Fällen nachteilig aus. So könnte man im Hinblick auf die kontextunabhängige Verständlichkeit der beiden folgenden Formulierungen vermutlich durchaus zu unterschiedlichen Einschätzungen gelangen. Die Wendungen werden bewusst ohne Kontext wiedergegeben: (9) Ich kaufe, also bin ich. (10) Der politische Schnee von gestern
Nach meinem Dafürhalten – ebenfalls eine rein introspektive Beurteilung – sind die hier zitierten Belege in Bezug auf ihre kontextunabhängige Verständlichkeit irgendwo zwischen den oben diskutierten Gebrauchsweisen in (2) und (6) anzusiedeln. Einerseits verweisen sie wohl stärker auf ihren jeweiligen Textzusammenhang als die Formulierung in (6), andererseits erscheinen sie aber auch nicht so stakt kontextabhängig, dass sie an einen singulären sprachlichen und situativen Zusammenhang gebunden wären. Anders als etwa der Phrasemgebrauch in (2) können die hier vorliegenden Formulierungen auch ohne Kontext verstanden werden, offen bleibt lediglich der konkrete inhaltliche Hintergrund der Formulierung. Insofern nun aber gerade das Kriterium der Nichtverstehbarkeit nach der in Jaki (2014) und Burger (2015) vertretenen Auffassung konstitutiv für eine Einstufung als Modifikation ist, erscheint es durchaus bemerkenswert, dass die Formulierungen in (9) und (10) in eben diesen Arbeiten als Beispiele für Modifikationen zitiert und offensichtlich als unverständlich angesehen werden (vgl. Jaki 2014: 43 bzw. Burger 2015: 163). Es wäre nun wenig sinnvoll, diese Zuordnung kritisieren zu wollen. Wie bereits gesagt, lassen sich in solchen Fällen sicherlich unterschiedliche Positionen vertreten. Genau hier aber liegt aus meiner Sicht das zentrale Problem einer Interpretation von Kontextgebundenheit als Bindung an einen spezifischen Kontext: Tatsächlich erscheint es nämlich kaum möglich, jenseits der eigenen Intuition geeignete Kriterien zu finden, die eine hinreichend trennscharfe Differenzierung kontextspezifischer und nicht-kontextspezifischer Gebrauchsweisen erlauben. Im Falle einer Operationalisierung durch das Merkmal der kontextfreien (Nicht-)Verständlichkeit etwa wäre zunächst zu spezifizieren, unter welchen Bedingungen man überhaupt von einem Verstehen der Formulierung sprechen
Zur Identifikation modifizierter Phraseme in Texten | 71
kann. Darüber hinaus sollte die Entscheidung auch dann nicht auf introspektiver Basis gefällt werden. Eine empirisch solidere Grundlage wäre hier eventuell durch Probandenstudien zu erreichen. Doch stellt sich dabei zum einen die Frage nach der praktischen Umsetzbarkeit, zum anderen ist anzunehmen, dass auch die Einschätzungen hinsichtlich der kontextfreien Verständlichkeit einer bestimmten Gebrauchsweise in vielen Fällen recht unterschiedlich ausfallen dürften. Dies ist nicht zuletzt deswegen erwartbar, weil es sich auch bei der Frage der Kontextgebundenheit, wie unter anderem die oben zitierten Beispiele deutlich machen, nicht um einen binären Gegensatz, sondern um ein graduelles Phänomen handelt: Okkasionelle phraseologische Gebrauchsweisen verweisen mehr oder weniger stark auf den Text, in den sie eingebettet sind, auch das Verstehen der Wendungen ist daher immer mehr oder weniger stark auf den jeweiligen Kontext angewiesen. Es scheint vor diesem Hintergrund kaum möglich, das Konstrukt einer Kontextspezifik phraseologischer Gebrauchsweisen anhand empirischer Indikatoren zu erfassen, die nicht nur sachlich angemessen, sondern überdies auch mit vertretbarem Aufwand feststellbar sind. Vor diesem Hintergrund spricht vieles für ein weites Verständnis von Kontextgebundenheit, dem zufolge in Texten auftretende Phrasemverwendungen bereits wegen ihrer Verortung in der Parole als kontextgebunden gelten können. Diese Auffassung wird auch im Folgenden zugrunde gelegt. Zu berücksichtigen ist freilich, dass dem Kriterium der Kontextgebundenheit bei einer solchen Auslegung allenfalls eine minimale distinktive Funktion zukommt und das Merkmal insbesondere bei der Arbeit mit authentischen Texten von vornherein als erfüllt anzusehen ist. Dennoch ist es aus mindestens zwei Gründen sinnvoll, auch für das Kriterium der Kontextgebundenheit eine Operationalisierung vorzunehmen: Zum einen wird eine – wie auch immer verstandene – Kontextgebundenheit in der Literatur durchgängig als Eigenschaft modifizierter Phraseme angesehen, weshalb das Kriterium im Zuge der Operationalisierung nicht einfach ignoriert werden sollte. Zum anderen macht die vorliegende Form der Operationalisierung deutlich, dass nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis auch weitgehend „selbstgenügsam[e]“ (Sabban 2000: 210) Okkasionalismen wie in (6) modifizierte Phraseme darstellen können. Mit Blick auf das Kriterium der Kontextgebundenheit ist damit festzustellen:
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Operationalisierung – Kontextgebundenheit Eine phraseologische Gebrauchsweise gilt als kontextgebunden, wenn sie in einen konkreten sprachlichen und situativen Zusammenhang eingebettet ist. Bei der Arbeit mit Texten kann das Merkmal der Kontextgebundenheit von vornherein als erfüllt angesehen werden.
Aufgrund der minimalen distinktiven Funktion wird der Faktor Kontextgebundenheit im unten skizzierten Verfahren den anderen Kriterien vorgeordnet. Eine tatsächlich differenzierende Wirkung für die Identifikation modifizierter Phraseme entfalten dann vor allem die Kriterien der Okkasionalität und Intentionalität.
3.3 Intentionalität Aus theoretischer Perspektive ist die Funktion des Kriteriums der Intentionalität bei der Abgrenzung phraseologischer Modifikationen klar zu benennen: Es geht um die Frage, ob der Produzent im Zuge der okkasionellen Verwendung eines Phrasems absichtlich von einer usuellen Form abweicht, um im Kontext einen bestimmten kommunikativen Effekt zu erzielen, oder ob die Abweichung von einer usuellen Gebrauchsweise versehentlich vonstattengeht. Von einem modifizierten Phrasem ist lediglich im ersten Fall auszugehen. Im zweiten Fall hingegen kann weiter unterschieden werden zwischen a) solchen Abweichungen von einer usuellen Gebrauchsweise, die dem Normbewusstsein der Sprecherinnen und Sprecher zuwiderlaufen und vor diesem Hintergrund als fehlerhaft zu bewerten sind (vgl. Elspaß 2002: 133–157), sowie b) ebenfalls okkasionellen, häufig idiolektalen Gebrauchsweisen phraseologischer Wendungen, die jedoch nicht als normwidrig, sondern noch als akzeptabel eingestuft werden. Die Annahme der Existenz solcher „Normalformvarianten“ (Barz 1995: 346) resultiert aus der Beobachtung, dass die Verwendung eines einzelnen Phrasems im Sprachgebrauch erheblichen idiolektalen Differenzen unterliegen kann, ohne dass mit diesen Unterschieden irgendwelche kommunikativen Absichten verbunden oder sich die Produzenten einer Abweichung von einer usuellen Gebrauchsweise auch nur bewusst wären. Festzustellen ist allerdings, dass gerade die Abgrenzung von Normalformvarianten und Fehlern häufig erhebliche Schwierigkeiten bereitet (vgl. Burger 2015: 25). Hierauf muss in diesem Zusammenhang jedoch nicht näher eingegangen werden, da es sich in beiden Fällen zweifelsfrei nicht um Modifikationen handelt. Im Fokus steht an dieser Stelle hingegen die Operationalisierung des Kriteriums der Intentionalität und damit die Unterscheidung von Modifikationen einerseits sowie Normalformvarianten und Fehlern andererseits. Dieser Aspekt stellt
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vermutlich die größte Schwierigkeit im Zusammenhang mit der Identifikation phraseologischer Modifikationen in Texten dar. Das Ausgangsproblem besteht darin, dass die tatsächlichen Intentionen des Produzenten in aller Regel weder dem Rezipienten noch dem Post-hoc-Interpreten direkt zugänglich sind. Bei der Analyse des Phrasemgebrauchs in Texten tritt an die Stelle der realen Produzentenintention daher meist ein durch den Interpreten erzeugtes Konstrukt über dessen eigentliche Absichten; der Referenzpunkt verschiebt sich auf diese Weise vom Produzenten hin zum Interpreten und vom Illokutionären zum Perlokutionären. In diesem Sinne formuliert etwa Langlotz: [I]ntentionality must not be regarded as an intrinsic feature of any given action, but as an effect of observation. Put differently, to be able to characterise a given action as intentional, it must first be interpreted as being intentional by the perceiver. As a consequence, idiom variants can only be categorised as differing in intentionality and purpose if we attribute an echoic speaker-intention to the bare linguistic material. (Langlotz 2006: 203–204, Hervorhebung im Original)
Um von einer intentionalen Abweichung und damit letztlich von einer Modifikation ausgehen zu können, bedarf es also seitens der Rezipierenden bzw. Interpretierenden „begründeter Annahmen darüber, daß der Sprecher einen Ausdruck mit einer bestimmten Ausdrucksintention variiert hat“ (Sabban 2000: 205). Solche Annahmen über die Absichten des Produzenten entstehen laut Dobrovol’skij wie folgt: [Die echten Sprecherintentionen] werden […] anhand der Textbeschaffenheit „erraten“ und post factum in die aktuelle Sprechersituation projiziert. Aus der Perspektive des Rezipienten manifestieren sich die relevanten Unterschiede in bestimmten Elementen des Kontextes, die darauf verweisen, daß das entsprechende Idiom absichtlich modifiziert wurde. (Dobrovol’skij 2001: 275)
Das Erkennen einer vom Usuellen abweichenden Formulierung löst beim Rezipienten also „zusätzliche kognitive Operationen“ (Dobrovol’skij 2000: 228–229) aus, die letztlich darauf abzielen, die abweichende Gebrauchsweise im Kontext als sinnvoll und relevant zu deuten (Sabban 1998: 120; Dobrovol’skij 2001: 274). Eine bewusste Abweichung wird der Rezipient regelmäßig immer dann unterstellen, wenn die Suche nach der unterstellten Sinnhaftigkeit erfolgreich verläuft, er der Abweichung im Textzusammenhang also eine bestimmte Funktion zuschreiben kann. Die Ersetzung der echten Sprecherintention durch das Konstrukt der „echoic speaker-intention“ (Langlotz 2006: 204) bzw. „projizierten Intention“ (Dobrovol’skij 2001: 275) ist keineswegs unproblematisch, stellt letztlich wohl jedoch eine notwendige Voraussetzung für eine handhabbare Operationalisierung des
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Kriteriums dar. Theoretisch unbefriedigend bleibt das Verfahren vor allem aufgrund der ihm innewohnenden Subjektivität: Zwar wird die Annahme einer intentionalen Abweichung prinzipiell von bestimmten Kontextfaktoren und damit von empirischen Indikatoren abhängig gemacht, doch lassen sich diese zum einen wohl kaum vollständig ermitteln, zum anderen erscheint es sogar noch schwieriger, allgemeine Bedingungen anzugeben, unter denen solche Kontextfaktoren als zeichenhaft im Hinblick auf das Kriterium der Intentionalität anzusehen sind. Es ist daher nicht auszuschließen, dass der Interpret relevante Kontextfaktoren nicht als solche erkennt bzw. falsch deutet und aus diesem Grund nicht in der Lage ist, den produzentenseitig intendierten Effekt nachzuvollziehen. Umgekehrt ist auch vorstellbar, dass der Interpret bestimmte Kontextfaktoren ungerechtfertigterweise als zeichenhaft in Bezug auf die Sprecherintention ansieht und infolgedessen „in den Text mehr hineininterpretiert, als der Produzent intendierte“ (Dobrovol’skij 2001: 275). In der Konsequenz muss schließlich auch davon ausgegangen werden, dass verschiedene Interpreten aus der Gestaltung ein und desselben Kontexts unterschiedliche Rückschlüsse ziehen. Die echten Sprecherintentionen können anhand des Kontexts eben in der Tat nur „erraten“ werden, weshalb die Entscheidung über das Kriterium der Intentionalität zu einem gewissen Grad subjektiv und unsicher bleibt. Trotz dieser Vorbehalte wird die Operationalisierung des Intentionalitätskriteriums auch im vorliegenden Beitrag nach dem beschriebenen Prinzip vorgenommen. Ursächlich hierfür ist vor allem ein Mangel an geeigneteren Alternativen: Zwar wäre es bei gegenwartssprachlichen Texten grundsätzlich denkbar, den Produzenten zu seinen tatsächlichen Intentionen zu befragen. Doch ist ein solches Vorgehen zum einen extrem aufwändig und damit von vornherein nicht auf größere Datenmengen anwendbar, zum anderen ist auch dieser Ansatz keineswegs frei von methodologischen Schwierigkeiten. Als problematisch ist hier insbesondere der Umstand anzusehen, dass in Philosophie und Psychologie mitunter auch von der Existenz unbewusster Intentionen ausgegangen wird (vgl. Hamlyn 1971). Gerade vor diesem Hintergrund ist die Eignung von Probandenbefragungen zur Ermittlung tatsächlicher Sprecherintentionen von vornherein skeptisch zu beurteilen.
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Die hier vorgenommene Operationalisierung des Intentionalitätskriteriums basiert somit auf dem auch in der theoretischen Modifikationsforschung üblichen Vorgehen, das eine Ersetzung der realen Sprecherintention durch das Konzept der projizierten Intention vorsieht. Es gilt:
Operationalisierung – Intentionalität Eine okkasionelle phraseologische Gebrauchsweise gilt als intentional abweichend, wenn ihr Verwendungskontext Elemente enthält, die den Rezipienten/Interpreten zu der Annahme veranlassen können, dass die Abweichung von einer usuellen Form produzentenseitig absichtlich erfolgt ist.
Was bedeutet diese Form der Operationalisierung für die Einstufung der noch verbleibenden Textbelege? Kontextgebundene und okkasionelle Gebrauchsweisen von Phrasemen – und damit Kandidaten für phraseologische Modifikationen – enthalten gemäß den oben beschriebenen Bedingungen die folgenden drei Textausschnitte: (2)
Mythen zur Lücke: Seit Jahrzehnten ein Thema, noch immer nicht gelöst: Frauen verdienen weniger als Männer. Keine Partei macht diese Ungerechtigkeit zum Kern ihres Wahlkampfs. Stattdessen wird sie kleingeredet. (www.spiegel.de, 12.9.2017)
(6)
Dagegen investieren die Minister kaum Geld in Unternehmen und Aktien. Nun wird kritisiert, sie gingen den Bürgern da mit schlechtem Beispiel voran. (Süddeutsche Zeitung, 18.4.2013, S. 7)
(7)
Wie immer waren unter den 50 Zugnummern viele, die tags vorher bereits in Fischbach und im Daal dabei waren. (Rhein-Zeitung, 12.2.2013, S. 19)
Für Beleg (2) lässt die Gestaltung des Verwendungskontextes den Rückschluss zu, dass die Abweichung von der usuellen Form absichtlich vorgenommen wurde. Bei der Formulierung Mythen zur Lücke handelt es sich um die Artikelschlagzeile, deren konkrete Referenz zunächst offenbleibt. Im Grunde bereits durch den zitierten Lead, spätestens jedoch durch den Haupttext werden Referenz und Sinn der anfangs nicht einleuchtenden Formulierung geklärt: Thematisiert werden eine Reihe gängiger, nach Auffassung der Autorin aber nicht haltbarer Standpunkte (Mythen) zur Frage der ungleichen Bezahlung von Frauen und Männern (Lücke). Es ist anzunehmen, dass Autorinnen und Autoren durch den Einsatz solcher „Rätsel-Schlagzeilen“ (Burger 2005: 118) das Ziel verfolgen, das Interesse der Leserschaft für den folgenden Text zu steigern (Wotjak 1992: 111; Lüger 1999: 168–
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169). Gerade weil der Abweichung von einer usuellen Form somit eine klare Funktion zugeschrieben werden kann, ist diese mit großer Wahrscheinlichkeit als intentional anzusehen. Für Beleg (2) kann also in der Tat eine Modifikation angenommen werden. Weniger eindeutig stellt sich die Situation hingegen für Beleg (6) dar. Angesichts des nicht so seltenen Vorkommens der im Kontext vorliegenden Formulierung – gemessen an der kodifizierten Form immerhin 3,5% aller Belege – kann zumindest nicht ausgeschlossen werden, dass dem Produzenten die Abweichung von einer usuellen Forman dieser Stelle nicht bewusst war. Aus zwei Gründen erscheint es dennoch plausibler, auch mit Blick auf die Gebrauchsweise in (6) von einer intentionalen Abweichung auszugehen: Zum einen macht die Suchanfrage im DeReKo deutlich, dass es sich bei dem Phrasem in seiner usuellen Form um eine sehr häufig gebrauchte Wendung handelt, weshalb tendenziell auch von einem hohen Bewusstsein für die usuelle Form ausgegangen werden kann. Zum anderen ist auch die Ersetzung von gut durch schlecht im Kontext eindeutig funktional, insofern sie eine Antonymisierung der usuellen Wendung bewirkt. Vor diesem Hintergrund kann auch für Beleg (6) von einer intentionalen Abweichung und damit von einem modifizierten Phrasem ausgegangen werden. Im Unterschied zu den Formulierungen in (2) und (6) enthält der Kontext von (7) keine Hinweise auf eine absichtliche Abweichung von einer usuellen Form. Anders als bei den beiden anderen Belegen erschiene es hier auch kaum möglich, eine solche Abweichung funktional zu motivieren. Statt der okkasionellen Form tags vorher könnte ebenso gut eine usuelle Form mit zuvor oder davor stehen, zwischen den verschiedenen Formen gäbe es keinen nennenswerten funktionalen Unterschied. Es ist daher eher unwahrscheinlich, dass mit der Abweichung von den usuellen Gebrauchsweisen in (7) eine spezifische kommunikative Absicht verbunden ist. Viel wahrscheinlicher ist, dass der Produzent sich an dieser Stelle gar keiner Abweichung von einer usuellen Form bewusst ist. Vor diesem Hintergrund handelt es sich in (7) entweder um eine wenig gebräuchliche Normalformvariante oder aber um eine fehlerhafte Gebrauchsweise der Wendung14 – in jedem Fall aber nicht um ein modifiziertes Phrasem.
|| 14 Diese Frage muss an dieser Stelle nicht geklärt werden, da sie für die Identifikation phraseologischer Modifikationen letztlich nicht relevant ist. Insbesondere vor dem Hintergrund der nachweislich hohen Toleranz von Muttersprachlerinnen und Muttersprachlern gegenüber weniger gebräuchlichen phraseologischen Gebrauchsweisen (vgl. Elspaß 2002: 151) erschiene die Annahme einer Normalformvariante aus meiner Sicht jedoch wesentlich angemessener als die Einstufung als fehlerhaft.
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Es ist offensichtlich, dass die Ausführungen zur internen Differenzierung verschiedener okkasioneller Gebrauchsweisen zu einem nicht unerheblichen Teil auf introspektiven Einschätzungen beruhen. Man mag diesen Einschätzungen folgen oder auch nicht – die Entscheidung über das Kriterium der Intentionalität ist nicht vollständig objektivierbar, womit letztlich auch die Entscheidung über den Modifikationsstatus eines Phrasems insgesamt nicht vollständig objektivierbar ist. Dieser Befund stellt den Nutzen des hier vorgestellten Verfahrens jedoch nicht infrage. Vielmehr ist es gerade wegen der Unmöglichkeit einer vollständigen Objektivierung des Intentionalitätskriteriums wichtig, zumindest die weiteren definitorischen Kriterien so objektiv und adäquat wie möglich zu operationalisieren. Dies führt zumindest dazu, dass sich der Anteil der Zweifelsfälle, über die letztlich in der Tat nur auf introspektiver Basis entschieden werden kann, erheblich reduziert. Nicht zuletzt hierin besteht ein zentraler Vorteil der skizzierten Vorgehensweise gegenüber anderen Verfahren zur Identifikation modifizierter Phraseme in Texten.
4 Modell zur Identifikation modifizierter Phraseme in Texten Das skizzierte Verfahren lässt sich abschließend in einem Modell zusammenfassen. Die Darstellung visualisiert die einzelnen Schritte, durch die modifizierte Phraseme in Texten identifiziert werden können. Grundlage des gestuften Verfahrens ist die Operationalisierung der drei definitorischen Kriterien Kontextgebundenheit, Okkasionalität und Intentionalität. Zur besseren Nachvollziehbarkeit werden die im Zuge der Operationalisierung formulierten Bedingungen für die einzelnen Kriterien im Folgenden zunächst noch einmal wiedergegeben. Da über die Eigenschaft der Okkasionalität in zwei Teilschritten entschieden wird, handelt es sich um insgesamt vier Bedingungen (B1–B4). Aufgrund seiner operationalisierungsbedingt sehr geringen distinktiven Funktion ist das Kriterium der Kontextgebundenheit den weiteren Kriterien vorgeordnet und steht daher am Beginn des Verfahrens.
Kontextgebundenheit Bedingung 1 (B1): Eine phraseologische Gebrauchsweise gilt als kontextgebunden, wenn sie in einen konkreten sprachlichen und situativen Zusammenhang eingebettet ist.
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Potenzielle Okkasionalität Bedingung 2 (B2): Eine kontextgebundene phraseologische Gebrauchsweise gilt als potenziell okkasionell, wenn sie lexikographisch nicht kodifiziert ist.
Tatsächliche Okkasionalität Bedingung 3 (B3): Eine potenziell okkasionelle phraseologische Gebrauchsweise gilt als tatsächlich okkasionell, wenn sie entweder (a) die für den jeweiligen Modifikationsmechanismus geltenden Usualitätskriterien verletzt oder (b) der Anteil der nicht kodifizierten Gebrauchsweise im Verhältnis zum Auftreten der für das Phrasem lexikographisch kodifizierten Form(en) kleiner ist als 5%.
Intentionalität Bedingung 4 (B4): Eine okkasionelle phraseologische Gebrauchsweise gilt als intentional abweichend, wenn ihr Verwendungskontext Elemente enthält, die den Rezipienten/Interpreten zu der Annahme veranlassen können, dass die Abweichung von einer usuellen Form produzentenseitig absichtlich erfolgt ist.
Auf dieser Grundlage ergibt sich das folgende Modell (vgl. Abbildung 1), das die einzelnen Verfahrensschritte und die verschiedenen Formen phraseologischer Gebrauchsweisen in Texten darstellt.15 Es soll gar nicht bestritten werden, dass die Identifikation modifizierter Phraseme auch auf Grundlage des skizzierten Verfahrens problematisch bleibt. Unbefriedigend ist – wie bereits ausgeführt – insbesondere der Umstand, dass die Entscheidung über das Kriterium der Intentionalität auch hier nicht vollständig ohne introspektive Einschätzungen auskommt und somit letztendlich auch die Einstufung einer bestimmten phraseologischen Gebrauchsweise als modifiziert zu einem gewissen Grad subjektiv bleibt. Einen potenziell kritischen Punkt stellt darüber hinaus auch die relativ starre Verknüpfung von Korpusfrequenz und Usualität im Rahmen der Operationalisierung von Okkasionalität dar: Zwar erscheint die hier zugrunde gelegte Annahme eines wechselseitigen Bedingungsverhältnisses zwischen den beiden Größen sehr plausibel, doch bedarf das Verhältnis zwischen Frequenz und Usualität in Zukunft sicherlich noch einer detaillierteren
|| 15 Eine frühere Fassung des Modells findet sich in Pfeiffer (2016: 302). Im Unterschied zur dortigen Form orientiert sich die überarbeitete Version strukturell und terminologisch noch stärker an der Operationalisierung der einzelnen Kriterien.
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Abb. 1: Phraseologische Gebrauchsweisen und Verfahren zur Identifikation modifizierter Phraseme
Klärung. Als problematisch ist schließlich der Umstand zu betrachten, dass das vorgestellte Verfahren scharfe Grenzen zwischen einzelnen Kategorien (usuelle vs. okkasionelle, kontextgebundene vs. kontextunabhängige Gebrauchsweisen) suggeriert, wo wir es in der Realität sicherlich eher mit fließenden Übergängen zu tun haben. So unbefriedigend solche Vereinfachungen aus theoretischer Perspektive sind – für die Arbeit mit mehreren hundert oder gar tausend verschiedenen Phrasemen, etwa im Rahmen von Studien zur Modifikation in einzelnen Textsorten, lassen sich Simplifizierungen im Zuge der Operationalisierung und Kategorienbildung im Normalfall wohl nicht vermeiden. Wenig aussichtsreich wäre vor diesem Hintergrund auch der Versuch, die mitunter recht aufwändigen analytischen Verfahren der theoretischen Modifikationsforschung direkt auf die Arbeit mit großen Textmengen und vielen verschiedenen Phrasemen zu übertragen. Das Ziel des vorliegenden Beitrags bestand daher darin, die Erkenntnisse der theoretisch orientierten Forschung so für die analytische Praxis aufzubereiten, dass sie einerseits auf größere Datenmengen anwendbar werden, gleichzeitig aber nach wie vor eine zuverlässige, theoretisch fundierte und auch von Außenstehenden
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nachvollziehbare Erfassung des Gegenstandsbereichs der Modifikation ermöglichen. In diesem Sinne bemüht sich der vorliegende Ansatz nicht nur um eine systematische Integration aller drei definitorischen Haupteigenschaften modifizierter Phraseme, sondern macht insbesondere auch deutlich, auf Basis welcher Indikatoren die einzelnen Kriterien als zutreffend angesehen werden. Wie oben dargelegt, war dies in der Vergangenheit häufig nicht der Fall. Stattdessen beschränkte sich die Diskussion meist auf eine Auswahl prototypischer und intuitiv einleuchtender Beispiele, während die eigentliche Entscheidungsgrundlage und der Umgang mit Grenzfällen nicht thematisiert wurden. Ein weiteres Anliegen des vorliegenden Verfahrens bestand darüber hinaus im Bemühen um eine geringere Bedeutung introspektiver Einschätzungen sowie insbesondere um eine reduzierte Relevanz lexikographischer Angaben für die Entscheidung über den Status einer phraseologischen Gebrauchsweise. Gerade mit Blick auf das Merkmal der lexikographischen Kodifizierung macht die exemplarische Analyse der zitierten Textbelege deutlich, dass dieses keine ausreichende Grundlage für die Differenzierung usueller und okkasioneller Formulierungen darstellen kann. Eine ausschließlich wörterbuchbasierte Operationalisierung von Okkasionalität führt vielmehr dazu, dass Gebrauchsweisen als okkasionell und letztendlich als modifiziert eingestuft werden müssen, die im Sprachgebrauch als völlig unauffällig und üblich anzusehen sind. Das hier angewandte Verfahren stützt die Abgrenzung usueller und okkasioneller Formen auf mehrere unabhängige Kriterien und ermöglicht auf diese Weise ein differenzierteres Urteil über den Status einer Formulierung. In der Konsequenz führt dies unter anderem dazu, dass deutlich mehr Gebrauchsweisen als usuell und umgekehrt deutlich weniger als okkasionell-modifiziert eingestuft werden, als dies in textsortenorientierten Arbeiten bislang der Fall war. Nicht zuletzt an diesem Punkt greift der vorliegende Beitrag eine Forderung der theoretischen Modifikationsforschung auf, wonach die Grenzen des Usuellen in der Phraseologie erheblich weiter zu fassen sind als bislang üblich (Dobrovol’skij 2000: 222). Letztendlich muss damit auch die Frage nach der Belastbarkeit der bislang vorliegenden quantitativen Resultate zum Phänomen der Modifikation in einzelnen Textsorten gestellt werden. Tatsächlich ergeben sich vor dem Hintergrund des Gesagten doch Zweifel, ob etwa der Anteil modifizierter Phraseme in Pressetexten tatsächlich bei jenen 70% liegt, die Kuzina (1978: 73–74, zitiert nach Ptashnyk 2009: 53) ermittelt. Zweifelsohne hängen solche Berechnungen immer auch vom zugrunde gelegten Phrasembegriff ab – doch legen Ergebnisse wie dieses zumindest die Vermutung nahe, dass hier etwas anderes gezählt worden sein könnte als Modifikationen im Sinne von kontextgebundenen, okkasionellen und intentional abweichenden phraseologischen Gebrauchsweisen. Vor diesem Hin-
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tergrund sind Fragen nach der generellen Vorkommenshäufigkeit des Phänomens in einzelnen Textsorten oder auch nach der statistischen Häufigkeit verschiedener Typen der Modifikation trotz der Vielzahl einschlägiger Untersuchungen nicht als abschließend beantwortet anzusehen. Zu aufschlussreichen Resultaten und neuen Einsichten könnten hier nicht zuletzt konzeptuelle Replikationsstudien führen, die eine bereits bearbeitete Forschungsfrage mit abweichenden Daten und/oder anderen methodischen Zugängen untersuchen.
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Torsten Leuschner
Das V1-Konditionalgefüge zwischen Phraseologie und Politolinguistik Zusammenfassung: Ausgehend von disziplinüberschreitenden Fragestellungen der Phraseologie behandelt der vorliegende Beitrag V1-Konditionalgefüge als Sprichwortformel im Deutschen, und zwar nacheinander aus Sicht von Schematizität (samt einem Vergleich mit dem Englischen) und Variabilität. Im Zusammenhang mit Letzterer wird u. a. die „scheinbare Sprichwörtlichkeit“ (Mieder) kommerzieller und politischer Slogans behandelt. Am Beispiel von Angela Merkels Scheitert der Euro, dann scheitert Europa (2010) plädiert der Beitrag abschließend für eine wechselseitige Integration des phraseologischen und des politolinguistischen Interesses an satzförmig-formelhafter Sprache auf der Grundlage einer soziokognitiv fundierten Konstruktionsgrammatik.
1 Einleitung Das Thema des vorliegenden Bandes, „Formelhafte Sprache in Text und Diskurs“, verweist auf die Nachbarschaft der Phraseologie zur Text- und Diskurslinguistik. In Anlehnung an die Konzeption der EUROPHRAS-Tagung 20161 lässt sich das Verhältnis der Phraseologie zu ihren text- bzw. diskurslinguistisch orientierten Nachbardisziplinen aus zwei komplementären Perspektiven beleuchten: (i) Wie kann das Interesse benachbarter Teildisziplinen an formelhafter Sprache in der phraseologischen Forschung berücksichtigt werden? (ii) Was kann die phraseologische Forschung ihrerseits zu diesen Nachbardisziplinen beitragen? Diese Fragen bilden im Folgenden den Hintergrund zu Beobachtungen, die vom V1-Konditionalgefüge als einer parömiologischen Strukturformel des Deutschen ausgehen und gegen Ende in konstruktionsgrammatisch inspirierte Überlegungen bezüglich des Verhältnisses der Phraseologie zu einer der diskursanalytischen Teildisziplinen der Linguistik par excellence, der Politolinguistik, einmünden. Damit partizipiert der Beitrag zugleich an der „Muster-Wende“, die die phraseologische Forschung seit einigen Jahren durchmacht (Steyer & Hein 2018: 108) und die es mehr denn je nahelegt, Sprichwörter und verwandte propositionale
|| 1 http://europhras2016. uni-trier.de/index.php/deutsch/konzept/ (06.08.2018).
DOI 10.1515/9783110602319-004
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Wendungen als „satzwertige Phraseologismen“ in den Gegenstandsbereich der Phraseologie einzuschließen (u. a. Lüger 1999). Ein solchermaßen erweiterter Phraseologiebegriff ermöglicht es, die Formelhaftigkeit von Sprichwörtern, aber auch die „scheinbare Sprichwörtlichkeit“ (Mieder 1975a: 70) kommerzieller und politischer Slogans aus theoretisch motivierter Sicht neu in den Blick zu nehmen. Dies geschieht im vorliegenden Beitrag exemplarisch anhand von Konditionalgefügen mit invertierender Spitzenstellung des finiten Verbs (V1) wie Ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch und Kommt Zeit, kommt Rat (beide im OWID-Sprichwörterbuch).2 Dabei wird strikt semasiologisch vorgegangen; nicht oder nur am Rande berücksichtigt werden andere Konstruktionstypen mit mehr oder weniger explizit markierter Konditionalsemantik, also etwa wenn-Gefüge wie Wenn die Waffen sprechen, schweigen die Musen, Imperativgefüge wie Zeig mir deine Freunde und ich sage dir, wer du bist oder Spare in der Zeit, dann hast du in der Not, Gefüge mit freiem Relativsatz wie Wer zuletzt lacht, lacht am besten oder Wo gehobelt wird, fallen Späne, Paarformeln wie Viel Feind, viel Ehr oder Pech im Spiel, Glück in der Liebe usw. (alle ebenfalls in OWID, ebd.; vgl. Lüger 1999: 107–108). Manche dieser Formeln sind auch übereinzelsprachlich von großer Bedeutung für die Sprichwortbildung (vgl. Mac Coinnigh 2014; HrisztovaGotthard 2016). Da die vorliegende Studie auch einen Beitrag zu einem längerfristigen Forschungsvorhaben über V1-Konditionalgefüge leisten soll (vgl. bereits Leuschner & Van den Nest 2015; Leuschner 2016), bleibt ihre parömiologische Behandlung jedoch einer späteren Untersuchung vorbehalten. Nur en passant werden deshalb auch argumentationspragmatische Aspekte behandelt wie etwa die Tatsache, dass konditionalitätsbasierte Sprichwortformeln zur Realisierung diverser Spielarten des Konsequenztopos prädestiniert sind (vgl. den Überblick hierzu u. a. bei Hoffmann 2012). Einer Tradition der strukturbezogenen Parömiologie gemäß werden sprichwörtliche bzw. sprichwortähnliche V1-Gefüge im Folgenden im Spannungsfeld von „Formelhaftigkeit und Variabilität“ (Mieder 1975a: Titel) verortet. Zunächst wird (in Abschnitt 2) die Perspektive der Formelhaftigkeit eingenommen, wobei der schematische Charakter des V1-Konditionalgefüges als parömiologische Strukturformel im Deutschen samt ihren usuellen Varianten herausgearbeitet wird. Als Vergleichsfolie dient das Englische, wo die Subject Auxiliary Inversion (SAI) der lexikalischen Besetzung der V1-Position enge Restriktionen auferlegt und somit eine sprachübergreifende V1-Sprichwortformel, die aufgrund der analogen Oberflächenstruktur ja leicht denkbar wäre, verhindert. Anschließend (in Abschnitt 3) wird die Perspektive der Variabilität eingenommen, wobei neben || 2 http://www.owid.de/wb/sprw/start.html (06.08.2018).
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Modifikationen von V1-Gefügen auch das Phänomen der „scheinbaren Sprichwörtlichkeit“ Berücksichtigung findet; davon ausgehend wird am Beispiel von Angela Merkels Slogan Scheitert der Euro, dann scheitert Europa von 2010 der Bezug zur Politolinguistik hergestellt. Vor diesem Hintergrund kehrt der Aufsatz abschließend (in Abschnitt 4) zu den eingangs genannten Fragestellungen zurück, um für eine wechselseitige Integration des phraseologischen und des politolinguistischen Interesses an satzförmig-formelhafter Sprache im Rahmen einer soziokognitiv fundierten Konstruktionsgrammatik (vgl. Ziem 2015) zu plädieren.
2 Formelhaftigkeit 2.1 Das V1-Gefüge als parömiologische Strukturformel Eines der wichtigsten Phänomene im Grenzbereich der Phraseologie und Parömiologie ist die formelhaft-schematische Gestaltung von Sprichwörtern (vgl. Burger 2015: 59–60; Seiler 1922; Mieder 1975a; Lüger 1999; Norrick 2007; Steyer 2012; Steyer & Hein 2018). Seiler (1922: 186–194) zählt 14 „[f]ormelhafte Wendungen und typische Satzgefüge“ (Seiler 1922: 186) bei Sprichwörtern auf, die meisten mit mehreren Subtypen. Nicht weniger als 27 sind es bei Röhrich & Mieder (1977: 56– 63, hier: 61–62), von A ist A (Dienst ist Dienst, Schnaps ist Schnaps, Sicher ist sicher) über Lieber A als B (Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach, Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende) bis zu Wer/Was A tut, tut B (Wer suchet, der findet, Was sich liebt, das neckt sich, Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen). Zusätzlich erwähnen Seiler (1922: 189) und Röhrich & Mieder (1977: 58) den „formelhafte[n] Gebrauch irrealer Bedingungssätze“ in Sprichwörtern, wobei Röhrich & Mieder (1977) u. a. (1) als Beispiel nennen:3 (1)
Wär kein Dieb, so wäre kein Galgen.
Dieses Beispiel und weitere, fast durchweg archaische Beispiele finden sich bei Seiler (1922: 189–190). Häufiger als im Irrealis treten V1-Sprichwörter jedoch in der indikativischen Form generalisierender Realis-Gefüge auf. Auch hierfür fin-
|| 3 Hier und im Folgenden wird in nummerierten Belegen die Nebensatzeinleitung (in V1-Gefügen die finite Verbform, ansonsten die Subjunktion) kursiviert.
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den sich Beispiele bei Seiler (1922: 214), aber auch in der im selben Jahr wie Röhrich & Mieder (1977) erschienenen Darstellung von Peukes (1977: 76–82). Von ihnen dürfte (4) heute das bei Weitem gängigste sein: (2) (3) (4)
Hat die Stute eine weiße Stirn, so hat das Füllen eine Blesse. Ist die Sonne untergegangen, so sitzen viele Tiere im Schatten. Kommt Zeit, kommt Rat.
Neben (4), das auch regelmäßig in befragungsbasierten Erhebungen geläufiger Sprichwörter auftaucht (vgl. Burger 2015: 121–123), sowie fünf Realis-Gefügen mit wenn enthält das neuere, in OWID integrierte Sprichwörterbuch4 noch ein weiteres V1-Gefüge, nämlich (5): (5)
Ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch.
Weitere Sprichwörter, die im Alltag oder in einschlägigen Sammlungen begegnen und bevorzugt oder sogar ausschließlich mit V1-Stellung auftreten, sind (6)–(9): (6) (7) (8) (9)
Hast du was, bist du was. Kommst du heute nicht, kommst du morgen. Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s doppelt unbeschwert. Gibt man dem Teufel den kleinen Finger, nimmt er die ganze Hand.
Bei diesen Beispielen handelt es sich um Sprichwörter im weiteren Sinne, verstanden (mit Fix 2009) als eine Textsortenfamilie. Ihr gehören als Einzeltextsorten neben den lehrhaften, teils metaphorischen Sprichwörtern im engeren Sinne wie (1)–(3), (5) und (9) auch noch die weder lehrhaften noch metaphorischen Gemeinplätze (4) und (6)–(8) sowie die in (10) und (11) illustrierten Bauern- und Wetterregeln an (u. a. aus Wikipedia; siehe auch Eisbrenner & Fritz 2013): (10) Wächst das Gras im Januar, ist’s im Sommer in Gefahr. (11) Ist der Oktober warm und fein, kommt ein scharfer Winter drein.
Hinzu kommen die Antisprichwörter unterschiedlicher Typen, die in Abschnitt 3 behandelt werden, sowie als Sonderfall die Geflügelten Worte (Lüger 1999: 125– 136). Dass die V1-Stellung als rein strukturelles Merkmal lexikalisch-semantisch unterspezifiziert ist, verleiht V1-Sprichwörtern insofern einen Sonderstatus, als sich deren „abstrakte Musterbedeutung“ (Steyer & Hein 2018: 118) nicht aus dem
|| 4 https://www.owid.de/wb/sprw/start.html (06.08.2018).
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Zusammenspiel einer Strukturformel und bestimmten festen lexikalischen Komponenten ergibt (vgl. Steyer 2012: 308–309 zu Strukturformeln wie Wo ein X ist, ist auch ein Y auf verschiedenen Stufen konstruktionaler Schematizität, ferner auch Steyer & Hein 2018), sondern bereits und ausschließlich in der idiomatischen Prägung der V1-Strukturformel als Ausdrucksschema für Konditionalbeziehungen angelegt ist. Forschungspraktisch gesehen erschwert dieser Umstand die Suche nach V1-Sprichwörtern in Korpora (außer u. U. geparsten) und größeren Sprichwortsammlungen ganz erheblich. Bei Sammlungen mit Basiskomponenten- oder Konkordanzsuche besteht eine provisorische Lösung darin, nach sprichworttypischen Lemmata wie etwa Teufel zu suchen. OWID enthält drei Sprichwörter mit Teufel, darunter sind jedoch keine komplexen (geschweige denn V1-)Strukturen. In der älteren gedruckten Sammlung von Lipperheide (1909: 850) lassen sich u. a. die Variante (12) mit Teufel – eine weniger säkuläre Ausdrucksform von (9) – und dessen Münsterländer Dialektfassung (13) mit Düwel aufspüren: (12) Läßt man den Teufel in die Kirche, gleich will er auch die Messe lesen. (13) Iss de Düwel erst in de Kiärke, dann sitt he auk faots up ’t Altaor.
Mittels der Konkordanzsuche ist im inzwischen digitalisierten Deutschen Sprichwörter-Lexikon von Wander (2004 [1867–1880]) das historische Sprichwort (14) zu entdecken. Andere historische Varianten wie (15) finden sich in der Fachliteratur: (14) Schlechstu einen Teuffel heraus, so solstu [= wirst du] yhr zehen hineyn schlagen. (16. Jh.; Wander 2004 [1977/1867–1880]: 4.1090) (15) Kompt tag, so kompt rath. (Peukes 1977: 81)
Auch wenn in (15) die Basiskomponente Tag unter Wegfall des Reims inzwischen durch Zeit ersetzt worden ist, wird die V1-Formel (wie bei Sprichwörtern generell üblich) in allen genannten Fällen doch durch die bekannte, sprichworttypische Mischung von Stilmitteln wie Metrum, Parallelismus, Wiederholung, Kontrastpaarbildung und eben auch Reim ergänzt. Auffällig ist das umgekehrte Verhältnis zwischen Formelhaftigkeit und Komplexität: Je knapper die Struktur, desto salienter wirkt die zugrunde liegende Formel; je höher die Komplexität, desto eher tritt die Formel in den Hintergrund und entsteht Spielraum für Variation lexikalisch-semantischer und syntaktischer Art. Dabei kann die Protasis die subjunktionale Form mit wenn annehmen und/oder ein Teil der Lexeme bzw. Bildelemente variiert werden (Beobachtungen aus dem Internet):
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(5’) Wenn die Katze aus dem Haus ist, tanzen die Mäuse auf den Tischen. (9’) Wenn man dem Teufel den kleinen Finger gibt, will er den ganzen Arm.
Umgekehrt können Sprichwörter, die bevorzugt in subjunktionaler Form erscheinen, auch als V1-Gefüge auftreten. Das gilt etwa für die im OWID-Sprichwörterbuch gelisteten Beispiele (16) und (17), für die bei OWID nur subjunktionale Varianten verzeichnet sind, während im Internet auch V1-Formen wie (16’) und (17’) kursieren: (16) (16’) (17) (17’)
Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis. Wird/Ist es dem Esel zu wohl, geht er aufs Eis / begibt er sich auf Eis usw. Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte. Streiten sich zwei, freut sich der Dritte.
Bei diesen abweichenden Formen handelt es sich durchweg um „Varianten“ im Sinne von Ptashnyk (2009: 62–65) und Sabban (1991, vgl. Sabban 1998: 265–352), also um usuelle Abwandlungen, in denen einzelne lexikalische oder strukturelle Komponenten durch synonyme Alternativen ersetzt werden, ohne dass sich die Gesamtbedeutung ändert. Ihnen stehen die zielgerichteten, (kon)textbezogenen „Modifikationen“ (Ptashnyk 2009) bzw. „Variationen“ (Sabban 1991, 1998) bzw. „Adaptationen“ (Lüger 1999: 118–121) gegenüber, die in Abschnitt 3 behandelt werden. Nochmals anderer Art sind konzessiv(-konditional)e Varianten wie in (18): (18) Scheint die Sonn’ auch noch so schön, endlich muß sie untergehen. (Peukes 1977: 81)
Hier handelt es sich nicht um eine synonyme Ausdrucksalternative zu einer anderen, bereits vorhandenen Formvariante, sondern um ein eigenständiges V1Sprichwort. Die komplexe Fokuspartikel noch so markiert das Antezendens als einen beliebig hohen Wert auf einer Skala der Schönheit, sodass das Konsequens unabhängig von der konkreten Antezendensbelegung assertiert werden kann. Wie bei konzessiven Konditionalgefügen (bzw. „Irrelevanzkonditionalen“, Zifonun, Hoffmann & Strecker 1997: 2319–2322) generell üblich, erscheint die Apodosis als selbständiger Verbzweitsatz und steht der das Gefüge einleitende Nebensatz im linken Außenfeld. In der Apodosis könnte doch stehen, jedoch würde dies das trochäische Versmaß stören.
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2.2 Vergleich mit dem Englischen Das gemeinsame Formelement aller obigen Beispiele ist die invertierte Stellung des finiten Verbs vor dem Subjekt am Beginn eines Nebensatzes (der Protasis), der in den nachfolgenden Hauptsatz (die Apodosis) eingebettet ist oder gelegentlich in ihr durch resumptives so oder dann vertreten wird. Nachstellung des Nebensatzes ist bei parömiologischen V1-Gefügen wegen deren Formelhaftigkeit noch seltener als bei nicht-parömiologischen (zu Letzteren vgl. Reis & Wöllstein 2010: 138–139), in Einzelfällen kommt sie aber vor: (19) Klar muss Apollinaris [= 23. Juli] sein, soll der Bauer sich erfreu’n. (www.gutzitiert.de; 29.07.2018)
Außer in den sehr seltenen konzessiv-konditionalen Gefügen wie (15), wo die Apodosis faktiv ist, sind beide Teilsätze hypothetisch. Das Gesamtgefüge assertiert eine generalisierende Konditionalbeziehung auf kausaler, gelegentlich temporaler Grundlage. Um den spezifischen sprachsystemischen Voraussetzungen für die Produktivität des V1-Konditionalgefüges als Sprichwortschablone im Deutschen auf die Spur zu kommen, bietet sich ein Vergleich mit dem Englischen an. Dabei liefert die Durchsicht einschlägiger Sammlungen (v. a. Collins 1959; Mieder 2003; Speake 2015) ein klares Ergebnis: Sprichwörter mit V1-Stellung kommen im heutigen Englisch nicht vor. Dennoch gibt es im Englischen parömiologische Strukturformeln, die auf Konditionalverhältnissen beruhen. Dazu gehören neben if-Gefügen (If anything can go wrong, it will; Irrealis: If wishes were horses, beggars would ride) und Relativsatzkonstruktionen (He who pays the piper calls the tune) auch mehrere parataktisch-asyndetische Formeln (vgl. Dancygier & Sweetser 2005: 255– 263); die Verbformen sind dann bevorzugt infinit (Nothing ventured, nothing gained, First come, first served), gelegentlich aber auch finit (You win a few, you lose a few). Soweit Sprichwortformeln mit Verbspitzenstellung im Englischen vorkommen, enthalten sie keine Inversion, sondern parataktisch koordinierte Imperative, mal syndetisch (Ask no questions and hear no lies), mal asyndetisch (Scratch a cynic, find an idealist). Die Tendenz, konditionale und verwandte Beziehungen in Gestalt parataktischer, z. T. elliptischer Parallelismen auszudrücken (vgl. Henke 1968: 194), ist in der Literatur als Eigenheit eines parömiologischen Subsystems der englischen Grammatik, der „p[roverb]-grammar“ (Norrick 1985: 81–100), gedeutet worden; in neuerer Terminologie könnte man von einem „p-Konstruktikon“ sprechen. Aus diachronischer Sicht handelt es sich um das Ergebnis einer „overarching tendency towards simplification and shortness“ im englischen Sprichwortinventar (Aurich 2009: 181), die sich u. a. im Abbau oder
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Ersatz finit-hypotaktischer Nebensatzstrukturen und einem zunehmenden Hang zum Nominalstil äußert (ebd.: 93); Letzterer zeigt sich besonders deutlich in asyndetisch koordinierten Nominalphrasen wie in No pain, no gain und Rain before seven, fine before eleven. Im Deutschen kommen, wie eingangs erwähnt, in gewissem Maße analoge Strukturtypen vor. Dass das Englische keine parömiologischen V1-Gefüge kennt, hat allerdings auch einen rein syntaktischen Grund: Der Inversion von Subjekt und finitem Verb, die im Deutschen die V1-Stellung hervorbringt, entspricht im Englischen die Subject Auxiliary Inversion, kurz: SAI (vgl. König & Gast 2012: 198). Während Inversion als Formelelement im Deutschen lexikalisch unterspezifiziert ist und die V1-Position im Deutschen deshalb mit jeglichem Verb jedes beliebigen Typs besetzt werden kann, ist sie im Englischen auf Auxiliarverben beschränkt (ebd.: 198–199, vgl. Bruening 2017; detailliertere Übersicht des Kontrasts bei Diessel 2007). Diese allen Englischlernern wohlbekannte Besonderheit schließt Formen wie etwa *scratch you a cynic im heutigen Englisch von vornherein aus, galt aber keineswegs zu allen Zeiten, wie Belege wie (20) aus dem beginnenden Frühneuenglischen zeigen (Leuschner 2016): (20) Come ye not [...], it shal coste you your lyf. (Caxton, spätes 15. Jh.)
Ob es folglich im Englischen früher auch Sprichwörter in Form von V1-Konditionalgefügen gab, ist unklar; in Aurichs (2009: 227–314) Korpus historischer englischer Sprichwörter scheinen sie zu fehlen. Das muss nicht überraschen, erreichten V1-Konditionalgefüge im älteren Englisch doch nie die Frequenz und Produktivität ihrer deutschen Cousins (vgl. Leuschner 2016).5 Dennoch waren Konstruktionen wie (20) im nicht-parömiologischen Sprachgebrauch prämoderner Sprachstufen des Englischen keine Ausnahme. Reste leben im heutigen Englisch in Nischenformen mit bestimmten Protasisverben weiter, die deutlich von den Selektionsregeln der SAI abweichen. So kommen im Englischen schematisierte
|| 5 Eine echte Strukturgeschichte englischer Sprichwörter (möglichst im Vergleich zum Deutschen) ist weiterhin ein Forschungsdesiderat. Aurich (2009: 48–53) behandelt zwar kursorisch einige englische Sprichwortmuster und -formeln, spricht von „kompensatorischem Wandel“ in deren historischer Entwicklung oder Ersetzung (ebd.: 56–61) und zählt einige typische Veränderungen auf, wobei auch mögliche Bezüge zum allgemeinen Wortstellungwandel im Englischen zur Sprache kommen (ebd.: 93–96). Die anschließende historische Behandlung von vierzehn Sprichwörtern unter grammatischen Aspekten (ebd.: 96–119) kommt dennoch nicht über Einzelfallanalysen hinaus.
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Irrelevanzkonditionalgefüge vor, die be oder come im archaischen Konjunktiv Präsens enthalten: (21) February fill dyke, be it black or be it white. (22) come hell or high water – come what may
Die Variante mit come hat sich im amerikanischen Englisch sogar zu einem produktiven Konstruktionsschema mit temporaler Lesart verselbständigt: (23) So come the new year, what is your resolution going to be? (Google6) (24) Heat up in the winter so I’m cooler come the summer (Lloyd Banks, Songtext7)
Im Alltag und im Internet identifizierbare Film- oder Songtitel wie Come Sunday, Come Saturday Morning, Come Next Monday, Come January Snow, Come the Summer Days usw. repräsentieren ebenfalls diese V1-Konstruktion, die nicht zu den SAI-Konstruktionen gehört und in der Literatur zu V1-Konstruktionen im Englischen (s. u.) bisher nicht berücksichtigt wird. Gelegentlich erscheint auch die Indikativform comes, die Bedeutung ist dann generalisierend-temporal bis konditional: (25) Comes the fall, flocks of birds float away to a warmer land (Beth Duncan8) (26) Comes love, nothing can be done (Jazz-Klassiker, zuerst 19399)
Zweierlei fällt an Belegen wie (23)–(26) auf: zum einen die Tatsache, dass come(s) dabei ist, zu einer Präposition mit der limitativ-temporalen Bedeutung von by reanalysiert zu werden (come the summer ~ by the summer, dt. etwa ,(rechtzeitig) zum Sommer‘), zum anderen der Umstand, dass sich für V1-Gefüge mit come(s) die Verwendung in populärer Musik als charakteristischer Funktionskontext herausgebildet hat. Auf diese Tatsache spielt u. a. auch der Titel des Neil-Young-Al-
|| 6 https://www.thestar.com.my/business/business-news/2011/12/19/so-come-the-new-yearwhat-is-your-resolution-going-to-be/ (26.08.2018). 7 https://genius.com/Lloyd-banks-make-it-stack-original-lyrics (26.08.2018). 8 https://www.bethduncan.com/listen/s/comes_the_fall1 (26.08.2018). 9 http://www.songtexte.com/songtext/ella-fitzgerald/comes-love-6373aab7.html (26.08.2018).
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bums Comes a Time (1978) an. Allerdings zeigt der Text des Titelsongs im weiteren Verlauf, dass hier in Wirklichkeit eine Ellipse von initialem there vorliegt,10 in der Terminologie von Auer (1993) also eine „uneigentliche“ Verbspitzenstellung. Insgesamt unterstreichen Belege wie (21)–(26) gerade durch ihren eigenständigen, mit den Bildungsregeln für SAI-Gefüge unvereinbaren phraseologischen Charakter, wie fragmentiert V1-Konstruktionen im heutigen Englisch tatsächlich sind. Die engen Realisierungsmöglichkeiten, die englischen SAI-Gefügen auferlegt sind, zeigen sich nochmals deutlich vor dem Hintergrund des wieter unten zu besprechenden deutschen V1-Slogans (26) von Angela Merkel. Im Internet kursierende englische Übersetzungen haben gewöhnlich als Nebensatzeinleitung entweder if (If the Euro fails, Europe will fail) oder das Modalverb should: (27) Scheitert der Euro, dann scheitert Europa. (27’) Should the Euro fail, Europe will fail.
Lexikalische Verben wie fail am Beginn der V1-Protasis wären, wie bekannt, ohnehin ungrammatisch (*Fails the Euro, ... ). Gerade vor dem Hintergrund der SAIRegel ist aber bemerkenswert, dass auch Varianten mit do-Umschreibung oder mit passenden Hilfsverben (*Does the Euro fail, ... , *Will the Euro fail, ... usw.), die durch die SAI-Regel nicht per se ausgeschlossen werden und tatsächlich noch bis ins 19. Jahrhundert vorkamen (vgl. Denison 1998: 299), korpuslinguistisch heute nicht mehr nachweisbar sind (vgl. Leuschner & Van den Nest 2015). Vielmehr ist die Protasiseinleitung inzwischen auf genau drei Verbformen beschränkt: should ‚sollte‘, had ‚hätte‘ (meist als Hilfsverb, gelegentlich entgegen der SAI-Regel aber auch als Vollverb) und were ‚wäre‘ (meist in der Variante were to, die etwa should entspricht). Heutige englische SAI-Gefüge unterscheiden sich somit nicht nur deutlich von ihren viel permissiveren deutschen V1-Cousins, sondern haben auch gegenüber jener anderen wichtigen SAI-Konstruktion des Englischen, den polaren Interrogativsätzen, eine typisch konditionale Funktionsnische herausgebildet (vgl. Leuschner & Van den Nest 2015; Leuschner 2016).
2.3 Konstruktionale Spezifizierung Bezüglich der sprachsystematischen Verortung der V1-Stellung bzw. der SAI im Deutschen, Englischen und anderen germanischen Sprachen hat sich die neuere Forschung weitgehend von der Fixierung auf den Status von V1-Nebensätzen als ehemaligen polaren Interrogativsätzen (z. B. bei Paul 1920 und Jespersen 1940) || 10 https://genius.com/Neil-young-comes-a-time-lyrics (06.08.2018).
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oder auch ehemaligen altgermanischen V1-Deklarativsätzen (vgl. Hopper 1975) befreit. Nach neuerer Auffassung war die V1-Stellung ursprünglich pragmatisch motiviert (nämlich als Strategie zum Außerkraftsetzen der Topic-CommentStruktur bei bestimmten Typen von Diskursrelationen, Petrova 2018) und spezialisierte sich im Zuge eines sprachübergreifenden, asynchron verlaufenden Grammatikalisierungsprozesses auf bestimmte satztypspezifische Funktionsdomänen, darunter als wichtigste die Interrogativität und die semantisch mit ihr eng verwandte Konditionalität (vgl. Leuschner 2016 mit Diskussion der Literatur). Heutige englische SAI-Gefüge sind als das Ergebnis einer radikalen Fortsetzung dieses Spezialisierungsprozesses zu betrachten, wobei ein Zusammenhang mit der Sonderentwicklung des Englischen zu SVO (vgl. u. a. Los 2015) und dem dadurch bedingten Verlust der funktionalen Opposition zwischen der V2- und der V1-Stellung naheliegt. Nischenkonstruktionen mit be und come(s) wie in (21)– (26) bilden aus historischer Sicht somit Residuen einer vormodernen, dem heutigen Deutsch ähnlichen lexikalischen Unterspezifizierung der V1-Position, wie der obige frühneuenglische Beleg (20) illustriert. Nach Herausbildung der heutigen SAI-Regel in ihrer besonders restriktiven Sonderform für Konditionalgefüge haben sie als verbinitiale Nicht-SAI-Konstruktionen überlebt; die Variante mit dem Protasisverb come(s) hat sogar ein eigenständiges, textsortenspezifisches Produktivitätsmuster sowie eine neue temporale Proto-Präposition hervorgebracht. Im Rahmen der synchronischen Forschung ist der im Vergleich zum Deutschen auffallend fragmentarische Charakter englischer V1-Konstruktionen bisher auf zwei ganz unterschiedliche Weisen modelliert worden: in konstruktionsgrammatischen Ansätzen als Indiz einer Zersplitterung des Netzwerks englischer V1-Konstruktionen in kleine Gruppen klar abgrenzbarer Subkonstruktionen, zu denen auch die „conditional inversion“ gehört (vgl. Goldberg 2006: 166–182; Kim 2011; Chen 2013; zu V1 als „schematischer Konstruktion“ im deutsch-englischen Vergleich Diessel 2007), in formalsyntaktischen Ansätzen als Indiz für den Doppelstatus der SAI als Mikro- und Nanoparameter (vgl. Biberauer & Roberts 2016, 2017; formalsyntaktische Modellierung des deutsch-englischen Kontrasts unter leicht abweichenden theoretischen Prämissen bei Beck & Gergel 2014: 67–77, 159–182). Aus phraseologisch-parömiologischer Perspektive fällt die Wahl zwischen den beiden Analysen leicht, hat der konstruktionsgrammatische Ansatz doch den Vorteil, dass nicht in jedem Einzelfall eine Neugenerierung des betreffenden V1-Gefüges angenommen werden muss. Vielmehr erlaubt es die konstruktionsgrammatische Sichtweise, V1-Gefüge als Instanziierungen einer schon vorhandenen Konstruktion (d. h. einer konventionalisierten Form-Funktions-Paarung im Rahmen eines einzelsprachspezifischen Konstruktikons, Ziem 2014) zu
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betrachten und so den Status des V1-Gefüges als parömiologische Strukturformel theoretisch fundiert modellieren zu können. Die notwendige formseitige Bedingung für diesen Status ist die erwähnte lexikalische Unterspezifizierung der V1-Stellung im Deutschen; sie erlaubt deutschen V1-Gefügen einen ungleich höheren Grad an potenzieller Produktivität (Begriff nach Baayen 2009) als im Englischen, wo in SAI-Gefügen ja überhaupt nur noch drei Verbformen vorkommen (s. o.). Hinsichtlich der realisierten Produktivität (ebenfalls im Sinne von Baayen 2009) gibt es zwischen deutschen und englischen V1-Gefügen dagegen eine bemerkenswerte Ähnlichkeit, zeigen deutsche V1-Gefüge doch eine statistisch signifikante Tendenz zur bevorzugten Verwendung von sollte-, hätte- und wäre-Formen, also der Kognaten genau jener Formen, die im Englischen die einzig realisierten sind (vgl. Leuschner & Van den Nest 2015). Ein gewisser Trend zur Spezialisierung ist somit auch bei deutschen V1-Konditionalgefügen feststellbar, wenn auch nicht annähernd in demselben Maße wie im Englischen. Funktionsseitig sind V1-Gefüge, wie erwähnt, konventionell für Konditionalität spezifiziert, wobei für den Sprichwortstatus (und somit auch weitgehend für die sog. scheinbare Sprichwörtlichkeit, s. u.) der „generalisierende“ Charakter der Konditionalbeziehung (im Gegensatz zur „singulären“ Beziehung – Terminologie nach Zifonun, Hoffmann & Strecker 1997: 2283–2284) konstitutiv ist. Hierin liegt ein weiterer Grund, weshalb SAI-Konditionalgefüge im Englischen ausgeschlossen sind, nämlich die Tatsache, dass should, had und were eine singuläre Lesart der Protasis und damit des gesamten Bedingungsgefüges erzwingen (vgl. Dancygier 1998: 188–194 zu should unter Verweis auf Nieuwint 1989). Das gleiche gilt im Deutschen für Konditionalgefüge mit den jeweiligen Kognaten sollte, hätte und wäre. Prinzipiell jedoch können generalisierende Konditionalverhältnisse im Deutschen unbeschränkt im V1-Format formuliert werden. Ein guter Testfall hierfür sind die englischen Übersetzungen eines im Deutschen sehr bekannten V1-Konditionalgefüges literarischer Herkunft, das sich als Geflügeltes Wort (vgl. Büchmann 2007: 197) verselbständigt hat, nämlich der Beginn von Heinrich Heines Gedicht „Nachtgedanken“ aus dem Jahr 1843 (vgl. Heine 1983: 129): (28) Denk ich an Deutschland in der Nacht, / Dann bin ich um den Schlaf gebracht.
Eine Protasis mit „Should I think ... “ wäre im Englischen nicht übersetzungsadäquat, beschreibt der Vers doch einen generalisierenden Zusammenhang zwischen einem bedingenden Ereignis, das sich in „der“ (generisch verstandenen) Nacht potenziell wiederholt, und dem damit wiederholt einhergehenden Zustand des Wachliegens; in der Terminologie von Zifonun, Hoffmann & Strecker (1997:
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2283–2285) handelt es sich um eine generalisierende konditional-hypothetische Verwendung an der Grenze zur generalisierenden temporalen, offenkundig aber nicht um eine singuläre. Es verwundert deshalb nicht, dass die englische Standardübersetzung des „Denk ich“-Verses (von Hal Draper, Heine 1982: 407, Gedicht „Night Thoughts“) auf ein freies „thinking“-Adjunkt ausweicht, bei dem der Leser neben den entfallenen finiten Informationen auch das semantische Verhältnis der Teilsätze interpretatorisch ergänzen muss: (29) Thinking of Germany in the night, / I lie awake and sleep takes flight.
Eine dem deutschen Original entsprechende generalisierende Lesart ist hier zwar nicht völlig zwingend, aber doch stark präferiert. Verwendet man dagegen Should I think ..., wird eine singuläre Lesart erzwungen; das gleiche gilt im deutschen Original, wenn man Denk ich ... durch Sollte ich … denken ersetzt. Die ursprünglich im Präsens formulierte Apodosis verliert dabei in beiden Sprachen zusätzlich an Akzeptabilität gegenüber einer im Konjunktiv II umformulierten Variante: (30) Should I think of Germany in the night, ??I lie awake and sleep takes flight / I’d lie awake and sleep'd take flight. (28’) Sollt’ ich an Deutschland denken in der Nacht, dann ?? bin ich um den Schlaf gebracht / wär’ ich um den Schlaf gebracht.
Das Präsens stellt den dargestellten Zusammenhang in eine generalisierende Realis-, der Konjunktiv II dagegen in eine Potentialis-Perspektive. Letztere ist deutlich leichter mit einer singulären Lesart kompatibel als das ursprüngliche Präsens.
3 Variabilität 3.1 Modifikationen Nachdem sich in der Phraseologie und Parömiologie der Konsens herausgebildet hatte, dass sich Sprichwörter (i. w. S.) gegenüber anderen Phraseologismen durch ihren Status als eigenständige (Mikro-)Texte auszeichnen, setzte sich in einem nachfolgenden Erkenntnisprozess die Feststellung durch, dass sie dennoch weder völlig fest sind, noch von ihrer textlichen Umgebung isoliert dastehen müssen (vgl. Burger 2015: 107; ausführlicher Lüger 1999: 110–125). Vielmehr sind auch Sprichwörter variabel und verfügen dadurch über „textbildende Potenzen“,
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die durchaus phraseologietypisch sind (vgl. Sabban 2007; Hoffmann 2012: 183– 188). Bevor wir uns Letzteres vor Augen führen, betrachten wir aus gegebenem Anlass zunächst jedoch nochmals den oben als (28) zitierten Heine-Vers, der zum Geflügelten Wort geworden ist. Hiervon ausgehend ist eine reduzierende Modifikation usuell geworden, die nur noch die erste Hälfte der Protasis, d. h. den Halbvers Denk ich an Deutschland, intakt lässt. Diese wird (mit einer nicht-apokopierten Variante der Verbform) u. a. in dem Lied „Ich will nicht vergessen (Denke ich an Deutschland)“ der Ostrockband Puhdys von 1984 zitiert und poetisch weiterverarbeitet; nach ihm wurde auch das 2006 erschienene Sammelalbum Denke ich an Deutschland mit „Original Ost-Rock Balladen“ benannt (und zwar ebenfalls in der Form mit -e). In anderen Kontexten wird der Halbvers ebenfalls gern zitiert, um Heines selbstreflexiv-kritischen Gestus in Bezug auf die nationale Identität der Deutschen zu evozieren. So gibt es im Deutschlandfunk schon seit mehreren Jahren eine wöchentliche Reihe sieben- bis achtminütiger Beiträge unter dem Titel „Denk ich an Deutschland“, in der Politiker, Künstler und Intellektuelle am Sonntagmorgen zu klassischer Musik über ihr Verhältnis zu Deutschland und/oder zur deutschen Sprache und Kultur reflektieren.11 Um das Jahr 2000 war „Denk ich an Deutschland ...“ auch der Obertitel einer losen Reihe semi-dokumentarischer Fernsehfilme des Bayerischen und des Westdeutschen Rundfunks.12 Weitere Beispiele dürften sich finden lassen. Während die auf den ersten Halbvers reduzierte Form des Heine-Zitats inzwischen also ihrerseits den Status eines Geflügeltes Wortes erreicht hat, interessieren uns im Folgenden die okkasionellen Modifikationen von V1-Sprichwörtern. Illustrative Beispiele finden sich in Belegen wie (31)–(33), die im OWID-Sprichwörterbuch für die textliche Einbettung der beiden dort genannten V1-Sprichwörter i. w. S. zitiert werden. (31) und (32) modifizieren beide den Gemeinplatz (4) Kommt Zeit, kommt Rat (hier teils mit zusätzlichen Kürzungen, angedeutet durch eckige Klammern): (31) Bisher haben sich die Stadtteile hartnäckig geweigert, ihre Selbständigkeit in Sache Bibliotheken aufzugeben. Am 29. November versucht die Senatsverwaltung (...) einen erneuten Vorstoß: [...]. Kommt Zeit, kommt Fusion. (32) „Kommt Zeit, kommt Leid“ so [sic] könnte man zumindest einen Teil des Ergebnisses einer deutschen Studie umschreiben, welche das Verhältnis von Schwiegertöchtern und -söhnen zu ihren Eltern und angeheirateten Familienmitgliedern untersuchte.
|| 11 http://www.deutschlandfunk.de/denk-ich-an-deutschland.1205.de.html (06.08.2018). 12 https://de.wikipedia.org/wiki/Denk_ich_an_Deutschland_%E2%80%A6 (06.08.2018).
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Abgesehen von der jeweils unterschiedlichen textlichen Funktion der Modifikation fällt in (31) und (32) auf, dass sich gerade nicht-metaphorische V1-Gemeinplätze mit knapper, salienter Struktur wie Kommt Zeit, kommt Rat für die Modifikation anbieten, lässt sich doch bei ihnen mittels gezielter lexikalischer Substitution unmittelbar eine Inhaltsänderung (hier: textbezogene Spezifizierung, Sabban 1991, 1998) erreichen. Bei komplexeren Sprichwörtern wie Ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch liegt dagegen eher eine strukturelle Reduktion nahe wie etwa in (33), wo die Protasis entfällt und die textliche Einbettung durch die Modifikation des Tempus und die Expansion mittels und schon unterstützt wird: (33) Wie gehen Vorstand und Trainer mit dem disziplinlosen Verhalten einiger Spieler um, das der Spvgg. in den jüngsten zwei Spielen fünf Platzverweise einbrachte? Bei beiden Partien stand Trainer Peter Diehl nicht am Spielfeldrand – und schon tanzten die Mäuse auf dem Tisch.
Indem der Leser das Fehlen der vertrauten Protasis spontan anhand von Kontextelementen kompensiert, wird eine Gleichsetzung des abwesenden Trainers und der undisziplinierten Spieler mit der außerhäusigen Katze bzw. den tanzenden Mäusen bewirkt und somit letztlich eine Tom-und-Jerry-artige Hassliebe zwischen den Parteien suggeriert. Belege struktureller Expansion weist OWID auch bei Kommt Zeit, kommt Rat aus. Diese passen insofern gut zu dessen formelhaftem Charakter, als sie die asyndetische Hinzufügung einer vollständigen zweiten Apodosis beinhalten. Anhand der OWID-Belege (34)–(36) lassen sich drei Typen solcher strukturell expandierenden Modifikationen unterscheiden: (34) [...] Überall im Bezirk wird nach Leibeskräften gebaggert und gepritscht, da kann es schon mal vorkommen, dass vereinzelte Konditionsmängel die Freizeitsportler in den Staub zwingen. Doch nicht verzagen: Kommt Zeit, kommt Rat, kommt Puste! (35) Bislang galt, bei Professoren wie bei den übrigen zwei Millionen Staatsdienern auch, dieses Besoldungsprinzip: Kommt Zeit, kommt Rat, kommt Oberrat. [...] (36) Kommt Zeit, kommt Rat, kommt Attentat.
Während in (34) der ursprüngliche Gemeinplatz semantisch und pragmatisch unberührt bleibt, wird in (35) die Komponente Rat nachträglich im Sinne eines Beamtendienstgrads umgedeutet, sodass die beruhigende Botschaft des Originals entfällt und ein Antigemeinplatz entsteht. In (36) schließlich liegt ein klassisches Antisprichwort vor (auch zitiert in Mieder 1998: 338), das genau wie (35) einen sprichworttypischen Reim enthält. Belege wie (31)–(36) zeigen, wie schwer es in der Praxis ist, bei Sprichwörtern zwischen „textbezogenen“ und „sprichwortbezogenen“ Modifikationen (Sabban
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1991, 1998) zu unterscheiden; es dominiert der Eindruck unterschiedlicher Grade textlicher (Un-)Selbstständigkeit, die bis zum völlig eigenständigen Antisprichwort wie in (36) reichen können. Übergangsformen mit zugleich sprichwort- und textbezogener Modifikation liegen auch im Falle von Wellerismen wie (37) und Buchtiteln wie (38) vor: (37) Kommt Zeit, kommt Unrat, sagte der arbeitslose Straßenkehrer. (Mieder 1998: 338) (38) Kommt Zeit, kommt Mord. (Durbridge 1965, Wehle 2014)
In diesen Belegen begegnet uns erneut das oben schon in (31) und (32) illustrierte Verfahren der einfachen lexikalischen Substitution. Letzteres wird in dem Gedicht „Kommt Zeit“ von Michael Glasmeier aus dem Jahre 1968 poetisch nutzbar gemacht, in dem für Rat in Kommt Zeit, kommt Rat nacheinander insgesamt 25 assoziativ verknüpfte Alternativen von Straßenbahn, Autobus und Eisenbahn über Panzer, Krieg und Friede bis zu Regen, Flugzeug und schließlich ich substituiert werden (zitiert in Mieder 1998: 337–338; dieses und weitere Gedichte auch in Mieder 1990). Auch zu komplexeren V1-Sprichwörtern finden sich literarische Pendants wie etwa in dem erotischen Gedicht „lustlehre“ von Heinrich Schröter, in dem das oben genannte Sprichwort (12) Gibt man dem Teufel ... zweifach modifiziert wird (abgedruckt in Mieder 1990: 103). Eine besonders komplexe Variante poetischer Sprichwortmodifikation liegt schließlich in dem Liedtext „Das Paradies ist hier“ des Liedermachers Heinz Rudolf Kunze in (40) vor.13 Die erste Strophe spielt auf das Sprichwort (39) an, das gewöhnlich in der wenn-Form gebraucht wird. Bei Kunze erscheint es dennoch in V1-Form und löst ein komplexes phraseologisches Modifikationsspiel aus: (39) Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muss der Prophet zum Berg kommen. (OWID; dort keine V1-Varianten) (40) Kommt das Glück nicht zum Propheten, / Muss sich der Prophet bewegen / [...]. Kommt das Glück nicht in die Reihe, / Muss man aus der Reihe tanzen, / [...]. Wenn wir gut sind zueinander / Und uns lieben und uns achten, / Ist die Zeit, die wir erlebten, / [...] / Eine gute Zeit gewesen.
|| 13 http://werkzeug.heinzrudolfkunze.de/musik/songs/dasparadies isthier.html (06.08.2018).
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Zur strukturellen Variation mittels der V1-Struktur tritt in der ersten Strophe eine lexikalische Modifikation, indem Berg durch Glück ersetzt wird. Die zweite Strophe beginnt wiederum in Form eines V1-Gefüges, wobei das Verb kommen aufgegriffen wird, diesmal als Teil des Phraseologismus (nicht) in die Reihe kommen, den der nächste Vers wiederum mittels einer Gebrauchsform des Phraseologismus aus der Reihe tanzen aufgreift. Die dritte Strophe schließlich geht zu einem wenn-Gefüge über und verzichtet ganz auf Phraseologismen.
3.2 Scheinbare Sprichwörtlichkeit Je nach dem Ausmaß ihrer textbezogenen Modifikation weisen einige der im vorigen Abschnitt besprochenen Sprichwortmodifikationen eine „scheinbare Sprichwörtlichkeit“ (Mieder 1975a: 70) auf, die auf unterschiedlichen Kontextualisierungssignalen (oder „-hinweisen“, Auer 1986 nach „contextualization cues“ bei Gumperz 1982) beruht. Dabei sind Kontextualisierungssignale lediglich eine notwendige, keine hinreichende Bedingung: Je salienter der Textbezug der Modifikation, desto eher liegt eine bloße modifizierende Anspielung vor, die gemäß „dem Prinzip des Abweichens von den Normerwartungen [...] stilistische Überraschungseffekte“ (Ptashnyk 2009: 236) erzeugt. So wirkt in den oben besprochenen Modifikationen (31), (32) und (34) zu Kommt Zeit, kommt Rat die knappe, saliente, mit kommen lexikalisch teilspezifizierte V1-Form als komplexes parömiologisches Kontextualisierungssignal, ohne dass deswegen den modifizierten Formen eine scheinbare Sprichwörtlichkeit zukäme. Gemeinsam ist diesen Beispielen eine Strategie, bei der aus dem Gemeinplatz die Schablone Kommt Zeit, kommt X abstrahiert und darin X lexikalisch ersetzt wird; in dem weiter oben im Text kurz nach (38) erwähnten Glasmeier-Gedicht „Kommt Zeit“ geschieht dies in systematischer Weise, um im Balanceakt zwischen Parodie und politischer Kritik zum Weiterdenken über die zum Sprichwort geronnene Alltagsweisheit hinaus anzuregen. In (35) und (36), wo wie in (34) strukturelle Expansion mittels einer zweiten Apodosis vorliegt, ist es der Reim Rat – Oberrat bzw. Rat – Attentat, der als parömiologisches Kontextualisierungssignal wirkt und die charakteristische Spannung zwischen sprichworttypischer Form und sprichwortuntypischer Botschaft unterstreicht; allerdings liegen in (35) und (36) unterschiedliche Typen von Antisprichwörtlichkeit statt von scheinbarer Sprichwörtlichkeit im eigentlichen Sinne vor. In dem Wellerismus (37) (auch Wellerismen gehören bekanntlich zu den Antisprichwörtern, Mieder 1998) und dem Buchtitel (38) werden die Wörter Unrat bzw. Mord als zusätzliche, gegenläufige (im Falle von Mord: auf die Textsorte Kriminalroman bezogene) Kontextualisierungssignale genutzt, was diesen Modifikationen ebenfalls eine
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ironisch-parodistische Note verleiht. In dem Kunze-Liedtext (40) fungiert zunächst die Kollokation von kommt in V1-Stellung mit nicht zum Propheten als parömiologisches Kontextualisierungssignal, dann nur noch V1-kommt. Hinzu treten der belehrende Tonfall und das trochäische Versmaß, die ebenfalls als parömiologische Kontextualisierungssignale wirken und konsequent durchgehalten werden; der Trochäus ist vermutlich auch ein Grund, weshalb in der dritten Strophe auf die wenn-Form ausgewichen wird. Nochmals anders funktioniert das Zusammenspiel von Modifikation und Kontextualisierung beim Parodieren von Bauern- und Wetterregeln. (41) stammt aus einer im Internet kursierenden anonymen Liste von zehn Bauernregel-Parodien, von denen nicht weniger als acht die Form von V1-Gefügen haben:14 (41) Liegt der Bauer tot im Bett, war die Bäuerin wohl zu fett.
Anders als den zuvor genannten Beispielen liegt (41) kein schon vorhandenes Original zugrunde. Vielmehr kontextualisiert Bauer (41) allgemein als Exemplar der Textsorte „Bauernregel“, darin unterstützt vom Metrum, vom Endreim und vom Kontrastpaar Bauer – Bäuerin. Ähnlich wie bei Antisprichwörtern kontrastiert die textsortentypische Form mit dem textsortenuntypischen Inhalt, sodass (statt scheinbarer Sprichwörtlichkeit) eine Antibauernregel entsteht. Scheinbare Sprichwörtlichkeit im von Röhrich & Mieder (1977: 112) intendierten Sinne einer „Assoziation zum Sprichwort“ entsteht dagegen bei Werbeslogans, die „auf das vorgeprägte Baumuster eines Sprichworts zurückgreifen“, um den „dem Sprichwort eigene[n] Autoritätsanspruch sowie dessen Glaubwürdigkeit auf die Werbebotschaft [zu] übertragen“ (ebd.: 5, ausführlicher ebd.: 108– 114; zur Formelhaftigkeit von Werbeslogans auch Polajnar 2011; zu Werbeslogans allgemein Sulikan 2012). Beispiele hierfür sind kommerzielle Slogans in Form von V1-Gefügen wie (42)–(44): (42) Ist die Katze gesund, freut sich der Mensch. (Kitekat, Internet15) (43) Hast du keins/keinen – miet dir eins/einen. (u. a. Verleih von Motorrädern, Baumaschinen usw., Internet16)
|| 14 http://slideplayer.org/slide/891642/ (06.08.2018). 15 http://www.markenlexikon.com/slogans_k.html (26.08.2018). 16 https://motobike-cottbus.blogspot.com/2018/08/hast-du-keins-miet-dir-eins.html, http://www.hängerlänger.de/baumaschienentransporter.htm (beide 26.08.2018).
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(44) Hast du einen Reiseplan, frag doch mal die Eisenbahn. (Deutsche Reichsbahn der DDR, mündlich kolportiert)
Im Gegensatz zu allen bisher in diesem und im vorigen Abschnitt genannten Beispielen kommen (42)–(44) ohne lexikalische Kontextualisierungssignale aus. Vielmehr ist es die formale Ausdrucksgestalt allein, die im Zusammenwirken von V1-Stellung, Reim, Metrum, Parallelismus, Wiederholung und Kontrastpaarbildung die notwendigen parömiologischen Kontextualisierungssignale bereitstellt und so den Eindruck scheinbarer Sprichwörtlichkeit erweckt. Offen ist bisher die Frage nach V1-Slogans, die wie die von Sabban (1991) behandelten Werbeslogans (unter denen keine V1-Gefüge sind) direkt auf schon vorhandenen Sprichwörtern beruhen. Ohne solche intertextuellen Bezüge (siehe hierzu Sulikan 2012: 185–188) kommt die strukturelle Expansionsstrategie in (45) aus: (45) Bist du ein Amboß, so leide wie ein Amboß; bist du ein Hammer, so schlage zu wie ein Hammer. (Dove 1990 [1872]: 218)
Dagegen spielt (46) auf ein komplexes V1-Sprichwort an, das u.a. in der berlinischen Variante (46’) bekannt ist. Zum Überraschungseffekt trägt bei, dass die Schlussfolgerung des Originals (also säufste) umgekehrt wird (also läufste nicht): (46) Läufste, kommste an. Läufste nicht, kommste auch an. Also läufste nicht. (Aufschrift auf Bussen der Berliner Verkehrsbetriebe BVG, Frühjahr 2018) (46’) Säufste, stirbste. Säufste nich, stirbste ooch. Also säufste. (u.a. mit Kommentar in Zimmermann 2014: 80–84)
Das historische Beispiel (45) mit seiner auf dem kontrastierenden Kollokationspaar Amboß – leiden / Hammer – zuschlagen beruhenden A-B-Struktur stammt aus dem Politischen Sprichwortbrevier, das der revolutionsfreundliche K.F.W. Wander 1872 unter dem Pseudonym N.R. Dove veröffentlichte. Das gegenwartssprachliche Beispiel (46) zeigt eine A-A’-B-Struktur und soll mit berlinischer Schnoddrigkeit und umgangssprachlicher Form für den Gebrauch der öffentlichen Verkehrsmittel in der Hauptstadt werben, ohne allerdings die spezifisch berlinischen Sprachmerkmale zu übernehmen. Wie der Vergleich mit den zuvor behandelten Nicht-Slogans zeigt, besteht die idealtypische Besonderheit von (42)–(46) in dem besonderen „postulativen“ Charakter von Slogans (Fix 2007 zu „Slogan“ und „Sprichwort“ als unterschiedlichen Ausprägungen der Textsortengattung „Spruch“ gemäß Jolles 2006 [1930]: 150–
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170; vgl. auch Hermanns 2007). In (43)–(45) äußert sich dieser in der imperativischen Apodosis als Exponent der angestrebten appellativen Wirkung des Slogans; in (42) und (46) bleibt der postulative Charakter hingegen im Hintergrund, sodass diese Exemplare hinsichtlich ihrer Funktionsweise sprichwortähnlicher sind. Darin erinnern sie an den oben bereits als (27) zitierten, hier als (47) wiederholten Ausspruch Angela Merkels: (47) Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.
Hier wird die V1-Formel für einen bis zu einem gewissen Grad scheinbar sprichwörtlichen Slogan adaptiert, der von Merkel von 2010 bis mindestens 2015 mehrfach geäußert und parallel dazu auch in der Öffentlichkeit breit zitiert, diskutiert und variiert bzw. modifiziert wurde. Instruktiv ist die Tatsache, dass der intendierte Appell zugunsten einer Politik der Eurorettung vom Hörer inferenziell erschlossen werden muss (siehe Kindt 2007 zu derartigen Inferenzprozessen; zu politischen Slogans allgemein Donalies 2017). Ähnliches gilt bei (42) und (46): Auch hier ist der Appell zum Kauf der betreffenden Katzenfuttermarke bzw. zur Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel nur per Inferenz erschließbar, in diesen Fällen sogar erst durch mehrfache Inferenz, muss doch zunächst von Ist die Katze gesund auf die gesundheitsfördernde Wirkung des Futters bzw. vom negierten Läufste nicht auf die positive Alternative (Busfahren) geschlossen werden, wobei Letzteres nur dank des Kontexts (Aufschrift auf Omnibussen) möglich ist. Unterstützend wirkt dabei der generalisierende Charakter der Konditionalbeziehung, der (42) und (46) auch in satzsemantischer Hinsicht sprichwortähnlich macht. In diesem Punkt unterscheiden sich (42) und (46) deutlich von (47), wo zwar in Gestalt der V1-Struktur und anderen Formaspekten ebenfalls deutliche parömiologische Kontextualisierungssignale vorliegen (vgl. unten), mit dem Verb scheitern jedoch ein singuläres Ereignis und damit eine sprichwortferne Art der Konditionalbeziehung verbalisiert wird.
3.3 Der Slogan Scheitert der Euro, ... Während Sprichwörter in Form von V1-Konditionalgefügen im Allgemeinen bisher kaum die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen haben, fällt die Bilanz für den Slogan Scheitert der Euro, dann scheitert Europa deutlich besser aus. Zwar fehlen weiterhin Studien, die speziell diesem Satz gewidmet sind (Ausnahme: die unveröffentlichte Arbeit von Degrande 2016), in politolinguistischen Untersuchungen wird er aber gelegentlich behandelt (am ausführlichsten von Klein 2017), und auch in der politologischen Literatur wird er erwähnt, sofern sie
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die Rhetorik der Eurokrise thematisiert (z. B. Illing 2017: 193; zu Merkels EuroRettungspolitik insgesamt u. a. Zimmermann 2015). Das Interesse an Merkels Euro-Slogan ist Teil des zunehmenden Interesses an einer Einheit der politischen Kommunikation, die neben den Einheiten Wort, Text und Diskurs noch bis vor wenigen Jahren vernachlässigt wurde, nämlich dem Satz, genauer: dem „salienten (politischen) Satz“ (Klein 2017 und früher, Jacob 2016; „markanter Satz“ bei Steyer 2013). Bei salienten politischen Sätzen handelt es sich in aller Regel um satzförmige Aussagen, die von herausgehobenen Sprecher/innen in politisch brisanten Situationen getätigt werden und anschließend im Zuge einer „Zitierkarriere“ (Steyer 2013; zum typischen Verlauf Klein 2017) in das kollektive Gedächtnis bzw. das sprachlich gebundene Wissen der betreffenden Sprachgemeinschaft eingehen. Ein auch international sehr bekannt gewordenes Beispiel ist Angela Merkels Slogan Wir schaffen das (2015), der im Fokus der Öffentlichkeit ihren „Euro“-Slogan ablöste; zwischenzeitlich war bereits Merkels Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht (2013) zum salienten politischen Satz geworden. Weitere deutschsprachige Beispiele sind das Michail Gorbatschow zugeschriebene Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben (1989), Willy Brandts Wir wollen mehr Demokratie wagen (1969) und weitere Aussprüche Brandts sowie das auf ihn zurückgehende Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört (1989), Christian Lindners Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren (2017) usw. Zwar können auch anonyme oder semi-anonyme Slogans wie Nie wieder Krieg! oder Atomkraft? Nein danke! (zu Letzterem Jacob 2016) zum salienten politischen Satz avancieren, im Allgemeinen gehen saliente politische Sätze jedoch auf aktive Politiker zurück. Als mindestens dreifache Quelle salienter politischer Sätze – und als eine ihrer ganz wenigen Urheberinnen neben Rosa Luxemburg (Freiheit ist immer nur die Freiheit der Andersdenkenden) – schickt sich Merkel an, in eine Reihe mit ihrem Amtsvorgänger Willy Brandt zu treten, dessen „Sprichwortrhetorik“ besonders gut dokumentiert ist (vgl. Mieder & Nolte 2015; zu Sprichwörtern in Politik und Journalismus bereits Mieder 1975b). Angela Merkel als Primärsprecherin äußerte den salienten politischen Satz Scheitert der Euro, dann scheitert Europa erstmals im Deutschen Bundestag in einer Regierungserklärung am 19.05.2010. Vorausgegangen war eine knapp einwöchige Genese von der ersten öffentlichen Formulierung des zugrundeliegenden Gedankengangs in Merkels Rede zur Verleihung des Karlspreis an Donald Tusk am 13.05. über ein Interview in der Süddeutschen Zeitung vom 15.05. bis zur Regierungserklärung vier Tage später (dokumentierbar mittels der Suchfunktion auf http://www.bundesregierung.de):
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(48) Warum also Griechenland retten, warum den Euro retten [...]? Weil wir spüren: Scheitert der Euro, dann scheitert nicht nur das Geld. Dann scheitert mehr. Dann scheitert Europa, dann scheitert die Idee der europäischen Einigung. (Karlspreis Aachen, 13.05.2010) (49) Es geht insgesamt nicht nur um den Euro. [...] Denn wir wissen: Scheitert der Euro, dann scheitert mehr. (Süddeutsche Zeitung, 15.05.2010) (50) Die Währungsunion ist eine Schicksalsgemeinschaft. Es geht deshalb um nicht mehr und nicht weniger als um die Bewahrung und Bewährung der europäischen Idee. Das ist unsere historische Aufgabe; denn scheitert der Euro, dann scheitert Europa. Wenden wir diese Gefahr aber ab, dann werden der Euro und Europa stärker als zuvor sein. (Bundestag, 19.05.2010)
Gut erkennbar ist zum einen die frühzeitige Festlegung auf die V1-Konditionalform mit der Protasis Scheitert der Euro und die Wiederholung von scheitert bei erst allmählicher, tastender Formulierung der Apodosis sowie zum anderen der besondere Wille zur rhetorischen Gestaltung der Regierungserklärung, wo das im Euro-Satz heraufbeschworene Scheitern um ein positives Szenario (ebenfalls in Form eines V1-Konditionalgefüges) ergänzt wird. Zusätzlich ist der Euro-Satz in der Regierungserklärung als Begründung für den vorangegangenen Aussagenkomplex markiert, der als das eigentliche inhaltliche Zentrum der betreffenden Passage erscheint. Auch später platzierte Merkel den Slogan noch mehrfach in Reden (17 Wiederholungen sind über https://www.bundesregierung.de rekonstruierbar, die letzte im Juni 2015). Dabei erkannte sie implizit auch seine zwischenzeitliche Verselbständigung als Zitiertext an, indem sie ihn mehrfach als Selbstzitat markierte (z. B. Ich habe des Öfteren gesagt: Scheitert der Euro, dann scheitert Europa, World Economic Forum, 28.01.2011). Diesen Status hatte der Satz dank zahlreicher Sekundärsprecher in Politik, Medien, Internetforen usw. erlangt, die für vielfache Reformulierungen (im Sinne von Steyer 1997) und Kommentierungen sorgten. Insgesamt 291 Belege hierfür von 2010 bis 2016 hat Degrande (2016) gesammelt und ausgewertet, zweifellos eine zu niedrige Zahl. Wie bei den oben behandelten echten oder scheinbaren Sprichwörtern lassen sich auch beim Euro-Slogan usuelle Varianten und okkasionelle Modifikationen im Sinne von Ptashnyk (2009) unterscheiden. Zu den usuellen Varianten bei Merkel selbst gehört das Weglassen des Resumptivadverbs in der Apodosis (Scheitert der Euro, scheitert Europa) und die Umformulierung der Protasis mit wenn, vor allem bei Nachstellung (Merkel im Bundestag, 27.02.2012): „Europa scheitert, wenn der Euro scheitert. Europa gewinnt, wenn der Euro gewinnt.“ Mit der subjunktionalen Form wird nicht nur die unübliche Nachstellung einer indikativischen V1-Protasis (vgl. Reis & Wöllstein 2010: 138–139) vermieden, die
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Nachstellung selbst ermöglicht im vorliegenden rhetorischen Zusammenhang eine Fokussierung des rhematisierten Kontrastpaars scheitern – gewinnen. Sekundärsprecher, die den Slogan zitieren und/oder reformulieren, neigen übrigens auch ohne solche funktionale Motivation zur subjunktionalen Form. Okkasionelle Modifikationen/Reformulierungen finden sich vereinzelt zwar auch bei Merkel, die weitaus meisten sind aber naturgemäß auf Sekundärsprecher zurückzuführen. Sie gehen meistens von der wenn-Form aus und reichen von der Negation (Wenn der Euro scheitert, dann scheitert nicht Europa, Wenn der Euro scheitert, scheitert doch nicht Europa – dann scheitert Angela Merkel) über die Reformulierung als rhetorische Frage (Scheitert Europa wirklich, wenn der Euro scheitert?) bis zu mehr oder weniger stark paraphrasierenden Einbettungen (Merkel, die [...] allen Ernstes meint, dass Europa scheitert, wenn der Euro scheitert, Merkels Aussage, wonach mit dem Euro auch Europa scheitert usw.). Modifikationen, die die V1-Form beibehalten, zeigen oft Substitutionen in der Apodosis: (51) Scheitert der Euro – scheitert Merkel! (Internetforum, u.a. Der Tagesspiegel online, 15.10.201217) (52) Die Trümmerfrau. Scheitert der Euro, scheitert Merkels Kanzlerschaft (Der Spiegel 28/2015, 04.07.201518)
Gelegentlich kommen aber auch Modifikationen in der Protasis (hier: durch Negation und Substitution) vor, mit denen eine interdiskursive Transposition einhergehen kann: (53) Scheitert der Euro nicht, scheitert Europa. (Tageszeitung) (54) Aus heutiger Sicht müssten wir eigentlich sagen: Scheitern wir an einer humanen Flüchtlingspolitik, dann scheitert Europa. (Anton Hofreiter, Bundestag)
Während Modifikationen wie in (51)–(52) die Botschaft des Slogans unterlaufen oder demaskieren sollen, bleibt Europa in (53)–(54) als Hochwertwort erhalten und wird die implizite Warnung vor einem Scheitern Europas lediglich neu kontextualisiert.
|| 17 https://www.tagesspiegel.de/meinung/andere-meinung/die-bundeskanzlerin-im-wahlkampf-scheitert-der-euro-scheitert-merkel/7255748.html (26.08.2018). 18 http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-135800910.html (26.08.2018).
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Bemerkenswert ist, dass sich die Formgestalt des Euro-Slogans aus dem Zusammenwirken der V1-Sprichwortformel mit allgemeinen Formtendenzen salienter politischer Sätze ergibt (vgl. Klein 2017). Rhetorische Figuren wie Brevitas, Repetitio und Parallelismus sind am Euro-Slogan ebenso leicht nachweisbar wie an Gemeinplätzen wie Kommt Zeit, kommt Rat und vielen anderen Sprichwörtern i. w. S. und bieten sich somit als parömiologische Kontextualisierungshinweise an. Darüber hinaus erleichtern sie dem Euro-Slogan als Satzgefüge die Einpassung in die typischen Eigenschaften salienter politischer Sätze, die sonst fast immer Einfachsätze sind (vgl. Klein 2017: 141–142). Dazu gehört die begrenzte Anzahl der Wörter (3–8 – hier: 6), die der durchschnittlichen Länge satzwertiger Phraseologismen entspricht (5–8, am häufigsten 6; Lüger 1999: 103) und die praktikable Höchstgrenze von zehn Wörtern bei politischen Slogans (Donalies 2017: 658) deutlich unterschreitet. Ferner gehören dazu die Zahl der Konstituenten (ca. 3 – hier: 4, davon eine Wiederholung), die geringe Komplexität der beteiligten VPs und NPs, die Fokussierung der VP, der Primärakzent auf dem letzten Wort (hier: jedes Teilsatzes), die deontische Lexik (hier negativ: scheitern als zu verhindernde Gefahr), die Mehrfachillokution (hier: explizite Assertion und implikatierter Appell), die Präsupposition eines Konflikts (hier: zwischen unterschiedlichen Strategien zur Bewältigung der Eurokrise) sowie die Funktion, im Rahmen dieses Konflikts eine bestimmte Handlungsweise toposbasiert zu legitimieren (hier: argumentative Stützung der Euro-Rettungspolitik mittels Konsequenztopos). Die zuletzt genannten teils satzsemantischen, teils pragmatisch-rhetorischen Eigenschaften sind es vor allem, die dem Euro-Slogan sein Potenzial zur Diskurslenkung verleihen (vgl. Klein 2017: 153). In der Terminologie der Agonalitätstheorie (vgl. Felder 2015) ausgedrückt, indizierte er im Diskurs der Eurokrise ein Agonales Zentrum, was Merkel ausnutzte, indem sie ihn u. a. strategisch vor Abstimmungen zur Euro-Rettung in ihren Bundestagsreden platzierte (vgl. Klein 2017: 153). Darüber hinaus erwies sich seine Wirksamkeit allerdings als begrenzt, trug das von ihm evozierte negativ-deontische Framing der Euro-Rettung doch offenbar dazu bei, dass ihn die CDU im Bundestagswahlkampf 2013 nicht nutzte (so die Vermutung von Klein 2013: 203, Fußnote 11, der außerdem auf die reservierte Haltung Horst Seehofers verweist). Hineingespielt haben mag auch, dass Merkels Euro-Strategie innenpolitisch auf einer informellen „Großen Koalition für den Euro“ beruhte (Zimmermann 2015), im Wahlkampf also nur begrenzt zur Profilierung gegenüber der SPD taugte, und dass die hyperbolische Warnung vor den Folgen einer anderen Politik unverkennbare Züge der bekannten Alternativlosigkeits- oder „TINA“-Rhetorik Merkels und anderer Politiker trug (vgl. Séville
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2017: 271–411, zum „Euro“-Slogan sehr kurz ebd.: 362), was in vielen zeitgenössischen Reaktionen kritisiert wurde (Degrande 2016).
4 Schlussfolgerungen und Ausblick Der vorliegende Beitrag begann mit der Überlegung, dass sich das Verhältnis der Phraseologie zu ihren text- bzw. diskurslinguistisch orientierten Nachbardisziplinen aus zwei komplementären Perspektiven beleuchten lässt, und zwar anhand zweier Fragen: (i) wie das Interesse benachbarter Teildisziplinen an formelhafter Sprache in der phraseologischen Forschung berücksichtigt werden kann und (ii) was die phraseologische Forschung ihrerseits zu diesen Nachbardisziplinen beitragen kann. Der Schlüssel zur Beantwortung der beiden Fragen wurde in der Formelhaftigkeit von Sprichwörtern (hier am Beispiel des V1-Konditionalgefüges) und dem darauf basierenden Phänomen der „scheinbaren Sprichwörtlichkeit“ gefunden, die für das Interesse eine der diskursanalytisch arbeitenden Teildisziplinen der Linguistik, der Politolinguistik, gut anschlussfähig ist. Im Hinblick auf Frage (i) gewinnt die Phraseologie in Gestalt der salienten politischen Sätze einen Phänomenbereich hinzu, dessen Eigenschaften und Funktionsweisen in der Politolinguistik inzwischen gut erforscht sind. Sie in den Gegenstandsbereich der Phraseologie aufzunehmen, bedeutet eine Bereicherung, die weit über die oft wiederholte Feststellung der Beliebtheit sprichwortartiger Formeln für politische (wie auch kommerzielle) Slogans hinausführt. Umgekehrt stellt die Phraseologie i. w. S. der Politolinguistik im Hinblick auf Frage (ii) ein empirisches und theoretisches Wissen zur Verfügung, anhand dessen saliente politische Sätze mit ihren offenkundigen Zügen idiomatischer Prägung als Teil des sprachlichen Common sense (vgl. Feilke 1994) jener Sprachgemeinschaft beschrieben werden können, deren öffentlichen Diskurs die Politolinguistik jeweils untersucht. Als disziplinübergreifender Theorierahmen einer solchen wechselseitigen Integration des phraseologischen und des politolinguistischen Interesses an satzförmig-formelhafter Sprache bietet sich die soziokognitiv fundierte Spielart der Konstruktionsgrammatik an (vgl. Ziem 2015, u. a. im Gefolge von Croft 2009 und Schmid 2014), die neben dem einzelsprachlichen Konstruktikon und der Kognition des individuellen Sprechers die Sprachgemeinschaft als Determinante der Konventionalität sprachlicher Ausdrücke (und damit die „Sprache als soziale Gestalt“, Feilke 1996) stärker als sonst in den Blickpunkt rückt. Abgesehen von dem verbindenden Konzept der „Konstruktion“ und der damit verwandten Framesemantik als Methode zur Analyse sprachlich gebundenen gesellschaftlichen
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Wissens (vgl. u. a. Ziem 2008) kann sich eine wechselseitige Horizonterweiterung auch aus der Tatsache ergeben, dass Phraseologie und Politolinguistik schon jetzt über analoge Konzepte verfügen. So erscheint das, was in der Phraseologie als „Modifikation“ auf Textebene untersucht wird, aus der diskursanalytischen Sicht der Politolinguistik als ein phraseologischer Spezialfall der „Reformulierung“ (Steyer 1997; vgl. Elspaß 2007 zu Phrasemen in politischen Reden). Auch die Erkenntnisse über die argumentativen Funktionen von Phrasemen im Text (vgl. Wirrer 2007, zu Sprichwörtern: Hoffmann 2012) bzw. von salienten politischen Sätzen im Diskurs (vgl. Klein 2017; Jacob 2016) sind gegenseitig anschlussfähig. In der Textlinguistik existiert zudem bereits eine übergreifende Textsortensystematik (Fix 2007, 2009). Sie weist Sprichwörtern und Slogans eine gemeinsame Funktion als „Zitiertexte“ zu, die auch schon in der Erforschung salienter politischer Sätze zur Sprache gekommen ist (vgl. Klein 2017: 141).
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Sören Stumpf & Christian D. Kreuz
Phrasem-Bild-Beziehungen im Diskurs Theoretische Überlegungen und methodische Ansätze zur multimodalen und diskurssemantischen Phrasem-Analyse Zusammenfassung: Der Beitrag zeigt, wie aufbauend auf der Erkenntnis, dass Phrasemen ein diskursmarkierendes Potenzial und eine epistemische Kondensatorwirkung inhärent ist, sie als diskursive Bildspender in multimodalen Kommunikaten verwendet werden. Der Untersuchung liegt ein Korpus mit Karikaturen des salienten politischen Satzes/geflügelten Wortes Wir schaffen das (Angela Merkel) zugrunde. Dabei werden folgende Aspekte in den Blick genommen: die Modifikation des Phrasems, die bildliche Realisierung von Angela Merkel, die Platzierung des Phrasems innerhalb der Karikaturen, die Muster der PhrasemBild-Beziehungen und die Herauslösung des Phrasems aus dem (Diskurs-)Kontext. Der Untersuchung steht eine Einordnung der beiden Teildisziplinen Phraseologie und Diskurslinguistik in die bisherige und aktuelle Multimodalitätsforschung voran.
1 Einleitung Der Artikel verfolgt das Ziel, Phraseologie, Diskurslinguistik und Multimodalitätsforschung miteinander zu verbinden. Während sich Phraseologie und Diskurslinguistik in jüngster Zeit annähern und Multimodalität in der Phraseologie sowie insbesondere innerhalb der Diskurslinguistik schon seit Längerem erforscht wird, existieren bislang keine Studien, die sich mit Phrasem-Bild-Beziehungen aus diskurslinguistischer Sicht beschäftigen. Unserem Vorschlag, den Phrasemgebrauch in Diskursen noch stärker aus multimodaler Perspektive in den Blick zu nehmen (vgl. Stumpf & Kreuz 2016: 31), gehen wir im Folgenden nach. Wir knüpfen dabei an unseren Beobachtungen an, „[d]ass sich Phraseme auf das ihnen zugrundeliegende ,(metaphorische) Bild‘ reduzieren und sich deshalb hervorragend als Visualisierungsform auf Plakaten, in Memes, in Sketchen etc. einsetzen lassen“ (Stumpf & Kreuz 2016: 31). Zunächst wird ein Forschungsüberblick über die bisherigen Vernetzungen zwischen Phraseologie und Diskurslinguistik, Diskurslinguistik und Multimodalitätsforschung sowie Phraseologie und Multimodalitätsforschung gegeben (Kapitel 2). Im Anschluss wird herausgearbeitet, inwiefern Phraseme das Potenzial
DOI 10.1515/9783110602319-005
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besitzen, als (diskursive) Bildspender zu fungieren (Kapitel 3). In Kapitel 4 wird eine Fallanalyse zur Verwendung des im Flüchtlingsdiskurs entstandenen Phrasems Wir schaffen das in Karikaturen vorgestellt. Im Mittelpunkt stehen dabei Muster der Phrasem-Bild-Beziehungen. Das Fazit fasst die wichtigsten Ergebnisse zusammen und gibt einen Ausblick auf weitere lohnenswerte Fragestellungen (Kapitel 5).
2 Zur Verbindung von Phraseologie, Diskurslinguistik und Multimodalitätsforschung 2.1 Phraseologie und Diskurslinguistik Phraseologie und Diskurslinguistik weisen durchaus interessante Schnittstellen auf. So bilden „Phraseme als musterhafte, rekurrent auftretende sprachliche Strukturen die Schnittmenge diskurslinguistischer und phraseologischer Forschung“ (Stumpf & Kreuz 2016: 30). Dass Phraseme nicht bloß materiell in Diskursen vorkommen, d. h. auf der sprachlichen Oberfläche liegen, sondern ihnen eine epistemische, diskursmarkierende Kraft zugeschrieben werden kann, stand bislang nicht im Fokus der Betrachtungen.1 Die Phraseologie sieht bis dato überwiegend den Text als oberste Grenze an. Dies scheinen nur wenige Publikationen wie Ehrhardt (2005: 36) zu hinterfragen: An dieser Stelle stellt sich allerdings die Frage, ob die Ebene des Textes zur Beschreibung der kommunikativen Leistungen von Phraseologismen ausreicht. Mit anderen Worten: Erschöpft sich die Funktion von solchen Wendungen in der Konstitution von Texten oder muss die Analyse auf weitere Ebenen ausgeweitet werden, um ihren Stellenwert in der Sprachkompetenz besser einschätzen zu können?
Stein (2010: 410) und Stein & Lenk (2011: 119) machen aufgrund solcher fragmentarisch vorliegenden Hinweise deutlich, dass die Untersuchung des Einflusses von Phrasemen auf „Text(sorten)ketten und Diskurse“ bisher ein Forschungsdesiderat darstellt.
|| 1 Dies scheint unterschiedliche Ursachen zu haben, die letztlich darin gründen, dass die Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung der Sprachwissenschaft auch eine gewisse Isoliertheit einer Teildisziplin von (einer) anderen mit sich bringen. Um diese Isoliertheit aufzuheben, ist ein „Über-den-Tellerrand-Schauen“ vonnöten.
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Die Diskurslinguistik findet nur selten und dann unzureichend Zugang zu Ansätzen und Methoden der Phraseologie. Dies zeigt sich schon in den Einführungswerken: Sie konzentrieren sich entweder auf den Werkzeugkasten-Charakter diskurslinguistischer Methodologie, indem exhaustive Aufstellungen von Ebenen, Einheiten und Einzelmethoden verdeutlichen sollen, dass Forschende die Möglichkeit haben, sich aus einzelnen Aspekten ein eigenes und zum Objekt passendes Forschungsdesign zusammenzustellen (siehe u. a. Spitzmüller & Warnke 2011; Niehr 2014 und Bendel Larcher 2015). Dabei werden die Besprechung und die Beschreibung phraseologischer Grundeinheiten wie Phraseologismen/Phraseme, Idiome oder formelhafte Wendungen weitestgehend ausgelassen. Lediglich an der Schnittstelle zur Korpuslinguistik zeigen sich Konvergenzen zwischen Diskurslinguistik und Phraseologie, wenn man Kollokationsanalysen durchführt: Neben der vielfältigen Nutzung korpuslinguistischer Daten für phraseologische Studien, die das Sprachsystem im Fokus haben, hilft der phraseologische Blick auch in den Bereichen der Text-, Diskurs-, Kultur- oder Rhetorikanalyse. Die zuletzt genannten linguistischen Methoden nehmen Sprachgebrauchsmuster in den Blick, die typisch für einen bestimmten Teilbereich im Vergleich zum allgemeinen Sprachgebrauch sind. Gemeinsam ist jedoch allen Untersuchungen die Überzeugung, dass Mehrworteinheiten (wie eng oder weit sie auch immer definiert sein mögen) relevante Untersuchungskategorien sind. (Bubenhofer & Ptashnyk 2010: 10)
Phraseologie und Diskurslinguistik scheinen sich insgesamt ähnlicher zu sein, als es sich nur im Bereich der Korpuslinguistik und den wenigen phraseologischen Werken zeigt. Schnittmenge beider Teildisziplinen ist das diskursmarkierende Potenzial von Phrasemen. Bei der Auffindung von Phrasemen mit diesem Potenzial haben wir uns induktiv von der Auffälligkeit solcher Phraseme – insbesondere innerhalb thematischer Diskurse – leiten lassen. „Sie sind uns sozusagen ‚ins Auge gesprungen‘“ (Stumpf & Kreuz 2016: 14). Die Phraseme teilen die Eigenschaft, dass sie eine epistemische Kondensatorwirkung besitzen, was meint, dass sich in ihnen diskursiv geprägtes Wissen quasi verdichtet. Die Akteure bestimmter Diskurse rufen über die Verwendung und Rezeption der Phraseme das Wissen um und über den Diskurs ab, prägen den Diskurs, modellieren ihn neu oder um. In einigen Beispielen kann die Tendenz nachgewiesen werden, dass ein solches diskursmarkierendes Potenzial über die Eigenschaft zustande kommt, dass Phraseme diskursspezifische Text-Bild-Beziehungen evozieren und damit als diskursive Bildspender fungieren. Nach einer überblickartigen Skizzierung der Einflüsse der Multimodalitätsforschung innerhalb der Teildisziplinen Diskurslinguistik und Phraseologie wird dieser Eigenschaft im Sinne einer erweiterten, d. h. multimodalen Perspektive nachgegangen (vgl. Kapitel 3).
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2.2 Diskurslinguistik und Multimodalitätsforschung Die Analyse unterschiedlicher „semiotischer Ressourcen“ (Fricke 2012: 39) ist im Analyse-Programm der Diskurslinguistik fest verankert. So beschreiben Spitzmüller & Warnke (2011: 166) in Anlehnung an Textstilistik und Textanalyse bezüglich der textorientierten Ebene ihres diskurslinguistischen Mehr-EbenenAnalyse-Modells (DIMEAN) Aspekte wie Materialität, Typografie und Text-BildBeziehungen und halten fest: Die Reduktion von geschriebener Sprache auf vereinheitlichte Graphemfolgen isoliert die Analyse von einer Vielzahl bedeutungsrelevanter Dimensionen der Visualität; gleiches gilt für die Analyse von gesprochener Sprache durch vertextende Transkripte, bei denen die Multimodalität von oraler Kommunikation verloren geht.
Bendel Larcher (2015: 195) widmet den – in Teilen der Forschungsliteratur als nicht-sprachlich bezeichneten (vgl. u. a. Domke & Meier 2017: 234) – Bildelementen in Form einer Beschreibung von visuellen Stereotypen ein ganzes Kapitel. Eine erste schwerpunktartige empirische Beschäftigung unter anderem mit Bildelementen im Sinne von Multimodalität in Diskursen ist im deutschsprachigen Forschungsraum der Diskurslinguistik mit den Aktivitäten der Forschungsgruppe um Claudia Fraas festzustellen. Innerhalb des von ihr und Stefan Meier geleiteten DFG-Forschungsprojektes2 sind zahlreiche Publikationen entstanden, die nicht nur die Notwendigkeit einer Analyse multimodaler Kommunikate postulieren, sondern auch ein Analyseinstrumentarium ausarbeiten, mit dem Multimodalität in Diskursen untersucht werden kann (vgl. z. B. Fraas, Meier & Pentzold 2013). Sie machen für ihre Forschung deutlich: Multimodalität bedeutet, dass Kommunikation über unterschiedliche Zeichensysteme und Kanäle geschieht. Wir kommunizieren nicht nur über verbale, sondern auch über nonverbale Botschaften […] und nicht nur über sprachliche Zeichen […], sondern auch über Bilder, Töne, Klänge, Geräusche usw. (Fraas, Meier & Pentzold 2012: 10)
Meier (2008: 267) betont, dass „strategisches Handeln mittels Bilder eine weitere Intensivierung erfahren hat. So liefert das Bilddenotat den Verweis auf den entsprechenden Diskurs und die Konnotation den Verweis auf die entsprechende diskursive Position.“ Stöckl (2004), der im Sinne einer weiten semiotischen Perspektive die Analyse von Bildern und Text-Bild-Beziehungen für die Sprachwissenschaft fruchtbar gemacht hat, zeigt mit Klug in ihrem Handbuch und Beitrag
|| 2 https://www.tu-chemnitz.de/phil/imf/mk/online-diskurse/index.php (20.10.2017).
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zur „Sprache im multimodalen Kontext“ (Klug & Stöckl [Hrsg.] 2016; Klug & Stöckl 2016: VII–XIII), dass die Multimodalitätsforschung „vor allem einer methodologischen Entwicklung“ (Klug & Stöckl 2016: VII) bedarf. Klug (2016) bringt aus diesem Grund den epistemologischen Charakter linguistischer Diskursanalyse mit Rekurs auf Busses (1987) Programm einer Historischen Semantik in direkte Verbindung mit der von ihr postulierten Notwendigkeit, die Analyse gesellschaftlich geteilten Wissens mit der Analyse von Bildern zu verknüpfen. Bei diesem Vorhaben orientiert sie sich an klassischen text- und diskurslinguistischen Ebenen und Kategorienbildungen (vgl. Klug 2016: 171–178). In diesem Sinne sind wichtig: die Bedeutung des kommunikativ-pragmatischen Rahmens (vgl. Klug 2016: 171–173), intertextuelle und intratextuelle Verknüpfungen, die über verschiedene Modi eine vernetzte Makroebene konstituieren (vgl. Klug 2016: 173–177), und die Beschreibung der Themen und der Textfunktion (vgl. Klug 2016: 178). Dabei scheinen die von ihr vorgeschlagenen Analysekategorien wie Topoi, aber besonders das Schlagwort bzw. Schlagbild (vgl. Klug 206: 182–185) ein diskursmarkierendes Potenzial zu haben, wenn sie schreibt: Wort und Bild evozieren auf Seiten der Rezipienten sofort einen umfangreichen Wissensrahmen (Frame), der sowohl denotatives Wissen (worum geht es hier?) wie auch deontisches Wissen umfasst (wie habe ich das, worauf das Wort/Bildzeichen sich bezieht, zu bewerten? Wie habe ich mich dem Gegenstand gegenüber zu verhalten?). (Klug 2016: 183)
Ähnlich argumentiert auch Spieß (2016) für Metaphern bzw. die Analyse von Metaphern als Analyse multimodaler Kommunikate. Aufbauend auf Ideen von Lakoff & Johnson (1980, 2017) und Schwarz-Friesel (2015) werden bei ihr semiotisch komplexe Realisierungsformate von Metaphern berücksichtigt. Spieß (2016: 76) fasst zusammen: Metaphern als mentale Projektionen realisieren sich in unterschiedlichen Zeichenmodalitäten, nicht nur in der Sprache, wenngleich aber der Sprache eine zentrale Rolle zukommt. So werden sie u. a. durch Bilder […], Gesten […], Musik […] oder gar durch Kombination bzw. im Zusammenspiel der verschiedenen Zeichenmodalitäten wie z. B. durch Text-Bild- oder aber Gespräch-Gesten-Bezüge […] realisiert.
Diese exemplarisch aufgeführten Werke zu Multimodalitätsforschung und Diskurslinguistik zeigen zum einen, dass Multimodalitätsforschung als homogene Forschungsperspektive sehr jung ist und eine Einarbeitung in sprachwissenschaftliche Teildisziplinen bedarf. Zum anderen wird deutlich, dass mit der Perspektivenerweiterung auf alle semiotischen Ressourcen von Kommunikaten eine Analyse epistemischer Tiefenströmungen komplettiert werden kann.
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2.3 Phraseologie und Multimodalitätsforschung Innerhalb der Phraseologie existieren nicht wenige Studien, die sich mit TextBild-Beziehungen beschäftigen. Angesichts des Potenzials von Phrasemen, als (diskursive) Bildspender zu fungieren (vgl. Kapitel 3), spielt das materielle Bild vor allem innerhalb textlinguistisch und medienlinguistisch orientierten phraseologischen Arbeiten eine Rolle. So sind „Kombinationen von phraseologischen und materiellen Bildern besonders interessante Spezialfälle der in modernen (vorwiegend massenmedialen) Gebrauchstextsorten generell zu leistenden Verbindung von Sprache und Bild“ (Stöckl 2004: 150). Textsorten und Kommunikationsformen, innerhalb derer „Phraseologismen nicht in Isolation, sondern in ihrer interaktiven Vernetzung mit materiellen Bildern“ (Stöckl 2004: 194) untersucht werden, sind unter anderem folgende: – Werbeanzeigen/Fernsehwerbespots: Während Arbeiten, die generell Phraseme in der Werbesprache analysieren, recht häufig vorzufinden sind (z. B. Hemmi 1994; Janich 2005, 2006, 2013: 174–181), existieren nur wenige, die sich intensiver mit phraseologischen Text-Bild-Beziehungen beschäftigen (z. B. Balsliemke 1999, 2001; Grassegger 1989; Burger 2008). Hervorzuheben ist die Analyse von Stöckl (2004: 301–379) zu Werbeanzeigen. Stöckl (2004: 301) stellt sich die Frage, „was und wie die materiellen Bilder zum Verstehen der Phraseologismen im Gesamttext beitragen und umgekehrt.“ Der Autor zeigt anhand zahlreicher Detailanalysen „Verknüpfungsmöglichkeiten von phraseologischen (d. h. sprachlichen) und materiellen Bildern“ (Stöckl 2004: 376). Als zentrales Ergebnis hält er fest, „dass Bilder und Bildverwendung in gleichem Maße sprachabhängig bzw. verbal determiniert sind, wie Sprache und Sprachverwendung (insbesondere phraseologische) bildorientiert und in zentraler Weise anschauungsgebunden“ (Stöckl 2004: 379) sind. Rentel (2011: 56–57) plädiert für den stärkeren Einsatz von Werbeanzeigen in der Phraseodidaktik, wobei sie explizit deren semiotische Komplexität hervorhebt: Aufgrund ihrer Multimodalität (dies meint die synergetische Verknüpfung von Sprache und Bild auf der formalen und inhaltlichen Ebene) werden in Werbeanzeigen in vielen Fällen mehrere der potenziellen Lesarten von Phraseologismen, mindestens die kompositionelle (also wörtliche) und die phraseologische, aktiviert […]. Für die Didaktisierung von Phraseologismen im FSU [= Fremdsprachenunterricht, SöSt & CDK] bietet diese visuell-verbale Doppelkodierung den Vorteil, dass sich sowohl die Transparenz (und damit die Verständlichkeit) als auch die Merkbarkeit erhöhen.
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Comics: Meloni (2011) arbeitet die Bedeutung und Funktion von Kinegrammen3 in Micky-Maus-Comics heraus. Bei Comics handelt es sich um „eine semiotisch komplexe Textsorte, in der Text und Bild bzw. verbale und nonverbale Zeichen sich gegenseitig ergänzen und aufeinander abgestimmt sind“ (Meloni 2011: 246–247). Kinegramme besitzen innerhalb der von Meloni (2011) untersuchten Hefte unterschiedliche Funktionen. So können sie erstens synthetische und prägnante sprachliche Beschreibungen von konventionalisiertem nonverbalen Verhalten geben, zweitens zusätzliche sprachliche Bilder hervorrufen, drittens das Gesagte verstärken und viertens bei den Leserinnen und Lesern eine besondere Faszination ausüben, da diese durch die Kinegramme in die Dialoge involviert werden können und eine stärkere Identifikation mit den Figuren stattfinden kann (vgl. Meloni 2011: 250). Auch anhand von semantischen Modifikationen zeigt Meloni (2010, 2013) den spielerischen Umgang mit Sprache und Bild in den Micky-Maus-Heften auf. So wird in den Comics häufig „die phraseologische bzw. metaphorische Kraft von Phraseologismen aus[genutzt], um eine Beziehung zwischen Wort und Bild herzustellen und spannende und komische Situationen zu gewinnen“ (Meloni 2013: 272). Dabei repräsentieren die Bilder in den meisten Fällen die wörtliche Bedeutung. Fernsehsendungen: Burger (1999: 82) betont, dass insbesondere Idiome in Fernsehsendungen häufig verwendet werden, „um eine Brücke zwischen Text und Bild her[zustellen].“ Die von ihm angeführten Beispiele aus Fernsehnachrichten verdeutlichen, dass dies in der Regel „durch verschiedene Arten von Modifikationen erreicht [wird], die jeweils eine wörtliche Lesart aktivieren“ (Burger 2015: 172). So sei in den meisten Fällen „auf der Textebene die phraseologische Lesart des Idioms intendiert, während durch das Bild die (bzw. eine mögliche) wörtliche Lesart aktiviert wird“ (Burger 1999: 82). Karikaturen: Eine weitere Textsorte, deren multimodaler Ausrichtung innerhalb der Phraseologieforschung Aufmerksamkeit geschenkt wird, sind (politische) Karikaturen (siehe Mieder 1998 und Stolze 1999). Beispielsweise analysiert Stolze (1999: 359) „die Möglichkeiten der Vernetzung von Phraseologismen innerhalb der Gattung Karikatur“ und versucht, deren Vorkommen zu klassifizieren. Anhand zahlreicher Beispiele zeichnet er nach, dass Phraseme „eine entscheidende Rolle bei der Herausarbeitung und Pointierung
|| 3 Darunter versteht man Phraseme, die konventionalisiertes nonverbales Verhalten sprachlich erfassen und kodieren wie beispielsweise die Achseln zucken und die Stirn runzeln (vgl. Burger 2015: 65–66).
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der Textaussage [spielen]“ (Stolze 1999: 386). Dabei zeigt sich „die Vielfalt der Textvernetzungsstrategien […] darin, daß Phraseologismen sowohl im Text- als auch im Bildteil Verwendung finden“ (Stolze 1999: 386).
3 Das Potenzial von Phrasemen als (diskursive) Bildspender Phraseme können innerhalb von Diskursen aufgrund ihres diskursmarkierenden Potenzials eine besondere Stellung einnehmen (vgl. Stumpf & Kreuz 2016: 6–30). Beschäftigt man sich auf transtextueller Ebene mit phraseologischen Fragestellungen, so zeigt sich, dass Phraseme „so etwas wie Schaltstellen in der Diskursorganisation, in der Konstruktion und der Verwaltung gemeinsamen Wissens“ (Ehrhardt 2005: 42) sind. Mittels fester Wortverbindungen können „Sprecherrollen, Themen, ja ganze Diskurse und Diskurs-Mentalitäten der Handelnden kontextualisiert werden“ (Feilke 2004: 51–52). Dabei sind es insbesondere semantische (und pragmatische) Eigenschaften von Phrasemen, die ihnen zu einer exponierten Stellung in Diskursen verhelfen können. Kühn (1994: 420) spricht von einem „semantischen Mehrwert“, den Phraseme gegenüber einfachen Wörtern bzw. freien Wortverbindungen besitzen, Burger (2015: 77) von einem „konnotativen Mehrwert“. Hierunter zählt er unter anderem die Tatsache, dass Phraseme Metaphorik, Metonymie und häufig auch weitere rhetorische Eigenschaften wie Binnenreime (mitgefangen, mitgehangen) oder Stabreime (fix und fertig) aufweisen. Aus pragmatischer Sicht kann hervorgehoben werden, dass Phraseme generell kompakte Zeichen sind, mit denen ein Sprecher/Schreiber referieren, prädizieren und/oder illokutive Handlungen durchführen oder modifizieren kann und gleichzeitig gegenüber den nicht-phraseologischen Entsprechungen ein Bündel weiterer evaluativer Handlungen, Einstellungen, Imagebezeugungen usw. ausdrücken kann. (Kühn 1994: 420)
Fleischer (1997: 164), der vor allem die „Expressivitätssteigerung“ von Idiomen hervorhebt, führt weitere Eigenschaften an, die das diskursmarkierende Potenzial von Phrasemen begünstigen. So können Phraseme „Indikatoren des sozialen Verhältnisses zwischen den Kommunikationspartnern sein“ (Fleischer 1997: 218) sowie „emotional betonte Einstellungen des Senders zu dem mitgeteilten Sachverhalt indizieren und emotionale Wertungen (positive wie negative) auf den Empfänger indirekt übertragen“ (Fleischer 1997: 218).
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Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass auch die Modifikation4 von Phrasemen einen diskursmarkierenden bzw. auch diskursbildenden Effekt mit sich bringen kann. Durch Modifikationen „haben Diskursakteure die Möglichkeit, die von anderen Diskursakteuren verwendeten Phraseme aufzugreifen und diese auf kreative Weise sprachspielerisch abzuwandeln“ (Stumpf & Kreuz 2016: 10), was zu einer diskursiven Dynamik des Phrasemgebrauchs führen kann (vgl. Stumpf & Kreuz 2016: 15–30). Für den vorliegenden Beitrag, der sich mit der Verknüpfung von „Phrasem– Bild–Diskurs“ beschäftigt, ist insbesondere die nachfolgende phraseologische Eigenschaft relevant. Bei Phrasemen mit zwei Lesarten (wörtlicher und phraseologischer) besteht die Möglichkeit, dass die wörtliche Lesart bei der konkreten Verwendung „mitschwingen“ (Burger 2015: 77) kann. In der Phraseologie spricht man hierbei von der sogenannten Bildlichkeit/Bildhaftigkeit (vgl. Burger 2015: 91–95). Typischerweise können hierfür metaphorische Idiome wie Öl ins Feuer gießen angeführt werden. Bei ihrer Verwendung kann neben der idiomatischen Bedeutung „eine konkrete visuelle Vorstellung“ (Burger 2015: 91) hervorgerufen werden.5 Es ist daher nicht verwunderlich, dass in bestimmten Textsorten wie Werbeanzeigen, Karikaturen oder Fernsehberichten bildhafte/bildliche Phraseme gerne mit materiellen Bildern verbunden werden. Sie „[fungieren] im Text als wichtige sprachliche Bezugspunkte für materielle Bilder“ (Stöckl 2004: 150), wobei „Bilder und Phraseologismen wechselseitig als jeweiliger Verstehenskontext“ (Stöckl 2004: 151) dienen können. Dass es meist Idiome sind, die „mit materiellen
|| 4 Unter phraseologischen Modifikationen verstehen wir okkasionelle Abwandlungen der eigentlichen Nennform fester Wortverbindungen (vgl. Burger 2015: 224–225). Modifikationen weisen im Gegensatz zu Variationen nicht nur minimale, sondern häufig größere (intendierte) Bedeutungsunterschiede zum Ausgangsphrasem auf. Das wichtigste Merkmal von Modifikationen ist die Intentionalität ihrer Bildung (vgl. Ptashnyk 2009: 55). Bezüglich der Bestimmung der in unserem Korpus vorzufindenden Modifikationsarten richten wir uns nach den Klassifikationen von Ptashnyk (2009) und Burger, Buhofer & Sialm (1982: Kapitel 3.2.2). 5 Besonders metaphorische Idiome können dabei als Schnittstellen bzw. Bindeglieder zwischen Phraseologie und Diskurslinguistik angesehen werden, insofern die Analyse der Metaphorik eine Hauptmethode der diskurslinguistischen Forschung ist (vgl. Niehr 2014: Kapitel 4.3). Metaphern werden als „wesentliche sprachliche Elemente von Diskursen“ (Spieß 2014: 54) betrachtet. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Metapher in Form eines Einzellexems oder einer Wortgruppe realisiert wird. Beispielsweise analysiert Spieß (2011) die Rubikon-Metapher als besondere Ausprägung der Grenz-Metaphorik im Bioethikdiskurs. Neben dem Einzellexem Rubikon findet sich in diesem Rahmen auch das Idiom den Rubikon überschreiten. Nichtsdestotrotz fällt aus phraseologischer Perspektive auf, dass der Schwerpunkt der bisherigen Diskurslinguistik (noch) auf der Untersuchung von Einwortmetaphern liegt.
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Bildern interagieren, erklärt sich aus ihrer Eigenschaft, mit der wörtlichen (oder eben bildlichen) Bedeutung bzw. Lesart selbst über eine bildliche Grundlage zu verfügen und daher wie sprachlich generierte Bilder im Text funktionieren zu können“ (Stöckl 2004: 150). Auf diese Weise entstehen komplexe semantische Gebilde […]. Das Phrasem bekommt eine „neue“ Lesart, die sich aus der Überlagerung zweier (oder sogar mehrerer) kontextuell bedingter Lesarten ergibt. […] Man könnte hier von „semantischer Übersummativität“ sprechen, die so zu charakterisieren wäre: Das materielle Bild ebenso wie die verbale Modifikation können eine semantische Komponente des Phrasems aktualisieren, die weder in der wörtlichen noch in der idiomatischen Lesart enthalten ist, sondern nur in der Semantik einer Komponente oder mehrerer Komponenten, wie sie im nicht-phraseologischen Gebrauch vorkommen. Daraus ergibt sich ein hybrides semantisches Resultat, ein Drittes, das in Text und Bild allein nicht enthalten ist. (Burger 2015: 171)
Die Verbindung von Bildern und Phrasemen spielt in Diskursen eine wichtige Rolle. So ist es nicht ungewöhnlich, dass auf diskursgebundenen Text-Bild-Darstellungen (wie z. B. Wahlplakaten, Karikaturen oder Memes) die wörtliche Lesart des bildhaften Idioms explizit realisiert wird. Im Folgenden führen wir hierfür drei Beispiele an, die aus unterschiedlichen Diskursen und Domänen stammen. Im (katholischen) Diskurs um Sexualität und Verhütung lassen sich zahlreiche Karikaturen entdecken, die mit dem komparativen Phrasem sich wie die Karnickel vermehren spielen, das Papst Franziskus in einem Interview gebrauchte und welches sich daraufhin weiterverbreitete.
Abb. 1: sich wie die Karnickel vermehren 16
Abb. 2: sich wie die Karnickel vermehren 27
|| 6 http://www.paolo-calleri.de/paolo-calleri/karikaturen2015/karnickel_farbig_calleri.jpg (31.05.2016). 7 https://www.publik-forum.de/content/media/1823D1B215B749FEB6F17CC935611DE7_03_ papst_kaninchen_636_322.jpg (20.10.2017).
Phrasem-Bild-Beziehungen im Diskurs | 125
Innerhalb der Karikaturen, von denen wir hier zwei exemplarisch abbilden, steht dieses Phrasem im Mittelpunkt, wobei mithilfe des materiellen Bildes teilweise sowohl auf die phraseologische als auch auf die wörtliche Bedeutung eingegangen wird. Bemerkenswert ist dabei, dass in Abbildung 2 noch nicht einmal das Phrasem selbst sprachlich realisiert ist. Auch das geflügelte Wort Je suis Charlie, das den Solidaritäts-Diskurs rund um das Thema Presse- und Meinungsfreiheit prägte, lässt sich aus multimodaler Sicht beschreiben. Der Spruch fungiert nicht nur als isoliertes sprachliches Zeichen im Sinne einer Erinnerungsstätte, sondern tritt insbesondere auch in Form von Bilddokumenten auf. So wurden beispielsweise über soziale Netzwerke Bilder, auf denen das Phrasem realisiert ist, verbreitet (Abbildung 3). Zudem erlangte das geflügelte Wort über sogenannte Memes, in denen vor allem berühmte Schauspieler oder Filmcharaktere mit dem Namen „Charlie“ abgebildet sind, Verbreitung (Abbildung 4).
Abb. 3: Tweet Je suis Charlie8
Abb. 4: Meme Je suis Charlie9
Als drittes Beispiel kann das Phrasem Das Boot ist voll angeführt werden, das bereits während der Flüchtlingsdebatte der 1990er Jahre in vielen Text-Bild-Bezügen anzutreffen ist und im aktuellen Flüchtlingsdiskurs eine Renaissance erlebt. So warben die Republikaner 1991 mit einem Wahlplakat, das eine entsprechende Illustration eines „übervollen“ Bootes mit Deutschlandflagge zeigt (Abbildung
|| 8 https://twitter.com/1FSVMainz05/status/553177145825296384/photo/1?ref_src=twsrc^tfw (31.05.2016). 9 http://weknowmemes.com/generator/uploads/generated/g1421507531664983960.jpg (27.09.2017).
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5). Im Jahre 2017 kann man beispielsweise auf der Internetseite der NPD einen Aufkleber erwerben, der ebenfalls dieses Phrasem verbildlicht (Abbildung 6).10
Abb. 5: Wahlplakat der Republikaner, 199111
Abb. 6: Aufkleber der NPD, 201712
Insgesamt lässt sich an dem Phrasem Das Boot ist voll gut veranschaulichen, wie Phraseme ganze Diskurse (oder Teildiskurse) kondensieren können (in diesem Fall den Einwanderungsdiskurs). Es zeigt – unterstützt durch die Metaphorik – eine starke Tendenz zur Verbildlichung politischer/gesellschaftlicher Themen wie hier der Einwanderungspolitik. Die Politsatire „Die Anstalt“ schafft es sogar, auf Grundlage des Phrasems, in dem dieser Diskurs destilliert ist und das zum Titel der Sendung vom 20.10.2015 wurde, mit multimodalen Mitteln – in Form von Wort- und Schauspielbeiträgen um ein in das Studio zentral platziertes Boot – ein sogenanntes „Trainingsseminar“ mit dem Titel: „,Angstfrei an die Grenzen gehen‘ besser mit ihren Ängsten ob der Flüchtlingskrise umzugehen“ zu inszenieren (Abbildung 7).
|| 10 Offensichtlich erscheint die rein sprachliche Realisierung des Idioms den Produzenten dieser politischen Kommunikate nicht auszureichen, um Intention und Nachricht zu transportieren, weshalb sie auf Text und Bild setzen. 11 http://www.migazin.de/wp-content/uploads/2011/09/das_boot_ist_voll_rep_plakat.jpg (27.09.2017) 12 https://npd-materialdienst.de/images/product_images/info_images/boot.png (27.09. 2017).
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Abb. 7: „Die Anstalt“ Das Boot ist voll13
4 Fallbeispiel: Wir schaffen das 4.1 Wir schaffen das als salienter politischer Satz bzw. geflügeltes Wort Für die exemplarische Untersuchung wird ein aktuelles und politisch vieldiskutiertes Phrasem herausgegriffen, mithilfe dessen wir die Bedeutung von Phrasem-Bild-Beziehungen im Diskurs diskutieren möchten: die Wendung Wir schaffen das, die Bundeskanzlerin Angela Merkel im Rahmen der Bundespressekonferenz am 31. August 2015 in Bezug auf die sogenannte „Flüchtlingskrise“ äußerte. Hierbei handelt es sich aus politolinguistischer Perspektive laut Klein (2017a: 37) um einen salienten politischen Satz. Darunter versteht er markante Sätze, die von einem bedeutenden Akteur zu einem politisch relevanten Thema in einer besonderen Situation geäußert werden (vgl. Klein 2017b: 147). Saliente Sätze können einen Diskurs prägen, „indem sie immer wieder zitiert werden und auf sie Bezug genommen wird“ und sie dadurch „eine Rolle als eigenständige Wissensträger und Handlungseinheiten mit Politikbezug spielen“ (Klein 2017b: 140). Wir schaffen das weist dabei im Grunde alle von Klein (2011: 119–123; 2013: 139–140; 2014:
|| 13 https://www.youtube.com/watch?v=R7DOtW7i9AI (23.07.2018).
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120–123) festgestellten prototypischen syntaktischen, semantischen und pragmatischen Merkmale salienter politischer Sätze auf: Der Satz umfasst lediglich drei Wörter und drei Satzglieder, es handelt sich um einen Einfachsatz, das Prädikat besteht aus einer einfachen Verbform, die Satzglieder besitzen keine attributiven Erweiterungen, der Fokus liegt auf dem Prädikat, der Satz verfügt über einen deontisch geprägten propositionalen Gehalt und besteht aus einer apodiktischen Formulierung, er ist mit einem kategorischen Geltungsanspruch versehen, enthält einen Bezug auf eine Kontrastposition und beinhaltet einen direkten bzw. indirekten Appell sowie eine argumentative Ausrichtung auf politisches Handeln. Klein (2017b: 140) macht außerdem deutlich, dass Salienz nicht bloß bewusst durch Emittenten erzeugt wird, sondern auch durch Rezipienten bzw. andere Diskursakteure generiert wird, indem sie potenzielle saliente Sätze aufnehmen und wiederholen. Aus phraseologischer Perspektive stellen saliente politische Sätze geflügelte Worte dar. Dabei handelt es sich um feste Wortverbindungen, die auf Zitate oder Aussprüche literarischer und/oder nachweislich gelebter beziehungsweise noch lebender Persönlichkeiten aus Geschichte, Politik, Wissenschaft, Musik, Kunst, Kultur usw. zurückgehen. Das entscheidende Charakteristikum dieser Phrasemklasse ist, „dass bei den Sprechern ein Bewusstsein dafür vorhanden ist, dass der Ausdruck auf eine bestimmte und allenfalls bestimmbare Quelle zurückgeht“ (Burger 2015: 48). Mit Wir schaffen das liegt ein solches geflügeltes Wort vor, da es innerhalb kürzester Zeit den Prozess der Phraseologisierung durchlebt hat und eindeutig mit Angela Merkel identifiziert wird.14 Dabei erscheint das geflügelte Wort mit einfacher Lesart respektive der saliente Satz als prototypisch für die gewählte Fragestellung und zur Betrachtung von Phrasemen innerhalb der Domäne Politik. Indem Wir schaffen das und andere saliente Sätze in dieser Domäne „eine Rolle als eigenständige Wissensträger und Handlungseinheiten“ (Klein 2017b: 140) spielen, werden Sie zu Trägern und Kondensatoren ganzer Diskurse. Es bietet sich an, an anderer Stelle theoretisch und an Beispielen zu diskutieren, – ob sich Salienz auch in anderen Domänen in Bezug auf unsere Fragestellung finden lässt, – ob sich saliente Sätze nicht eindeutiger durch eine phraseologische Kategorienbildung erfassen lassen und
|| 14 Die Parallelen zwischen salienten politischen Sätzen und geflügelten Worten sind so offensichtlich, dass es verwundert, weshalb in keiner politolinguistisch ausgerichteten Arbeit, die sich mit solchen Sätzen beschäftigt, eine phraseologische Perspektive herangezogen wird, geschweige denn zumindest auf einschlägige Werke der Phraseologie verwiesen wird.
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–
ob Salienz mit dem diskursmarkierenden Potenzial von Phrasemen (nicht nur in der Domäne Politik) übereinstimmt.
Aufzeigen können wir jedoch schon in diesem Beitrag, inwiefern Phraseme und exemplarisch Wir schaffen das als salienter Satz diskursmarkierend wirken und das Potenzial besitzen, als (diskursive) Bildspender zu fungieren.
4.2 Untersuchungskorpus, methodisches Vorgehen und Fragestellungen Zur Erstellung eines Untersuchungskorpus wird die Wortverbindung über die Google-Bild-Suche recherchiert und diejenigen Bilder gesammelt, die für die Fragestellung relevant erscheinen. Belege, in denen beispielsweise nur das Phrasem und kein Bild zu sehen ist, werden aussortiert. Insgesamt umfasst das Korpus 185 Bilder, auf denen das Phrasem Wir schaffen das realisiert ist. Dabei sind die vorkommenden Bildtypen und Textsorten sehr heterogen und weitgestreut (z. B. Memes, T-Shirt-Aufdrucke, Karikaturen). In Anlehnung an Stöckl (2004: 301) begegnen wir „der Tatsache, dass Sprache-Bild-Bezüge textsortensensibel und vielgestaltig sind, mit einer Einschränkung der textanalytischen Betrachtungen auf eine klar bestimmte Textsorte“: (politische) Karikaturen.15 Insgesamt sind im Korpus 61 (politische) Karikaturen enthalten. Diese werden im Hinblick auf folgende Aspekte näher untersucht: (1) Realisierung des Phrasems: Wird das Phrasem in seiner standardisierten Nennform verwendet oder liegt es in modifizierter Form vor? Bestimmung der Modifikationsart (Substitution, Expansion, Reduktion usw.) (Kapitel 4.3.1) (2) Kurzbeschreibung des Bildes, insbesondere bezüglich der Frage, ob Angela Merkel auf dem Bild zu sehen ist (Kapitel 4.3.2) (3) Platzierung des Phrasems: An welcher Stelle ist das Phrasem in das Bild integriert? (Kapitel 4.3.3) (4) Muster der Phrasem-Bild-Beziehungen: In welchen semantischen Beziehungen steht das Phrasem mit dem auf der Karikatur zu sehenden Bild? (Kapitel 4.3.4)
|| 15 An dieser Stelle wird auf eine genauere linguistische Charakterisierung der Textsorte Karikatur verzichtet und hierfür auf Häussler (1999), Stöckl (2004) und Lenk (2012) verwiesen. Grundsätzlich ist zu sagen, dass die Karikatur aus funktional-pragmatischer Perspektive dem Kommentar nahe steht, insbesondere da beide Textsorten stark meinungs- und bewusstseinsbildend sind (siehe Belošević 2016).
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(5) Kontexteinbettung: Ist die Karikatur in den ursprünglichen (Diskurs-)Kontext des Phrasems (nämlich Flüchtlingsthematik) eingebettet oder wird es aus diesem herausgelöst? (Kapitel 4.3.5) Zu Punkt 4) ist anzumerken, dass es hierbei nicht darum geht, die Bedeutungsbeziehungen zwischen Phrasem und Bild beispielsweise mithilfe einer bestimmten Semantiktheorie wie der Framesemantik zu beschreiben. Wir möchten vielmehr anhand unseres Korpus „das Musterhafte in der textuellen/diskursiven Kommunikation […] erfassen“ (Klug 2016: 178) bzw. (semantische) Muster der Visualisierung, d. h. des Zusammenspiels zwischen den vorzufindenden Bildern und dem Phrasem aufdecken. Aufgrund der vagen Semantik von Wir schaffen das (Wer schafft was genau und wann?) steht die Frage im Mittelpunkt, wie diese Vagheit mithilfe des Bildes aufgelöst und die Phrasembedeutung durch das Bild angereichert wird. Mit anderen Worten: Welche (materiellen) Bilder dienen in den Karikaturen der Aktualisierung einer (möglichen) Bedeutung des Phrasems? Dabei zeigt sich, dass sich unterschiedliche Bilder gemeinsamen abstrakten und übergeordneten Mustern zuordnen lassen. Zu betonen ist dabei allerdings, dass es auch nicht wenige Karikaturen gibt, die sich einer solchen Abstrahierung und Zuordnung widersetzen, was insbesondere daran liegt, dass es sich bei Text-BildBeziehungen häufig „um einmalige, sehr individuelle Resultate [handelt], die sich kaum verallgemeinern lassen“ (Burger 2008: 110).16
4.3 Wir schaffen das in Karikaturen 4.3.1 Modifikation des Phrasems Betrachtet man zunächst das geflügelte Wort im Hinblick auf seine sprachliche Realisierung, so lässt sich feststellen, dass dieses in 42 Karikaturen formal unverändert auftritt, in den übrigen Belegen aber auf unterschiedliche Weise modifiziert wird.
|| 16 Eine exhaustive Zusammenstellung ist demnach kaum möglich und nicht der Anspruch der vorliegenden Studie. Auch Burger (2008: 98) gibt in seiner Analyse von Werbeanzeigen nur „einige Beispiele für die unzähligen Möglichkeiten, wie das idiomatische Bild durch die Kombination mit dem materiellen Bild betroffen sein kann.“
Phrasem-Bild-Beziehungen im Diskurs | 131
Tab. 1: Modifikationsarten des Phrasems
formal nicht modifiziert
formal modifiziert
42
Expansion
10
Negation
6
grammatische Veränderung (z. B. Fragesatzumformung) 4 Substitution
2
Einbettung in ein Phrasenkompositum
1
Ellipse
1
Wie Tabelle 1 zu entnehmen ist, ist die häufigste Modifikationsart die Expansion (d. h. die lexikalische Erweiterung des Phrasems) (Abbildung 8). An zweiter Stelle steht die Negation des Phrasems (Abbildung 9) und am dritthäufigsten wird der Spruch grammatisch verändert. Dabei ist es nicht ungewöhnlich, dass zwei (oder sogar drei) Modifikationsarten gleichzeitig vorhanden sind wie in Abbildung 10, in der durch die Fragesatzumformung eine grammatische Veränderung und durch den Austausch von wir durch sie eine Substitution auftreten. Hervorzuheben ist, dass insbesondere durch die Negationsmodifikation und die Umformung in einen Fragesatz eine kritische Haltung gegenüber dem Spruch bzw. gegenüber der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel eingenommen wird. Dies zeigt sich in der Regel auch auf der bildlichen Darstellung der entsprechenden Karikaturen. Eine besondere Modifikation findet sich in Abbildung 11. In dieser rechtspopulistischen Karikatur wird das Phrasem in ein Phrasenkompositum eingebettet. Es handelt sich somit um ein Zusammenspiel zwischen Phraseologie und Wortbildung, indem ein Phrasem als Grundlage der Wortbildung verwendet wird (vgl. Stein 2012: 231–233).
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Abb. 8: Expansion des Phrasems17
Abb. 9: Negation des Phrasems18
Abb. 10: Zwei Modifikationen gleichzeitig19
Abb. 11: Phrasenkompositum20
4.3.2 Realisierung von Angela Merkel Da das Phrasem ursprünglich durch Angela Merkel in Umlauf gebracht wurde und damit unmittelbar mit ihrer Person (und ihrer Politik) verbunden ist, scheint es nicht verwunderlich, dass die Kanzlerin in fast dreiviertel aller Karikaturen bildlich realisiert ist – als stehe sie stellvertretend für ihre Aussage (siehe die Abbildungen 8, 9, 10, 14, 15, 16, 17, 19, 20, 21, 23, 24, 25, 27). Dennoch lassen sich auch 17 Karikaturen anführen, in denen Angela Merkel nicht gezeichnet ist, das Phrasem also nicht in direkter Beziehung zu ihr steht. So wird das Phrasem in den Abbildungen 12 und 13 von Seiten der Bevölkerung aufgegriffen. || 17 https://www.cartoonmovement.com/depot/cartoons/2015/09/26/wir_schaffen_das__jean_ gouders.jpeg (27.09.2017). 18 https://de.toonpool.com/user/64/files/wir_schaffen_das_2777575.jpg (29.09.2017). 19 https://de.toonpool.com/user/65/files/wir_schaffen_das_2766225.jpg (29.09.2017). 20 https://i2.wp.com/www.wiedenroth-karikatur.de/KariAblage201609/WK160905_Afrika_ Schule_Bildung_Asyl_Deutschland_Beruf_Ziel.jpg (29.09.2017).
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Abb. 12: Karikatur ohne Angela Merkel 121
Abb. 13: Karikatur ohne Angela Merkel 222
4.3.3 Platzierung des Phrasems Bezüglich der Frage, an welcher Stelle das Phrasem in die Karikatur integriert ist, lassen sich vier typische Platzierungen ausmachen: – Der Spruch wird von Angela Merkel geäußert (häufig in einer Sprechblase) (21 Belege) (siehe die Abbildungen 9, 17, 19, 20, 21, 24, 27) – Der Spruch wird von einer dritten Person geäußert (z. B. von einem Politiker oder einer Bürgerin/einem Bürger) (17 Belege) (siehe die Abbildungen 10, 12, 13, 24, 22, 26) – Der Spruch steht auf einem Gegenstand (z. B. auf einem Auto oder einem Kuchen) (14 Belege) (siehe die Abbildungen 14, 15, 23, 25) – Der Spruch ist als Über-/Unterschrift der Karikatur zu sehen (9 Belege) (siehe die Abbildungen 8, 11).
|| 21 https://de.toonpool.com/user/636/files/wir_schaffen_das_schon_2569935.jpg (29.09. 2017). 22 http://janson-karikatur.de/wp-content/uploads/2016/08/Wir-schaffen-das-16-08-31-rgb. jpg (29.09.2017).
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Abb. 14: Phrasem auf einem Auto23
Abb. 15: Phrasem auf einem Kuchen24
Interessant ist an solchen Beispielen wie in den Abbildungen 14 und 15, dass durch die Kombination des Bildes von Angela Merkel mit Bildzusammenstellungen Aspekte des Diskurses deutlich werden, die das bildliche Phrasem semantisch modifizieren zu der Bedeutung ,Wir schaffen das nicht‘ oder ,es dauert sehr lange‘. Die Platzierung des Phrasems lenkt dabei die Aufmerksamkeit auf andere materielle Bilder. So beschreibt Abbildung 14 die Unmöglichkeit und Dauer des Wir schaffen das durch ein Auto, das wohl auch längere Zeit stehen bleiben muss, weil es eingeschneit ist. Der Geburtstagskuchen in Abbildung 15 zeigt, wie lange das Wir schaffen das dauert. Interessant ist aber auch das Nicht-Gesagte bzw. materiell-bildlich Nicht-Dargestellte: Abbildung 15 zeigt Angela Merkel alleine, ohne jemanden, der mit ihr feiert, d. h. auch ohne jemanden, der ihre Diskursposition des Wir schaffen das vertritt.
4.3.4 Muster der Phrasem-Bild-Beziehungen In Bezug auf die Multimodalität lässt sich Folgendes feststellen: Die vage Semantik des Phrasems wird durch die materiellen Bilder aufgelöst bzw. gefüllt. Fasst man die unterschiedlichen Darstellungen zusammen, lassen sich insgesamt fünf
|| 23 http://janson-karikatur.de/wp-content/uploads/2016/01/Fluechtlingspolitik-16-01-15-rgb. jpg (29.09.2017). 24 https://de.toonpool.com/user/14600/files/wir_schaffen_das_2766015.jpg (29.09.2017).
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abstrakte Muster der Phrasem-Bild-Beziehungen entdecken. In Tabelle 2 sind diese zusammengefasst.25 Tab. 2: Muster der Phrasem-Bild-Beziehungen
Muster der Phrasem-Bild-Beziehungen / Bedeutung des Bildes
Belege
Wir schaffen das bzw. die mit Wir schaffen das in Bezug stehende Flüchtlings10 aufnahme schadet Deutschland bzw. ist der Untergang Deutschlands (Topos der düsteren Zukunftsprognose) Abgedroschenheit des Spruches (z. T. einhergehend mit der Beharrlichkeit/Sturheit Merkels)
6
Die Bewältigung der „Flüchtlingskrise“ ist unmöglich / Unmöglichkeit des Wir schaffen das
6
die mit Wir schaffen das verbundene Aufnahme aller Flüchtlinge entspricht nicht 5 der Wahrheit, das Gegenteil wird praktiziert Uneinigkeit zwischen CDU und CSU
4
Wie in Tabelle 2 zu sehen ist, wird mithilfe des Bildes in den meisten Fällen ein Topos der düsteren Zukunftsprognose (vgl. Römer 2017: 165) für Deutschland bzw. für die deutsche Bevölkerung über die Darstellung bestimmter Diskurspositionen „gezeichnet“. Die mit dem Spruch Wir schaffen das verbundene Aufnahme geflüchteter Menschen wird als etwas dargestellt, das der Bundesrepublik schaden wird bzw. sogar ihren Untergang bedeutet. Auf den Bildern sind unter anderem ein „gesteinigtes Deutschland“ (Abbildung 16) oder Terroristen zu sehen, die begünstigt durch Merkels Politik nach Deutschland gelangen (Abbildung 17).
|| 25 Zu beachten ist, dass die angesprochenen Phrasem-Bild-Beziehungen teilweise auch gleichzeitig in einer Karikatur realisiert sein können.
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Abb. 16: Düstere Zukunftsprognose 126
Abb. 17: Düstere Zukunftsprognose 227
Häufig findet sich in den bildlichen Darstellungen aber auch eine Kritik an der Abgedroschenheit (Floskelhaftigkeit) des Spruches. In Abbildung 18 geschieht dies dadurch, dass der Spruch im Müll landet (mit der Bemerkung eines Müllmanns „Haltbarkeitsdatum überschritten“). In einer anderen Karikatur (Abbildung 19) wird die Abgedroschenheit direkt sprachlich mitrealisiert. Angela Merkel ist in einem (esoterischen) Ramschladen auf der Suche nach einem neuen, (noch) nicht so sehr abgenutzten Spruch. Ebenfalls häufig sind Bilder zu finden, in denen eine Situation dargestellt wird, deren Bewältigung unmöglich erscheint und die somit im diametralen Gegensatz zur eigentlichen Intention von Wir schaffen das steht. Die durch das sprachliche Mittel der Negation (Wir schaffen das nicht) geäußerte Kritik kann somit auch mithilfe des Bildes geäußert werden. So ist in Abbildung 20 eine blinde Merkel zu sehen, die den Weg durch ein Labyrinth finden muss. In Abbildung 21 ist im Hintergrund ein mit einer Mauer umrandetes Gebiet mit einer Tür aus Deutschlandfarben zu erkennen, das vor Menschen überquillt.
|| 26 https://www.flickr.com/photos/wiedenroth/22317056680 (29.09.2017). 27 http://www.karikatur-cartoon.de/bilder/wir-schaffen-das.jpg (29.09.2017).
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Abb. 18: Abgedroschenheit des Phrasems 128
Abb. 19: Abgedroschenheit des Phrasems 229
Abb. 20: Unmöglichkeit des Wir schaffen das30
Abb. 21: Unmöglichkeit des Wir schaffen das31
In einigen Karikaturen wird darauf angespielt, dass die mit Wir schaffen das verbundene Aufnahme aller Flüchtlinge nicht der Wahrheit entspricht und darüber hinaus genau das Gegenteil praktiziert wird. Realisiert wird dies beispielsweise durch das tradierte materielle und metaphorische Bild der Festung Europas, die – kurz bevor geflüchtete Menschen in sie eintreten möchten – (rücksichtslos) ihre Tore schließt (Abbildung 22), oder durch ein von Angela Merkel verfasstes Buch,
|| 28 http://janson-karikatur.de/wp-content/uploads/2016/09/Wir-schaffen-das-16-09-18-rgb. jpg (29.09.2017). 29 http://janson-karikatur.de/wp-content/uploads/2016/09/Postfaktische-Zeiten-16-09-23-rg b.jpg (29.09.2017). 30 https://de.toonpool.com/user/45451/files/wir_schaffen_das_2561795.jpg (29.09. 2017). 31 https://de.toonpool.com/user/84758/files/wir_schaffen_das_2566295.jpg (29.09.2017).
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das nur auf dem Buchdeckel den Anschein erweckt, sie meine es mit ihrer Politik ernst (Abbildung 23).
Abb. 22: Praktizierung des Gegenteils 132
Abb. 23: Praktizierung des Gegenteils 233
Auch die Uneinigkeit innerhalb der beiden Schwesterparteien CDU und CSU (in Persona von Angela Merkel und Horst Seehofer) wird mithilfe des Bildes zum Ausdruck gebracht. Dabei ist es nicht selten, dass Horst Seehofer den Spruch von Angela Merkel durch eine Negation modifiziert wie in Abbildung 24, in dem die beiden das Spiel „Sie liebt mich, sie liebt mich nicht“ in auf das Phrasem abgewandelter Weise spielen und Seehofer den pessimistischen Part übernimmt. In Abbildung 25 wird auf die (kindischen) Streitereien und Machtspielereien zwischen den beiden Verantwortlichen angespielt, indem Horst Seehofer zu sehen ist, der Angela Merkel beim Kerzenausblasen (mit Absicht) Kuchen ins Gesicht pustet.
|| 32 https://de.toonpool.com/user/64/files/wir_schaffen_das_2556355.jpg (29.09.2017). 33 https://twitter.com/muschelschloss/status/648869872965931008 (29.09.2017).
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Abb. 24: Uneinigkeit CDU/CSU 134
Abb. 25: Uneinigkeit CDU/CSU 235
4.3.5 Kontexteinbettung Eine typische Eigenschaft salienter politischer Sätze wie Wir schaffen das ist laut Klein (2017b: 161), „dass sie auch außerhalb des ursprünglichen Referenzbereichs verwendet werden können.“ Eine interessante Frage ist, ob sich auch Karikaturen finden lassen, in denen der Spruch aus dem eigentlichen Bereich rund um Flüchtlings- und Migrationspolitik herausgelöst ist und sich somit eine gewisse Verselbstständigung und Konventionalisierung des geflügelten Wortes entdecken lassen. In unserer Materialsammlung zeigt sich eine solche Herauslösung in sechs Karikaturen, die nun in anderen Domänen verhaftet sind, jedoch Wissensaspekte des Diskurses beibehalten. So ist das Phrasem in den Abbildungen 26 und 27 in Fußball-Kontexte eingebettet. Abbildung 26 überträgt den Spruch auf diverse Skandale der Vereinigungen FIFA, UEFA und DFB, denen das Wasser sozusagen nicht mehr nur bis zum Hals steht, sondern sie in ihren Skandalen schon ertrunken sind – sie aber dennoch beharrlich daran festhalten, diese Vertrauenskrise meistern zu können. In Abbildung 27 wird Bezug auf das Ausscheiden der deutschen Fußballnationalmannschaft bei der Europameisterschaft 2016 Bezug genommen.
|| 34 https://de.toonpool.com/user/43/files/wir_schaffen_es_2568925.jpg (29.09.2017). 35 https://de.toonpool.com/user/64/files/1_jahr_wir_schaffen_das_2761775.jpg (29.09.2017).
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Abb. 26: Kontextherauslösung 136
Abb. 27: Kontextherauslösung 237
5 Fazit und Ausblick In den vorangegangenen Ausführungen wurde gezeigt, dass sich Schnittstellen zwischen Diskurslinguistik und Phraseologie im Sinne der Multimodalitätsforschung entdecken lassen. Klug & Stöckl (2016) postulieren aus der Perspektive der Multimodalitätsforschung eine methodologische Lücke, die durch Theorie und Methodologie der Diskurslinguistik z. T. geschlossen werden kann. Meier (2011: 502) macht für die Diskurslinguistik deutlich, dass sich diskursive Praktiken in „regulierende[r] und regulierte[r] multimodale[r] Zeichenverwendung“ manifestieren. Stöckl (2004: 191) hebt in Bezug auf die Phraseologie hervor: Ein noch weitestgehend unterbelichtetes Gebiet der textlinguistisch orientierten Phraseologieforschung betrifft die Rolle materieller Bilder als essentielle Textteile bei der Konstruktion bildlicher, hauptsächlich phraseologisch geprägter Formulierungsmuster.
Die Korpusanalyse von Karikaturen mit dem geflügelten Wort bzw. salienten politischen Satz Wir schaffen das bringt folgende Ergebnisse zutage: (1) Das Phrasem Wir schaffen das zeigt sich in einer nicht unbeachtlichen Anzahl der Fälle äußerst modifikationsproduktiv. Mitunter sind sogar mehrere Modifikationsarten in einer Karikatur festzustellen. Gemeinsam ist diesen Modifikationen, dass sie bestimmte Positionen im Diskurs darstellen. (2) Die überwiegende Anzahl der gefundenen und untersuchten Phrasembelege rekurriert materiell-bildlich auf Angela Merkel und präsentiert diese in für || 36 https://www.stuttmann-karikaturen.de/karikaturen/2015/dfb_kol_b.jpg (29.09.2017). 37 http://janson-karikatur.de/wp-content/uploads/2016/07/Fu%C3%9Fball-EM-16-07-08-rgb. jpg (29.09.2017).
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Karikaturen typisch überzeichneter Darstellungsweise. Der Diskurs ist aber so vielschichtig und facettenreich, dass das zentrale Konzept auch ohne die materiell-bildliche Darstellung von Angela Merkel aufgegriffen und deutlich wird. (3) Die Platzierung des Phrasems ist unterschiedlich und nimmt mindestens z. T. funktionale z. B. aufmerksamkeitslenkende Züge an. (4) Die Muster der Phrasem-Bild-Beziehungen sind von hoher diskursiver bzw. diskursanalytischer Relevanz, weil durch sie erst das diskursmarkierende Potenzial in multimodalen Kommunikaten wie Karikaturen deutlich wird. Eine Tendenz des untersuchten Diskurses zeigt sich im Topos der düsteren Zukunftsprognose. Neben dieser Tendenz wird aber auch ein gesellschaftlich geteiltes diskursives Wissen transparent, indem Wirklichkeitssichten als widerstreitende Diskurspositionen erscheinen. (5) Zuletzt konnten wir auch zeigen, dass sich das Phrasem zumindest in Karikaturen aus dem Diskurskontext durch Wechsel in eine andere Domäne herausgelöst hat, Wissensaspekte des Diskurses aber weiter mitschwingen, ohne die das Kommunikat nicht funktionieren würde. Die Perspektivenerweiterung durch die Multimodalitätsforschung erscheint für die Analyse des diskursmarkierenden Potenzials von Phrasemen sinnvoll. In den untersuchten und dargestellten Beispielen zeigt sich, dass durch die Wechselbeziehung zwischen Phrasemen und materiellen Bildern bestimmte Wissensaspekte des Diskurses (z. B. Themen, Akteure, Diskurspositionen) besonders betont werden. Phraseme wirken dabei als diskursive Bildspender. Das bedeutet, dass damit alle semiotischen Ressourcen multimodaler Kommunikate in Bezug auf die untersuchten Phraseme hin beleuchtet werden sollten. So scheint es gewinnbringend zu sein, neben statischen Bildtexten wie Karikaturen oder Memes, die uns zuhauf in unserer Recherche zu Wir schaffen das begegnet sind, zukünftig auch bewegte Bildtexte wie den in Abbildung 7 im Ausschnitt gezeigten satirischen Beitrag von „Die Anstalt“ zu Das Boot ist voll verstärkt in den Blick zu nehmen.
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David Römer
Diskursphraseme – Modellierung und Beispiel Zusammenfassung: Der vorliegende Beitrag geht von der These aus, dass Phraseme eine diskursanalytische Kategorie par excellence darstellen. Er zeigt Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen linguistischer Diskursanalyse und Phraseologie auf und verdeutlicht, aufgrund welcher Eigenschaften Phraseme diskursanalytisch interessant sind. Auf dieser Basis wird ein induktives, korpusbasiertes Programm zur Analyse von Diskursphrasemen vorgeschlagen. Dabei liegt der Fokus auf der argumentativen Funktion von Phrasemen, die am Beispiel der für den ökonomischen und politischen Krisendiskurs der 1970er Jahre typischen festen Wortverbindung Grenzen des Wachstums aufgezeigt wird.
1 Vorbemerkung Die linguistische Diskursanalyse beschäftigt sich mit der Frage, wie Sprache gesellschaftliches Wissen respektive Wirklichkeit schafft. Der analytische Zugriff erfolgt über Sammlungen meist schriftlicher Texte zu bestimmten Themen (Korpora), die intertextuell vernetzt sind und Diskurse bilden. Erschlossen werden solche Diskurse mithilfe verschiedenster, insbesondere semantischer Methoden auf diversen sprachlichen Ebenen von der Sprachstruktur bis zum Sprachgebrauch. Im Fokus linguistischer Diskursanalysen liegen häufig die Lexik, Metaphorik und Argumentation. Phraseme fehlen zwar in (fast) keiner Auflistung der diskursanalytisch relevanten sprachlichen Mittel (vgl. etwa Gardt 2007: 31 und Niehr 2014: 47), in der empirischen Forschung werden sie aber eher stiefmütterlich behandelt. Dies ist umso bemerkenswerter, da feste (idiomatische) Wortverbindungen aufgrund ihrer strukturellen, semantischen und pragmatischen Eigenschaften eine diskursanalytische Kategorie par excellence darstellen. Der vorliegende Beitrag möchte den diskursanalytischen Wert phraseologischer Wortverbindungen aufzeigen. Er geht von der Annahme aus, dass die sprachliche Konstruktion von Wirklichkeit auch durch Phrasemgebrauch erfolgt und dass sich auch in Phrasemen gesellschaftliches Wissen kondensiert (und somit linguistisch beschreibbar ist). Es wird insbesondere auf die Fragen eingegangen, warum linguistische Diskursanalyse und Phraseologie miteinander verbunden werden sollten (Abschnitt 2) und welche Eigenschaften von Phrasemen diese
DOI 10.1515/9783110602319-006
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diskursanalytisch interessant machen (Abschnitt 3). An einem ausgewählten Beispiel aus dem ökonomischen und politischen Krisendiskurs in der Bundesrepublik Deutschland wird insbesondere die argumentative Funktion von Phrasemen veranschaulicht (Abschnitt 4).
2 Linguistische Diskursanalyse und Phraseologie Bereits Stumpf & Kreuz (2016) verdeutlichen einige Verknüpfungen zwischen linguistischer Diskursanalyse und Phraseologie sowie den diskursanalytischen Nutzen der Untersuchung von Phrasemen. Die Schnittstelle zwischen linguistischer Diskursanalyse und Phraseologie liegt auf der Hand. In beiden Disziplinen geht es um die Analyse musterhafter sprachlicher Einheiten unter Berücksichtigung deren strukturellen, semantischen und pragmatischen Eigenschaften wie Leistungen (vgl. Stumpf & Kreuz 2016: 1). Neben dieser grundlegenden Gemeinsamkeit gibt es jedoch auch einige Unterschiede zwischen den Disziplinen: Die Phraseologie bezieht sich i. d. R. auf den Phrasemgebrauch im einzelnen Text, in Abhängigkeit zu Textsorten oder mündlicher und schriftlicher Kommunikation beispielsweise; die linguistische Diskursanalyse betrachtet musterhafte sprachliche Einheiten über den einzelnen Text, Textsorten oder Mündlichkeit und Schriftlichkeit hinaus (sehr wohl können dies aber auch Kriterien der Klassifikation sein). Des Weiteren ist für die Phraseologie die Beobachtung des Phrasemgebrauchs häufig Mittel zum Zweck, um Klassen des Vorkommens von Phrasemen und Phrasemtypen in Bezug auf die untersuchten kommunikativen Kontexte und Situationen, die strukturellen und semantischen Eigenschaften und pragmatischen Funktionen zu bilden (Typologien); die linguistische Diskursanalyse interessiert sich für die sprachlichen Mittel, mit denen kollektiv geteilte Annahmen über die Welt oder Wirklichkeitsvorstellungen, meist in Bezug auf ein gesellschaftlich brisantes Thema, konstruiert werden. Die Beobachtung des Sprachgebrauchs ist hier Mittel zum Zweck, um etwas über sprachliche Wirklichkeitskonstruktionen und das gesellschaftlich verbreitete Wissen in Erfahrung zu bringen. Trotz der genannten Unterschiede ist die Verknüpfung von linguistischer Diskursanalyse und Phraseologie ein für beide Seiten fruchtbares Vorhaben. Die Phraseologie könnte insbesondere von einer Erweiterung um einzeltextübergreifende Analyseansätze profitieren. Schon Burger (1999: 85) verweist auf die intertextuelle Verwendung von Phrasemen in den Medien. In der Tat wäre zu diskutieren, ob die Beschreibung der Leistungen von Phrasemen in Einzeltextanalysen – ohne Berücksichtigung des Bezogen-Seins der Texte auf andere
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Texte – adäquat erfolgen kann. In diesem Zusammenhang schlägt Stein (2017: 122) vor, der Frage nachzugehen, „in welcher Weise Phraseologismen einzeltextübergreifend Text(sorten)ketten und Diskurse prägen“. Es wird also angenommen, dass Phraseme nicht nur ein sogenanntes textbildendes Potenzial haben, sondern vielmehr auch diskurskonstitutiv sind. Demgemäß spricht Erhardt (2007: 262) vom „diskursbildenden Potential“. Dies könnte aufgefasst werden als das Potenzial von Phrasemen, aufgrund ihrer Eigenschaften einen Beitrag zur Gestaltung und Organisation des Diskurses zu leisten. Insbesondere Stumpf & Kreuz (2016: 6–13) haben bereits erste Überlegungen zum sogenannten diskursbildenden Potenzial von Phrasemen angestellt. Daran anschließend werden im nächsten Abschnitt speziell jene Eigenschaften von Phrasemen rekapituliert, die Diskurse mitgestalten können, wobei das Hauptaugenmerk auf der argumentativen Funktion liegt. Dabei sollte deutlich werden, inwiefern die Analyse des Phrasemgebrauchs für die linguistische Diskursanalyse fruchtbar ist.
3 Phraseme im Diskurs 3.1 Allgemeine und diskursbezogene Eigenschaften von Phrasemen In einem weiten Sinne handelt es sich bei Phrasemen um sprachliche Einheiten, die „aus mehr als einem Wort bestehen“ (Burger 2015: 14) und relativ stabil sind. Die für ein Phrasem typische Kombination von bestimmten Wörtern ist „in der jeweiligen Sprachgemeinschaft bekannt und gebräuchlich“ (Hermanns 2012 [2007]: 367); sie sind „mental als Einheit [von Form und Bedeutung, Anm. d. Verf.] gespeichert und [können] als Ganze abgerufen werden“ (Stein 2011: 258). Als sprachliche Zeichen im Saussure’schen Sinne (Form-Bedeutungs-Paare) sind sie Bestandteile des Lexikons, „so dass sie eine Gesamtbedeutung haben, die en bloc gewusst wird, und zwar auch, wenn sie nicht idiomatisiert sind (dann ergibt sich nur ihre Gesamtbedeutung zusätzlich auch noch aus ihren Komponenten, was sie ‚transparent‘ macht)“ (Hermanns 2012 [2007]: 367). Phraseme müssen nicht immer oder nicht mehr allen Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft bekannt sein. Stumpf & Kreuz (2016: 7) betonen, dass die kognitive Festigkeit von Phrasemen deren „Rezeption und Reproduktion im Diskurs erleichtert und dafür ausschlaggebend ist, dass Phraseme ohne kognitiven Mehraufwand diskursiv verwendet werden können.“
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Aus linguistisch-diskursanalytischer Sicht geht es im Wesentlichen um die Frage, was ein bestimmter Sprachgebrauch in spezifischen Konstellationen bewirkt. Nach Stein (2017: 117) „stellen Phraseologismen ‚besondere‘ Sprachzeichen dar, mit denen sich [...] oft zusätzliche Effekte erzielen lassen.“ Dass sich mit dem Einsatz von Phrasemen zusätzliche Effekte erzielen lassen, ist hauptsächlich in folgender Eigenschaft begründet: Neben der Mehrgliedrigkeit (Polylexikalität) und Festigkeit (ausdrucksseitig wie kognitiv) zeichnen sich Phraseme u. U. durch Idiomatizität aus (unterschieden wird i. d. R. zwischen idiomatischen, teil-idiomatischen und nicht-idiomatischen Phrasemen). Besonders die idiomatischen Phraseme oder Idiome, deren Bedeutung nicht aus den einzelnen Komponenten erklärbar ist, sind aufgrund ihrer semantischen und pragmatischen Möglichkeiten – ihres Mehrwertes (vgl. Kühn 1985) gegenüber freien Wortverbindungen oder ihrer besonderen Ladung (vgl. Kühn 1994: 420) und auch ihrer häufigen Metaphorizität – diskursanalytisch einschlägige Untersuchungsgegenstände. Mit ihrer Hilfe lassen sich Bedeutungen – je nach Sprecherabsicht – auf spezifische Weise konstituieren. (Idiomatische) Phraseme haben demnach nicht nur eine Referenzfunktion und benennen Dinge. Aufgrund ihrer semantischen Vagheit können sie auch der Verschleierung des Gemeinten dienen oder mit ihnen kann zusätzlich etwas mitgeteilt werden. Sie schreiben Eigenschaften zu, bewerten Sachverhalte und indizieren bzw. vermitteln bestimmte Perspektiven oder Einstellungen bzw. Diskurspositionen. Durch ihre Verwendung lassen sich mehrere Adressaten ansprechen, außerdem sind sie nutzbar, um (vermeintlich) schwer Verständliches zu veranschaulichen (sie dienen der Komplexitätsreduktion) oder die Expressivität von Äußerungen zu steigern. Nicht zuletzt können Phraseme in verschiedenen Formen auftreten, d. h. sie sind zur Erreichung von Kommunikationszielen modifizierbar (vgl. Stein 2017: 117). Stumpf & Kreuz (2016: 10) halten die Modifizierbarkeit für einen wesentlichen Aspekt des diskursbildenden Potenzials von Phrasemen: In konkreten Diskursen haben Diskursakteure die Möglichkeit, die von anderen Diskursakteuren verwendeten Phraseme aufzugreifen und diese auf kreative Weise sprachspielerisch abzuwandeln. So können ganze „Modifikationsnetze“ von in Diskursen gebrauchten Phrasemen entstehen, was sich [...] auch in der Diskursdynamik niederschlagen kann.
Insbesondere für den Kommunikationsbereich des öffentlich-politischen Sprachgebrauchs bzw. in Bezug auf öffentlich-politische Diskurse ist davon auszugehen, dass Phraseme mithilfe der genannten Eigenschaften zu strategischen Zwecken verwendet werden, etwa um die Meinungen und Einstellungen der Adressaten zu beeinflussen und Überzeugungen zu schaffen bzw. Diskurspositionen
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durchzusetzen oder auch politisches Handeln zu legitimieren. Dass somit Phrasemen im Rahmen argumentativer Handlungen eine wichtige Rolle zukommt, wird in der phraseologischen Forschung vielfach betont.1 Nach Wirrer (2007: 175) zählt die Argumentation „zu den wichtigsten Anwendungsfeldern phraseologischer Einheiten“ überhaupt. Selbstverständlich lassen sich feste Wortverbindungen auch nutzen, um (aufwendiges) Argumentieren zu umgehen, etwa indem sie Selbstverständlichkeit und Allgemeingültigkeit suggerieren (vgl. Lüger 1993: 278–279). Eine der zentralen Funktionen von Phrasemen in Diskursen ist aber wohl die phraseologische Stützung oder Realisierung von Argumentationen und die damit einhergehende Erzeugung von Plausibilitätseffekten, um bestimmte Ziele zu erreichen. Ein Brückenschlag zwischen linguistischer Diskursanalyse und Phraseologie bedarf demnach einer genaueren Betrachtung dieses Aspektes.
3.2 Zur argumentativen Funktion von Phrasemen Bereits die Rhetoriker der Antike wie Aristoteles und Quintilian haben formelhafter Sprache ein persuasives Potenzial zugesprochen. Da die Schaffung von Überzeugungen, die Herstellung kollektiver Sichtweisen, ein zentraler diskursiver Mechanismus ist, liegt es nahe, sich mit dem persuasiven Potenzial bzw. der argumentativen Funktion von Phrasemen und der phraseologischen Struktur von Argumentationen näher zu befassen. Wie erwähnt, wird in der phraseologischen Forschung öfters betont, dass Phrasemen im Rahmen argumentativer Handlungen eine wichtige Rolle zukommt. So eigneten sie sich nach Wirrer (2007: 176), der sich in seinen Überlegungen auf die aristotelische Rhetorik und Topik bezieht, „besonders gut für Situationen, [um] eine breite [...] Zuhörerschaft, die sich gern in ihren Vorannahmen bestätigt fühlt, zu überzeugen.“ Demnach liegt aus argumentationstheoretischer Sicht das persuasive Potenzial von Phrasemen darin, dass sie an ein breites Spektrum an Vorannahmen anschließen und mit diesen übereinkommen. In der antiken Rhetorik spricht man bei den für plausible Argumentationen nutzbar zu machenden Vorannahmen auch von den „anerkannten Meinungen“ bzw. „Endoxa“. Gemäß der Logik von Alltagsargumentationen sind Argumentationen umso plausibler, je besser es gelingt, an ebensolche anerkannten Meinungen anzuknüpfen. Phraseme, sofern sie argumentativ genutzt werden, leisten diese Ver-
|| 1 Pfeiffer (2016: 164–181) umreißt den Forschungsstand zur argumentativen Funktion phraseologischer Wendungen.
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knüpfung, indem sie kollektive Wissensbestände evozieren, an die in argumentativen Handlungen angeschlossen werden kann, um Überzeugungen zu schaffen. Auf den Zusammenhang zwischen Rhetorik und Phraseologie weist auch Lüger (2001) hin. Phraseme würden (zu bestimmten Zeiten und innerhalb einer Gruppe) allgemein anerkannte Wahrheiten (Endoxa) realisieren und dabei insbesondere „als Übergang, als Verbindungsstück zwischen einem geäußerten Argument einerseits und einer strittigen Behauptung oder Schlussfolgerung andererseits“ (Lüger 2001: 82) fungieren, also als Schlussregel im Sinne Toulmins (2008 [1958]) (vgl. hierzu auch Pfeiffer 2016: 170). Unter diesem Gesichtspunkt ist die Phraseologie unmittelbar an den argumentationstheoretisch verstandenen Toposbegriff der antiken Rhetorik anschließbar, insbesondere wie er für die linguistische Diskursanalyse fruchtbar gemacht wurde (vgl. Wengeler 2003 und Römer 2017). Topoi werden dort als Argumentationsmuster meist im Sinne von Schlussregeln verstanden, die zwar auf formalen Schlussmustern beruhen (etwa denen von Kienpointner 1992), aber semantisch angereichert, d. h. für ein Wissensgebiet oder einen Diskurs spezifisch sind. Diskurstypische Phraseme in argumentativer Funktion lassen sich als sprachliche Realisierungsformen solcher inhaltlich bestimmten Topoi auffassen. Die Beschreibungen der argumentativen Leistungen von Phrasemen beschränken sich allerdings meist auf deren allgemeine Verwendung in argumentativen Texten, insbesondere in meinungsbetonten und politischen Textsorten (siehe beispielsweise die Arbeiten von Lüger 1993, 1999, 2001 und Pfeiffer 2016) und/oder auf das inhaltlich abstrakte Klassifizieren argumentativer Handlungen, die mit Phrasemen vollzogen werden können (siehe etwa Kindt 2002), bzw. auf die Erarbeitung von Typologien argumentationsbezogener Funktionen phraseologischer Wendungen unter eher formalen Gesichtspunkten (so ordnet Wirrer 2007: 181–182 Phrasemen kontextabstrakte Topoi zu; ähnlich auch Lenk 2014, 2015). Ohne den Wert der genannten Studien schmälern zu wollen, scheint es im Rahmen phraseologischer Forschungen mehr als in der linguistischen Diskursanalyse noch Usus zu sein, mit inhaltlich abstrakten Kategorien und konstruierten oder exemplarischen Einzelbeispielen zu arbeiten. Pfeiffer (2016) untersucht zwar auf einer größeren empirischen Basis authentisches sprachliches Material, fragt aber ebenfalls nach dem argumentativen Funktionspotenzial phraseologischer Wendungen im Hinblick auf die Realisierung kontextabstrakter Topoi. Insgesamt ist also festzustellen, dass die Analysen argumentativer Leistungen von Phrasemen häufig nicht korpusbasiert vorgehen, ihnen taxonomische Ansätze zugrunde liegen, wobei sie sich auf formale Aspekte konzentrieren. Aus
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diskurslinguistischer Perspektive wäre stärker nach Phrasemen zu fragen, die für einen Diskurs – etwa als thematische, zeitliche, soziale Formation von Wissen – typisch sind, d. h. eine spezifische semantische Sättigung und pragmatische Ladung aufweisen, und es wäre danach zu fragen, inwiefern solche diskurstypischen Phraseme kontextspezifische Topoi realisieren. Pfeiffer (2016: 199) merkt an, dies werde seitens der Phraseologie „außer Acht gelassen“. Nur wie vorgeschlagen, könnte aber etwas über das kollektive Wissen – im Sinne phraseologisch aufgerufener, argumentativ genutzter Segmente anerkannter Meinungen (Endoxa) – und über die sprachliche Konstruktion von Wirklichkeit in Bezug auf bestimmte Diskursausschnitte in Erfahrung gebracht werden.
3.3 Diskursphraseme beschreiben Erst durch die Analyse des konkreten Sprachgebrauchs in bestimmten Diskursen kann geklärt werden, welches diskurstypische Phrasem welchen kontextspezifischen Topos in welcher Form aufruft und wie es argumentativ eingesetzt wird. Es ist davon auszugehen, dass ein Phrasem – je nach Verwendung und situationsbezogener und kontextueller Einbettung – verschiedene Topoi verwirklicht oder unterschiedliche argumentative Handlungen ausführt. Ebenso ist anzunehmen, dass ein Topos bzw. Argumentationen phraseologisch unterschiedlich auftreten können. Die Beschreibung von Diskursphrasemen und deren Funktionen ist nur über ein interpretierendes Verfahren zu erreichen. Um zu linguistisch-diskursanalytisch adäquaten Erkenntnissen zu gelangen, bietet sich grundsätzlich ein induktives Vorgehen an; der Verstehensprozess erfolgt also vom konkreten Einzelfall zum abstrakten Konzept oder „bottom-up“. So wäre zunächst das Vorkommen bestimmter sprachlicher Ausdrücke – von Phrasemen – in einem als empirische Grundlage dienenden Textkorpus zu ermitteln (dies müsste vorab erstellt werden). Nur auf der empirischen Basis dessen, was im Korpus gefunden wurde, sollte die weitere Analyse wie etwa die interpretative Rekonstruktion der Bedeutungen und der Funktionen erfolgen. Weniger hilfreich erscheint es, mit vorab festgelegten Kategorien oder Schemata zu arbeiten (beispielsweise Funktionslisten oder Listen formaler Topoi), da diese entweder so allgemein sind, dass ihre Aussagekraft sich auf inhaltlich-funktional unbestimmte Aspekte beschränkt bzw. sie nicht im Einklang mit dem tatsächlichen Sprachgebrauch in bestimmten Diskursen stehen. Die Interpretation sollte sich nicht auf das Klassifizieren von Phrasemen zu Handlungstypen, Funktionen, Topoi oder anderen Kategorien beschränken. Viel-
154 | David Römer
mehr wären in linguistisch-diskursanalytischer Perspektive Muster des Phrasemgebrauchs einzeltextübergreifend und unter Berücksichtigung konkreter Verwendungssituationen und Kontexte zu beschreiben. Das Interpretieren sprachlicher Äußerungen in Diskursen erfordert Wissen über Sprachwissen hinaus. „Die Sprachwissenschaft allein reicht nicht zum Interpretieren von Diskursen“, so Hermanns (2012 [2007]: 121). Um also die mit dem Gebrauch von Phrasemen in Diskursen erzielten Effekte verstehen zu können, ließen sich u. a. folgende Fragen an die Texte bzw. Diskurskorpora stellen: Was sind die situationsbezogenen und kontextuellen Bedingungen des Phrasemgebrauchs (sprachlich-kommunikativ, historisch, sozial, politisch)? Welche Phraseme sind für meinen Diskurs spezifisch (inwiefern sind sie diskursindizierend)? Was bedeuten die Phraseme in den jeweiligen Situationen und Kontexten? Auf welche Sachverhalte wird Bezug genommen? Welche Eigenschaften werden mit dem Phrasemgebrauch dem referierten Sachverhalt zugeschrieben? Welche Handlungen werden mit bestimmten Phrasemverwendungen vollzogen? Welche Funktionen haben die Phraseme im untersuchten Diskurs (inwiefern sind sie diskurskonstitutiv)? Für die präzisere Ermittlung der Handlungsmuster und Funktionen des Phrasemgebrauchs in Diskursen könnte man sich an folgenden Fragen orientieren: Warum wird ein bestimmter phraseologischer Ausdruck verwendet? Wer spricht in welcher Absicht zu wem, wenn er bestimmte Phraseme benutzt? Auf welche anderen Äußerungen bezieht sich eine Äußerung auf welche Weise? Lässt sich ein Prätext ausmachen, in dem ein Phrasem erstmalig verwendet wurde? Wird ein Phrasem in späteren Bezugnahmen modifiziert, und wenn ja: zu welchem Zweck? Welche Bewertungen, Perspektiven und Weltsichten manifestieren sich in den Äußerungen? Was wird mitgemeint? Welche Inferenzen werden durch den Phrasemgebrauch nahegelegt? Welche deontischen Bedeutungskomponenten hat ein Phrasem bzw. welche Handlungsaufforderungen werden impliziert? Welche Positionen werden vertreten und können sich gegenüber anderen Positionen durchsetzen? Werden Diskursphraseme insbesondere in persuasiven Handlungen wie Begründungen gebraucht, wovon auszugehen ist, ergeben sich weitere Forschungsfragen: In welchen argumentativen Zusammenhängen wird ein Phrasem gebraucht? Welche (kontextspezifischen) Topoi oder welche argumentativen Teilhandlungen werden durch welche Phraseme realisiert? Bei all diesen Fragen handelt es sich lediglich um allgemeine Gesichtspunkte, die eine Orientierung für die Analyse und Beschreibung von Diskursphrasemen geben können. Für eine systematische Betrachtung müsste das Vorgehen noch spezifiziert werden. Dies zu leisten, wäre Aufgabe der empirischen
Beispiel | 155
Forschung. Letztlich geht es darum herauszufinden, was eine sprachliche Äußerung in einem bestimmten diskursiven Handlungsgefüge bedeutet, welchen Stellenwert sie innerhalb eines Diskurses hat und was mit ihr bewirkt werden kann.
4 Ein Beispiel – Grenzen des Wachstums2 Als Grundlage des Booms der Nachkriegsjahre und der Entstehung der Wohlstandsgesellschaften in den westlichen Industrieländern gilt gemeinhin die unbeschränkte und preiswerte Verfügbarkeit fossiler Energieträger. Infolge des vierten arabisch-israelischen Krieges am 6. Oktober 1973 im Rahmen des Nahostkonfliktes beschlossen die erdölexportierenden Länder der arabischen Welt (OAPEC), die Ölförderung um mindestens fünf Prozent pro Monat zu reduzieren und verhängten gegenüber Ländern, die Israel im Krieg unterstützten, ein Totalembargo. Als Unterstützer Israels wurden die USA und die Niederlande eingestuft. Von Liefereinschränkungen ausgenommen blieben als „freundlich“ eingestufte Staaten wie Frankreich und Großbritannien. Die als „neutral“ eingeschätzte Bundesrepublik Deutschland wurde zwar im Rahmen der Fördereinschränkungen weiter beliefert, aber der Ölpreis verteuerte sich aufgrund der Verknappung deutlich. Für die BRD, die nicht über ausreichend eigene Ölquellen verfügt, um ihren Energiebedarf zu decken, gaben Preissteigerungen, Förderungsbeschränkungen und die Gefahr eines Totalembargos Anlass zu großer Sorge. Die geschilderte Situation wurde in der Öffentlichkeit als „Ölkrise“ perzipiert. Mit der „Ölkrise“ wurden der Boom der Nachkriegsjahre und der gesellschaftliche Wohlstand sowie darauf ausgerichtete Zukunftserwartungen in Zweifel gezogen. So äußerte sich Otto Graf Lambsdorff in einer Bundestagsdebatte wie folgt: Die „Ölkrise“ würde „das Ende dieser Wirtschaft und dieser Gesellschaftsordnung und des Gedeihens in dieser Bundesrepublik“ einläuten. Wir müssten sehen, dass wir „bisher auf einer Basis gelebt, gearbeitet und verdient haben, die
|| 2 Das hier dargestellte Beispiel ist Ergebnis eines Forschungsprojektes zur sprachlichen Konstruktion ökonomischer und politischer „Krisen“ zwischen 1973 und 2003. Das untersuchte Korpus zur „Ölkrise“, aus dem das Beispiel entnommen ist, setzt sich aus 2027 Pressetexten aus den Tageszeitungen Bild, FAZ, SZ und den Wochenzeitungen Spiegel und Zeit zusammen. Es deckt den Zeitraum zwischen dem 01.10.1973 und dem 31.01.1974 ab. Dass das Beispiel dem zuvor entworfenen, anspruchsvollen Programm zur Analyse von Diskursphrasemen nur begrenzt gerecht wird, ist dem Verfasser bewusst. Eine ausführliche Analyse kann im Rahmen dieses Beitrags nicht geleistet werden. Für eine detaillierte Darstellung und weitere Belege, auch zu anderen Phrasemen im ökonomischen und politischen Krisendiskurs, siehe Römer 2017.
156 | David Römer
wahrscheinlich unrealistisch war.“ Die „Ölkrise“, so die Schlussfolgerung, werde ein „Stück persönlichen Wohlstands und ein Stück persönlicher Konsummöglichkeit abfordern.“3 Dieses zeittypische Bewusstsein, die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, der Boom und der gesellschaftliche Wohlstand seien an ihr Ende gekommen, weshalb ein Umdenken und Einschränkungen notwendig seien, manifestiert sich in dem für den Diskurs zur „Ölkrise“ 1973/74 typischen Phrasem Grenzen des Wachstums, das unter allen Possessiv-Konstruktionen mit Wachstum als Genitivattribut an erster Stelle rangiert: Tab. 1: Possessiv-Konstruktionen mit Wachstum als Genitivattribut im Diskurs zur „Ölkrise“ 1973/74
Rang
Suchergebnis/Types
Treffer/Tokens
Relative Häufigkeit in Prozent
1
Grenzen des Wachstums
28
38.36
2
Richtung des Wachstums
3
4.11
3
Kosten des Wachstums
2
2.74
4
Stärkung des Wachstums
2
2.74
5
Belebung des Wachstums
1
1.37
6
Prozentpunkt des Wachstums
1
1.37
7
Ankurbelung des Wachstums
1
1.37
8
Steigerung des Wachstums
1
1.37
9
Kräftigung des Wachstums
1
1.37
10
Folgen des Wachstums
1
1.37
Sicher ist diskutabel, ob man den Ausdruck Grenzen des Wachstums als Phrasem einordnen kann. Vielleicht handelt es nicht um ein solches im klassischen Sinne (so findet man es beispielsweise nicht in gängigen phraseologischen Wörterbüchern). Wie schon angedeutet, ist die Wortverbindung nicht nur unter quantitativen Gesichtspunkten bezeichnend für den Diskurs zur „Ölkrise“ 1973/74, sondern auch, weil sich in ihm das zeittypische Bewusstsein manifestiert. Insofern handelt es sich um ein Diskursphrasem.
|| 3 Otto Graf Lambsdorff: Beitrag in der Debatte zur Erklärung der Bundesregierung zu aktuellen Fragen der Wirtschafts- und Energiepolitik. In: Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenographische Berichte. 7. Wahlperiode, 67. Sitzung, 29.11.1973. S. 3907–4058, hier S. 3927–3930 (http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/07/07067.pdf, 29.04.2018).
Beispiel | 157
Mit dem Diskursphrasem geht die Konstruktion einer die Menschheit in ihrer Existenz bedrohenden „Krise“ einher. Der Rede von den Grenzen des Wachstums liegt nämlich die Annahme zugrunde, die natürlichen Ressourcen seien erschöpft, was als tiefgreifender Einschnitt und als Beginn einer neuen Ära aufgefasst wurde, weshalb etwa eine fundamentale politische und gesellschaftliche Neuorientierung gefordert wurde. Das Phrasem ist dabei freilich Ausdruck einer Diskursposition, die das seinerzeit vorherrschende Wachstumsparadigma hinterfragt und beispielsweise eine Abkehr vom exponentiellen oder quantitativen Wachstum zugunsten eines umweltverträglicheren „qualitative[n] Wachstum[s]“ (FAZ, 17.10.1973, Ohne Wachstum geht es nicht) fordert. Erstmals stellte der 1972 erschienene Bericht Die Grenzen des Wachstums des „Club of Rome“ zur Lage der Menschheit Wachstum nicht als Lösung, sondern als Ursache der „Krise“ öffentlich wahrnehmbar dar. Spätestens mit der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den „Club of Rome“ am 14.10.1973 gewann diese im Umweltdiskurs schon gefestigte wachstumskritische Haltung auch im ökonomischen Krisendiskurs an Bedeutsamkeit. Insofern das Phrasem Grenzen des Wachstums ein bedrohliches Bild der Gegenwart und der Zukunft zeichnet und mit seiner Hilfe auf Basis dieser Prämisse die Notwendigkeit bestimmter Handlungsweisen gefordert wurde, enthält es neben der Realitätsbehauptung – etwas wird dargestellt – eine Warnung und einen Appell. Da es zu Handlungen in einem bestimmten Sinne motivieren will, hat es also auch eine argumentative Funktion. Die Wortverbindung Grenzen des Wachstums realisiert ein Argumentationsmuster, das im Diskurs zur „Ölkrise“ 1973/74 vielfach genutzt wurde, um „Krise“ im genannten Sinne als Faktum zu begründen, ihr bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben sowie einen Paradigmenwechsel zu rechtfertigen. Dieses Argumentationsmuster kann Topos der Zeitenwende genannt werden, dessen Schlussregel sich auf einem mittleren Abstraktionsniveau zwischen formalem Muster und diskursspezifischer Semantik wie folgt paraphrasieren lässt: Weil eine Ära zu Ende gegangen ist, weil wir uns an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter befinden, kann es nicht mehr so weitergehen wie bisher, sind Prozesse des radikalen Umdenkens und Umgestaltens notwendig. Der Topos der Zeitenwende behauptet also, eine Ära sei zu Ende gegangen und man befinde sich an der Schwelle zu einer neuen Epoche. Er geht von der Annahme aus, dass nichts mehr so ist, wie es vorher war. Die Folgerung aus dem Topos der Zeitenwende lautet, es könne nicht mehr so weitergehen wie bisher, Prozesse des Umdenkens seien notwendig, es müsse umgestaltet werden.
158 | David Römer
Auf inhaltlicher Ebene war die Wahrnehmung einer Zeitenwende im Diskurs zur „Ölkrise“ 1973/74 insbesondere durch die Annahme, die natürlichen Ressourcen seien (bald) erschöpft, geprägt. Diese Überzeugung wurde durch das Phrasem Grenzen des Wachstums aufgerufen und damit als Prämisse im Rahmen von Argumentationen nutzbar gemacht. Die phraseologische Realisierung des Topos hebt also auf das ab, wovon viele Menschen zu diesem historisch bestimmten Zeitpunkt ohnehin schon überzeugt waren, um beispielsweise plausibel zu machen, dass man sich an den Grenzen des Wachstums bzw. der Ressourcenendlichkeit orientieren und etwa vom Leitbild des exponentiellen Wachstums abrücken solle, um die Menschheit zu erhalten.
5 Schluss In diesem Beitrag wurde versucht, den diskursanalytischen Wert phraseologischer Wortverbindungen aufzuzeigen. Da sowohl die linguistische Diskursanalyse als auch die Phraseologie musterhafte sprachliche Einheiten betrachtet, liegt eine Verbindung dieser beiden Disziplinen zunächst einmal auf der Hand. Wie es unstrittig ist, dass Phraseme zur Konstitution von Texten beitragen, scheint es naheliegend, dass sie (bzw. bestimmte Verwendungsweisen von Phrasemen) auch zur Konstitution von Diskursen beitragen. Zwar erschaffen Phraseme nicht Diskurse, aber sie können Diskurse oder wichtige Aspekte von Diskursen evozieren, verbreiten, tradieren und festigen. Phraseme sind ein sprachliches Mittel, das Diskurse prägen kann. Insbesondere sind Phraseme diskursanalytisch interessant, weil sie sich aufgrund ihrer semantischen und pragmatischen Möglichkeiten strategisch nutzen lassen, um bestimmte Kommunikationsziele zu erreichen, wie etwa das Schaffen von Überzeugungen. In diesem Zusammenhang ist eine wichtige Funktion von Phrasemen in Diskursen die Argumentation. Phraseme können etwa eingesetzt werden, um Argumentationen zu stützen oder zu realisieren und Plausibilitätseffekte zu erzielen. Wie an dem Beispiel Grenzen des Wachstums gezeigt wurde, liegt die argumentative Funktion von Phrasemen jedoch insbesondere darin, dass sie an zeit- und gruppenspezifische kollektive Wissensbestände anknüpfen und diese argumentativ verfügbar machen. Versteht man unter Topoi kontextspezifische Argumentationsmuster, lassen sich diskurstypische Phraseme als Realisierungsformen der inhaltlich bestimmten Topoi auffassen. Dass eine gewisse Affinität zwischen Topoi und Phrasemen besteht, ist weder in der Phraseologie noch in der linguistischen Diskursforschung unbemerkt geblieben. Die Phraseologie betont die Relevanz fester Wortverbindungen meist in
Beispiel | 159
Bezug auf formale Topoi, die durch Phraseme sprachlich realisiert werden und beschränkt sich auf das Klassifizieren argumentativer Handlungen und Typologisieren argumentationsbezogener Funktionen; die linguistische Diskursforschung hat bislang keine systematischen Untersuchungen zum Phrasemgebrauch in Diskursen geleistet. In künftigen Forschungen wäre das hier vorgeschlagene Programm zur Analyse von Diskursphrasemen weiter zu schärfen und empirisch zu validieren, indem etwa auch nach dem Stellenwert und den argumentativen Leistungen von Phrasemen in Diskursen als thematische, zeitliche und soziale Formation des Wissens gefragt wird.
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160 | David Römer
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| Formelhafte Sprache in Textsorten
Nadine Rentel
Dicke Arme machen oder mit offenen Karten spielen Funktionen von Phrasemen in Online-Kundenbeschwerden Zusammenfassung: Durch den Wandel unserer Kommunikationsgewohnheiten, insbesondere durch das Nutzen sozialer Medien, erfolgt eine tiefgreifende Transformation sozialer und kommunikativer Praktiken. Dies wiederum führt in vielen Fällen zu einer Verlagerung von Diskursen, die früher dem privaten Bereich zuzuordnen waren, in den öffentlichen, virtuellen Raum. Bestimmte Parameter der computervermittelten Kommunikation ziehen dabei einen Enthemmungseffekt nach sich, der sich auf der sprachlichen Ebene manifestiert. Die Funktion von Kundenbeschwerden im virtuellen Raum besteht primär darin, Druck auf das betroffene Unternehmen auszuüben und es dazu zu bewegen, den kritisierten Sachverhalt abzustellen bzw. der Unzufriedenheit der Kunden mit einem Produkt oder einer Dienstleistung ein verbessertes Angebot entgegenzusetzen. Im Beitrag wird auf der Basis einer qualitativ orientierten Analyse von 50 deutschsprachigen Kundenbeschwerden aus dem Bereich des Mobilfunks untersucht, welche Funktionen phraseologische Einheiten im Rahmen der virtuellen Beschwerdekommunikation innehaben. Es ist davon auszugehen, dass durch die Bildhaftigkeit von Phrasemen nicht nur der kritisierte Sachverhalt verdeutlicht wird, sondern dass Sprecher die Möglichkeit haben, emotionale Entlastung zu erzielen. Auch ist davon auszugehen, dass andere Kunden sich durch die bildhaften Ausdrucksressourcen schneller von der Meinung der Textproduzenten überzeugen lassen.
1 Einleitung Der Einfluss der neuen Medien, insbesondere der sozialen Netzwerke, auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens führt zu einem Wandel unserer Kommunikationsgewohnheiten. Das Web 2.0 bietet seinen Nutzern1 neue technische und
|| 1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit werden im Beitrag ausschließlich die maskulinen Personenbezeichnungen verwendet, die sich jedoch gleichermaßen auf Personen weiblichen als auch männlichen Geschlechts beziehen.
DOI 10.1515/9783110602319-007
164 | Nadine Rentel
operative Möglichkeiten und „schafft die Bedingungen für neue digitale Taktiken, die auf eine radikale Demokratisierung des Wissens und die Pluralisierung von Stimmen, Perspektiven und Quellen zielen“ (Winter 2010: 37). In diesem Zusammenhang werden nicht nur die Funktionsweisen gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse, sondern ebenso Strukturen der Öffentlichkeit einem Wandel unterzogen. Schäfer (2014: 14) spricht in diesem Kontext von einer „Multiplikation der Öffentlichkeiten, in der jede Meinung eine Publikations-Nische im Internet findet.“ Als Konsequenz dieses Demokratisierungsprozesses werden nicht nur dominante Ansichten mit absolutem Geltungsanspruch verbreitet, auch marginalisierte, kritische und differente Sichtweisen finden Gehör. Von diesen tiefgreifenden Transformationsprozessen auf der Ebene sozialer bzw. kommunikativer Praktiken ist nicht nur der in der Forschung bereits recht gut beschriebene Bereich des politischen Diskurses, sondern zunehmend auch die Kommunikation mit Dienstleistern aus dem wirtschaftlichen Kontext betroffen. Für die externe Unternehmenskommunikation hat diese Entwicklung zur Folge, dass beispielsweise Beschwerdekommunikation, die sich früher auf den direkten Austausch zwischen Kunden und Unternehmen beschränkte, in den letzten Jahren verstärkt in den öffentlichen (und dabei in besonderem Maße in den virtuellen) Raum verlagert wird.2 Bestimmte Parameter der computervermittelten Kommunikation ziehen einen Enthemmungseffekt („disinhibition effect“; zum Terminus vgl. Suler 2004) nach sich, wenn die Kunden eines Unternehmens ihrer Unzufriedenheit mit den angebotenen Produkten und Dienstleistungen öffentlich Ausdruck verleihen. Dies wiederum kann, im Vergleich zu traditionellen Formen des Sich-Beschwerens im Geschäftslokal oder an einer Kundenhotline, zu sehr unhöflichen sprachlichen Äußerungen führen, da die Kunden nicht unmittelbar mit der Reaktion eines Unternehmensvertreters konfrontiert werden. Die Funktion solcher Kundenbeschwerden im virtuellen Raum besteht primär darin, Druck auf das Unternehmen auszuüben und es dazu zu bewegen, den kritisierten Sachverhalt abzustellen bzw. den Wünschen der Kunden nachzukommen. Darüber hinaus (und dies ist meiner Ansicht nach ein konstitutiver Unterschied zwischen Beschwerden im virtuellen und im analogen Raum) kann die Beschwerdekommunikation im öffentlichen Raum als Form des Protests bzw. als Entwurf einer alternativen Gegenöffentlichkeit bewertet werden, wenn der positiven Außendarstellung des Unternehmens entgegengesetzte Sichtweisen verbreitet werden.
|| 2 Vgl. in diesem Kontext die Studie zu Vorwurfsaktivitäten in der Alltagsinteraktion von Günthner (2000).
Funktionen von Phrasemen in Online-Kundenbeschwerden | 165
Im vorliegenden Beitrag wird auf der Basis einer qualitativ orientierten Analyse von 50 deutschsprachigen Kundenbeschwerden3 aus dem Bereich des Mobilfunks untersucht, welche Funktionen dem Gebrauch von Phrasemen4 im Rahmen der virtuellen Beschwerdekommunikation zuzuweisen sind. Aus dem Forschungsinteresse bzw. dem Gegenstandsbereich der Kundenbeschwerden ergibt sich eine Fokussierung auf negative bzw. kritische Kommentierungen, aus denen deutlich wird, dass die Kundenerwartungen und die tatsächlich erbrachten Unternehmensleistungen divergieren. Neutrale oder gar positive Kommentierungen der Unternehmensaktivitäten sind hingegen nicht Gegenstand der Analyse. Zu diesem Zweck werden die im Korpus nachzuweisenden Phraseme hinsichtlich ihrer spezifischen Funktion(en) für den gewählten Diskursbereich beschrieben. Dabei steht die Frage im Zentrum, welche kommunikativen Teilhandlungen die Textproduzenten mithilfe komplexer lexikalischer Einheiten realisieren. Es ist davon auszugehen, dass durch die Idiomatizität von Kollokationen bzw. Phrasemen nicht nur der kritisierte Sachverhalt verdeutlicht wird, sondern dass die Sprecher die Möglichkeit nutzen, emotionale Entlastung zu erzielen. Auch lässt sich vermuten, dass andere Kunden sich durch das erhöhte Persuasionspotenzial der bildhaften Ausdrucksressourcen schneller von der Meinung der Textproduzenten überzeugen lassen. Eingangs werden einige kurze Überlegungen zu den Funktionen der Kommunikation in sozialen Medien angestellt. Nach der Diskussion, ob und in welchem Maße sich die Partizipationsmöglichkeiten von Kunden erhöhen, wenn sie Missstände auf den Facebook-Seiten von Unternehmen benennen, steht die Ergebnispräsentation im Zentrum. Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung und einem Ausblick auf mögliche Anschlussforschungen.
|| 3 Wenngleich die Kommentare in deutscher Sprache verfasst sind, liegen aufgrund der Anonymität der Kommunikation keine Informationen bezüglich des muttersprachlichen Status der Sprecher vor. Auch wenn man davon ausgehen muss, dass der Gebrauch von Phrasemen ein sehr hohes sprachliches Kompetenzniveau erfordert, könnte es sich in Einzelfällen durchaus um fortgeschrittene Lerner des Deutschen handeln. 4 Der Begriff des Phrasems wird im Beitrag in einem weiteren Sinne verstanden und umfasst sowohl Kollokationen als auch Phraseme mit einem hohen Idiomatizitätsgrad.
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2 Funktionen der Kommunikation in sozialen Medien Neben der in der einschlägigen Literatur häufig diskutierten Frage, aus welchen Gründen Individuen überhaupt soziale Medien nutzen, sind im Kontext der aufgeworfenen Fragestellung die Motive der Nutzer, ihre Beschwerden online und nicht in der direkten Kommunikation mit dem Unternehmen vorzubringen, von Interesse. Neben dem Versuch, eine der positiven Selbstdarstellung eines Unternehmens diametral entgegengesetzte Gegenöffentlichkeit zu konstruieren, spielt das Streben nach einer möglichst positiven Selbstdarstellung der User eine Rolle. Marwick & Boyd (2010: 114) bezeichnen dieses im Kontext der Identitätskonstruktion in sozialen Medien zu verortende Phänomen als „personal branding“ oder als „self-commodification“. Anders als in der face-to-face-Kommunikation wird die soziale Identität der kommunizierenden Personen im virtuellen Raum im kommunikativen Austausch mit den Mitgliedern der discourse community entworfen und bestätigt: In other words, self-presentation is collaborative. Individuals work together to uphold preferred self-images of themselves and their conversation partners, through strategies like maintaining (or ‘saving’) face, collectively encouraging social norms, or negotiating power differentials and disagreements. (Marwick & Boyd 2010: 10)
Dieser Prozess des Identitätsmanagements unterliegt dabei einer ständigen und dynamischen diskursiven (Re-)Validierung und gegebenenfalls Modifizierung, da Identität nicht als gegeben angesehen werden kann, sondern erst durch das Anwenden kommunikativer Praktiken entsteht.5 Die mannigfaltigen Herausforderungen des Identitätsmanagements stehen nicht im Fokus des Beitrags; gleichwohl kann davon ausgegangen werden, dass eine positive Selbstdarstellung eines Users den Grad an Glaubwürdigkeit der geäußerten Unternehmenskritik erhöhen und auf diese Weise zur erfolgreichen Konstruktion einer Gegenöffentlichkeit beitragen kann. Zentral für die hier angestellten Überlegungen erscheint zudem der Aspekt aus dem Schlussteil der oben angeführten Definition („negotiating power differentials and disagreements“), da es im Rahmen der Beschwerdekommunikation in den sozialen Medien allgemein und speziell auf Facebook um das Aushandeln kommunikativer Machtverhältnisse geht. In den analysierten
|| 5 Zum Zusammenhang von face und Identität sowie zur Konstruktion und Verhandlung von Identität(en) im Rahmen der Interaktion zwischen Individuen vgl. Warm (2015: 288–290).
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Beschwerden auf der Facebook-Seite des Mobilfunkanbieters Vodafone werden negative Erfahrungen mit dem Unternehmen (undurchsichtige oder zu hohe Rechnungen, ungerechtfertigte Forderungen, eine schlechte Datenrate, etc.), die sonst auf der Ebene zwischen dem Kunden und dem Unternehmen verblieben wären, mit anderen Kunden geteilt. In den untersuchten Beschwerdekommentaren spielt somit neben der emotionalen Entlastung der Kunden das Erteilen von Ratschlägen im Rahmen handlungsorientierter Sprachhandlungen (z. B. durch das Warnen anderer Kunden) eine zentrale Rolle. Auf das untersuchte Korpus bezogen ist somit davon auszugehen, dass sich das Machtgefüge zwischen Kunden und Unternehmen im Fokus dieses Aushandlungsprozesses befindet, da die Sichtweise der Kunden den konzertierten Marketingaktivitäten der VodafoneGruppe entgegengesetzt wird. Die Mobilfunknutzer untereinander hingegen streben danach, sich ihre wechselseitige Solidarität als betroffene Kunden zu bestätigen und auf diese Weise den Zusammenhalt innerhalb der Gruppe zu verstärken. Im Kontext der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Kundenbeschwerden im öffentlichen Raum bzw. der Beschreibung sprachlicher Strategien, die den Entwurf alternativer Öffentlichkeiten als Ziel haben, ist es unabdingbar, sich mit der Rolle des Sharing in sozialen Medien zu befassen. Das Sharing bzw. genauer das erzählende Teilen betrachtet Tienken (2013: 19) als „eines der deutlichsten Charakteristika sprachlicher Aktivitäten im Internet, wie sie uns heute in der partizipatorischen Form des Web 2.0 begegnen.“ Nach Wee (2011) wird Sharing als das Teilen von Ressourcen aufgefasst, wobei die Darstellung einer Erfahrung im Mittelpunkt steht, die eine Person gemacht hat oder die zum Zeitpunkt des Erzählens noch andauert. Diese beiden Konstellationen erfüllen nach Wee (2011) unterschiedliche Funktionen für die am Kommunikationsprozess Beteiligten (vgl. Tienken 2013: 27): Während das Schildern einer bereits abgeschlossenen Erfahrung in erster Linie dem Adressaten nützlich sein kann, der in einer ähnlichen Situation von den Erfahrungen des Senders profitiert, liegt der Nutzen des erzählenden Teilens bei einer noch andauernden Erfahrung eher beim Sender, der sich nicht nur emotionale Entlastung verschafft, sondern von der virtuellen Gemeinschaft Ratschläge einholt.
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3 Partizipationsmöglichkeiten von Kunden auf Facebook-Seiten von Unternehmen Weltweit nutzen Firmen die Kommunikationsplattform als kostenloses Marketinginstrument, wobei die externe Unternehmenskommunikation auf Facebook neben Vorteilen auch einige Risiken aufweisen kann. Zentrales Element einer Facebook-Seite eines Unternehmens ist das Online-Diskussionsforum, das den direkten Kontakt zwischen den Akteuren ermöglicht und auf dem Kunden und Unternehmen Inhalte kommentieren können. Bei den Beiträgen im Forum handelt es sich in der Regel um Fragen, Ratschläge, allgemeine Kommentare und Beschwerden. Insbesondere „[d]em Empfehlungsverhalten der Kunden kommt durch Social Media und die Kommunikation im Internet eine wachsende Bedeutung zu: Der Empfängerkreis vergrößert sich durch die Onlinekommunikation um ein Vielfaches“ (Huck-Sandhu & Hassenstein 2015: 141). Zunächst einmal stellt Facebook für Unternehmen einen zusätzlichen Kommunikationskanal dar, der es ihnen erlaubt, mit Kunden in Kontakt zu treten sowie Werbebotschaften und Informationen zu Produkten und Dienstleistungen zu vermitteln. Kunden nutzen diesen direkten Kontakt zum Unternehmen und ziehen ihn in vielen Fällen einem Anruf oder einem Besuch in der Filiale vor, da die Kommunikation in sozialen Medien ihrem geänderten Nutzerverhalten hinsichtlich kommunikativer Praktiken entgegenkommt. Neben dem Potenzial, das die Plattform Facebook hinsichtlich marketingorientierter Kommunikationsprozesse bietet, darf jedoch nicht aus dem Auge verloren werden, dass Kritik unzufriedener Kunden am Unternehmen, die öffentlich auf Facebook geäußert wird, einen erheblichen Imageschaden (und damit verbunden wirtschaftliche Einbußen) verursachen und die Reputation eines Unternehmens nachhaltig schädigen kann. Bereits die traditionelle Mund-zu-Mund-Propaganda, die die Kaufentscheidungen von Konsumenten im nicht-virtuellen Raum entscheidend beeinflussen kann, ist neben konzertierten Marketingaktivitäten von Unternehmen eine nicht kalkulierbare Komponente. Umso mehr trifft dies auf die elektronische, im virtuellen Raum verankerte Form dieses kommunikativen Verhaltens zu, das so genannte Electronic Word-of-Mouth (eWOM) (vgl. Hennig-Thurau et al. 2014: 39). Die Autoren definieren seine Funktionen wie folgt: [A]ny positive or negative statement by potential, actual, or former customers about a product or company, which is made available to a multitude of people and institutions via the Internet. eWOM communication can take place in many ways (e.g., Web-based opinion platforms, discussion forums, boycott Web Sites, newsgroups). (Hennig-Thurau et al. 2004: 39)
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Durch erweiterte Möglichkeiten des Austauschs, der kommunikativen Teilhabe und einen erhöhten Grad an Transparenz von Kommunikationsprozessen hat sich die Situation der Kunden verändert: „Sie sind selbstbewusster, fordernder und im Kommunikationsprozess aktiver geworden“ (Huck-Sandhu & Hassenstein 2015: 135). Tradierte Handlungsmuster (dies betrifft auch den Umgang des Unternehmens mit Kundenbeschwerden) werden durch die Verlagerung in den öffentlichen Raum durchbrochen und stärken die Position der Kunden: Verbraucher verfügen damit über ein nicht zu unterschätzendes Instrument zur Beeinflussung und Steuerung des Verhaltens potenzieller Käufer und damit für den erfolgreichen Absatz von Produkten. […] Neu daran ist […] die Möglichkeit, diesem Bedürfnis nicht nur im engen Kommunikationsradius der privat-familiären […] Kommunikationssphäre, sondern mithilfe der durch das WWW geschaffenen medialen Voraussetzungen auch in einer massenöffentlichkeitswirksamen […] Weise nachzukommen. (Stein 2015: 61)
Was die Konstitution von (Gegen-)Öffentlichkeiten in den sozialen Medien betrifft, so stellt sich die Frage, ob es sich bei der verstärkten Teilhabe der Konsumenten um echte Partizipation handelt oder ob lediglich scheinbare Partizipation suggeriert wird, denn Unternehmen können die Kundenbeiträge filtern und auch löschen; auf diese Weise werden zum Beispiel Schimpfwörter und diskriminierende Sprache vermieden, aber auch unliebsame Inhalte gelöscht, die in einem neutralen Stil vorgebracht werden. Schäfer (2014: 1) spricht in diesem Zusammenhang daher von „instabilen Gegenöffentlichkeit(en)“: Sowohl auf der Ebene der Nutzerbedingungen als auch auf der des technischen Designs werden Anwenderaktivitäten weitgehend reguliert. Der sogenannte ‚User Generated Content‘ ist daher immer auch das Ergebnis eines hybriden Evaluationsprozesses und damit einer weitreichenden Kontrolle und Regulierung durch das jeweilige Unternehmen unterworfen. Das liegt zum einen am Interesse der Anbieter, um eine Werber-freundliche Plattform anzubieten, die in ihrer Konsens-Orientiertheit Konsumfreundlichkeit ausstrahlen soll. (Schäfer 2014: 4)
Rußmann et al. (2012: 11–12; Hervorhebung im Original) betonen ebenfalls, dass mit jedweder Öffnung auf medialer Ebene immer auch ein seitens der Betreiber von Kommunikationsplattformen kontrollierter Grad an Schließung einhergeht, der die echte Partizipation in eine scheinbare Teilhabe bzw. Mitgestaltung umwandelt: Vielfach wird daher Offenheit gerade auch anhand des Zugangs zu Produktion und Distribution gedacht, bzw. allgemeiner anhand der Möglichkeiten zu Partizipation bzw. Mitgestaltung. Hier zeigt sich wie angedeutet die Besonderheit zahlreicher Angebote des Web 2.0
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darin, dass Öffnung auf einer Metaebene mit Schließung einhergeht. Die jeweilige Plattform hat die uneingeschränkte Kontrolle darüber inne, in welcher Weise und zu welchen Bedingungen Partizipation möglich ist bzw. wie sie die von den Usern produzierten Daten verarbeitet und verwendet.
4 Ergebnisdiskussion: Funktionen von Phrasemen in Online-Kundenbeschwerden Bezüglich des Gebrauchs phraseologischer Einheiten in den negativen Kommentierungen der Unternehmensaktivitäten ist anzuführen, dass durch einen hohen Grad an Idiomatizität von Phrasemen komplexe Sachverhalte in komprimierter Form ausgedrückt werden können. Zudem kann aufgrund der Expressivität dieser komplexen sprachlichen Einheiten („Expressivitätssteigerung“; Fleischer 1997: 164) auf der Seite der Textproduzenten eine gewisse emotionale Entlastung erzielt werden, indem die Sprecher ihre Stellungnahme bezüglich eines Sachverhaltes deutlich kommunizieren. Der Gebrauch von Phrasemen lässt Rückschlüsse auf einen hohen Grad an emotionaler Involviertheit der Sprecher zu (vgl. Hümmer 2006: 38) und eignet sich für positive und negative emotionale Wertungen. Da Phraseme zudem das Potenzial haben, Argumentationen zu stützen und zu entfalten (vgl. Stöckl 2004: 191), ist davon auszugehen, dass sich andere Kunden durch diese Ausdrucksressourcen schneller von der Meinung der Textproduzenten überzeugen lassen, sodass sich das Persuasionspotenzial der Kommentare erhöht. Burger (2015: 77) bezeichnet die von Phrasemen realisierten Funktionen auch als „pragmatischen Mehrwert“. Phraseme sind demnach komplexe sprachliche Zeichen […], mit denen ein Sprecher/Schreiber referieren, prädizieren und/oder illokutive Handlungen durchführen oder modifizieren kann und gleichzeitig gegenüber den nicht-phraseologischen Entsprechungen ein Bündel weiterer evaluativer Handlungen, Einstellungen, Imagebezeugungen usw. ausdrücken kann. Phraseologismen sind also gewissermaßen pragmatisch „besonders geladen“ […]. (Kühn 1994: 420)
Im Beitrag wird keine weitere Differenzierung hinsichtlich des Idiomatizitätsgrads der verwendeten Phraseologismen vorgenommen, da diese aus Sicht der Autorin keinen Einfluss auf die funktionale Orientierung hat. Im Korpus treten somit Phraseme unterschiedlicher Komplexität und mit unterschiedlichen Idiomatizitätsgraden auf, die von Kollokationen über idiomatische Ausdrücke bis hin
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zu Sprichwörtern reichen. Aus den folgenden Beispielen6 wird die Rolle von Phrasemen als Mittel der Verstehens- und Akzeptanzförderung im Kontext des Kommentierens der Leistungen des Mobilfunkanbieters deutlich. Die methodische Herausforderung bei der Kategorisierung der Phraseme hinsichtlich der Realisierung kommunikativer Teilhandlungen besteht in der Tatsache, dass die Übergänge zwischen den Teilhandlungen fließend sind; dies betrifft insbesondere die Abgrenzung zwischen dem Ausdruck von Verärgerung/Enttäuschung und der negativen Bewertung der Unternehmensaktivitäten, da diese häufig als Grundlage für die übrigen Teilhandlungen ins Feld geführt werden (vgl. hierzu die Arbeit von Schröder 2015, der sich mit Online-Kundenbeschwerden im Mobilfunksektor, vergleichend zwischen dem Deutschen und dem Spanischen, beschäftigt, und an dessen Klassifikation nach kommunikativen Teilhandlungen sich die vorliegende Studie anlehnt). Die Zuordnung von Phrasemen zu kommunikativen Teilhandlungen ist somit diskutabel. In den Belegen (1) bis (4) dienen die verwendeten Phraseme in erster Linie der negativen Bewertung bzw. der Intensivierung der Kritik an der Unternehmensleistung. (1)
(2) (3) (4)
Die angebotenen Serviceleistungen sind, und ich entschuldige mich schon im voraus für die Wortwahl, unter aller Sau! Wir leben nun mal heutzutage im digitalen Zeitalter und da sollte es doch möglich sein die Homepage und die dazugehörigen Serviceleistungen „on top“ zu halten. So naja, wieder bei der Hotline angerufen, wegen dem hohem Rechnungsbetrag, wo die linke Hand nicht weiß was die rechte Hand macht. Kein Wunder, wenn das Vodafone Netz zu wünschen übrig lässt. Hier in Schleswig Holstein kann man froh sein seit mind. 2 Wochen das man einmal am tag mal für ne Stunde Empfang hat nur weil sie es nicht gebacken bekommen eine Störung zu beheben.
In Beispiel (1) hebt der User mittels des Gebrauchs des Phrasems unter aller Sau sein (‚sehr schlecht, miserabel sein‘; Duden 2002: 647) hervor, dass er mit den angebotenen Serviceleistungen des Mobilfunkanbieters in keiner Weise zufrieden ist. Neben dem Bedürfnis, die Akzeptanz seiner Position auf Seiten seiner Kommunikationspartner zu erhöhen und sich gleichzeitig emotionale Entlastung zu verschaffen, ist er sich seiner drastischen, umgangssprachlich geprägten Ausdrucksweise bewusst und bittet für die Wahl des Registers um Nachsicht; dies äußert sich in seinem metasprachlichen Kommentar („und ich entschuldige mich schon im voraus für die Wortwahl“), mittels dessen er sich vor Verwenden des || 6 Die Phraseme sind durch Kursivdruck hervorgehoben. Rechtschreib- und Grammatikfehler, die in den Diskussionsbeiträgen auftreten, wurden übernommen und nicht korrigiert.
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Phrasems für die auf Rezipientenseite möglicherweise als Normverstoß empfundene sprachliche Form seines Beitrags entschuldigt. Durch diese metasprachliche Kommentierung seiner Sprachproduktion soll sichergestellt werden, dass der soziale Zusammenhalt zwischen den Usern nicht gefährdet wird. In Beispiel (2) geht es dem User in erster Linie darum, herauszustellen, dass die Aktivitäten des Unternehmens unkoordiniert sind („wo die linke Hand nicht weiß was die rechte Hand macht“), worunter letztendlich die Kunden zu leiden haben, wenn ihren Bedürfnissen nicht unmittelbar nachgekommen wird und Probleme nicht zeitnah und verlässlich aufgeklärt werden. Auch in Beispiel (3) nimmt der User eine explizit negative Bewertung der Dienstleistung Vodafones vor, wenn die Netzleistung des Anbieters mithilfe des Phrasems etw. lässt zu wünschen übrig (‚nicht hinreichend, verbesserungsbedürftig sein‘; Duden 2002: 885) kommentiert wird. Die Diskussion bezüglich des Ausdrucks von Unzufriedenheit mit dem Serviceangebot Vodadones soll mit Beispiel (4) abgeschlossen werden; in diesem Beleg macht der User durch den Gebrauch des Phrasems etw. nicht gebacken kriegen (‚etwas nicht fertig/zustande bringen‘; Duden 2002: 87) deutlich, dass das Unternehmen aus seiner Sicht unfähig ist, Netzstörungen innerhalb eines akzeptablen Zeitrahmens zu beheben („nur weil sie es nicht gebacken bekommen eine Störung zu beheben“). Im Korpus treten zahlreiche weitere Belege auf, in denen Phraseologismen primär die Funktion erfüllen, auf Seiten der Textrezipienten für Akzeptanz hinsichtlich der negativen Bewertung der Unternehmensleistung seitens der Textproduzenten zu werben. Aus Platzgründen werden im Folgenden Beispiele diskutiert, in denen es den Usern in erster Linie darum geht, ihrer Enttäuschung und Verärgerung Luft zu machen. Auf die Schwierigkeit der Abgrenzung der kommunikativen Teilhandlungen wurde bereits weiter oben verwiesen. (5) (6)
(7) (8)
(9)
Ich habe bis jetzt noch keine Bestätigung bekommen rein garnichts... Das ist Vodafone...!!! Kann man nur den Kopf schütteln ehrlich... Wer ist noch unfähiger als Vodafone, bei denen ich 3 Jahre war? Na eure Tochterfirma Kabel Deutschland, die mich jetzt seit 3 Monaten auf einem 6tel meiner Internetgeschwindigkeit verweilen lässt, mir keinen Techniker schicken will mit Garantie das ich das nicht zahlen muss, und mich 3 Stunden später nach 5 Disconnects in Folge beim nächsten Anruf der Hotline einfach aus der Leitung wirft. Grösster Fehler meines Kunden-Lebens, überhaupt zu euch gegangen zu sein. ihr habt mächtig an Service verloren! ich habe die Nase voll, werde kündigen und bei der Telekom lieber etwas mehr ausgeben! Sascha, was regst du dich so auf? Ich hatte kaum Internet-Anschluß, weil ich über den Tisch gezogen wurde. Ich sorgte dafür, daß mein Vertrag gekündigt wurde. Ganz einfach. Kunden unter Druck setzen und dicke Arme machen.
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(10) Spielt doch mit offenen Karten und sagt (am besten auch in jeder Werbung!), dass ihr neue Aufträge nicht annehmen könnt bzw. inakzeptable Bearbeitungszeiten habt. (11) Euch kann man mittlerweile nur noch in der Pfeife rauchen....
In Beispiel (5) äußert der Kunde seine Enttäuschung hinsichtlich der mangelnden bzw. intransparenten Kommunikationspolitik des Unternehmens und macht deutlich, dass dieses Verhalten im Rahmen der Kundenkommunikation inakzeptabel sei, ihm diesbezüglich die Worte fehlen und auf dieser Ebene aus seiner Sicht vermutlich nicht mit einer Verbesserung zu rechnen ist („kann man nur den Kopf schütteln“). Mittels des Phrasems rein garnichts hebt er hervor, dass das Unternehmen den Kunden hinsichtlich des aktuellen (Beschwerde-)Vorgangs nicht auf dem Laufenden hält und damit den Anspruch an Kundenorientiertheit nicht erfüllt (rein gar nichts wissen/sagen/verstehen ‚überhaupt nichts wissen/sagen/ verstehen‘7). Die Verärgerung aufgrund der schlechten Kundenkommunikation des Unternehmens steht ebenfalls im Fokus von Beispiel (6) (jmdn. aus der Leitung werfen ‚die Verbindung unterbrechen, auflegen‘), wenn der User die Tatsache hervorhebt, dass sich Vodafone seiner Verantwortung nicht stelle und die Mitarbeiter des Kundenservice unangenehme Gespräche einfach beenden, ohne dass es zu einer Lösung des Problems gekommen ist. In Beispiel (7) fasst der Phraseologismus die Nase voll haben (‚jmds./einer Sache überdrüssig sein‘; Duden 2002: 538) die generelle Unzufriedenheit bzw. Verärgerung des Vodafone-Kunden zusammen. In diesem Beleg wird deutlich, auf welche Weise die kommunikativen Teilhandlungen in den Kundenbeschwerden ineinander übergehen können, da der User zunächst die Servicequalität bemängelt und damit die Unternehmensleistung negativ bewertet, bevor er seiner Enttäuschung über diesen Sachverhalt Ausdruck verleiht und dem Unternehmen handfeste Konsequenzen androht, nämlich die Vertragskündigung und einen Wechsel zur Konkurrenz („werde kündigen und bei der Telekom lieber etwas mehr ausgeben“). In Beleg (8) verstärkt der Gebrauch des Phrasems jmdn. über den Tisch ziehen (‚jmdn. übervorteilen‘) den Eindruck unlauteren Geschäftsgebarens des Mobilfunkanbieters mit betrügerischen Absichten. Auch in diesem Fall werden Konsequenzen thematisiert, die der enttäuschte Kunde bereits gezogen hat und die er einem anderen Mitglied der Diskursgemeinschaft, an das er seinen Diskussionsbeitrag explizit adressiert, als Ratschlag mit auf den Weg gibt („Ich sorgte dafür, dass mein Vertrag gekündigt wurde.“). Beleg (9) enthält einen Phraseologismus (dicke Arme machen), durch dessen Gebrauch die vorangehende Kritik am Unternehmen (Kunden unter Druck setzen)
|| 7 www.duden.de/rechtschreibung (01.08.2018).
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nochmals bildhaft verstärkt und spezifiziert wird. Der verärgerte Kunde unterstreicht die Tatsache, dass das Unternehmen, statt sich auf den Dialog mit seinen Kunden einzulassen, lieber zu Drohgebärden greife, um die Kunden einzuschüchtern und von weiteren Schritten abzuhalten. So fordert der User in Beispiel (10), die Kommunikationspolitik des Unternehmens grundlegend zu reformieren und transparenter zu gestalten („Spielt doch mit offenen Karten“). In diesem Kontext thematisiert er die Differenz zwischen gesteuerter, unternehmensexterner Kommunikation und digitalem Widerstand. Es wird deutlich, dass aufgrund der Möglichkeiten der Partizipation von Usern im Web 2.0 die positive Darstellung eines Unternehmens eben nicht mehr nur auf autorisierten Informationen des Unternehmens bzw. auf der Produktwerbung basiert („sagt am besten auch in jeder Werbung“), sondern verstärkt von öffentlichkeitswirksamen Kommunikationsformen auf Online-Plattformen abhängt (vgl. Stein 2015: 58). Der Einsatz sozialer Medien in der externen Unternehmenskommunikation ist somit im Spannungsfeld zwischen dem Streben nach einer zielgerichteten und geplanten Konstruktion eines positiven Selbstbilds seitens der Unternehmen und dem Risiko der Demontage dieses Identitätsentwurfs durch die emanzipierten Kunden zu verorten, wenn Kritik an den Leistungen des Unternehmens geübt wird: Gemeint ist damit, dass das ganz wesentlich durch Sprache konstituierte Fremdbild […] von einem Unternehmen, einem Produkt, einer Marke durch negative Aspekte, die diskursiv ausgehandelt werden, deutlich abgewertet wird. (Lasch 2015: 311)
Beleg (11) kann als resümierender Ausdruck höchster Verärgerung und Frustration angesehen werden, wenn der User sämtliche Leistungen mittels des Phrasems jmdn. in der Pfeife rauchen (jmd./etw. kann man in der Pfeife rauchen ‚jmd./ etw. taugt nichts/ist nichts wert‘8) abqualifiziert („Euch kann man mittlerweile nur noch in der Pfeife rauchen“). Gleich ein ganzes Netz an Phrasemen verwendet der Kunde in Beleg (12), um seine Verärgerung und Enttäuschung mit seinen Kommunikationspartnern zu teilen. (12) Hm. Gibt ja zwei Beiträge hier zum Thema. Aber da der andere schon so voll ist (*lol*), gebe ich hier mal mein „Senf“ dazu. Liebes Vodafone. An und für sich bin ich seit jeher einer der größten „Fans“ von VF und treuer Anhänger. Aber was hier mit den REDTarifen gemacht wird, ist für mich einfach nur „unschön“ (um es noch harmlos auszudrücken). […] 200 MB ist heutzutage eigentlich schon den Witz nicht mehr wert. Ohne
|| 8 www.duden.de/rechtschreibung (01.08.2018).
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irgendwas spezielles aufzurufen, downzuloaden etc. ist dies bei mir innerhalb 1 Woche verbraucht. Was für mich ebenfalls ein Unding ist, dass […]Wenn ich mir jetzt ein paar PrePaid-Tarife (!) ansehe […] und die Preise und Leistungen vergleiche, was man bei VF dafür erhält, dann kommt man sich doch wie in einem schlechten Film vor. Und man ist doch sehr sehr stark am überlegen, eben nicht auch stattdessen lieber ganz einfach auf PrePaid eines anderes Anbieters umzusteigen, statt hier mit Vertrag solch einem „Schindluder“ ausgesetzt zu sein und so viel Geld in den Sand setzt.
Der Diskussionsbeitrag beginnt mit der metasprachlichen Kommentierung seinen Senf dazugeben, womit der User deutlich macht, dass er zu einer laufenden Diskussion („Gibt ja zwei Beiträge hier zum Thema“) inhaltlich etwas beizutragen hat bzw. seine Erfahrungen und seine Perspektive in den Gesprächsablauf mit einbringen möchte. Im Folgenden wird deutliche Kritik an den angebotenen Tarifklassen geübt, die aus Sicht des Kunden den gegenwärtigen Kundenansprüchen nicht mehr genügen (den Witz nicht mehr wert sein; ein Unding sein ‚unsinnig, völlig unangebracht, unsinnig sein‘9). Die Verärgerung des Kunden, der stellvertretend für eine größere Gruppe von Unternehmenskunden das Wort ergreift, wird durch den Gebrauch des Phrasems sich vorkommen wie in einem schlechten Film verstärkt. Der Diskussionsbeitrag wird mit dem expliziten Ankündigen von Konsequenzen (den Wechsel zu einem anderen Anbieter betreffend) abgeschlossen, wobei das Phrasem etw. in den Sand setzen (‚mit etw. einen Misserfolg haben‘10) nochmals die Unzufriedenheit des Kunden mit der Leistung Vodafones für die verlangten Mobilfunkgebühren unterstreicht („so viel Geld in den Sand setzt“). Insbesondere dieses Beispiel, das sich durch den mehrfachen Gebrauch von Phraseologismen innerhalb eines Diskussionsbeitrags auszeichnet, macht deutlich, dass die Kundenkommentare Merkmale eines emotionalisierenden Stils aufweisen: Unter Emotionalisierung wird der Prozeß des Nachempfindens von Gefühlen verstanden, der bei der Lektüre in Gang gesetzt wird. Dem Rezipienten soll eine gefühlsmäßige Teilnahme am präsentierten Geschehen ermöglicht, in ihm sollen eigene Emotionen geweckt werden durch die in die Artikel eingebauten Emotionen. (Voss 1999: 20)
Auf einer weiteren Stufe der Eskalation gehen einige User dazu über, das Unternehmen zu beleidigen oder gar zu bedrohen. Um die verbale Aggression mög-
|| 9 www.duden.de/rechtschreibung (01.08.2018). 10 www.duden.de/rechtschreibung (01.08.2018).
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lichst plakativ zu gestalten und andere Kunden von der Legitimität ihres kommunikativen Verhaltens zu überzeugen, greifen die Textproduzenten in einigen Fällen auf Phraseme zurück. (13) Nach 10 Jahren vodafone werde ich euch bei der nächsten Gelegenheit verlassen! Vergleicht mal mit Österreich! Wieso sind dort alle Tarife so günstig? Und das wo da der Verdienst in nahezu allen Branchen höher ist als in Deutschland!? Da bekommt wohl jemand den Hals nicht voll genug! Beschämend! (14) Ihr seid einfach der letzte Dreck
Der in Beispiel (13) verwendete Phraseologismus den Hals nicht voll (genug) bekommen/kriegen (‚immer noch mehr wollen, in keiner Weise zufrieden sein‘; Duden 2002: 313) unterstellt dem Unternehmen grenzenlose Gier, die darin mündet, dass Vodafone im deutsch-österreichischen Vergleich hinsichtlich der Tarifgestaltung schlecht abschneidet und zu Zwecken der Gewinnmaximierung deutlich mehr Geld für vergleichsweise schlechte Datenraten von seinen Kunden einfordert. Besonders drastisch-abwertend ist die in Beispiel (14) mithilfe des Phrasems geäußerte Beleidigung ein Dreck/der letzte Dreck sein (‚zum Abschaum der Menschheit gehören‘; Duden 2002: 170). Abschließend soll noch ein Beleg angeführt werden, in dem ein Kunde auf ein Phrasem zurückgreift, um dem Unternehmen konkrete Konsequenzen anzukündigen. (15) Hallo, wo kann ich eine Beschwerde email hin schicken? Die tollen Kundenberater wollen nichts mit meinem Problem zu tun haben... Jetzt muss irgendjemand bei euch dran glauben…
Der Kunde ist offenbar so verärgert über die Tatsache, dass es keinen Kommunikationskanal gibt, auf dem sein Anliegen die Verantwortlichen im Unternehmen auch tatsächlich erreicht, dass er dem Mobilfunkanbieter androht, „jetzt muss irgendjemand bei euch dran glauben“ (dran glauben müssen ‘einer unangenehmen Entwicklung nicht entgehen können‘; Duden 2002: 284). Worin genau die unangenehme Konsequenz besteht, lässt der User offen, was auch durch den Gebrauch der Auslassungspunkte deutlich wird. Da es bei Vodafone keine für bestimmte Kundenbelange zuständigen Kundenberater zu geben scheint, soll sich der Ärger des Kunden auf den erstbesten Mitarbeiter entladen.
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5 Zusammenfassung und Ausblick Aus den angeführten Überlegungen wird deutlich, dass Beschwerdekommunikation im wirtschaftlichen Kontext, die sonst per E-Mail, Fax oder Telefon unmittelbar und exklusiv zwischen Kunde und Unternehmen abgelaufen wäre, in letzter Zeit immer häufiger öffentlich (insbesondere in den sozialen Medien) sichtbar wird und den Druck auf die Unternehmen erhöht. Im Rahmen der Analyse kritischer Kundenkommentare auf der Facebook-Seite des Mobilfunkanbieters Vodafone konnte gezeigt werden, dass das negative Kommentieren von Unternehmensaktivitäten im öffentlichen Raum als eine Form des Protests bzw. als Versuch des Entwurfs einer alternativen Gegenöffentlichkeit bewertet werden kann. Enttäuschte Kunden leisten Widerstand, indem sie durch das meinungsbildende und persuasive Potenzial ihrer kritischen Kommentare eine der positiven Selbstdarstellung eines Unternehmens diametral entgegengesetzte Gegenöffentlichkeit konstruieren und in den sozialen Netzwerken verbreiten. In diesem Kontext trägt die Selbstdarstellung der User als langjährige, geduldige Kunden dazu bei, die Glaubwürdigkeit der Kritik zu erhöhen. Die erweiterten Möglichkeiten der Partizipation seitens der Kunden auf Kommunikationsplattformen haben somit unmittelbare Konsequenzen für die Unternehmenskommunikation, die immer zielorientiert daraufhin ausgerichtet ist, ein spezifisches Fremdbild […] eines Unternehmens, einer Marke usw. zu evozieren und zu stabilisieren […]. Anders als unter den Bedingungen unidirektionaler Massenkommunikation steht sie im Web 2.0 vor der Herausforderung, dieses Ziel gemeinsam im Dialog mit einem Gegenüber erreichen zu müssen. (Lasch 2015: 300)
Der Gebrauch von Phrasemen ermöglicht es den Textproduzenten, mittels sprachlich eingängiger und bildhafter Formulierungen in komprimierter Form auf bestehende Missstände hinsichtlich der Produkte und Dienstleistungen des Unternehmens hinzuweisen und ihrem Ärger Luft zu machen. Der Gebrauch von Phraseologismen ist somit dem emotionalisierenden Stil zuzuordnen, da die Textproduzenten ihrer emotionalen Involviertheit Ausdruck verleihen können. Insbesondere Bewertungshandlungen können mittels Phrasemen effizient gestaltet werden. Zudem kann das Persuasionspotenzial der Kommentare erhöht werden, indem Phraseme dazu beitragen, ausgewählte Argumente zu stützen und die Akzeptanz der Aussagen auf der Seite der Kommunikationspartner zu verbessern. Die Ergebnisse der Studie machen deutlich, dass Phraseme für Diskurse in den sozialen Medien durchaus „textbildende Potenz“ (Sabban 2007: 242; Hervorhebungen im Original) haben können, wenn man davon ausgeht, dass
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Phraseme (als Exponenten bestimmter Phrasemtypen) und bestimmte Verwendungsweisen von Phrasemen […] für Texte konstitutiv in folgendem Sinne sein [können]: sie leisten einen entscheidenden Beitrag zu Texten oder Teiltexten in ihrer jeweiligen Beschaffenheit und den damit realisierten Funktionen.
Weiterhin ergibt sich aus der Ergebnisdiskussion die Relevanz, Phraseme über den Einzeltext hinausgehend zu betrachten, um ihre diskurslinguistische Dimension angemessen zu berücksichtigen (vgl. dazu die Forderungen in Stumpf & Kreuz 2016). Um diese „text- bzw. diskursbildende Potenz“ (vgl. Ehrhardt 2007: 262) von Phrasemen näher zu beschreiben und der Frage nachzugehen, „in welcher Weise Phraseme einzeltextübergreifend Text(sorten)ketten und Diskurse prägen (können)“ (Stein 2010: 410), sind weitere Einzelanalysen von Kundenbeschwerden im Bereich der Online-Kommunikation nötig. Abschließend sei auf die eingeschränkte Gültigkeit der Ergebnisse verwiesen, da es sich bei den untersuchten Beschwerdeeinträgen um Momentaufnahmen im Zustand höchster Verärgerung bzw. emotionaler Erregung handelt; die Interaktion mit dem Unternehmen, die in parallelen Kommunikationskanälen abläuft (z. B. telefonisch oder im Geschäftslokal), findet in der Studie keine Berücksichtigung. Ebenso wurde bei der Analyse einzelner Posts die interaktive Einbettung einzelner Beschwerden, wie Günthner (2000) sie aufzeigt, nicht näher betrachtet.
Literatur Duden Band 11. 2002. Redewendungen. Wörterbuch der deutschen Idiomatik. 2., neu bearbeitete und aktualisierte Auflage. Mannheim u. a.: Dudenverlag. Duden online: https://www.duden.de/rechtschreibung (05.01.2018). Burger, Harald. 2015. Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. 5., neu bearbeitete Auflage. Berlin: Erich Schmidt. Ehrhardt, Claus. 2007. Phraseme in der Jugendsprache. In Harald Burger, Dmitrij Dobrovol’skij, Peter Kühn & Neal R. Norrick (Hrsg.), Phraseologie. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 1. Halbband, 253–264. Berlin: de Gruyter. Fleischer, Wolfgang. 1997. Phraseologie der deutschen Gegenwartssprache. 2., durchgesehene und ergänzte Auflage. Tübingen: Niemeyer. Günthner, Susanne. 2000. Vorwurfsaktivitäten in der Alltagsinteraktion. Grammatische, prosodische, rhetorisch-stilistische und interaktive Verfahren bei der Konstitution kommunikativer Muster und Gattungen. Tübingen: Niemeyer. Hennig-Thurau, Thorsten, Dwayne D. Gremler, Kevin P. Gwinner & Gianfrano Walsh. 2004. Electronic Word-of-Mouth via Consumer-Opinion Platforms: What motivates consumers to articulate themselves on the Internet? Journal of Interactive Marketing 18 (1), 38–52.
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Monika Hanauska
„Polemisches Vergleichen von Äpfeln mit Tomaten“ Idiomatische Phraseologismen in argumentativen Kontexten am Beispiel der Löschdiskussionen auf Wikipedia Zusammenfassung: Der vorliegende Aufsatz untersucht anhand der kommunikativen Gattung der Löschdiskussionen auf der enzyklopädischen Plattform Wikipedia die Rolle idiomatischer Phraseologismen in argumentativen Strategien. Hierbei werden einige spezifische Eigenschaften idiomatischer Phraseologismen wie die Kodierung komplexer Inhalte, das expressive Potenzial, die semantische Vagheit und das illokutionäre Potenzial herausgegriffen und mit der Frage verbunden, wie diese Eigenschaften für argumentative Zwecke nutzbar gemacht werden können. Dabei wird gezeigt, dass idiomatische Phraseologismen gerade aufgrund dieser Eigenschaften gut für argumentative Kontexte funktionalisiert werden können, dass aber die tatsächliche Verwendung solcher Phraseologismen in den ausgewerteten Diskussionsbeiträgen eher zurückhaltend ist.
1 Einleitung und Hinführung Wenn unterschiedliche Standpunkte aufeinanderprallen, ziehen beide Seiten mitunter alle Register, um das Gegenüber von der eigenen Position zu überzeugen. In einer Debatte werden dafür verschiedene sprachliche Strategien genutzt: Die eigenen Argumente können auf-, die des Gegners abgewertet werden, es kann auf einer sachlichen Ebene argumentiert oder aber persönlich angegriffen werden. So beschreibt ein Teilnehmer in einer Diskussion um die Löschung des auf Wikipedia erschienenen Artikels „Kehrichtheizkraftwerk Hagenholz“ den Verlauf der Auseinandersetzung als „polemisches Vergleichen von Äpfeln mit Tomaten“1. Alltagsargumentationen können mannigfaltige Formen annehmen und entsprechen meist nicht den Mitteln der formalen Logik (vgl. Kienpointner 1992). Hieraus erklärt sich auch das schwierige Verhältnis zwischen der klassischen, philosophisch geprägten Argumentationstheorie und der linguistischen || 1 https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Löschkandidaten/4._Oktober_2015#Kehrichtheiz kraftwerk_Hagenholz_.28bleibt.29 (12.02.2018).
DOI 10.1515/9783110602319-008
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Gesprächsforschung, die sich trotz ähnlicher Forschungsinteressen erst in den letzten Jahren einander annäherten (vgl. Deppermann 2003; Kindt 2001). Neben anderen Gründen für die noch unzureichende Beschäftigung der Gesprächslinguistik mit dem Gegenstand der Argumentation, wie etwa die Implizitheit argumentativer Strukturen in Alltagsgesprächen oder ungenügende methodische Zugänge, führt Kindt (2001: 170) auch eine fehlende „phraseologische Fundierung“ an, „d. h. eine systematische Untersuchung der für die jeweiligen kommunikativen Aufgaben spezifischen formelhaften Wendungen, mit denen Kommunikationsteilnehmer die Durchführung einschlägiger Handlungen signalisieren“. Eine angemessene Analyse von argumentativen Zusammenhängen sei ohne hinreichendes Wissen über Funktion(en) und Bedeutung von formelhaften Wendungen nicht möglich, da etwa Bezüge, die solche Formeln zu rhetorischen Topoi aufweisen, nicht erfasst werden könnten (vgl. Kindt 2001: 170). Den Stellenwert, den Phraseologismen in der Alltagsargumentation einnehmen können, heben auch Wirrer (2007) und Bubenhofer (2008) hervor: Phraseologismen scheinen hierbei das Bindeglied zwischen der sprachlichen Oberflächen- und Tiefenstruktur von Argumentationen zu sein, da sie einerseits als Indikatoren für abstrakte Argumentationsfiguren fungieren (vgl. Bubenhofer 2008: 53), andererseits aber auch deren sprachliche Konkretisierung darstellen können (vgl. Wirrer 2007: 183). Während die Frage, wie Phraseologismen in monologischen argumentativen Kontexten – etwa in Zeitungskommentaren (vgl. Ramge 2007; Lenk 2014; Pfeiffer 2016), in politischen Reden (vgl. Elspaß 1998; Pérennec 1999) oder in Leserbriefen (vgl. Herbig & Sandig 1994; Bubenhofer 2008) – eingesetzt werden, bereits recht gut beleuchtet ist, fehlen noch eingehendere Untersuchungen zur Verwendung von Phraseologismen in dialogischen Formen der argumentativen Auseinandersetzung. Dieser Zugang ist für den vorliegenden Aufsatz entscheidend, da er anhand der kommunikativen Gattung der Löschdiskussionen auf der enzyklopädischen Plattform Wikipedia exemplarisch den Gebrauch idiomatischer Phraseologismen in argumentativen Kontexten und ihre Funktionsweisen aufzeigen möchte. Dabei soll das Augenmerk insbesondere auf spezifische Eigenschaften idiomatischer Phraseologismen gelegt werden, die den Ausgangspunkt für die Untersuchung ihrer jeweiligen Funktionalisierung bilden sollen.
1.1 Argumentieren in der Alltagskommunikation Argumentieren kann mit Kienpointner (1992: 15) als komplexer Sprechakt verstanden werden,
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bei dem ein oder mehrere Sätze (in der Regel deklarative Sätze, d. h. Aussage-Sätze) geäußert werden, um die Wahrheit bzw. Richtigkeit ein oder mehrerer Propositionen (= das Argument/die Argumente/Prämissen) zu behaupten, die die Wahrheit bzw. Richtigkeit einer oder mehrerer strittiger Propositionen (= die Konklusion/die Konklusionen) stützen oder widerlegen soll(en).
Argumentieren kann daher bereits in minimalistischer Form auftreten, wenn eine Behauptung durch eine Begründung gestützt wird: Morgen wird es wohl nichts mit unserem Ausflug, weil die Wettervorhersage für morgen Regen ankündigt. In dialogischer Form hingegen tritt Argumentieren häufig dann auf, wenn bezüglich der Richtigkeit bzw. Wahrheit einer Aussage Uneinigkeit herrscht. Diese wird in der Folge mit sprachlichen Mitteln ausgeräumt, indem die Kontrahenten2 ihre divergierenden Positionen vortragen und versuchen, zu einer von allen Teilnehmern akzeptierbaren Haltung zu gelangen (vgl. Spranz-Fogasy 2003: 32–33). Zu den Besonderheiten argumentativer Auseinandersetzungen in alltäglichen Kommunikationssituationen gehört, dass nicht allein die logische Plausibilität und Konklusivität3 der vorgebrachten Positionen über deren Erfolg entscheidet. Darüber hinaus sind zusätzliche Aspekte wie die Handlungszwecke, die in der Argumentation verfolgt werden, die hierarchische Beziehung der Gesprächspartner zueinander, die etwa auf Wissensasymmetrien oder institutionellen Bedingungen fußen kann, ihre Selbstinszenierung sowie ihr gegenseitiger Respekt voreinander in der Durchsetzung einer bestimmten Haltung bzw. eines Arguments zu berücksichtigen (vgl. Deppermann 2003: 22–23). Alltagsargumentationen dienen daher in der Regel keinem Selbstzweck, sind also weniger auf das rein intellektuelle Durchspielen konträrer Haltungen ausgerichtet. Vielmehr zielen sie darauf ab, eine bestimmte Position durchzusetzen und sind somit als Sonderform persuasiven Handelns zu verstehen (vgl. Herbig & Sandig 1994: 62). Dieses Ziel kann mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verfolgt werden. Daher sind in Alltagsargumentationen neben der Verwendung sachorientierter Argumente immer auch Formen des personenbezogenen Angriffs (Argumente ad hominem) zu beobachten, mit denen der Gegner auf der subjektiven Ebene abgewertet und dadurch auch die von ihm vorgebrachten – möglicherweise sachlich plausiblen Argumente – delegitimiert werden. Anders als in der Diskurstheorie Habermas’scher Prägung (vgl. Habermas 1995) steht am Ende
|| 2 Im Folgenden wird zugunsten der Leserlichkeit auf geschlechtergerechte Formulierungen verzichtet. Gemeint ist sowohl die weibliche, als auch die männliche Form. 3 Zum Aspekt der Konklusivität als wesentliches Merkmal des Argumentierens vgl. Klein (2001: 1311–1313).
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einer solchen Argumentation also nicht per se das als sachorientiert bestes Argument Bewertete, sondern nicht selten die Position, die von den durchsetzungsfähigsten Teilnehmern vertreten wurde. Bisweilen bleibt bei Argumentationen überdies der gemeinsame Konsens aus, sodass sich die divergenten Positionen auch weiterhin ohne Konsens gegenüberstehen und der Einwirkung einer dritten, gegenüber den Einzelpositionen neutralen Partei bedürfen, um eine Mediation herbeizuführen (vgl. Klein 2001: 1310–1311).
1.2 Idiomatische Phraseologismen Der Begriff der Idiomatizität wird in der Phraseologieforschung nicht ganz eindeutig verwendet. In einem weiteren Sinne können unter den Begriff Wendungen gefasst werden, deren „Komponenten eine durch die syntaktischen und semantischen Regularitäten nicht voll erklärbare Einheit bilden“ (Burger 2015: 14). Dementsprechend ist Idiomatizität als eine Form der strukturellen Festigkeit polylexikalischer Einheiten zu verstehen. In einem engeren Sinne wird der Begriff der Idiomatizität jedoch auf die semantischen Besonderheiten einer Teilgruppe der Phraseologismen bezogen, die sich insbesondere in der Diskrepanz zwischen einer literalen und figurativen Lesart einer Wendung manifestieren. Dadurch entsteht bei idiomatischen Phraseologismen eine „zweischichtige Semantik“, da einerseits die übertragene Bedeutung aufgerufen wird, aber andererseits auch die wörtliche Bedeutung der einzelnen Konstituenten bzw. der lexikalischen Struktur mitschwingen kann (vgl. Dobrovol’skij & Piirainen 2009: 12). So spielt das mentale Bild, das etwa in der idiomatischen Wendung Öl ins Feuer gießen ‚etwas absichtlich verschlimmern‘ aufgerufen wird, in die übertragene Bedeutung des Phraseologismus hinein. Für die vorliegende Untersuchung wird von einem engen Verständnis von Idiomatizität ausgegangen, dabei aber berücksichtigt, dass diese nicht nur auf die phraseologische Gruppe der Idiome (nicht-satzwertige Phraseologismen)4 zutrifft, sondern auch Sprichwörter (satzwertige Phraseologismen mit einer meist moralisch-didaktischen Aussage ohne bestimmte Kontextanbindung)5, feste Phrasen (satzwertige Phraseologismen, die durch konkrete sprachliche Mittel an
|| 4 Z. B. jmdm. einen Bären aufbinden ‚jmdm. etw. Unwahres so erzählen, dass er es glaubt‘ (Duden 11: 90). 5 Z. B. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm ‚jmd. ist in seinem negativen Verhalten seinen Eltern ähnlich‘ (Duden 11: 53).
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den Kontext angebunden sind)6, Paarformeln (nicht-satzwertige Phraseologismen i. d. R. bestehend aus zwei Wörtern der gleichen Wortart, die durch eine Konjunktion oder eine Präposition miteinander verbunden sind)7 oder Routineformeln (nicht-satzwertige Phraseologismen mit vornehmlich kommunikativer Funktion)8 umfasst. Der Fokus wurde insbesondere deshalb auf idiomatische Phraseologismen gelegt, weil durch sie zum einen häufig eine besondere Ausdrucksstärke bzw. Expressivität evoziert werden kann (vgl. Gréciano 2004: 163)9, zum anderen ein gewisses illokutives Potenzial in ihnen ruht, durch das sie für verschiedene Sprechakte nutzbar gemacht werden können (vgl. Dobrovol’skij 1997: 104–105). Darüber hinaus prädestiniert sie schließlich ihre durch Bildhaftigkeit hervorgerufene Verallgemeinerbarkeit dazu, komplexe bzw. abstrakte Inhalte sprachlich zu fassen und zu transportieren. Insofern bleibt zu klären, inwieweit diese Eigenschaften auch in argumentativen Kontexten nutzbar gemacht werden.
2 Aushandlung in der Wissenskommunikation: die Löschdiskussionen in der Wikipedia 2.1 Argumentative Verfahren als Formen von Aushandlungsprozessen Unter Wissenskommunikation wird im Kontext dieses Aufsatzes das Sprechen über Wissen verstanden. Es geht darum, wie sich Mitglieder einer Kommunikationsgemeinschaft über Bestände eines als enzyklopädisch angesehenen Wissens (im Sinne analytischer, objektivierbarer Erkenntnisse) austauschen, wie sie in Aushandlungsprozessen gemeinsam entscheiden, was als Wissen betrachtet werden kann und was nicht. In diesem Zusammenhang geht es in besonderem Maße auch um Positionierung, da keineswegs Konsens darüber herrscht, was überhaupt enzyklopädisch relevantes Wissen ist und welche Gegenstände hierzu gehören und welche nicht. Wissen ist daher im diskursanalytischen Sinne mit || 6 Z. B. Da wird der Hund in der Pfanne verrückt! ‚das ist ja nicht zu fassen‘ (Duden 11: 371). 7 Z. B. Auge um Auge ‚bei erlittenem Unrecht wird Gleiches mit Gleichem vergolten‘ (Duden 11: 74). 8 Z. B. was zur Hölle? als Ausdruck einer unangenehmen Überraschung bzw. des Erstaunens. 9 Kritisch hierzu Schmale (2010). Burger (2015: 77–78) spricht im Zusammenhang mit Expressivität vom konnotativen Mehrwehrt, mit dem Aspekte der Bildhaftigkeit, der rhetorischen Merkmale und der pragmatischen Verwendung von Phraseologismen gefasst werden.
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Spitzmüller & Warnke (2011: 41) zu verstehen als „ein sozial verhandeltes Gut der Vergesellschaftung, das Resultat von Vereinbarungen auf der Grundlage historischer, gegenseitiger Zusagen.“ Argumentieren als eines (von mehreren interaktiven) Verfahren der Aushandlung von Positionen spielt hierbei eine wesentliche Rolle. Dieses Verfahren wird angewendet, um divergierende Haltungen und Beurteilungsunterschiede der Teilnehmer eines solchen Aushandlungsprozesses auszugleichen (vgl. Kindt 1988: 103) und auf diese Weise zu einem Konsens zu gelangen (vgl. Kallmeyer 1981: 93).
2.2 Wissenskommunikation in deliberativen Kontexten: Wikipedia, ihre Nutzer und ihre Qualitätssicherung Die Online-Enzyklopädie Wikipedia zählt zu den prominentesten und am meisten genutzten Angeboten des sog. Web 2.010 (vgl. König 2013: 162). Sie zeichnet sich durch ihre generelle Offenheit sowohl für passive Rezipienten als auch für aktive Bearbeiter aus. Das Erfolgskonzept der Wikipedia beruht auf der WikiTechnologie als eine benutzerfreundliche Oberfläche, die es jedem Interessierten ermöglicht, auch ohne Programmierkenntnisse eigene Artikel beizusteuern und an der Weiterentwicklung bestehender Artikel mitzuwirken. Diese prinzipielle Schrankenlosigkeit ermöglicht es, ein Wissenskompendium zu erstellen, das weit über die Möglichkeiten eines redaktionell konzipierten und begleiteten Lexikons hinausgeht.11 Im Gegensatz zu solchen Enzyklopädien gibt es in der Wikipedia keine vorab festgelegten Einträge, die von durch die Redaktion ausgewählten Experten bearbeitet werden, sondern eine sukzessive Erweiterung des Artikelbestands nach den Interessen der Nutzer. Aufgrund dieser Bearbeitungsprinzipien ist Wikipedia immer wieder in die Kritik geraten, unseriös und wissenschaftlich nicht zitierbar zu sein, da zum einen eine fachliche Ausgewogenheit des Artikelrepertoires fehle und zum anderen die wissenschaftliche Validität nicht gewährleistet sei, da über die fachliche Expertise der Artikelautoren nichts bekannt sei (vgl. Pentzold 2016: 143–144).
|| 10 Als Web 2.0 wird das sog. „Mitmach-Web“ verstanden, das sich durch seine einfachen Benutzeroberflächen, seine Möglichkeiten zur Partizipation und seine Rekursivität kommunikativer Prozesse auszeichnet (vgl. Huber 2010: 16). 11 Kallas (2015: 49–50) spricht in diesem Zusammenhang von einer Veränderung der Enzyklopädie-Kultur im 21. Jahrhundert hin zu einer „(post)modernen und digitalen Open-Source-Kultur der Wissensaushandlung und -generierung“, für die auch die „individuelle […] Einschreibung und die Diskussion von Wissensinhalten“ konstitutiv sei.
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Trotz vorhandener Defizite greift eine solche Kritik zu kurz, da sich im Laufe der Zeit in der Wikipedia Instanzen der Qualitätskontrolle herausgebildet haben, die mit verschiedenen Mitteln versuchen, ein adäquates Niveau der Artikel sicherzustellen.12 Ein solches Instrument sind die sog. Löschdiskussionen.13 Hier wird in einem Forum, das allen Wikipedia-Nutzern zugänglich ist, über den Verbleib oder die Löschung einzelner Artikel diskutiert. Während sich an der Diskussion selbst alle Nutzer beteiligen können, obliegt die Entscheidung über die Löschung eines Artikels im Anschluss an die Diskussion einem mit speziellen Rechten ausgestatteten Administrator. Für den Verlauf der Diskussion sind i. d. R. sieben Tage vorgesehen, nach deren Ablauf der Administrator sich anhand der vorgebrachten Argumente für oder gegen die Löschung entscheidet. Um eine solche Löschdiskussion in Gang zu setzen, muss durch einen Nutzer ein Löschantrag für einen Artikel gestellt werden.14 Löschanträge können sowohl für Artikel gestellt werden, die bereits länger in der Wikipedia online zugänglich waren als auch für neu erstellte Artikel. Mithilfe der Löschdiskussionen wird darüber verhandelt, welche Inhalte enzyklopädische Relevanz haben und daher in ein Onlinelexikon aufgenommen werden sollten und welche Inhalte dieses Kriterium nicht erfüllen. Überdies werden durch Löschdiskussionen häufig auch qualitative Mängel einzelner Artikel, wie sprachlich-stilistische Defizite, mangelnde Neutralität der Darstellung oder plagiatorische Inhalte, aufgezeigt und durch eine Überarbeitung behoben. In Fällen, in denen eine Überarbeitung keinen Erfolg verspricht, können die Artikel auch gelöscht werden. Auf diese Weise versuchen die „Wikipedianer“ eine inhaltlich hohe Qualität der Enzyklopädie sicherzustellen. Für den vorliegenden Aufsatz sind die Löschdiskussionen insofern ein interessanter Untersuchungsgegenstand, als sie einen Sonderfall der dialogischen Argumentation darstellen: Es handelt sich hierbei nicht um gesprochensprachliche Dialoge, sondern vielmehr um „getippte Gespräche“ (Storrer 2001; Beißwenger 2002), die eine etwas andere Struktur aufweisen als mündliche Face-to-FaceGespräche. So fallen beispielsweise alle Formen der Gesprächsschrittbeanspruchung weg, da sich die Auseinandersetzung aus den Posts der Beiträger in der zeitlichen Reihenfolge, in der diese auf dem Server eingegangen sind, konstituiert. Gesprächsschrittunterbrechende Einwirkungen der anderen Teilnehmer
|| 12 Dabei ist auch der Maßstab dieses Qualitätsniveaus nicht a priori festgelegt, sondern ebenfalls Gegenstand beständiger Aushandlungsprozesse. 13 https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Löschkandidaten/Archiv (12.02.2018). 14 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Löschregeln (12.02.2018). Vgl. hierzu auch Hanauska (2018).
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spielen daher keine Rolle, sodass jeder Post die inhaltliche Ausführlichkeit aufweist, die sein Verfasser angestrebt hat. Da die Diskussionen zeitversetzt, nicht synchron und schriftlich geführt werden, legt das die Vermutung eines höheren Planungsaufwandes der einzelnen Beiträge nahe. D. h. den Teilnehmern steht – vom Prinzip her – ausreichend Zeit zur Verfügung, um ihre Beiträge aus argumentativer, stilistischer und grammatischer Perspektive so zu gestalten, dass sie ihr Ziel bestmöglich erreichen können. Überdies ist in den Diskussionen häufig eine hohe emotionale Beteiligung der Teilnehmer zu beobachten, da über die Frage nach dem Verbleib eines Artikels in der Online-Enzyklopädie auch eine Grundsatzfrage implizit mitverhandelt wird, nämlich wie sich Wikipedia konstituiert: als offener oder geschlossener Wissensspeicher. Insofern stellt sich vor dem Hintergrund der vorliegenden Untersuchung die Frage, wie weit sich dieses emotionale Engagement innerhalb der Diskussion auch in der Verwendung idiomatischer Phraseologismen niederschlägt und welche Funktionen diesen hierbei zukommen.
3 Idiomatische Phraseologismen in den Löschdiskussions-Beiträgen Für die vorliegende Untersuchung wurde ein Korpus von insgesamt 100 abgeschlossenen Löschdiskussionen ausgewertet, das 999 Diskussionsbeiträge enthält.15 Als methodisch schwierig erwies sich bei der Identifizierung der idiomatischen Phraseologismen die Frage nach der Phraseologizität „verdächtiger“ Wendungen, da nicht selten Belege vorlagen, die zwar subjektiv als feste, gebräuchliche Wendungen bewertet wurden, jedoch (noch) keinen Eingang in kodifizierte Nachschlagewerke gefunden haben. So sind Belege wie etw. kennt fast jedes Kind16 oder etw. verlangt Augenmaß17 nicht in einschlägigen Wörterbüchern wie Duden 11 verzeichnet, scheinen aber dennoch, wie eine kurze Cosmas-Abfrage
|| 15 Um eine möglichst repräsentative Auswahl an Löschdiskussionen zu erzielen, wurden willkürlich fünf Tage aus dem Jahr 2015 gewählt (24.01., 10.02., 05.04., 27.09. und 04.10.) und die an diesen Tagen eingegangenen Löschanträge sowie die zugehörigen Diskussionen ausgewertet. Für das hier zugrundeliegende Korpus wurden die ersten 100 Löschdiskussionen aus diesen fünf Tagen herangezogen. Die Ergebnisse sind dem Anhang zu entnehmen. 16 https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:L%C3%B6schkandidaten/24._Januar_2015#Eisblume_(bleibt) (12.02.2018). 17 https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:L%C3%B6schkandidaten/4._Oktober_2015#Kurzfilme_von_Bernardo_Bertolucci_(erl.) (12.02.2018).
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zeigt, eine gewisse Gebräuchlichkeit und Festigkeit aufzuweisen.18 Aus methodischen Gründen wurden diese dennoch vorerst aus der Untersuchung ausgeschlossen. Mit Blick auf die Frage nach Formelhaftigkeit und damit auf eine weitere Konzeption von Phraseologie wäre es in einem zusätzlichen Arbeitsschritt durchaus möglich, die zunächst ausgesonderten Wendungen wieder einzubeziehen und ihren idiomatischen Charakter sowie die Funktionalisierung desselben genauer zu analysieren. Bei der Auswertung der idiomatischen Phraseologismen erwies es sich als auffällig, dass – entgegen der ursprünglichen Erwartung – nur eine zurückhaltende Verwendung von idiomatischen Phraseologismen festgestellt werden konnte. So konnten lediglich 64 Belege extrahiert werden,19 was auf einen sehr sparsamen Einsatz idiomatischer Phraseologismen hindeutet.20 Gründe für diese Zurückhaltung in der Verwendung idiomatischer Phraseologismen sollen im Verlauf der Ausführungen reflektiert werden. Die Frage, die den Ausführungen des vorliegenden Aufsatzes zugrunde liegt, ist, ob in der jeweiligen Idiomatizität der aufgefundenen Wendungen Elemente angelegt sind, die ihren Einsatz in argumentativen Kontexten begünstigen können. Möglicherweise lässt ich darüber auch der zurückhaltende Gebrauch dieser Wendungen erklären, die gezielt eingesetzt werden, um ihr argumentatives Potenzial in pointierter Weise zu entfalten. Ähnliches konnte Elspaß (1999: 117) am Beispiel der Bundestagsreden feststellen. Ausgehend von ausgewählten spezifischen Merkmalen idiomatischer Phraseologismen wird im Folgenden beispielhaft illustriert, wie idiomatische Phraseologismen in den gegebenen argumentativen Kontexten eingesetzt werden und welche funktionalen Aspekte dabei eine Rolle spielen. Damit wird kein typologischer Ansatz verfolgt, der das Funktionieren idiomatischer Phraseologismen in Alltagsargumentationen abschließend
|| 18 Die Abfrage zu etw. kennt (fast) jedes Kind mit dem Suchbefehl &kennen /+w3 jedes /+w2 Kind ergab zunächst 1295 Treffer, von denen sich nur wenige als nicht der Wendung zugehörig herausstellten. Deutlich geringer fällt hingegen die Frequenz von etw. verlangt Augenmaß, wonach mit den Suchanfragen &verlangen /+w2 Augenmaß und Augenmaß /+w2 &verlangen gesucht wurde. Hier konnten insgesamt nur 68 Treffer erzielt werden, die aber allesamt der gesuchten Wendung entsprachen. 19 Rund 60 weitere Belege entfallen auf die Wendungen, deren Phraseologizität nicht ganz außer Frage stand und die daher zunächst unberücksichtigt blieben. 20 Auch Elspaß (1999: 117) konnte Ähnliches in seinem Untersuchungskorpus beobachten und folgerte daraus, dass insbesondere der sparsame Einsatz idiomatischer Phraseologismen die expressiven und stilistischen Funktionen zur Geltung bringe. Diese Annahme ist gerade im Kontext monologisch konzipierter und stilistisch überformter Reden mit Sicherheit ein weiterer Grund für die zurückhaltende Verwendung idiomatischer Phraseologismen.
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klärt, sondern vielmehr ein explorativer Ansatz, der anhand von Beobachtungen am Korpus Überlegungen ausführt, die in weiteren Untersuchungen vertieft und systematisiert werden können. Aus diesem Grunde werden aus dem Korpus die Belege herausgegriffen, die sich gut für die Illustration der angeführten Beobachtungen eignen.
3.1 Kodierung komplexer Wissensinhalte Idiomatische Phraseologismen versprachlichen gegenüber Einzellexemen komplexere Wissens- und Handlungszusammenhänge in prägnanter Form. Dobrovol’skij (1997: 102) spricht hierbei vom Inhaltsplan von Idiomen und verweist auf die Tatsache, dass zu den semantischen und pragmatischen Besonderheiten idiomatischer Phraseologismen nicht nur die reine Bedeutungsparaphrase zählt, sondern auch Aspekte der Assertion, Präsupposition, der bildlichen Komponente und der pragmatischen Regeln und Restriktionen, die die konzeptuelle Struktur dieser speziellen Gruppe von Phraseologismen ausmachen (vgl. auch Dobrovol’skij & Piirainen 2009: 14). Nicht zuletzt aufgrund ihrer Bildhaftigkeit sind die so kodierten Inhalte nicht nur auf einen spezifischen Kontext anwendbar, sondern auf viele verschiedene. Diese komplexen kodierten Inhalte werden von den Rezipienten aus konkreten Textzusammenhängen entschlüsselt, wobei hier je nach Kontext unterschiedliche Dekodierungen stattfinden können. D. h.: Nicht alle in einem idiomatischen Phraseologismus angelegten semantischen und pragmatischen Elemente müssen in jedem Kontext zum Tragen kommen, was wiederum für die Einpassbarkeit idiomatischer Phraseologismen in verschiedene Kontexte spricht. Nutzbar gemacht werden kann dies etwa dann, wenn idiomatische Phraseologismen als Bestandteile von Argumenten, von Konklusionen oder von Schlussregeln21 verwendet (vgl. Pérennec 1999: 140; Wirrer 2007: 177) werden. Das wird etwa im nachfolgenden Beispiel deutlich, in dem ein Sprichwort als Schlussregel verwendet wird, um eine logische Verbindung zwischen einem Argument und einer daraus abzuleitenden Schlussfolgerung herzustellen (vgl. Toulmin 1958/ 1996: 89). Es geht hierbei um die Frage, ob der nicht ausreichend mit Quellen versehene Artikel „Kanzlerakte“, der in der Diskussion auch als Verschwörungstheorie bewertet wird, in der Online-Enzyklopädie verbleiben soll.
|| 21 Die Begrifflichkeiten werden hier im Anschluss an die von Toulmin (1958/1996) geprägten Termini verwendet. Der bei Toulmin verwendete Begriff der data/Daten wird hier jedoch der Verständlichkeit halber durch den Begriff Argumente ersetzt.
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Der Beiträger Gert Lauken argumentiert dabei folgendermaßen: Der Zweck heiligt nicht die Mittel:22 Wenn sich eine urban legend nicht in reputabler Literatur wiederfindet, kann Wikipedia die Aufgabe, fundierte Informationen zur Verfügung zu stellen, nicht leisten. (Gert Lauken 15:16, 10. Feb. 2015)23
Wie häufig in der Alltagsargumentation sind hier nicht alle Bestandteile einer klassischen Argumentation umgesetzt. So fehlt das Ausgangsargument, das folgendermaßen angenommen werden kann: Es wäre gut, einen Artikel zum Thema „Kanzlerakte“ zu haben. Dem folgt ein zweites, explizit formuliertes Argument: Es gibt keine adäquate wissenschaftliche Literatur zu diesem Thema. Die Schlussfolgerung, die aus diesem zweiten Argument gezogen wird, ist: Wikipedia kann keinen Artikel zu diesem Thema bereitstellen. Das durch Negation modifizierte Sprichwort der Zweck heiligt nicht die Mittel‚ auch für eine sinnvolle Sache darf man keine illegitimen Mittel ergreifen‘, mit dem die Argumentation eingeleitet wird, stellt die Verbindung zwischen dem nicht ausformulierten ersten Argument und der Schlussfolgerung her: Auch wenn es wünschenswert wäre, einen Artikel zur Kanzlerakte zu haben, kann dem nicht entsprochen werden, da es nicht hinreichend Literatur zu diesem Thema gibt und dieser Umstand es verbietet, einen Artikel in Wikipedia zu veröffentlichen. Aufgrund seiner Eigenschaft, überindividuell gültige Wissensinhalte in verknappter Form zu transportieren, eignet sich das verwendete Sprichwort gut, um hier den Konnex zwischen Argument und Konklusion herzustellen, ohne die Argumentationslinie umfangreich ausführen zu müssen, da den Rezipienten unterstellt werden kann, mit der argumentativen Schlagrichtung, die das Sprichwort einführt, vertraut zu sein. Etwas anders funktioniert die Argumentation im nachfolgenden Beispiel, in dem mithilfe des Phraseologismus das Kind mit dem Bad(e) ausschütten eine verknappte Konklusion eingeführt wird (vgl. Koller 1977: 140). Hierbei geht es um die Frage, ob der Artikel „Aircraft Classification Number“ aufgrund inhaltlicher Mängel gelöscht werden soll. Enzyklopädische Relevanz stellt der Artikel nicht dar. Hier wird weder PCN noch ACN erklärt, insofern auch nicht das Lemma. Der ACN-Wert entspricht dem des PCN-Wertes, lässt
|| 22 Alle Hervorhebungen in diesem und allen folgenden Belegen sind von M.H. 23 https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Löschkandidaten/10._Februar_2015#Kanzlerakte _(gelöscht) (12.02.2018)
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den unbedarften Leser dann doch etwas hilflos zurück. Beide Links z.Z. sind hier nicht hilfreich, da der Artikel sich selbst erklären sollte. (IP-Adresse 21:38, 4. Okt. 2015) Warum machst Du das nicht, wenn Du Dich damit auskennst? It's a wiki (Chief tin cloud 00:15, 5. Okt. 2015) Weil eine enzyklopädische Beschreibung der ACN inho wirklich nicht banal wäre. Grüße (IP-Adresse 00:32, 5. Okt. 2015) Nochmal die Frage: warum machst Du das nicht? Schon gar, wenn Du Dich damit auskennst? Einen Löschantrag stellen ist in diesem Zusammenhang einfach "das Kind mit dem Bad ausschütten"; und das kann's definitiv nicht sein! (ProloSozz 17:06, 8. Okt. 2015)24
Im Verlauf der Diskussion stellt sich heraus, dass der Antragsteller über die notwendige Kompetenz verfügt, um die inhaltlichen Mängel zu beseitigen. Dies weist er jedoch mit Berufung auf die Komplexität einer solchen Aufgabe zurück. Allerdings wird diese Zurückweisung vom nächsten Diskussionsbeiträger, ProloSozz, nicht akzeptiert. Er argumentiert, dass es unter der Maßgabe, dass der Antragsteller die nötigen Kenntnisse zur Verbesserung des Artikels habe, nicht gerechtfertigt sei, diesen zu löschen. Der Phraseologismus das Kind mit dem Bad(e) ausschütten bildet hier die Konklusion. Mit ihm wird insinuiert, dass die Löschung eines verbesserungsfähigen Artikels unter der gegebenen Voraussetzung, dass ein kompetenter Bearbeiter vorhanden ist, ein falsches, da überkonsequentes Handeln darstellen würde. Dieses falsche Handeln wiederum ist abzulehnen.25 Durch die Gleichsetzung der Artikellöschung mit dem Ausschütten des Kindes mit dem Bade wird das Argumentationsschema der Einordnung mittels Definition (vgl. Kienpointner 1992: 250–251) angewendet. Gleichzeitig wird aber durch den semantisch-konnotativen Gehalt des Phraseologismus auch der Topos der Konsequenz aufgerufen, demzufolge die Durchführung einer Handlung von den positiven bzw. negativen Konsequenzen abhängig gemacht wird (vgl. Kindt 1992: 195). Das Ausschütten eines Kindes mit dem Badewasser als dem Phraseo-
|| 24 https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Löschkandidaten/4._Oktober_2015#Aircraft_Classification_Number_.28LAZ.29 (12.02.2018). 25 Die Argumentation im Einzelnen sieht folgendermaßen aus: Argument: Der Antragssteller hat die nötigen Kenntnisse, den Artikel zu überarbeiten. Schlussfolgerung: Man handelt übereilt, wenn man trotz der Fähigkeit/Möglichkeit zur Überarbeitung den ganzen Artikel verwirft. Schlussregel: Wenn ein Artikel überarbeitet werden kann, soll man ihn nicht löschen.
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logismus zugrundeliegendes Bild wird als mit negativen Konsequenzen behaftetes Handeln verstanden. Mit dem reinen Wissen um die Bedeutung des Phraseologismus ist noch das Wissen um die negative Bewertung der kodierten Handlung verknüpft, woraus die Schlussfolgerung gezogen werden kann, dass ein solches Handeln zu vermeiden ist. Die hier verwendeten idiomatischen Phraseologismen rufen also bestimmte komplexe Wissensinhalte auf, die geeignet sind, Argumentationen zu verfolgen, ohne ausführlich auf alle formal notwendigen Bestandteile derselben eingehen zu müssen.
3.2 Expressivität idiomatischer Phraseologismen Wie oben bereits angedeutet, wird idiomatischen Phraseologismen häufig das Merkmal der Expressivität zugeschrieben, das als besondere Ausdruckskraft eines sprachlichen Zeichens verstanden werden kann (vgl. Drescher 1997: 68), wenngleich nicht ganz klar ist, ob diese Ausdruckskraft dem Zeichen tatsächlich inhärent ist oder erst im konkreten sprachlichen Kontext entsteht (vgl. Drescher 1997: 83). Es lässt sich jedoch fragen, ob durch die Verwendung eines idiomatischen Phraseologismus gegenüber einem nicht-idiomatischen Ausdruck eine Veränderung in der Wirkungsweise einer Äußerung eintritt, die als konnotativer Mehrwert des Phraseologismus aufgefasst werden kann. Dies soll am folgenden Beispiel aus den Löschdiskussionen geklärt werden, in dem es um die Frage geht, ob im Sinne einer Systematik zusätzlich zu dem bereits bestehenden Artikel „Führungsakademie der Bundesagentur für Arbeit“ auch für die übrigen Dienststellen ein eigener Artikel verfasst werden sollte. Der Beiträger Neomariania lehnt dies ab und begründet folgendermaßen:26 Löschberundung ist: „Nur eine Dienststelle“. Wenn wir für alle Dienststellen der Bundesanstalt einen Artikel schreiben, schreiben wir uns die Finger wund. Diese Dienststelle ist für sich genommen völlig bedeutungslos. (Neomariania, 14:29, 4. Okt. 2015)27
|| 26 Die Löschdiskussionsbeiträge werden in unveränderter Form wiedergegeben. Es finden keine Eingriffe in die orthographische, syntaktische oder inhaltliche Struktur statt. 27 https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Löschkandidaten/4._Oktober_2015#Führungsaka demie_der_Bundesagentur_für_Arbeit_.28LAE.29 (12.02.2018).
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Mit dem Phraseologismus sich die Finger wund schreiben verweist der Beiträger darauf, dass das Verfassen von Artikeln für alle Dienststellen einen enormen Arbeitsaufwand darstellen würde. Er reagiert damit auf die Zurückweisung seines zuvor gestellten Löschantrages und versucht zu verdeutlichen, warum es im Sinne eines systematischen Artikelerstellens nicht sinnvoll ist, einen singulären Eintrag zu einer Dienststelle der Bundesagentur zu haben und alle anderen Dienststellen zu vernachlässigen. Dass jedoch der Aufwand, im Umkehrschluss für alle Dienststellen eigene Artikel zu verfassen, über das gebotene Maß hinausgeht, versprachlicht er mit dem auf Übertreibung basierenden Idiom sich die Finger wund schreiben. Der konnotative Mehrwert dieses Idioms steckt im vorliegenden Beleg also darin, dass mithilfe des rhetorisch-stilistischen Mittels der Übertreibung die Zentralaussage ‚übermäßige Schreibarbeit haben‘ verstärkt wird. Ermöglicht wird dieser übertreibende Effekt durch die Transparenz des „idiomatischen Bildes“ (Burger 2015: 92) des Phraseologismus: So ist der Vorgang des Sichdie-Finger-Wundschreibens konkret vorstellbar und die damit verbundene metaphorische Übertragung zugleich nachvollziehbar.28 Neomariania nutzt dies, um die Wirkkraft seiner Argumentation zu erhöhen. Die Verwendung eines nicht-idiomatischen Ausdrucks könnte in diesem Fall den gewünschten Effekt nur durch eine periphrastische Konstruktion erreichen, der es an der Prägnanz, die der Phraseologismus aufweist, womöglich fehlen würde. Koller (1977: 70–71) spricht in diesem Zusammenhang von „semantisch-pragmatisch komplexen Redensarten“, bei denen die Bedeutungsdimension erst im konkreten Situationszusammenhang deutlich wird und die daher nicht ohne Weiteres durch Einzellexeme ersetzt werden können. Andersgeartet ist das zweite Beispiel aus derselben Löschdiskussion. Hier wird mithilfe eines idiomatischen Phraseologismus versucht, die Position eines Diskussionsbeiträgers herabzusetzen. Dieser argumentiert, dass der Artikel seine Existenzberechtigung daraus ziehe, dass die Führungsakademie der Bundesagentur für Arbeit den Hochschulen gleichgestellt sei. Da auch die Hochschulen mit Wikipedia-Einträgen vertreten seien, könne dieses Recht auch für den zur Diskussion gestellten Artikel gelten. Keine ausreichend nachvollziehbare bzw. zulässige Löschbegründung angegeben. Wir haben auch Artikel zur Führungsakademie der Bundeswehr und der Bundespolizeiakademie.
|| 28 Auf den Zusammenhang zwischen Expressivität und Bildlichkeit macht auch Drescher (1997: 83) aufmerksam.
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Nenne der Antragsteller doch bitte vslide Gründe, weshalb die Führungsakademien der bedeutensten deutschen Behörden nicht relevant sein sollen. Imho sind solche Einrichtungen den Hochschulen gleichgestellt und damit grundsätzlich relevant. […] (Label5 15:34, 4. Okt. 2015) „solche Einrichtungen den Hochschulen gleichgestellt“ - das war nun wirklich der Brüler des Tages. (Neomariania 15:55, 4. Okt. 2015)29
Der Beiträger Neomariania reagiert hierauf, indem er das vorangehende Argument ins Lächerliche zieht. Dies erreicht er durch die sarkastisch-ironische Verwendung des Phraseologismus das ist/war der Brüller des Tages, ‚ein besonders lustiger Scherz‘. Dabei sind mehrere Aspekte von Bedeutung: Zum einen nutzt er in diesem Phraseologismus einen nicht-standardsprachlichen Begriff Brüller30, der in einem unterneutralen Stil angesiedelt ist, zum anderen steigert er den Begriff durch die Hinzufügung des Genitivattributs des Tages. Zum dritten wird durch die Ironisierung der Wendung ihre Bedeutung ins Negative verkehrt, sodass suggeriert wird, dass es sich nicht um einen besonders lustigen Scherz handelt, sondern um eine ausgesprochen dumme Bemerkung. Auf diese Weise wird die Position des Diskussionsgegners als nicht ernst zu nehmen bewertet. Mit der Verwendung idiomatischer Phraseologismen kann jedoch auch das Ziel verfolgt werden, jenseits von argumentativen Strategien den Diskussionsgegner persönlich anzugreifen und auf diese Weise seine Haltung zu unterminieren (vgl. Pérennec 1999: 139). Hierbei werden insbesondere Phraseologismen aus den unterneutralen bzw. vulgären Stilebenen (vgl. Sandig 2007: 160) eingesetzt, mit denen die erwünschte Wirkung besser erzielt werden kann, da sie innerhalb des gegebenen Kontextes auffällig erscheinen. Dies zeigt sich im folgenden Beispiel, in dem mithilfe des Phraseologismus jmdm. etw. links und rechts um die Ohren hauen das Stellen eines Löschantrags als inakzeptable und daher als zu sanktionierende Handlung einer Person abqualifiziert wird: Was sollen solche saudoofen Löschanträge? Bitte dem Experten links und rechts um die Ohren hauen (Majo Senf 22:32, 27. Sep. 2015)31
|| 29 https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Löschkandidaten/4._Oktober_2015#Führungsaka demie_der_Bundesagentur_für_Arbeit_.28LAE.29 (12.02.2018). 30 Im digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache ist das Lexem als ‚umgangssprachlich‘ markiert. Vgl. https://www.dwds.de/wb/Brüller (12.02.2018). 31 https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Löschkandidaten/27._September_2015#Informa tik_12_Themen_.28BNR.29 (12.02.2018).
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Hier wird eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Löschantrag des Nutzers MWExpert gar nicht mehr in Betracht gezogen, sondern bereits der Akt der Antragsstellung als illegitim und als Affront gewertet. Dass nicht nur der Diskussionsteilnehmer Majo Senf diese Haltung einnimmt, sondern auch erwartet, dass ihm die anderen Teilnehmer darin folgen, wird durch seine metaphorische Aufforderung, dem Antragssteller den Antrag um die Ohren zu hauen, deutlich. Auf diesem Weg, verstärkt durch die Bewertung des Löschantrags als „saudoof“, wird der Nutzer MWExpert selbst abgewertet, womit das Ziel verfolgt wird, auch seine nachfolgenden Beiträge als nicht diskussionswürdig zu bewerten. Die Beispiele zeigen unterschiedliche Arten, wie das Merkmal der Expressivität idiomatischer Phraseologismen in argumentativen Kontexten nutzbar gemacht wird, um die eigene Position deutlich zu machen bzw. die des Gegners zu diskreditieren. Der konnotative Mehrwert dieser Phraseologismen entfaltet sich in unterschiedlicher Weise aus den jeweiligen Verwendungsmodalitäten.
3.3 Semantische Vagheit idiomatischer Phraseologismen Eng mit dem Merkmal der kontextübergreifenden Einsetzbarkeit idiomatischer Phraseologismen verbunden ist ihre semantische Vagheit, die vor allem in Kontexten, in denen keine referentiellen Bezugspunkte für die Phraseologismen auftreten, deutlich wird (vgl. Burger 2015: 76). Es bleibt damit unklar, worauf sich ein idiomatischer Phraseologismus genau bezieht. Ein Grund für diese semantische Unschärfe liegt darin, dass in idiomatischen Phraseologismen „unterschiedliche Situationen auf einen Nenner“ (Koller 1977: 140) gebracht werden, wobei inhaltliche Präzisierung hinderlich wäre. Dies kann in argumentativen Kontexten durchaus von Vorteil sein, wenn aufgrund des konnotativen Mehrwerts der Phraseologismen ihre pragmatische Funktion deutlicher im Vordergrund stehen soll als der propositionale Gehalt. Auf diese Weise kann mithilfe eines Phraseologismus eine stärkere Wirkung erzeugt werden, ohne eine konkret taxierbare Aussage zu treffen. Es zeigt sich also, dass die semantische Vagheit nicht zwangsläufig als Defizit idiomatischer Phraseologismen gesehen wird, sondern im Gegenteil auch gezielt genutzt werden kann, um Aussagen zu verschleiern oder sich nicht auf etwas Konkretes festlegen zu müssen. So räumt der Benutzer $traight-$hoota in Form eines strategischen Zugeständnisses bezüglich des Artikels „Spurerkennungssystem“ ein, dass dieser durchaus verbesserungsfähig sei, macht aber gleichzeitig deutlich, dass er die enzyklopädische Relevanz des Gegenstandes deutlich erkennt, woraus seine Positionierung für die Beibehaltung des Artikels abzuleiten ist.
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[…] Wir können uns wohl einig sein, dass der Artikel qualitativ viel Platz nach oben hat. Aber Relevanz steht m.E. außer Frage. ($traight-$hoota 11:23, 10. Feb. 2015)32
Über das Idiom viel Platz nach oben haben wird die Optimierbarkeit des Artikels angedeutet, allerdings nicht weiter konkretisiert. Damit macht $traight-$hoota gegenüber den Löschbefürwortern ein kleines – inhaltlich vages – Zugeständnis, ehe er sein schlagkräftiges Argument – das Vorhandensein enzyklopädischer Relevanz – ins Feld führt. Als defizitär erweist sich die semantische Vagheit in argumentativen Zusammenhängen, wenn sie als solche vom Diskussionsgegner identifiziert und problematisiert wird. Dies zeigt sich im folgenden Beispiel, in dem die Beiträgerin MZMartina, die gleichzeitig die Autorin des zur Löschung vorgeschlagenen Artikels „Urlaubspiraten“ ist, versucht, mit dem Phraseologismus die Nase vorn haben, ‚die beste Position in einem Wettstreit haben‘ die wirtschaftliche Relevanz der Online-Plattform „Urlaubspiraten“ zu illustrieren. So irrelevant können die Urlaubspiraten.de nicht sein, denn sie werden in verschiedenen Medien als Reiseexperten zitiert oder als Interviewpartner herangezogen. Auch das ZDF kennt diese Online-Plattform und hat sie interviewt. Vergleicht man die Suchanfragen der bekanntesten Online-Portale, wie Opodo, Expedia oder das zu Unister Holding gehörende weg.de mit Urlaubspiraten.de, dann haben Urlaubspiraten.de in den letzten Monaten die Nase vorn. Ich denke schon, dass das für ein Internetunternehmen ein Relevanzkriterium ist. […] (MZMartina 15:16, 6. Mai 2015) „Die Nase vorn“ haben ist schwammig. Die die Frage nach dem Marktanteil, den urlaubspiraten.de in der Branche hat, ist damit immer noch nicht beantwortet und das zeichnet bei einem Unternehmen doch in erster Linie die Relevanz. (Slökmann 16:08, 6. Mai 2015) Zum Thema Marktanteil hat meine Recherche auch nichts ergeben. Das liegt meiner Meinung nach an dem noch recht jungen Markt der Schnäppchen-Blogs. „Nase vor“ ist in der Tag ziemlich schwammig, aber ich habe mal bei Google Trends die besagten bekannten Reiseportale wie Opodo, weg.de und Ab-in-den-Urlaub mit Urlaubspiraten verglichen. Das Suchvolumen ist tatsächlich höher als bei den etablierten Marken. Hier die Quelle.33 Dann
|| 32 https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Löschkandidaten/10._Februar_2015#Spurerkennungssystem_.28erl._durch_redir_auf_bessere_reinkarnation_in_Fahrspurerkennung.29 (12.02.2018). 33 Externe Verlinkung im Text.
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finde ich den Link34 So ist es (siehe Kommentar von Slökmann) ganz interessant, denn dieser bezieht sich auf die Facebook-Fan-Zahlen von Online-Reiseportalen. Demnach sollen Ab-in-den-Urlaub (956.000 Likes) und TUI (331.000 Likes) zu den beliebtesten deutschen Portalen zählen. Ich möchte hier noch einmal erwähnen, dass Urlaubspiraten.de 3,5 Millionen Facebook-Fans hat. Die Seite ist für mich also relevant, da populär! (MZMartina 11:11, 8. Mai 2015)35
MZMartina weist mit dem Idiom auf eine Besserpositionierung der Plattform „Urlaubspiraten“ gegenüber Mitbewerbern hin und will damit gleichzeitig ihre positive Bewertung dieses Sachverhalts zum Ausdruck bringen.36 Demgegenüber fordert der Benutzer Slökmann jedoch eine Konkretisierung und weist auf die Unbestimmtheit des Idioms durch die metasprachliche Umschreibung „‘die Nase vorn’ haben ist schwammig“ hin. Damit ist es für ihn in der Diskussion um die in Zahlen ausdrückbare Marktposition eines Unternehmens untauglich und in seiner Vagheit entlarvt. Wiederum in Form eines strategischen Zugeständnisses erkennt MZMartina diese Problematik im nächsten Beitrag an („‘Nase vor[n]’ ist in der Ta[t] ziemlich schwammig“), um dann erneut, diesmal mit deutlicherem Bezug auf messbare Größen, ihre ursprüngliche These zu vertreten. Die metasprachliche Diskussion um den semantischen Gehalt des Idioms hat in diesem Fall zu einer Präzisierung der vorgebrachten Argumentation geführt.
3.4 Illokutives Potenzial idiomatischer Phraseologismen Dobrovol’skij (1997: 104) weist darauf hin, dass es idiomatische Phraseologismen gibt, denen ein illokutives Potential innewohnt. Damit ist gemeint, dass diese Wendungen meist nur in der Versprachlichung bestimmter illokutiver Akte wie z. B. MAHNUNG, DROHUNG, ZURÜCKWEISUNG o. ä. auftreten. So findet sich etwa das Idiom einen Besen fressen vor allem in Sprechakten des Schwörens: „Ich fresse einen Besen, wenn …“ (Dobrovol’skij 1997: 105). Insbesondere festen Phrasen, idiomatischen Sätzen und Routineformeln ist dieses illokutive Potential aufgrund ihrer kommunikativ-pragmatischen Funktionen inhärent und entfaltet sich in konkreten Äußerungszusammenhängen.
|| 34 Externe Verlinkung im Text. 35 https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Löschkandidaten/4._Mai_2015#Urlaubspiraten. de_.28bleibt.29 (12.02.2018). 36 Dobrovol’skij (1997: 238) weist darauf hin, dass die evaluative und emotive Perspektive eines Sprechers den referentiellen Bezug beeinflussen kann.
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Auch bei der Untersuchung der Phraseologismen in den Löschdiskussionen ist ein solcher Zusammenhang beobachtbar und kann im Rahmen des argumentativen Gesamtkontexts interpretiert werden. So wird im folgenden Beispiel mit jetzt mal halblang der Sprechakt EINSPRUCH ERHEBEN versprachlicht. Im größeren Kontext geht es um die Löschung des Artikels „Basisgemeinde Wulfshagenerhütten“. Ein nicht-angemeldeter Nutzer, der deshalb nur mit seiner IP-Adresse in der Diskussion erscheint, beurteilt den Artikel als „Provinzposse“ und fordert daher seine Löschung. Dem entgegnet der Nutzer Oberster Genosse mit der festen Phrase/Routineformel jetzt mal halblang, um auf diese Weise seinen Opponenten zu ermahnen, nicht vorschnell zu urteilen. Provinzposse. Löschen. (IP-Adresse, 23:52, 27. Sep. 2015) Jetzt mal halblang, liebe IP 87...! Nicht gleich als "Provinzposse" (ein ziemlich abfälliger Begriff) diskreditieren! […] (ObersterGenosse 23:32, 28. Sep. 2015)37
Innerhalb des argumentativen Zusammenhangs wird mithilfe dieser sprechaktmarkierenden Wendung einerseits Einspruch gegen die Bewertung des vorausgehenden Beiträgers erhoben, andererseits wird dadurch auch die Einführung einer Entgegnung angekündigt und so das argumentative Geschehen vorangetrieben. Mit dem Sprechakt ZURÜCKWEISUNG verbunden ist die feste Phrase das ist nicht der Punkt, mit der im vorliegenden Kontext das Argument, der Begriff Grexit im gleichnamigen Artikel sei allgemein gebräuchlich, als nicht zur eigentlichen Löschdiskussion zugehörig abgewiesen wird. Auf diese Weise versucht die Beiträgerin Anna mithilfe des Phraseologismus den Kurs der Diskussion zu korrigieren und in die von ihr gewünschten Bahnen zurückzuleiten. Der Begriff wird wohl in jedem halbwegs seriösen gedrucktem Medium verwendet, sei es im Spiegel, in der Wirtschaftswoche, bei Capital oder in der FAZ. Relevanz daher IMHO unzweifelhaft gegeben. Qualitätsmängel im Artikel sollte man über die Disku des Artikels beheben, nicht mittels LA. LAE daher IMHO völlig gerechtfertigt. […] (Schnabeltassentier 16:34, 24. Jan. 2015)38
|| 37 https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Löschkandidaten/27._September_2015#Basisgem einde_Wulfshagenerhütten_.28gelöscht.29 (12.02.2018). 38 Die in dem Beitrag verwendeten Abkürzungen sind wie folgt aufzulösen: IMHO = in myhumble opinion; Disku = Diskussionsseite eines Artikels; LA = Löschantrag; LAE = Löschantrag
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(BK) @Schnabeltassentier: Das war ja nicht der Punkt. Bis auf den Antragsteller bestreitet das ja niemand (soweit ich sehe), dass LAE gerechtfertigt ist. Die Frage ist: Ist LAE sinnvoll – oder haben wir den Kandidaten dann alle zwei Wochen hier wieder? (Anna 17:13, 24. Jan. 2015)39
Der Phraseologismus mit seinem illokutiven Potenzial eignet sich in besonderem Maße für die Steuerung von Diskussionen, indem als unpassend empfundene Argumente abgewertet werden und eine Neudefinition des Diskussionsgegenstandes vorgenommen werden kann.
4 Fazit Die kommunikative Gattung der Löschdiskussionen bietet ein ergiebiges Untersuchungsfeld, um argumentative Aushandlungsprozesse in der Alltagssprache zu analysieren, da es sich hierbei – anders als bei Pressetexten, die bereits sehr häufig Gegenstand von Argumentationsanalysen waren – nicht um Textprodukte stilistisch versierter, professioneller Autoren handelt, sondern um kurze Beiträge, in denen sich Diskussionsteilnehmer mit unterschiedlich ausgeprägter Erfahrung im Verfassen argumentativer Texte zu Wort melden. Idiomatische Phraseologismen spielen bei der Gestaltung der Beiträge durchaus eine Rolle und können auch in unterschiedlicher Weise für die argumentativen Absichten der Verfasser funktionalisiert werden. Aus diesem Grund wurde ausgehend von den spezifischen Eigenschaften idiomatischer Phraseologismen aufgezeigt, wie diese Funktionalisierung erfolgen kann. Natürlich konnte dies im Rahmen eines Aufsatzes nicht erschöpfend geschehen: So wurden nur einige Eigenschaften idiomatischer Phraseologismen wie die Kodierung komplexer Inhalte, ihr expressives Potenzial, ihre semantische Vagheit und ihr illokutionäres Potenzial herausgegriffen, um den methodischen Zugriff dieses Ansatzes zu verdeutlichen, während andere Eigenschaften unberücksichtigt blieben. Dabei wurde belegt, dass die semantischen und pragmatischen Besonderheiten, die diese Gruppe der Phraseologismen aufweist, die Vielfalt ihrer Einsatzmöglichkeiten bedingen. Aufgrund der Kodierung komplexer Wissensinhalte in sprachlich prägnanter
|| entfernen, das heißt, der Antrag auf Löschung wird zurückgenommen, da sich die Diskussionsteilnehmer darauf einigen konnten, dass der Löschantrag ungerechtfertigt war. 39 https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Löschkandidaten/24._Januar_2015#Grexit_.28LA Z. 29 (12.02.2018).
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Form eignen sich idiomatische Phraseologismen dazu, als eigenständige Bestandteile formaler Argumentationen zu fungieren und entweder als Argument, als Konklusion oder als explizierte Schlussregel aufzutreten. Darüber hinaus können sie auch kontextabhängig eine expressive Wirkung entfalten, die insbesondere zur Verdeutlichung oder aber Herabsetzung argumentativer Positionen genutzt werden kann. Das in vielen idiomatischen Phraseologismen ruhende illokutionäre Potenzial wiederum macht sich für die Versprachlichung von Sprechakten wie EINSPRUCH ERHEBEN oder ZURÜCKWEISUNG nutzbar, mit denen die inhaltliche Ausrichtung der Diskussion gesteuert werden kann. Die vorgestellten Beispiele wurden jeweils unter einem der oben genannten Aspekte beleuchtet, wobei das Vorhandensein der anderen Funktionen bewusst ausgeblendet wurde, um die Darstellung nicht zu verunklaren. Es muss daher betont werden, dass die in seinem Inhaltsplan angelegten semantisch-pragmatischen Merkmale es ermöglichen, dass ein Phraseologismus sowohl bestimmte inhaltliche Zusammenhänge sprachlich prägnant kodiert, als auch in einem gegebenen Kontext eingesetzt wird, um seinen illokutiven und/oder konnotativen Mehrwert zu entfalten. Auf diese Weise können Positionen im argumentativen Austausch markiert werden, sofern die Gegner nicht die semantische Vagheit der verwendeten Phraseologismen als problematisch thematisieren und eine Konkretisierung des sprachlichen Ausdrucks einklagen. Die Gefahr, dass idiomatische Phraseologismen als floskelhaft und inhaltsleer „entlarvt“ werden könnten, mag in argumentativen Zusammenhängen, in denen es ja gerade um die Profilierung der eigenen Position geht, auch als Nachteil empfunden werden. Dies könnte eine Erklärung sein, warum in den ausgewerteten Löschdiskussionen nur sehr zurückhaltend von idiomatischen Phraseologismen Gebrauch gemacht wurde: Ein übermäßiger Einsatz idiomatischer Phraseologismen könnte die Seriosität der eigenen Argumentation in Frage stellen, weswegen trotz der Möglichkeiten, die semantisch-pragmatischen Spezifika dieser Wendungen gezielt zu nutzen, eher auf andere sprachliche Mittel ausgewichen wird. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass von den verwendeten Phraseologismen nur eine sehr geringe Zahl in stilistischer Modifikation verwendet wurde, also auch auf eine Erhöhung der Auffälligkeit der verwendeten Phraseologismen meist verzichtet wurde (vgl. hierzu den Anhang). Dies könnte darauf hindeuten, dass sich die Verfasser der idiomatischen Phraseologismen zwar bedienen, um ihre argumentativen Ziele zu verfolgen, die „Floskelhaftigkeit“ dieser Wendungen aber so wenig wie möglich herausstellen wollen, um ihre inhaltlichen Ausführungen nicht zu delegitimieren. Damit ist in den Löschdiskussionen eine Form der Phraseolo-
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gismenverwendung zu beobachten, die sich von der in stärker stilistisch geformten Textsorten wie Pressetexten (vgl. Ptaschnyk 2009) oder Reden (vgl. Elspaß 1998) zu unterscheiden scheint.
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204 | Monika Hanauska
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Idiomatische Phraseologismen in argumentativen Kontexten | 205
Anhang Tab. 1: Idiomatische Phraseologismen in den ausgewerteten Löschdiskussionen40 Belegkontext
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Oh du liebe Zeit. Jemand, der [Ach] du liebe Zeit! (S. 871) selber von Griechenland-Bashing anfängt, der unangemessen revertiert und sich dann über Protest wundert und meint, alle anderen würden „Contra-Feeling“ sammeln. Wenn das nicht ein Musterbeispiel für Neutralität ist.
Anna; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 24._Januar_2015#Grexit_(LAZ)
Persönlich mag ich die auch nicht aber das spielt ja keine Rolle.
[k]eine Rolle spielen (S. 612)
Elmie; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Oktober_2015#Noch_fünf_ Minuten_Mutti_(bleibt)
Jetzt mal halblang, liebe IP 87...! Nicht gleich als „Provinzposse“ (ein ziemlich abfälliger Begriff) diskreditieren!
[nun/jetzt] mach [aber mal] halblang (S. 306)
ObersterGenosse; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 27._September_2015#Basisgemeinde_Wulfshagenerhütten_ (gelöscht)
Ist es denn Deiner Ansicht alle nas[e]lang (S. 530) nach unzutreffend, was Artregor sagt – dass ein LAE ohne Adminentscheid bedeutet, dass dieser LA hier alle naselang wieder auftauchen kann?
Anna; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 24._Januar_2015#Grexit_(LAZ)
Da frag ich mich jedesmal wa- Äpfel mit Birnen vergleichen rum es einen Löschantrag und (S. 53) lautes Jammern, Zähneklappern und polemisches Vergleichen von Äpfeln mit Tomaten (wenns denn wenigstens
Sarkana; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Oktober_2015#Kehrichtheiz kraftwerk_Hagenholz_(bleibt)
|| 40 Alle Belege und die Namen der Beitragenden werden unverändert in der Originalrechtschreibung wiedergegeben.
206 | Monika Hanauska
Belegkontext
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Äpfel mit Birnen vergleichen (S. 53)
Sarkana; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Oktober_2015#Kehrichtheiz kraftwerk_Hagenholz_(bleibt)
Die Liste wendet sich ja auch auf gleicher Wellenlänge an Leser von Wikipedia-Artisein/liegen; die gleiche Welkel, die sich weiter informie- lenlänge haben (S. 834) ren wollen. Wenn man aus Artikeln auf Unterseiten des Portals verlinkt, machen Leute von der Wellenlänge GUMPis Schwierigkeiten.
Ulamm; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 24._Januar_2015#Literatur_ zur_Geschichte_Bremens_ (bleibt)
Wir können uns wohl einig sein, dass der Artikel qualitativ viel Platz nach oben hat.
$traight-$hoota; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 10._Februar_2015#Spurerkennungssystem_(erl._durch_redir_auf_bessere_reinkarnation_in_Fahrspurerkennung)
Birnen wären ...) braucht um solche Details hervorzulocken, obwohl es schon über nen Monat in der QS stand. Äpfel und Birnen – nicht sehr zielführend.
da ist/es gibt noch Luft nach oben (S. 481)
das ist allerdings keine kosda liegt/sitzt der Haken (S. tenfreie Studie. Wenn Ihr am 304f.) selben Tag mit Eurer IP-Adresse draufgeht, dann könnt Ihr die einzelnen Daten nicht mehr sehen. Das ist leider der Haken.
MZMartina; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Mai_2015#Urlaubspiraten.de_(bleibt)
solche Einrichtungen den das ist zum Brüllen (S. 138) Hochschulen gleichgestellt“ – das war nun wirklich der Brüler des Tages.
Neomariania; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Oktober_2015#Führungsakademie_der_Bundesagentur_für_Arbeit_(LAE)
Einen Löschantrag stellen ist in diesem Zusammenhang einfach „das Kind mit dem Bad ausschütten“; und das kann’s definitiv nicht sein! --
ProloSozz; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Oktober_2015#Aircraft_Clas sification_Number_(LAZ)
das Kind mit dem Bade ausschütten (S. 403)
Idiomatische Phraseologismen in argumentativen Kontexten | 207
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Löschen, gänzlich belanglos. Und jetzt kommen wieder die Messies und wollen sogar diesen Mist behalten, weil sonst die Welt untergeht...
davon geht die Welt nicht unter (S. 835)
WB!; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Mai_2015#Urlaubspiraten.de_(bleibt)
(BK) @Schnabeltassentier: Das war ja nicht der Punkt. Bis auf den Antragsteller bestreitet das ja niemand (soweit ich sehe), dass LAE gerechtfertigt ist.
der springende Punkt sein (S. Anna; 582) https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 24._Januar_2015#Grexit_(LAZ)
Bestreitet auch keiner. Aber das ist ja nicht der Punkt.
der springende Punkt sein (S. Gert Lauken; 582) https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 10._Februar_2015#Kanzlerakte_(gelöscht)
Der Zweck heiligt nicht die der Zweck heiligt die Mittel (S. Mittel: Wenn sich eine urban 887) legend nicht in reputabler Literatur wiederfindet, kann Wikipedia die Aufgabe, fundierte Informationen zur Verfügung zu stellen, nicht leisten.
Gert Lauken; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 10._Februar_2015#Kanzlerakte_(gelöscht)
Vergleicht man die Suchandie Nase vorn haben (S. 527) fragen der bekanntesten Online-Portale, wie Opodo, Expedia oder das zu Unister Holding gehörende weg.de mit Urlaubspiraten.de, dann haben Urlaubspiraten.de in den letzten Monaten die Nase vorn.
MZMartina; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Mai_2015#Urlaubspiraten.de_(bleibt)
„Die Nase vorn“ haben ist die Nase vorn haben (S. 527) schwammig. Die die Frage nach dem Marktanteil, den urlaubspiraten.de in der Branche hat, ist damit immer noch nicht beantwortet und das zeichnet bei einem Unternehmen doch in erster Linie die Relevanz.
Slökmann; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Mai_2015#Urlaubspiraten.de_(bleibt)
208 | Monika Hanauska
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„Nase vor“ ist in der Tag die Nase vorn haben (S. 527) ziemlich schwammig, aber ich habe mal bei Google Trends die besagten bekannten Reiseportale wie [[7]], Opodo, weg.de und Ab-in-den-Urlaub mit Urlaubspiraten verglichen. Das Suchvolumen ist tatsächlich höher als bei den etablierten Marken.
MZMartina; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Mai_2015#Urlaubspiraten.de_(bleibt)
Werde nachher mal Meldundie Welt aus den Angeln hegen im Artikel nachreichen ben (S. 835) (von daher sogar Vielen Dank für den Löschantrag, so wird der Artikel mal aktualisiert). Vielleicht hat sich ja auch zwischenzeitlich etwas getan bei denen, auch wenn sie bisher noch nicht die politische Welt aus den Angeln gehoben haben, wie hier gerne mit Häme festgestellt wird (musste schmunzeln, Je suis Tiger!, ich gebe es zu)
WB!; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Oktober_2015#Partido_Pira ta_Português_(gelöscht)
Du wirst lachen, für Berufsschulstoff wurde ich schon deshalb angeschrieben.
du wirst/Sie werden lachen (S. 447)
Oliver S.Y.; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 27._September_2015#Informatik_12_Themen_(BNR)
Spätestens seit Spitzwegs eine brotlose Kunst (S. 443) „Der arme Poet“ gibt es einen sinnenhaften Ausdruck dafür, dass Kunst bedauerlich wenig zum Lebensunterhalt beiträgt. Der Volksmund fasst das unter der Wendung „brotlose Kunst“.
A.tucker; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 27._September_2015#Burkhard_Hedtmann_(gelöscht)
Das Problem ist nur, dass ge- eine Wissenschaft für sich schätzte 90% der Wiki-User sein (S. 849) nicht erahnen, dass saubere Kategorisierung eine Wissenschaft für sich ist, die Zeit und vor allem Augenmaß verlangt.
Koyaanis; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Oktober_2015#Kurzfilme_ von_Bernardo_Bertolucci_(erl.)
Idiomatische Phraseologismen in argumentativen Kontexten | 209
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Das wir hier nicht 7 Tage des einer Sache [neue] Nahrung Diskutieren wegens diskutie- geben (S. 525) ren wird Dir bekannt sein. Beim LA handelt es sich ohnehin um eine reine Provokation, welcher man kein Futter geben sollte. -So sehr es mich in den Fingern juckt den Antrag zu entfernen, aber die Relevanz ist im Artikel tatsächlich nicht dargestellt. –
Label5; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 24._Januar_2015#Grexit_(LAZ)
es juckt/kribbelt jmdm./jmdn. Label5; in den Fingern (S. 219) https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Oktober_2015#Angela_Bees ley_Starling_(erl.)
Ja ja...allgemeine Regeln wur- etw. als Freibrief [für etw.] anden schon häufiger als Freisehen/betrachten/auslebrief zur Artikel-Anarchie mis- gen/verstehen (S. 233) sinterpretiert... Das schließt nicht aus, dass es den einen oder anderen vergleichbaren Fall gibt/gab, aber so etwas kann man sich m. E. wirklich an den Fingern abzählen
Beitragende; Link
Koyaanis; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Oktober_2015#Kurzfilme_ von_Bernardo_Bertolucci_(erl.)
etw. an den [zehn/fünf] FinGlobal Fish; gern abzählen können (S. 217) https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Mai_2015#Bahnhof_Waßma nnsdorf_(bleibt)
Vieles, was dem Bereich der etw. an/bei den Haaren herAlltagskultur zuzuordnen ist, beiziehen (S. 299) ist nicht „wissenschaftlich belegt“. Abgesehen davon handelt es sich bei schlecht belegten Aussagen im Artikeltext um reine QS-Fragen. Dass diese Mängel eine Löschung des gesamten Artikels rechtfertigen sollen, ist an den Haaren herbeigezogen.
Chianti; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 24._Januar_2015#Eisblume_ (bleibt)
Er hat unzählige GmbHs gegründet und aus den unterschiedlichsten Gründen gegen die Wand gefahren.
etw. an/gegen/vor die Wand fahren (S. 817f.)
Pianist Berlin; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 27._September_2015#Dietmar_ Püschel_(SLA)
Dann muss aber auch die lange Liste seiner wirtschaftlichen Misserfolge auf den Tisch, und seine Verstrickung
etw. auf den Tisch [des Hauses] bringen/legen; auf den Tisch [des Hauses] kommen (S. 753)
Pianist Berlin; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/
210 | Monika Hanauska
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in den Korruptionsskandal bei der damaligen SFB Werbung Mitte der 90er Jahre Denn falls das so zutrifft, würde ich schon sagen: Lass uns das hier eine Woche lang aussitzen, und dann ist das ausgestanden. Das muss doch nicht andauernd wieder auf den Tisch. --
Beitragende; Link 27._September_2015#Dietmar_ Püschel_(SLA)
etw. auf den Tisch [des Hauses] bringen/legen; auf den Tisch [des Hauses] kommen (S. 753)
Anna; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 24._Januar_2015#Grexit_(LAZ)
Wobei natürlich jedem im etw. im Hinterkopf haben/beHinterkopf ist, dass die Rele- halten (S. 356) vanzkriterien für Vereine oder religiöse Gruppen sofortige und fraglose Relevanz beschreiben, also Einschlusskriterien
ChoG; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 27._September_2015#Basisgemeinde_Wulfshagenerhütten_ (gelöscht)
Hier fehlt jeder Beleg für die einfach so in den Raum gestellten Aussagen
IP-Adresse; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Oktober_2015#Equity_Residential_(LAE)
etw. in den Raum stellen (S. 595)
„Gruenderszene.de beruht zu etw. in die Tonne kloppen einem großen Teil auf Beiträ- können/etw. in die Tonne tregen und Kommentaren von ten (S. 758) Usern.“ Die vier Einzelnachweise samt Text können wohl in die Tonne, selbst verfasst macht sich nicht gut bei Löschdiskussionen (kann später vll. wieder rein).
Be..anyone; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Mai_2015#Urlaubspiraten.de_(bleibt)
Dieses Argument Nur weil EIN etw. ist faul im Staate DäneEINZIGES Kriterium erfüllt ist, mark (S. 205) bedeutet dies noch lange keine Relevanz. zeigt doch dass bei unserem Vorgehen, dass jeder LA stellen darf was faul ist, oder? --
K@rl; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 10._Februar_2015#Doppelhaus_Werderstraße_157_und_ Ludwig-Pfau-Straße_36_(Heilbronn)_(LAE)
Da frag ich mich jedesmal wa- Heulen und Zähneklappern rum es einen Löschantrag und (S. 348) lautes Jammern, Zähneklappern und polemisches Ver-
Sarkana; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/
Idiomatische Phraseologismen in argumentativen Kontexten | 211
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Beitragende; Link
gleichen von Äpfeln mit Tomaten (wenns denn wenigstens Birnen wären ...) braucht um solche Details hervorzulocken, obwohl es schon über nen Monat in der QS stand.
4._Oktober_2015#Kehrichtheizkraftwerk_Hagenholz_ (bleibt)
Willst du wirklich Burkhardt in derselben/in einer anderen Hedtmann in dieselbe Liga Liga spielen (S. 475) wie Nietzsche, Rowling, Plath oder Müller stellen?
Informationswiedergutmachung; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 27._September_2015#Burkhard_Hedtmann_(gelöscht)
Wir haben kein Interesse daran, Bertoluccis Kurzfilme in irgend einer Art unterzubuttern, aber sehen nicht die Notwendigkeit, hier eine Extrawurst zu spendieren, wo ohne Ausnahme Kurzfilmbereiche in den Regisseur-Biografien integriert sind.
Koyaanis; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Oktober_2015#Kurzfilme_ von_Bernardo_Bertolucci_(erl.)
jemandem eine Extrawurst braten (S. 197)
Ein Neuautor mit 8 Edits Jmdm./jmdn. in den Arsch treKANN das alles einfach nicht ten (S. 61) wissen, daher sollte man konstruktiv mit ihm zusammenarbeiten statt ihm für seine Mühe in den Hintern zu treten! -
Hartwin Wolf; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 27._September_2015#Informatik_12_Themen_(BNR)
In diesem Zustand aus den jmdm. am Herzen liegen (S. Gründen, dass der Artikel 345f.) qualitativ keinen Artikel rechtfertigt, löschen. @Maintrance: Baue ihn aus, wenn er dir am Herzen liegt.
Tkkrd; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Oktober_2015#Noch_fünf_ Minuten_Mutti_(bleibt)
Ich bin dagegen, hier irgendwelchen Senioren besonderes Entgegenkommen zu zeigen, aber „Schülern/Kindern/Jugendlichen“ sollte man die Tür nicht so vor den Latz knallen, sondern zumindest in der Artikel oder Benutzerdisk eine Begründung liefern, so
Eingangskontrolle; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ jmdm. die Tür vor der Nase 27._September_2015#Informazuschlagen/zuknallen (S. 771) tik_12_Themen_(BNR) jmdm. eins/eine/einen vor den Latz knallen (S. 456)
212 | Monika Hanauska
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Beitragende; Link
wie es vorgesehen ist, genau wie Dein Einspruch Sowas in der Art wollte ich jmdm. etw. aus dem Kreuz leiauch gerade schreiben – der ern (S. 437) Autor hat sich schließlich die Mühe gemacht, 10+kb aus den Fingern zu leiern und gemessen an seinen gerade mal 8 Edits dafür eine relativ gute Zusammenstellung abgeliefert (abgesehen davon, dass er nicht erwähnt hat, welchem Zweck diese dient).
Hartwin Wolf; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 27._September_2015#Informatik_12_Themen_(BNR)
Was sollen solche saudoofen Löschanträge? Bitte dem Experten links und rechts um die Ohren hauen -- -
Majo Senf; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 27._September_2015#Informatik_12_Themen_(BNR)
jmdm. etw. um die Ohren hauen/schlagen (S. 549)
Ich akzeptiere, dass tatsäch- jmdm. etw. vor Augen fühlich nur wenige Nutzer sich ren/halten/stellen (S. 75) der Bedeutung eines enzyklopädischen Kategoriensystems bewusst sind, aber wenn du dir die beispielsweise die Systematik einer Universitätsbibliothek oder einfach nur einer gemeinen Stadtbücherei vor Augen führst, musst du erkennen, dass sie für die Leser elementar wichtig ist, um im Notfall an jede Thematik heranzukommen.
Koyaanis; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Oktober_2015#Kurzfilme_ von_Bernardo_Bertolucci_(erl.)
echt erschreckend was hier jmdm. fehlen die Worte (S. abgeht, fehlen mir echt die 855) Worte, wer noch eines Beweis bedurfte das Messina hier von einer Meute gehetzt wird.....hier ist er—
Markoz; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 10._Februar_2015#Doppelhaus_Werderstraße_157_und_ Ludwig-Pfau-Straße_36_(Heilbronn)_(LAE)
Ich weigere mich, diesen vor jmdm./einer Sache im Weg[e] Pathos nur so triefenden Text stehen/sein (S. 828) den Mitarbeitern der QS zuzumuten. Wer es anders sieht,
Asturius; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Oktober_2015#Denkmal_
Idiomatische Phraseologismen in argumentativen Kontexten | 213
Belegkontext
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Beitragende; Link
dem stehe ich aber nicht im Weg.
des_Dankes_an_Frankreich_(bleibt)
Bitte offizielle Bekanntgabe jmdm./einer Sache im Weg[e] der Erzbischofswahl abwarstehen/sein (S. 828) ten, die ist morgen, 26.01.2015 um 12:00 h. Sollte er dann nicht gewählt worden sein, steht einer Löschung nichts im Wege.
Gripweed; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten// 24._Januar_2015#Thomas_Ben ner_(gelöscht)
Ich glaube aber dennoch, jmdn. auf die Menschheit losdass man Lehrpläne (und, ja, lassen (S. 503) ich meine auch Themen in Biologie in der 7. Klasse des Gymnasiums Baden-Württemberg!) enzyklopädisch geeignet bearbeiten kann. Sie werden schließlich alljährlich, ja gar täglich oder zweitäglich auf hunderttausende Schüler losgelassen und sollten daher relevantsein. Knappes behalten.
ObersterGenosse; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 27._September_2015#Informatik_12_Themen_(BNR)
Deinen Beruf hast du als Be- jmdn./etw. ins Spiel bringen gründung ins Spiel gebracht (S. 699) und genau wie ich feststellte, eine Redaktion maßt sich an, eigene Regeln über die allgemeinen Regeln setzen zu können. So zerfällt dieses Projekt allmählich
PG; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Oktober_2015#Kurzfilme_ von_Bernardo_Bertolucci_(erl.)
Nein, der Unsinn ist, allen jmdn. den Kram/Krempel/Lahier Anwesenden einen LA vor den vor die Füße werdie Füße zu werfen und die fen/schmeißen (S. 247) Mitlesenden damit dazu zu nötigen, sich die Begründungsgrundlagen selbst zusammenzupulen.
Hartwin Wolf; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 27._September_2015#Cedric_Leighton_(gelöscht)
Reißt mich nicht vom Hocker, jmdn. vom Hocker hauen/reiso als Mega-Trend und Wort- ßen (S. 359) schöpfung. Also: Ist das einen Artikel wert?
Tröte; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 24._Januar_2015#Lumbersexuell_(gelöscht)
214 | Monika Hanauska
Belegkontext
Nennform nach Duden 11
Beitragende; Link
Ich sehe immer wieder, dass keine Nerven haben/kennen sich das demokratische Sys- (S. 532) tem in der Wiki nicht durchhalten lässt. Wer hier bestehen will, muss sehr sehr viel Zeit haben, sehr robuste Nerven und reichlich Angriffslust. Das alles fehlt mir.
A.tucker; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 27._September_2015#Burkhard_Hedtmann_(gelöscht)
Ich hätte Deine völlig verfrühte 3M-Anfrage mit Fug und Recht auch gleich entfernen können.
Anna; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 24._Januar_2015#Grexit_(LAZ)
mit Fug und Recht (S. 241)
Ob wir das nun „BKS“ oder mit Kanonen nach/auf Spat„Liste“ nennen ist doch mal zen schießen (S. 389) wieder reine Korinthenkackerei und gehört allenfalls auf die zugehörige Diskussionsseite, die QS zu bemühen hieße hier schon mit Kanonen auf Spatzen zu schießen! Ein ganz klares Behalten!
axpedeHallo!; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Oktober_2015#Talbahn_ (erl._zurück_auf_Urversion)
Gute Leute in der Eingangskontrolle sind bislang noch nie vom Himmel gefallen.
Frank schubert; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 10._Februar_2015#Doppelhaus_Werderstraße_157_und_ Ludwig-Pfau-Straße_36_(Heilbronn)_(LAE)
nicht [einfach] vom Himmel fallen
es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen (S. 501)
Und dazu wird man heute schmutzige Wäsche [vor ankeine vernünftigen Online-Be- deren Leuten] waschen (S. lege finden, das war alles in 820) der Vor-Internet-Zeit. Von daher wird es kaum möglich sein, einen angemessenen Artikel zu schreiben, ohne auf „Original Research“ zurückzugreifen, also dann doch eher löschen und keine schmutzige Wäsche waschen
Pianist Berlin; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 27._September_2015#Dietmar_Püschel_(SLA)
Mein Autorenherz hängt nicht sein Herz an jmdn./etw. hänso extrem an diesem Artikel, gen (S. 344)
WB!; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/
Idiomatische Phraseologismen in argumentativen Kontexten | 215
Belegkontext
Nennform nach Duden 11
als dass ich hier eine umfassende Doktorarbeit abzuliefern gedenke
Beitragende; Link 4._Oktober_2015#Partido_Pirata_Português_(gelöscht)
Ein Bastelkurs mehr oder weniger holt diese Bildungsanstalt auch nicht aus dem Sumpf der lexikalischen Bedeutungslosigkeit heraus
sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf herausziehen (S. 732)
Offenbacherjung; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 24._Januar_2015#Leibniz-Gymnasium_Östringen_(bleibt)
Wenn wir für alle Dienststellen der Bundesanstalt einen Artikel schreiben, schreiben wir uns die Finger wund.
sich die Finger abschreiben/ wund schreiben (S. 216)
Neomariania; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Oktober_2015#Führungsakademie_der_Bundesagentur_für_Arbeit_(LAE)
Viel wichtiger ist es mir ob er sich zu Wort melden (S. 858) sich auch ansonsten wissenschaftlich und vielleicht sogar literarisch zu „Wort“ gemeldet hat.
Louis; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 24._Januar_2015#Thomas_ Puhl_(bleibt)
Übrigens irrst Du Dich, wenn Du überall „GriechenlandBashing“ und nichtneutrale Nutzer witterst.
Anna; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 24._Januar_2015#Grexit_(LAZ)
Unrat wittern (S. 781)
Ich werde das Thema dort zu unter aller Kanone (S. 389) Sprache bringen und finde das Vorgehen immer noch unter aller Kanone.
Koyaanis; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Oktober_2015#Kurzfilme_ von_Bernardo_Bertolucci_(erl.)
Eine Menge Namedropping viel Lärm um nichts (S. 453) mit prominenten „Kunden und Geschäftspartnern“, eine angebliche Tätigkeit als „Inhaber einer innovativen Lifestyle-Zeitschrift“, insgesamt viel Lärm um vermutlich nichts.
Scooter Backstage; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Mai_2015#Mladen_Kovace vic_(schnell_gelöscht)
Das mit der Redundanz strei- vor der eigenen Türe kehren/ test du hoffentlich nicht ab? fegen (S. 772) Ich weiß, es fällt verdammt schwer vor der eigenen Tür zu kehren.
Rolf-Dresden; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 4._Mai_2015#Bahnhof_Waßmannsdorf_(bleibt)
216 | Monika Hanauska
Belegkontext
Nennform nach Duden 11
(BK) zu Hartwin: Ich hab da zum Vorschein kommen (S. nachgesehen und dement809) sprechend den LA gestellt, da kamen aber auch nicht mehr Infos zum Vorschein
Beitragende; Link MWExpert; https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia:Löschkandidaten/ 27._September_2015#Informatik_12_Themen_(BNR)
Mikaela Petkova-Kessanlis
„Hier wäre es sinnvoller gewesen“ Formulierungsmuster für BEWERTEN in wissenschaftlichen Rezensionen Zusammenfassung: Gegenstand des Beitrags sind Formulierungsmuster, die in wissenschaftlichen Rezensionen zum Vollzug von Handlungen, die bewertenden Sprachhandlungstypen angehören, genutzt werden. Zu Beginn werden Formulierungsmuster als Kategorie näher charakterisiert und ihre Leistung im Hinblick auf die Textproduktion und die Beziehungsgestaltung herausgestellt. Anschließend wird auf die Vorgehensweise eingegangen, die zur Ausdifferenzierung verschiedener bewertender Formulierungsmuster führt (Abschnitt 2). In Abschnitt 3 wird auf den für die Textsorte wissenschaftliche Rezension konstitutiven Charakter des Sprachhandlungstyps BEWERTEN eingegangen und auf einige typische Handlungsrealisierungen in Textsortenexemplaren aufmerksam gemacht. Im vierten Abschnitt werden die korpusanalytisch ermittelten Formulierungsmuster aufgeführt, die in wissenschaftlichen Rezensionen zur Realisierung bewertender Intentionen Anwendung finden. In 4.1 finden sich Formulierungsmuster zum Ausdrücken von Bewertungen, in erster Linie Kollokationen. In 4.2 werden Formulierungsmuster präsentiert, die zum Vollzug von Handlungen vom Typ POSITIVBEWERTEN wie LOBEN, ANERKENNEN und RÜHMEN und von Handlungen vom Typ NEGATIVBEWERTEN wie KRITISIEREN, VORWERFEN und ZWEIFELN genutzt werden, und an Beispielen aus dem untersuchten Korpus illustriert. Zum Schluss werden auf der Basis der erzielten Untersuchungsergebnisse Schlussfolgerungen in Bezug auf die Art und Weise der Beziehungsgestaltung in wissenschaftlichen Rezensionen gezogen.
1 Einleitung Ein wesentlicher Aspekt beim Formulieren eines Textes nach den Vorgaben eines Textmusters ist das Wählen. Bezogen auf das Formulieren wissenschaftlicher Texte – und ihrer Zielsetzung entsprechend die Komplexität des Formulierungsprozesses stark vereinfachend – schreibt Sandig (1997: 25–26): Formulieren heißt Versprachlichen bzw. Bearbeiten durch Wählen, Auswählen von sprachlichen Ausdrücken beim Schreiben, um so komplexen Sinn herzustellen: Wählen von Worten einschließlich Termini, Kollokationen und Phraseologismen, Satzkonstruktionen und
DOI 10.1515/9783110602319-009
218 | Mikaela Petkova-Kessanlis
Wortstellungen im Satz, Satzsequenzierungen, Zitaten, aber auch numerischer und anderer Zeichen. Dieses Wählen an Ort und Stelle im Text dient dazu, die verschiedenen Zwänge und Intentionen der Schreibenden beim Textherstellen untereinander vermittelt zu realisieren.
Wenn Sandig hier von „Zwängen“ spricht, dann meint sie u. a. die Notwendigkeit, Texte an die Vorgaben des Kommunikationsbereichs und des Textmusters anzupassen. Zu diesen „Zwängen“ können auch konventionelle Formulierungsweisen gehören. Denn Formulieren „[spielt] sich […] immer vor dem Hintergrund bereits erfolgter Problemlösungsprozesse ab […]. Diese Prozesse haben zu Lösungen von Formulierungsproblemen geführt, die in der Kommunikation tradiert werden und so für die Kommunikation verfügbar sind“ (Pohl 2007: 132). Im Folgenden soll es genau darum gehen: um vorgegebene, vorformulierte, vorgeprägte Ausdrücke, die den Textproduzenten1 wissenschaftlicher Rezensionen zur Verfügung stehen, um verfestigte Ausdruckskombinationen, die sich als Lösungen für Formulierungsprobleme etabliert haben und auf die potenzielle Textproduzenten – bei Bedarf – zurückgreifen können. In Anlehnung an Heinemann & Viehweger (1991: 166) und Sandig (1997) bezeichne ich sie als Formulierungsmuster und verstehe darunter mit Kühtz (2007: 235) „wiederkehrende Kombinationen von sprachlichem Strukturmuster und lexikalischer Besetzung, die in spezifischen Kommunikationssituationen zur Vermittlung bestimmter Inhalte bzw. zum Vollzug bestimmter sprachlicher Handlungen genutzt werden“. Somit sind sie dem weiteren Bereich der Phraseologie (vgl. Burger 2015: 27) zuzurechnen.2 Sie lassen sich allerdings nicht problemlos einem der bekannten Phraseologismus-Typen zuordnen. So haben sie beispielsweise mit den Routineformeln gemeinsam, dass sie als Mittel zum Vollzug sprachlicher Handlungen verwendet werden. Sie unterscheiden sich aber von den Routineformeln durch zweierlei. Erstens weisen Formulierungsmuster einen niedrigeren Routinisierungsgrad auf als Routineformeln, und zweitens sind Formulierungsmuster im Unterschied zu einem Großteil der Routineformeln keine „de-semantisierte[n] Wortverbindungen“ (Burger 2015: 45). Formulierungsmuster können ebenso wenig der Klasse der Modellbildungen zugerechnet werden, obwohl sie oft lexikalisch frei besetzbare Komponenten enthalten. Sie sind aber nicht nach festen Strukturschemata gebildet, denen konstante semantische Interpretationen zuzuordnen sind – wie
|| 1 Im Folgenden wird das generische Maskulinum verwendet. Dabei sind männliche und weibliche Personen in gleicher Weise gemeint. 2 Dies gilt allerdings nur für die hier vorgestellten Muster. Denn beispielsweise Sandig (1997: 32–33) rechnet zu den Formulierungsmustern auch Einzellexeme, die einen fachsprachlichen Charakter aufweisen.
Formulierungsmuster für BEWERTEN in wissenschaftlichen Rezensionen | 219
dies bei den Modellbildungen der Fall ist (vgl. Burger 2015: 54). Darüber hinaus können Formulierungsmuster satzwertig sein, aber auch satzgliedwertig. Letzteres ist dann z. B. der Fall, wenn eine Kollokation als Satzglied in einer Äußerung fungiert. Um auf das Sandigsche Zitat zurückzukommen: Von „Zwängen“ kann bei den hier thematisierten Formulierungsmustern nicht die Rede sein. Die wissenschaftliche Rezension ist eine Textsorte, die einen großen Spielraum sowohl für individuelle als auch für originelle Varianz zur Realisierung des Textmusters (vgl. Petkova-Kessanlis 2009: 3–4) eröffnet.3 Das Wissen um diese Varianz ist vermutlich einer der Gründe dafür, warum Formulierungsmuster bislang in der Forschung unberücksichtigt geblieben sind. Umso interessanter ist es deswegen, dass sie sich (dennoch) herausgebildet haben. Folgende Gründe scheinen mir in diesem Zusammenhang relevant zu sein: Ein Grund ist sicherlich die kognitive Entlastung der Textproduzenten bei ihrer Formulierungsaktivität; Formulierungsmuster leisten somit auf der Ebene der Textherstellung einen wesentlichen Beitrag zur Textproduktion. Im Falle der hier zu behandelnden Formulierungsmuster ist der zweite Grund, der mir nicht weniger wichtig zu sein scheint, auf der Beziehungsebene zu finden. Denn bewertende Formulierungsmuster können – in ihrer Gesamtheit im Rahmen eines Textes – den kommunikativen Erfolg der wesentlichen Texthandlung (vgl. von Polenz 1988: 328), d. h. jener übergeordneten Gesamthandlung, die zur Realisierung der im Textmuster angelegten kommunikativen Funktion im Wesentlichen beiträgt, erheblich beeinflussen. Dieser kommunikative Erfolg ist generell in besonderem Maße im Falle von bewertenden Textmustern gefährdet. Vassileva (2010: 357) beschreibt die Herausforderungen, vor denen potenzielle Rezensenten stehen, folgendermaßen: [W]riting polemically, evaluatively, and critically for academia is not only difficult in terms of rhetoric but also requires a lot of interpersonal experience in the discourse community and comprehensive and profound knowledge of the field. These are accumulated during a scholar’s professional life, and I thus believe that review-writing skills are mainly acquired through reading and ‘copying’ existing texts produced by experts.
|| 3 Die Begriffe Textmuster und Textsorte verwende ich in Anlehnung an Sandig (1997: 26): Ein Textmuster als „Einheit der Sprachhandlungskompetenz“ ist „ein standardisiertes (konventionelles) Mittel zur Lösung in einer Gesellschaft auftretender Standardprobleme“. Es „kann beschrieben werden als Zusammenhang von (nicht sprachlichem) Handlungstyp und (sprachlicher) Textsorte“.
220 | Mikaela Petkova-Kessanlis
Rezensierendes sprachliches Handeln erfordert demzufolge sowohl fachliches als auch beziehungsbezogenes Erfahrungswissen. Zu diesem beziehungsbezogenen Wissen gehört u. a. das Wissen um die Notwendigkeit, Interessenkonflikte zu vermeiden, indem man auf das Rezensieren von Neuerscheinungen von Autoren verzichtet, mit denen man in einem kompetitiven, kooperativen oder in einem andersgearteten Verhältnis steht.4 Bestandteil des beziehungsbezogenen Wissens ist ebenfalls das Wissen darüber, dass in Rezensionen wissenschaftliche Leistungen zu bewerten sind, dass sie nicht subjektiv, sondern objektiv zu bewerten sind5, auch das Wissen darüber, wie objektives BEWERTEN – den in der Kommunikationsdomäne geltenden Konventionen entsprechend – zu versprachlichen ist. Eben dieses Wissen wird in der Regel durch Lesen und Nachahmen von Rezensionstexten erworben. Dies ist insofern bedeutsam, als diese Nachahmung auch die (partielle) Übernahme von Formulierungen mit einschließt. Welche Formulierungen beim Vollzug von bewertenden Handlungen übernommen und wiederholt verwendet werden und sich auf diese Art und Weise zu Formulierungsmustern entwickeln, ist dementsprechend von besonderer Relevanz. Denn mit der Verwendung typischer textsortenspezifischer Formulierungen geben Rezensenten den Textrezipienten zu verstehen, dass sie mit ihnen ein gemeinsames Wissen teilen: ein Bewertungswissen, das sowohl Wissen über konventionelle Bewertungsmaßstäbe als auch Wissen über die konventionellen sprachlichen Mittel zu ihrer Versprachlichung umfasst: Bewertungsmaßstäbe stellen Wissensbestände dar, und Bewerten belastet – vor allem bei Bewertungsdiskrepanzen – leicht die Beziehung der Interagierenden. Insofern sind Formulierungshilfen und die Versicherung tiefergehender Gemeinsamkeiten über die Verwendung von Formeln besonders wichtig. (Sandig 1991: 225)
Entscheidend für diese „Versicherung tiefergehender Gemeinsamkeit“ im Rahmen der Formulierungstätigkeit ist zudem, dass der Textproduzent und die Kommunikationsteilnehmer bestimmte Formulierungen „präferentiell gleichermaßen verstehen“ (Pohl 2007: 146; Hervorhebung im Original).
|| 4 Vgl. ZRS (o. J.): ‟Reviewers should not consider evaluating manuscripts in which they have conflicts of interest resulting from competitive, collaborative, or other relationships or connections with any of the authors”. 5 Vgl. ZRS (o. J.): ‟Standards of objectivity: Reviews should be conducted objectively. Personal criticism of the author is inacceptable. Referees should express their views clearly with appropriate supporting arguments”.
Formulierungsmuster für BEWERTEN in wissenschaftlichen Rezensionen | 221
Die Erfassung der für die Textsorte wissenschaftliche Rezension charakteristischen bewertenden Formulierungsmuster, die sich ja durch die wiederkehrenden Anforderungen des Textmusters herausgebildet haben, kann demzufolge nicht nur über prototypische bewertende Handlungen sowie typische Arten von Handlungsdurchführungen Aufschluss geben, sondern auch über die das Textmuster auszeichnende Beziehungsgestaltung. Mit dem vorliegenden Beitrag soll gezeigt werden, welche Formulierungsmuster zum Vollzug welcher bewertenden Sprachhandlungstypen in wissenschaftlichen Rezensionen verwendet werden. Die präsentierten Untersuchungsergebnisse basieren auf der Analyse eines Textkorpus, das 300 wissenschaftliche Rezensionen umfasst, die folgenden Fachzeitschriften entstammen: der Zeitschrift für Rezensionen zur germanistischen Sprachwissenschaft (ZRS), der Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik (ZDL), der Zeitschrift für Angewandte Linguistik (ZfAL) und der Zeitschrift Informationen Deutsch als Fremdsprache (InfoDaF).6 Die ermittelten Formulierungsmuster finden sich in Abschnitt 4. Im Folgenden wird zunächst auf die Vorgehensweise eingegangen (vgl. Abschnitt 2). Anschließend wird die Realisierung des Handlungstyps BEWERTEN7 in wissenschaftlichen Rezensionen näher charakterisiert (vgl. Abschnitt 3).
2 Zur Vorgehensweise Als Formulierungsmuster werden Formulierungen eingestuft, die mindestens dreimal im untersuchten Korpus vorkommen. Auf die „grundsätzliche Frage“, „nämlich die, ab welcher Quantität man von Frequenz sprechen kann“ (Stumpf 2015: 40), gehe ich hier nicht ein.8 Was jedoch als wichtig anzusehen ist, sind die
|| 6 Das für diese Untersuchung zusammengestellte Korpus ist Teil eines umfangreicheren Korpus und soll dem aktuellen Sprachgebrauch im Rahmen der Textsorte wissenschaftliche Rezension Rechnung tragen. Aus diesem Grund entstammen die Rezensionen neueren Jahrgängen der oben aufgeführten Fachzeitschriften. Die meisten Texte sind der ZRS entnommen worden: alle Rezensionen aus den Jahrgängen 2015–2017 sowie jeweils zehn Rezensionen aus den Jahrgängen 2010–2014 (insgesamt 171 Rezensionen). Die übrigen Rezensionen entstammen den Jahrgängen 2012–2015 der ZDL, den Jahrgängen 2013–2016 der ZfAL und den Jahrgängen 2014–2016 der Zeitschrift InfoDaF; dabei wurden jeweils zehn Rezensionen aus jedem dieser Jahrgänge ins Korpus aufgenommen. 7 Die Schreibweise in Versalien dient der Kennzeichnung von Handlungstypen. 8 Vgl. dazu Stumpf (2015: 40–46).
222 | Mikaela Petkova-Kessanlis
Verfügbarkeit und die Vertrautheit einer gegebenen Formulierung. Auf die Relevanz dieser beiden Merkmale für die Formulierungstätigkeit macht Pohl (2007: 147) aufmerksam. Die Verfügbarkeit sehe ich als gegeben, da diese Formulierungen offensichtlich verwendet bzw. reproduziert werden. Vertrautheit bedeutet – laut Pohl (2007: 147) – „in jedem Fall, dass dem Formulierer die idiomatisch geprägte Verstehenspräferenz bekannt ist“. Diese Vertrautheit wird hier unterstellt, einerseits aufgrund der in der Regel stattfindenden redaktionellen Begutachtung der Rezensionen vor der Veröffentlichung, andererseits aufgrund des öffentlichen Charakters der Textsorte, der ein reflektiertes Formulieren erfordert. Wie häufig ein gegebenes Formulierungsmuster tatsächlich verwendet wird, hängt zudem von den individuellen Entscheidungen der Textproduzenten in konkreten Kommunikationssituationen ab. So besteht beispielsweise kein Bedarf, auf Formulierungsmuster für KRITISIEREN zuzugreifen, wenn der Rezensionsgegenstand voll und ganz dem Bewertungsmaßstab des Rezensenten entspricht. In diesem Beitrag finden lediglich diejenigen Formulierungsmuster Berücksichtigung, denen eine bewertende Intention zugeschrieben werden kann. Die Zuschreibung einer Intention einer gegebenen Äußerung erfolgt unter Berücksichtigung des Kontextes und stellt ein Interpretationskonstrukt dar, das auf Unterstellung beruht: Intention ist, von der Seite eines Textrezipienten her gesehen, ein Interpretationskonstrukt. […] Kommunikation funktioniert nicht, indem eine reale Absicht eines Textproduzenten vom Textrezipienten als solche „erkannt“ wird; vielmehr wird dem Produzenten (aus einer aktiven Interpretationsleistung heraus begründet, die der Textrezipient durch Verarbeitung des Textes in seiner situativen und kontextuellen Gegebenheitsweise vollbringt) eine bestimmte Intention unterstellt (nämlich dieselbe Intention, die der Rezipient, stünde er an der Stelle des Produzenten, mit demselben Text in derselben Situation und demselben Kontext gehabt hätte). (Busse 2015: 47; Hervorhebung im Original)
D. h., es ist keinesfalls ausgeschlossen, dass ein und derselben Äußerung in einem anderen Kontext eine andere Intention zugeschrieben wird. Zur Differenzierung der bewertenden Intentionen und damit der verschiedenen bewertenden Handlungstypen nach Bewertungsrichtung (positiv vs. negativ) und nach Grad der Erfüllung des Bewertungsmaßstabs des Rezensenten (ANERKENNEN vs. LOBEN vs. RÜHMEN) wird die von Zhong (1995) für literarische Rezensionen entwickelte Typologie zu Hilfe genommen. Berücksichtigung finden allerdings lediglich Bewertungshandlungstypen im engeren Sinne. Letztere haben die gleiche Intentionsbedingung: „Der Rezensent will in jedem Fall, daß der Leser erfährt, wie er zum BG [= Bewertungsgegenstand] steht, gleichgültig, ob diese Meinung positiv oder negativ ist“ (Zhong 1995: 44). Sie unterscheiden
Formulierungsmuster für BEWERTEN in wissenschaftlichen Rezensionen | 223
sich voneinander „vielmehr in Bedingungen für Art der Maßstabserfüllung (BMBedingung) und propositionalen Gehalt“ (Zhong 1995: 44). Positiv bewertende Sprachhandlungstypen sind LOBEN, RÜHMEN und ANERKENNEN. Negativ bewertend dagegen sind KRITISIEREN, DISQUALIFIZIEREN, VORWERFEN, KLAGEN und ZWEIFELN.
3 Zum BEWERTEN in wissenschaftlichen Rezensionen Die wissenschaftliche Rezension ist eine Textsorte der öffentlichen fachinternen Kommunikation, die ein relativ hohes persuasives Potenzial aufweist bzw. aufweisen kann. Zurückzuführen ist dieses Potenzial nicht nur, aber in einem nicht unbeträchtlichen Maße auf das – im Textmuster angelegte und von den Textrezipienten im Kommunikationsbereich der Wissenschaft erwartbare – Bewertungshandeln des Textproduzenten. Dieses Bewertungshandeln ist für das Textmuster konstitutiv. Die Konstitutivität ergibt sich aus dem in der Wissenschaft generell geltenden „Kritikgebot“ (Weinrich 1995: 3), dem jede wissenschaftliche Erkenntnis unterliegt, und der durch dieses Gebot legitimierten kommunikativen Funktion der Textsorte, die in der Textsortenbenennung Rezension ihren Ausdruck findet.9 Ripfel (1998: 489–490), für die die dominierende Textfunktion in wissenschaftlichen Rezensionen das BEWERTEN ist, macht darauf aufmerksam, dass für die Realisierung der Textfunktion die Häufigkeit der realisierten Bewertungshandlungen irrelevant ist: [E]s spielt aber bei Rezensionen keine Rolle, wie viele Handlungen des Typs BEWERTEN realisiert werden, wichtig für die Bestimmung der Textfunktion, die hier textsortenkonstituierend wirkt, ist nur, daß wenigstens einmal eine Bewertungshandlung realisiert wird.
Ebenfalls nicht tangiert wird der konstitutive Charakter des BEWERTENs dadurch, dass sich in der kommunikativen Realität Rezensionen finden, in denen der Rezensent auf den Vollzug bewertender Handlungen gänzlich verzichtet.
|| 9 Das aus dem lateinischen Verb recensere entlehnte Verb rezensieren in der Bedeutung ‚kulturelle Neuheiten, v. a. literarische und wissenschaftliche Produkte kritisch anzeigen, besprechen‘ wird bereits seit dem 17. Jahrhundert verwendet. Als Fachterminus etabliert ist die Bezeichnung Rezension seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, vgl. Habel (2007: 18).
224 | Mikaela Petkova-Kessanlis
Vassileva (2010: 357) führt die Nicht-Durchführung von BEWERTEN auf mangelnde Erfahrung mit der Textsorte zurück.10 Der Verzicht auf den Vollzug der Handlung kann aber auch andere Gründe haben. Es kann sich z. B. um eine bewusste Entscheidung des Rezensenten handeln. In seiner Rezension zu einem Sammelband schreibt Roßbach: Dass in dieser Reihe [von Beiträgen] ausgerechnet die Anthropologie fehlt, mag man bedauern, doch wollen wir nicht bemängeln, was fehlt, sondern würdigen, was geboten wird. (Roßbach 2015: 157; Hervorhebung von M.P.-K.)
Der Rezensent macht hier deutlich, dass er die Nicht-Berücksichtigung eines Themas im Sammelband festgestellt hat, dass dies seinen Bewertungsmaßstab nicht erfüllt, drückt Bedauern aus und KÜNDIGT AN, dass er im Folgenden auf das NEGATIVBEWERTEN verzichtet. Dass er Letzteres überhaupt zur Sprache bringt, hängt mit den Vorgaben des Textmusters zusammen. Mit anderen Worten: Er antizipiert in dieser Äußerung die konventionellen Lesererwartungen. Eben auf diese konventionellen Erwartungen verweist Altmayer explizit in den „Hinweisen und Anregungen zum Schreiben von Rezensionen“, adressiert an die potenziellen Rezensenten der Online-Zeitschrift Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht: Denken Sie beim Schreiben der Rezension vor allem an Ihre potenziellen Leser und deren Interesse an einer Rezension. Wer eine Rezension liest, will wissen, worum es in dem fraglichen Buch genau geht, was drin steht, wo die Stärken und Schwächen liegen […]. […] c) Der Sinn einer Rezension besteht nicht zuletzt darin, den wissenschaftlichen Wert einer Publikation einzuschätzen. Das aber heißt: Die begründete Bewertung ist kein schmückendes Beiwerk, sondern ein elementarer Bestandteil jeder Rezension. So wichtig also die neutrale Darstellung des Inhalts und des Argumentationsverlaufs des betreffenden Buches auch ist, so sollten Sie darüber die Bewertung des Ganzen nicht vergessen. Diese sollte […] fundiert und ausführlich begründet sein. Scheuen Sie sich nicht vor deutlicher Kritik, wo diese berechtigt ist und vor allem belastbar begründet werden kann. […] Begründete Kritik ist ein unverzichtbares Kernelement der Wissenschaft, nur mit begründeter Kritik kann diese sich weiter entwickeln, und diesem Prinzip sollte das Geschäft des Rezensierens sich verpflichtet fühlen. (Altmeyer o. J.; Hervorhebung von M. P.-K.)
|| 10 ‟[A] large number of reviews, especially those produced by younger scholars, are simply summaries of the books concerned, where the evaluative element is either totally missing or ‘the book is recommended to everybody as a whole’” (Vassileva 2010: 357). Die Beobachtung Vassilevas, dass BEWERTEN in einer großen Anzahl von Rezensionen nicht vollzogen wird, teile ich nicht.
Formulierungsmuster für BEWERTEN in wissenschaftlichen Rezensionen | 225
Die Tatsache allerdings, dass Altmeyer diese Erwartungen in dieser Ausführlichkeit thematisiert, bedeutet wiederum, dass der Nicht-Vollzug von BEWERTEN keine singuläre Erscheinung ist. Im untersuchten Korpus finden sich hingegen ganz wenige Rezensionen, in denen BEWERTEN nicht vollzogen wird. Im Folgenden soll es aber nicht allgemein um BEWERTEN, sondern um das WIE des BEWERTENs gehen. Das WIE der Handlungsdurchführung zu beschreiben, bedeutet unter anderem – aus der Sicht der pragmatischen Stilistik (vgl. Sandig 2006), die hier als methodische Grundlage herangezogen wird – aufzudecken, welchen bewertenden Handlungstypen die in den einzelnen Textsortenexemplaren vollzogenen Bewertungshandlungen zuzuordnen sind und mithilfe welcher sprachlicher Mittel letztere realisiert werden. Mit der Erfassung der Formulierungsmuster werden aber nur musterhafte Realisierungen in den Blick genommen, individuelle, originelle (kreative) Realisierungen kommen dabei nicht in Betracht. Bevor im nächsten Abschnitt die bewertenden Formulierungsmuster Gegenstand der Darstellung werden, möchte ich an dieser Stelle auf zwei bewertende Sprachhandlungstypen eingehen, die für die literarische Rezension prototypisch sind (vgl. Zhong 1995: 52–56), aber – wie die Untersuchung des vorliegenden Korpus zeigt – für die wissenschaftliche Rezension eher als atypisch einzustufen sind. Es handelt sich um die Handlungstypen EMPFEHLEN und ABRATEN, die ebenfalls eine bewertende Funktion haben, aber im Unterschied zu den bewertenden Sprachhandlungstypen im engeren Sinne handlungsbezogen sind. Mit dem Vollzug von Handlungen dieses Typs werden die Rezipienten explizit zu einem bestimmten Handeln aufgefordert oder aber es wird ihnen ein bestimmtes Handeln nahegelegt. Somit sind EMPFEHLEN und ABRATEN stärker adressatenorientiert als die bewertenden Handlungstypen im engeren Sinne. Die Analyse der Texte aus dem Korpus ergibt, dass es für die Durchführung von EMPFEHLEN in wissenschaftlichen Rezensionen Restriktionen gibt. Diese Restriktionen sind offenbar bedingt durch die Textsorte, der die rezensierte Neuerscheinung angehört. In Rezensionen zu Einführungen und zu Nachschlagewerken (wie beispielsweise zu Grammatiken und Wörterbüchern) wird die Handlung EMPFEHLEN nicht häufig, aber wesentlich häufiger durchgeführt als in Rezensionen zu Monografien. Der Grund dafür ist, dass sich die Rezensenten – als Folge der für die Textsorten Einführung und Nachschlagewerk charakteristischen Mehrfachadressiertheit – mit der Aufgabe konfrontiert sehen, die anvisierte(n) Adressatengruppe(n) und ihre spezifischen Leserinteressen näher zu charakterisieren und entsprechend zu bestimmen, für welche Adressaten sich die Neuerscheinung (am besten) eignet. Dies geht häufig mit dem Vollzug von EMPFEHLEN
226 | Mikaela Petkova-Kessanlis
einher. Diese spezifischen Restriktionsbedingungen erklären die wenigen Formulierungsmuster, die zum Vollzug der Handlung verwendet werden. Es konnten lediglich folgende ermittelt werden: X ist empfehlenswert und X ist zu empfehlen. Beispiele dafür sind: (1)
Nicht nur den Studierenden, sondern auch den bereits vor einiger Zeit Examinierten ist es [= das Buch; M. P.-K.] zu empfehlen. (Braune-Steininger 2014: 215)
(2)
Didaktisch großartig sind die vielen Texte, die Boettcher als grammatische Leckerbissen präsentiert, […]. Schon ihretwegen ist die Lektüre von Boettchers Grammatik sehr zu empfehlen. (Giger 2011: 182)
(3)
Insgesamt ist das Buch empfehlenswert, jedoch unter der Einschränkung, dass Deutsch (DaF, DaZ) nicht in besonders großem Umfang Berücksichtigung findet. (Luchtenberg 2015: 227)
(4)
Das Buch ist sehr empfehlenswert, weil es eine Abkehr vom leider immer noch sehr verbreiteten Grammatikpauken darstellt. (Teich 2014: 199)
Für den Verzicht auf den Vollzug von EMPFEHLEN in Rezensionen über Monografien gibt es meines Erachtens einen weiteren relevanten Grund. Nach Rolf (1993: 192) geht es in Rezensionen darum, „[e]in Urteil auszusprechen, eine Beurteilung vorzunehmen und dadurch auch dem Adressaten die Bildung eines Urteils zu ermöglichen“. EMPFEHLEN allerdings ist ein Handlungstyp, mit dem dem Adressaten unterstellt wird, dass er ein Problem hat: „Bei einer Empfehlung wird, wie beim Erteilen eines Ratschlags, das Vorhandensein eines praktischen Problems auf seiten [sic!] des Adressaten präsupponiert“ (Rolf 1997: 187). Dies möchte aber der Rezensent den Textrezipienten, die ebenfalls wie er selbst der Wissenschaftlergemeinschaft angehören, selten unterstellen. Denn dadurch würde zwischen den Kommunikationsbeteiligten eine gewisse Asymmetrie entstehen. Mit der Nicht-Durchführung von EMPFEHLEN wird aber nicht nur Asymmetrie vermieden: Indem der Rezensent auf EMPFEHLEN verzichtet, zeigt er dem Textrezipienten, dass er ihn wertschätzt, dass er ihm die Bildung eines eigenen Urteils durchaus zutraut. Auf diese Art und Weise gestaltet sich die Beziehung zu ihm positiv. Der Verzicht auf diese Handlung ist demzufolge als Ergebnis einer positiven Beziehungsgestaltung anzusehen. Gleichzeitig stellt sich der Rezensent dadurch selbst als tolerant und rücksichtsvoll dar.
Formulierungsmuster für BEWERTEN in wissenschaftlichen Rezensionen | 227
Der negativ bewertende handlungsbezogene Sprachhandlungstyp ABRATEN wird äußerst selten vollzogen. Dies konstatiert auch Dalmas (2001: 469) und begründet: Man stellt allgemein fest, dass sie [die Handlung ABRATEN; M. P.-K.] in Rezensionen überhaupt relativ selten vorkommt – dies aus verständlichen Gründen. Eine Rezension schreiben kann nämlich meistens als sozialer Akt verstanden werden, und das bedeutet: entweder positiv urteilen oder gar nicht! Zwar gehören Stellungnahmen (Bewertungen und Gutachten – d. h. auch negative/abweisende Urteile) – zum Alltag der Hochschullehrer, aber das Rezensionenschreiben muss nicht sein, deshalb lässt man gern in heiklen Fällen die Finger davon und vermeidet somit Unannehmlichkeiten […].
Wie Dalmas’ Ausführungen unschwer erkennen lassen, gibt es für die NichtDurchführung von ABRATEN beziehungsbezogene Gründe. Rezensenten sind in der Regel um Beziehungsstabilisierung bemüht und streben gar keine Beziehungsveränderung und noch weniger eine Beziehungsverschlechterung an.11 Für die seltenen Fälle, in denen ABRATEN vollzogen wird, lässt sich sagen, dass den potenziellen Rezensenten keine Formulierungsmuster zur Verfügung stehen. Die Handlung wird – wenn sie durchgeführt wird – mithilfe individueller Formulierungen realisiert und lässt eine emotionale Beteiligung erkennen. Wie gezeigt werden konnte, „verhindern“ in erster Linie beziehungsbezogene Gründe explizites EMPFEHLEN und ABRATEN. Dies hat zur Folge, dass Rezensenten, die diese Intentionen zum Ausdruck bringen wollen, sich für eine andere Art der Handlungsdurchführung entscheiden. Bezüglich der Sprachhandlung EMPFEHLEN schreibt Dalmas (2001: 469): Dass das Empfehlen begründet sein muss, leuchtet ein. Deshalb wird so viel Wert auf die Argumente gelegt, deshalb wird ihnen so viel Platz eingeräumt, deshalb passiert aber auch oft, dass der Autor sich auf die Argumente beschränkt und auf das explizite Empfehlen verzichtet, welches sich dann von selbst ergeben soll.
Die Autorin verweist hier auf die perlokutive Wirkung des ARGUMENTIERENs, d. h. auf das BEGRÜNDEN von Bewertungen. Wüest (2012) wiederum ist der Auffassung, dass das BEWERTEN als Mittel zur Durchführung von EMPFEHLEN und ABRATEN angesehen werden kann: Analog wie bei Werbeanzeigen, denen „grundsätzlich die Funktion einer Kaufempfehlung zu[kommt], wobei diese aber so gut wie nie explizit ausgedrückt wird“ (Wüest 2012: 111), stelle sich auch bei
|| 11 Ich verwende hier die Begriffe in Anlehnung an Zifonun, Hoffmann & Strecker (1997: 948– 952).
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Rezensionen die Frage, „ob nicht auch eine positive Rezension als eine Empfehlung und eine negative Rezension als ein Abraten zu verstehen ist, ob wir es mithin bei den Rezensionen mit einer (schwach) direktiven Textsorte zu tun haben“ (Wüest 2012: 112). Denn: Eine positive Gesamtbewertung oder auch die Anreihung von ausschließlich positiven Bewertungen kann als indirekter Sprechakt der Empfehlung verstanden werden, denn die Tatsache, dass etwas gut ist, ist eine vorbereitende Bedingung des Sprechaktes der Empfehlung. (Wüest 2012: 124–125)
Hier zeigt sich das hohe persuasive Potenzial, das dem BEWERTEN inhärent ist. Vermutlich aufgrund dieses Potenzials stuft Dalmas (2001: 467) den Rezensenten als eine „Empfehlungs- bzw. Ablehnungsinstanz“ ein. Zum Gelingen persuasiver Versuche dieser Art ist allerdings auch die aktive Interpretationsleistung des Textrezipienten von Belang. Darauf weist Wüest (2012: 124) hin: Nun liegt es allerdings in der Natur von positiv axiologischen Sprechakten, dass sie sehr leicht als Empfehlungen, und von negativ axiologischen Sprechakten, dass sie als das Gegenteil davon verstanden werden. Es kommt hinzu, dass sie von der Leserschaft gerne auch dafür gehalten werden möchten.
Festzuhalten ist: Wissenschaftliche Rezensionen weisen ein hohes persuasives Potenzial auf. D. h. sie haben das Potenzial, „andere mit sprachlichen […] Mitteln dazu zu bringen, die eigene Perspektive auf einen in Frage stehenden Sachverhalt zu verändern bzw. anhand der Information über einen schon bewerteten Gegenstand erst eine dementsprechende Perspektive zu gewinnen“ (Herbig & Sandig 1994: 62). Persuasive Versuche seitens der Textproduzenten erfolgen in erster Linie mittels bewertender Handlungen. BEWERTEN dient häufig als Mittel zur indirekten Durchführung der handlungsbezogenen bewertenden Handlungstypen EMPFEHLEN und ABRATEN. Die im folgenden Abschnitt aufgeführten Formulierungsmuster leisten einen wesentlichen Beitrag zur Entfaltung des persuasiven Potenzials der Textsorte. Bezüglich der Formulierungsmuster lässt sich bereits an dieser Stelle feststellen, dass für fakultative Handlungen wie explizites EMPFEHLEN und ABRATEN, die in Rezensionen aus beziehungsbezogenen Gründen nicht vollzogen werden, den Rezipienten ganz wenige oder gar keine Formulierungsmuster zur Verfügung stehen.
Formulierungsmuster für BEWERTEN in wissenschaftlichen Rezensionen | 229
4 Formulierungsmuster in wissenschaftlichen Rezensionen 4.1 Formulierungsmuster zum Ausdrücken von Bewertungen In wissenschaftlichen Rezensionen sind Adjektive generell sehr frequent.12 Die Untersuchung des Korpus ergibt, dass die verwendeten Adjektive zum größten Teil Wirkungsausdrücke sind, d. h. Ausdrücke, die Rezipienten nutzen, wenn sie einem – von ihnen rezipierten – Text Stilwirkungen zuschreiben (vgl. Sandig 2006: 34–49). Im Textkorpus finden sich in erster Linie drei Arten von Wirkungsausdrücken: 1) Adjektive, die die perlokutive Wirkung des Textes und/oder eines gegebenen Teiltextes beschreiben, z. B. interessant, überzeugend, fundiert, solide, informativ, leserfreundlich, 2) Adjektive, die die Wirkung der Themengestaltung bzw. der Sachverhaltsdarstellung beschreiben, z. B. übersichtlich, anschaulich, umfassend, breit angelegt, detailliert, und 3) Adjektive, die die Wirkung von Texteigenschaften beschreiben, z. B. wie nachvollziehbar, plausibel, transparent, schlüssig, stringent, klar, logisch, folgerichtig u. a. Charakteristisch für Wirkungsausdrücke generell ist, dass sie zwar „beschreibender Art [sind]; sie können aber auch bewertend verwendet werden“ (Sandig 2006: 41). Dies ist auch in Rezensionen der Fall: Die Adjektive fungieren hier als wertende Adjektive. Auf die spezifische Funktion wertender Adjektive im Allgemeinen macht Weidacher (2012: 251) aufmerksam: „Wertende Adjektive benennen keine oder nicht im eigentlichen Sinn Eigenschaften des Gegenstandes, sondern drücken Einstellungen des Autors gegenüber dem Gegenstand aus. Sie sind daher subjektiv“. Aus phraseologischer und textlinguistischer Sicht sind die oben aufgeführten Wirkungsausdrücke insofern interessant, als sie in wissenschaftlichen Rezensionen als Kollokatoren fungieren: Sie verbinden sich mit Substantiven und Verben zu Kollokationen13 wie die folgenden: interessante Fragestellung/Untersuchung, interessantes Buch; überzeugende Argumente/Argumentation/Schlussfolgerung(en)/Beispiele/Auswahl, überzeugendes Plädoyer; überzeu-
|| 12 Vgl. beispielsweise Szurawitzki (2012: 124), der konstatiert, dass in wissenschaftlichen Rezensionen „das Adjektiv (ggf. + VP) meist zur Formulierung einer evaluativen Äußerung (positiv oder negativ) gebraucht wird“. 13 Unter Kollokationen verstehe ich mit Steyer (2000: 109) „binäre, usuelle Wortverbindungen, die aus zwei Autosemantika bestehen“. „Sie stellen typische Verknüpfungen von Wortschatzelementen dar, die semantischer Natur sind, aber in variierenden syntaktischen Strukturen realisiert werden“.
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gend (für X) plädieren/argumentieren/darstellen/hervorheben/vermitteln, (ein Anliegen) überzeugend verwirklichen; solide Untersuchung; fundierte Untersuchung/Studie; ein informatives Buch; leserfreundlich gestalten; fundierte Analyse; schlüssige Gedankenführung/Inhaltsführung/Folgerung(en)/Forderung(en), schlüssig begründen; klare Gedankenführung/ Struktur/Darstellung; nachvollziehbare Darstellung/Interpretation/Analyse/Entscheidung (des Autors)/Schlussfolgerung(en), nachvollziehbar argumentieren/einführen/verdeutlichen/ erläutern/darlegen/darstellen; plausible Argumentation, plausibel begründen/belegen/zeigen/aufzeigen/erklären/klingen; transparent darstellen, transparente Darstellung; stringente Struktur/Gedankenführung, stringenter Aufbau; übersichtliche Strukturierung, übersichtliches Layout; detaillierte Analyse; anschauliche Beispiele, anschaulich darstellen; umfassende Analyse/Untersuchung/Arbeit, umfassend darstellen; breit angelegte Untersuchung/Beschreibung; detailliert erklären/erläutern, detaillierte Analyse/Darstellung; klar präsentieren/strukturieren/darstellen; klare Gliederung/Orientierung/Struktur/Gedankenführung; logisch strukturieren/aufbauen, logische Vorgehensweise; folgerichtig betrachten, folgerichtig (Überlegungen, Argumentation) entwickeln
Wie diese Auflistung zeigt, scheint es für die Bildung dieser Kollokationen ein Muster ‚Wirkungsausdruck + Ausdruck für Bewertungsaspekt‘ zu geben. Für die Thematisierung des jeweiligen Aspekts werden ein Substantiv oder ein Verb verwendet. Neben den oben aufgeführten beschreibenden Wirkungsausdrücken, die bewertend verwendet werden, wird in den untersuchten Rezensionen auch von dem genuin bewertenden Ausdruck gut Gebrauch gemacht. Da aber gut ein unspezifischer Bewertungsausdruck mit variabler Referenz ist, wird er in Rezensionen selten eigenständig gebraucht, z. B. als Attribut wie in den folgenden Beispielen: (5)
Wer sich mit dem Phänomen der deutschen Modalpartikeln über das in den Grammatiken der deutschen Sprache präsentierte Grundwissen hinaus intensiver beschäftigen möchte, findet hier einen guten Einstieg. (Durst 2016: 311)
(6)
Das Buch des Autorinnen-Teams um Schmölzer-Eibinger bietet Fachlehrkräften einen guten Einblick in die Bedeutung der Sprache im Fachunterricht […]. (Florin 2014: 367)
Wesentlich häufiger, etwa in zwei Drittel der Fälle, tritt der Bewertungsausdruck gut in Kombination mit einem Ausdruck, der seine Referenz spezifiziert. Die Untersuchung zeigt, dass es charakteristische Kombinationen gibt, die als Formulierungsmuster angesehen werden können: gut verständlich/lesbar; gut überschaubar/nachvollziehbar; gut strukturiert/gegliedert; gut aufgearbeitet/dokumentiert; gut durchdacht/begründet/konzipiert/erklärt/belegt; gut illustriert/geschrieben/formuliert/ausgewählt; gut gelungen; gut geeignet; gut anwendbar
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Was bei dieser Gruppe von Ausdrücken auffällt, ist, dass die Rezeption des Textes viel seltener in den Blick des Rezensenten kommt (vgl. gut verständlich, gut lesbar); häufiger dagegen werden als gut (d. h. ‚einen Bewertungsmaßstab erfüllend‘, vgl. Sandig 2009: 112) die Handlungen bzw. die Handlungsprodukte des Autors der Neuerscheinung eingestuft. Wie die folgenden Äußerungen zeigen, wird gut gradierend verwendet: (7)
Aber auch der Abschnitt zur […] sowie die Unterscheidung zwischen […] sind gut nachvollziehbar. (Giger 2011: 179)
(8)
Müllers Buch bietet eine klar strukturierte, gut lesbare, wissenschaftlich fundierte und informative Einführung in das Thema. (Durst 2016: 311)
(9)
Die durchgängig klare und gut überschaubare Kapitelstruktur macht es der LeserIn leicht, sich im jeweiligen Abschnitt zurechtzufinden. (Storozenko 2014: 353)
(10) Doch eines ist der Band sicherlich: Gut formuliert, didaktisch vorzüglich organisiert und somit einladend zu eigenen Erkundungen. (Roßbach 2016: 267) (11) Wallner kommt zu gut begründeten Hypothesen für weitergehende Studien zu wissenschaftssprachlichen Kollokationen […]. (Köster 2016: 384) (12) Das Konzept und der Aufbau sind gut durchdacht, die Lektionen sind informativ und didaktisch fundiert. (Kovács 2015: 199)
Es gibt demzufolge zwei Formulierungsmuster: ‚unspezifischer Bewertungsausdruck gut + Wirkungsausdruck‘ und ‚unspezifischer Bewertungsausdruck gut + Ausdruck für Bewertungsaspekt‘. In beiden Fällen besteht die Möglichkeit, das POSITIVBEWERTEN hochzustufen,14 indem die Wirkung von gut mittels einer Intensitätspartikel gesteigert wird: Die Bedeutung von sehr gut bestimmt Sandig (2009: 112) als ‚einen Bewer-
|| 14 Vgl. Stürmer et al. (1997: 275): „Bewertungen können im Hinblick auf den Adressaten in ihrer Formulierung hoch- oder heruntergestuft, d. h. verstärkt oder abgeschwächt“ werden.
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tungsmaßstab in besonderem Maße erfüllend‘. Die folgenden Beispiele illustrieren typische Realisierungen des Musters ‚Gradausdruck + unspezifischer Bewertungsausdruck gut + Wirkungsausdruck/Ausdruck für Bewertungsaspekt‘: (13) Insgesamt ist Bechmann eine auch für Laien sehr gut verständliche Einführung gelungen, die […]. (Hartmann 2017: 67) (14) Einerseits ist Bechmanns Einführung sehr gut lesbar und über weite Strecken didaktisch gut aufbereitet, und […]. (Hartmann 2017: 70) (15) Die Spiele sind didaktisch sehr gut durchdacht und enthalten darüber hinaus Anmerkungen und Tipps. (Teich 2014: 200) (16) Der Band […] ist didaktisch sehr gut konzipiert […]. (Kovács 2015: 199) (17) Die fachlichen Lerninhalte und die fachlichen Zusammenhänge sind auch für Laien sehr gut erklärt. (Kovács 2015: 199)
Man kann zudem weiter gradieren in Richtung Extrempol einer Skala, z. B. mittels eines Adverbs: (18) […] ihre Aussagen basieren auf umfangreichen Archivstudien und 14 Zeitzeugeninterviews, sodass die Angaben durchweg sehr gut belegt sind […]. (Nerius 2016: 109)
In Alltagskontexten wäre die Verwendung des Pendants auf der Bewertungsskala, das Adjektiv schlecht, erwartbar, das den gegenüberliegenden Pol der Skala bezeichnet. In den untersuchten Rezensionen kommt es überhaupt nicht vor: weder in eigenständiger Verwendung noch gradierend. Dies ist aus zwei Gründen wenig überraschend: 1) Es ist anzunehmen, dass der Ausdruck schlecht bewusst aus Gründen der Beziehungsgestaltung vermieden wird. Und 2): Es dürfte hier auch noch die Tatsache eine Rolle spielen, dass Neuerscheinungen, die dem Bewertungsmaßstab überhaupt nicht entsprechen, als nicht rezensionswürdig eingestuft und von vorneherein „aussortiert“ werden. Um deutlich zu machen, dass der Bewertungsgegenstand im Hinblick auf einen bestimmten Bewertungsaspekt den Bewertungsmaßstab nicht oder nur partiell erfüllt, werden stattdessen Nega-
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tions-, Intensitäts- und/oder Gradpartikeln verwendet und mit Wirkungsausdrücken kombiniert. Als ein Formulierungsmuster fungiert die Kombination ‚Gradausdruck + Wirkungsausdruck‘: (19) Schließlich ist auch die Abgrenzung von […] wenig überzeugend, […]. (Niehr 2012: 255) (20) Für einzelne Beiträge eigene Kapitel zu schaffen [sic!] erscheint hier sowohl unökonomisch als auch wenig hilfreich. (Frick 2014: 41) (21) Diese Angaben sind eine Orientierung, für den konkreten Fall jedoch wenig hilfreich. (Niewalda 2015: 323) (22) Diese Zusammenfassung als allgemeine Funktionsbestimmung ist jedoch sehr abstrakt und wenig aussagekräftig, denn […]. (Nerius 2013: 3) (23) Auch wenn positiv hervorgehoben werden muss, dass […], ist das siebte Kapitel aufgrund seiner Informationsdichte für Studienanfänger/innen […] leider schwer verständlich. (Scharun 2015: 288) (24) Ebenso vielfältig und schwer überschaubar ist die Fülle der bearbeiteten AutorInnen und Schlagwörter in Teil […]. (Sommer 2014: 275)
Auch beim NEGATIVBEWERTEN gibt es die Möglichkeit, die Wirkung des BEWERTENs herunterzustufen. Im folgenden Fall geschieht dies durch den Gebrauch von Gradpartikeln: (25) Ab dem neunten Kapitel […] ist die Systematik der Kapitelabfolge nur noch schwer nachvollziehbar. (Steinig 2011: 58)
Ähnliches wird erreicht auch mittels einer Negationspartikel und dem Adjektiv ganz, das hier als Intensitätspartikel fungiert: (26) Nicht ganz plausibel ist die These Horns, dass „Alfred Kerr […] die verschiedenen Dialekte in ihrer reichen Verwendungsvielfalt und Ausdrucksfülle [nutzte]“ (S. 287). Nicht ganz nachvollziehbar ist diese These deswegen, weil […]. (Spieß 2016: 17)
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Die oben angeführten Formulierungsmuster dienen dazu, bewertende Stellungnahmen in wissenschaftlichen Rezensionen auszudrücken. Mit einer großen Anzahl von ihnen können Bewertungen prädiziert werden, d. h. sie können als Mittel zum Vollzug bewertender Handlungen genutzt werden. Diese Formulierungsmuster können aber in informative Handlungen, d. h. in solche, deren dominierende Illokution keine bewertende ist, implementiert und auf diese Art und Weise zum Vollzug von Nebenbei-Bewerten verwendet werden. Die im folgenden Abschnitt aufgeführten Formulierungsmuster dienen dem bzw. indizieren den Vollzug verschiedener bewertender Handlungen.
4.2 Formulierungsmuster zum Vollzug von BEWERTEN 4.2.1 Formulierungsmuster für POSITIVBEWERTEN Ein Rezensionsgegenstand wird dann positiv BEWERTET, wenn er dem Bewertungsmaßstab des Bewertungssubjekts, d. h. des Rezensenten, entspricht. Um den Grad dieser Entsprechung zu benennen, gibt es sprachliche Möglichkeiten der Differenzierung. Aufgrund des Grads der Maßstabserfüllung unterscheidet Zhong (1995: 44–46) zwischen LOBEN, RÜHMEN und ANERKENNEN. Für alle drei Handlungstypen gibt es Formulierungsmuster.
a) LOBEN Mit dem Vollzug von LOBEN gibt der Rezensent dem Rezipienten zu verstehen, dass der Rezensionsgegenstand bzw. ein bestimmter Aspekt des Rezensionsgegenstandes „den von ihm angewendeten BM [= Bewertungsmaßstab; M. P.-K.] erfüllt“ (Zhong 1995: 44). Formulierungsmuster für LOBEN sind beispielsweise folgende: Positiv zu (be)werten ist/sind X. X ist zu loben/lobenswert. Lobenswert ist die Auseinandersetzung mit X. Ein lobenswerter Punkt ist X. Von besonderem Wert ist X. Hervorzuheben (an diesem Beitrag) ist X/ist, dass X. In dieser Hinsicht ist/sind X positiv hervorzuheben. Positiv herauszustellen ist, dass X. Positiv anzumerken ist, dass X. Besondere Erwähnung verdient (hier) X.
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Auffallend bei diesen Formulierungsmustern ist der explizite Bezug auf die zu vollziehende bewertende Handlung. Derartige Formulierungen dienen dazu, die durchzuführende Handlung metakommunikativ anzukündigen. Gleichzeitig verdeutlichen sie die Intention der Handlung. Diese Funktion erfüllen die sprechhandlungsbezeichnenden Verben bewerten und loben, auch das Adjektiv lobenswert. Stürmer et al. (1997: 275) sprechen in diesem Zusammenhang von „spezifische[n] bewertende[n] Illokutionsausdrücke[n]“. Dazu folgende Beispiele: (27) Der übersichtliche und systematische Aufbau des Handbuchs ist zu loben: […]. (Meletis 2017: 109) (28) Zu loben sind die schrittweise Darstellung und die tabellarischen Übersichten am Ende der einzelnen Kapitel. (Geist 2010: 202) (29) Lobenswert ist die knappe, aber reflektierte Auseinandersetzung mit den sehr umfangreichen Forschungsthemen Tempus und Aspekt in Kap. 2. (Fischer 2015: 80) (30) Lobenswert ist vor allen Dingen das Bemühen, sowohl an ein soziologisch interessiertes Fachpublikum wie auch für die Blogger-Community zu schreiben. (Ziegler 2010: 289)
Formulierungsmuster, die metakommunikativ auf den übergeordneten Sprachhandlungstyp POSITIVBEWERTEN Bezug nehmen, indem sie die Bewertungsrichtung (positiv) explizit nennen, sind als Vollzug von LOBEN zu interpretieren, da davon auszugehen ist, dass Rezensenten den Bewertungsmaßstab als erfüllt ansehen, vgl.: (31) Positiv ist zu werten, dass Boettcher auch grammatiktheoretische Aspekte […] aufgreift und so zeigt, wie […]. (Giger 2011: 181)
Die Verwendung des modalen Infinitivs ist zwar für wissenschaftliche Texte typisch,15 aber hier ist er bedeutsam, da er die Sprechereinstellung FÜR ERFORDERLICH HALTEN zum Ausdruck bringt (vgl. von Polenz 1988: 221) und auf diese Art und Weise dem POSITIVBEWERTEN Nachdruck verleiht. Wie diese Beispiele zeigen, bezieht sich hier das BEWERTEN auf Handlungen des Autors, die im Buch vollzogen werden. Der Autor als Urheber der jeweiligen
|| 15 Der modale Infinitiv gehört zu den Passivsynonymen, die zur Darstellung der Anonymität verwendet werden (vgl. Oksaar 1998: 399).
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Handlung wird nicht genannt. Es gibt aber auch Formulierungsmuster, bei denen vorgesehen ist, den Autor der rezensierten Neuerscheinung namentlich zu nennen. Besonders am Ende von Rezensionen, aber nicht nur, finden sich folgende: Mit X (Titel des Buches) ist Y (Name des Autors) Z gelungen. Mit X ist es Y gelungen, Z aufzuzeigen. Y gelingt es zu zeigen, dass Z. Insgesamt ist Y Z gelungen. Das große Verdienst von Y ist Z.
(32) Frank Rabe ist mit seiner Monographie zum englischsprachigen Schreiben und Publizieren aus der Sicht deutschsprachiger WissenschaftlerInnen eine theoretisch fundierte und inhaltlich differenzierte Arbeit gelungen, die zahlreiche Einblicke in die Spezifika verschiedener Fachkulturen und deren Enkulturationspraktiken gewährt. (Schluer 2017: 209) (33) Insgesamt ist Almut Schön eine beachtenswerte Arbeit gelungen. (Bechmann 2015: 333) (34) Insgesamt ist de Bot ein beachtenswertes Buch gelungen, das die deutschsprachige AL [= Angewandte Linguistik; M. P.-K.] zwar fast weitestgehend ausklammert, ihr aber fast paradoxerweise […] doch einige interessante Perspektiven für die Zukunft eröffnen dürfte. (Bülow 2016: 143) (35) Alles in allem ist Matthias Katerbow ein relevanter Beitrag sowohl zur Regionalsprachenforschung als auch zum Spracherwerb des Deutschen gelungen, dessen Ergebnissen eine breite Rezeption zu wünschen ist. (Pröll 2014: 96)
Hier ist das LOBEN direkt an den Autor adressiert. Durch die namentliche Nennung rückt die Leistung des Autors stärker in den Vordergrund und wird auf diese Art und Weise besonders gewürdigt. LOBEN wird darüber hinaus mithilfe folgender Formulierungen vollzogen: Mit X wird/wurde ein wichtiger Beitrag zur Forschung/Erforschung von Z geleistet. X leistet einen wichtigen Beitrag zur Forschung/Erforschung von Z. X liefert einen wichtigen Beitrag zu Y. X (das Buch) liefert einen beachtenswerten Beitrag zu Z. X schließt mit Z eine wichtige Forschungslücke.
Beispiele dafür sind:
Formulierungsmuster für BEWERTEN in wissenschaftlichen Rezensionen | 237
(36) Die vorliegende Monografie schließt an die bisherige Forschung an und leistet einen weiteren, wichtigen Beitrag zur Erforschung des deutschen Tempussystems, indem […]. (Fischer 2012: 246) (37) Die Untersuchung von Kathrin Wild liefert einen wichtigen Beitrag, um die Forschungslücke hinsichtlich […] zu füllen. (Paschke 2016: 389)
Mithilfe dieser Formulierungsmuster werden Bewertungsaspekte thematisiert, deren Relevanz sich aus der Spezifik des wissenschaftlichen Handelns ergibt. Das Korpus enthält auch Formulierungsmuster, die eine emotionale Beteiligung erkennen lassen. Von einem „gesteigerten Bewerten“ (Sandig 2006: 249) ist in folgenden Fällen auszugehen: Es ist zu begrüßen, dass Z. Zu begrüßen ist, dass Z. X ist sehr zu begrüßen. Was sehr zu begrüßen ist, ist Z. (sehr)Erfreulich ist X/ist, dass Z. In X findet/finden sich erfreulicherweise Y.
Diese Art von LOBEN hat entsprechend eine gesteigerte persuasive Wirkung, vgl.: (38) Es ist aber zu begrüßen, dass KOLLMANN [M. P.-K.: Großschreibung im Original] jedem synchronen Abschnitt eine Erläuterung aus diachroner Sicht anschließt. (Wiesinger 2012 : 218) (39) Dass Bechmann die Gemeinsamkeit zwischen sprachlichen und anderen kommunikativen Zeichen hervorhebt und zeigt, dass sie oftmals denselben Wandelprozessen unterworfen sind, ist sehr zu begrüßen. (Hartmann 2017: 69) (40) Sehr erfreulich ist der empirische Ansatz. (Fischer 2012: 247)
Formulierungsmuster können durch weitere erweitert werden bzw. miteinander kombiniert auftreten, wie im folgenden Fall: (41) Der innovative Aspekt, der an Schöns Arbeit hervorzuheben und zu loben ist, besteht u. a. darin, dass die Verfasserin die Frage aufwirft, ob […]. (Bechmann 2015: 333)
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b) ANERKENNEN Wie bereits oben thematisiert, wird die Handlung LOBEN nur dann durchgeführt, wenn der Rezensionsgegenstand dem Bewertungsmaßstab des Rezensenten entspricht. In den Fällen, in denen der Rezensionsgegenstand – als Ganzheit oder in seinen Teilen – den Bewertungsmaßstab nicht hinreichend erfüllt, aber dennoch das konventionell erwartbare Maß nicht unterschreitet, wird die Handlung ANERKENNEN vollzogen. Nach Zhong (1995: 46) ist für den Vollzug von ANERKENNEN folgende Bedingung zu erfüllen: BS [= Bewertungssubjekt; M. P.-K.] meint, daß BG [= Bewertungsgegenstand; M. P.-K.] den von ihm angewendeten BM [= Bewertungsmaßstab; M. P.-K.] gerade noch in dem Maße erfüllt, wie er die Voraussetzung für den positiv gerichteten Vergleich mit diesem BM bildet.
Im untersuchten Korpus finden sich folgende Formulierungsmuster für ANERKENNEN: X (der Band, das Buch) schließt eine (Forschungs-)Lücke. X (das Buch, die Monographie) füllt eine Lücke in Z. Durch X (die vorliegende Untersuchung/Monographie) wird eine Lücke in der Forschung geschlossen. Y schließt mit seiner/ihrer Arbeit eine Lücke in der (Er-)Forschung von Z. X (das Buch, das Kapitel, der Abschnitt) ist gut strukturiert/nachvollziehbar geschrieben. Y (der Autor) hat eine fundierte X (Arbeit, Untersuchung) verfasst/vorgelegt. Mit X hat Y (der Autor, Autorname) ein interessantes/gut strukturiertes Buch vorgelegt. Die Untersuchung von Y (Autorname) ist umfassend und/oder detailliert und/oder nachvollziehbar aufbereitet. X (der empirische Teil, die These) ist nachvollziehbar dargestellt. X (der Text, das Kapitel) ist verständlich formuliert. X (der Beitrag, die Untersuchung, die Arbeit) überzeugt durch/im Hinblick auf/mit Z. Y kann plausibel zeigen, dass Z. X (das Kapitel) liefert einen guten Überblick über Z. X kann zu einem besseren Verständnis von Z beitragen. Ys Untersuchung bietet interessante Ansatzpunkte für Z. Insgesamt macht X (die Untersuchung, das Buch, die Arbeit) einen guten Eindruck.
Wie diese Beispiele zeigen, finden die Leistungen des Autors in der Regel dann Anerkennung, wenn sie im Einklang mit den „wissenschaftlichen Kardinaltugenden“ Erkenntnisfortschritt, methodische Sauberkeit, Verständlichkeit, Klarheit, Logik der Darstellung etc. (vgl. Zillig 1982: 202–203) stehen. So ist beispielsweise das Auffinden und Auffüllen einer Forschungslücke eine Leistung, die zum Erkenntnisfortschritt beiträgt und somit die Anerkennung der Rezensenten findet, vgl.:
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(42) Die Autorin schließt mit ihrer Arbeit eine Lücke in der Erforschung ärztlicher Gesprächsinteraktion […]. (Bechmann 2015: 328) (43) „Linguistik und Schulbuchforschung“ schließt eine empfindliche Lücke in der Schulbuchforschung, indem […]. (Böhnert 2016: 195)
Das folgende Beispiel, das aus dem abschließenden Urteil einer Rezension stammt, illustriert ein relativ häufig in Rezensionen realisiertes Sequenzmuster: Zunächst KRITISIEREN und (erst) danach ANERKENNEN: (44) Dennoch: das Thema ist für den politolinguistischen Forschungsbereich von hoher Relevanz und trotz der genannten Anmerkungen und der vorgebrachten Kritik füllt die vorliegende Arbeit zweifelsohne eine Lücke im Bereich politolinguistischer Forschung. So kann sie zusammen mit weiteren vorliegenden Arbeiten zu […] als Ausgangspunkt für weitere, kontrastive Studien zur Streitkultur in den Parlamenten Europas dienen. (Spieß 2016: 247)
Dass die Schließung einer Forschungslücke lediglich anerkennenswert und noch nicht lobenswert ist, lässt sich der folgenden Äußerung entnehmen: (45) Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Schließung der Forschungslücke von linguistischen Arbeiten zu Polizeivernehmungen allgemein und insbesondere der Vernehmung von Migrant(inn)en darstellt. (Krüger 2015: 143)
Die Rezensentin LOBT die Leistung der Autorin, indem sie das Formulierungsmuster X stellt einen wichtigen Beitrag zu Z dar verwendet. Im Unterschied zu den obigen Beispielen konstatiert sie nicht nur die Schließung der Lücke, sondern BEWERTET diese als relevant und somit positiv. Weitere Formulierungsmuster, die zum Vollzug von ANERKENNEN verwendet werden, sind: Ein Verdienst der Arbeit besteht darin, Z zu Y. Es ist verdienstvoll, dass X.
Hier wird wieder lediglich das Erwartbare ANERKANNT, vgl.: (46) Insgesamt ist die innovative Konzeption der Einführung in die linguistische Diskursanalyse verdienstvoll […]. (Gredel 2016: 134)
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(47) Verdienstvoll ist, dass Musan im Weiteren Konstruktionen mit ‚besonderer Informationsstruktur‘, wie z. B. Linksversetzungen, aufgreift […] (Businger 2010: 117) (48) Verdienstvoll ist es schließlich auch, dass diese Überlegungen auch lexikalische Hinweise […] behandeln. (Riecke 2017: 18) (49) Es ist verdienstvoll, dass die vielen beim Vergleich der beiden Systeme offenbar werdenden losen Enden von den Autoren aufgenommen und einer ersten Bearbeitung zugeführt werden. (Jung 2014: 393)
c) RÜHMEN Neben Formulierungsmustern für ANERKENNEN und LOBEN finden sich im Korpus solche, die als Mittel zur Realisierung der Handlung RÜHMEN genutzt werden. RÜHMEN wird dann vollzogen, wenn der Rezensent die Meinung vertritt, dass der Rezensionsgegenstand „den von ihm angewendeten BM [= Bewertungsmaßstab; M. P.-K.] in vollem Maße erfüllt“ (Zhong 1995: 45). Folgende Formulierungsmuster dienen zum Vollzug von Handlungen dieses Typs: X ist klar/auf jeden Fall zu begrüßen. Als besonders gelungen ist Z hervorzuheben/möchte ich Z hervorheben. Besonders positiv hervorzuheben ist (meines Erachtens), dass Y. Mit X (Titel des Buches) liegt ein äußerst Z (lesenswertes Buch/lesenswerter Band, ein für die Forschung äußerst relevanter Band/relevantes Buch) vor. Eine der großen Stärken von X (der Untersuchung/der Studie) ist Z. Eine große Stärke von X (Buch) liegt in Z. Ys (Name des Autors) Untersuchung stellt eine bemerkenswerte Leistung dar. X wird mehr als zufriedenstellend eingelöst.
Wie die Beispiele zeigen, handelt es sich bei diesen Formulierungen im Grunde genommen um ein Hochstufen von LOBEN. Die Handlung RÜHMEN wird in der Regel vollzogen, indem Formulierungsmuster für LOBEN mittels Gradausdrücken (vgl. äußerst, besonders) oder mittels Bewertungsausdrücken (vgl. Stärke, bemerkenswert) in ihrer Wirkung verstärkt werden. Auch hier ist die Verwendung mehrerer positiv bewertender Formulierungsmuster innerhalb einer Äußerung möglich: (50) Dabei ist besonders hervorzuheben, dass es – meines Wissens zum ersten Mal – gelungen ist, alle drei relevanten Analyseebenen […] gleichberechtigt zu behandeln. (Niehr 2012: 254)
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Es lässt sich festhalten, dass es für alle drei positiv bewertenden Sprachhandlungstypen Formulierungsmuster gibt. Daraus lässt sich ableiten, dass die Handlungstypen LOBEN, ANERKENNEN und RÜHMEN als für das Textmuster wissenschaftliche Rezension prototypisch angesehen werden können. Dieses Ergebnis gibt allerdings keinen Aufschluss über die Gesamtbewertung in Rezensionen. Noch weniger aufschlussreich ist das Ergebnis in Bezug darauf, zu welchem konkreten kommunikativen Zweck und mit welcher stilistischen Funktion ein gegebenes Formulierungsmuster verwendet wird bzw. verwendet werden kann. So werden beispielsweise positiv bewertende Handlungen häufig vollzogen, um eine zuvor vorgebrachte Kritik abzumildern. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass die hier aufgeführten Sprachhandlungstypen auch individuell realisiert werden können. An folgendem Beispiel, das diesen Abschnitt abschließt, möchte ich das illustrieren: (51) Auch wenn der Ausführung eine Straffung an der einen oder anderen Stelle wahrscheinlich nicht geschadet hätte, gebührt Katerbow Anerkennung und Lob dafür, dass er mit dieser Pilotstudie eine Schnittstelle der Forschungsbereiche Psycholinguistik und Variationslinguistik behandelt, die immer noch sträflich vernachlässigt wird. (Pröll 2014: 95)
Der irreale Konzessiv-Nebensatz nennt einen Grund für Kritik und kennzeichnet gleichzeitig diesen Grund als unwichtig bzw. unwirksam für den im Hauptsatz thematisierten Sachverhalt. Die Gültigkeit und die Wirkung der im Hauptsatz ausgedrückten positiven Bewertung werden somit dadurch nicht tangiert. Um diese positive Bewertung zum Ausdruck zu bringen, verwendet der Rezensent das der überneutralen Stilebene zuzurechnende Verb gebühren (anstatt beispielsweise das neutralsprachliche Verb verdienen) und die handlungsbezeichnenden Substantive Anerkennung und Lob. Damit vollzieht der Rezensent eine Handlung, die eindeutig dem übergeordneten Typ POSITIVBEWERTEN zuzuordnen ist. Welchem spezielleren Typ ist aber die Handlung zuzurechnen? Die Beantwortung dieser Frage gestaltet sich zunächst – da ja auf zwei Handlungstypen metakommunikativ Bezug genommen wird – schwierig. Offensichtlich ist, dass mit dieser Handlungsdurchführung der Rezensent deutlich machen möchte, dass der Rezensionsgegenstand seinem Bewertungsmaßstab entspricht. Gleichzeitig dient die Handlung dazu, das KRITISIEREN herunterzustufen. Um dies zu erreichen, vollzieht der Rezensent eine dem Handlungstyp RÜHMEN zuzuordnende Handlung. Zhong (1995: 45) macht darauf aufmerksam, dass Indikatoren für RÜHMEN „positive Wertbegriffe“ sind, die „in ihrer Bedeutungskomponente ‚superlativisch‘“ wirken und dass das BEWERTEN in diesem Fall „leicht feierlich“ wird. Durch den Zugriff auf die gehobensprachliche Stilebene (vgl. gebühren),
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durch das INSISTIEREN auf der positiven Bewertung (vgl. Anerkennung und Lob), aber auch durch das nicht-adressierte VORWERFEN im Relativsatz wird hier das BEWERTEN pathetisch.
4.2.2 Formulierungsmuster zum Vollzug von NEGATIVBEWERTEN Sprachhandlungstypen, die zum NEGATIVBEWERTEN verwendet werden, sind nach Zhong (1995: 46–49) KRITISIEREN, DISQUALIFIZIEREN, VORWERFEN, KLAGEN und ZWEIFELN. Für zwei dieser Handlungstypen – für DISQUALIFIZIEREN und KLAGEN – konnten bei der Analyse des Korpus keine Formulierungsmuster ermittelt werden. Meines Erachtens ist das ein deutliches Indiz dafür, dass diese Handlungstypen für die wissenschaftliche Rezension nicht als prototypisch angesehen werden können. Dies bedeutet wiederum nicht, dass diese Handlungen überhaupt nicht in Rezensionen vorkommen. Wenn sie aber realisiert werden, greifen die Rezensenten auf individuelle Formulierungen zurück. Das folgende Beispiel soll dies an dieser Stelle illustrieren: (52) Die leserfreundliche [sic!] geschriebene Monographie ist didaktisch recht ordentlich aufbereitet und sicherlich auch für Praktiker ohne viel AL-Hintergrund verwendbar. Der Stil ist zum Teil recht kolloquial und wirkt stellenweise manipulativ sowie enorm repetitiv, im Sinne von „Habt Ihr es jetzt endlich kapiert oder muss ich es noch einmal sagen?“. Die Kernaussagen des Textes hätten sicherlich auch in einen Artikel gepasst – das Buch enthält wenig, was bisher noch nicht geschrieben wurde. Positiv hervorzuheben ist sicherlich, dass der Autor seinen Schwerpunkt auf die Praxis legt und weniger auf die Theorie, er fasst jedoch zum Teil nur das in Worte, was viele Fremdsprachenlehrende im Unterrichtsalltag ohnehin regelmäßig erleben. Levines Vorgehensweise mag für universitäre Fremdsprachenkurse außerhalb der USA möglicherweise anwendbar sein, im „normalen“ Schulalltag mit seinen curricularen Zwängen bleibt jedoch nur wenig Zeit für eine strategische Bewusstmachung des Sprachengebrauchs. […] [neuer Absatz] Fazit: ein flüssig zu lesendes, für Praktiker nicht uninteressantes Buch, insbesondere wenn sie in ähnlichen Zusammenhängen arbeiten wie der Autor – für alle Anderen ein eher überflüssiger Text, dessen Ergebnisse auf den schulischen Fremdsprachenunterricht nicht übertragbar erscheinen, sondern allenfalls Gedankenanstöße vermitteln können. (Niemeier 2013: 232)
Dieses abschließende Urteil enthält eine Reihe negativer Bewertungen (vgl. das mittels Fettdruck Markierte), die sicherlich als DISQUALIFIZIEREN einzustufen sind. Es ist offensichtlich, dass nach Auffassung der Rezensentin das Buch nicht einmal annähernd den von ihr angewendeten Bewertungsmaßstab erfüllt. Besonders wirksam ist hier u. a. auch die dem Autor unterstellte Antizipation der
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Lesererwartungen. Diese Art von NEGATIVBEWERTEN ist allerdings derart auffällig und unüblich, dass es ein hohes persuasives Potenzial aufweist. Die persuasive Wirkung wird zusätzlich noch gesteigert durch den Vollzug von positiv bewertenden Handlungen, mit denen die Rezensentin Fairness und Wohlwollen demonstrieren möchte. Konventionell für wissenschaftliche Rezensionen ist dagegen die Durchführung der Handlungen KRITISIEREN, VORWERFEN und ZWEIFELN.
a) KRITISIEREN Mit der Durchführung von KRITISIEREN bringt der Rezensent zum Ausdruck, dass der Bewertungsgegenstand den von ihm angewendeten Bewertungsmaßstab nicht erfüllt (vgl. Zhong 1995: 46). Wie für den Vollzug der Handlung LOBEN gibt es auch für KRITISIEREN eine Reihe von Formulierungsmustern, mit deren Hilfe die zu vollziehende Handlung explizit genannt wird. Folgende finden sich im Korpus: Kritisch anzumerken ist/sind X. Es muss kritisch angemerkt werden, dass X. Kritisch lässt sich anmerken, dass X. Es ist kritisch zu sehen, dass X. Zu bemängeln ist X(, dass X). Hier ist kritisch zu fragen, ob X. X kann kritisch hinterfragt werden. Eine/zwei/einige kritische Anmerkung(en) sei(en) aber erlaubt: […].
Wie die Beispiele zeigen, erfüllen diese Formulierungsmuster zwei Funktionen. Sie kündigen die zu vollziehende Handlung an und benennen gleichzeitig die Illokution der Handlung explizit: (53) Kritisch anzumerken sind terminologische Unschärfen. (Zinkhahn Rhobodes 2013: 340) (54) Kritisch zu sehen ist dahingehend sicherlich die überaus starke Konzentration auf den Objektbereich der englischen Sprache. (Schwarz 2013: 346) (55) Zwei kritische Anmerkungen zu den eingangs beschriebenen Lücken seien an dieser Stelle aber erlaubt: […]. (Meletis 2017: 114)
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Diese Formulierungen machen aber ebenfalls eine starke Adressatenberücksichtigung deutlich. Aus Rücksicht auf den Autor als sekundären Adressaten der Rezension, aber auch zum Zwecke der Selbstdarstellung wird die Relevanz der Kritik in gewisser Weise heruntergestuft, u. a. durch mehr Formulierungsaufwand (vgl. [53] und [54] anstatt z. B. Zu kritisieren sind/ist), durch höfliches Formulieren (vgl. [55]) oder durch die Instrumentalisierung anderer Handlungen, wie z. B.: (56) Ob es jedoch sinnvoll ist, […], kann kritisch hinterfragt werden. (Hartmann 2017: 69)
Die Handlung FRAGEN kann zum indirekten Vollzug verschiedener bewertender Handlungen genutzt werden (vgl. unten die Ausführungen zu ZWEIFELN). Aus diesem Grund geben Textproduzenten nicht selten ihre Intention explizit an: (57) Spätestens hier wird sich die kritisch gemeinte Frage stellen, ob das Gesagte, und falls ja, wie es in den sprachlichen Formulierungen des Idiotikons erkennbar sei. (Reichmann 2013: 364)
Wesentlich häufiger allerdings erfolgt das KRITISIEREN mithilfe von Formulierungen, mit denen das NEGATIVBEWERTEN heruntergestuft wird. Dabei wird ein positiv besetzter Bewertungsausdruck mithilfe von Adjektiven mit Intensitätspartikel-Funktion16 in seiner Wirkung abgeschwächt: X trägt wenig zu Z bei. X kann wenig dazu beitragen, Z zu klären. X ist wenig aussagekräftig. X erscheint/ist wenig hilfreich. X ist kaum nachzuvollziehen.
Beispiele für diese Art von Handlungsdurchführung sind (19), (20), (21), (22), (25) und (26). Um ein implizites KRITISIEREN handelt es sich in folgenden Fällen: Offen bleibt X. X bleibt unerwähnt. Unklar bleibt X. Es bleibt unklar, ob/wie X. Es bleibt ungeklärt, wie X.
|| 16 Zu den Adjektiven mit Intensitätspartikel-Funktion vgl. Zifonun, Hoffmann & Strecker (1997: 56).
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In X bleiben viele/folgende Fragen unbeantwortet. X ermöglicht keine Aussage über Z. X lässt zu wünschen übrig.
Hier wird mittels einer Feststellungshandlung der Grund für die Nicht-Erfüllung des Bewertungsmaßstabs genannt. Es handelt sich dabei entweder um die Nichtberücksichtigung eines Themas oder um eine – aus der Sicht des Rezensenten – unzureichende Klärung eines Aspekts des Themas bzw. eine nicht erfolgte oder eine nicht befriedigende Problemlösung und Ähnliches: (58) Unklar bleibt hierbei allerdings, welche Rolle genau dem Dialekt in der Schule zukommen soll. (Hasse 2015: 96) (59) Das Buch ist im Großen und Ganzen gut produziert, obwohl die graphische Qualität aller Karten […] zu wünschen übrig lässt. (Nerbonne 2015: 92) (60) Neben der für Tagungsbände offenbar unvermeidlichen „Zufallsauswahl“ der behandelten Themen lassen besonders die lexikografischen Beiträge zu wünschen übrig. (Rabanus 2012: 195)
Ebenfalls um ein indirektes KRITISIEREN handelt es sich bei Formulierungen, die die Emotionen Überraschung und Erstaunen thematisieren: Es verwundert allerdings, dass/weshalb X. Etwas verwundert (allerdings) X. Etwas/ein wenig befremdlich ist X(, dass X). (61) Es verwundert allerdings etwas, weshalb dieser […] Faktor sprachlichen Wandels nicht stärker in den Vordergrund gerückt wird. (Schwarz 2013: 346) (62) Auf diesen inhaltlichen Teil folgen […], was bei der Vielzahl der im Text eingeführten Fachbegriffe etwas verwundert. (Dürscheid 2012: 230) (63) Etwas befremdlich ist, dass Ehlich völlig ohne Literaturangaben auskommt und […]. (Ballweg 2015: 325) (64) […] das völlige Fehlen genuin romanistischer Beiträge ist ein wenig befremdlich. (Krefeld 2017: 2)
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b) VORWERFEN Für die Realisierung von Handlungen vom Typ VORWERFEN gibt es wesentlich weniger Formulierungsmuster als für KRITISIEREN. Zwischen VORWERFEN und KRITISIEREN besteht ein wesentlicher Unterschied: Während bei KRITISIEREN der Bewertungsmaßstab als nicht erfüllt gilt, wird bei VORWERFEN zum Ausdruck gebracht, dass der Bewertungsgegenstand den angewendeten Bewertungsmaßstab „hätte erfüllen können/müssen/sollen“ (Zhong 1995: 48). Ein Beispiel für den Vollzug von VORWERFEN ist das im Titel dieses Beitrags zitierte Formulierungsmuster Hier wäre es sinnvoller gewesen. Hundsnurscher (1997: 367) betrachtet den Vorwurf „als einen komplexen Sprechakt, der sich aus mindestens drei Komponenten zusammensetzt […]“: „[…] aus einer Feststellung, aus einer negativen Bewertung und aus der Zuschreibung von Verantwortlichkeit für den bestehenden Sachverhalt oder für eine bestimmte Handlung“. In wissenschaftlichen Rezensionen ist der Vorwurf äußerst selten direkt an den Autor adressiert,17 das Verantwortlichmachen aber ist in der spezifischen Kommunikationssituation impliziert. Die folgenden Beispiele zeigen typische Realisierungen des Handlungstyps, bei denen sich auch ein Sequenzmuster beobachten lässt: Zuerst wird KRITISIEREN vollzogen und erst dann VORWERFEN: (65) Besonders hier zeigt sich, dass Primus stellenweise in ihrer Einführung sehr komplexe und abstrakte Inhalte präsentiert. Die Methode der semantischen Dekomposition etwa […] dürfte außerhalb der Vorstellungswelt der meisten Studierenden liegen. Die Verfasserin ist sich dieser Problematik offensichtlich bewusst, wenn sie schreibt: „Wer sich für formale Semantik nicht interessiert, dann [sic!] dieses Unterkapitel überspringen“ (S. 44). Hier wäre es sinnvoller gewesen, die strukturellen rollensemantischen Ansätze aus der Betrachtung gänzlich auszuklammern. (Bechmann 2014: 7) (66) Auch das Argument, dass die Vorstellungstheorie nur funktionieren könne, wenn Vorstellungen rein objektiv seien, da (inter-)subjektive Vorstellungen unterschiedliche Bedeutungen erzeugten, kann nicht überzeugen, erfordert doch […]. […] Hier wäre es sinnvoller gewesen, die Argumentation auf (empirisch untermauerte) Ansätze zu stützen, die […]. (Hartmann 2017: 68) (67) Eine kritische Anmerkung sei aber doch erlaubt. Der Thematik der Attributsätze wird zwar an späterer Stelle ein eigenes Kapitel gewidmet […]. Didaktisch sinnvoller wäre
|| 17 Im Unterschied dazu referiert der Rezensent beim Vollzug von VORWERFEN in literarischen Rezensionen explizit auf den Autor (vgl. Zhong 1995: 48).
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es allerdings gewesen, nebensatzwertige Attribute im Rahmen der Klassifikation prototypischer Attribut-Formen bereits hier zumindest zu erwähnen. (Giger 2011: 180) (68) Beim zweiten Kapitel fragt man sich, warum grundlegende sprachwissenschaftliche Theorien wie die Generative Grammatik oder die Zeichentheorien von Peirce und Bühler als ein historisierendes Nacheinander aufgeführt werden müssen. […]. Ansätze hingegen, die eher von historischem Interesse sind […], sollte man eher weglassen. Stattdessen wären aus sprachvergleichender und soziolinguistischer Perspektive die Arbeiten […] sinnvoller gewesen, da […]. (Steinig 2011: 57) (69) Bei der Erörterung von Illokutionen vermisse ich die Fremdperspektive, die für einen fremdkulturellen Leser spannend gewesen wäre, besonders in Bezug auf indirekte Sprechakte zur Markierung von Höflichkeit. Auch bei der Vorstellung der Grice’schen Konversationsmaximen, die mit einer halben Seite zu kurz ausfällt (S. 248), wäre dieser Bezug sinnvoll gewesen. (Steinig 2011: 58)
Mithilfe des Formulierungsmusters es wäre sinnvoller gewesen bzw. hier wäre es sinnvoller gewesen UNTERBREITET der Rezensent einen hypothetischen, in der Regel nicht mehr realisierbaren VORSCHLAG. Indem er dies tut, gibt er dem Textrezipienten zu verstehen, dass es zu der Problemlösung des Autors, die zuvor negativ bewertet wird, eine andere, vom Rezensenten offensichtlich präferierte alternative Lösung gibt. Auf diese Art und Weise korrigiert er quasi die Problemlösung des Autors. Gleichzeitig – durch die Verwendung des Komparativs – stuft der Rezensent diese Problemlösung nicht als eine ganz und gar inadäquate Lösung ein, sondern als eine, die seinem Bewertungsmaßstab nicht ganz entspricht. Denn durch die Verwendung der Komparativform sinnvoller wird präsupponiert, dass die Problemlösung des Autors (doch) sinnvoll ist. Da also die Problemlösung des Autors nicht ganz abgelehnt wird, handelt es sich hier – im Vergleich zu KRITISIEREN – um eine mildere Form von NEGATIVBEWERTEN. „Entschärft“ wird das VORWERFEN auch dadurch, dass bei dieser Realisierung der Vorschlag des Rezensenten eher in den Fokus rückt als die Kritik, die an den Autor gerichtet ist. Auch der Gebrauch des Konjunktivs II trägt dazu bei. Der „Entschärfung“ des Vorwurfs, die durch diese Art der Handlungsdurchführung erfolgt, steht jedoch die stilistische Wirkung, die diese Handlungsdurchführung hervorruft, diametral entgegen. Hundsnurscher (1997: 365) weist darauf hin, dass VORWERFEN „sehr häufig eine inhärente aggressive Komponente“ enthält und aus diesem Grund den imagegefährdenden Sprechakten zuzurechnen ist. Zudem macht er auf die Expressivität dieses Handlungstyps aufmerksam: „Der Vorwurf
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[…] dient, so könnte man sagen, dem Ausdruck der Verärgerung über einen Sachverhalt oder eine Handlung an die Adresse des dafür Verantwortlichen“ (Hundsnurscher 1997: 369). Durch die hier beschriebene Handlungsdurchführung wird die Aggressivität des Vorwurfs abgeschwächt. Auf diese Art und Weise wird der Handlungsvollzug als weniger imagegefährdend für den Autor der Rezension empfunden. Dies wiederum wird als ein Indiz für das Bemühen des Rezensenten um eine positive Beziehungsgestaltung gedeutet. Eben diese positive Beziehungsgestaltung steigert jedoch das persuasive Potenzial der Handlungsdurchführung, sodass die Leser der Rezension eher dazu neigen, den Vorwurf des Rezensenten zu akzeptieren. Indirekter wird das VORWERFEN, wenn das Formulierungsmuster erweitert wird durch es stellt sich die Frage wie in folgenden Fällen: (70) Für einzelne Beiträge eigene Kapitel zu schaffen [sic!] erscheint hier sowohl unökonomisch als auch wenig hilfreich. Es stellt sich daher die Frage, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, die Kapitelüberschriften gleich ganz wegzulassen oder sie wenigstens allgemeiner zu halten. (Frick 2014: 41) (71) Diese Anweisung ist mit einer unzulässigen Verfahrensweise vergleichbar im Laufe einer statistischen Untersuchung aufgrund von negativen Resultaten die Richtung der Nullhypothese zu ändern. Es stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoller wäre, sich zuerst mit den einzelnen Datenpunkten zu beschäftigten und zu prüfen, inwiefern […] und ob […]. (Kelih & Mačutek 2011: 173)
Eine alternative Durchführungsmöglichkeit mit persuasiver Wirkung, die das VORWERFEN stärker entschärft, ist der Handlungsvollzug mithilfe des Formulierungsmusters Es wäre wünschenswert gewesen […], vgl.: (72) Graphische Darstellungen durch Schemata helfen dem Leser beim Verständnis. Es wäre allerdings wünschenswert gewesen, dass der Autor zumindest einige praxisbezogene Beispiele angeführt hätte. (Crestani 2014: 244) (73) Durch Verweise wird der Leser zu weiterführenden bzw. vorausgegangenen Erklärungen geführt. [neuer Absatz] Wünschenswert wäre es gewesen, manche Verweise zusätzlich im Text einzubringen; auch erfolgt keine visuelle Hervorhebung von Fachtermini im Text, was zwecks besserer Überschaubarkeit sinnvoll gewesen wäre. (Kämmerer 2014: 235–236) (74) Bei aller Vereinfachung, die für eine verständliche Darstellung der komplexen Thematik notwendig ist und für die der Verfasser zu Beginn des Buches um Nachsicht bittet
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(S. 13), wäre bei manchen Punkten doch eine etwas differenziertere Herangehensweise wünschenswert gewesen. (Hartmann 2017: 69)
Die Entschärfung des Vorwurfs bewirkt hier die Sprechereinstellung WÜNSCHEN. „Es wäre + positiver Bewertungsausdruck + gewesen“ zum Vollzug von entschärftem VORWERFEN scheint ein besonders produktives Formulierungsmuster zu sein. Im Korpus finden sich auch Formulierungen mit den Bewertungsausdrücken hilfreich, interessant und spannend: (75) Die tiefergehende Analyse von weniger Beispielen wäre möglicherweise hilfreich gewesen. Interessant wäre auch gewesen, der Frage nachzugehen, ob es erheblich ist, wenn es in allen Werbeanzeigen um Produktwerbung geht. (Heidermann 2014: 151–152)
c) ZWEIFELN Charakteristisch für den Handlungstyp ZWEIFELN ist, dass sich der Rezensent mit seiner Realisierung nicht darauf festlegt, ob der Bewertungsgegenstand den von ihm angewendeten Bewertungsmaßstab erfüllt. Der Rezensent „läßt aber erkennen, daß BG im Fall eines Vergleichs mit diesem BM diesen nicht erfüllen kann“ (Zhong 1995: 49). Für den Vollzug der Handlung gibt es wenige Formulierungsmuster: Verwendet werden – neben den illokutionsindizierenden Formulierungen X muss (daher) angezweifelt werden. X ist (zumindest) zu bezweifeln.
auch die Äußerungen Bei X fragt man sich Z. Bei X fragt man sich, warum/weshalb Z. Es stellt sich die Frage, ob X.
Mit deren Hilfe wird ZWEIFELN indirekt vollzogen, vgl.: (76) Beim zweiten Kapitel fragt man sich, warum grundlegende sprachwissenschaftliche Theorien wie […] als ein historisierendes Nacheinander aufgeführt werden müssen. (Steinig 2011: 57)
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(77) Es stellt sich allerdings die Frage, welchen Sinn solche Detailanalysen für den Sprachvergleich Deutsch-Italienisch haben […]. (Rabanus 2012: 195)
Es kann geschlussfolgert werden: Für die Handlung DISQUALIFIZIEREN, die zu einer Beziehungsverschlechterung führt, stehen Textproduzenten wissenschaftlicher Rezensionen keine Formulierungsmuster zur Verfügung. Ebenso gilt das für die Handlung KLAGEN. Die Handlung ZWEIFELN erweist sich – aufgrund der geringen Anzahl der vorgefundenen Formulierungsmuster – als fakultativ. Prototypisch für das Textmuster dagegen sind die negativ bewertenden Handlungstypen KRITISIEREN und VORWERFEN. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass das Herunterstufen des NEGATIVBEWERTENs von den Rezensenten eher präferiert wird als das explizite NEGATIVBEWERTEN. Dieses Ergebnis ist insofern relevant, als es zeigt, dass Rezensionen nicht kritischer sind als andere Textsorten der wissenschaftlichen Kommunikation. So stellt Steinhoff (2007: 372), der wissenschaftliche Zeitschriftenaufsätze aus den Bereichen Linguistik, Literaturwissenschaft und Geschichtswissenschaft untersucht, fest: „Die Analyse der Expertentexte zeigt zudem, dass […] direkte Kritikexplizierungen […] keineswegs die Regel sind. Der Großteil der Schreiber bemüht sich um eine höfliche und zurückhaltende Äußerung von Kritik.“ Die vorliegende Untersuchung bestätigt somit Steinhoffs (2007: 376) Schlussfolgerung: „Kritisiert wird, wie es in der Domäne üblich ist – und üblich ist eher eine abgetönte Kritik“.
5 Schluss Die Untersuchung ergibt, dass zum Vollzug bewertender Handlungen in wissenschaftlichen Rezensionen eine Vielfalt von Formulierungsmustern zur Verfügung steht. Es konnte gezeigt werden, dass es für eine Reihe von bewertenden Sprachhandlungstypen (LOBEN, ANERKENNEN, RÜHMEN, KRITISIEREN, VORWERFEN) eine Reihe von Mustern gibt. Dies ist als Indiz dafür zu deuten, dass diese Handlungen von den Textproduzenten am häufigsten präferiert werden. Sie können als prototypisch gelten. Für fakultative Handlungen dagegen besteht offensichtlich kein Bedarf an Mustern. Dies gilt in besonderem Maße für Handlungen, die eine negative Beziehungsgestaltung anzeigen wie ABRATEN und DISQUALIFIZIEREN. In ihrer Gesamtheit sind die oben aufgeführten Formulierungsmuster den „beziehungssensitive[n] sprachliche[n] Ausdrucksformen“ (Holly 2000: 1389) zuzurechnen. In ihrer Gesamtheit sind sie ein Indiz dafür, dass das Bemühen um
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eine positive Beziehungsgestaltung kennzeichnend für deutsche wissenschaftliche Rezensionen ist. Stumpf & Kreuz (2016: 1) machen darauf aufmerksam, dass feste Mehrwortverbindungen „kollektives Wissen und Mentalitäten kondensieren“. Dies gilt auch für die hier ermittelten Formulierungsmuster. Da davon auszugehen ist, dass verschiedene Kulturgemeinschaften über verschiedene Inventare an Formulierungsmustern verfügen, können Formulierungsmuster als tertium comparationis in kontrastiven Studien genutzt werden und auf diese Art und Weise Aufschluss über kulturspezifische Arten der Beziehungsgestaltung geben. In einer Pilotstudie (vgl. Petkova-Kessanlis 2017b) konnten beispielsweise wesentliche Unterschiede in der Beziehungsgestaltung zwischen deutschen und bulgarischen wissenschaftlichen Rezensionen – zum Teil aufgrund fehlender Formulierungsmuster für relevante bewertende Sprachhandlungstypen – konstatiert werden. Einschränkend muss allerdings gesagt werden, dass Formulierungsmuster zwar ein gutes, aber kein vollständiges Bild über die Art der Beziehungsgestaltung vermitteln können. Denn beziehungsbezogen sind auch andere sprachliche Mittel (vgl. Holly 2000: 1389). In Bezug auf die wissenschaftliche Rezension wären beispielsweise die Art und Weise des REFERIERENs auf den Autor der rezensierten Neuerscheinung sowie die Sequenzmuster beim BEWERTEN relevant (vgl. Petkova-Kessanlis 2017a).
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254 | Mikaela Petkova-Kessanlis
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Alexander Quack
Phraseme der „NS-Sprache“ Eine textlinguistische Untersuchung zur Verwendung von Phrasemen in ausgewählten Reden des NS-Agitators Joseph Goebbels Zusammenfassung: Anhand ausgewählter Reden des NS-Propagandaministers Joseph Goebbels widmet sich der folgende Beitrag der Frage, inwiefern der nationalsozialistisch geprägte Sprachgebrauch durch signifikante Phraseme gekennzeichnet ist. Die Untersuchungsgrundlage bildet ein aus 21 Texten bestehendes Korpus, dessen Analyse einerseits darauf abzielt, das phraseologische Inventar zu beschreiben und zu klassifizieren. Andererseits werden Überlegungen darüber angestellt, inwieweit die eruierten Phraseme das Potenzial eines „ideologischen Kondensators“ aufweisen. Letzterem liegt die im Rahmen der diskurslinguistischen Forschung erzielte Erkenntnis zugrunde, dass dem Transport von Mentalitäten vor allem Phraseme dienlich sind.
1 Einleitung Auf den ersten Seiten seines bis heute aktuell und unverzichtbar gebliebenen Werkes LTI1 – Notizbuch eines Philologen, das erstmals 1947 erschien, vermerkt Victor Klemperer vorausschauend, dass der Prozess der Entnazifizierung Deutschlands noch eine ganze Weile andauern wird, denn „zu verschwinden hat ja nicht nur das nazistische Tun, sondern auch die nazistische Gesinnung, die nazistische Denkgewöhnung und ihr Nährboden: die Sprache des Nazismus“ (Klemperer 2010: 10). Diese Sprache hält nun erneut vermehrten Einzug in unse-
|| 1 Eine Erklärung für den scheinbar rätselhaft klingenden Titel des Buches liefert der Autor im ersten Kapitel selbst: „LTI: Lingua Tertii Imperii, Sprache des Dritten Reichs. [...] Als parodierende Spielerei zuerst [Klemperer bezieht sich hierbei auf die zahlreichen, von den Nazis eingeführten Akronyme wie BDM, HJ oder DAF, Anm. von AQ], gleich darauf als ein flüchtiger Notbehelf des Erinnerns, als eine Art Knoten im Taschentuch, und sehr bald und nun für all die Elendsjahre als eine Notwehr, als ein an mich selber gerichteter SOS-Ruf steht das Zeichen LTI in meinem Tagebuch. Ein schön gelehrtes Signum, wie ja das Dritte Reich von Zeit zu Zeit den volltönenden Fremdausdruck liebte [...]“ (Klemperer 2010: 19).
DOI 10.1515/9783110602319-010
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ren Alltag, was jedoch nicht allein auf das Erstarken rechtspopulistischer Vereinigungen (AfD, PEGIDA) zurückzuführen ist; selbst Mitglieder demokratischetablierter Volksparteien scheinen nicht mehr davor zurückzuschrecken, sich des nazistischen Vokabulars zu bedienen: Unlängst sprach die CDU-Bundestagsabgeordnete Bettina Kudla von der Umvolkung Deutschlands. Dieser ursprünglich aus dem Nationalsozialismus stammende Begriff meinte die „Germanisierung deutschfreundlicher Bevölkerungsgruppen in eroberten Gebieten Osteuropas“ und versteht sich heute als von Rechtsextremisten verwendetes Schlagwort, das „die Migrationspolitik und den steigenden Anteil von Nichtdeutschstämmigen in der Bevölkerung“ zu kritisieren beabsichtigt.2 Der Thüringer AfD-Politiker Björn Höcke forderte in einer im Dezember 2015 veröffentlichten Rede gar die Änderung der Asylpolitik auf Grundlage evolutionsbiologischer Merkmale: Höcke sprach vom „lebensbejahenden afrikanischen Ausbreitungstyp“ sowie vom „selbstverneinenden europäischen Platzhaltertyp“ und implizierte damit, dass die „Gefahr“ einer afrikanischen „Überbevölkerung“ in Europa bestünde – nicht zu Unrecht werfen ihm Experten daher biologischen Rassismus vor, und zwar „auf einer Linie mit der Rassentheorie des Nationalsozialismus“; eine Sprecherin der Thüringer AfD-Landtagsfraktion kommentierte daraufhin, die Vorwürfe seien „an den Haaren herbeigezogen.“3 Was einem jedoch die Haare zu Berge stehen lässt, ist die Tatsache, dass sich der Sprachduktus Höckes kaum von jenem unterscheidet, der NS-Propagandaminister Joseph Goebbels eigen war. Diese Auffassung legt jedenfalls das Politmagazin Monitor nahe, das sich im Rahmen eines Videobeitrages mit dem Titel Höckes Reden – Goebbels’ Sound? dreier Reden bediente, um diverse Aussagen der beiden Agitatoren zu vergleichen.4 In seinen Reden gebrauchte Goebbels bspw. Wortverbindungen wie Deutschland den Deutschen oder solche, die, sich ständig wiederholend, das Nomen Volk akzentuieren,5 Wendungen also, die moderne rechtspopulistische Gruppierungen – NPD, PEGIDA, AfD – heutzutage bewusst wieder aufgreifen. Klemperer (2010: 9) sprach hinsichtlich des Begriffes der Entnazifizierung davon, dass er „versinken und nur noch ein geschichtliches Dasein führen [wird], sobald seine Gegenwartspflicht erfüllt ist“; der Kampf gegen den Nazismus, gegen seine || 2 Zitate aus: CDU-Abgeordnete spricht von „Umvolkung“, http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-09/cdu-bettina-kudla-nazi-sprech-umvolkung-twitter (26.09.2016). 3 Zitate aus: AfD: Höckes Lehre von den Menschentypen, http://daserste.ndr.de/panorama/aktuell/AfD-Hoeckes-Lehre-von-Menschentypen,hoeckeslehre100.html (26.09.2016). 4 http://www.tagesspiegel.de/politik/bjoern-hoecke-und-die-afd-ein-nazivergleich/12645220. html (28.09.2016). 5 Vgl. hierzu v. a. die in Heiber (1971: 3; 1972: 13) abgedruckten Reden Nr. 1 Appell an die Nation (Bd. 1) sowie Nr. 2 19.1.40 (Bd. 2): das (deutsche) Volk, unser Volk, im Volke etc.
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Gesinnung und Denkgewöhnung sowie insbesondere gegen seinen Nährboden, die Sprache, ist jedoch in vollem Gange. Die vorliegende Studie hat es sich daher zum Ziel gesetzt, die in den Reden des NS-Agitators Joseph Goebbels verwendeten Phraseme zu untersuchen: Dazu bedarf es der Analyse eines aus 21 Reden bestehenden Textkorpus, dessen Auswertung die Beschreibung und Klassifikation der vorgefundenen Phraseme vorsieht sowie darauf abzielt, ihre spezifischen Funktionen zu benennen. Wendungen wie Sieg Heil! oder Heil Hitler! sind bereits bekannte, aus der Zeit des Nationalsozialismus stammende und auch als solche klar zu identifizierende Wortverbindungen. Die Analyse des Korpus wird auch unter anderem zeigen, inwiefern die bereits geläufigen Einheiten ihre Verwendung finden, im Vordergrund wird jedoch die Frage stehen, ob sich die Reden des NS-Demagogen durch spezifische sowie rekurrente Wendungen auszeichnen. Außerdem soll untersucht werden, inwiefern bestimmte Phraseme über das Potenzial verfügen, als „ideologischer Kondensator“ zu wirken. Zu Beginn wird sich die Untersuchung um eine kurze Darstellung der theoretischen Grundlagen (Kapitel 2) – Zusammenhang zwischen Politik, Sprache und Phraseologie (Kapitel 2.1), Sprache in der Zeit des Nationalsozialismus (Kapitel 2.2), NS-Ideologie (Kapitel 2.3), Zusammenhang zwischen Sprache, Mentalität und Phraseologie (Kapitel 2.4) – bemühen, bevor die Ergebnisse der empirischen Analyse (Kapitel 3) im Zentrum der Betrachtung stehen: Nach Vorstellen des eigens zusammengestellten Textkorpus (Kapitel 3.1) sowie der quantitativen Ergebnisse (Kapitel 3.2) widmen sich die darauffolgenden Ausführungen der qualitativen Auswertung desselben, wobei einige der eruierten Phraseme hinsichtlich ihrer Form, Klasse und Funktion in den Blick genommen werden (Kapitel 3.3). Der letzte Abschnitt dient der Zusammenfassung der Forschungsergebnisse sowie dazu, einen Ausblick auf etwaige Forschungsfragen zu skizzieren (Kapitel 4).
2 Theoretische Grundlagen 2.1 Sprache der Politik, politische Reden und Phraseologie Im Rahmen der beiden Forschungsdisziplinen der Phraseologie und der Textsortenlinguistik, die eine Schnittstelle in der Erforschung der formelhaften Sprache
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in politischen Reden aufweisen, erscheint es aufgrund der relativ überschaubaren Anzahl an Publikationen6 und angesichts der aktuellen Relevanz durchaus sinnvoll, den Gebrauch polylexikalischer Einheiten in politischen Reden der NSZeit zu untersuchen. Neben Klemperers wegweisendem LTI sind bis heute zahlreiche Publikationen, darunter mehrere einschlägige Wörter-bücher und Monografien, über die Sprache im bzw. des Nationalsozialismus erschienen.7 Zwar existieren auch vereinzelte Beiträge, die sich mit nationalsozialistisch geprägten Wendungen auseinandersetzen,8 innerhalb der linguistischen Forschung stellen sie aber eher eine Seltenheit dar; Untersuchungen zur Verwendung von Phrasemen in politischen Reden der NS-Zeit fehlen hingegen gänzlich.9 Festzuhalten bleibt, dass es insgesamt wenige Arbeiten gibt, „die sich überhaupt mit dem Aspekt ‚Phraseologie in der Sprache von Politikern‘ – im Sinne des phraseologischen Inventars und seiner Funktion – befassen“ (Elspaß 2000: 262). Mit seiner Dissertation Phraseologie in der politischen Rede, die sich mit der Verwendung von Phraseologismen, phraseologischen Modifikationen und Verstößen gegen die phraseologische Norm befasst, lieferte Elspaß (1998) einen entscheidenden Beitrag zur Schließung der im Bereich Phraseologie und politische Sprache klaffenden Forschungslücke. Als textsortenspezifische Arbeit deckt sie jedoch nur einen Teilaspekt dieses Gebietes ab, da „sie lediglich die Textsorte ‚Parlamentsdebatte‘ untersucht“ (Elspaß 1998: 15). Ein Ergebnis der Studie – fast „ein Zehntel der untersuchten Wörter in den Bundestagsdebatten ist phraseologisch gebunden“ (Elspaß 1998: 103) – zeigt jedenfalls, dass Phraseme „keinesfalls als periphere oder gar exotische Erscheinungen in der politischen Rede zu betrachten“ (Elspaß 2000: 262) sind.10 Hinsichtlich der Verwendung phraseologischer Verbindungen in politischen Texten konstatiert Elspaß (2007: 290) fernerhin: || 6 Vgl. hierzu den in der Reihe Studienbibliographien Sprachwissenschaft (Bd. 40) erschienenen Beitrag von Donalies (2012: 39–40), der bezüglich des Forschungsschwerpunktes „Phraseologie und politische Sprache/Reden“ seit den 1980er Jahren lediglich sieben Publikationen enumeriert. 7 Vgl. hierzu (und siehe das dieser Arbeit zugrunde liegende Literaturverzeichnis) u. a. Sternberger, Storz & Süskind (1970); Schmitz-Berning (1998); Bork (1970); Braun (2007) oder – erst kürzlich erschienen – Maas (2016). 8 Vgl. hierzu den Aufsatz von Brunssen (2010) mit dem Titel „Jedem das Seine“. Zum Umgang mit nationalsozialistisch belasteten Wörtern und Wendungen in Deutschland seit 1945. 9 Vgl. hierzu auch Elspaß (2000: 264): „Die Phraseologie in nicht-demokratischen Parlamenten, wie etwa denen der NS-Zeit, bedürfte einer eigenen Untersuchung.“ 10 Vgl. Elspaß (2000: 262): Neben idiomatischen Redewendungen oder Sprichwörtern dominieren „auch eher unscheinbare Verbindungen“ wie Funktionsverbgefüge, mehrgliedrige Fachtermini oder Routineformeln.
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It has been demonstrated that an analysis of phrasemes in political texts provides an important link between a word-centred and a discourse-analytical approach to the study of political language. Non-idiomatic phrasemes play an important role in the grammatical structure and overall textual organization of political speeches, whereas idiomatic units not only contribute significantly to the style of a text, but also to cross-speaker and intertextual cohesion. The semantic and pragmatic potential of phrasemes in a text deserves particular attention. Moreover, the creative use of phraseological modification can be an effective linguistic device in political discourse [...].
In einem für das Forschungsfeld ebenfalls relevanten Beitrag untersucht Pérennec (1999: 135) die „intendierte pragmatische Wirkung des Idioms in der politischen Rede, und dies unter einem dreifachen Aspekt“. Zum einen zeigt die Studie auf, dass der Redner bewusst auf Idiome zurückgreift, um ein gewisses Image zu transportieren: „Durch das Spiel mit Idiomen legt der Redner eine besondere Gewandtheit an den Tag, er zeigt sich als Meister der Sprache und gewinnt somit die Gunst bzw. die Bewunderung des Publikums“ (Pérennec 1999: 135). Zum anderen wird untersucht, inwiefern die Verwendung des Idioms das zwischen Redner und Publikum bestehende Beziehungsgefüge beeinflusst: Idiome dienen etwa nicht allein dazu, „die Solidarität der Gruppe wachzurufen [oder] aufrechtzuerhalten“, sie werden darüber hinaus „bevorzugt für die Disqualifizierung der politischen Gegner gebraucht“ (Pérennec 1999: 138). Der letzte Aspekt bezieht sich in Anlehnung an Lüger (1993) auf die Funktion des Idioms als Argumentationshilfe bzw. Argumentationsersatz (vgl. Pérennec 1999: 139–140). Diesbezüglich nimmt Lüger (1993) neben idiomatischen Wendungen (Knüppel zwischen die Beine werfen) auch Sentenzen, sprich satzwertige Phraseme (Gemeinplätze, Sprichwörter), sowie tautologische Sätze (Krieg ist Krieg; was zuviel ist, ist zuviel) in den Blick. Letztere dienen nämlich „der zusätzlichen Hervorhebung oder Rechtfertigung einer vorausgehenden oder nachfolgenden sprachlichen Handlung“ (Lüger 1993: 263). Hinsichtlich der idiomatischen Wendungen wird darauf verwiesen, dass mit ihrem Gebrauch „zwar keine vollständigen Argumentationshandlungen vollzogen“ werden, allerdings „können sie als Verstärker oder ‚Katalysatoren‘ einzelner Handlungen [...] die Ausrichtung und den Erfolg einer Argumentation mit beeinflussen“, da sie insbesondere „zur Verdeutlichung gegebener Positionen bei[tragen]“ (Lüger 1993: 269). Der Sentenzen hingegen bedient sich ein Sprecher dann, wenn eine „allzu lange argumentative Herleitung“ (Lüger 1993: 269) umgangen werden soll – demnach eignen sich Phraseme nicht nur für kommentierende Zwecke, sie übernehmen darüber hinaus die Funktion einer „Schlußregel“ und fungieren als aufmerksamkeitsfördernde (v. a. in der Texteröffnung und -beendigung) sowie beziehungs- und imagegestaltende Mittel (vgl. Lüger 1993: 279).
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2.2 Sprache in der Zeit des Nationalsozialismus 2.2.1 Zur zeitlichen Differenzierung, Problematik und Spezifik Mit der Zeit des Nationalsozialismus wird im engeren Sinne der Zeitraum vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 bezeichnet – gemeint ist also jene Epoche der deutschen Geschichte, die mit dem Tag der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ oder der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler begann und mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg endete (vgl. Maas 2000: 1980). Die Analyse der in dieser Zeit vorherrschenden sprachlichen Verhältnisse sollte wiederum von weiteren, innerhalb der NS-Diktatur voneinander abgrenzbaren Zeitabschnitten abhängig gemacht werden, weil „sich die Selbstdarstellung des Regimes und die Loyalitätsprobleme der Bevölkerung im Verlaufe der Entwicklung von 1933 bis 1945 sehr unterschiedlich darstellten“ (Maas 2000: 1981). Zu unterscheiden sind folgende Phasen: erstens, die Zeit des noch nicht gefestigten Regimes (1933–1935); zweitens, der die Weltkriegsvorbereitung umfassende Zeitraum von 1936 bis 1938; drittens, die von 1939 bis 1942 andauernde Phase der „raschen Expansion des NS-Machtbereiches“ (Maas 2000: 1981) während des Weltkrieges sowie viertens, jene Phase der „sich abzeichnenden Niederlage im Osten“ (Maas 2000: 1981) ab 1943 und letztendlich der fünfte Zeitabschnitt, der sich auf das innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches abspielende Kriegsgeschehen beschränkt. Widmet sich eine sprachgeschichtliche Untersuchung nun dem Sprachgebrauch des faschistischen Deutschlands, bedarf es dabei der Unterscheidung zwischen „Sprache des Nationalsozialismus“ und „Sprache im Nationalsozialismus“: Ersteres meint demnach den durch die NSDAP geprägten Sprachgebrauch seit 1920 (Gründungsjahr der Partei), wohingegen letzteres zudem die Alltags-, Fach- bzw. Gruppensprache(n) sowie die verschiedenen Traditionen politischer Sprache, welche auf die deutsche Variante des Faschismus Einfluss nahmen, miteinbezieht (vgl. von Polenz 1999: 547; Forster 2009: 7). Schlosser (2013: 10) plädiert mit Verweis auf Klemperers LTI dafür, von der Sprache des Nationalsozialismus zu sprechen, „weil die Sprache im Dritten Reich [...] insgesamt so sehr infiziert war, dass sich [...] selbst der Widerstand den Wirkungen [...] des sogenannten Offizialidioms [...]“ nicht gänzlich zu entziehen vermochte. Und obwohl das Jahr 1933 keine „scharfe sprachgeschichtliche Zäsur“ (Schlosser 2013: 9) bedeutete, wird der Nationalsozialismus innerhalb der germanistischen Sprachwissenschaft bis heute kontrovers diskutiert (vgl. von Polenz 1999: 547). Hinsichtlich der Frage, inwiefern die Sprache im/des Nationalsozialismus überhaupt ein
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sprachwissenschaftlicher Gegenstand sei, konstatiert Maas (2000: 1982; Hervorhebung im Original) unter Berücksichtigung der Saussureschen Dichotomie von Sprachsystem und Sprachverwendung: Geht man von dem für die neuere Sprachwissenschaft grundlegenden Gegenstandsverständnis von Sprache als langue (also in der Differenz zu anderen langues) aus, kann man die Frage eher verneinen. Die hier zu betrachtende Phase der dt. Sprachgeschichte von nur 12 Jahren ist zu kurz (erheblich weniger als eine Generationsspanne), um nachhaltige Spuren im System der dt. Sprache (Phonologie, Morphologie, Syntax) zu hinterlassen.
Auch wenn darüber hinaus die Bereiche der Argumentationsformen und der Prosodie keinen spezifisch nationalsozialistisch geprägten Sprach- und Sprechstil aufweisen (vgl. von Polenz 1999: 553), gelten wohl dennoch folgende Aspekte als lexikalische Stilistika des NS-Sprachgebrauchs: absolut, nie dagewesen, total, voll und ganz, aus-/gleichschalten, säubern etc. bezeichnet von Polenz (1999: 554) als „Adjektive, Adverbien und Verben des Totalitarismus“; hervorgehoben werden außerdem der häufige Gebrauch von Superlativen und Hyperbeln, der „typisierende Singular“ (von Polenz 1999: 554) als stereotype Sammelbezeichnung (der Jude, die deutsche Frau), die durch Negationspräfixe bedingte „vage Ideologisierung“ (von Polenz 1999: 554) (undeutsch, nichtarisch, entartet) sowie die im totalitären Sprachgebrauch etablierte Gewohnheit, „abstrakte Substantive als ‚Leerformeln‘ ohne ihre satzsemantischen Bezugsgrößen zu verwenden“ (von Polenz 1999: 554): unser Glaube (woran?), unsere Pflicht/Entschlossenheit (wozu?) etc. Neben einer vom Nominalstil dominierten Ausdrucksweise zeichnete sich der deutsch-faschistische Sprachstil ebenfalls dadurch aus, dass diverse Metaphern- und Begriffsfelder bedient wurden, insbesondere in Bezug auf die Bereiche Technik, Militär, Krieg und Kampf, Biologie, Sport und Religion (vgl. Braun 2007: 223–224). Nun ließen sich weitere stilistische, lexikalische und auch syntaktische Merkmale herausarbeiten, die wohl der Charakteristik des nazistischen Sprachduktus entsprächen, betrachtet man jedoch die größeren sprachgeschichtlichen Zusammenhänge, fällt auf, dass der für die Nationalsozialisten als typisch geltende Sprachgebrauch keinesfalls als autonomes, originäres Phänomen zu begreifen ist (vgl. Braun 2007: 225). Vielmehr speist er sich aus völkischromantisch, rassenideologisch, radikal-nationalistisch, antidemokratisch sowie antisemitisch geprägten Überlegungen, deren Ursprünge „an der Wende zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert [liegen und] [...] erst später in das krude anti-
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semitisch-rassistische Gemisch der Hakenkreuz-Ideologie [münden]“ (Kashapova 2005: 34).11 Die Wurzeln nazistischen Sprechens, wobei das Vokabular des Judenhasses, der Eugenik bzw. der Rassenbiologie überwiegt, versucht Hoffend (1987: 268–274) anhand einiger „Vorläufer“ greifbar zu machen und verweist neben Martin Luther, Immanuel Kant, Johann Gottfried Herder und Richard Wagner12 u. a. auf Paul de Lagarde (1827–1891) – ihm waren die Juden undeutsch, Trichinen und Bazillen –, Joseph Arthur de Gobineau (1816–1882) – der für den Missbrauch des Begriffes Arier verantwortlich ist – sowie Eugen Dühring (1833– 1921), der die romantisch-mystifizierende Vorstellung vom Volksgeist, Volkskörper und Volksinstinkt prägte, hinsichtlich der „Judenfrage“ von Internierung, Deportation und anderen „Lösungen“ sprach und die Koppelung der Termini national und sozial zu nationalsozial zu verantworten hat. Dass Klemperer (2010: 29) die Sprache des Dritten Reiches als „bettelarm“ deklariert, ist – wie zu zeigen versucht wurde – insofern zutreffend, als die Nationalsozialisten tatsächlich die wenigsten ihrer Worte selbstschöpferisch prägten, selbst solche Ausdrücke wie Entartung oder Volksgemeinschaft sind nachweislich keine von ihnen konstruierte Begriffe (vgl. Braun 2007: 226). Das, was jenem Sprachgebrauch die nazistische und scheinbar neuartige Prägung verlieh, war die emotional aufgeladene, „rationales Denken verhindernde Stilmischung“ (von Polenz 1999: 554) sowie die enorme Verbreitung dieser Sprachform und ihr Eindringen in Lebensbereiche, die vor der NS-Diktatur vom politischen Sprachgebrauch unberührt blieben (vgl. Braun 2007: 227). Zwecks ideologischer Durchdringung der Bevölkerung fungierte die propagandistisch organisierte Sprachlenkung13 als unerlässliches Instrumentarium nationalsozialistischer Machtausübung. Schlosser (2013: 392–395) verweist diesbezüglich auf mehrere „ineinandergreifende Methoden der Sprachlenkung“ (Schlosser 2013: 392), von denen im
|| 11 Vgl. hierzu auch Klemperer (2010: 161): „Denn alles, was den Nazismus ausmacht, ist ja in der Romantik keimhaft enthalten: die Entthronung der Vernunft, die Animalisierung des Menschen, die Verherrlichung des Machtgedankens, des Raubtiers, der blonden Bestie [...].“ 12 Vgl. hierzu Hoffend (1987: 263–268): Luther bezeichnete das Judentum als „das boshafte, halsstarrige Volk“; Kant prägte den Begriff der Euthanasie des Judentums sowie durch die Eugenik inspirierte „Wortkompositionen mit -artung bzw. -arten“ und übertrug den Begriff der raçe auf den Menschen; für Herder war das jüdische Volk „eine parasitische Pflanze auf dem Rücken der Völker“ und der als Vorbild Hitlers geltende und als Antisemit bekannte Wagner sprach von der „Verjudung der modernen Kunst“. 13 Vgl. hierzu Kashapova (2005: 39): „Der Sprachgebrauch wird gelenkt durch rigide Presseverordnungen und Selbstzensur, so dass zumindest die öffentliche Sprache in den zwölf Jahren des Terrors doch noch Konturen annimmt, die mit Hitlers Propagandatheorie in vielen Punkten übereinstimmen.“
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Folgenden (und in aller Kürze) einige aufgegriffen werden sollen: Im Sinne des um Adolf Hitler betriebenen Führerkultes sowie des NS-Selbstverständnisses wurden bspw. die Autosemantika deutsch, Vaterland, Großdeutsches Reich oder Führer als „Hochwertwörter monopolisiert“ (Schlosser 2013: 392). Mit Blick auf die biologistische Fixierung der Nationalsozialisten dienten Begriffe wie Arier, Germane(n) oder Volksgemeinschaft dazu, der „Aufartung“ (Schlosser 2013: 392) des deutschen Volkes Rechnung zu tragen. Gleichzeitig erfuhren solche Ausdrücke, die der NS-Weltanschauung zuwider waren, eine Tabuisierung: Demokratie, Versailler Friede oder Bolschewismus durften nur noch abwertend, pejorativ verwendet werden und alles mit dem Attribut „jüdisch“ Gekennzeichnete wurde im Sinne des „Minderrassigen“ (Schlosser 2013: 395) stigmatisiert (Kennzeichnung der Juden als Bazillen, Parasiten etc.). Im Kontext der Sprachlenkung nahmen Euphemismen eine besondere Stellung ein, denn ihr Gebrauch zielte insbesondere im militärischen Bereich sowie in Bezug auf die im Namen des Nationalsozialismus begangenen Gewaltverbrechen darauf ab, bestimmte Sachverhalte zu verschleiern bzw. zu verhüllen (vgl. Forster 2009: 293).14
2.2.2 Der Agitator Goebbels Was war das stärkste Propagandamittel der Hitlerei? Waren es Hitlers und Goebbels’ Einzelreden, ihre Ausführungen zu dem und jenem Gegenstand [...]? [...] Nein, die stärkste Wirkung wurde nicht durch Einzelreden ausgeübt, [...] sie wurde durch nichts erzielt, was man mit bewußtem Denken [...] in sich aufnehmen mußte. Sondern der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang, und die mechanisch und unbewußt übernommen wurden. (Klemperer 2010: 25)
Dass Goebbelsʼ Reden „von einer starken Orientierung an rhetorischen Prinzipien zeugen“ (Braun 2007: 415), gilt es wohl oder übel zu berücksichtigen, wenn man die Wirkung nazistischer Propaganda zu beschreiben versucht. In erster Linie war Goebbels „der rhetorische Katalysator der Parteidoktrin [...] und oft genug [...] nur die eloquente Stimme [...] [Hitlers]“ (Schlosser 2013: 47). Auch der von ihm ausgeübte Einfluss auf die ideologische Ausrichtung der nationalsozialisti-
|| 14 Vgl. hierzu Forster (2009: 4): „[D]ie Verwendung ‚vaterlandsfeindlicher‘ Formulierungen wie ‚er ist in Russland jämmerlich gestorben‘ statt ‚er ist in Russland heldenhaft vor dem Feinde gefallen‘ [...] [konnte Bestrafungen wie das] Zuchthaus oder [gar den] Tod nach sich ziehen.“
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schen Bewegung blieb eher belanglos, seine journalistische sowie rhetorisch-demagogische Begabung sollte allerdings nicht unterschätzt werden: So schöpfte er im Rahmen der größtenteils von ihm organisierten NS-Massenveranstaltungen alle Möglichkeiten der Lautsprecher- und Übertragungstechniken aus, er inszenierte Hitlers Auftritte auf prunkvoll-systematische Weise und selbst der Rundfunk wurde von der Goebbels’schen Propaganda instrumentalisiert, um das Gepränge der NS-Diktatur zu entfalten (vgl. Schlosser 2013: 48–49). Mit seinen zahlreichen Reden hatte der Propaganda-Minister entscheidenden Anteil an der Herausbildung und Etablierung des pseudoreligiös betriebenen Hitlerkultes, jenes Phänomens also, das seit den 1930er Jahren die wesentliche Kohäsionskraft des Nationalsozialismus erzeugte (vgl. Broszat 1980: 14). Hierbei zielte Goebbels jedoch „nicht auf das rationale Überzeugen seiner Adressaten [...], sondern [vielmehr] auf emotionales Überreden [ab]“ (Braun 2007: 415). Inwiefern sich jene emotional-persuasive Einstellung auf textueller Ebene widerspiegelt, verdeutlicht Braun (2007: 359–417) in seiner Untersuchung, im Rahmen derer Goebbelsʼ Rede „Die Juden sind schuld“ einer klassischen Stilanalyse unterzogen wird. Darüber hinaus lassen die dabei erzielten Erkenntnisse die Schlussfolgerung zu, dass zumindest jener Text die Stilistika nationalsozialistischen Sprachgebrauchs aufweist, womit er „als zentrales Exemplar [in die] [...] Kategorie ‚NS-Stil‘“ (Braun 2007: 414) einzuordnen wäre: Zahlreiche hyperbolische Elemente, realisiert durch die weniger offensichtliche Form der Dopplungen und Reihungen, die Tendenz zu einer nominalen Ausdrucksweise, die „Macht“ und „Gewißheit“ suggeriert, einige rhetorische Figuren, eine Syntax von mittlerer Komplexität, Symbolwörter der nationalsozialistischen Ideologie, die Wahl von Ausdrücken aus den Bereichen der Biologie, des Kampfes und der Religion, schließlich das schier endlose Wiederholen der immer gleichen Behauptungen, das an die Stelle der Erklärung tritt [...]. (Braun 2007: 414)
2.3 Zur Ideologie des Nationalsozialismus Im weitesten Sinne bezeichnet der Begriff Ideologie solche Auffassungen, „die sich als die allein wahren verstehen, alle anderen als falsch und als der Wahrheit feindlich hinstellen, die es daher zu bekämpfen gilt“ (Straßner 1987: 1). Unter einer politischen Ideologie im engeren Sinne versteht Freeden (2003: 32) hingegen „a set of ideas, beliefs, opinions, and values that (1) exhibit a recurring pattern, (2) are held by significant groups, (3) compete over providing and controlling plans for public policy, (4) do so with the aim of justifying, contesting or changing the social and political arrangements and processes of a political community“:
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(1) Die nationalsozialistische Weltanschauung basierte im Wesentlichen auf einem radikal-fanatischen Antisemitismus, auf der Bekämpfung des Marxismus sowie auf dem außenpolitischen Ziel, „Lebensraum im Osten“ zu erobern – gebündelt wurden diese NS-ideologischen Grundpfeiler durch die sozialdarwinistische Vorstellung, das Dasein beruhe auf dem ewigen Kampf der Rassen zur Auslese des Stärkeren (vgl. Broszat 1970: 399–400). (2) Bezüglich der significant groups, derer es laut Freeden (2003) bedarf, damit eine politische Ideologie ihre Repräsentation erfährt, sei angesichts des Nationalsozialismus auf die Soldaten der Wehrmacht, die Mitglieder der Sturmabteilung (SA) und der Schutzstaffel (SS) sowie auf die Anhänger der NSDAP verwiesen. Im Dienste der menschenverachtenden NS-Ideologie waren während des Zweiten Weltkrieges sowohl Angehörige der SS als auch Soldaten der Wehrmacht für zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich. Dass die Wehrmacht als ideologische „Trägergruppe“ des Nationalsozialismus taxiert werden kann, liegt ferner in dem von den Wehrmachtssoldaten geleisteten Führereid begründet, der die Eidleistenden nicht auf die Verfassung, sondern auf die Person Adolf Hitlers schwören ließ (vgl. Thamer 2005; Vogel 2015). (3) Gemäß der nazistischen Weltanschauung sei das deutsche Volk als arische Herrenrasse allen niederen Rassen überlegen, weshalb die als minderwertige Schmarotzer, Bazillen und Parasiten diffamierten Juden, die für die Vergiftung des deutschen Volkskörpers verantwortlich seien, rücksichtslos bekämpft werden müssten (vgl. Wippermann 1997: 14). Daran anknüpfend wurde die romantisierte Vorstellung von einer rassisch homogenen, klassenlosen Volksgemeinschaft entworfen, innerhalb derer das Individuum die Verpflichtung eingeht, sich dem Kollektiv beziehungsweise dem Führerprinzip völlig unterzuordnen. (4) In ihrer antidemokratischen, antiinternationalistischen Grundhaltung forderten die Nationalsozialisten anfangs, die infolge der November-Revolution ausgerufene Republik abzuschaffen, die Friedensverträge von Versailles zu annullieren und anstelle der parlamentarischen Demokratie eine „starke[] Zentralgewalt des Reiches [...] [mit] [u]nbedingte[r] Autorität“15 (Kühnl 1977: 108) zu errichten.
|| 15 Bei der hier zitierten Passage handelt es sich nicht um eine von Kühnl gewählte Formulierung, sondern um einen Auszug aus dem in seiner Quellensammlung (1977: 105–108) abgedruckten Parteiprogramm der NSDAP vom 25.02.1920.
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Der Nationalsozialismus ist als sogenannte „Ausdrucksideologie“ (Lenk 1971: 31– 36) zu verstehen, weil er die Gemeinschaft der Masse zu mobilisieren versuchte, mit der Propaganda vom Volkskörper zersetzenden Juden ein Freund-FeindSchema entwarf, durch mythische Gebilde wie Volk oder Rasse überwiegend an das Emotionale als weniger an das Rationale appellierte und in Form einer Untertanen-Mentalität eine Person zum nationalen Übersubjekt stilisierte. Die in einer Ausdrucksideologie zum Tragen kommenden Termini (wie völkisch oder Blut und Boden) zeigen hierbei, dass es weniger „auf eine rationale Rechtfertigung des nationalen Willens ankommt, […] sondern vielmehr auf [die] [...] narzißtische Akklamation des nationalen Selbstbehauptungswillens“ (Lenk 1971: 34).
2.4 Mentalität, Sprache und Phraseologie [...] Beobachtung von Sprachgebrauch [ist] ein Königsweg der wissenschaftlichen Erkenntnis von Mentalitäten. (Hermanns 1995: 71)
Unter linguistischer Anthropologie, die – bezogen auf einen eingeschränkten Zeitraum – nach „Menschenbildern von bestimmten Sprechergruppen und bestimmten Gruppensprachen“ (Hermanns 1994: 32) fragt, soll keine neue Disziplin begriffen werden, vielmehr versteht sich der Terminus als Hinweis „auf eine Fragestellung und Thematik der historischen Semantik“ (Hermanns 1994: 32). Dabei verfolgt die „linguistisch-philologische historische Beschreibung sprachgeprägter Menschenbilder“ (Hermanns 1994: 32) das Ziel, Aufschluss über „bestimmte, einzelne Diskurse ganz bestimmter einzelner Epochen oder Augenblicke“ (Hermanns 1994: 32) zu geben, womit zusammenhängt, dass sich der Blick über die Einzelwortbetrachtung hinaus auf die „Zusammenhänge zwischen Wörtern [...] [und] den Wandel der Bedeutung ganzer Wortverbände“ (Hermanns 1994: 33) richtet. Im Kontext seiner Ausführungen über den Begriff der linguistischen Anthropologie macht Hermanns (1994) auch Bestimmungen darüber, was unter linguistischer Mentalitätsgeschichte verstanden werden soll: Demnach sind Mentalitäten „Dispositionen [...] des ‚Denkens, Fühlens, Wollens‘ in sozialen Gruppen [...], eben das, was sich in Sprache, insbesondere in Wörtern, ausdrückt“ (Hermanns 1994: 55). Sprachgeschichte kann demzufolge auch Mentalitätsgeschichte sein, weil sich die auf jene Kategorien (Kognitionen, Emotionen, Intentionen) bezogenen Veränderungen vor allem auf sprachlicher Ebene (Sprachgebräuche) manifestieren – im Sinne der linguistischen Mentalitätsgeschichte sind Wörter, metaphorisch gesprochen, also „Vehikel von Gedanken“ (Hermanns 1994: 55).
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Wie Stumpf (2016) darlegt, verfügen jedoch nicht allein Wörter über das Potenzial, Gedanken zu kondensieren und zu transportieren, sondern auch der Phrasemgebrauch „zeigt kollektives Denken, Fühlen, Wollen einer Sprachgemeinschaft“ (Hermanns 1995: 71), weshalb feste Mehrwortverbindungen gleichermaßen als Vehikel von Gedanken zu analysieren seien (vgl. Stumpf 2016: 101–102). Im Rahmen diskursanalytischer Studien stellen Phraseme dennoch einen bislang kaum beachteten Untersuchungsgegenstand dar (vgl. Stumpf 2016: 108), was wohl hauptsächlich darin begründet liegt, dass der Text für gewöhnlich als „oberste Grenze phraseologischer Forschung“ (Stumpf & Kreuz 2016: 2) angesehen wird. Die Ausführungen von Stumpf & Kreuz (2016) haben allerdings gezeigt, dass Phraseme sehr wohl ein diskursmarkierendes bzw. diskursbildendes Potenzial aufweisen und als „musterhafte, rekurrent auftretende sprachliche Strukturen die Schnittmenge diskurslinguistischer und phraseologischer Forschung bilden“ (Stumpf & Kreuz 2016: 30). Daher schlagen Stumpf & Kreuz (2016: 17) den Begriff des „epistemischen Kondensators“ vor, um auf das Potenzial von Mehrwortverbindungen hinzuweisen, wonach sich in ihnen kollektives Wissen und Mentalitäten kondensieren – mit Blick auf die durch den Nationalsozialismus geprägte Sprache erscheint es m. E. sinnvoll, Phrasemen demzufolge das Potenzial eines „ideologischen Kondensators“ zuzuschreiben (siehe hierzu Kapitel 3.3): Mit jenem Begriff soll dem Umstand Ausdruck verliehen werden, dass sich der nationalsozialistisch gelenkte Sprachgebrauch durch solche Mehrwortverbindungen auszeichnete, die der Verbreitung der kruden NS-Ideologie dienlich waren, denn [i]deologies compete over the control of political language as well as competing over plans for public policy; [...] [i]deologies contain special words [...] [and] [t]hese words signify political concepts. (Freeden 2003: 55, 51)
Unter Bezugnahme auf Theodor Geiger verweist Hermanns (1995) auf die in der Soziologie vorgenommene Differenzierung zwischen Mentalitäten und Ideologien, gleichzeitig betont er jedoch auch deren reziproken Zusammenhang, wenn konstatiert wird: „Einerseits entstehen Ideologien aus Mentalitäten, insbesondere dann, wenn eine ‚Krise‘ dazu Anlaß gibt, andererseits hinterlassen Ideologien in Mentalitäten ihre Spuren in Gestalt von Ideologemen“ (Hermanns 1995: 78). Die Affinität von Ideologien und Mentalitäten erkläre sich aufgrund von bestimmten Topoi, also in Anbetracht jener „sprachlich manifesten Überzeugungen und Glaubensinhalte, die das habituelle Denken und Reden einer Gruppe unablässig wiederholt“ (Hermanns 1995: 77–78).
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3 Empirische Analyse 3.1 Korpus und Methode Das zu untersuchende Textkorpus umfasst 21 „monologische Reden“ (Pérennec 1999: 134), die der NS-Agitator Joseph Goebbels zu verschiedenen Anlässen (Führer-Geburtstag, Begräbnisse, Jahrestage etc.) zwischen 1932 und 1945 gehalten hat. 20 dieser Reden entstammen der zweibändigen Ausgabe (Bd. I 1971; Bd. II 1972) des im Jahre 2003 verstorbenen Historikers Helmut Heiber. Ein wesentlicher Vorteil dieser Quellensammlung besteht neben der oftmals genauen Datierung der Reden darin, dass sie näher spezifiziert (Appell, Eröffnungsrede, Rundfunkansprache etc.), chronologisch geordnet sowie mit weiterführenden Anmerkungen versehen sind. Untersucht wird weiterhin eine umfangreichere, den Titel Unser Hitler tragende Rede, die dem zeitgenössischen Konvolut Signale der neuen Zeit entnommen ist. Unter der bereits erwähnten „monologischen Rede“ versteht sich eine solche Rede, „die [...] vorbereitet wurde, [zumeist] auf eine schriftliche Fassung zurückgeht [...] [und somit] auf eine sorgfältige, zumindest reflektierte Auswahl des sprachlichen Materials schließen läßt“ (Pérennec 1999: 134). Der Analyse liegen zwar keine stenographischen Berichte zugrunde, die etwaige Reaktionen der Zuhörerschaft erfasst hätten, allerdings liefern vereinzelte Einschübe des Editors Hinweise auf die Wirkung bestimmter Wendungen und Sätze: „Zwar stimmt das nicht mit der Hundepeitsche, aber was nicht ist, das kann noch werden! [Jubel, Beifall.]“ (Goebbels 1971: 57). Im Folgenden wird die Frage im Zentrum stehen, inwiefern bestimmte Phraseme die Funktion eines „ideologischen Kondensators“ erfüllen.16 Nun verhält es sich mit Blick auf die politischen Reden Goebbelsʼ so, dass einigen Phrasemen bestimmte ideologische Maximen des Nationalsozialismus immanent sind. Als Säulen der nationalsozialistischen Ideologie wären in diesem Kontext die vor allem antidemokratische und radikal-antisemitische Grundhaltung, das quasireligiös aufgebauschte Führerprinzip, der auf dem Sozialdarwinismus beruhende Rassenwahn sowie die damit einhergehende Vorstellung von einer rassisch-homogenen Volksgemeinschaft zu nennen.
|| 16 Vgl. hierzu Stumpf & Kreuz (2016: 17–18): „[Ein] Phrasem besitzt das Potenzial, als – wie wir es nennen [...] – epistemischer Kondensator zu wirken. [...] – man könnte sagen: es kondensieren sich das kollektive Wissen und die Mentalitäten der Akteursgruppen [einer] Domäne innerhalb eines einzelnen Phrasems.“
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3.2 Quantitative Ergebnisse Die Korpusanalyse17 ergab einen phraseologischen Gesamtbestand von insgesamt 481 Phrasemen, was bei 21 Texten einem Durchschnitt von rund 23 mehr oder weniger festen Mehrwortverbindungen unterschiedlicher Idiomatizitätsgrade pro Rede entspricht. Die Klassenzuordnung der Phraseme erfolgte unter Rekurs auf Burger (2015: 38–58) und Stumpf (2015: 47–49), wobei bestimmte Erscheinungen aufgrund ihrer mentalitätsspezifischen Gebundenheit unter dem Begriff der NS-Parole subsumiert wurden. Im Verhältnis zum phraseologischen Gesamtbestand stellen die Kollokationen mit 44% (z. B. Krieg führen) die am häufigsten auftretende Phrasemklasse dar; einen weiteren Anteil decken onymische Phraseme (9%, z. B. der Führer), Paarformeln (8%, z. B. Front und Heimat), Idiome (8%, z. B. Phantomen nachjagen) und Funktionsverbgefüge (6%, z. B. etw. in Ordnung bringen) sowie Routineformeln18 (5%, z. B. Leb wohl) und gesprächsspezifische Formeln (5%, z. B. ich glaube) ab.19 Neben der am häufigsten auftretenden Kollokation das (ganze) (deutsche) Volk fallen insbesondere die für Goebbelsʼ Reden typische Routineformel Meine (deutschen) Volksgenossen und Volksgenossinnen!, die mehrgliedrige Paarformel Arbeiter und Bürger und Bauer(n) oder speziell nationalsozialistisch geprägte Einheiten wie das Teil-Idiom eine Judenjungenangst haben ins Auge.
|| 17 Die im Rahmen der Korpusanalyse ermittelten Daten erheben in Bezug auf die Anzahl der eruierten Phraseme keinen Anspruch auf Vollständigkeit, vielmehr sollen sie einen dem Überblick dienlichen Richtwert darstellen. Hinsichtlich der vorgenommenen Klassifikation bleibt zu berücksichtigen, dass sich eine trennscharfe Einordnung der Phraseme mitunter als problematisch erwies, da nicht zuletzt „eine klare und eindeutige Abgrenzung der Phrasemklassen voneinander illusorisch erscheint“ (Stumpf 2015: 47). 18 Als Routineformeln werden situationsgebundene, „auf ein bestimmtes Handlungsmuster festgelegt[e]“ (Stein 2004: 266) Phraseme verstanden (z. B. Guten Tag), gesprächsspezifische Formeln beziehen sich demgegenüber „auf bestimmte Facetten des Kommunikations- und Formulierungsprozesses“ (Stein 2004: 266) und sind demnach situationsungebunden (z. B. oder so). 19 Zu den weniger häufig auftretenden Phrasemklassen gehören unter anderem Teil-Idiome (4%, z. B. einen Krieg vom Zaun brechen), Phraseoschablonen (2%, z. B. ein Heer von X), Sprichwörter (1%, z. B. Koste es, was es wolle!) und geflügelte Worte (1%, z. B. dem Volke aufs Maul schauen), wohingegen die Vorkommenshäufigkeit folgender Typen im Vergleich zum phraseologischen Gesamtbestand unter 1% liegen: Somatismen (z. B. auf den Beinen sein), NS-Parolen (vgl. Kapitel 3.3.2), Kinegramme (z. B. mit erhobener Faust) oder Gemeinplätze (z. B. Was nicht ist, das kann noch werden!).
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3.3 Spezifik, Rekurrenz, Funktion – Phraseme als „ideologische Kondensatoren“? 3.3.1 Relativ feste Elemente Die Kollokation (nach) vierzehn Jahre(n) besitzt das Potenzial, als ideologischer Kondensator zu wirken, da sie nicht allein auf eine vierzehnjährige Zeitspanne – die Dauer der Weimarer Republik von 1918/19 bis 1933 – verweist, sondern zugleich zum Ausdruck bringt, dass das republikanische System der Weimarer Demokratie als Folge der Niederlage im Ersten Weltkrieg und angesichts der Versailler Verträge (von den Nazis als „Versailler Diktat“ oder „Schmachfrieden“ verunglimpft) abzulehnen sei. Gleichzeitig wird die (vermeintliche) Fortschrittlichkeit der nationalsozialistischen Diktatur unter der Führung Hitlers im Vergleich zur „alten, rückständigen und undeutschen“ (Goebbels 1971: 166) Demokratie akzentuiert: Sie [AQ: gemeint ist Hitler] haben nach vierzehn Jahren Schmach und Demütigung unserem Volke seine nationale Ehre zurückgegeben [Heilrufe]. Sie haben nach vierzehn Jahren, in denen die Novemberdemokratie die Zeit des deutschen Volkes mit fruchtlosen Phrasen und Debatten verbrauchte, dem deutschen Volke wieder die Möglichkeit gegeben, sich in Ehren und Anstand sein tägliches Brot zu verdienen [Heilrufe]. (Goebbels 1971: 166)
Der ideologische Mehrwert der Kollokation wird ferner deutlich, wenn Goebbels betont, dass das deutsche Volk „vierzehn Jahre lang geduldet und gelitten und geblutet hat“ (Goebbels 1971: 70), bis es schließlich vom Führer befreit wurde. In der mehrgliedrigen, einer Phraseoschablone ähnelnden Paarformel (X und Y und) Arbeiter und Bürger und Bauern (und Z...), die in ihrer oft variierten bzw. modifizierten Form gewisse Leerstellen eröffnet und neu besetzt, kondensiert sich eine weitere Maxime der NS-Ideologie. Es ist der rhetorischen Figur des Polysyndetons geschuldet, dass die Substantive Arbeiter, Bürger, Bauer, Soldat, Mann oder Frau in syntaktischer wie semantischer Hinsicht hierarchisch gleichberechtigt nebeneinander erscheinen, womit Goebbels die Vorstellung von einer klassenlosen, germanischen Volksgemeinschaft präsent zu halten versucht. In einigen Reden heißt es nämlich: „An dieser Kultur hatten Arbeiter und Bürger und Bauern ihren gleichen Anteil. Sie war nicht auf eine Klasse, auf einen Stand [...] begrenzt [...]“ (Goebbels 1971: 55) oder „Mann und Frau und Arbeiter und Bürger
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und Soldat reichen sich die Hände: ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not [...] mehr zu trennen [...]“ (Goebbels 1971: 56).20 Die Kollokation das (ganze) (deutsche) Volk, die von Goebbels in dieser Variabilität am häufigsten ihre Anwendung findet, dient ebenfalls der Aufrechterhaltung dieser Volksgemeinschaft-Phantasie.21 Der Begriff das Volk, „als schöpferischer Urgrund der Nation verstanden“ (Bork 1970: 59), avancierte neben Volksgemeinschaft und völkisch zum Zentralwort der nazistischen Diktion, denn diese Ausdrücke sollte[n] die bestehenden sozialen Unterschiede [...] übertünchen. Arbeiter wie Professoren, bürgerliche und gesellschaftlich höhere Schichten wurden unter dem einen Begriff Volk, Volksgemeinschaft zusammengefasst und nivelliert. (Bork 1970: 59)
Gleichzeitig impliziert jene Kollokation, dass dem NS-ideologischen Prinzip der Rassenhygiene Rechnung getragen wird, da dem Regime verhasste Bevölkerungsgruppen wie Menschen jüdischen Glaubens, Homosexuelle oder politisch Andersdenkende aus der „Gemeinschaft“ des deutschen Volkes ausgeschlossen wurden – „Das kommt daher, daß das deutsche Volk im Führer die Inkarnation seiner völkischen Kraft [...] gefunden hat“ (Goebbels 1972: 39). In dem onymischen Phrasem der Führer22 kondensiert sich insofern ideologischer Gehalt, als es auf das dem Führerprinzip immanente Beziehungsgefüge zwischen dem untertänigen, volksgemeinschaftlichen Kollektiv und der pseudoreligiös verherrlichten Führerfigur verweist. Damit einhergehend wird zum Ausdruck gebracht, dass der Führer ausschließlich mit der Person Adolf Hitlers zu identifizieren sei – das Phrasem scheint Hitler den Status des Unersetzlichen, das
|| 20 Vgl. hierzu auch Goebbels (1971: 61): „Das geht uns alle an: Männer und Frauen, Arbeiter, Bauern und Bürger, Studenten und Soldaten. Der Klassen- und Parteienstaat gehört der Vergangenheit an, der Volksstaat ist im Werden.“ 21 Im Rahmen einer Kundgebung am 19.01.1940 hob Goebbels die Bedeutung des Begriffes Volk explizit hervor: „Sondern ich meine unter Volk jene breite Millionenmasse unserer Arbeiter und Bauern und Beamten und Angestellten und Intelligenzarbeiter und Soldaten und Offiziere; ich verstehe unter Volk diese breite Millionenmasse unserer arbeitenden Menschen von allen Gebieten unseres öffentlichen Lebens und unserer öffentlichen Arbeit!“ (Goebbels 1972: 13) 22 Vgl. hierzu Schmitz-Berning (1998: 240–245; dabei insbesondere 241–242): „Der NS-Neologismus der Führer, als Titel und Beiname – nach faschistischem Vorbild absolut auf Hitler bezogen – bildete sich in den 20er Jahren heraus“; zwar wurde Hitler bereits unmittelbar nach seiner Wahl zum Vorsitzenden der NSDAP am 29.07.1921 als „unser Führer“ gefeiert, als dessen Beiname und Bezeichnung setzte sich der Begriff aber wohl erst mit der Neugründung der Partei am 27.02.1925 durch.
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Attribut der Einzigartigkeit zu verleihen, denn trotz ihrer Banalität wurde die Bezeichnung suppletorisch für keinen anderen verwendet: „das ganze Volk wünscht an diesem Tage nur eins: Lang lebe der Führer!“ (Goebbels 1972: 41). Sprach Goebbels hingegen vom Reichskanzler, bedurfte es der Apposition Adolf Hitler.23 Mit der Routineformel Meine (deutschen) Volksgenossen und Volksgenossinnen!24 beginnen die meisten der untersuchten Reden des NS-Agitators. Diese Formel fungiert dazu, der gängigen Konvention der Begrüßung nachzukommen, die Aufmerksamkeit des Publikums auf den Redner zu lenken sowie den Beginn der Rede zu markieren. Als relativ verfestigte Schlussformel erweist sich die nach 1939 immer öfter in Erscheinung tretende Wortverbindung unser Hitler,25 die jeweils im Anschluss an eine stets emotional aufgebauschte Abschlusspassage auf die Allgegenwärtigkeit des Führers hinweisen soll.26
3.3.2 Phraseme nationalsozialistischer Prägung Phraseme nationalsozialistischer Prägung sind solche Phraseme, die sich als von ihrem historisch-mentalitätsspezifischen Kontext untrennbare Elemente erwiesen haben und NS-ideologisches, d. h. ultranationalistisches, antisemitisches Gedankengut transportieren. Ausdruck dessen sind unter anderem folgende NSParolen, die in Form einer satzwertigen Schlussformel das Ende einer Rede signalisieren und im Sinne der nationalsozialistischen Bewegung als identifikationsstiftende Mittel fungieren: Die heute noch in rechtsnationalen Kreisen geläufige Wendung Deutschland den Deutschen! benutzte Goebbels im Jahre 1932 womöglich als Wahlkampfparole, um gegen den Völkerbund und die Auflagen des Versailler Vertrages zu agitieren (vgl. Goebbels 1971: 3). Sie dient demnach der Stilisierung eines Freund-Feind-Schemas sowie der Sensibilisierung für das
|| 23 Vgl. hierzu z. B. Goebbels (1937: 141). 24 Vgl. hierzu z. B. die in Heiber (1972) abgedruckten Reden Nr. 4, Nr. 5, Nr. 7 und Nr. 18. 25 Vgl. hierzu z. B. die in Heiber (1972) abgedruckten Reden Nr. 4, Nr.7, Nr. 13 und Nr. 18. 26 Ebenso häufig in Erscheinung tritt die gesprächsspezifische Formel mein Führer [vgl. die in Heiber (1972) abgedruckte Rede Nr. 6], von der Goebbels vor allem dann Gebrauch machte, wenn Hitler während der Rede anwesend war. Diese Formel scheint sowohl die Funktion der Kontakterhaltung als auch die der Aufmerksamkeitslenkung zu übernehmen, was zur Folge hat, dass weniger der Redner selbst als vielmehr die Person, um deren willen die Rede gehalten wird, im Zentrum der Aufmerksamkeit steht – ‟Moreover, [it] can be used [...] to just allow the speaker some breathing space before resuming the speech” (Elspaß 2007: 287), womit die Formel mein Führer in diesem Kontext auch eine entlastende Funktion erfüllt.
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mythisch-irrationale Gebilde der germanischen Volksgemeinschaft. Im darauffolgenden Jahr beendete Goebbels seine Rede anlässlich der „Machtergreifung“ am 30.01.1933 mit den Worten Deutschland ist im Erwachen!, womit das Ende der Demokratie, der Aufstieg der Nationalsozialisten und die beginnende Rehabilitierung des „sich [nun] wieder auf seine Urwerte besinnen[den]“ (Goebbels 1971: 63) Volkes zynisch verkündet wird. Die modifizierte Form Befiehl du, wir werden folgen! des durch zahlreiche Abbildungen bekannten Ausdrucks Führer befiehl, wir folgen (dir)! stellt ebenfalls die Schlussformel einer im Januar 1940 gehaltenen Rede des NS-Demagogen dar und zielt in Zeiten des Krieges wohl darauf ab, das Vertrauen in die vermeintlich geschichtslenkenden Kräfte des Führers zu stärken (vgl. Goebbels 1972: 14). Die Routineformel Sieg Heil!, auf die die Zuhörerschaft mit dem Ausruf Heil! zu reagieren pflegte, erinnert insofern an einen rituellen Akt, als sie mit einem vorausgehenden Verweis auf Hitler das Ende einer Rede markiert, insgesamt dreimal ausgerufen wird und die Interaktion mit dem Publikum bedingt. Weil es sich angesichts des Ausrufes Sieg Heil! so ähnlich verhält wie in Bezug auf die obligatorische Grußformel Heil Hitler!, deren Ausführung von denjenigen erwartet wurde, die nach Ansicht der Nationalsozialisten der deutschen Volksgemeinschaft angehörten, erfüllt diese Formel sowohl eine solidaritätsstiftende als auch eine ausgrenzungsfördernde Funktion.27 Mit der Kollokation internationale Raubfinanz (vgl. Goebbels 1971: 61)28 und dem Teil-Idiom eine Judenjungenangst haben (vgl. Goebbels 1972: 9)29 liegen zwei Beispiele vor, mithilfe derer sich die nazistische Diktion bemühte, ihrer antisemitisch und „rassenwahnhaft“ geprägten Gesinnung Ausdruck zu verleihen: Ersteres scheint eine Modifikation des von der NS-Propaganda verbreiteten Ausdrucks internationales Finanzjudentum zu sein, womit die völlig abstruse Vorstellung bezeichnet wird, das Judentum besäße oder erstrebe die Weltherrschaft. Dieses paranoide Verschwörungsdenken diente den Nazis als Vorwand, den Kampf der „arischen Herrenrasse“ gegen das „Weltjudentum“ zu propagieren. Die Verwendung des Phrasems internationale Raubfinanz zielt in diesem Kontext nun darauf ab, die vermeintliche Bösartigkeit und Feindseligkeit der jüdischen Bevölkerung
|| 27 Vgl. hierzu z. B. die in Heiber (1971) abgedruckten Reden Nr. 21 und Nr. 36. 28 „Es gilt [,] [sic!] die deutsche Arbeit den Klauen der internationalen Raubfinanz zu entreißen und damit dem deutschen Volk wieder Luft und Licht zum Atmen und zum Leben zu geben.“ 29 „Das ist die Angstneurose der Weltschmarotzer [Heiterkeit, Beifall]. Sie [gemeint sind wohl die Engländer und Franzosen] haben, wie man das im Volksmunde sagt: eine Judenjungenangst.
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zu suggerieren,30 wobei das Teil-Idiom eine Judenjungenangst haben eine dazu im Kontrast stehende Sichtweise zum Ausdruck bringt – es negiert das Bösartige, Aktiv-Aggressive vielmehr, da impliziert wird, dass es eine Eigenheit junger, männlicher Personen jüdischen Glaubens sei, auf eine bestimmte Art und Weise Angst zu empfinden. Aufgrund ihrer antisemitischen Prägung verfügen beide Phraseme über das Potenzial, als ideologischer Kondensator zu wirken, allerdings führt ihre vergleichende Betrachtung vor Augen, wie paradox und widersprüchlich sich die NS-Ideologie eigentlich darstellt.
3.3.3 Der Reputation dienende Phraseme Der Gebrauch geflügelter Worte und der Einsatz von Sprichwörtern oder Zitaten spielen bei der Konzeption politischer Reden eine entscheidende Rolle, weil sie nicht nur als „markers of bonding“ (Elspaß 2007: 288) zwischen Sprecher und Publikum fungieren, sondern auch der Reputation des Redners dienen: Propositions in the form of sentence-like phrasemes, such as proverbs, commonplaces, slogans, commandments and maxims, quotations and “winged words” [...], are used as sparingly and effectively as idioms in political speech. By employing quotations etc. from culturally significant texts (the Bible, fictional literature, historical speeches) and proverbs, speakers evoke a mutual cultural knowledge and appeal to quasi-authorised “truths” inherent in these phrasemes, thus establishing a kind of “manifest intertextuality” [...]. (Elspaß 2007: 288)
So macht Goebbels in einer Rede vom 18.07.1932 Gebrauch von der auf Martin Luther zurückgehenden formelhaften Wendung dem Volke aufs Maul schauen, um zu signalisieren, dass die Nationalsozialisten im Gegensatz zu den demokratischen Parteien „die Sprache des Volkes“ (Goebbels 1971: 53) sprächen, sprich die Sorgen der Bevölkerung verstünden – dies sei letztlich auch der Grund dafür, mit den Parteien, die der NSDAP oppositionell gegenüber stehen, „nichts auszuhandeln“, sondern sie zu „entfernen“ (Goebbels 1971: 53).
|| 30 Vgl. hierzu Heringer (1990: 62): „Bestimmte sprachliche Darstellungen von Sachverhalten können Affinitäten zu aggressiven Einstellungen entwickeln und letztlich aggressive Handlungen nach sich ziehen [...]. [...] [Denn] es gibt enge Wechselwirkungen zwischen dem, was wir glauben, wie wir es formulieren und was wir tun.“
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Als Schlussformel einer weiteren, nicht genau datierten Rede wählt Goebbels eine hyperbolische, die Bedeutung Deutschlands verklärende Wendung. In Anlehnung an die Bibelverse Joh 8,1231 bzw. Mt 5,1432 heißt es: Wenn Deutschland stirbt, dann geht das Licht der Welt aus (Goebbels 1971: 61). Betrachtet man den Aufbau der Rede,33 zeigt sich das für den NS-Demagogen typische Argumentationsmuster, das in seiner Exposition auf die tiefe Not des gedemütigten Volkes verweist („Das deutsche Volk hat [...] geopfert, gekämpft, gelitten und gedarbt“), sich mit einer diffamierenden Anklage an vermeintlich Schuldige fortsetzt („Die Unwerte der liberalen Demokratie sind im Sinken“) und schließlich mit dem beschwörenden Appell endet, die NS-Bewegung respektive der Führer sei die Inkarnation nationaler Identität („weil wir [die Nationalsozialisten] [...] den einmaligen geschichtlichen Sinn deutscher Zukunft erblicken“) – die Schlussformel wirkt demnach auf Letzteres zurück, da impliziert werden soll, dass nur die NSBewegung Deutschland vor dem Sterben zu bewahren vermag. Um zu verdeutlichen, dass das deutsche Volk seit der nationalsozialistischen Machtübernahme einen „fortschrittlichen“ Wandel durchlebt, betont Goebbels im Rahmen einer Kundgebung am 19.01.1940, Deutschland sei nun erwacht und nicht „mehr ein Volk von Dichtern und Träumern und Romantikern“ (Goebbels 1972: 7). Mit der pejorativen Modifizierung des von Jean Paul geprägten Ausdrucks das Volk der Dichter und Denker (vgl. Duden 2013: 803) will sich Goebbels zum einen als belesen ausweisen, zum anderen wird Rationalismus geringschätzig als Träumerei abgetan.
4 Reflexion und Ausblick Und wenn nun die gebildete Sprache aus giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da. [...] [Die nazistische Sprache] durchtränkt Worte und Wortgruppen und Satzformen mit ihrem Gift, [sie macht] die Sprache ihrem fürchterlichen System dienstbar [...]. (Klemperer 2010: 26)
|| 31 „Als Jesus ein andermal zu ihnen redete, sagte er: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ 32 „Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben.“ 33 Vgl. hierzu die in Heiber (1971: 60–61) abgedruckte Rede Nr. 8.
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Die zitierte Beobachtung Klemperers, der Nazismus habe die Sprache in ihren Worten, Wortgruppen und Satzformen wie giftiges Arsen durchtränkt, lässt sich in gewisser Weise auch auf das Ergebnis dieser Untersuchung übertragen, wenn man berücksichtigt, dass einige Phraseme über das Potenzial verfügen, als „ideologischer Kondensator“ zu wirken. In bestimmten Phrasemen wie dem TeilIdiom eine Judenjungenangst haben, der Kollokation (nach) vierzehn Jahre(n) oder dem onymischen Phrasem der Führer kondensiert sich insofern NS-ideologischer Gehalt, als ihnen eine antisemitische bzw. antidemokratische sowie eine auf dem pseudoreligiösen Personenkult beruhende Gesinnung immanent ist. Somit kann als Erkenntnis der Untersuchung festgehalten werden, dass ein wesentlicher Zusammenhang zwischen der Phraseologie und dem Transport ideologischer Maximen zu bestehen scheint. Als spezifische Phraseme der GoebbelsReden haben sich neben solchen, die eine antisemitische Prägung aufweisen (z. B. die Kollokation internationale Raubfinanz), insbesondere die sogenannten NS-Parolen (z. B. Deutschland den Deutschen!) erwiesen, die als satzwertige Schlussformeln mehrere Funktionen übernehmen: Vor allem fungieren sie als aufmerksamkeitsfördernde und beziehungsgestaltende Mittel, da sie im Sinne der Propaganda und angesichts des rassisch-mythischen Gebildes der Volksgemeinschaft sowohl der Solidaritätsbekundung als auch der Ausgrenzungsinitiierung dienen. Zu den rekurrenten, verfestigten Mehrwortverbindungen zählen die Kollokation das (ganze) (deutsche) Volk, das onymische Phrasem der Führer sowie die Routineformeln Meine (deutschen) Volksgenossen und Volksgenossinnen! bzw. unser Hitler. Aufgrund ihrer Polyfunktionalität sei zudem auf die geflügelten Worte verwiesen, von denen der Agitator deshalb Gebrauch machte, weil sie kulturell bedeutsamen Kontexten entstammen und daher image- sowie beziehungsgestaltenden Einfluss auf die Zuhörerschaft ausüben: Die modifizierte Verwendung der biblisch geprägten Formel Licht der Welt sowie jene des Ausdrucks das Volk der Dichter und Denker sind für Goebbelsʼ Propaganda-Reden bezeichnend. Im Hinblick auf weitere textlinguistische Untersuchungen zur Verwendung von Phrasemen in politischen Reden der NS-Zeit wären – bei umfangreicheren Textkorpora – vergleichende Analysen in Bezug auf das phraseologische Inventar anderer NS-Funktionäre und unter Berücksichtigung der zeitlichen Differenzierung nach Maas (2000) wünschenswert. In diesem Zusammenhang stellt sich nämlich die Frage, ob die von Goebbels verwendeten Phraseme textsorten- und/ oder personengebundene Erscheinungen darstellen oder gar spezifisch für die gesamte Varietät der Sprache im Nationalsozialismus sind. Gleichwohl belegen solche Mehrwortverbindungen wie der Führer, Deutschland den Deutschen! oder Heil Hitler!, dass gewisse Phraseme über die Textgrenze hinaus als signifikante,
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personenungebundene sprachliche Verfestigungen des nazistischen Sprachgebrauchs auftreten. Unter Heranziehung weiterer Textsorten (Wahlplakate, Briefe, Verordnungen/Befehle, literarische Texte etc.) bleibt es zukünftigen Studien vorbehalten, den Phrasemgebrauch im Nationalsozialismus dahingehend zu untersuchen, inwieweit die für Goebbels typischen Mehrwortverbindungen – z. B. eine Judenjungenangst haben oder (nach) vierzehn Jahre(n) – repräsentativ für die nazistisch geprägte Sprache sind und ob sich weitere NS-spezifische Phraseme, sprich „musterhafte, rekurrent auftretende sprachliche Strukturen“ (Stumpf & Kreuz 2016: 30), nachweisen lassen.
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| Formelhafte Sprache in Diskursen
Marina Iakushevich
Phraseme in medialen Medizindiskursen: das Fallbeispiel Depression Zusammenfassung: Der Beitrag diskutiert die Funktionen von Phrasemen in massenmedialen Medizindiskursen. Unter den Bedingungen der fortschreitenden Medikalisierung von öffentlichen Diskursen, der Popularisierung von Wissenschaften und der steigenden Relevanz von gesundheitsbezogenen Themen in allen Lebensbereichen widmen sich u. a. deutsche Qualitätsmedien (FAZ, DER SPIEGEL, DIE ZEIT) in ihren Wissens- und Wissenschaftsresorts verstärkt diesen Themen. Am Beispiel der FAZ wird mit den Methoden der linguistischen Diskursanalyse gezeigt, welche Funktionen (z. B. auf der Ebene von Text- und Diskurshandlungen) Phraseme in den massenmedialen Diskursen bei der Konstituierung des Krankheitsbilds der Depression und der Wissensvermittlung entfalten.
1 Einleitung Gesundheit ist ein hohes Gut. Hauptsache, man bleibt gesund. Wenn jemand niest, sagen wir: Gesundheit! Werdende Eltern bekommen oft eine Frage gestellt: Und, wisst ihr, ob es ein Mädchen oder ein Junge wird? Darauf wird die Antwort gegeben: Uns ist es egal, Hauptsache, es ist gesund. Heben wir ein Glas zusammen, sagen wir: Zum Wohl! Diese Phrasem-Beispiele zeigen die Relevanz von gesundheitlichen Themen, die jedem vor allem aus den privaten Lebensbereichen (Familie, Freundes- und Bekanntenkreis) vertraut sind. Gleichzeitig zeigen einige ökonomische Größen und Zahlen, wie wichtig der Gesundheitsbereich für unsere Gesellschaft ist. Das Statistische Bundesamt beziffert die Gesundheitsausgaben im Jahr 2015 auf 11,3% des Bruttoinlandsprodukts, dies bedeutet einen Anstieg von 4,5% im Vergleich zu 2014. Das vierte Jahr in Folge nahmen die Gesundheitsausgaben stärker zu als das Bruttoinlandsprodukt, auch für 2016 wird ein weiterer Anstieg bei den Gesundheitsausgaben erwartet.1 Gesundheitsbezogene Themen sind also nicht nur im privaten, sondern auch im öffentlichen Bereich relevant, davon zeugt auch die Präsenz dieser Themen in
|| 1 https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2017/02/PD17_061_23 611.html (10.07.2017).
DOI 10.1515/9783110602319-011
284 | Marina Iakushevich
den deutschen Massenmedien: In verschiedenen Ressorts der deutschen Qualitätsmedien – wie Wissen oder Wissenschaft – erfahren die Leser etwas über neueste Fortschritte in der Medizin, neue Krankheiten und Therapien. Themen rund um Gesundheit, Krankheit, gesunden Lebensstil, Fitness und Vitalität erfreuen sich großer Beliebtheit, Busch (2015: 369) spricht von „Medikalisierung“ der öffentlichen Diskurse (vgl. Busch 1999; Bleicher & Lampert 2003). Dass der Bedarf nach gesundheitsrelevanten Informationen auch im Zeitalter der Informationsüberflutung nicht geringer wird, zeigt z. B. die Tatsache, dass die Wochenzeitung DIE ZEIT zusätzlich zum ZEIT Magazin seit Dezember 2015 ein medizinisches Magazin herausgibt: ZEIT Doctor. Außerdem erscheint jede Woche in der regulären Ausgabe der ZEIT eine ZEIT Doctor-Seite im Ressort Wissen. Das Thema, das in dem vorliegenden Beitrag behandelt wird, scheint gerade in den letzten zehn bis 15 Jahren ein medialer Dauerbrenner zu sein: Depression und Burnout. So platziert z. B. DER SPIEGEL im Jahr 2011 zweimal das Thema auf den Titel, im Januar und im Juli, im Februar 2012 kommt das Thema ein weiteres Mal auf die Titelseite. Zusätzlich erscheint im Jahr 2011 die SPIEGEL-WISSENAusgabe Das überforderte Ich und im Jahr 2012 die Ausgabe Patient Seele. Die Diskussionen in den Medien werden zudem immer wieder durch Geschichten betroffener Prominenter – sei es durch das Publikmachen der Erkrankung oder durch einen Suizid wie den des Nationaltorwarts Robert Enke im Jahr 2009 – befeuert und aufrechterhalten. Die mediale Sichtbarkeit des Themas Depression ist wohl auch damit zu erklären, dass die Krankheit Depression zu einer der häufigsten Krankheiten überhaupt gezählt wird. So gibt die WHO an (Stand Februar 2017), dass zurzeit weltweit über 300 Millionen Menschen jeder Altersgruppe an Depressionen erkrankt sind: „Depression is the leading course of disability worldwide, and a major contributor to the overall global burden of disease.“2 Das Bundesgesundheitsministerium schätzt, unter Verweis auf die WHO, dass im Jahr 2020 Depressionen und affektive Störungen weltweit die zweithäufigste (nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen) Volkskrankheit sein werden.3 Der vorliegende Beitrag hat das Ziel, die mediale Aufbereitung des Themas Depression exemplarisch vorzustellen: Zunächst stelle ich die methodische Vorgehensweise der Diskurslinguistik dar und gehe insbesondere auf den für diese Untersuchung relevanten Handlungsaspekt ein. Dabei werden Mehrworteinheiten und deren pragmatische Funktionen fokussiert.
|| 2 http://www.who.int/mediacentre/factsheets/fs369/en/ (8.8.2017). 3 http://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/gesundheitsgefahren/ depression.html (8.8.2017).
Phraseme in medialen Medizindiskursen zu Depression | 285
2 Linguistische Mediendiskursanalyse In diesem ersten Abschnitt stelle ich den Begriff „Diskurs“ dar und leite daraus ein für meine Belange brauchbares Konzept ab, das als Grundlage für weitere Ausführungen und konkrete Textanalysen zugrunde gelegt werden kann. Als Ausgangspunkt dient der Diskursbegriff von Foucault (1974, 1997, 2012), gleichwohl berücksichtige ich vor allem die aktuellen Entwicklungen in der linguistischen Diskursforschung.4 Herausgearbeitet werden besonders die Aspekte des Diskursbegriffs, die für den zu bearbeitenden thematischen Ausschnitt (Depression) der massenmedialen Diskurse (Print- und Onlinemedien) relevant sind. Diskurse bestehen aus thematisch, semantisch, zeitlich verbundenen Texten und Gesprächen, sind aber mit ihnen nicht gleichzusetzen (vgl. Busse & Teubert 1994: 18–19; Felder 2012: 116; Hermanns 1995: 86–91; Spieß 2011). Den Zugang zu den Diskursen (im Foucaultschen Sinne) finden wir aber nur über Texte und Gespräche.5 Intertextuelle Bezüge zwischen den Texten konstituieren den Diskurs, der immer in außersprachliche, soziokulturelle Praktiken eingebunden ist, dabei offenbart sich die wechselseitige Bedingtheit von Sprache und Gesellschaft (vgl. Felder & Gardt 2015: 4; Felder 2009a), „Diskurse sind gesellschaftliche Praktiken, die sich sprachlich manifestieren und außersprachlich bedingt sind“ (Spieß 2011: 125). Sprache und sprachliches Handeln sind im sozialen Leben der Menschen verankert und Grundvoraussetzung für gesellschaftliches Handeln, gleichzeitig wird sprachliches Handeln durch die jeweilige Gesellschaft bedingt (vgl. z. B. Berger & Luckmann 2004: 39–43; Busse 2005; Spieß 2011: 111–112; Felder & Gardt 2015: 15–18; Feilke 1994: 67–68, 74–80, 1996: 33–35; Spitzmüller & Warnke 2011: 67–68).6 Diskursanalysen, Auseinandersetzungen mit Sprachgebrauchsregularitäten erlauben folglich Aussagen über gesellschaftliche Strukturen, Normen und Werte.
|| 4 Aus Platzgründen bringe ich hier nur einige, besonders relevante und aktuelle Literaturverweise: Busse & Teubert (1994); Hermanns (1995); Jäger (1996); Felder (2009a, 2009b, 2012, 2013); Konerding (2005); Spieß (2011, 2015); Spitzmüller & Warnke (2011); Warnke (2007, 2009); Warnke & Spitzmüller (2008); Gardt (2007); Busch (2007); Busse (2007). 5 Dass unser Zugriff auf die Wirklichkeit vor allem durch die vertexteten Artefakte geschieht, zeigt Felder (2012: 116). 6 Ausgeklammert bleibt an dieser Stelle die Critical Discourse Analysis (CDA), die sich der Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse im Spiegel der Sprache, so z. B. den Machtasymmetrien widmet und entsprechend eigene theoretische Prämissen und methodische Zugänge wählt (z. B. Wodak & Reisigl 1999).
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Diskurse manifestieren sich vor allem durch die Öffentlichkeit, die Öffentlichkeit ist aber auch der Ort, in dem Diskurse sichtbar werden. Dabei fungieren die Massenmedien als Vermittlungsinstrumente von Diskursen (vgl. Busse 1996: 347; Spieß 2011: 129). Die Materialität der Diskurse ist in der Textualität präsent: Die sprachliche Konstitution, Konstruktion, Perspektivierung von Sachverhalten sind Mittel der Gestaltung von Diskursen. Die sprachliche Oberfläche konstituiert einerseits die Diskurse und macht sie gleichzeitig sichtbar.7 „Massenmediale Sprach- und Bildzeichen und Zeichenverkettungen sind daher ein perspektivierter Ausschnitt von Welt zur interessengeleiteten Konstitution von Realität im Spektrum verschiedener Wirklichkeiten.“ (Felder 2009a: 23) In (öffentlichen) Diskursen wird Wissen konstituiert oder, nach Foucault (1997: 74): Diskurse sind soziale Praktiken, „[…] die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“. Wissen, das in Diskursen konstituiert wird, ist demnach keine feste, absolute Größe, sondern ein unter Diskursakteuren permanent auszuhandelndes Gut. In modernen Gesellschaften geschieht der Zugang zum Wissen vor allem durch die Massenmedien, in denen u. a. ständig Kämpfe um Deutungshoheit von Begriffen ausgetragen werden, Felder (2006) spricht von semantischen Kämpfen (vgl. auch Busch 2006 zu den semantischen Kämpfen in der Medizin). Wissen wird in argumentativen Aushandlungen hervorgebracht, einzelne Diskursakteure versuchen, ihre Position im Diskurs zu behaupten, ihre Geltungsansprüche durchzusetzen und ihre Wissenspositionen entsprechend zu verbreiten: So können Fachexperten eines bestimmten Spezialgebiets, z. B. der Medizin, in Massenmedien eine spezifische Krankheitstheorie vertreten und für eine bestimmte Therapie dieser Krankheit werben.8 Dem Handlungsaspekt wird in der aktuellen Diskursforschung eine wichtige Rolle zugesprochen (z. B. Spieß 2011; Felder 2009a: 13, 2012: 117–118; Felder & Gardt 2015: 4; Liebert 2002). Unterschiedliche Diskursakteure verfolgen in ihren (sprachli-chen wie nicht-sprachlichen) Handlungen unterschiedliche Intentionen.9
|| 7 Felder (2012: 116) thematisiert die Rolle von Aussagen im Diskurs, macht aber mit Verweis auf Foucault gleichzeitig darauf aufmerksam, dass man die Aussagen nicht mit dem Diskurs gleichsetzen darf. 8 Wie in der Behandlung von Depressionen für die psychotherapeutische vs. medikamentöse Therapie. 9 Streng genommen bzw. laut gängigen sprachwissenschaftlichen Definitionen (z. B. Meibauer 2008: 84–85; Harras 2004: 5–11) ist eine Handlung ein Tun mit Absicht, sodass der Ausdruck intentionales Handeln eigentlich eine Tautologie ist. Dennoch verwende ich ihn, um spezifische, diskursrelevante (Sprach-)Handlungen besonders zu thematisieren.
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Sprachliche Handlungen10 stehen bei der linguistischen Diskursanalyse im Vordergrund, da Texte und Gespräche als die materielle Manifestation von Diskursen die primäre Analysegrundlage darstellen. Dabei geht es um einzelne sprachliche Handlungen, die zum einen in konkreten Texten vorkommen und mit anderen sprachlichen Handlungen spezifische Konstellationen eingehen oder zum anderen spezifische diskursive Handlungsmuster konstituieren können. Um Diskurshandlungen zu beschreiben und zu analysieren, schlägt Felder (2012: 118) folgende Kategorisierung mittleren Abstraktionsgrades11 vor: (1) Sachverhaltskonstituierung als Sachverhaltsklassifizierung, (2) Sachverhaltsverknüpfung, (3) Sachverhaltsbewertung.
Sprachliche Handlungen, die von Diskursakteuren vollzogen werden, korrelieren mit sprachlichen Oberflächenphänomenen, die auf folgenden linguistischen Beschreibungsebenen analysiert werden: die Ebene der Lexeme, die Ebene der Syntagmen, die Ebene von Äußerungseinheiten auf Satzebene, die Textebene und die Ebene der Text-Bild-Beziehungen (vgl. Felder 2012: 118).12 Am Beispiel eines Diskursausschnittes zum Thema „Berliner Mauer“ zeigt Felder (2012: 149152), wie das Konzept Freiheit massenmedial konstituiert und bis 1989 zuerst positiv bewertet und nach dem Mauerfall zunehmend negativ dargestellt wird. Auf der Ebene des Diskurses sind einzelne textuelle Handlungen in übergeordnete, den Diskurs konstituierende und ordnende Strukturen eingebunden, z. B. in Argumentationsstrukturen und Metaphernkonstellationen (vgl. Spieß 2011; Böke 1996; Wengeler 2003). Diskursive semantische Kämpfe werden in „Bedeutungsund Nominationskonkurrenzen“ (Spieß 2011: 280) ausgetragen und ausgehandelt (vgl. z. B. Spieß 2011: 280–374 zum öffentlich-politischen Bioethikdiskurs um humane embryonale Stammzellenforschung). Der Handlungsaspekt wird also
|| 10 Ich verzichte an dieser Stelle aus Platzgründen auf eine ausführliche Diskussion über die Begriffe sprachliche Handlung/Sprechakt, gehe aber in meiner Argumentation von der Sprechakttheorie nach Searle (1982) aus und seiner (z. T. intensiv diskutierten und kritisierten) Taxonomie illokutionärer Akte. 11 Das bedeutet, dass nicht die auf einzelne Aussagen bezogenen Sprachhandlungen im Sinne der Sprechakttheorie nach Austin (2002) und Searle (1982) analysiert werden, sondern diskursrelevante Sprachhandlungen, die sich über größere Textabschnitte konstituieren können. 12 Spieß (2011: 194) fügt noch „die Ebene der Epoche“ hinzu, bei der diskursive Prozesse über längere Zeiträume nachvollzogen werden.
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nicht erst auf der Ebene einer Aussage13 sichtbar, sondern auch schon auf der lexikalischen Ebene, wenn es um die Wahl von einzelnen Lexemen zur Bezeichnung von Sachverhalten geht. So kann z. B. ein Lexem eine wertende Bedeutungskomponente enthalten und von bestimmten Diskursakteuren in bestimmten Diskursabschnitten gebraucht werden, um eigene Interessen durchzusetzen (vgl. z. B. Spieß’ 2011, 2015 Ausführungen zu Embryo). Einzelne Handlungen, die Diskurse konstituieren, sind den verschiedenen Diskursen entsprechend thematisch spezifisch: Abhängig von der Wissensdomäne (vgl. Felder 2006), dem Diskursthema oder dem Grad der Öffentlichkeit können sie sehr unterschiedlich sein. Im folgenden Abschnitt wird die Spezifik von medialen Medizindiskursen ausführlich diskutiert, um eine weitere Grundlage für die darauffolgende Analyse des Depressionsdiskurses zu bereiten.
3 Mediale Medizindiskurse Wie in der Einleitung zu diesem Beitrag bereits angedeutet, erfreuen sich Themen rund um Gesundheit, Krankheiten, Fitness, gesunde Lebensweise hoher Beliebtheit und folglich hoher medialer Präsenz. Mediale Diskurse sind kommunikative Räume, in denen medizinische Themen konstituiert und verarbeitet werden sowie medizinisches Wissen transformiert und transferiert wird (vgl. Busch 2015: 375; Busch & Spranz-Fogasy 2015: 351–353; Spieß 2015: 443–445; Liebert 2002: 103–104). Das Spezifische an massenmedialen Medizindiskursen ist, dass sie als ein prototypischer Raum der Experten-Laien-Kommunikation gesehen werden können (vgl. Busch 2015: 369; Busch 1999: 104–107; Brünner 2011: 247–250). Massenmedien treten dabei als eine Mittlerinstanz auf, die das medizinische Fachwissen nach den Regeln der journalistischen Informationsaufbereitung transformiert und distribuiert (vgl. Busch 2015: 372). Dabei wird das medizinische Fachwissen popularisiert, d. h. den Bedürfnissen des jeweiligen Massenmediums, der anvisierten Zielgruppe kommunikativ angepasst (vgl. z. B. Eckkrammer 2016: 493–495; Brünner 2011: 251–262). Insbesondere in den digitalen Medien entstehen, dank der technischen Möglichkeiten, neue Formate, die eine interaktive, inhomogene und schnelllebige Kommunikation ermöglichen (vgl. Eckkrammer 2015: 42–43; Wirth 2010). || 13 An dieser Stelle verwende ich Aussage nicht im Sinne Foucaults als eine diskurskonstituierende Einheit, sondern in Bezug auf eine kommunikative Einheit, z. B. einen Satz, die einen Sprechakt darstellen kann und der eine sprachliche Handlung analytisch zugewiesen werden kann.
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Ein wesentliches Merkmal der medialen Wissenskonstitution zu Medizinthemen als einem Teil der Experten-Laien-Kommunikation ist das Wissensungleichgewicht oder die „Wissenspyramide“ (Brixler, Greulich & Wiese 2005: 8), d. h. das unbestritten größere und differenziertere Wissen von Fachexperten (Ärzten, Forschern) im Vergleich zum Wissen von medizinischen Laien (vgl. z. B. Busch 1994: 12 zu „Wissensvertikalität“, 1999, 2015: 374–375). Ein medizinisches Thema wird herausgegriffen und auf die Bedürfnisse des Laienpublikums passend zugeschnitten präsentiert. Diese Popularisierung des medizinischen Fachwissens ist gekennzeichnet durch Vereinfachung, Verkürzung und Veranschaulichung von wissenschaftlichen Inhalten (vgl. Fleck 1980: 149, 151–152; Busch 2015: 370; Busch & Spranz-Fogasy 2015: 351–353). Dabei kommt es in wissensvermittelnden massenmedialen Kontexten nicht darauf an, die unbedingte fachliche Richtigkeit zu befolgen, sondern ein medizinisches Thema interessengeleitet, attraktiv und individuell zu verhandeln. Das kann nicht nur, wie oben bereits erwähnt, Verkürzung und Vereinfachung von Inhalten mit sich bringen, sondern auch neue und neu strukturierte Wissensbestände schaffen. So kann für medizinische Laien das Wissen, das sie im Austausch im Internet von anderen betroffenen Laien erworben haben, von genauso hoher Relevanz sein wie das Wissen, das man durch ein ärztliches Gespräch erworben hat (vgl. z. B. Wirth 2010).14 Klassische Massenmedien (Zeitungen, Zeitschriften) sind gerade durch ihre seriöse journalistische Arbeit auch im digitalen Zeitalter immer noch wichtige gesellschaftliche Akteure. In ihrer Funktionalität und nicht zuletzt in ihrem Selbstverständnis als Informationsquelle, im Sinne ihres Bildungsauftrags (vgl. Straßner 1997: 28–30) kommt insbesondere in den Diskursen zu medizinischen Themen der Aspekt der Wissensvermittlung15 zum Tragen: (Wissenschafts-)Journalisten betreiben „Berichterstattung aus der Wissenschaft in die Gesellschaft.“ (Kohring 2005: 9; Hervorhebung im Original).16 Wissenschaftsjournalisten als informierte Laien haben einen Wissensvorsprung gegenüber ihren Lesern: Durch Recherchen, durch Auswertung von wissenschaftlichen Studien und Fachliteratur, durch Interviews mit Fachexperten und nicht zuletzt durch ihre eigene fachliche Ausbildung, die sie häufig zusätzlich zur journalistischen Grundausbildung || 14 Vgl. außerdem zu subjektiven Krankheitstheorien z. B. Birkner (2006), zu den alltagsprachlichen Karrieren von medizinischen Termini wie z. B. Schizophrenie vgl. Ilg & Maatz (2015). 15 Darauf, dass der Journalismus generell als „Vermittler zwischen allen Teilsystemen der Gesellschaft“ fungiert, weisen Kurz et al. (2000: 15) hin. 16 An dieser Auffassung von Wissenschaftsjournalismus gibt es zunehmend Kritik (vgl. z. B. Kohring 2005: 66–72), für den hier behandelten Diskurs zu einer schweren psychischen Erkrankung erweist sich der Aspekt der Wissensvermittlung aber durchaus als fruchtbar, wie später zu zeigen sein wird.
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vorweisen können, treten die Journalisten als Wissensvermittler auf. Ihre Aufgabe ist nicht nur, aus der Forschung zu berichten, sondern wissenschaftliche Daten und Fakten zu bewerten, um eine „wissenschaftszentrierte Aufklärung der Gesellschaft“ (Kohring 2005: 9) zu betreiben. Das angesprochene Wissensungleichgewicht und das damit einhergehende Bemühen um die Wissensvermittlung berühren ein weiteres wichtiges Merkmal der Massenmedien, die Persuasivität. Dass bestimmten medialen Textsorten, wie dem Kommentar, starke Persuasivität als ein wesentliches Merkmal zugeschrieben wird, ist in der Forschung Konsens (vgl. z. B. Ramge & Schuster 2001: 1707). Aber auch informationsbetonte Textsorten können eine persuasive Komponente haben, sofern der kommunikative Kontext es erfordert (vgl. z. B. Weidacher 2012: 240–242). Im Kontext der Wissensvermittlung ist die Persuasion per se vorhanden: Der besser informierte Journalist ist bemüht, sein Wissen in den diskursiven Beiträgen so darzubieten, dass es vom Rezipienten aufgenommen werden kann. Das führt zu bestimmten textgestalterischen Strategien: Die Inhalte werden attraktiv, anschaulich, mit einem Individualbezug dargestellt. Dass die Faktoren „Attraktivitäts-,[sic!] Risiko- und Individualbezug“ entscheidend die Gesundheitskommunikation in Massenmedien prägen, zeigt Busch (2015: 372). Die Gestaltung der medialen Texte in medizinischen bzw. Gesundheitsdiskursen ist somit geprägt einerseits durch die Spezifika der massenmedialen öffentlichen Kommunikation als solcher und andererseits durch die Spezifika des thematischen Bereichs Medizin (Gesundheit, Krankheit, Therapien usw.).
4 Medialer Diskurs zu Depression Im Folgenden soll unter Berücksichtigung der oben angeführten Aspekte der mediale Diskurs zum Thema Depression vorgestellt werden. Aus naheliegenden Gründen kann an dieser Stelle nur ein Teil des öffentlichen Diskurses berücksichtigt werden.17 Die Thematik des vorliegenden Beitrags ist im interdisziplinären, internationalen wissenschaftlichen Netzwerk „Linguistik und Medizin. Pathound Saluto-Diskurse im Spannungsfeld von objektivierter Diagnose, interaktio-
|| 17 Die grundlegende Diskursauffassung erlaubt es per se nicht, den gesamten Diskurs zu einem Thema zu erfassen; nicht zuletzt auch unter Berücksichtigung des Aspektes der Dynamik von Diskursen; Foucault (1997: 39) spricht von der „unendliche[n] Kontinuität des Diskurses“. Es ist unmöglich, alle zu einem bestimmten Thema existierenden Texte, Gespräche und andere Artefakte zu berücksichtigen, insbesondere in einer digitalisierten Welt.
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naler Vermittlung und medialer Konstitution“ angesiedelt, das sich der linguistischen Erforschung von psychischen und somatischen Krankheiten in öffentlichen medialen Diskursen und in der Arzt-Patienten-Kommunikation verschrieben hat (www.linguistik-medizin.net; 8.8.2018). Als Materialgrundlage für die nachfolgenden Analysen dient ein Korpus von 330 Texten aus dem FAZ-Archiv (1992–2013), die in gedruckter oder digitaler Form erschienen sind.18 Das Korpus wurde zusammengestellt auf der Grundlage einer Recherche im FAZ-Archiv nach dem Stichwort Depression; Texte, die nicht die Krankheit Depression, sondern z. B. die wirtschaftliche Depression thematisieren, wurden nicht berücksichtigt.19 Es wurden außerdem nur Texte aufgenommen, die die Krankheit explizit behandeln: So wurden Texte aussortiert, z. B. Buchrezensionen, in denen die Depression zwar erwähnt (z. B. dass der Buchautor an einer Depression litt), aber nicht primär thematisiert wird.20 Ein auffälliges Merkmal in dem untersuchten Diskursausschnitt sind Lebensbzw. Krankheitsgeschichten von prominenten, öffentlich bekannten und medial präsenten Persönlichkeiten aus der Politik, Kultur, dem Sport usw. Es werden aber auch nicht prominente an einer Depression erkrankte Menschen in unterschiedlichen Kontexten vorgestellt. Ein besonderer Schub entsteht im Diskurs, wenn (vor allem mit prominenten Personen) tragische Ereignisse passieren: Suizid (der Fußballnationaltorwart Robert Enke 2009), versuchter Suizid (Fußballbundesliga-Schiedsrichter Babak Rafati 2011), Zusammenbruch (Publizistin, Beraterin, jüngste Professorin Deutschlands Miriam Meckel 2008) oder aber der krankheitsbedingte Rücktritt von öffentlichen Ämtern (SPD-Vorsitzender Matthias Platzeck 2006). Außergewöhnliche Ereignisse dienen als eine Art Katalysator für diskursives Geschehen: Eine kontinuierliche Bearbeitung von gesundheitsrelevanten Themen wird punktuell verstärkt. Es wird, auch quantitativ gesehen, intensiver über Depression berichtet.
|| 18 Das FAZ-Korpus ist ein Teilkorpus eines größeren Korpus meiner Habilitationsarbeit unter dem Arbeitstitel „Kollokationsbildung am Beispiel des medialen Diskurses zu Depression“. Das Gesamtkorpus besteht aus ca. 1000 Texten aus FAZ, Der Spiegel und Die Zeit. 19 In einigen Texten werden neben dem Terminus Depression auch Schwermut und Melancholie verwendet („Schwermut schlägt auf das Herz. Wie Depressionen den Körper quälen: Sympathikus unter Verdacht“, FAZ, 27.06.2005, S. 34). 20 Bei der Korpuszusammenstellung ergeben sich bei solchen Textexemplaren durchaus Probleme. Auch wenn die Depression nur am Rande erwähnt wird, können im Text trotzdem z. B. Aussagen über die Krankheit (Symptome, Verlauf, das persönliche Erleben) zu finden sein, die für die Diskursanalyse relevant sein können.
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Die untersuchten Texte weisen eine bestimmte narrative Struktur auf: Als Einstieg dient meistens eine persönliche Lebens- und Krankheitsgeschichte. Anschließend werden Daten, Fakten und weitere Informationen zu der Krankheit und zu Therapien präsentiert, Fachexperten, meistens Ärzte, werden interviewt oder zitiert. Es werden Forschungsberichte und medizinische Studien vorgestellt, kommentiert und bewertet. In den folgenden Analysen will ich an einigen Beispielen konkret aufzeigen, wie der massenmediale Diskurs zu Depression konstituiert wird. Der Fokus der Darstellungen wird auf die diskursive Konstitution des Krankheitsbilds Depression gelegt. Wie oben im Kapitel 2 diskutiert wurde, kann eine Mediendiskursanalyse auf mehreren Ebenen durchgeführt werden. Im Folgenden konzentriere ich mich auf die syntagmatische Ebene (vgl. Felder 2012: 118, 142). Im Fokus stehen Einheiten auf der Ebene der Mehrwortverbindungen und ihre Einbettung in die textuellen und diskursiven Handlungszusammenhänge, insbesondere auf der Ebene der Sachverhaltskonstituierung (vgl. Felder 2012: 118). Diskutiert werden außerdem die depressionspezifische Metaphorik und ihre diskurstrukturierende Funktion. Es soll exemplarisch21 aufgezeigt werden, wie von verschiedenen Diskursakteuren durch die Auswahl bestimmter spezifischer sprachlicher Mittel das massenmediale Krankheitsbild Depression konstituiert wird.
4.1 Sachverhaltskonstituierung: Das massenmediale Krankheitsbild der Depression Im Folgenden diskutiere ich die Verwendung der Muster [in DET Depression]22 und [bei DET Depression] in den FAZ-Texten. Die beiden Wortverbindungen wurden ausgewählt zum einen, weil sie das Schlüsselwort Depression enthalten, und zum anderen, weil ihre Verwendung in den untersuchten Texten Wesentliches zur massenmedialen Konstituierung des Krankheitsbildes beiträgt. Mehrwortverbindungen können abhängig von der jeweiligen Forschungsrichtung, der Analysemethode (z. B. wie man Mehrwortverbindungen aus den Texten überhaupt extrahiert) und der einzelnen Fragestellung sehr unterschiedlich definiert werden. Aus der phraseologischen Perspektive und in der Tradition
|| 21 Darüber, ob die vorgestellten Analyseergebnisse für das gesamte Korpus (FAZ, Der Spiegel, Die Zeit) Gültigkeit haben, lassen sich momentan noch keine Aussagen machen. 22 Ich wähle diese formale Darstellungsart, um die syntaktische Struktur der untersuchten Ausdrücke hervorzuheben, die hier schwerpunktmäßig diskutiert wird.
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der phraseologischen Terminologie bezeichnet man solche Wortverbindungen, die nach den Mustern [in DET Depression] und [bei DET Depression] gebildet werden, als Kollokationen, als teilidiomatische Phraseologismen (vgl. Burger 2015: 38–41). Idiomatizität definiert Burger (2015: 27) semantisch, als „[…] eine Diskrepanz zwischen der phraseologischen Bedeutung und der wörtlichen Bedeutung des ganzen Ausdrucks […]“. So wäre ein Ausdruck in einer Depression teilidiomatisch, wenn man annimmt, die Verwendung der Präposition in sei metaphorisch, der Ausdruck bei einer Depression wäre dagegen nicht-idiomatisch, da beide Wörter bei und Depression in ihrer wörtlichen Bedeutung gebraucht werden.23 Neben den semantischen Aspekten spielt das Kriterium der pragmatischen Festigkeit24 phraseologisch eine wichtige Rolle: Manche Phraseme sind an bestimmte Situationstypen – vor allem in mündlicher Kommunikation – gebunden, wie z. B. Grußformeln (vgl. Burger 2015: 26). Dass pragmatische Festigkeit auf der textuellen und diskursiven Ebene verortet werden kann, sollen die anschließenden Analysen zeigen. In den folgenden Analysen versuche ich, einige pragmatische Aspekte für die Muster [in DET Depression] und [bei DET Depression] herauszuarbeiten. Es geht primär um die textuellen Handlungskontexte, in denen die beiden Muster verwendet werden, und die diskursive Konstitution des Krankheitsbildes Depression. Die analysierten Textstellen wurden durch die Konkordanzenerstellung mithilfe des Programms AntConc25 extrahiert, danach wurde die entsprechende Kontextanalyse durchgeführt. Das Muster [in DET Depression] wird in konkreten textuellen Zusammenhängen realisiert, in denen die Präposition in sowohl lokal als auch direktiv verwendet wird, wie folgende Beispiele zeigen (in allen folgenden Sprachbeispielen sind Hervorhebungen von M. I.): (1)
Menschen, die mitten in einer Depression stecken, sind niedergeschlagen, antriebslos bis zur Erstarrung, haben jeden Lebenselan verloren. Innerlich wie vereist, blocken
|| 23 Die Bedeutung des Lexems Depression hinsichtlich der Metapher wird weiter unten diskutiert. 24 Burger (2015: 26) weist darauf hin, dass Festigkeit von Phrasemen immer als relativ gesehen werden muss und die Grenzen zu freien Wortverbindungen fließen sind. 25 Das korpuslinguistische Instrument AntConc (Antony 2014) wurde vor allem benutzt, um die konkreten Gebrauchskontexte in einem recht umfangreichen Textkorpus zu lokalisieren. Statistische Auswertungen wurden an dieser Stelle nicht durchgeführt, da der Fokus der Untersuchung auf textuellen Handlungszusammenhängen liegt.
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sie alle Versuche von Mitmenschen ab sie aufzumuntern. Stunden verbringen sie grübelnd und empfinden sich selbst als schwere Versager. (FAZ, 10.04.2005, S. 55) (2)
„In einer Depression bin ich der einsamste Mensch auf der Welt“, sagt sie. (FAZ, 15.01.2008, S. 36)
(3)
„Es muss nicht sein, dass so viele Frauen in diese Depression rutschen – und so lange damit kämpfen“, sagt Weimar. (FAZ, 18.07.2007, S. 40)
(4)
Während manche Patienten rasche, unvorhersagbare Umschwünge ihrer Stimmung erfahren, erleben andere vornehmlich die Höhenflüge der Manie oder stürzen regelmäßig in Depressionen. (FAZ, 21.02.2007, S. N2)
In der lokalen Verwendung regiert die Präposition in den Dativ, in der direktionalen den Akkusativ (vgl. Zifonun, Hoffman & Strecker 1997: 2105). Die spezifische binnen-semantische Beziehung (vgl. Zifonun, Hoffman & Strecker 1997: 2099), die zwischen der Präposition und dem Nomen im Dativ indiziert wird, ist die Räumlichkeit. Bemerkenswert ist im Fall der Präpositionalphrasen mit Depression, dass das Lexem keine Räumlichkeit bezeichnet, sondern eine psychische Krankheit. In dieser spezifischen Wortverbindung kann also die prototypische denotative lokale Präpositionsbedeutung gar nicht realisiert werden, der Kontext zwingt eine metaphorische Lesart auf, die „[…] bei Bezeichnungen für Befindlichkeiten und Emotionen besonders hervor[tritt]“ (Zifonun, Hoffman & Strecker 1997: 2128). Zifonun, Hoffman & Strecker (1997: 2128) sprechen von „Behältnismetaphern“. Es darf angenommen werden, dass die Depression als eine schwere psychische Krankheit um einiges komplexer als eine einzelne Emotion ist, sodass es sinnvoller wäre, an dieser Stelle nicht von Behältnismetapher, container metaphor im Sinne von Lakoff & Johnson (1980: 29–32), sondern von einer Raum-Metapher zu sprechen. In dem untersuchten Diskursausschnitt wird die Krankheit Depression als ein Raum konzeptualisiert, in den die erkrankte Person unabsichtlich, plötzlich hineingerät und in dem sie sich für eine unabsehbare Zeit befindet. Die Person fühlt sich von der Krankheit wie von einem Raum umgeben, ist körperlich in dem Raum anwesend. Depression umfasst die gesamte Persönlichkeit der erkrankten Person und fordert sie körperlich, seelisch und geistig heraus.26 Die Krankheitser-
|| 26 Vgl. z. B. den Titel des berühmten Werks des Soziologen Alain Ehrenberg „Das erschöpfte Selbst“ (2013), zuerst erschienen 1998.
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fahrung ist die einer alltäglichen, körperlichen Erfahrung, einer physischen Präsenz in einem Raum. Mit dieser Metapher sind auch andere Ausdrücke konsistent, die ebenfalls die subjektiven Empfindungen der erkrankten Personen beschreiben, siehe z. B. den Titel eines Beitrags zum Thema Depression „Mit ‚Final Fantasy‘ heraus aus dem tiefen Loch“ (FAZ, 24.11.1999, S. 53). Auch hier wird metaphorisch dargestellt, wie es sich anfühlt, eine Depression zu haben. Insofern ist die metaphorische Perspektivierung der Räumlichkeit durchaus nachvollziehbar. Gleichwohl stellt sich an dieser Stelle eine generelle Frage bezüglich der Metapher in den Ausdrücken in der Depression und in die Depression. Es gibt kein nichtmetaphorisches Pendant zu diesen Ausdrücken, die metaphorische Ausdrucksweise ist die einzige Möglichkeit, die Empfindungen der an der Depression erkrankten Personen zu konzeptualisieren. Außerdem gibt es keine weiteren Krankheiten, bei denen der Ausdruck mit der Präposition in gebildet wird. Man sagt nicht *in der Grippe, *im Krebs, *in der Schizophrenie.27 Betrachtet man das Wort Depression, muss festgestellt werden, dass es auch eine Metapher ist. Es geht zurück auf das lateinische dēprimere, was ‚herabdrücken, -senken‘ bedeutet (vgl. Pfeifer 2012: 215). Das subjektive Empfinden bei einer Depression kann also nur unmittelbar durch eine metaphorische Umschreibung wiedergegeben werden. Hier zeigt sich das Besondere, die Spezifität der Thematik um psychische Krankheiten. Eine rein körperliche Erkrankung, wie z. B. ein Beinbruch, ist etwas Konkretes, direkt Beobachtbares, folglich ist auch die Sprache, in der sie beschrieben wird, gegenständlicher. Das In-Sprache-Fassen von solchen komplexen Prozessen wie einer psychischen Krankheit ist dagegen viel komplexer (vgl. Feer 1987: 23–26; Schuster 2010: 116–127, 367–374). Auch für die behandelnden Ärzte sind Krankheitssymptome bei psychischen Krankheiten primär über Schilderungen subjektiven Empfindens der Betroffenen zugänglich. Die Ausdrücke in der Depression und in die Depression sind Fachausdrücke, die im fachinternen medizinischen Diskurs Verwendung finden. Ursprünglich aus der Alltagssprache für die Fachkommunikation umfunktioniert (vgl. Fleck 1980: 149),28 werden sie in massenmedialen Diskursen verwendet, um eine Nähe zur Alltagswelt der angesprochenen Lesergruppe zu schaffen und dadurch Wissen zu vermitteln.
|| 27 Zu Rolle von Metaphern bei der Versprachlichung von Krankheitssymptomen bei psychischen Krankheiten in Krankengeschichten, vgl. Schuster (2010). 28 Schuster (2009: 371–372; 2010) zeigt, wie im Schreiben über psychisch Kranke im 19. Jahrhundert das lexikalische Material „der Gemein- und Bildungssprache adaptiert und verfremdet wird“ (Schuster 2009: 371), wie z. B. die Hell-Dunkel-Metaphorik, die auf dem Gebiet psychischer Erkrankungen verbreitet ist.
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Die kommunikativen Bedürfnisse der Diskursakteure in diesem spezifischen Kontext erfordern genau diese ausdrucksseitige Realisierung, die mit einer bestimmten, in diesem Kontext aktualisierten Bedeutung in Verbindung gebracht wird (vgl. Feilke 1996: 103, 121). Es müssen subjektive Erlebnisse einer psychisch kranken Person kommuniziert werden, die eigentlich nicht kommunizierbar sind (vgl. Feer 1987: 23). Der gewählte sprachliche Ausdruck in der Depression wird gebraucht, um die subjektiven Erlebnisse intersubjektiv nachvollziehbar zu machen. Das Erleben einer Depression als ein Raum und die entsprechende sprachliche Form helfen, abstrakte Sachverhalte – wie eine psychische Krankheit – zu konkretisieren, zu veranschaulichen und für den Anderen zugänglich zu machen. Konkretisierung von abstrakten Sachverhalten, Veranschaulichung von einzelnen Aspekten komplexer Sachverhalte sind (Sprach-)Handlungen, die insbesondere in wissensvermittelnden Kontexten relevant sind. Die Ausdrücke mit der direktionalen Verwendung der Präposition in schildern entsprechend metaphorisch die Bewegung, den Weg in die Krankheit, der ebenfalls aus der subjektiven Perspektive der Betroffenen dargestellt wird. Z. B.: (5)
Schon viermal fiel der stämmige Zweiundsechzigjährige in schwere Depressionen, die zwischen drei Monaten und fast einem Jahr dauerten. In der Regel beginnt eine Depression mit Nachdenklichkeit und abgeschwächten Symptomen. „Man fällt langsam hinein und wacht auch langsam wieder auf. Einmal jedoch verschwanden sie über Nacht“, erinnert er sich. (FAZ, 15.04.2002, S. 49)
(6)
Sebastian Deisler, der Bayern-Profi und Nationalspieler, hat in dieser vermeintlich paradiesischen Welt mit psychischen Problemen zu kämpfen. Die Frage, ob er auch außerhalb des Profifußballs in Depressionen verfallen wäre, läßt sich nicht beantworten. (FAZ, 24.12.2003, S. 30)
(7)
Härter, schneller – gar nicht mehr. Immer mehr Menschen fallen in Depressionen. (FAZ, 20.08.2006, S. 36)
(8)
Während manche Patienten rasche, unvorhersagbare Umschwünge ihrer Stimmung erfahren, erleben andere vornehmlich die Höhenflüge der Manie oder stürzen regelmäßig in Depressionen. (FAZ, 21.02.2007, S. N2)
(9)
Die größte Anzahl Patienten in der Tannenwaldklinik beispielweise seien Angehörige von Suchtkranken gewesen, die, von der familiären Situation chronisch überfordert, oft sukzessive in eine Depression gerieten. (FAZ, 21.02.2002, S. 64)
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Diese Textbeispiele zeigen, dass die direktionale Verwendung der Präposition in mit der Raum-Metaphorik der lokalen Verwendung konsistent und auch folgerichtig ist. Wenn die Krankheit als ein Raum konzeptualisiert wird, so muss, gemäß der menschlichen sensomotorischen Wahrnehmung, auch der Weg in den Raum und aus dem Raum entsprechend konzeptualisiert und versprachlicht werden: Es ist einerseits die körperliche Erfahrung des Sich-Befindens in einem Raum, andererseits auch das kulturelle Wissen darüber (vgl. Lakoff 1987: 79–84; Köller 2004: 607–613), dass Räume Ein- und Ausgänge haben, über die man hinein- und hinaus-gelangt. Die Prädikatsverben der Sätze, in denen die Präposition in den Akkusativ regiert, weisen außerdem eine spezifische Semantik auf. Die Verben fallen, verfallen, stürzen, rutschen und geraten implizieren, dass die Bewegung plötzlich, unerwartet und unkontrolliert ausgeführt wird. Die Person, die fällt, stürzt, rutscht, kann gar nicht so schnell reagieren, um den Fall oder Sturz zu verhindern, sie ist machtlos und ausgeliefert. Die Person verliert die Kontrolle über die Situation oder auch über das gesamte Leben, wenn sie krank wird. Damit wird das Erkranken an einer Depression als etwas Schicksalhaftes, Unberechenbares aufgefasst, worauf eine Person keinen Einfluss ausüben kann: Die Krankheit widerfährt einem, man kann sie nicht steuern. In der Darstellung der Schicksalhaftigkeit der Krankheit wird implizit die Frage der Schuld aufgeworfen: Wenn die Krankheit als Schicksal erlebt wird, ist die Schuldfrage quasi geklärt. Man erkrankt nicht durch ein persönliches schuldhaftes Tun, sondern durch z. B. äußere Umstände, die man nicht beeinflussen kann. Die Semantik der Verben fallen, verfallen, stürzen, rutschen und geraten verweist auf eine bestimmte, diskursstrukturierende Metaphorik, durch die ein spezifisches Krankheitsbild entsteht. Die Konzeptualisierung einer psychischen Krankheit als ein Raum – diese Metapher kann als zentral angesehen werden – zieht weitere Ausdifferenzierungen nach sich, wenn z. B. weitere Aspekte der Krankheit durch metonymische Übertragungen dargestellt werden, wie im folgenden Beispiel der Titel eines Artikels „In der Seelenfinsternis gefangen“ (FAZ, 15.11.1999, S 14). In diesem Beispiel wird die Krankheit als ein dunkler Raum beschrieben, in dem sich die erkrankte Person unfreiwillig aufhält. Wenn es einen Weg in die Depression gibt, dann gibt es auch einen aus der Depression, was in den folgenden Ausdrücken zu sehen ist: (10) Selbsthilfegruppe, Antidepressivum, Therapie – der Weg aus der Depression ist lang. (FAZ, 18.07.2007, S. 40) (11) Aber wo ist der Weg aus der Depression? (FAZ, 26.01.2006, S. 45)
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Der Aspekt der Plötzlichkeit, der Schnelligkeit wird durch die Semantik der Verben hervorgehoben, wesentlich sind hier aber auch die Gebrauchskontexte. Wie in den Ausdrücken mit der lokalen Verwendung der Präposition in wird hier die Darstellung auf eine spezifische Weise perspektiviert (vgl. Köller 2004: 491–501) und bestimmte Diskursakteure – die von der Krankheit Betroffenen – treten in einer bestimmten Diskursrolle auf. Die Betroffenen machen durch die Schilderung ihrer persönlichen Erfahrungen die Krankheit sichtbar und verbürgen sich für die Authentizität der erzählten Geschichten. Gleichzeitig dienen diese Erzählungen der Information und der Aufklärung über diese schwere psychische Erkrankung und können damit zu der Entstigmatisierung beitragen, die durch das Öffentlichmachen von tabuisierten Krankheiten wirksam sein kann. Die oben beschriebenen einzelnen Metaphern, mit denen Depression als ein Raum konzeptualisiert wird, in den man ungewollt und unkontrolliert gerät, sind für den hier analysierten medialen Diskurs insofern wichtig, dass als sie auf allgemeine Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit verweisen, die gesellschaftlich und kulturell bedingt sind (vgl. Spieß 2011: 206). Metaphern sind Kondensate von kulturellen Einstellungen, kollektiven Überzeugungen und Werten und müssen vor dem jeweiligen kulturellen Kontext bewertet werden (vgl. Spieß 2011: 212). Eine psychische Krankheit wird als etwas gesehen, was nicht schuldhaft herbeigeführt werden kann: Man wird krank, ohne dass man etwas getan haben muss und folglich dafür verantwortlich sein kann. Depression kann jeden treffen, wie auch eine Grippe jeden treffen kann. Der Aspekt des Kontrollverlusts, der in der Konzeptualisierung von Depression einer der wesentlichen ist, verweist außerdem auf die gesellschaftlichen Vorstellungen von Gesundheit und Normalität. Eine gesunde Person hat alles im Leben unter Kontrolle, es sei denn diese Kontrolle wird ihr von der Krankheit entrissen. In den narrativen Diskursabschnitten spielen die verbalen Ausdrücke in eine Depression fallen/verfallen/stürzen/rutschen/geraten eine entscheidende Rolle: Mit den Ausdrücken wird der schicksalhafte Moment, der Wendepunkt in den Krankheitsgeschichten markiert, der Moment des Erkrankens. Die betroffene Person erlebt und artikuliert den Moment, ab dem man sich für nicht mehr gesund hält und gezwungen wird, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen und sich als krank zu akzeptieren. Die in den Ausdrücken in eine Depression fallen/verfal-
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len/stürzen/rutschen/geraten enthaltene Metaphorik ist mit anderen konzeptuellen Metaphern29 konsistent, z. B. mit den Weg-Metaphern.30 Die Depression wird als eine Zwischenstation auf dem Lebensweg, ein Punkt auf dem Weg erlebt, der nicht eingeplant war und ein ernstes Hindernis darstellt. (12) Chronische Müdigkeit, die ausschließliche Konzentration auf den Beruf und damit einhergehend das Abbrechen sozialer Kontakte sind noch die harmloseren Symptome. Auf Dauer kann es zu Eßstörungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder sogar einer schweren Depression kommen. (FAZ, 04.01.2006, S. 47) (13) Die Verbindung aus bedrückter Stimmung und dem Rückzug von anderen Menschen kann in eine Depression münden. (FAZ, 15.07.2006, S. 61)
Die Weg-Metaphern konstituieren die narrative Struktur von Krankheitsgeschichten, indem sie die Depression als einen dynamischen Prozess darstellen, als einen Lebensabschnitt der betroffenen Personen. Die eingesetzten Metaphern strukturieren dadurch auch den gesamten Diskurs: Die narrativen Diskursabschnitte bereiten die darauf folgenden argumentativen Diskursabschnitten vor, in denen es nicht um konkrete, persönlichen Geschichten geht, sondern um medizinische Forschungen, die eine bestimmte Hypothese zur Entstehung von Depressionen zu beweisen suchen. Gleichzeitig wird durch diese spezifische Ausdrucksweise eine implizite Bewertung – im Sinne einer Sachverhaltsbewertung – vorgenommen. Da ein gesundes Leben unter Kontrolle als Normalität angenommen wird, ist eine Krankheit als Normabweichung negativ. Diese negative Bewertung ist zuerst subjektiv, da eine Krankheit vor allem für die Betroffenen eine Einschränkung und Verlust an Lebensqualität bedeutet. In der subjektiven Bewertung spiegeln sich aber auch kollektive Vorstellungen und Idealbilder von einem normalen Leben. In medialen Diskursen werden auf diese Weise Aushandlungen über gesellschaftlich relevante Themen geführt (vgl. Felder 2010: 13–15). Die Präpositionalphrase [bei DETdat Depression] wird in Kontexten verwendet, in denen nicht die subjektiven Erfahrungen Betroffener thematisiert werden, sondern die Krankheit als Objekt, von dem berichtet wird. Der Ausdruck taucht in
|| 29 Gemeint sind konzeptuelle Metaphern nach der kognitiven Metaphern-Theorie von Lakoff & Johnson (1980: 3–9, 97–105). 30 Spieß (2011: 381–419) zeigt die Ausprägung der Weg-Metaphorik im Kontext des Stammzellendiskurses.
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Textabschnitten auf, in denen z. B. ein Mediziner interviewt wird (als Antwort auf die Frage: „Wie wird solch ein Patient behandelt?“): (14) Das hängt vom Schweregrad der Depression ab. Bei leichten Depressionen richtet sich die Auswahl des Therapieverfahrens nach den Wünschen des Kranken, ob er also Psychotherapie oder Medikamente bevorzugt. (FAZ, 28.09.2000, S. 68)
Wird über Krankheitssymptome, über beobachtete Verhaltensweisen, Blutwerte, Therapien, Statistiken u. Ä. berichtet, aber nicht aus der subjektiven Perspektive der betroffenen Personen, sondern aus der Perspektive der behandelnden Ärzte, der forschenden Wissenschaftler, wird der Ausdruck [bei DETdat Depression] und nicht [in DET Depression] verwendet, wie in den folgenden Beispielen: (15) Diesen ersten Versuch mit der neuen Substanzklasse hatte man unternommen, wie bereits mehrere Beobachtungen darauf hindeuteten, dass es sich bei der Depression zumindest im Hinblick auf verschiedene Laborwerte auch um eine Art Entzündung handelt. (FAZ, 14.11.2007, S. N2) (16) Kognitive Verhaltenstherapie bei Depression nachhaltig wirksam (FAZ, 18.04.2005, S. 34) (17) Stand der Erkenntnis ist mittlerweile, dass bei einer Depression das fein austarierte und längst nicht schlüssig erforschte Wechselspiel der Botenstoffe zwischen den Nervenzellen im Gehirn, Serotonin und Noradrenalin, aus dem Gleichgewicht gerät, […] (FAZ, 10.04.2005, S. 55)
Die kommunikativen Absichten sind in diesen Kontexten definitiv anders: Es geht nicht um das VERANSCHAULICHEN, KONKRETISIEREN, EMOTIONALISIEREN (im Sinne von textuellen Handlungsmustern nach Sandig 2006: 245–249), sondern um BERICHTEN, BESCHREIBEN, ERKLÄREN usw. Ärzte und Wissenschaftler als Diskursakteure verfolgen verständlicherweise andere Handlungsabsichten: Als Fachexperten sollen sie objektive Informationen – z. B. Forschungsdaten, Medikamentenstudien – liefern. Haben die betroffenen Personen eine subjektive Perspektive auf die Krankheit, sollen die Fachexperten eine objektive Sicht auf die Depression bieten. Dadurch wird im medialen Raum ein spezifisches Krankheitsbild konstituiert. Dieses Bild entsteht auch schon im chronologischen Einzeltextaufbau: Medizinische Informationen zu Depression folgen auf die narrativen Textteile. Einzelfälle, individuelle Krankheitsverläufe und subjektive Symptomerlebnisse werden vom Konkreten abstrahiert und auf eine allgemeine Beschreibungsebene verlagert. Dient das Erzählen von persönlichen Geschichten
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dazu, die journalistischen Texte für die Leser attraktiv und interessant zu gestalten, erfüllen berichtende und erklärende Textpassagen eindeutig die Informationsfunktion (vgl. Brinker 2010: 56–60), wie im folgenden Textbeispiel: (18) Seit einem Jahr ist Kirsten Ralffs* (Hervorhebung im Original) nicht mehr sie selbst: Hastete die Journalistin früher von einem Termin zum nächsten, so schleppt sie sich heute müde und desinteressiert ins Büro. Meist bleibt sie jedoch zu Hause: Ihr fehlt die Kraft, sich aufzuraffen. Sie muß sich regelrecht zwingen, zum Einkaufen das Haus zu verlassen oder ihr Kind zu füttern. Nicht einmal ihre kleine Tochter ringt der 32jährigen ein Lächeln ab. Emotion und Wille scheinen verschwunden zu sein. Wie der Journalistin geht es vielen Menschen: Jeder zehnte Deutsche leidet einmal in seinem Leben unter Depressionen. Damit ist nicht die Niedergeschlagenheit gemeint, die jeden mal ereilt. Eine echte Depression besteht im wesentlichen aus dem paradoxen Gefühl der Gefühllosigkeit: Nichts macht Spaß, das Leben erscheint nicht lebenswert. Zudem leiden Depressive unter einem Mangel an Konzentration und Motivation: Ihre Arbeit bleibt liegen, sie verlieren ihren Job, sie vernachlässigen soziale Kontakte und vereinsamen. Bislang werden Depressionen meist mit Medikamenten behandelt. Doch die sogenannten Antidepressiva haben Nebenwirkungen: Gewichtszunahme, mangelnde Lust am Sex, Müdigkeit und Übelkeit sind die harmlosen. Bedenklich hingegen wird es, wenn die Arznei extreme Unruhe, Schlaflosigkeit oder Allergien hervorruft. Und in etlichen Fällen helfen Antidepressiva den häufig Selbstmordgefährdeten überhaupt nicht - wie bei Kirsten Ralffs. Hoffnung versprechen nun Studien, die ein physikalisches Verfahren zur Behebung der Depression erforschen. Dieses Verfahren, die sogenannte transkranielle Magnetstimulation (TMS), könnte nach Ansicht seiner Protagonisten in Zukunft die nebenwirkungsreichen Medikamente ersetzen. Und es ließen sich auch diejenigen Patienten behandeln, bei denen Antidepressiva keine Wirkung zeigen. (FAZ, 23.02.2003, S. 62)
Das in diesem Text auffällige Muster ist auch in dem gesamten untersuchten Diskursausschnitt zu finden. Der massenmediale Depressionsdiskurs weist also eine einzeltextübergreifende Strategie auf. Die verschiedenen Perspektivierungen dienen einem Ziel: nämlich ein spezifisches Krankheitsbild der Depression zu konstituieren. Dabei bedienen sie sich unterschiedlicher sprachlicher Mittel, die u. a. auf der syntagmatischen Ebene analysiert werden können.
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4.2 Wissensvermittlung: Perspektivierung Wie oben bereits dargestellt, spielen persönliche Geschichten Betroffener eine wichtige Rolle im massenmedialen Depressionsdiskurs. Krankheitsgeschichten oder aber auch Geschichten von tragischen Ereignissen als Folgen von Depressionen steigern die Aufmerksamkeit der Leser, da sie als authentische Beispiele gesehen werden und in der Alltagswelt angesiedelt sind. Außerdem konkretisieren solche Geschichten abstraktes Wissen und abstrakte Vorstellungen der Textrezipienten zu Depression. Berichtete tragische Ereignisse, wie z. B. Suizide insbesondere von prominenten Personen, erwecken außerdem Sorgen und Ängste, die von Medien aufgegriffen werden. Individuelle Schicksale, ob prominenter oder einfacher Personen, werden dabei als Aufhänger benutzt. Durch diesen Individualbezug kann im Prinzip jeder angesprochen werden, auch in der relativ heterogenen und diffusen Masse der Textrezipienten. Gleichzeitig muss in Bezug auf den Diskurs zu Depression konstatiert werden, dass diese diskursive Strategie durchaus berechtigt ist. Depression ist, statistisch gesehen, eine Krankheit, die jeden treffen kann.31 Die in den Medien präsentierten Lebens- und Leidensgeschichten zeigen das eindrücklich und anschaulich: Kein Erfolg, keine Bekanntheit, kein Geld (wie bei prominenten Personen) können vor Depression schützen. Diese spezifischen diskursiven Strategien dienen einerseits der Attraktivitätssteigerung der Texte, andererseits der Wissensvermittlung, da man dadurch auf die Ursachen und Risikofaktoren durch konkrete Beispiele hingewiesen wird. Die Darstellungen von subjektiven Krankheitserfahrungen sind ein Perspektivierungsmittel: Es wird eine individuelle, subjektive Sicht wiedergegeben. Das Besondere ist dabei, dass bei psychischen Krankheiten das subjektiv dargestellte persönliche Erleben den einzigen möglichen Zugang zu der Krankheit darstellt, auch im medizinischen Fachdiskurs (vgl. Feer 1987: 3–7). Im massenmedialen Diskurs ist eine spezifische Perspektivierung von Sachverhalten den kommunikativen Bedingungen des Kontextes geschuldet: Es ist Massenkommunikation, gerichtet an uninformierte Laien, „erwachsene[r], allgemein gebildete[r] Dilettanten“ (Fleck 1987: 149), die eine relativ heterogene Gruppe darstellen. Gleichwohl muss berücksichtigt werden, dass die FAZ eine bestimmte Leserschaft anspricht, was z. B. den Bildungsgrad oder die Berufsgruppen angeht.32 (Wissens-)-
|| 31 Vgl. die Informationen des Bundesgesundheitsministeriums: http://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/gesundheitsgefahren/depression.html (09.02.2018). 32 Vgl. hierzu den aktuellen Imagefilm auf www.faz.net (http://verlag.faz.net/unternehmen/ ueber-uns/ (29.08.2017).
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Vermittlung kann also als eine übergreifende kommunikative Strategie betrachtet werden, vor deren Hintergrund weitere (textuelle und diskursive) Strategien bewertet werden müssen. Die erzählten Geschichten dienen der VERANSCHAULICHUNG, PERSONIFIZIERUNG und KONKRETISIERUNG der dargestellten Sachverhalte (textuelle Handlungen im Sinne von Sandig 2006: 245–247). Dass gerade bei innerpsychischen Vorgängen während einer Depression eine Veranschaulichung die einzige Möglichkeit ist, Inhalte zu kommunizieren, wurde oben bereits dargelegt. Gleichzeitig dient Anschaulichkeit als Mittel der Verständlichkeit, was insbesondere im Vermittlungsdiskurs eine große Rolle spielt. Durch die Darstellungen von Krankheitssymptomen soll erreicht werden, dass das Wissen über die Krankheit auch verstanden wird. Die Personen, deren Geschichten erzählt werden, werden meistens mit ihren richtigen Namen genannt, was die Krankheit konkret erfahrbar macht. Diese Personifizierung soll eine gewisse Nähe schaffen, ähnlich der, die man aus einem persönlichen Gespräch kennt, wenn eine Geschichte erzählt wird. Durch Anschaulichkeit, Konkretisierung und Personifizierung werden die Textrezipienten EMOTIONALISIERT (vgl. Sandig 2006: 256–257). Sandig (2006: 256) bezeichnet EMOTIONALISIEREN als „eine Sonderform des BEWERTENs“, dies ist im Kontext der populärwissenschaftlichen Wissensvermittlung ein zentraler Punkt. Die dargestellten Sachverhalte wurden/werden bewertet und werden als zu lernendes Wissen präsentiert. Fleck (1987: 149) weist darauf hin, dass die Wertung in der populären Wissenschaft wesentlich ist: Nicht strittige Meinungen werden dargeboten, sondern „die apodiktische Wertung, das einfache Gutheißen oder Ablehnen gewisser Standpunkte“. Insgesamt dienen alle diese textuellen Handlungen einerseits der Konstitution des Krankheitsbildes Depression, andererseits dazu, die Texte über Depression attraktiv zu gestalten. Das rückt sie in die Nähe von persuasiven Texten. Dabei sind die Journalisten um Verständlichkeit bemüht, um komplexe Sachverhalte zu erklären33 und Wissen zu vermitteln.34
|| 33 In dem bereits erwähnten Imagefilm der FAZ wird mehrfach betont – und das gehört zum Selbstverständnis des Unternehmens FAZ –, dass die Aufgabe der Zeitung ist zu ERKLÄREN, unabhängig vom Ressort und Thema. 34 Was an dieser Stelle ausgeklammert werden muss, weil es den Rahmen des Beitrags sprengen würde, ist die multimodale Komponente: Zunehmend werden Zeitungstexte zu komplexen multimodalen Kommunikaten, die neben den verbalen Textteilen auch zahlreiche andere semiotische Elemente enthalten (Bilder, Graphiken usw.). Gerade in Vermittlungstexten spielen diese zusätzlichen Elemente eine wichtige Rolle, wenn es um Anschaulichkeit und Emotionalisierung geht (vgl. Stöckl 2004: 253–300; Sandig 2006: 245–260; Felder 2007: 191–194).
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4.3 Wissensvermittlung: Sachverhaltsbewertung An einem Beispiel möchte ich eine weitere Besonderheit der textuellen und diskursiven Handlungszusammenhänge im massenmedialen Depressionsdiskurs aufzeigen. Der Ausdruck ständige Erreichbarkeit, der phraseologisch als Kollokation klassifiziert werden kann, tritt in meinem Korpus an den Stellen auf, an denen nicht mehr Krankheitssymptome dargestellt werden, sondern nach den Ursachen der Erkrankung gesucht wird. Eine typische diskursive Strategie ist folgende: An konkreten Fallbeispielen von erkrankten Personen, darunter auch viele Prominente, wird zuerst das Bild der Krankheit konstruiert. Dabei spielen, wie oben bereits dargestellt, persönliche Geschichten Betroffener eine wichtige Rolle, die Krankheitsgeschichten werden aus einer subjektiven Perspektive erzählt. Darauf folgt die Erforschung der Ursachen der Depression, wobei Experten, auch mit entgegengesetzten Meinungen, zu Wort kommen. Hier wird ein neues Subthema (vgl. Felder 2012: 132) eröffnet, eine neue Argumentationslinie geführt, in der moderne Arbeits- und Lebensbedingungen als mitverantwortlich für die Erkrankung ausgemacht werden: (19) Dabei ist die Doppelsyntax aus „Kreation und Depression“ – so der Titel des Bandes – nicht nur Teil der Arbeitswelt, sondern prägt auch das Privatleben, wo Kommunikation im Echtzeitmodus ständige Erreichbarkeit voraussetzt (Facebook und Smartphones), wo der Einstieg ins Berufsleben über unentgeltliche Leistungen hart erkämpft werden muss (Generation Praktikum) und der Aufbau von zwischenmenschlichen Beziehungen nur auf Zeit, also im Konjunktiv, geschieht (Bindungsangst). (FAZ, 24.05.2011, S. 30)
Die konkrete Einbettung des Ausdrucks ständige Erreichbarkeit in die textuelle Handlungsstruktur ist folgende: Die modernen Arbeits- und Lebensbedingungen, insbesondere die modernen Kommunikationsmittel, werden verantwortlich für Depressionen gemacht. Für diese Argumentation werden STUDIEN ZITIERT, EXPERTEN INTERVIEWT, um dann die beschriebenen Arbeits- und Lebensbedingungen wie z. B. ständige Erreichbarkeit NEGATIV zu BEWERTEN. Zu der rein referenziellen Funktion des Ausdrucks kommt eine negativ konnotierende, weil negativ bewertende, hinzu. Die negative Konnotation des Ausdrucks ständige Erreichbarkeit ergibt sich keinesfalls aus der Semantik des Ausdrucks. Erreichbarkeit suggeriert eher etwas Positives, worauf auch der Wortbildungstyp verweist: Erreichbar sein bedeutet erreicht werden können, also eine positive Möglichkeit. Die negative Konnotation ist also kontextgebunden: Da der Kontext eine Bewertung erfordert, wird der sprachliche Ausdruck durch eine pragmatische Zusatzbedeutung angereichert.
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Die bewertende Komponente auf der semantischen Ebene indiziert auch die pragmatische Festigkeit des Ausdrucks. Sie zeigt an, dass speziell in massenmedialen Kontexten diese sprachliche Form mit einer spezifischen Bedeutung unter spezifischen diskursiven Bedingungen – Eingebundenheit in argumentative Strukturen – verbunden ist. Im Depressionsdiskurs wird ständige Erreichbarkeit in den Diskursabschnitten verwendet, in denen die modernen Arbeits- und Lebensbedingungen als Ursachen für die Depression thematisiert werden. Berücksichtigt man andere Gebrauchskontexte, wie z. B. den Bereich der Telekommunikation, aus dem der Ausdruck ursprünglich kommt, ist ständige Erreichbarkeit durchaus etwas Positives, wenn es um die technische Leistung von Telefonnetzen geht. Auf der Ebene des Diskurses sind die oben angeführten Bewertungen als diskursive Handlungen der „Sachverhaltsbewertung“ (Felder 2012: 118) zu verorten. Berücksichtigt man die speziellen Bedingungen der Wissensdiskrepanz in den medialen Medizindiskursen, ist die Sachverhaltsbewertung als eine Teilhandlung der übergeordneten Sprachhandlung der Wissensvermittlung aufzufassen.
5 Fazit Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die hier diskutierten Wortverbindungen, Kollokationen im phraseologischen Sinne, spezifische pragmatische Eigenschaften aufweisen, die insbesondere der thematischen Spezifität und den Handlungsstrukturen auf der textuellen und diskursiven Ebene, also ihrer spezifischen Kontextualisierung, geschuldet sind. Feilke (1996: 168) spricht von „pragmatischer Kontextualisierungspotenz“, d. h. bezogen auf die oben diskutierten Beispiele: Die Ausdrücke in der Depression, bei der Depression und ständige Erreichbarkeit indizieren einen spezifischen pragmatischen Kontext. In dem untersuchten Diskursabschnitt zu Depression treten diese Kollokationen in spezifischen Handlungsmustern auf. Eingebettet in die medialen wissensvermittelnden Kontexte tragen sie insbesondere zur Sachverhaltskonstituierung und -bewertung bei.
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Phraseme in medialen Medizindiskursen zu Depression | 309
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Pavla Schäfer
Formelhafter Sprachgebrauch in Fachdiskursen der Schulmedizin, Naturheilkunde und Homöopathie Erste Überlegungen zu einem Forschungsvorhaben Zusammenfassung: Der vorliegende Beitrag behandelt den formelhaften Sprachgebrauch in der Schulmedizin, Naturheilkunde und Homöopathie. Im Fokus steht die sprachliche Vorgeprägtheit in Fachtexten aus den drei Gebieten. Ich gehe davon aus, dass die ExpertInnen in ihren Publikationen auf unterschiedliche, für ihr Fachgebiet jeweils typische Formulierungsroutinen zurückgreifen. Die Methode zur Untersuchung der Vorgeprägtheit beruht auf drei Säulen: der Diskurslinguistik, der Korpuslinguistik und der Konstruktionsgrammatik, die es methodisch zu verbinden gilt. Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, 1. die Rolle des formelhaften Sprachgebrauchs in medizinischen Texten theoretisch zu reflektieren, 2. die Methode zur Ermittlung der Formelhaftigkeit zu skizzieren und 3. erste exemplarische Beobachtungen vorzustellen und zu diskutieren.1
1 Einleitung Im Fokus des vorliegenden Beitrags steht formelhafter Sprachgebrauch in medizinischen Texten. Betrachten wir zum Einstieg in das Thema zwei Textpassagen zur Diagnose Otitis externa, der Entzündung des äußeren Gehörgangs. Die Textpassagen stammen aus zwei unterschiedlichen Lehrbüchern. Sie betreffen dieselbe Diagnose, wurden aber unterschiedlichen Kapitelabschnitten entnommen: Die akute Otitis externa circumscripta (Ohrfurunkel) bildet sich im äußeren Drittel des Gehörganges, in dem sich Haut über den Knorpelanteilen befindet und reichlich Haarfolikel
|| 1 Der Aufsatz stellt einige Aspekte meines Habilitationsprojektes vor, das sich zur Zeit der Einreichung des Manuskriptes in einer frühen Bearbeitungsphase befindet. Aus diesem Grund können noch keine konkreten Aussagen über das Untersuchungskorpus getätigt und Analyseergebnisse vorgestellt werden. Ich bedanke mich bei Jürgen Schiewe und Nina Kalwa für ihre Kommentare zum Manuskript dieses Artikels.
DOI 10.1515/9783110602319-012
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vorhanden sind. Wie bei allen Furunkeln ist Staphylococcus aureus der dominierende Erreger. Die Therapie erfolgt typischerweise mit oralen staphylokokkenwirksamen Penicillinen (Oxacillin, Flucloxacillin) und bei Abszessbildung durch Inzision und Drainage. Dosierung: – Hohe C-Potenzen: Sowohl bei akuter als auch besonders bei chronischer Otitis externa können C30-C200 eigesetzt werden. Höhere C-Potenzen (M, XM) sind nicht empfehlenswert. – Tiefe D- und C-Potenzen: Bei akuter Otitis externa haben sich tiefe bis mittlere Potenzen zwischen der D6 und der D30 bewährt, die häufig wiederholt werden sollten. – Q-Potenzen haben sich insbesondere bei chronischer Otitis externa bewährt.
Das erste Beispiel stammt aus dem Standardlehrwerk der Inneren Medizin „Harrisons Innere Medizin“ (2016, Bd. 1: 275). Die Innere Medizin stellt ein Kerngebiet der Schulmedizin dar. Das zweite Beispiel stammt aus dem „Leitfaden Homöopathie“ (2009: 756). Ohne im Vorfeld zu wissen, aus welchem medizinischen Gebiet die Texte stammen, ist es – bei genügendem Vorwissen – möglich, Hypothesen über die Zuordnung der Textpassagen zu formulieren. Ausschlaggebend ist dafür die Lexik. In der ersten Textpassage ist die Rede von Staphylococcus aureus als dem dominierenden Erreger, es werden Medikamentenbezeichnungen (staphylokokkenwirksame Penicilline: Oxacillin, Flucloxacillin) und therapeutische Verfahren (Inzision, Drainage) genannt. Im zweiten Beispiel geht es um die Dosierung von Arzneimitteln und es werden verschiedene Potenzen genannt. Die Fachbegriffe sind syntaktisch in komplexere sprachliche Einheiten integriert, z. B. in Kollokationen wie tiefe Potenzen, mittlere Potenzen. Ein separater Absatz zur Dosierung ist ein integraler Teil aller Kapitel in dem Homöopathie-Buch, während sich in dem Lehrwerk der Inneren Medizin nur vereinzelt Hinweise auf konkrete Dosierung der genannten Medikamente finden lassen. Somit kann auch ein Unterschied auf der Ebene der Textgliederung bzw. der behandelten Themen beobachtet werden. Diese Merkmale der Texte funktionieren als Kontextualisierungshinweise, „sie schaffen einen Kontext für die Kommunikation, indem sie Vorwissen aktivieren und Erwartungen organisieren“ (Feilke 2012: 3). Ich gehe davon aus, dass sich die Unterschiede nicht in den genannten Aspekten erschöpfen. Vielmehr ist zu erwarten, dass sich in der Fachkommunikation formelhafter Sprachgebrauch auf allen sprachlichen Ebenen von Wörtern bis hin zu Textaufbau und -gliederung etabliert. Im Formulierungsprozess werden Fachbegriffe, Kollokationen, syntaktische Konstruktionen etc. routinehaft verwendet. Durch das Ausführen sprachlicher Routinen entsteht formelhafter Sprachgebrauch, der sich auf der Ebene einer größeren Textsammlung in Musterhaftigkeit äußert. Musterhaftigkeit kann korpuslinguistisch ermittelt und beschrieben werden.
Formelhafter Sprachgebrauch in Fachdiskursen | 313
In dem Forschungsvorhaben, auf dem dieser Beitrag basiert, stehen die Richtungen der Schulmedizin, der Homöopathie und der Naturheilkunde im Fokus (zu Präzisierung vgl. Kapitel 2). Ich nehme an, dass sich der Sprachgebrauch dieser drei medizinischen Kollektive auf verschiedenen sprachlichen Ebenen und in unterschiedlichen Formen von Formelhaftigkeit unterscheidet. Mittels eines integrativen, mehrstufigen Analysevorgehens, das die qualitative und quantitative Herangehensweise verbindet, soll die Formelhaftigkeit in Form von Sprachgebrauchsmustern ermittelt werden – zunächst unabhängig von der Zuordnung der Texte zu einer Richtung. Anschließend soll geprüft werden, ob die ermittelten Sprachgebrauchsmuster mit den Fachgebieten korrelieren und als spezifisch für die jeweilige fachgebietsinterne Kommunikation interpretiert werden können. Zur Interpretation der Befunde aus der Analyse soll die Denkstiltheorie von Fleck (2015) herangezogen werden. Es wird zu überprüfen sein, inwiefern die Unterschiede im Sprachgebrauch dadurch erklärt werden können, dass die drei Richtungen unterschiedliche Denkkollektive mit unterschiedlichen Denkstilen darstellen. Ein Denkkollektiv ist nach Fleck (2015: 54) eine „Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen“. Denkkollektive sind „Träger geschichtlicher Entwicklung eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissensbestandes und Kulturstandes, also eines besonderen Denkstiles“ (Fleck 2015: 55). Die Entwicklung eines Denkstils erfolgt im diskursiven Austausch innerhalb des Denkkollektivs und durch Abgrenzung von anderen Denkkollektiven. Wie sich Denkkollektive entwickeln, stabilisieren sich ihre Denkstile und „[i]n einem gewissen Entwicklungsstadium werden die Denkgewohnheiten und Normen als selbstverständlich, als einzig möglich empfunden, als das, worüber nicht weiter nachgedacht werden kann“ (Fleck 2015: 140). Denkkollektive sind somit soziale Gebilde, deren Denkstil sich durch ein „gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen“ (Fleck 2015: 130) auszeichnet.2 Die ermittelten Sprachgebrauchsmuster sind somit daraufhin zu prüfen, ob sie als Manifestation unterschiedlicher Denkstile interpretiert werden können. In dem vorliegenden Beitrag liegt der Fokus auf methodischen Aspekten. Die theoretische Grundlage der Denkstiltheorie soll in diesem Aufsatz nicht vertiefend ausgeführt werden.
|| 2 Gebhardt (1996: 139) nennt die „unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen von Schulmedizin und Homöopathie“ als eine mögliche Erklärung für die unversöhnliche Beziehung zwischen den beiden Richtungen.
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An geeigneten Stellen werde ich jedoch auf mögliche Verbindungen zur Denkstiltheorie verweisen.3 Eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach zeigte bereits im Jahr 20004, dass die ProbandInnen zwischen der Schulmedizin und den alternativen Ansätzen unterscheiden und Kritik an der Schulmedizin üben. In der Kritik kommen wesentliche Maßstäbe der Bewertung zum Vorschein: Insgesamt sagen 51 Prozent der Deutschen, daß der Arzt nur die Symptome behandelt und nicht weiter auf die Ursachen eingeht. 44 Prozent beklagen, die Seele komme bei der medizinischen Diagnose und Behandlung zu kurz, 39 Prozent mahnen eine stärker ganzheitlich ausgerichtete Sichtweise der Ärzte an. Den meisten Deutschen ist die ärztliche Kunst zu stark auf die Schulmedizin ausgerichtet. Viele wünschen sich nicht nur, daß Ärzte psychische Faktoren einbeziehen, sondern die Behandlung auch in Richtung alternativer Heilmittel und Heilverfahren öffnen. (S. 17)
Durch die wachsende Nachfrage nach alternativen Behandlungsangeboten ist die Schulmedizin gezwungen, sich in einen Austausch mit anderen medizinischen Richtungen zu begeben und gemeinsam nach Antworten auf die Fragen möglicher Komplementarität zu suchen. Die aktuell zu beobachtende, schrittweise Öffnung der Schulmedizin5 kann zum einen als eine Strategie zur Erhaltung der Machtposition auf dem Gesundheitsmarkt und zum anderen als Reaktion auf die Erfahrung der eigenen Grenzen bei manchen Krankheitsbildern gedeutet werden. Eine linguistische Analyse kann offenlegen, inwiefern sich die im Alltag beobachteten Unterschiede zwischen den drei Fachgebieten im Sprachgebrauch niederschlagen. Die Erkenntnisse solcher Analysen können zu einem produktiven, reflektierten Dialog beitragen. Dem vorliegenden Aufsatz liegen die folgenden Thesen zugrunde: (1) Die Sprachgebräuche der Schulmedizin, der Homöopathie und der Naturheilkunde sind (zumindest partiell) unterschiedlich. (2) Die Unterschiede liegen nicht nur auf der Ebene der Terminologie, sondern ebenfalls auf anderen sprachlichen Ebenen (z. B. syntaktische Einbettung,
|| 3 Zur Denkstiltheorie und Diskursanalyse vgl. Czachur (2013) und Radeiski (2017). Klammer (2010, 2014, 2017) untersucht fachliche Denkstile und verweist auf weitere Arbeiten zu Fachdenkstilen aus dem Leipziger Kreis der Fachkommunikationsforschung. Vgl. darüber hinaus Andersen, Fix & Schiewe (2018); Meier (2013); Mößner (2011) und Engloff (2005) u.a.. 4 http://www.ifd-allensbach.de/uploads/tx_studies/6184_Gesundheitsorientierung.pdf (15.08.2017). 5 Vgl. exemplarisch das Dialogforum Pluralismus in der Medizin: http://www.dialogforum-pluralismusindermedizin.de/ oder die integrative Klinik DEKIMED: http://www.dekimed. de/ (25. 08.2017).
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Themen, Textgliederung, Metaphern, Argumentationsmuster u. a.). Sie sind als unterschiedliche Arten von formelhaftem Sprachgebrauch beschreibbar. (3) Linguistisch betrachtet werden die Unterschiede als unterschiedliche sprachliche Muster sichtbar. Sie können durch eine integrative, mehrstufige Methode erfasst werden, die heuristische und korpuslinguistische Herangehensweise verbindet und unterschiedliche Arten von Musterhaftigkeit aufzeigt. Diese Thesen werden im Folgenden ausgeführt und diskutiert.
2 Schulmedizin, Homöopathie und Naturheilkunde Der öffentliche Diskurs um die Pluralität in der Medizin ist durch zahlreiche Auseinandersetzungen zwischen der Schulmedizin und der sog. Alternativmedizin geprägt.6 Dabei werden unter Alternativmedizin viele, zum Teil ganz unterschiedliche Ansätze zusammengefasst.7 Die oben erwähnte, schrittweise Öffnung der Schulmedizin bedeutet natürlich nicht, dass die Schulmedizin beliebige Gedanken und Konzepte übernehmen würde. Ich gehe davon aus, dass sie sich nur solchen Ansätzen öffnet, die die medizinischen Sachverhalte ähnlich konzeptualisieren (d. h. einem verwandten Denkstil entstammen). Einzelne Aspekte solcher Ansätze können anerkannt und z. T. in die schulmedizinische Forschung, Lehre und Praxis integriert werden. Ansätze, die auf ganz andersartigen Grundlagen basieren, werden abgelehnt. Aufgrund einer ersten groben Sichtung von Vorworten in Lehrbüchern zur Naturheilkunde kann vorsichtig angenommen werden, dass die Naturheilkunde zu den Ansätzen gehört, die bereits z. T. in die Schulmedizin integriert sind und von ihr anerkannt werden – zumindest in der Darstellung von VertreterInnen der Naturheilkunde:
|| 6 Vgl. z. B. die Diskussion unter https://www.welt.de/vermischtes/article119900633/Globuliessende-Homoeopathen-gegen-Schulmedizin.html (Stand: 23.08.2017). 7 Die Begriffe zur Bezeichnung der verschiedenen nicht-schulmedizinischen Ansätze werden sehr unterschiedlich verwendet (z. B. Alternativmedizin, Komplementärmedizin, integrative Medizin). Im Folgenden wird von mir der häufig verwendete Ausdruck Alternativmedizin als Oberbegriff für alle einzelnen Ansätze verwendet. Somit sind Naturheilkunde und Homöopathie als verschiedene Richtungen der Alternativmedizin zu verstehen.
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Naturheilkunde und Naturheilverfahren sind Teil der modernen Medizin und letztlich ,Schulmedizinʻ. […] Die Themenauswahl und wissenschaftliche Fundierung dieses Buches zeigt, dass die Naturheilverfahren, wie sie auch im Curriculum der Ausbildungsordnung definiert werden, in idealer Weise Ausgangspunkt einer wirkungsvollen Integrativen Medizin bilden. Weite Bereiche der Naturheilverfahren können vom Patienten auch nachhaltig selbstwirksam durchgeführt werden und sind hervorragend für die Primär- und Sekundärprävention geeignet. In einem solchen Ansatz kann die Verbindung aus wissenschaftlicher Naturheilkunde und konventioneller Medizin i. S. der integrativen Medizin als beste Medizin für unsere Patienten angesehen werden. (Volger & Brinkhaus 2013: Geleitwort)
Die Homöopathie hingegen grenzt sich von der Schulmedizin explizit ab und wird von ihr nicht anerkannt.8 Dennoch steigt ihre Beliebtheit in der Gesellschaft stetig. Sie wird von den meisten SchulmedizinerInnen und vielen medizinischen Laien als eine gefährliche Scharlatanerie verstanden, vor der gewarnt werden muss. In manchen Ländern wird von Seiten der Schulmedizin und z. T. von Seiten der Politik gegen die Homöopathie vorgegangen.9 Unter der Annahme, dass es sich um verschiedene Denkkollektive mit verschiedenen Denkstilen handelt, könnte man diese Beobachtung mit Fleck (2015: 142–143) wie folgt interpretieren: Je größer die Differenz zweier Denkstile, um so geringer der Gedankenverkehr. […] Der fremde Gedankenstil mutet als Mystik an, die von ihm verworfenen Fragen werden oft als eben die wichtigsten betrachtet, die Erklärungen als nicht beweisend oder danebengreifend, die Probleme oft als unwichtige oder sinnlose Spielerei. Einzeltatsachen und Einzelbegriffe werden – je nach der Verwandtschaft der Kollektive – entweder als freie Erfindungen angesehen, die einfach unbeachtet bleiben […], oder aber – bei weniger divergenten
|| 8 Zur Beziehung zwischen Homöopathie und Schulmedizin vgl. Gebhardt (1996) und Twenhöfel (1996). Als schulmedizinische Position vgl. exemplarisch die sog. Marburger Erklärung von 1992, die sich explizit gegen die Einführung eines Homöopathie-Masters an der Universität Marburg wendet (https://www.physioklin.de/fileadmin/user_upload/physioCAVE/Homoeopathie/Marburger-Erkl%C3%A4rung-Hom%C3%B6opathie-1992. pdf). In Anlehnung an diese Erklärung ist 2016 die sog. Freiburger Erklärung verfasst worden, die als Grundlage für die Arbeit des „Netzwerks Homöopathie“ gilt, das – trotz des Namens, der etwas anderes erwarten lässt – eindeutig gegen die Homöopathie agiert (https://www.netzwerk-homoeopathie.eu/standpunkte/60-diefreiburger-erklaerung-zur-homoeopathie; 23.08.2017). 9 Aus Deutschland und Tschechien sind mir öffentliche Versuche einer (kollektiven) „Überdosierung“ durch Globuli bekannt, die von HomöopathiegegnerInnen durchgeführt wurden, um überspitzt und öffentlich wirksam zu zeigen, dass Globuli durch ihre Niedrigdosierung keine Wirkung aufweisen und somit nichts mehr als Placebo sind. In Russland wird aktuell von Seiten des Staates gegen die Homöopathie vorgegangen (vgl. http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/homoeopathie-russland-lehnt-methode-als-pseudowissenschaft-ab-a-1133395.html, 15.08.2017).
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Kollektiven – anders gedeutet, d. h. in eine andere Denksprache übersetzt und übernommen […].
Die Beziehung zwischen der Homöopathie und der Naturheilkunde wird unterschiedlich aufgefasst. Es gibt Lehrbücher, die Homöopathie ausklammern und damit signalisieren, dass sie nicht zu den naturheilkundlichen Verfahren gehört. Andere Lehrbücher behandeln Homöopathie hingegen als einen von vielen naturheilkundlichen Ansätzen. Unabhängig von der Konzeptualisierung der Beziehung kann Homöopathie als ein relativ geschlossenes, homogenes Denksystem aufgefasst werden (vgl. Heinze 1996; Dinges 1996a; Gawlik 1996; Tischner 1998). Der homöopathische Ansatz wurde von Anfang an als ein Gegenentwurf zu der damaligen Schulmedizin entwickelt.10 Und obwohl sich die Schulmedizin seitdem gravierend verändert hat, bleibt die klare Abgrenzung bis heute erhalten. Der Begründer der Homöopathie Samuel Hahnemann gründete seine Lehre Ende des 18. Jahrhunderts auf zwei Grundideen. Die erste ist das Ähnlichkeitsprinzip,11 die andere die Arzneimittelprüfung am gesunden Menschen (vgl. Gawlik 1996: 70). Durch diese Grundgedanken und die sich daraus ableitenden therapeutischen Verfahren unterscheidet sich die Homöopathie maßgeblich von der Schulmedizin. Die Schulmedizin prangert am stärksten die aus ihrer Sicht nicht nachgewiesene klinische Wirkung der Arzneimittel an, vor allem bei hoch potenzier-
|| 10 Tischner (1998: 129) weist nach, dass Hahnemann (1984) bereits in seiner ersten wissenschaftlichen Schrift „Anleitung alte Schäden und faule Geschwüre gründlich zu heilen…“ (1784) beginnt, „die spanischen Stiefel der Schulwissenschaft auszuziehen“. Seine neue Lehre hat Hahnemann das erste Mal 1796 in seiner Arbeit „Über ein neues Prinzip zur Auffindung der Heilkräfte der Arzneisubstanzen…“ dargestellt, in der er eine „scharfe Kritik an den sonstigen damals üblichen Verfahren [formuliert], die Heilkräfte bestimmter Substanzen zu erschließen und festzustellen. So sehr Hahnemann als Chemiker die Dienste anerkennt, die die Chemie der Heilkunde leistet, indem sie dem Arzte ermöglicht, Gegengifte zu finden, und ihn auf die Unverträglichkeit gewisser Arzneimischungen aufmerksam macht, so ist sie doch im übrigen außerstand, Wesentliche über Heilwirkungen auszusagen“ (Tischner 1998: 175–176). 11 Nach dem sog. Simile-Prinzip werden – meist in niedriger Dosierung – Substanzen eingesetzt, „die in einer homöopathischen Arzneimittelprüfung* den Krankheitserscheinungen ähnliche Symptome verursachen (z. B. Thallium in niedrigster Dosierung zur Behandlung der Alopezie); dieses sog. Ähnlichkeitsprinzip* (Similia similibus curentur) wird in der klassischen H. ergänzt durch ein komplexes System von Zuschreibungen (s. Miasmenlehre) sowohl im Hinblick auf Patienteneigenschaften (Konstitutionstypen) als auch auf die eingesetzten Arzneimittel (Pflanze, Tier, Mineral), das bei der individuellen Verordnung berücksichtigt wird. Meist wird neben der Heilung akuter od. chronischer Erkrankungen eine Stärkung der Konstitution* angestrebt“ (Pschyrembel Naturheilkunde und alternative Heilverfahren 2006: 165).
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ten Arzneien, bei denen pharmakologisch keine Moleküle des Wirkstoffs nachweisbar sind. Wiesenauer & Kerckhoff (2010: 26) reflektieren diese Problematik wie folgt: Während sich die Wirkung von Niedrigpotenzen noch chemisch erklären lässt, werfen gerade Hochpotenzen, die ja als besonders wirkungsvoll gelten, Fragen auf. Eine Vielzahl von Studien im Bereich der Grundlagenforschung konnte nachweisen, dass Hochpotenzen nachweisbare Effekte haben. Wie diese Effekte zustande kommen, ist jedoch bislang noch nicht eindeutig geklärt. Das liegt einerseits daran, dass die – gerade bei Hochpotenzen erforderliche – individualisierte Vorgehensweise in aller Regel keine Studien zulässt, bei denen weder der Behandler noch der Patient wissen, welches Mittel verabreicht wird (sogenannte Doppelblind-Studien). Zum anderen mag es daran liegen, dass unser herkömmliches wissenschaftliches Handwerkszeug nicht geeignet ist, die eigentümliche Wirkungsweise der homöopathischen Hochpotenzen zu erfassen.12
Die Meinungen, ob und wie die Homöopathie mit der Schulmedizin kombiniert werden kann, fallen unterschiedlich aus. Hier sollen exemplarisch zwei entgegengesetzte Stimmen von Homöopathen wiedergegeben werden: Homöopathische Arzneimittel sind keine Wundermittel. Und auch die Homöopathie muss als Therapieform […] sinnvoll und dem Einzelfall angemessen eingesetzt werden – mal als ausschließliche Therapie, mal in Kombination mit anderen Methoden, dann wieder nur bei gewissen Stadien einer Erkrankung oder zur Nachbehandlung. (Wiesenauer & Kernhoff 2010: 27) Es stimmt, dass ein in beiden Sparten ausgebildeter Arzt von Fall zu Fall zu entscheiden hat, welche Methode, Homöopathie oder Schulmedizin, er für den Patienten für richtig hält. Eine Kombination beider Methoden ist aus der Sicht der Homöopathie jedoch nicht möglich. Homöopathie und Schulmedizin haben unterschiedliche Vorstellungen von den Ursachen einer Krankheit und vollkommen verschiedene Denkansätze. (Steingassner 2009: 28–29)
Im Vorwort zur 2. Auflage des Lehrbuchs „Leitfaden Homöopathie“ (Geißler & Quak 2009) heben die Autoren hervor, dass sich das Gesundheitssystem gegenwärtig in einer Umbruchsphase befindet, was die Homöopathie vor neue Aufgaben stellt: Die Gegenwart ist geprägt von tiefgreifenden gesundheitspolitischen Wandlungen – darunter die aktuellen Versuche der Umstrukturierung des Gesundheitssystems und die Einsicht || 12 Im Sinne der Denkstiltheorie könnte man diese Passage so lesen, dass die Methoden der klinischen Studien und die Maßstäbe für die Bewertung der Wirksamkeit dem Denkstil der Schulmedizin entstammen. Daher eignen sie sich nicht oder nur begrenzt dazu, die Wirksamkeit homöopathischer Arzneien zu überprüfen.
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der Notwendigkeit, alte Strukturen der Patientenversorgung aufzubrechen. Der Reformwille wird angetrieben von der Erkenntnis der überbordenden Kosten unseres hochtechnisierten Medizinbetriebs. In dieser Zeit des Umbruchs stehen in der Homöopathie neue und herausfordernde Aufgaben an: – Ausbildung der homöopathischen Ärzte auf akademischem Niveau (universitärer Studiengang). – Qualitätssicherung und Qualitätserweiterung des Erreichten durch Verbesserungen in Lehre, Didaktik und praktischer Ausbildung und deren gleichzeitige Evaluation. – Wissenschaftliche Untersuchung der sozialen, medizinischen und wirtschaftlichen Auswirkung einer professionell angewendeten Homöopathie innerhalb unserer Gesellschaft. – Ausbau der vertrauensvollen und wertschätzenden Kooperation mit anderen Fachrichtungen innerhalb der Medizin.
Wie man dem Zitat entnehmen kann, sehen die Autoren die gegenwärtige Umstrukturierung als eine Chance, die Position der Homöopathie auf dem Gesundheitsmarkt zu stärken und in einen konstruktiven Dialog mit den anderen medizinischen Richtungen zu treten – vor allem mit der Schulmedizin.13 Im „Pschyrembel Klinisches Wörterbuch“ (Abk. KW, 2014: 1922) wird die Schulmedizin wie folgt definiert: lat. ars medicina ärztliche Kunst f: Bez. für die allgemein anerkannte u. an den medizinischen Hochschulen gelehrte Medizin i. S. einer angewandten Naturwissenschaft; vgl. Naturheilverfahren, alternative.
Die Auffassung von Medizin als angewandte Naturwissenschaft ist allerdings innerhalb der Schulmedizin umstritten (vgl. Wiesing 2004: Kapitel 3), ähnlich wie auch der Begriff Schulmedizin selbst.14 Im „Pschyrembel Naturheilkunde und alternative Heilverfahren“ (Abk. NHK, 2006: 339) wird die kurze Definition erweitert (Hervorhebungen von P. Sch.):
|| 13 Im Vorwort zur dritten Auflage von 2016 stellen die Herausgeber – sichtlich enttäuscht – einige vielversprechende, jedoch gescheiterte Versuche der letzten Jahre dar, die Homöopathie als universitären Studiengang einzuführen. Als Ursachen für das wiederholte Scheitern – immer kurz vor der Realisierung des Projektes – werden genannt: „Politische Verwerfungen, Uneinigkeiten innerhalb des eigenen Berufsverbandes, Fragen der Finanzierung und massive Gegeninitiativen“, „starke mediale Angriffe“ und „das konzertierte Vorgehen gegen die Homöopathie durch eine Gruppe von Wissenschaftsideologen („Skeptikerbewegung“)“ (Geißler & Quak 2016: V-VI). Zur Skeptikerbewegung vgl. z. B. https://www.gwup.org/. Trotz der von den Autoren erwähnten Misserfolge wird öffentlich die schnelle Verbreitung der Homöopathie an Universitäten (kritisch) diskutiert, z. B.: http://www.spiegel.de/spiegel/a-730444.html (23.08.2017). 14 Vgl. dazu exemplarisch die expressiv gefärbte Einschätzung von Dörner (2015: 65–66): „Wenn ein grünes Männchen vom Mars, natürlich mit enthnomethodologischem Blick, das ,Dia-
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(lat. ars medicina ärztliche Kunst) f: Bez. für die allgemein anerkannte u. an den medizinischen Hochschulen gelehrte Medizin i. S. einer angewandten Naturwissenschaft; gelegentlich wird derer Ausschließlichkeitsanspruch kritisiert u. der Begriff diskriminierend benutzt. Erstmals wurde der Begriff in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts von homöopathisch tätigen Ärzten zur Abgrenzung gegenüber Homöopathie* geprägt, bis er sich um die Jahrhundertwende als wertneutrale Sammelbezeichnung für die herrschende Richtung der Heilkunde durchsetzte. Vgl. Allopathie, Alternativmedizin, Komplementärmedizin.15
In beiden Definitionen ist explizit die Machtposition auf dem Gesundheitsmarkt eingeschrieben. Die Schulmedizin ist die „allgemein anerkannte […] Medizin“, die „herrschende Richtung der Heilkunde“. Der Topos der Anerkennung scheint eine zentrale Rolle in der Diskussion um die Beziehung zwischen den medizinischen Richtungen zu spielen. Auch dort, wo die vermeintlich trennscharfen Unterschiede relativiert werden, spielt das Argument der Anerkennung eine wichtige Rolle: Heute erscheinen die Übergänge zwischen der Schulmedizin, der allgemein anerkannten Naturheilkunde, den alternativen Heilverfahren und der Paramedizin fließend; immer wieder werden einzelne Grenzen neu gezogen. Manuelle Medizin (als Chiropraktik) und therapeutische Lokalanästhesie (als Neuraltherapie), vor wenigen Jahren noch suspekte Außenseiter, sind heute anerkannt. Umgekehrt werden das Schröpfen, die Blutegel- und Eigenblutbehandlungen heute unter „alternativen Verfahren“ subsumiert, während sie früher in der offiziellen Medizin praktiziert und wissenschaftlich abgehandelt wurden. (Pschyrembel NHK 2006: Vorwort zur 1. Aufl.)
Bei der Sichtung der relevanten Wörterbuchlemmata im NHK und KW fällt auf, dass anerkannt als zentrales Attribut der Schulmedizin verwendet wird. Es wird || logforum Pluralismus in der Medizinʻ oder dieses Symposium betrachten würde, stünde es in der Gefahr, sich totzulachen: Denn wenn die etablierte Medizin den Kampfbegriff ,Schulmedizinʻ ihrer Kontrahenten sich selbst freiwillig aufdrückt – und mit diesem Begriff ist schließlich in der Tradition von Hamlets Schulweisheit einseitig naturwissenschaftliche und menschenfeindliche Borniertheit gemeint –, dann arbeitet die etablierte Medizin offenkundig an ihrem eigenen Untergang, lässt keine Selbstachtung mehr erkennen und dürfte kaum noch zu retten sein. Kommt erschwerend hinzu, dass der Gegenbegriff des ,Komplementärenʻ das Wesen der Medizin viel genauer trifft, hat diese doch von Beginn an betont, nicht sie, sondern die Natur heile den Patienten, während der Arzt der Natur nur ergänzend – komplementär helfe. Und umgekehrt passt ,Schulmedizinʻ besser auf die komplementär genannten Medizinrichtungen, da hier doch ein jeweils ganzheitliches, umfassendes und daher geschlossenes Lehrgebäude reklamiert wird, während die etablierte Medizin sich eher als einen offenen Fortschrittsprozess versteht.“ 15 Im Vergleich zwischen dem „Klinischen Wörterbuch“ (KW) und dem „Wörterbuch für Naturheilkunde und alternative Heilverfahren“ (NHK) erscheint die Erweiterung der Definitionen im NHK um ethnomedizinische, medizinhistorische, medizinethische u. a. geisteswissenschaftlich basierte Aspekte sowie um Begriffsgeschichte und Begriffsreflexion als regelhaft.
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allerdings nicht geklärt, von wem (von den PatientInnen, von der Politik, von den Krankenkassen?) und in welchem Kontext (in Europa, in der westlichen Kultur, in Deutschland, in der Gegenwart oder historisch gesehen?) die Schulmedizin anerkannt wird. Wenn man die Prädikationen untersucht, fällt die unbesetzte Leerstelle des Agens auf. Diese wird nur sehr abstrakt damit besetzt, dass anerkannt durch allgemein spezifiziert wird, wodurch die Semantik aber auch nicht eindeutig wird. Das Agens bleibt in der Schwebe, das Attribut (allgemein) anerkannt ist ein Kandidat für ein Schlüsselwort im Diskurs um die Stellung der medizinischen Richtungen. Auch wenn bislang von der Schulmedizin die Rede war und auch im öffentlichen Diskurs diese Bezeichnung für die akademische Medizin als Ganzes dominiert, ist diese medizinische Richtung keineswegs homogen. Die Musterweiterbildungsordnung der Deutschen Bundesärztekammer führt in der Fassung von 2015 insgesamt 33 Fachgebiete auf, die z. T. noch nach Facharzt- und Schwerpunktkompetenzen weiter unterteilt sind.16 Da es unmöglich ist, alle Fachgebiete in einer Studie zu berücksichtigen, wurde für die Zwecke der Untersuchung die Innere Medizin als ein Kernbereich der Schulmedizin gewählt. Die Innere Medizin ist ein Kerngebiet der Medizin – sowohl in der Patientenversorgung als auch in der Forschung und Lehre. Sie befasst sich mit dem Aufbau, der Funktion und den Erkrankungen sämtlicher Organsysteme unseres Körpers. Ein Facharzt für Innere Medizin (Internist) ist – unter Einbeziehung des wissenschaftlichen Fortschritts – auf die Vorbeugung, Erkennung, Behandlung und Rehabilitation von Fehlfunktionen oder Funktionsausfällen folgender Körpersysteme spezialisiert: – Gefäßsystem (Angiologie) – Stoffwechsel und Hormone (Endokrinologie/Diabetologie) – Verdauungsorgane (Gastroenterologie) – Blut und blutbildende Organe (Hämatologie/Onkologie) – Herz und Kreislauf (Kardiologie) – Niere und ableitende Harnwege (Nephrologie) – Atmungsorgane (Pneumologie) – Knochengerüst und Bindegewebe (Rheumatologie).17
Im Folgenden wird also der Sprachgebrauch der Inneren Medizin betrachtet, die aber stets im übergeordneten Kontext der Schulmedizin verortet wird.18
|| 16 Vgl. http://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/ Weiterbildung/MWBO.pdf (18.08.2017). 17 Vgl. http://www.internisten-im-netz.de/de_innere-medizin-internist_184.html (04.08.2017). 18 Zur Sprache der Schulmedizin allgemein vgl. Busch & Spranz-Fogasy (2015).
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3 Formelhafter Sprachgebrauch Formelhafte Sprache (oder besser: formelhafter Sprachgebrauch) wird hier in Anlehnung an Stein (2004: 280) als Ergebnis der „Vorgeprägtheit von sprachlichen Einheiten“ verstanden (ausführlich zur formelhaften Sprache vgl. Stein 1995). Die formelhaften sprachlichen Mittel reichen von Einwort-Einheiten über satzglied- und satzwertige Ausdrücke bis zu verfestigten Textund Gesprächsstrukturen. Die Festigkeit beruht dabei nicht (nur) auf morphologisch-syntaktischen und semantischen Eigenschaften, sondern (auch) auf pragmatisch-funktionalen. (Stein 2004: 280)19
Nach dieser Definition kann bereits der Rückgriff auf fachspezifische Terminologie (Wörter und Kollokationen) als ein Merkmal formelhaften Sprachgebrauchs verstanden werden. Formelhafter Sprachgebrauch entsteht dadurch, dass Menschen beim Formulieren von schriftlichen oder mündlichen Äußerungen nicht jedes Mal neue kreative Lösungen suchen, sondern dass sie sich „bei sich wiederholenden kommunikativen Tätigkeiten für bewährte, gesellschaftlich etablierte Lösungen entscheide[n], über die man aufgrund kommunikativer Erfahrung meist routinehaft verfügt“ (Stein 2016: 145). Nach Gülich & Krafft (1998: 21) speisen sich die formelhaften Strukturen (sie sprechen von „vorgeformten Strukturen“) aus zwei Arten von Quellen. Die erste Quelle sind frühere Äußerungen und Texte, wozu auch die eigenen früheren Texte gehören. Die zweite Quelle ist das kollektive Wissen einer Gruppe, der sich der Textproduzent zugehörig fühlt. In unserem Fall wären es die medizinischen Denkkollektive. In beiden Fällen gilt, dass Formelhaftigkeit durch Routinen entsteht. Sprachliche Routine kann mit Feilke (2012: 5) wie folgt definiert werden: Sprachliche Routine – ist eingebettet in die institutionale Struktur sozialen Handelns, – besteht in der Zuordnung von Handlungs- bzw. Gebrauchsschemata zu syntagmatischen Oberflächen-Ausdrucksmustern,
|| 19 Ähnlich definieren Gülich & Krafft (1998: 13–14) die „vorgeformten Strukturen“: „Solche Strukturen kommen in sehr unterschiedlichen Kontexten vor und weisen sehr unterschiedliche Komplexität auf, d. h. sie können nur einige Wörter umfassen, einen Satz oder einen vollständigen Text. Wir nehmen nun an, daß es Formulierungsverfahren gibt, die darin bestehen, vorgeformte Strukturen zu gebrauchen.“
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ist – als soziales Handeln – eine semiotische Routine (im Unterschied zu individuellen Verhaltensengrammen), stützt eine flüssige und pragmatisch kontextadäquate Sprachproduktion, ermöglicht durch Kontextualisierungspotentiale die wechselseitige sozialkognitive Koordination der Handelnden und betrifft alle sprachlichen Ebenen.
Ich verstehe sprachliche Routinen prozesshaft als kommunikatives Handeln, durch das als Ergebnis formelhafter Sprachgebrauch entsteht. Sprachliche Routinen müssen – wie soziale Routinen im Allgemeinen – erkennbar sein und sie werden in rekurrenten Kontexten erkannt anhand ihrer salienten Ausdrucksgestalt. Die Salienz ergibt sich dabei nicht als Folge bloßer Frequenz des Vorkommens, sondern im Gegenteil durch die Einschlägigkeit von Kookkurrenzen für bestimmte Gebrauchsschemata und Genrekontexte […]. (Feilke 2012: 15–16)
Der routinehafte Rekurs auf vorgeprägte sprachliche Mittel unterschiedlicher Art – Stein (2011: 281, Fußnote 1) spricht allgemein von „Verfestigungen“ – erfüllt wichtige Funktionen im Prozess der Sprachproduktion. Verfestigungen stellen Formulierungsressourcen dar. Mit Bezug auf die Textlinguistik und Formulierungstheorie postuliert Stein (2011: 283), dass hinter der Entscheidung, im Zuge der Textproduktion an bestimmten Stellen auf (bestimmte) Phraseme zurückzugreifen, i. d. R. eine bewusste Entscheidung des Textproduzenten für die phraseologische Ausdruckform – und d. h. zugleich gegen nicht-phraseologische Ausdrucksalternativen – steht.
Um die Intentionalität der Wahl sprachlicher Mittel zu betonen, spricht er von „Motiven für den Rückgriff auf Phraseme und andere Arten der Verfestigung“ (Stein 2011: 289) statt von „Funktionen“. Ich gehe hingegen davon aus, dass der Rekurs auf Formulierungsmuster auch unreflektiert erfolgen kann.20 Man greift routinemäßig auf bewährte Lösungen zurück, die man im Laufe der Sozialisa-
|| 20 Diese Überlegung kann mit der Denkstiltheorie untermauert werden. Da Denkstile „gerichtetes Wahrnehmen“ verursachen, werden bestimmte Denkalternativen ausgeblendet und damit auch bestimmte sprachliche Alternativen nicht in Erwägung gezogen.
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tion erworben hat und die sich im Studium, in der Praxis, in zahlreichen kommunikativen Erfahrungen bewährt haben.21 Die wesentlichen Motive für den Rückgriff auf Verfestigungen sind laut Stein (2011: 289) die folgenden: (1) (2) (3) (4)
(5)
Formulierungserleichterung/-entlastung (Formulierungshilfe in kritischen Formulierungsphasen) (subjektiv empfundene) Verhaltenssicherheit (bei Kenntnis der jeweiligen Verwendungsbedingungen) Symbolisierung der gesamtgesellschaftlichen oder gruppenspezifischen Zu- und Zusammengehörigkeit Nutzung des semantischen und/oder pragmatischen Mehrwerts, im Interesse, bestimmte kommunikative, stilistische usw. Effekte wie Expressivität(ssteigerung), Verbesserung der Anschaulichkeit, Nutzung einer besonderen Bildhaftigkeit, Ausdruck von Einstellung und Bewertung usw. zu erzielen Auslöser für spezifische Formen der Textproduktion bzw. bildlichen Darstellung (wie z. B. Karikaturen).
Verfestigungen erfüllen für den Textproduzenten sowohl kognitive als auch soziale Funktionen. Durch das Bedienen erwartbarer Formulierungsmuster signalisieren Mitglieder einer Sprechergemeinschaft ihre Zugehörigkeit und konstruieren dadurch ihre soziale Identität als Mitglied eines bestimmten (Denk-)Kollektivs. Konkret gesprochen: Indem ein Homöopath so schreibt, wie im Bereich der Homöopathie erwartbar ist (d. h. er verwendet die üblichen Fachbegriffe, Kollokationen, syntaktischen Konstruktionen, Gliederungssignale, Schluss- und Argumentationsverfahren etc.), signalisiert er, dass er zu dem Kollektiv gehört, dass er die zentralen Begriffe kennt und damit sicher umgehen kann, dass er die Methoden beherrscht, die Wirkungsmechanismen versteht etc. Er konstruiert seine soziale Identität als Mitglied des fachlichen Kreises und somit als Experte auf dem Gebiet.22 Eine Abweichung vom erwartbaren Sprachgebrauch könnte zu
|| 21 Eine ähnliche Sicht vertritt aus Sicht der pragmatischen Stilistik Sandig (2006: 29), wenn sie postuliert, dass für die pragmatische Stilanalyse alles relevant ist: „sowohl Bewusstes wie Automatisches und Symptomatisches, das sich im Stil dem Rezipienten zeigt“. Verfestigungen können als das „Automatische“ verstanden werden, das im Sinne der Kontextualisierung gleichzeitig symptomatisch für das jeweilige Fachgebiet sein kann. 22 Die soziale Funktion der Zugehörigkeitssignalisierung geht mit m. E. der – von Stein (2011) nicht erwähnten – Funktion zur Vertrauensförderung einher. Durch die sprachliche Konstruktion der Expertenidentität arbeitet eine Person gleichzeitig an ihrem Image der Vertrauenswürdigkeit. Ein Sprachgebrauch, der den kommunikativen Normen eines Fachgebietes folgt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb der Fachgemeinde als angemessen eingeschätzt werden, denn Normen bestimmen unsere Erwartungen, was in welcher Situation als angemessen oder weniger angemessen gilt (vgl. dazu Schäfer 2014).
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Sanktionen führen, indem z. B. ein Artikel nicht zur Publikation angenommen wird, eine Veröffentlichung kritisiert oder aber ignoriert, ein Forschungsantrag abgelehnt wird etc. Formulierungsadäquatheit und -sicherheit sind somit Voraussetzungen für den Zugang zum Expertenkreis. Es ist kein Zufall, dass Studium und Weiterbildung zum großen Teil gerade Text(sorten)kompetenz vermitteln sollen. Etwas zugespitzt ausgedrückt, manifestiert sich im Rekurs auf Vorgeformtheit aus formulierungstheoretischer Sicht also Formulierungs- und Textproduktionswissen: Man weiß, was weit verbreitet und gesellschaftlich akzeptiert ist, und formuliert bzw. verbalisiert entsprechend. Vorgeformtheit ist so gesehen nicht nur nichts Ungewöhnliches, sondern in Abhängigkeit von den konkreten Kommunikationsumständen etwas ,Normalesʻ und sogar Erwartbares; denn zweifellos „kann man die meisten kommunikativen Handlungen auch ohne Rekurs auf formelhafte Muster vollziehen, aber man tut es eben nicht“ (Gülich 1997, 171), u. a. auch weil gerade das Fehlen der vorgeformten ,Lösungʻ u. U. „negativ sanktioniert würde“ (ebd.). (Stein 2016: 147)23
Das Fachgebiet, aus dem der Textproduzent stammt, stellt einen kommunikativen Kontext dar, der durch die formelhaften Formulierungen abgerufen wird: Die individuelle Äußerung qualifiziert sich durch ihre Routineförmigkeit als Teil eines Verständigungszusammenhangs, der eingebettet ist in eine institutionale Struktur, etwa der Familie, die sich als soziale Institution wiederum unter anderem durch Tischgespräche erhält und reproduziert. Dafür ist neben der kommunikativen auch eine kognitive Strukturierungsleistung gefordert. Sprachliche Routinen können in sozialkognitiver Hinsicht als „Kontextualisierungshinweise“ […] dienen. […] Bestimmte Inhalte können über entsprechend routinierte Hinweise verlässlich aufgerufen werden. Dieser Wirkzusammenhang gilt auch auf gesellschaftlicher Ebene für das kommunikative Gedächtnis einer Gemeinschaft […], das auf der Grundlage einer entsprechenden Kommunikationserfahrung über sprachliche Routinen verlässlich angesprochen werden kann […]. (Feilke 2012: 3; Hervorhebung im Original)24
|| 23 Bezogen auf die Denkstiltheorie: Wenn sich einmal ein Denkstil etabliert und verfestigt hat, übt er laut Fleck (2015: 137) einen „sanften Zwang“ auf die Mitglieder des Denkkollektivs aus. Durch die kommunikativen Normen innerhalb eines Denkkollektivs sehen sich dessen Mitglieder „gezwungen“, auf den Vorrat konventionalisierter Formulierungen zurückzugreifen und sich Routinen zunutze zu machen (vgl. Stein 2016: 146), denn diese Strategie macht Anerkennung und sozialen Erfolg wahrscheinlicher. 24 Obwohl Feilke (2012) nicht auf Denkstile abzielt, sind seine Ausführungen zur Routinehaftigkeit und zur Kontextualisierungstheorie (vgl. Auer 1986) m. E. mit der Denkstiltheorie kompatibel. Die Kommunikation innerhalb eines Denkkollektivs stellt einen „Verständigungszusammenhang“ dar, der eingebettet ist in die institutionale Struktur des Denkkollektivs (universitäre
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Sprachliche Routinen sequentieren laut Feilke (2012: 2) das gemeinsame Handeln und strukturieren die wechselseitigen Erwartungen. Somit können sie sich auf die kommunikativen Normen (als Erwartungserwartungen verstanden) auswirken. Über semiotische Routinen bringen Menschen einen „verbindlichen Handlungszusammenhang und eine gemeinsame Wirklichkeit“ (Feilke 2012: 3) hervor. Sprachliche Routinen bilden damit „eine Schnittstelle zwischen sozialen Ordnungen einerseits und der sprachlichen Kompetenz des Individuums andererseits“ (Feilke 2012: 3).25 Bisher standen die Funktionen der Formelhaftigkeit aus Sicht des Textproduzenten im Vordergrund. Wir haben gesehen, dass für die Sprachproduktion die kognitive Funktion der Entlastung und die sozialen Funktionen der Verhaltenssicherheit und der Konstruktion sozialer Identität relevant sind. Auch im Prozess der Sprachrezeption spielt der Rekurs auf Vorgeprägtes eine wichtige Rolle. Sofern Musterhaftes als solches wiedererkannt wird, erleichtert es dem Rezipienten die Zuordnung des Textes zu einer Textsorte und zum Kommunikationsbereich und es erleichtert die Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit eines Textes. D. h.: „Auf beiden Seiten tragen musterhafte Formulierungen zu kognitiver Entlastung bei“ (Kühtz 2007: 237). Zu den genannten Funktionen der Formelhaftigkeit kommt auf beiden Seiten zunehmend eine weitere hinzu, die im Zusammenhang mit der Wissenschaftssprache und der Publikationspolitik in der Wissenschaft nicht zu unterschätzen und kritisch einzuschätzen ist – die (zeit)ökonomische Funktion. Formelhaftigkeit ermöglicht eine schnellere Produktion neuer Erkenntnisse und deren effektive Rezeption. Diesen Aspekt betont Ylönen bereits 1993. Heute ist ihre Einschätzung aktueller denn je: „Zeit ist Geld“ gilt heute nicht nur für Wirtschaft und Handel sondern auch für die Wissenschaft. Eine unmittelbare Folge davon ist ein ständig wachsender Druck, neues Wissen in möglichst kurzer Zeit zu produzieren und zu publizieren. Wissenschafts- und Publikationsbetrieb sind also nicht unabhängig von marktwirtschaftlichen Zwängen. Publizieren ist für Wissenschaftler heute „lebensnotwendig“, da danach i. d. R. Leistungen gemessen und Forschungsgelder verteilt werden. Wer als Mitglied einer der naturwissenschaftlichen Medizin verpflichteten Gemeinschaft in einer von ihr anerkannten Zeitschrift publizieren will,
|| Einrichtungen, Forschungsstrukturen, Lehre, Publikationswesen, Tagungen etc.). Mit Routinehaftigkeit des Sprachgebrauchs rücken die sozialkognitiven Aspekte der Formelhaftigkeit in den Vordergrund, die für die Denkstiltheorie zentral sind. Das „kommunikative Gedächtnis einer Gemeinschaft“ kann als ein Aspekt des Denkstils aufgefasst werden, denn der Denkstil wird innerhalb eines Denkkollektivs tradiert und speist sich aus vielfachen kommunikativen und sozialen Erfahrungen der Mitglieder des Denkkollektivs. 25 Die „sozialen Ordnungen“ in Feilkes (2012) Zitat wären im Sinne der Denkstiltheorie die Denkkollektive.
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muß sowohl die Konventionen des betreffenden Fachs hinsichtlich Forschungsansätze und -inhalte einhalten als auch den Text nach bestimmten Regeln strukturieren. Ein wesentlicher, den Diskurs wissenschaftlicher Artikel bestimmender Faktor ist die Publikationspolitik. Den Verlagen wissenschaftlicher Zeitschriften geht es um einen möglichst großen Absatzmarkt (Karger 1986: 49), weshalb sie sich an politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten orientieren. Sie haben für die zur Publikation eingereichten Artikel ein von Experten des jeweiligen Fachgebiets bestimmtes Auswahlsystem und strenge Hinweise für Autoren entwickelt. Im Laufe der Zeit haben sich für wissenschaftliches Schreiben bestimmte Konventionen durchgesetzt, die Artikel haben besonders in den Naturwissenschaften eine zunehmende Schematisierung erfahren. Ein Vorteil dieser Schematisierung wissenschaftlicher Artikel ist, daß sie ein zeitökonomisches Lesen ermöglichen und die entstandene Informationsflut also effektiv rezipiert werden kann. (Ylönen 1993: 83)
4 Integratives methodisches Vorgehen Es wurde die These aufgestellt, dass sich die drei medizinischen Fachgebiete anhand jeweils typischer Formelhaftigkeit ihres Sprachgebrauchs unterscheiden lassen. Im Folgenden wird die Methode skizziert, die geeignet erscheint, die formulierte Hypothese zu überprüfen. Die Methode basiert auf drei Säulen: Diskurslinguistik, Korpuslinguistik und Konstruktionsgrammatik. Sie kann als konstruktionsgrammatisch angereicherte korpuslinguistische Diskursanalyse (KonKorDis) bezeichnet werden. In vielen Aspekten werden dabei auch Ergebnisse der Phraseologieforschung berücksichtigt. Das geplante methodische Vorgehen kann in groben Umrissen wie folgt skizziert werden: (1) Untersuchungsgegenstand ist die spezifische Formelhaftigkeit innerhalb der drei Fachdiskurse der inneren Medizin (IM), Homöopathie (HP) und Naturheilkunde (NHK). (2) Das zu erstellende digitale Spezialkorpus soll aus Lehrbüchern dieser drei Fachgebiete bestehen.26 Es wird entsprechend in drei Teilkorpora gegliedert. (3) In einem ersten Schritt wird ein kleines Probekorpus heuristisch, mithilfe von textlinguistischen Analysemethoden untersucht. Auf dieser Basis werden Hypothesen für die nächste Analysephase formuliert. (4) Am Gesamtkorpus werden die Hypothesen deduktiv (corpus-based) überprüft. Mithilfe korpuslinguistischer Methoden werden darüber hinaus induktiv (corpus-driven) Sprachgebrauchsmuster ermittelt.
|| 26 Zu medizinischen Textsorten vgl. Wiese (2000) und Weinreich (2010, 2015). Das Korpus kann ggf. noch um Textsorten wie Fachartikel, Handbuch- oder Wörterbuchartikel erweitert werden.
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(5) Die ermittelten Sprachgebrauchsmuster werden klassifiziert – u. a. in Hinblick auf Konstruktionsstatus, Komplexität, Spezifiziertheit etc. Die Ordnungskategorien werden bei der Sichtung der Sprachgebrauchsmuster angesetzt und dauernd erweitert und modifiziert, sodass ein für das Sprachmaterial adäquater Kategorienkatalog erstellt wird. (6) Auffällige Muster werden in konkreten Verwendungskontexten qualitativ untersucht und in Hinblick auf ihre Funktion beschrieben. In diesem Schritt wird nach dem corpus-based-Prinzip verfahren und nach konkreten Verwendungen (Token) der auffälligen Kategorien (Types) gesucht. Somit besteht die Methode aus einem „Zusammenspiel von Induktion und Deduktion“ (Bubenhofer 2009: 102).27 (7) Die klassifizierten Sprachgebrauchsmuster werden auf die Teilkorpora bezogen. Es wird überprüft, inwiefern die Musterhaftigkeit mit den Fachdiskursen korreliert. (8) Die Ergebnisse der Analyse und Auswertung der ermittelten Muster werden in Zusammenhang mit der Denkstiltheorie gebracht. Es wird überprüft, ob die ermittelten Muster dadurch erklärt werden können, dass die Fachgebiete verschiedene Denkkollektive darstellen, die unterschiedliche Denkstile entwickelt haben. Dieses mehrstufige Vorgehen scheint geeignet zu sein, die Lehrbücher hinsichtlich sprachlicher Muster auf verschiedenen Ebenen zu untersuchen. Entscheidend ist bei dem methodischen Vorgehen, dass Denkstile nicht als Analysekategorien, sondern als Erklärungskategorien bei der Auswertung der Analyseergebnisse fungieren sollen. Es wird überprüft, ob die ermittelten und kategorisierten Sprachgebrauchsmuster auf die drei Denkstile zurückgeführt werden können. Dabei kann sich theoretisch auch zeigen, dass die Sprachgebrauchsmuster nicht mit den angenommenen Denkstilen korrelieren. Im Folgenden werden die methodischen Grundlagen vorgestellt. Der Fokus liegt dabei auf der Methode der zweiten Analysephase, die korpuslinguistisch ausgerichtet ist (Punkte 4 bis 6 in der Darstellung der Analyseschritte). Die für diese Projektphase geplante Herangehensweise wurde nach dem aktuellen
|| 27 Die Herangehensweise von der Makro- zur Mikroperspektive ist – mit Kalwa (2013: 26) gesprochen – „vergleichbar mit einem Zoom, der das zu betrachtende Korpus in jedem Schritt verkleinert und dadurch einen detaillierteren Blick auf die Texte ermöglicht.“ Die umgekehrte Herangehensweise kann entsprechend als „Herauszoomen“ aus der Datenmenge beschrieben werden, um gröbere Muster in den Blick zu nehmen.
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Kenntnisstand noch nicht zur Erforschung von Denkstilen genutzt. Textlinguistisch basierte empirische Untersuchungen zu Denkstilen gibt es hingegen bereits, u.a. aus dem Umfeld der Fachkommunikationsforschung (vgl. Klammer 2010, 2014 und 2017). Die erste methodische Basis des Analysevorgehens stellt die Diskurslinguistik dar (vgl. u. a. Busse & Teubert 2013; Niehr 2014; Spitzmüller & Warnke 2011; Warnke & Spitzmüller 2008; Warnke 2007, 2008). Diskurs kann in Anlehnung an Warnke (2008: 37) als ein „textübergreifende[r] Verweiszusammenhang von thematisch gebundenen Aussagen“ verstanden werden. Diese thematisch spezifizierte Definition reicht allerdings für die Definition der drei zu untersuchenden Diskurse nicht aus, weil alle drei thematisch dem medizinischen Bereich entstammen und nicht anhand der Themen voneinander getrennt werden können. Die forschungspraktisch ausgerichtete Definition von Busse & Teubert (2013: 17) hilft hier weiter. Nach der Definition gehören zu einem Diskurs alle Texte, die „sich mit einem als Forschungsgegenstand gewählten Gegenstand, Thema, Wissenskomplex oder Konzept befassen, untereinander semantische Beziehungen aufweisen und/oder in einem gemeinsamen Aussage-, Kommunikations-, Funktions- oder Zweckzusammenhang stehen“. Im Sinne dieser Definition stehen medizinische Diskurse im Fokus, die durch das gemeinsame Thema (im weitesten Sinne gesundheitliche Beschwerden und deren Heilung und Linderung) verbunden sind. Sie unterscheiden sich auf der Akteursebene durch die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Kommunikationszusammenhängen (Fachkommunikation innerhalb der Fachgebiete).28 Intern sind sie durch semantische Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Aussagen (z. B. Verweiszusammenhänge innerhalb des homöopathischen Diskurses) bestimmt. Es kann hypothetisch angenommen werden, dass sich bei einer Untersuchung des Medizin-Diskurses diese drei Positionen als Diskurspositionen (vgl. Jäger 2005: 62–63) nachweisen ließen. In Bezug auf die zu untersuchenden Einheiten schließe ich mich Ziem (2013: 141) an, der dafür plädiert, dass jenseits der üblicherweise thematisierten sprachlichen Mittel – wie Metaphern (etwa Liebert 2009), Schlagwörter (etwa Niehr 2007), Text-Bildbeziehungen (etwa Steinseifer 2011, Ziem 2008b) – hinaus die lokale syntaktische Einbettungsstruktur der zu untersuchenden Ausdrücke, also ihr unmittelbarer sprachlicher Kontext, einzubeziehen ist.
|| 28 Die Zuordnung der zu untersuchenden Texte zu den drei Fachgebieten erfolgt auf der Grundlage der Selbstzuordnung innerhalb der Texte, die i. d. R. explizit erfolgt, häufig bereits im Titel (durch adjektivische Attribute oder Benennung des Fachgebiets, zu dem der Text gehört).
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Laut Felder (2013: 175) manifestieren sich die „Spuren des Denkens“29 ausdrucksseitig in „Lexeme[n], Syntagmen bzw. Kollokationen bzw. idiomatische[n] Wendungen oder Phraseologismen, Sätze[n] und Texte[n]“: Aus diesem materiell Sichtbaren werden Rückschlüsse auf Inhaltsseitiges gezogen bzw. Hypothesen gebildet, deren Plausibilität über ihre Durchschlagskraft entscheidet. Hierbei rückt der bereits erwähnte Zusammenhang zwischen Wissen und Macht in das Zentrum der Aufmerksamkeit, genauer gesagt die Frage, welche gesellschaftlichen Akteure bestimmte Wissensbestände als gültig deklarieren oder ihre Strittigkeit behaupten. (Felder 2013: 175)
Die für die Diskurslinguistik zentrale Frage nach Machtverhältnissen ist auch für die interessierenden medizinischen Kollektive von Bedeutung, da sie ganz unterschiedliche Machtpositionen auf dem Gesundheitsmarkt innehaben und sprachlich konstruieren.30 Die Schulmedizin deklariert beispielsweise homöopathische Tatsachen als ungültig und spricht ihnen (teils medienwirksam) den Status als Tatsachen ab.31 Die Korpuslinguistik verstehe ich in Anlehnung an Perkuhn, Keibel & Kupietz (2012: 18–21) als eine Methodologie. Die Analyse digitaler Korpora kann als ein „strukturentdeckendes Verfahren“ (Perkuhn, Keibel & Kupietz 2012: 21) für die Diskurslinguistik, Phraseologie, Lexikologie etc. methodisch fruchtbar gemacht werden. Ich schließe mich Hein & Bubenhofer (2015: 180) darin an, „dass es jeweils in unterschiedlichen sozialen Kontexten oder Diskursen je andere
|| 29 Müller (2012: 34–38) betrachtet Sprachgebrauchsmuster als „Spur sozialer Interaktion“, wobei er das forensische Verfahren der Spurensuche als methodologisches Grundmodell der korpuspragmatischen Methode einführt (vgl. dazu weiter unten in diesem Kapitel). 30 Auch innerhalb der Richtungen geht es ständig um die Aushandlung von Machtpositionen. So stellt Dinges (1996b: 11) in Hinblick auf die Geschichte der Homöopathie fest: „Und natürlich ging es dabei auch immer um eine Parzelle Macht auf dem medizinischen Markt, die meist ziemlich hart erstritten und verteidigt werden muss. Die letzten 200 Jahre der Homöopathie waren also eine sehr bewegte Geschichte, die besser zu kennen sich lohnt.“ 31 Vgl. dazu beispielsweise die „Marburger Erklärung“ von 1992: „Wir betrachten die Homöopathie nicht etwa als eine unkonventionelle Methode, die weiterer wissenschaftlicher Prüfung bedarf. Wir haben sie geprüft. Homöopathie hat nichts mit Naturheilkunde zu tun. Oft wird behauptet, der Homöopathie liege ein „anderes Denken“ zugrunde. Dies mag so sein. Das geistige Fundament der Homöopathie besteht jedoch aus Irrtümern („Ähnlichkeitsregel“; „Arzneimittelbild“; „Potenzieren durch Verdünnen“). Ihr Konzept ist es, diese Irrtümer als Wahrheit auszugeben. Ihr Wirkprinzip ist Täuschung des Patienten, verstärkt durch Selbsttäuschung des Behandlers“ (https://www.physioklin.de/fileadmin/user_upload/physioCAVE/Homoeopathie/Marbur ger-Erkl%C3%A4rung-Hom%C3%B6opathie-1992.pdf, 16.08.2018).
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Sprachgebrauchsmuster sind, die typisch sind bzw. dort spezifische pragmatische Funktionen erfüllen.“ Entsprechend dieser Annahme ermittelt die Korpuslinguistik Sprachgebrauchsmuster anhand von großen digitalen Textkorpora und macht mithilfe von statistischen Verfahren Aussagen darüber, in welchen Kontexten diese Muster jeweils signifikant sind (vgl. u. a. Lemnitzer & Zinsmeister 2015). Der Begriff Sprachgebrauchsmuster bezieht sich auf induktiv aus dem Korpus ermittelte Strukturen unterschiedlicher Komplexität und Abstraktheit, die relativ gefestigt sind, musterhaft verwendet werden und ihrerseits als Vorlage („Muster“ in zweiter Lesart) für weitere Zeichenkomplexe dienen (vgl. Bubenhofer 2009: 23).32 Den Kern der KonKorDis-Methode zur Ermittlung typischer Sprachgebrauchsmuster in medizinischen Texten bildet ein Verfahren, das mit Bubenhofer (2009: 6) „korpuslinguistische Diskursanalyse“ genannt werden kann. Ziel dieser Methode ist es, große Textkorpora nach typischen Mustern im Sprachgebrauch zu untersuchen. Diese Muster werden auf unterschiedlichen Ebenen zwischen Wort, Satz und Text auftauchen […]. Zudem werden die Sprachgebrauchsmuster sowohl thematisch/inhaltlich gefüllt (z. B. Kampf gegen den Terrorismus), als auch unabhängiger von bestimmten Themen sein, da sie thematisch/inhaltlich nicht gefüllt sind (z. B. nicht nur–sondern–auch).
Dieses Verfahren berücksichtigen Felder, Müller & Vogel (2012a) in ihrem Ansatz einer „Korpuspragmatik“. Darunter verstehen sie einen linguistischen Untersuchungsansatz, der in digital aufbereiteten Korpora das Wechselverhältnis zwischen sprachlichen Mitteln einerseits und Kontextfaktoren andererseits erforscht und dabei eine Typik von Form-Funktions-Korrelationen herauszuarbeiten beabsichtigt. Solche Kontextfaktoren betreffen potenziell die Dimensionen Handlung, Gesellschaft und Kognition. Die Analyse bedient sich insbesondere einer Kombination qualitativer und quantitativer Verfahren. (Felder, Müller & Vogel 2012b: 4–5; Hervorhebung im Original)
|| 32 Da das methodische Verfahren die korpuslinguistische Analyse mit einer textlinguistischen verbindet, kann der Begriff „Sprachgebrauchsmuster“ zum Zweck der Studie nicht ausschließlich nach dem korpuslinguistischen Verständnis definiert werden. Gemeint sind allgemein alle Formen von musterhaftem Sprachgebrauch, die durch textlinguistische und korpuslinguistische Methoden ermittelt werden können. Somit werden unter diesem Oberbegriff unterschiedliche Phänomene zusammengefasst, die jeweils innerhalb der unterschiedlichen Projektphasen genauer fokussiert werden (z. B. musterhafte Handlungsstrukturen, Textgliederung, Text-BildBeziehungen, Kookkurrenzen oder n-Gramme).
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Der Diskursbegriff wird in diesem Ansatz als Ordnungsbegriff verstanden, von dem sich die Grundsätze der Korpuspragmatik ableiten lassen. Er wird in einem weiten Verständnis von ,Sprachgebrauchʻ verstanden und weiter in drei Aspekten spezifiziert: Als erstes sollen der Handlungscharakter und die multimodale Verfasstheit der Sprache betont werden […]. Zweitens ist mit dem Terminus ,Diskursʻ das Theorem angesprochen, dass die Regelhaftigkeit von Sprache sich aus der Regelhaftigkeit von Sprachverwendungssituationen ableitet […]. Drittens betont die zentrale Verwendung des Terminus ,Diskursʻ zur Explikation des programmatischen Etiketts ,Korpuspragmatikʻ, dass Sprache grundsätzlich in einem explikativen Feld zu verorten ist, das mit der Begriffstrias ,Gesellschaftʻ, ,Handlungʻ, ,Kognitionʻ umrissen ist. (Felder, Müller & Vogel 2012b: 5–6, Hervorhebungen von P. Sch.)
Dieses weite Diskursverständnis scheint auch für die Untersuchung der Sprachgebrauchsmuster in medizinischen Texten geeignet zu sein. Es hat den Vorteil, dass es Diskurse nicht fest an Themen bindet und stärker die Regelhaftigkeit der Kontexte und die gesellschaftlichen und kognitiven Aspekte der Diskurse in den Vordergrund stellt, die ebenfalls für die Konstruktionsgrammatik zentral sind. Das skizierte Vorgehen soll im Rahmen der KonKorDis-Methode um Aspekte der Konstruktionsgrammatik (KxG) erweitert werden (vgl. u. a. Fischer & Stefanowitsch 2006; Ziem & Lasch 2013, 2014, 2015; Bücker, Günthner & Imo 2015; Boas 2014). Die Definition des zentralen Begriffs der Konstruktion variiert je nach theoretischem Hintergrund, jedoch dürfte der kleinste gemeinsame Nenner darin bestehen, Konstruktionen als Elemente unseres sprachlichen Wissens zu begreifen, die zeichenhafter Natur sind und als (grammatische oder lexikalische) Muster zur Verknüpfung von Wörtern zu Phrasen und von kleineren Phrasen zu größeren Phrasen fungieren. Konstruktionen dienen mithin zur Erfassung und Explizierung der Grammatik einer Sprache bzw. des grammatischen Wissens […], über das SprecherInnen einer Sprachgemeinschaft verfügen. Kurzum: Bei Konstruktionen handelt es sich um konventionelle Form-Bedeutungspaare auf unterschiedlichen Ebenen der Abstraktion, Schematizität und Komplexität. (Ziem 2015: 3)
Konstruktionen sind also konventionelle symbolische Einheiten, die kognitiv verfestigt und einheitlich repräsentiert sind. Ihre Formseite besteht aus Merkma-
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len der Phonologie, Syntax und Morphologie. Die Inhaltseite repräsentiert die Semantik, Pragmatik, Diskursfunktionen und Kontextinformationen.33 Deppermann (2006: 48–49) unterscheidet drei Spezifiziertheitsgrade von Konstruktionen: – lexikalisch voll spezifizierte Konstruktionen (z. B. Zum Wohl, ins Gras beißen), – lexikalisch teilspezifizierte Konstruktionen (z. B. typisch N), – lexikalisch unspezifizierte, also vollständig schematisierte Konstruktionen (z. B. ditransitive Konstruktionen NPV Obj1 Obj2). Nach der Einschätzung von Hein & Bubenhofer (2015: 193) eignen sich für konstruktionsgrammatische Analysen sowohl lexikalisch voll spezifizierte als auch schematische Konstruktionen. Die Ersteren sind jedoch zwar geeignet, aber nicht von herausragendem Interesse […]. Anders sprachliche Muster wie ,Ein/Art NN ,/$, PRELSʻ,34 die hier als ,komplexe n-Grammeʻ bezeichnet werden: Letztere sind aufgrund ihrer Synthese aus lexikalischer Spezifikation und abstrakt definierten Slots als ein Untersuchungsgegenstand zu betrachten, der für einen konstruktionsgrammatischen Ansatz besonders interessant und relevant ist.
Hein & Bubenhofer (2015) zeigen exemplarisch, wie komplexe Sprachgebrauchsmuster ermittelt und als Konstruktionen untersucht werden können. Sie weisen nach, dass viele, aber nicht alle Sprachgebrauchsmuster einen Konstruktionsstatus nach der Terminologie der KxG haben. Hein & Bubenhofer (2015: 202) zeigen ebenfalls auf, wie wichtig es ist, die diskursive Einbettung als Verwendungsbedingung einzubeziehen. D. h., zur Gesamtheit der Verwendungsbedingungen gehört auch der Kontext, z. B. in Form eines Diskurses im Sinne der linguistischen Diskursanalyse […] oder beliebigen soziopragmatischen Zusammenhängen, die zu einem typischen sprachlichen Stil führen. Letztlich
|| 33 Vgl. Östmanns (2015) Ansatz des „Construction Discourse“, in dem möglichst viele Kontextinformationen berücksichtigt werden. Zur Zeichenhaftigkeit von Konstruktionen und zur Diskussion des bilateralen Zeichenmodells von de Saussure als Grundlage für die KxG vgl. Schneider (2014). 34 Dieses Muster bedeutet: ,Ein‘ [normales Nomen], [substituierendes Relativpronomen], z. B. „Ein Mann, der“ oder „Ein Medium, das“.
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sind es je spezifische Produktionsbedingungen, die zu Verwendungspräferenzen und damit einer ,Common sense-Kompetenz ̒ (Feilke: 1994) führen, mit der eine sprachliche Äußerung im jeweiligen Kontext genau so und nicht anders verstanden wird.35
Diese Feststellung lässt die Annahme zu, dass sich die Methode auch für die Untersuchung des (denkstilspezifischen) Sprachgebrauchs der drei medizinischen Diskurse eignet. Ziem (2013) verfolgt einen Ansatz, der dem hier vorgestellten, integrativen Ansatz sehr ähnelt. Er führt eine induktive korpuslinguistische Analyse des Diskurses zur Finanzkrise durch, wobei er den Fokus auf syntaktische Konstruktionen legt. Statt also, wie etwa in der Schlagwortforschung, isolierte Wörter als diskursivzentrale Elemente auszuweisen, geht es hier im Kern darum, das Schlagwort Krise innerhalb von syntaktischen Konstruktionen als diskursive Muster zu bestimmen. Somit lautet die zentrale Frage: In welchen syntaktischen Mustern figuriert Krise als nominaler Kern? (Ziem 2013: 154)
Den Konstruktionsbegriff definiert Ziem (2013: 152–153) im Sinne der KxG. Er weist nach, dass Transitiv- und Possessiv-Konstruktionen in dem untersuchten Diskursausschnitt zur Finanzkrise den Status syntaktischer Konstruktionen haben. Der Unterschied zu der hier vorgeschlagenen Methode besteht darin, dass Ziem (2013) sein methodisches Vorgehen primär in der Frame-Semantik verortet und seine Analyse daran ausrichtet, wenn auch sein deduktives Vorgehen – wie er selbst schreibt – von den üblichen frame-semantischen Analysen abweicht. In der vorliegenden Untersuchung soll der frame-semantische Aspekt nicht so prominent sein. Frames kommen allerdings als Ordnungskategorien für die ermittelten Sprachgebrauchsmuster durchaus infrage. Die KxG versteht sich als allgemeine Sprach- und Kognitionstheorie und verfolgt einen holistischen Ansatz. Sie will prinzipiell alle Phänomene der Sprache unter einer einheitlichen Perspektive erklären, deswegen löst sie die Unterscheidung in Zentrum und Peripherie der Sprache auf. Sie ist entstanden als ein Gegenentwurf zur Transformationsgrammatik und zu traditionellen Grammatiktheorien, die viele sprachliche Erscheinungen nicht erklären können und aus methodischen Gründen als Randphänomen behandeln. Zu solchen Einheiten zählen typischerweise Phraseologismen. Aus phraseologischer Sicht besagt die KxG,
|| 35 M. E. ist es möglich, Denkkollektive als eine Kategorie im Gefüge der „soziopragmatischen Zusammenhänge, die zu einem typischen sprachlichen Stil führen“, einzuführen.
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dass grammatische Konstruktionen als abstrahierte Textbildungsroutinen pragmatisch gewichtet und geprägt sein können. Die Routinen sind in dem Sinne lexikalisiert, dass sie in aller Regel über bestimmte Oberflächeneigenschaften – etwa ein Lexem oder eine morphologische Konstruktion – ansprechbar sind. (Feilke 2004: 56)
Textbildungsroutinen erscheinen daher als eine geeignete Brücke zur Verbindung der KxG mit der Phraseologie- und Formulierungsforschung. Die Phraseologie erweitert seit Jahren schrittweise ihren Gegenstandsbereich und öffnet sich vermehrt Impulsen aus anderen Disziplinen. Nach der Einschätzung von Ágel (2004: 67) erfährt die Phraseologie einen „massiven extensionalen und intensionalen Wandel“, in dem es im Grunde um die Erkenntnis geht, „dass sich Kreativität und Routine […] nicht ausschließen, sondern sich im Gegenteil gegenseitig im Sinne eines ewigen Zirkels bedingen.“ Eine in diesem Sinne offene Phraseologie kann von dem Austausch mit der Korpuslinguistik, Diskurslinguistik, Konstruktionsgrammatik und auch mit anderen Disziplinen wie der Frame-Semantik oder Valenztheorie profitieren und diese Disziplinen ihrerseits bereichern. Nach Stumpf (2015: 375) wäre eine engere Verknüpfung der Konstruktionsgrammatik mit der Phraseologieforschung wünschenswert. Er sieht zum einen das Potenzial der KxG, die in weiten Teilen der Linguistik immer noch vorherrschende Meinung über den peripheren Status phraseologischer Wortverbindungen im Sprachsystem infrage zu stellen, indem sie der Phraseologie bzw. der formelhaften Sprache eine zentrale Stellung innerhalb ihres Grammatikmodells zuweist. Und zum anderen leistet sie gerade mit der Integration phraseologischer Wortverbindungen in ihr Grammatikmodell einen entscheidenden Beitrag dazu, der Phraseologie eine bis dato kaum vorhandene breite theoretische Basis zu verleihen. (Stumpf 2015: 374–375)
Stumpf & Kreuz (2016: 2) plädieren dafür, die Schnittstellen zwischen der Phraseologie und der Diskurslinguistik stärker auszubauen und die Untersuchung von phraseologischen Einheiten systematisch in die Diskurslinguistik zu integrieren. Nach ihrer Einschätzung scheint die Verortung phraseologischer Einheiten im Methoden- und Objektkanon der Diskurslinguistik zwar gesichert, was Phraseme zu einem legitimen diskursanalytischen Zugriffsobjekt macht, jedoch ist unseres Erachtens das Potenzial, das sie für einen bzw. in einem Diskurs haben können, nicht ausreichend beschrieben […]. So stellt in der Phraseologie für gewöhnlich der Text die oberste Grenze phraseologischer Forschung dar. Arbeiten, die den Phrasemgebrauch über den Einzeltext hinaus betrachten, gibt es kaum. Und auch inner-
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halb der Diskurslinguistik werden Phraseme in diversen Auflistungen zwar neben gewöhnlichen Einzellexemen als für die linguistische Beschreibung relevante Entitäten erwähnt […], bleiben in bisherigen diskursanalytischen Studien aber in der Regel unberücksichtigt. (Stumpf & Kreuz 2016: 2)
Auch Stein & Lenk (2011: 15) plädieren dafür, die phraseologische Perspektive auszuweiten. Es soll u. a. korpusbasiert untersucht werden, „in welcher Weise Phraseme einzeltextübergreifend Text(sorten)ketten und Diskurse prägen (können)“ (Stein & Lenk 2011: 10). Die im vorliegenden Beitrag verfolgte Fragestellung stellt eine solche Ausweitung der Perspektive dar. Als einzeltextübergreifende Kontexte der Betrachtung von Sprachgebrauchsmustern fungieren hier die Fachdiskurse. Sabban (2004) weist nach, dass Phraseologismen „textbildende Potenzen“ besitzen und auf diese Weise einen entscheidenden Beitrag für die Konstitution von Texten bzw. Textsorten spielen. Phraseologismen und deren Verwendungsweisen können für bestimmte Texte konstitutiv sein: „[S]ie leisten einen entscheidenden Beitrag zu Texten oder Teiltexten in ihrer jeweiligen Beschaffenheit und den damit realisierten Funktionen; im besonderen Fall konstituieren sie selbst den Text als solchen“ (Sabban 2004: 242). Gréciano (2007) macht deutlich, dass Phraseme wichtige Funktionen in medizinischen Texten übernehmen. In unserem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob diese Beobachtungen von der Text(sorten)ebene auf die Diskursebene übertragen werden kann. Ich gehe davon aus, dass sich medizinische Fachdiskurse durch bestimmte Sprachgebrauchsmuster auszeichnen. Es kann angenommen werden, dass bestimmte Sprachgebrauchsmuster für einen Diskurs nicht nur typisch, sondern sogar konstitutiv sein können und in diesem Sinne „diskursbildende Potenzen“ besitzen. Die korpuslinguistischen Methoden haben bereits Eingang in die Phraseologie gefunden (vgl. Steyer 2004; Steyer & Lauer 2007 etc.). Sie haben die Phraseologie bereichert, indem sie nachgewiesen haben, dass das vermeintlich Freie in der Sprache […], wenn auch nicht fest, so doch in erheblicher und bisher nicht ausgemessener Reichweite idiomatisch geprägt [ist]. Umgekehrt gilt, und auch das belegt die korpuslinguistische Forschung eindrücklich: Das so genannte phraseologische Zentrum spielt im Gesamtspektrum der idiomatischen Prägung keine zentrale Rolle. (Feilke 2004: 56)
Es ist bemerkenswert zu sehen, dass sich die Phraseologie angeregt durch korpuslinguistische Studien zu Schlüssen veranlasst sieht, die sie der KxG näher bringen. So plädiert Feilke (2004: 60; Hervorhebungen im Original)
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für die theoretische Entkopplung von idiomatischer Prägung einerseits und syntaktisch-semantischer Kompositionalität andererseits. Sprachliche Ausdrücke können zugleich idiomatisch geprägt und syntaktisch-semantisch wohlgeformt sein. Lexikalisiertheit und Grammatikalität können als Eigenschaften sprachlicher Zeichen gleichzeitig gegeben sein. […] Schließlich ergibt sich aus der Argumentation fünftens das Plädoyer für die Ablösung des Zentrum-Peripherie-Modells der Phraseologie durch ein Ebenenmodell idiomatischer Prägung.
Feilkes Plädoyer betrifft die für die KxG zentralen Aspekte der Kompositionalität, der Beziehung zwischen Lexik und Grammatik und der Ablösung des ZentrumPeripherie-Modells36 und ist mit den Grundannahmen der KxG kompatibel.37 Neben den bisher skizzierten methodischen Ansätzen können bei der Analyse formelhaften medizinischen Sprachgebrauchs auch Erkenntnisse aus der Fachkommunikationsforschung fruchtbar gemacht werden. Relevant und anschlussfähig für diese Untersuchung erscheinen vor allem neuere Arbeiten, die kognitive Aspekte der Fachkommunikation stärker in den Vordergrund rücken. Beispielsweise sind im Umfeld der Leipziger Fachkommunikationsforschung einige Studien zu Denkstilen in der Fachkommunikation entstanden, die sich vor allem für die theoretische Konturierung der Beziehung zwischen Denkstil und Sprachgebrauch eignen (vgl. Klammer 2014, 2017).38 Die Studien stehen in der
|| 36 Zur Frage, ob das Zentrum-Peripherie-Modell in der Phraseologie noch haltbar ist, vgl. Stumpf (2017). 37 Die Anschlussfähigkeit phraseologischer und konstruktionsgrammatischer Herangehensweise zeigt sich z. B. in der Untersuchung von Kühtz (2007), der Phraseologie und Formulierungsmuster in medizinischen Texten analysiert. Kühtz verankert seine Arbeit in der Phraseologie und arbeitet weder konstruktionsgrammatisch noch korpuslinguistisch im engeren Sinne. Seine Arbeit zeigt dennoch das Potenzial der Verbindung dieser drei Perspektiven. Bei Formulierungsmustern handelt es sich nach seiner Definition um „rekurrente und innerhalb einer Sprachgemeinschaft geläufige Form-Inhalts-Gefüge mit konventionalisierten Kombinationen aus syntaktischer Struktur und lexikalischer Besetzung, die dem Vollzug bestimmter sprachlicher Handlungen bei wiederkehrenden Kommunikationsanlässen dienen. In einem umfassenden Konzept sprachlicher Vorgeformtheit geht strukturell festgeprägte Phraseologie bruchlos in den Bereich strukturell variablerer Musterhaftigkeit über. Die Phraseologie liefert geeignete Beschreibungsansätze. Formulierungsmuster sind beschreibbar als komplexe Modellbildungen (bezogen auf Leerstellen und Schablonencharakteristik) und als komplexe Routineformeln (bezogen auf ihre pragmatische Festigkeit).“ (Kühtz 2007: 258). Diese Definition erinnert sehr stark an die Definition von Konstruktionen als konventionalisierte Form-Bedeutungspaare und als komplexe schematische Einheiten mit Leerstellen. Von Stein (2016: 146) wird der Ansatz Kühtz’ deswegen als „[k]onstruktionsgrammatisch inspiriert“ bezeichnet. Kühtz selbst erwähnt jedoch weder die theoretischen noch die methodischen Schnittstellen mit der KxG. 38 In Klammers (2014, 2017) Arbeiten werden weitere Studien aus der Leipziger Schule genannt und diskutiert.
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Tradition der Textlinguistik und Fachsprachenforschung, sodass sie sich deutlich von dem hier entworfenen methodischen Ansatz unterscheiden. Methodisch ähnlicher ist die frühe computergestützte Studie von Schefe (1975, 1981), der eine statistische syntaktische Analyse von medizinischen Texten und einen Vergleich mit betriebswirtschaftlichen und literaturwissenschaftlichen Texten durchführte. Er konnte zeigen, dass bei der Erfassung von Fachsprachen weitaus mehr berücksichtigt werden muss als nur die Terminologie (wie lange Zeit üblich), und dass in bestimmten Fachbereichen typische syntaktische Sprachgebrauchsmuster nachweisbar sind.
5 Sprachgebrauchsmuster in medizinischen Texten – erste exemplarische Beobachtungen Im Folgenden werden punktuell einige Beobachtungen diskutiert, die auf Sprachgebrauchsmuster auf verschiedenen Ebenen hinweisen und einen ersten Eindruck von den medizinischen Lehrbüchern liefern. Die dargestellten Beobachtungen deuten an, welche sprachlichen Phänomene in der textlinguistischen Analysephase eine Rolle spielen. Anhand der Analyse werden Hypothesen formuliert, die in der korpuslinguistischen Phase überprüft werden sollen. Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich um keine systematische Analyse, sondern um punktuelle Einblicke in das Analysematerial. Als Thema wurde eine weniger ernsthafte Diagnose gewählt, die in allen drei Büchern behandelt wird. Die Beobachtungen stützen sich auf je ein (Teil-)Kapitel zu der Diagnose Otitis externa, der Entzündung des äußeren Gehörgangs. Die Texte stammen aus den Werken IM, HP, NHK39, die anhand der Abkürzung zitiert werden.40 Das Teilkapitel „21.12 Otitis externa“ im HP-Lehrbuch ist Teil des Kapitels „HNO-Erkrankungen“ von Karl-Heinz Friese. Mit etwas mehr als drei Seiten ist es am umfangreichsten. Die Ausführungen im IM befinden sich in Kapitel 44 „Halsund Ohrenschmerzen und obere Atemwegbeschwerden“, das von drei Autoren verfasst wurde (Michael A. Rubin, Larry C. Ford, Ralph Gonzales) und von Daniel Grund und Norbert Suttorp ins Deutsche übersetzt wurde. Das gesamte Lehrbuch ist eine Übersetzung des englischsprachigen Originals. Die Ausführungen zu Oti-
|| 39 Das Lehrbuch behandelt neben anderen Therapieverfahren auch die Homöopathie. Nach dieser Konzeptualisierung gehört also Homöopathie zu den Naturheilverfahren. 40 Vollständige Titelangaben finden sich im Literaturverzeichnis.
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tis externa stehen unter der Zwischenüberschrift „Infektionen von Ohr und Mastoid“ und füllen etwas mehr als eine Kolumne in dem großformatigen Buch. Die Ausführungen im NHK stehen im Kapitel „24.9 Erkrankungen der Ohren“ und sind mit etwa einer halben Kolumne deutlich am kürzesten. Außerdem fällt auf, dass der Text nur die Darstellung der schulmedizinischen Therapie enthält und keine besonderen Ausführungen zu der naturheilkundlichen Therapie bietet. In dem Kapitel werden noch weitere Erkrankungen der Ohren behandelt und in einem hervorgehobenen Kasten werden ausführlich die „Naturheilkundliche Therapie bei Tubenkatarrh“ und „Naturheilkundliche Therapie bei Mittelohrentzündung“ dargestellt. Bei den anderen (weniger ernsthaften) Diagnosen wird nur das Krankheitsbild definiert und die schulmedizinische Therapie dargestellt. Zur Diagnose Otitis externa erfährt man im NHK Folgendes (NHK, S. 1086): Schulmedizinische Therapie Der HNO-Arzt reinigt den Gehörgang nach Entnahme eines Abstrichs zum Erregernachweis und legt einen alkohol-, antibiotika- oder kortisonhaltigen Salbenstreifen (bei Pilzbefall antimykotikahaltige Salbe) ein. In leichteren Fällen sind entsprechende Ohrentropfen ausreichend.
Derartige Referenzen auf die Schulmedizin kommen im NHK-Buch häufig vor. Sie unterstützen die Hypothese, dass die Naturheilkunde näher zur Schulmedizin zu verorten ist als die Homöopathie, denn das HP-Lehrbuch enthält keine Darstellungen der schulmedizinischen Therapie. Die Schulmedizin wird dennoch genannt. Im Kapitel zu Otitis externa heißt es: „Antibiotika werden normalerweise (auch schulmedizinisch) nicht eingesetzt, da dies keinen positiven Einfluss auf die Gehörgangsentzündung hat.“ (HP, S. 534). Im IM-Kapitel werden Naturheilkunde und Homöopathie nicht erwähnt. Im gesamten dreibändigen Werk wird die Naturheilkunde gerade einmal erwähnt, die Homöopathie zweimal. Offensichtlich besteht für die Innere Medizin als medizinischen Bereich mit einer stärkeren Machtposition weniger Anlass zu Bezugnahmen auf alternative Ansätze als umgekehrt. Die Verweise auf die Schulmedizin im NHK machen deutlich, dass die Sprachgebrauchsmuster im jeweils konkreten Kontext untersucht werden müssen. So erwähnt man zwar in dieser Textpassage den alkohol-, antibiotikaoder kortisonhaltigen Salbenstreifen, jedoch explizit in Bezug auf schulmedizinische Therapie und nicht als naturheilkundliche Therapien. Auch die Verwendung des Begriffes Schulmedizin ist auffällig. Es handelt sich primär um eine Fremdbezeichnung, die innerhalb der akademischen Medizin selbst umstritten ist. Bezüglich der Verweise auf die Schulmedizin ist im NHK-Lehrbuch Formelhaftigkeit zumindest auf der Ebene der Textgliederung (Zwischenüberschrift
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Schulmedizinische Therapie) und der Lexik (Adjektiv schulmedizinisch, Substantiv Schulmedizin, schulmedizinische Bezeichnungen für Therapien, Medikamente etc.) zu erwarten. Hinsichtlich der Textgliederung zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den drei Texten. Im Kapitel aus dem IM-Lehrbuch wird zunächst der Begriff Otitis externa als Oberbegriff für verschiedene Erkrankungen eingeführt, „die den äußeren Gehörgang betreffen“ (IM, S. 275). Danach folgen allgemeine Angaben: Die otitis externa entwickelt sich meist durch Wärme- und Feuchtigkeitsstaus sowie Abschilferung bzw. Mazeration des Epithels. Die Krankheit kommt in verschiedenen Formen vor – als lokalisierte, diffuse, chronische oder invasive Form. Alle Formen haben hauptsächlich bakterielle Infektionen als Ursache. Die häufigsten Erreger sind Pseudomonas aeruginosa und Staphylococcus aureus. (IM, S. 275)
Anschließend werden die verschiedenen Typen näher erläutert und therapeutische Verfahren vorgestellt. Im Unterschied zu anderen Teilkapiteln gibt es hier keine Zwischenüberschriften, keinen Infokasten. Der kurze Text im NHK ist gegliedert in eine Definition, die graphisch durch einen Pfeil hervorgehoben ist, einen Absatz „Symptome und Diagnostik“ und – wie bereits ausgeführt – einen Absatz „Schulmedizinische Therapie“. Ähnlich wie im IM-Lehrbuch werden in der Definition konkrete Erreger genannt: Entzündung des äußeren Gehörgangs (Otitis externa): begünstigt durch Hautschädigung von außen, z. B. unsauberes Badewasser, mechanische Irritation wie beispielsweise durch Wattestäbchen; Erreger: vorwiegend Bakterien (z. B. Staphylokokken, Pseudomonas, Proteus), selten auch Pilze (NHK, S. 1086)
Am ausführlichsten und am stärksten gegliedert ist das Kapitel im HP-Lehrbuch. Es beginnt mit einem grau unterlegten Textbaustein mit Definition (HP, S. 533): Zuschwellen des Gehörgangs mit oder ohne Sekretion. Ursachen: Meistens im Sommer nach dem Baden in verschmutztem Wasser (z. B. Schwimmbad), ausgelöst durch Bakterien. Gelegentlich auch nach Manipulation im äußeren Gehörgang (z. B. Ohrenputzen mit Stricknadel usw.) oder spontan. Symptome: Ohrenschmerzen, Hörstörung, gelegentlich Otorrhoe.
Nach diesem Überblick folgen mehrere Textbausteine, die durch folgende Hierarchie von Zwischenüberschriften strukturiert sind: – Therapeutische Strategie – Homöopathische Behandlung – Wahl der Symptome
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Miasmatische Zuordnung Repertorium Dosierung,41 Verlaufsbeurteilung, Prognose Unterstützende Maßnahmen Wichtige homöopathische Arzneimittel und ihre Differenzierung Krankheitsverlauf Lokalbefund Lateralität
Einige der Überschriften sind eindeutig auf die homöopathischen Grundgedanken (ggf. auf den homöopathischen Denkstil) zurückzuführen: Miasmatische Zuordnung bezieht sich auf die Miasmenlehre, ein ganzes Unterkapitel zur Dosierung ergibt sich aus der zentralen Rolle der Potenzierung in der Homöopathie, das Adjektiv homöopathisch leistet eine Selbstverortung, Wahl der Symptome verweist auf die Rolle einer reflektierten Auswahl relevanter Symptome. Das Motiv der Suche nach relevanten Symptomen und der Wahl geeigneter Arzneimittel wird unter „Lokalbefund“ sehr deutlich (HP, S. 536–537; Hervorhebungen von P. Sch.): Lokalbefund: – Bei Rissen am Gehörgangseingang, als ob mit dem Messer hineingeschnitten worden wurde [sic!], kommt Nitricum acidum infrage. – Bei Blässe oder Schwellung des Gehörgangs ist Apis angezeigt. Hier besteht (wie bei Pulsatilla) das Verlangen nach kühlen Anwendungen. – Bei einer Otitis externa mit hellroter Blutung aus dem Gehörgang kommt Phosphorus als Heilmittel infrage.
|| 41 In der 2. Auflage des Lehrbuchs wird bei jedem Krankheitsbild die Dosierung ausgeführt (vgl. die zitierte Stelle aus der Einleitung). In der 3. Auflage wurden Angaben und Erklärungen zur Dosierung aus den einzelnen Kapiteln in ein grundlegendes Kapitel zur Dosierung hinausgelagert, auf das im Text stets verwiesen wird: „Zur Dosierung 6.2, 6.3, 6.4, 6.5.“ Diese strukturelle Änderung ist vermutlich durch die Intention geleitet, Redundanz zu vermeiden. Die Redundanz war allerdings aus didaktischen Gründen gerechtfertigt und wurde so in der 2. Auflage auch reflektiert (S. XVII). Solche Aspekte müssen bei der Auswertung der quantitativen Analyse berücksichtigt werden, da durch eine derartige Umstellung die Verwendungsfrequenz bestimmter Begriffe (vor allem Potenz) dramatisch sinkt. So kommt der Begriff Potenz in dem Kapitel zu Otitis externa in der 2. Auflage unter der Überschrift „Dosierung“ sechsmal vor, Abkürzungen für Potenzen kommen viermal vor (C30-C200, zwischen der D6 und D30). Diese Begriffe sind eingebunden in Kollokationen höhere Potenzen, tiefe Potenzen und mittlere Potenzen. Dasselbe Kapitel in der 3. Auflage enthält keine einzige Verwendung von Potenz. Entsprechend müsste man auch die Verweise auf das Kapitel zur Dosierung (Kapitel 6) quantitativ berücksichtigen, um nicht zu dem irreführenden Schluss zu gelangen, dass der zentrale Begriff an Relevanz verloren hat.
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Blasenbildung im Gehörgang ist wahlanzeigend für Cantharis (Tellurium bei Blasenbildung an den Stellen, über die das Ohrensekret gelaufen ist, also auch außerhalb des Gehörgangs). Bei geringem objektiven Befund und starkem Juckreiz ist Mezereum angezeigt. Ist gleichzeitig das Mittelohr beteiligt, und ist der Patient weinerlich und eher jünger, ist häufig Pulsatilla Mittel der Wahl. […] Bei chronischer, nicht fötider Sekretion ist an Silicea zu denken, das häufig auf Pulsatilla folgt. Bei einem Gehörgangsfurunkel ist Staphisagria angezeigt. Eine Otitis externa durch Kälte mit großen Schmerzen und starker Berührungsempfindlichkeit mit eitriger, gelber Absonderung erfordert häufig Hepar sulfuris.
An dieser Stelle (und auch an anderen Stellen im Buch) fällt der häufige Gebrauch der Konstruktion [bei X ist y angezeigt]. Auch weitere, semantisch verwandte Konstruktionen [bei X kommt Y infrage], [bei X ist an Y zudenken] sowie das Adjektiv wahlanzeigend und die Nominalphrase Mittel der Wahl kommen vor. Zu diesem semantischen Feld gehören auch die Zwischenüberschrift Wahl der Symptome, in dem Absatz darunter das Substantiv Mittelwahl oder die Formulierung unter der Überschrift „Verlaufsbeurteilung“: Verschlechtern sich Lokal- und/ oder Allgemeinsymptome, ist das Mittel falsch gewählt → es muss ein neues Arzneimittelverordnet werden (S. 535). Das Temporaladverbial häufig verweist ebenfalls auf den Prozess der Suche, da es die Allgemeingültigkeit der Aussage relativiert. Die Ausführungen zur Lateralität (S. 537) zeigen, wie prominent das Wahlmotiv ist: Lateralität – Beginnt die Otitis externa links, und wird dann eventuell auch das rechte Ohr danach betroffen, ist Lachesis Mittel der Wahl. – Beginnt die Otitis externa rechts und schlägt dann zusätzlich aufs linke Ohr über, ist Locopodium angezeigt. – Wechselt die Otitis von einer Seite zur anderen und wieder zurück, muss an Laccaninum als Heilmittel gedacht werden.
Diese Beispiele zeigen, dass die Bedingungen, unter denen ein bestimmtes Mittel angezeigt ist, sehr konkret ausgeführt werden. Diese Funktion übernehmen im Abschnitt zur Lateralität uneingeleitete vorangestellte Konditionalsätze, an anderer Stelle die bei-Konstruktion [bei X ist Y angezeigt].42 Konditionale Strukturen sind sicherlich nicht spezifisch nur für den homöopathischen Sprachgebrauch. Sie scheinen aber typisch zu sein. Sie sind auch in anderen Texten erwartbar, weil
|| 42 Der Konstruktionsstatus im Sinne der KxG muss noch anhand eines größeren Korpus überprüft werden.
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es in allen Fällen darum geht, anhand von Symptomen geeignete Arzneimittel zu wählen. Es kann jedoch angenommen werden, dass sie in homöopathischen Texten ein stärkeres Gewicht erhalten, da die Reflexion der individuell ausgerichteten Arzneiwahl im Vordergrund steht. Noch einen Schritt weitergedacht kann man fragen, ob konditionale Konstruktionen für den homöopathischen Sprachgebrauch sogar konstitutiv sind. Diese Frage lässt sich nur durch die Analyse eines größeren Textkorpus beantworten. Die aus den Beispielen abgeleitete hohe Relevanz der Suche nach dem geeigneten Arzneimittel wird an anderer Stelle im HP-Buch (S. 129) explizit bestätigt. Versprachlicht wird der Sachverhalt durch eine Weg-Metapher: Abkürzungen auf dem Weg zum passenden Arzneimittel existieren prinzipiell nicht. Scheint es beim Studieren von Fällen versierter Homöopathen, als gäbe es Möglichkeiten, das richtige Medikament auf einem schnelleren, unkomplizierteren Weg zu finden, kann dies grundsätzlich verneint werden. Hinter jeder ernsthaften Methode, das Mittel durch einen scheinbaren Kunstgriff zu finden, steckt jahrelange Erfahrung und das umfassende Wissen des „Heilkünstlers“.
Die beobachteten Sprachgebrauchsmuster im semantischen Umfeld der „Wahl“ deuten also auf ein wesentliches Element des homöopathischen Fachdiskurses hin. In dieser Hinsicht haben sie eine indexikalische Funktion. Auf der lexikalischen Ebene fallen Begriffe ins Auge, die als Kontextualisierungshinweise fungieren. Im HP-Lehrbuch sind es Fachbegriffe wie Potenz, Miasma, Psora, Kollokationen wie mittlere/tiefe Potenzen, Bezeichnungen für Heilmittel (Pulsatilla, Nitricum acidum, Calendula-Urtinktur, Lachesis u. v. m.) und deren Abkürzungen: Homöopathische Arzneimittel und ihre Differenzierung !!!43 Acon., Dulc., Staph. !! Apis, Bell., Calc., Graph., Hep., Lac.-c., Lach., Lyc., Nit-ac., Phos., Puls., Sulph. ! Canth., Kreos., Mez., Sil., Tell. (HP, S. 536)
Die Verwendung der Abkürzungen zeigt, dass sich das Buch an die Mitglieder des homöopathischen Denkkollektivs richtet, bei denen das notwendige Fachwissen vorausgesetzt wird. Im IM-Lehrbuch fallen die Bezeichnungen für die Erreger
|| 43 Die Ausrufezeichen symbolisieren die Wertigkeit der Arzneimittel. Sie „orientieren sich nicht an denen des Repertoriums oder an irgendeiner anderen Einteilung aus der Literatur, sondern entsprechen ausschließlich den Erfahrungen des Autors“ (Geißler & Quak 2009: XVII).
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(Staphylococcus aureus, Pseudomonas), Medikamentennamen (staphylokokkenwirksame Penicilline: Oxacillin, Flucloxacillin; Glukokortikoide, systemische Antibiotika, Ciprofloxacin, Burow-Lösung etc.) und Bezeichnungen für therapeutische Verfahren (Inzision, Drainage) auf. Das NHK-Lehrbuch enthält in dem interessierenden Teilkapitel kein fachspezifisches Vokabular, es kommt aber in dem Kasten zur naturheilkundlichen Therapie bei Tubenkatarrh vor. Dort werden folgende Verfahren angeführt: Ab- und Ausleitungstherapie, Homöopathie, Ohrentropfen als Mittel der anthroposophischen Therapie, Ordnungstherapie, Physikalische Therapie, Phytoterapie, Traditionelle Chinesische Therapie und Wickel und Auflagen. Interessant erscheint die Wahl des Spezifiziertheitsgrades im Hinblick auf den Erreger: Im IM und im NHK werden Staphylococcus aureus bzw. Staphylokokken, Pseudomonas und Proteus konkret genannt, im HP wird lediglich der allgemeine Oberbegriff Bakterien gewählt. Die konkrete Bakterienart scheint für die Therapie nicht relevant zu sein. Auf der syntagmatischen Ebene fällt im IM die Kookkurrenz von Komposita auf, die einer Wortfamilie angehören. Es handelt sich um Komposita mit einem gemeinsamen Glied: Gegen Pseudomonasinfektionen ist ein Pseudomonas-wirksames Penicillin […] wirksam. (IM, S. 276) Wie bei allen Furunkeln ist Staphylococcus aureus der dominierende Erreger. Die Therapie erfolgt typischerweise mit oralen staphylokokkenwirksamen Penicillinen (Oxacillin, Flucloxacillin) und bei Abszessbildung durch Inzision und Drainage. (IM, S. 275)
Die Wiederaufnahme des Erregers durch ein Kompositum mit dem zweiten Glied -wirksam oder Derivate mit dem Präfix anti- (Antibiotika) deuten auf das grundlegende naturwissenschaftliche Prinzip der Schulmedizin, gegen die Symptome zu wirken. Auch die häufige Verwendung der Präposition gegen fällt in diesem Zusammenhang auf. Dieses Prinzip stellt die Homöopathie durch ihr Simile-Prinzip grundsätzlich infrage, wie die folgende Definition im „Pschyrembel Naturheilkunde und alternative Heilverfahren“ (2006: 165) verdeutlicht: Homöopathie (gr. gleich, ähnlich; -pathie*) f: durch Samuel Hahnemann (1755–1843) begründetes, in seinem „Organon* der Heilkunst“ beschriebenes, medikamentöses Therapieprinzip, das Krankheitserscheinungen nicht durch exogene Zufuhr direkt gegen die Symptome gerichteter Substanzen behandelt (s. antipathisch), sondern bei dem (meist in niedriger Dosierung, s. Potenzierung) Substanzen eingesetzt werden, die in einer homöopathischen Arzneimittelprüfung* den Krankheitserscheinungen ähnliche Symptome verursachen (z. B. Thallium in niedrigster Dosierung zur Behandlung der Alopezie).
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Entsprechend dem Simile-Prinzip ist zu erwarten, dass in der Wortbildung andere Muster prominent sein müssten als in Texten der Inneren Medizin. Diese rein exemplarischen Beobachtungen deuten darauf hin, dass die Analyse des Sprachgebrauchs auf verschiedenen sprachlichen Ebenen wesentliche Konzepte des jeweiligen medizinischen Fachgebiets aufzeigen kann und dass somit Sprachgebrauchsmuster kontextualisierende Funktion haben (können).
6 Zusammenfassung Ziel dieses Beitrags war es, die Rolle des formelhaften Sprachgebrauchs in medizinischen Texten theoretisch zu reflektieren und eine Methode zu dessen Untersuchung vorzustellen. Im Fokus standen Fachdiskurse der Inneren Medizin, der Homöopathie und der Naturheilkunde. Dem Beitrag liegt die These zugrunde, dass sich die Sprachgebräuche der drei medizinischen Kollektive unterscheiden und dass die Differenzen weit über Fachtermini hinausgehen. Es werden Sprachgebrauchsmuster unterschiedlicher Komplexität und auf unterschiedlichen sprachlichen Ebenen erwartet. Den Ausgangspunkt der Betrachtung bildet die bisherige Forschung zur formelhaften Sprache. Um Sprachgebrauchsmuster zu ermitteln und Rückschlüsse auf ihre Zuordnung zu den drei Fachgebieten ziehen zu können, wurde ein mehrstufiges Analysevorgehen entwickelt, das in der ersten Phase textlinguistisch und in der zweiten Phase korpuslinguistisch ausgerichtet ist. Die Methode der zweiten Phase stand im Fokus des Beitrages. Sie vereint korpuslinguistische, diskurslinguistische und konstruktionsgrammatische Aspekte, auf die im Einzelnen eingegangen wurde. Im Hinblick auf die Art der Verfestigungen und deren Leistung für Texte wurden auch neuere phraseologische Arbeiten berücksichtigt und deren mögliche Verbindung mit den drei methodischen Ansätzen diskutiert. Dabei ist deutlich geworden, dass die Studie von einer integrativen Methode profitieren kann. Die anschließende Diskussion exemplarischer Beobachtungen stützte sich auf die jeweiligen Teilkapitel zu Otitis externa in drei Lehrbüchern. Diese Beobachtungen deuteten die textlinguistische Herangehensweise an das Untersuchungsmaterial in der ersten Analysephase an. Anhand der heuristischen Analyse werden Hypothesen formuliert, die in die Korpusanalyse einfließen. Es wurden Auffälligkeiten auf folgenden Ebenen aufgezeigt: – Fachlexik: Wörter und Kollokationen, Abkürzungen, – konditionale Strukturen: teilspezifizierte bei-Konstruktion mit dem Partizip angezeigt (bei X ist Y angezeigt), semantisch verwandte Konstruktionen bei X kommt Y infrage, bei X ist an Y zudenken, vorangestellte Konditionalsätze,
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Wortbildung: Kookkurrenzen von Komposita mit gleichem substantivischen Glied, spezifische Derivationsmorpheme (anti-) und Zweitglieder in adjektivischen Komposita (-wirksam), semantisches Feld zum Ausdruck der Wahl von Symptomen und Arzneien, behandelte Themen: ausführliche Angaben der Dosierung im HP-Buch, Textgliederung: separater Abschnitt zur Dosierung im HP-Buch, separater Abschnitt zur schulmedizinischen Therapie im NHK-Buch, (fehlende) Bezugnahmen auf die jeweils anderen medizinischen Richtungen.
Inwiefern diese Merkmale tatsächlich musterhaft vorkommen, kann nur die Analyse eines größeren Korpus beantworten. Die exemplarische Sichtung der Kapitel zu Otitis externa legt nahe, dass man von den musterhaften sprachlichen Mitteln auf die Zuordnung zu einem der Fachdiskurse schließen kann. So weisen die sprachlichen Mittel zum Ausdruck der Wahl darauf hin, dass die individuelle Suche nach dem geeigneten Arzneimittel in der Homöopathie einen zentralen Stellenwert innehat. Die Wiederaufnahmen des Erregernamens durch Komposita, die den Namen enthalten, deuten wiederum auf den grundlegenden Ansatz der Inneren Medizin hin, gegen die Symptome einzuwirken. Diese exemplarischen Befunde unterstützen die Hypothese, dass es möglich sein sollte, ermittelte Sprachgebrauchsmuster als Manifestation von Denkstilen zu interpretieren. Dieser theoretische Zusammenhang wird in der Untersuchung weiterverfolgt und konturiert.
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Nikola Vujčič
Phraseme als diskursrelevante Analyseobjekte in politischen Diskursen Eine linguistische Untersuchung am Beispiel des Jugoslawiendiskurses in der SPIEGEL-Berichterstattung Zusammenfassung: Den Gegenstand der vorliegenden Arbeit bilden Phraseme im Lichte der Diskurslinguistik. Es soll gezeigt werden, dass phraseologische Einheiten – trotz der gängigen diskurslinguistischen Praxis – ein relevantes Analyseobjekt in diskurslinguistischen Untersuchungen darstellen. Dabei wird ein Beschreibungsmodell vorgeschlagen, das aus vier Analyseebenen besteht: propositionale, semantische, textpragmatische und diskursive Ebene. Erprobt wird das genannte Analysemodell am Beispiel des Jugoslawien-Diskurses bzw. dessen Ausschnittes im Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL im Zeitraum 1990–1999. Die Analyse hat ergeben, dass in Phrasemen diskursiv konstruiertes und geteiltes Wissen gespeichert ist sowie dass sie eine wichtige Rolle bei Merkmalszuschreibungen spielen.
1 Einleitende Bemerkungen und Begriffsbestimmungen Dass es in den mündlichen wie schriftlichen Medien von formelhaften Ausdrucksweisen nur so wimmelt, ist hinlänglich bekannt. Dass diese formelhafte Sprache dabei unterschiedliche Erscheinungsformen hat, wurde schon oft in der Forschung festgestellt und bestätigt. Auch bekannt ist, dass die formelhaften Strukturen diverse Funktionen erfüllen können – dies war auch des Öfteren Gegenstand linguistischer Untersuchungen. Um diese formelhaften Strukturen letztlich zu benennen, schließe ich mich der Diskussion von Donalies (1994) an und lege mich fest auf die Bezeichnung Phraseme. Hierunter verstehe ich im Rahmen dieses Aufsatzes alle mehr oder minder stabilen Mehrworteinheiten, deren Bedeutungen sich nicht (nur) kompositionell, sondern auch strukturell erschließen lassen. Bei den bisherigen phraseologischen Fragestellungen ging es um verschiedene Analyseebenen: Es wurden vor allem morphologische, morphosyntaktische, syntaktische, lexikalische, textuelle und pragmatische Ebenen berück-
DOI 10.1515/9783110602319-013
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sichtigt und analysiert. Nun fragt man sich, und zwar besonders seit die linguistische Forschungspraxis ihre Pforten für die diskursanalytischen Fragestellungen geöffnet hat, welchen Stellenwert Phraseme für und im Diskurs haben (vgl. z. B. Stumpf & Kreuz 2016). Demzufolge zielt dieser Beitrag darauf ab, Phraseme durch eine diskursive Brille zu sehen und in diesem Zuge ihre Relevanz als diskurslinguistische Analyseobjekte zu überprüfen. Die theoretisch-methodologischen Überlegungen über die Rolle der Phraseme in der linguistischen Diskursanalyse werden am Beispiel des Jugoslawiendiskurses demonstriert. Unter Jugoslawiendiskurs fasse ich einen politischen Diskurs über den Zerfall Jugoslawiens auf, der in den Massenmedien geführt wurde. Als politischen Diskurs bezeichne ich mit Spieß (2011) miteinander vernetzte und verschränkte Text- und Aussagenkomplexe mit einem speziell politischen Themenfokus. Politische Diskurse, wie auch sonst alle anderen Diskurse, ereignen sich aufgrund bestimmter situativer und kontextueller Faktoren, sie entwickeln sich prozessual und sukzessive, sie sind gekennzeichnet von Dynamik und Flexibilität, finden zumeist im Raum der Öffentlichkeit statt und sind auf Massenmedialität angewiesen. (Spieß 2011: 302)
Die Frage, die hier gestellt werden kann, betrifft die Verzahnung von linguistischer Diskursanalyse und Phraseologie und könnte folgendermaßen formuliert werden: Was kann man mittels Phraseme über einen politischen Diskurs erfahren? Oder anders gefragt: Inwiefern fungieren Phraseme als diskursrelevante Analyseobjekte? Mögliche Antworten auf diese Frage geben Erhardt (2005) und Stumpf & Kreuz (2016). Erhardt (2005: 73–74) stellt fest, dass Phraseme „diskursbildende Potenzen“ besitzen und zwar dergestalt, dass sie „so etwas wie Schaltstellen in der Diskursorganisation, in der Konstruktion und der Verwaltung gemeinsamen Wissens [sind].“ Zu einer kompatiblen Einsicht gelangen auch Stumpf & Kreuz (2016: 7) und qualifizieren Phraseme als diskurssignifikante Zugriffsobjekte, denn (auch) durch sie gelangen wir zum gesellschaftlich geteilten Wissen und so auch zu den Mentalitäten (im Sinne von Hermanns 1995) einer Diskursgemeinschaft.
2 Ziel, Fragestellungen und Korpus Ziel dieses Beitrags ist es aufzuzeigen, dass Phraseme diskurssignifikantes Potenzial in politischen Diskursen besitzen und somit zu den relevanten Analyseobjekten von linguistischen Untersuchungen politischer Diskurse gehören. Dieses Potenzial speist sich erstens aus der (variablen) Struktur, zweitens aus dem
Phraseme als diskursrelevante Analyseobjekte in politischen Diskursen | 353
semantischen und pragmatischen Mehrwert und drittens aus der Fähigkeit von Phrasemen, als Wissens- und Mentalitätsspeicher einer Diskursgemeinschaft zu fungieren. Die letztgenannte Funktion hebt die Diskurssignifikanz von Phrasemen hervor. Um zu dem formulierten Ziel zu gelangen, wird im Beitrag folgenden Fragen nachgegangen: – Durch welche Merkmale/Eigenschaften oder auf welchen Ebenen erhalten Phraseme Diskurssignifikanz? – Wie wird Diskursivität durch Phraseme erreicht? – Wie sind diskurssignifikante Phraseme untereinander verknüpft? – Welche diskursive(n) Funktion(en) können Phraseme erfüllen? Auf der einen Seite können Diskurse generell als „Formationssysteme von Wissenssegmenten“ (Busse 2000: 40) aufgefasst werden, wobei jeder Verstehensprozess zugleich Interpretationsarbeit darstellt, die erst durch Aktivierung der von den einzelnen lexikalischen Einheiten evozierten Wissensrahmen in Gang gesetzt wird (vgl. Busse 2009: 85). Da Phraseme auf der anderen Seite als spezifische lexikalische Einheiten evidente Bestandteile der Diskurse sind, leuchtet ihre Erforschung im Prozess der Wissenskonstitution, -manifestation und -transformation durchaus ein. Als exemplarisches Korpus für diese Arbeit wurde das Wochenmagazin DER SPIEGEL gewählt und zwar die Jahrgänge 1990 bis 1999. Das Jahr 1990 bezeichnet den Beginn der jugoslawischen Krise mit dem ersten Konflikt bei der Abspaltung Sloweniens, während das Jahr 1999 die letzte militärische Auseinandersetzung markiert, nämlich die Kosovo-Krise und das Bombardement durch die NATO. Diese beiden Eckpunkte jugoslawischer Krisen wurden hier somit auch zur Eingrenzung des entsprechenden Diskurses herangezogen. Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass sich der Jugoslawiendiskurs in den hier gewählten Jahrgängen erschöpft. Andere Untersuchungen zeigen, dass über Konflikte in Jugoslawien ebenfalls vor dem Kriegsausbruch 1990 diskursiv verhandelt wird (vgl. dazu Vujčić 2013). Die jeweils aktuellen politischen und/oder militärischen Ereignisse bestimmen maßgeblich den Diskursverlauf, was den betreffenden Diskurs nur facettenreich und komplex macht. Dennoch musste entsprechend dem Erkenntnisinteresse einerseits und aufgrund eines begrenzten Umfangs eines solchen Beitrags andererseits eine klare Korpuseingrenzung vorgenommen werden. Der hier gesetzte Diskurszeitrahmen wird damit begründet, dass der Sprachgebrauch in Umbruchzeiten besondere Relevanz erhält, die sich darin zeigt, dass politische Wechsel einerseits besondere sprachliche Manifestationen erfahren und andererseits durch Sprache auch konstituiert werden (vgl. Kämper 2011: 34). Außerdem
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geraten in Konfliktsituationen bestimmte Akteure und Akteursgruppen vornehmlich in den Blick und übernehmen typische Rollen, die, wie sich zeigen wird, durch Phraseme zusätzlich gestützt werden. Das so abgesteckte Untersuchungskorpus umfasst insgesamt 287 dem Jugoslawiendiskurs zugeordnete Texte bzw. 371.193 laufende Wortformen (Tokens) und wurde mithilfe des Analyseprogramms AntConc1 bearbeitet.
3 Theoretisch-methodische Rahmung 3.1 Theoretische Ausführungen Die bisherige phraseologische Forschung kann sich als Verdienst anrechnen, dass Phraseme unter verschiedenen Aspekten bereits mehrfach untersucht worden sind. Besonders wichtig erscheint mir die Einsicht, dass Phraseme laut Kühn (1984, 1994) einen semantischen und pragmatischen Mehrwert haben. Kühn (1994: 420) bezeichnet Phraseme pointiert als kompakte Zeichen, mit denen ein Sprecher/Schreiber referieren, prädizieren und/oder illokutive Handlungen durchführen oder modifizieren kann und gleichzeitig gegenüber den nicht-phraseologischen Entsprechungen ein Bündel weiterer evaluativer Handlungen, Einstellungen, Imagebezeugungen usw. ausdrücken kann.
In engem Zusammenhang mit dieser Erkenntnis steht auch die Postulierung von „textbildenden Potenzen“ von Phrasemen. Dieser Gedanke geht auf Černyševa (1980) zurück und wurde insbesondere von Dobrovol’skij (1987), Wotjak (1994), Fleischer (1997) oder Sabban (2004, 2007) weitergeführt. Die Quintessenz dieser Idee besteht darin, dass Phraseme durch ihre spezielle Erscheinungsform und Verwendungsweise auf unterschiedliche Textdimensionen Bezug nehmen und auch reiches Assoziierungs- und Modifizierungspotenzial entwickeln (vgl. Sabban 2007 und Wotjak 1994). Dabei wird oft zwischen unauffälligem und auffälligem Phrasemgebrauch unterschieden, wobei dem auffälligen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird.2 Es ist in diesem Zusammenhang mehrfach hervorgehoben worden, dass der Phrasemgebrauch vor dem Hintergrund der Textsortenspezifik zu betrachten sei. Dies war oftmals Gegenstand phraseologischer und/oder textlinguistischer Arbeiten (vgl. exemplarisch Lenk & Stein 2011).
|| 1 http://www.laurenceanthony.net/software.html (26.01.2018). 2 Ausführlich dazu vgl. Sabban (2007).
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Hinsichtlich des Diskursbegriffs ist eine präzisierende Erweiterung der bereits o. g. eher medial ausgerichteten Diskursdefinition von Spieß (2011) vonnöten. Hierbei kann auf die folgende Diskursexplikation von Kämper (2011: 35) verwiesen werden: Ein Diskurs besteht aus Serien themenidentischer Aussagen [...], die von einer bestimmten Gruppe von Diskursbeteiligten realisiert werden, die in unterschiedlichen textuellen Mustern und kommunikativen Praktiken repräsentiert sind und die sich insbesondere in einem diskurstypischen bzw. diskursrelevanten Vokabular verdichten. [...] Thema, Beteiligte, Texte und Textsorten sowie Wortschatz sind demnach gesellschaftlich und sprachlich umbruchrelevante Faktoren.
In der zitierten Begriffsbestimmung werden ganz spezielle, diskurskonstitutive Aspekte wie thematische Unität, Akteure, Textformen und Lexik sichtbar. Die thematische Unität ist ein wesentlicher Parameter bei der Herstellung von Diskursivität, die im Anschluss an Warnke (2002: 136) als der „kommunikative Zusammenhalt einer Vielzahl singulärer Vertextungen [verstanden wird], der als seriell organisierte und anonyme Praxis historisch real ist.“ Bei den Akteuren bzw. Beteiligten muss zunächst einmal zwischen Medienakteuren und Individualakteuren unterschieden werden. Als Medienakteure bezeichne ich jene Diskursbeteiligten, die im Sinne von Adamzik (2002: 234–235) als „privilegierte Akteure im gesellschaftlichen Diskurs“ auftreten. Diese Rolle übernimmt im hier zu analysierenden Diskurs DER SPIEGEL. Charakteristisch für einen solchen Akteur sind bestimmte Diskurspositionen (z. B. Befürworter, Gegner u. Ä.). Eine andere Beteiligtengruppe stellen Individualakteure dar, die in die Diskursereignisse direkt oder indirekt involviert sind oder als solche dargestellt werden. Das können konkrete Personen sein wie etwa Politiker oder Armeemitglieder oder aber bestimmte Gruppen wie ethnische oder religiöse Gemeinschaften, denen ganz bestimmte Funktionen und Rollen zugeteilt bzw. zugeschrieben werden. Da das oben beschriebene Untersuchungskorpus auf einen schriftlichen Mediendiskurs beschränkt bleibt und nur ein Wochenmagazin, also keine Tageszeitungen, umschließt, treten nur bestimmte Textsorten auf. Es handelt sich dabei im Sinne von Lüger (1995: 66–70) um informations- und meinungsbetonte journalistische Formen und zwar ausschließlich Bericht, Kommentar, Reportage und Interview. Es war mitunter besonders schwierig, eine übergeordnete Textfunktion im Sinne von Brinker (2005) auszumachen und eine strickte Zuordnung „informationsbetont“ vs. „meinungsbetont“ vorzunehmen. Dieses Problem stellte sich vor allem bei der Unterscheidung zwischen den Textsorten Bericht und Kommentar, zumal eine generelle Vermischung von Textsortenstilen zu beobachten ist, was auch Burger & Luginbühl (2014: 237) feststellen. Diese Vermischung äußert sich vor
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allem darin, dass Berichte zunehmend mit meinungsbetonten Elementen ausgestattet werden, sodass expressive und emotionalisierende Formulierungen begegnen (vgl. Burger & Luginbühl 2014: 240). Den fruchtbaren Boden für derartige Darstellungsweisen machen eben Phraseme aus, denn sie vermögen, „psychische Zustände des Sprechers oder Schreibers zu indizieren und beim Hörer oder Leser zu induzieren“ (Fleischer 1997: 25). In ähnlicher Weise erklärt Feilke (2004: 52) das Problem der Kontextualisierung, indem er behauptet, Kontexte würden unter anderem mithilfe von Phrasemen erst durch die Sprachhandelnden erzeugt und determinieren weiterhin die Interaktion: Spezifische Kontexte sind ansprechbar durch den – gegenüber dem Wort und gegenüber freien Kombinationen – gesteigerten Distinktionswert von Syntagmen, Kollokationen und Formeln, die pars pro toto – als Figur vor einem Hintergrund – genau diesen Hintergrund semantisch indizieren können.
Hierin sieht man einen wichtigen Anhaltspunkt bei der Herstellung und Unterstützung von Diskursivitätsbeziehungen durch Phraseme. Diese Beziehungen entstehen u. a. infolge der Herausbildung eines bestimmten thematisch determinierten Kontextes, an der die jeweiligen Akteure und/oder Akteursgruppen beteiligt sind. Im Anschluss an die vorhergehenden Ausführungen zur (kon-)textspezifischen Rolle von Phrasemen erscheint die Lexik als Beschreibungsgröße in Diskursen als besonders relevant. Der in der o. g. Definition von Kämper (2011) erwähnte lexikalische Aspekt soll nicht ausschließlich als Einzelwortanalyse missverstanden werden. Hierher gehören auch komplexe Strukturen wie Mehrworteinheiten mit oder ohne phraseologischen Charakter. Da der Fokus dieser Arbeit auf phraseologischen Wortverbindungen liegt, werden folglich sämtliche anderen lexikalischen Strukturen außer Betracht gelassen, es sei denn, es handelt sich um phrasemmodifizierende lexikalische Elemente. In diesem Fall müssen diese in die Analyse einbezogen werden, da sie durch die Modifizierung des jeweiligen Phrasems oftmals zu dessen (Re)-Kontextualisierung beitragen.
3.2 Ein Beschreibungsmodell Um den jeweiligen Kontext zu erschließen und Phrasemen diskurssignifikantes Potenzial attestieren zu können, muss man Sprachanalysen auf vier Ebenen durchführen: a) Propositionale Ebene: Auf dieser Ebene wird das jeweilige Phrasem prädiziert. Durch die Prädizierung werden unterschiedliche Akteursrollen sicht-
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bar, teilweise auch als tiefensemantische Rollen analysierbar (etwa wie Agens, Patiens, Experiencer, Benefaktiv).3 Die Signifikanz der propositionalen Ebene wird am folgenden Beispiel vorgeführt: […] die Serben weigerten sich, ihre Geschütze abzuziehen. Sie nahmen die moslemisch bewohnten Viertel am Rande der Hauptstadt weiter unter Beschuß. (28/92)4
Hierbei geht es darum, die Referenten bei der durch das Phrasem ausgedrückten Prädikation zu bestimmen. Die Subjektfunktion (hier die Agensrolle) wird von „Serben“ besetzt und die Objektfunktion (hier die Patiensrolle) übernehmen „die moslemisch bewohnten Viertel“. Durch diese semantischen Rollen werden der Verursacher und der Erleider sichtbar, die auf die Positionen im Konflikt hinweisen. b) Semantische Ebene: Hier ist das jeweilige Phrasem auf die referenzielle, emotive und deontische Bedeutungsdimension (vgl. Hermanns 2002a, b) hin zu untersuchen. Durch Analysen auf dieser Ebene wird die Fähigkeit von Phrasemen, emotional-evaluative Einstellungen auszudrücken und auf Denkund Handlungssteuerung einzuwirken, geradezu hochtransparent. Die emotive und die deontische Bedeutungsdimension können dem jeweiligen Phrasem inhärieren oder aber sich erst durch Modifikatoren entfalten. Die emotive Dimension zeigt Bewertung seitens des Produzenten an, während die deontische eine Aufforderung signalisiert. Die Deontik eines Phrasems, sei es modifiziert oder nicht, äußert sich demnach in der an den Rezipienten gerichteten Sollens-Komponente. So lässt sich z. B. das Phrasem einen demokratischen Kurs einschlagen sowohl evaluativ als auch deontisch deuten: Im Element demokratisch5 ist eine positive Einstellung des Produzenten enthalten und es appelliert gleichzeitig an den Rezipienten, er solle es befürworten und unterstützen (vgl. Girnth 2015: 60). Wie das vorangehende Beispiel zeigt, || 3 Es geht hier nicht darum, eine vollständige Liste mit semantischen Rollen auszuarbeiten, sondern vielmehr darum, die handelnden Akteure zu identifizieren sowie ihre Positionen im Konflikt herauszustellen. Dazu genügen in den meisten Fällen die semantischen Rollen, die prototypisch von Personen besetzt werden. Eine für die Zwecke dieser Arbeit ausreichende Darstellung der semantischen Rollen bietet Adamzik (2010: 178–179). Eine detailliertere Aufgliederung der semantischen Rollen dagegen ist z. B. bei von Polenz (1985: 170–172) zu finden. 4 Vollständige Quellenangaben zu den angeführten Beispielen sind im Anhang aufgelistet. 5 Das Lexem Demokratie sowie alle von ihm abgeleiteten Vokabeln (etwa demokratisch oder demokratisieren) gelten in der deutschen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts eindeutig als Hochwertwörter (vgl. Niehr 2014: 73–74). Ausführlicher zum Demokratie-Konzept vgl. Knobloch & Vogel (2015).
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können einem Lexem semantische Eigenschaften anhaften, die sich aus dem Gebrauch bzw. der Kontextualisierung in einer bestimmten Kulturgemeinschaft ergeben (haben) und die eine pragmatische Funktion – etwa wie Wertevermittlung (Auf- oder Abwertung) oder Rezipientenbeeinflussung – übernehmen. Deshalb kann die deontische Komponente als Andockstelle zwischen semantischer und pragmatischer Ebene angesehen werden.6 c) Textpragmatische Ebene: Auf dieser Ebene steht die kommunikative Funktion des jeweiligen Phrasems im Vordergrund. An dieser Stelle müssen die Funktion des Textes, in dem das Phrasem erscheint, sowie die Textsortenspezifik ebenfalls berücksichtigt werden. Es ist allerdings nicht ganz unproblematisch, die jeweiligen Textfunktionen immer präzise zu bestimmen, zumal sie unter anderem mit den schwer feststellbaren Produzentenintentionen zusammenhängen. Dem kann dadurch abgeholfen werden, indem man die Textfunktion vor dem Hintergrund der Texsorten- bzw. Sprachspezifik betrachtet. Auch wenn in Texten oft eine Kombination aus mehreren Textfunktionen zu beobachten ist, sind für bestimmte Textsorten spezielle Textfunktionen (vgl. Brinker 2005) typisch, die sich an sprachlichen Realisationen festmachen lassen und nicht unbedingt nur an Produzentenintentionen gekoppelt sind. Dabei kann angenommen werden, dass die Phrasemfunktion und die funktionale Dimension des Textes insofern miteinander korrelieren, als die spezifische Verwendungsweise von Phrasemen im Text bzw. einem Textteil eine bestimmte Funktion und Wirkung induzieren (vgl. Sabban: 2007: 237–238). So hat beispielsweise Lenk (2015) gezeigt, dass Phraseme in Zeitungskommentaren typischerweise Argumentations- und Bewertungsfunktion erfüllen. Dabei muss hinzugefügt werden, dass auf der textpragmatischen Ebene nicht nur die sog. Routineformeln oder pragmatischen Phraseme7 eine Rolle spielen, sondern auch andere Phrasemtypen wie Verbidiome, Funktionsverbgefüge oder Kollokationen (vgl. Lenk 2015: 109). d) Diskursebene: Auf der Diskursebene bietet sich zur Erfassung verstehensrelevanten Wissens die kognitive Perspektive an (vgl. Spitzmüller & Warnke 2011: 190). Wie eingangs dargelegt, wird im Diskurs Wissen formiert und mittels bestimmter lexikalischer Mittel evoziert. Dieses Wissen ist, wie Kämper || 6 Die theoretische Stütze hat diese Position vor allem im Semantikmodell von Bierwisch (1979) und etwas konkreter im Ansatz von Skirl (2009: 106–110). 7 Zur terminologischen Bestimmung situationsbedingter vorgeprägter Formen sowie deren Gebrauchsspezifika im mündlichen wie schriftlichen Bereich liegen zahlreiche Untersuchungen vor. Exemplarisch wird hier auf Coulmas (1981), Gülich (1997), Beckmann & König (2002), Lüger (2007) u. a. verwiesen. Eine aufschlussreiche Übersicht über pragmatische Aspekte von Phrasemen bietet Filatkina (2007).
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(2011) zeigte, oft an bestimmte Lexik gebunden und erscheint in Umbruchzeiten besonders erforschenswert. Seine Erforschung setzt demzufolge eine lexikalische Analyse voraus, die unter anderem die Dispositionen des Denkens, Fühlens, Wollens und Sollens im Sinne Hermanns’ (1995: 76–77) aufdecken soll. Auf diese Weise können die formierten Wissenselemente um die jeweiligen Diskurssituationen und -akteure ermittelt werden. Die in den Phrasemen sublimierten Wissensinhalte, die wiederum die Mentalitäten der Diskursgemeinschaft widerspiegeln, können anhand von Frameanalysen (vgl. Busse 2009 und Ziem 2008, 2009) dingfest gemacht werden. Frames stellen typisierte und strukturierte Repräsentationsformate kollektiven Wissens dar, die aus Slots (Leerstellen) und Fillern (Füllwerten) zusammengesetzt sind (vgl. Ziem 2008: 97–98). Sie sind hierarchisch nach Abstraktionsgraden geordnet und ermöglichen die Strukturierung kollektiv geteilten Wissens. Jeder Frame besteht aus einer endlichen Menge an Slots auf mittlerer Abstraktionsebene, die durch unterschiedlichste Filler in Form von konkreten sprachlichen Realisierungen gefüllt werden können. Die Slots erscheinen als eine Menge von möglichen Prädikationsformen, die für jede lexikalische Einheit als eine Liste von Fragen8 angesetzt werden und eine Art Prädikationsschema formen. Nun fungieren bestimmte Phraseme in bestimmten Prädikationstypen (Slots) als Filler. Sie repräsentieren bestimmte Wissensinhalte und verhelfen zu deren Verfestigung.
|| 8 In seiner lexikologisch-lexikografisch angelegten Arbeit versuchte Konerding (1993), die „strategisch entscheidenden Fragen“ zu jedem „Matrixframe“ zu formulieren. Er reduziert dabei den Substantivbestand der deutschen Sprache auf zwölf sogenannte Matrixframes, die im Prinzip die ranghöchsten Hyperonyme der jeweiligen Substantivklassen darstellen. Die Matrixframes werden durch ein wörterbuchbasiertes Hyperonymiesierungsverfahren gewonnen. Danach erstellt er für jeden dieser Matrixframes eine endliche Liste von Fragen, die als Prädikationen die einzelnen Slots abbilden. Nun sind Slots, als Prädikationstypen gefasst, als leere Hüllen zu verstehen, die mit konkreten Sprachdaten – Filler genannt – gefüllt werden, die unser Wissen im gegebenen Kontext repräsentieren. Die Filler ihrerseits können als Standardwerte, sprich erwartbare, voraussetzbare Wissenseinheiten, oder konkrete Füllwerte realisiert sein (vgl. Ziem 2008: 104–105). Während die Standardwerte als Standardwissen vorausgesetzt werden und deshalb in den meisten Fällen nicht explizit erwähnt werden, werden die konkreten Füllwerte direkt in den Texten versprachlicht. Diese vermögen allerdings mit der Zeit zu Standardwerten zu avancieren, weshalb sie dann immer seltener vertextet werden.
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Im konkreten Fall des Jugoslawiendiskurses kann vom Frame gesprochen werden. Dieser Frame eröffnet z. B. folgende Leerstellen9: Motive/Ursachen, Ziel/Zweck, Akteure/Parteien (ihre Rollen, Positionen und Eigenschaften, ihre Helfer und Unterstützer), Phasen, Dauer, Beendigung, Folgen etc. Auffällig ist dabei, dass bestimmte Slots fortwährend mit gleichen oder ähnlichen Phrasemen prädiziert werden, was umgekehrt bedeutet, dass bestimmte Phraseme immer dieselben Slots und somit auch Frames evozieren. Dies legt nahe, dass in Phrasemen Wissen sublimiert, welches sich im Diskurs verbreitet und verfestigt. Demonstriert seien die vorangehenden Ausführungen am folgenden Beispiel: […] daß zur gleichen Zeit Bihać und Žepa unter serbischem Beschuß lagen. (31a/95)
Das Phrasem unter Beschuss liegen, hier in modifizierter Form vorliegend, charakterisiert den Slot über Akteure/Kriegsparteien, genauer genommen, die Rollen der Kriegsparteien: Serben als Angreifer und die bosnischen Städte Bihać und Žepa als angegriffene Partei. Die vorgenommene Modifikation durch das Adjektiv serbisch erfüllt hier die Funktion der Referenzsicherung, denn erst dadurch lassen sich beide beteiligten Kriegsparteien identifizieren. So wird zuerst mittels dieses Phrasems der betreffende Slot über die Kriegsparteien aufgerufen, woraufhin durch die Prädizierung Wissen konstituiert und dem Phrasem angeheftet wird. Dank eines relativ großen Assoziierungs- und Evozierungspotenzials tragen Phraseme zur Verbreitung von ihnen anhaftenden Wissensinhalten bei. Bei einer solchen Analyse, wie der hier skizzierten, dürfte zudem von Belang sein, ob ein Phrasem in festgeprägter oder modifizierter Form auftritt. Modifikationen können nämlich unterschiedliches Leistungspotenzial entfalten (vgl. Sabban 2007). Dies spielt bei der textpragmatischen Ebene eine signifikante Rolle und darf darüber hinaus auch auf der epistemischen Diskursebene nicht ausgeblendet werden: Die Modifizierungen beeinflussen nicht nur die Kontextbildung im Sinne von Kontexterweiterung und -präzisierung, sondern leisten einen entscheidenden Beitrag zur Diskursivitätsstiftung, indem sie verwendet werden können,
|| 9 Diese Leerstellen entsprechen den Konerdingschen Slots zum Matrixframe „Handlung/Interaktion/Kommunikation“ (vgl. Konerding 1993: 341–348).
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um in der Interaktion auf gemeinsames Wissen anzuspielen und durch Aufrufer geeigneter Wissenselemente die eigene Rede konnotativ aufzuladen; darüber vermittelt ergibt sich wiederum ein gemeinschaftsbildendes Potential. (Sabban 2007: 249)
4 Exemplarische Datenanalyse 4.1 Ermittlungs- und Klassifikationsschwierigkeiten Bei der Analyse von Phrasemen in einem etwas breiter angelegten Korpus gestaltet sich das Aufspüren von einschlägigen Belegen nicht gerade einfach. Eine solche Untersuchung stellt immer eine bottom-up-Analyse dar. Da die induktive Vorgehensweise eine computergestützte Phrasemermittlung schier unmöglich macht, müssen die Belege vom Analytiker per Hand ausgesondert werden. Für die Zwecke dieser Arbeit habe ich stichprobenartig Korpustexte aus den Jahren 1990, 1995 und 1999 genau in den Blick genommen und die vorgefundenen Phraseme exzerpiert. Anhand des gewonnenen Belegmaterials wurden mit dem Analyseprogramm AntConc weitere Belege gesucht, indem ich im Gesamtkorpus gezielt nach bestimmten Phrasemen, die mir als signifikant und aussagekräftig erschienen, gefahndet habe. Zur Kontrolle, ob es sich tatsächlich um eine phraseologische Einheit handelt, habe ich anschließend den Duden Band 11 und das Internetportal www.redensarten-index.de zu Rate gezogen. Falls der Phrasemkandidat mindestens in einer der beiden lexikografischen Quellen verzeichnet war, wurde er automatisch der weiteren Analyse unterzogen. Ganz gewiss ist dieses Analyseverfahren mit etlichen Restriktionen verbunden. Erstens bleiben bei einer stichprobenartigen Untersuchung viele andere Phraseme unerfasst und somit unbekannt. Zweitens können durch die Lexikonkontrolle zu einem überwiegenden Teil nur lexikalisierte Phraseme identifiziert werden, während etwaige Neubildungen aus dem Blickfeld geraten. Da aber die vorliegende Untersuchung eine exemplarische darstellt, die zeigen soll, dass Phrasemen im Diskurs eine prominente Stellung zukommt, erscheint eine derart exhaustive Analyse nicht zweckdienlich. Außerdem würde eine eingehende Phrasemermittlung und -beschreibung den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Nichtsdestoweniger muss an dieser Stelle eingeräumt werden, dass die Suche nach potenziellen phraseologischen Neubildungen, die womöglich eine Diskursspezifik aufweisen würden, als durchaus lohnend erachtet wird, jedoch für breiter angelegte Folgeuntersuchungen aufgespart werden muss.
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4.2 Die Analyse Exemplarisch werden im Folgenden drei Gruppen von Phrasemen genauer untersucht und beschrieben. Die Phrasemauswahl wurde von dem Anliegen gesteuert, Akteure sowie deren Rollen und Positionen im Krieg zu beleuchten. Es handelt sich dabei um folgende Phraseme und deren Modifikationen: – Gruppe A: auf Kurs sein/bleiben; Kurs halten; auf gleicher Linie sein; jmdn. auf seine Seite ziehen/bringen; sich auf jmds. Seite schlagen; auf jmds. Seite stehen – Gruppe B: unter Beschuss nehmen/liegen; unter Feuer nehmen – Gruppe C: das Sagen haben; die Oberhand behalten; den Ton angeben; unter Kontrolle haben Die in Gruppe A aufgeführten Phraseme erscheinen in Prädikationen zur Charakterisierung von Kriegsparteien und Akteuren hinsichtlich ihrer (politischen) Richtung sowie zur Charakterisierung von Helfern und Unterstützern. In Gruppe B gehören Phraseme, die als Prädikationen zur Charakterisierung der Akteursrollen im Krieg und zwar in Bezug auf den Rollenkontrast Täter – Opfer dienen. In Gruppe C werden Phraseme aufgenommen, die zum Slot über die Verteilung der Machtverhältnisse im Konflikt zählen.
4.2.1 Gruppe A auf Kurs sein/bleiben – ‚den geplanten Weg fortsetzen‘10 Kurs halten – ‚den eingeschlagenen Weg beibehalten‘ einen harten Kurs fahren/einschlagen – ‚eine nach strengen Prinzipien festgelegte Richtung verfolgen‘
|| 10 Zur Bedeutungsbeschreibung wurden die genannten lexikografischen Quellen (Duden Band 11 und das Internetportal www.redensarten-index.de) herangezogen.
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Belege:11 (1)
Unterdessen ist auch die zweitreichste Teilrepublik, Kroatien, auf demokratischen Kurs gegangen. (7/90)
(2)
Das Kräfteverhältnis im Richtungsstreit kommt einem politischen Patt sehr nahe: Auf Reformkurs ist außer Slowenien und Kroatien nur noch die Republik Bosnien-Herzegowina, wenn auch ungleich vorsichtiger. Das kleine Mazedonien würde sich gern anschließen, hat aber Furcht, die Serben zu reizen. (7/90)
(3)
Brav auf Serbenkurs liegen Montenegro und die Vojvodina, beide von Serbien wirtschaftlich abhängig. (7/90)
(4)
Dem französischen Staatschef Francois Mitterrand, der diese Woche die neuen Bundesländer besucht, ist der politische Kompaß abhanden gekommen. Bei der deutschen Wiedervereinigung, beim Putsch der Moskauer Betonköpfe, in der JugoslawienKrise – er steuerte immer falschen Kurs. Hat er sich verbraucht? (38a/91)
(5)
Durch Mobilisierung der Straße brachte Milosevic die autonomen Regionen Vojvodina und Kosovo sowie die Republik Montenegro auf serbischen Kurs. Und gegenüber den Liberalen aus Slowenien und Kroatien, die eine Neugliederung des Vielvölkerstaates in einer Konföderation gleichberechtigter Republiken forderten, gab sich der Serbenfürst streng dogmatisch: Jugoslawien müsse unter einer starken Belgrader Zentrale vor dem Auseinanderbrechen bewahrt werden. (46/91)
(6)
Wie würde das Land heute dastehen, hätte Milosevic vor zehn Jahren einen anderen, demokratischen Kurs eingeschlagen und den friedlichen Wandel Jugoslawiens in eine große multinationale Konföderation zugelassen? (13j/99)
|| 11 Die angeführten Belege sollen exemplarisch zur Illustration dienen, d. h. es wurde eine Auswahl aus der Gesamtbelegmenge getroffen. Aus Platzgründen mussten die Belege bisweilen stark abgekürzt werden, weshalb sich die Kontextualisierung an manchen Stellen schwierig gestaltet. Aus diesem Grund hänge ich dem Beitrag eine Liste mit genauen Belegangaben an, sodass jedes Beispiel zurückverfolgt werden kann. Die Hervorhebungen von Phrasemen durch Kursivschrift wurden von mir vorgenommen.
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(7)
Als Präsident der neuen Republik, die kleiner ist als Baden-Württemberg steuerte Glikorov, 80, einen marktwirtschaftlichen, demokratischen Kurs mit dem Fernziel einer Anbindung an EU und Nato. (15h/99)
In den Belegen wird häufig eine Modifikation der Phraseme vorgenommen. Die Modifikationen beinhalten zum einen den Ausbau einer Phrasemkonstituente wie in (2) und (3) oder markieren zum anderen eine Substitution mit Erweiterung der Phrasemform wie in den restlichen Belegen. Unter dem Ausbau einer Phrasemkonstituente wird hier der Prozess der Komposition verstanden (Kurs → Reformkurs, Serbenkurs). Andererseits bedeutet Substitution den Austausch einer Konstituente durch eine andere (gehen12 statt sein/bleiben; steuern statt fahren oder einschlagen; demokratisch statt hart) und die Erweiterung bezieht sich auf das Hinzufügen neuer selbständiger lexikalischer Elemente (anderen, marktwirtschaftlich). Die Funktion der Modifizierung dürfte die wissenskonstitutive Referenzsicherung sein. Aus den Beispielen wird deutlich, dass sich zwei klare Richtungen im thematisierten Konflikt hervortun: Auf der einen Seite eine demokratische, reformorientierte, marktwirtschaftliche, der Slowenien, Kroatien und später vielleicht auch noch Bosnien-Herzegowina und Mazedonien angehören sollen, und auf der anderen Seite eine dogmatische, nicht-liberale, der Serbien angehört. Es stechen in diesen Positionen starke deontische Bedeutungskomponenten hervor: Das implizit Mitgesagte in den Lexemen demokratisch, reformorientiert und marktwirtschaftlich deutet auf positiv, gut und deshalb richtig, was wiederum (laut DUDEN oder DWDS) ‚nicht verkehrt‘, ‚so, wie es sein sollte‘ bedeutet. Hier wird suggeriert, dass diese Position zu vertreten und zu befürworten ist. Andererseits schwingt in den Lexemen dogmatisch, nicht-liberal die Wertung negativ, schlecht und deshalb falsch13 mit, was sich mit ‚verkehrt‘, ‚so, wie es nicht sein sollte‘ umschreiben lässt. Diese andere Position ist folglich abzulehnen und daher zu verurteilen. Daraus lässt sich folgern, dass Slowenien und Kroatien mit den Abspaltungsbestrebungen bzw. -aktionen richtig handeln, während Serbiens Beharren auf dem Staatenbund grundfalsch sei. Die festgestellten Positionen werden in den Texten auch mit weiteren Beispielen gestützt, die nicht zu den Phrasemen gerechnet werden. Dabei fällt auf,
|| 12 In diesem Fall und einigen anderen Fällen könnte es sich sogar um eine phraseologische Variation handeln. Da aber die vorgefundene Form in den einschlägigen phraseologischen Wörterbüchern nicht geführt wird, muss diese Annahme vorerst zurückgewiesen werden, zumindest so lange, bis weitere umfassendere Korpusuntersuchungen durchgeführt werden. 13 Nicht selten kommt es vor, dass die Positionen von den Textautoren selbst als richtig oder falsch bezeichnet werden (vgl. Beispiel 4).
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dass in den meisten Belegen das Wort Kurs im Rahmen eines Kompositums erscheint und an das zugrundeliegende Phrasem erinnert. Es handelt sich um folgende Komposita: Friedenskurs, Kriegskurs, Konfrontationskurs, Separationskurs, Reformkurs, Zickzackkurs, Kompromisskurs, Kurswechsel. Es stellt sich die Frage, ob diese Metaphernkomposita auch nicht Restteile formelhafter Konstruktionen sind, wenn auch ihre Begleiter in Form von Präpositionen oder Verben stark variieren. Es könnte angenommen werden, es handle sich dabei um komprimierte Einwort-Phraseme, die auf das Merkmal der Polylexikalität infolge einer starken diskursiven Eingebundenheit verzichten konnten. Diesen Fragen kann hier nicht weiter nachgegangen werden, denn zu ihrer Klärung bedarf es einer eigenständigen Untersuchung. In die gleiche Reihe mit den beschriebenen Phrasemen stellen sich auch weitere Phraseme, die demselben Slot angehören, nämlich ‚Positionierung/eine bestimmte Position vertreten‘. Zu nennen sei ein weiteres Phrasem, das im Verbund mit den obigen einen wesentlichen Beitrag zur Diskursivitätsstiftung leistet: auf gleicher Linie sein – ‚übereinstimmen, jmdm. beipflichten, gleicher Meinung sein‘
Belege: (8)
Montenegro sowie die beiden nur noch auf dem Papier autonomen Gebiete Kosovo und Vojvodina werden von Parteigängern des chauvinistischen Serbenführers Slobodan Milosevic beherrscht und sind auf Belgrader Linie. (42/90)
(9)
...und da Serbien, unterstützt höchstens von Frankreich, da Paris an seiner Linie festhält, Jugoslawien als Staat zu retten. (30a/91)
(10) Im Kosovo-Konflikt mußte Europa schmerzlich seine Schwächen erkennen. Eifersüchteleien, die sich nicht allein auf Deutsche, Franzosen und Briten beschränken, erschwerten die Suche nach einer gemeinsamen Linie gegen den serbischen Diktator. (23a/99) (11) Genschers Triumph: Deutschland steht mit der Kritik an Serbien nicht mehr allein. Großbritannien und Frankreich, die lange am Fortbestand Jugoslawiens festgehalten hatten, schwenkten vorsichtig auf die Bonner Linie ein - mit ihnen auch die Ver-einigten Staaten […] (18/92)
Die genannten Beispiele zeugen auch von struktureller Modifikation als einem Verfahren zur Referenzsicherung. Auch hier kristallisieren sich zwei verschiedene Positionen heraus: eine chauvinistische, diktatorische, die von Belgrad und
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Serbien vertreten wird und eine andere, nicht näher charakterisierte, jedoch dieser entgegengesetzte, Position. Um diese Positionen bestimmen zu können, müssen die Phraseme vor allem auf propositionaler Ebene genau betrachtet werden. Die syntaktische Einbettung (vgl. die Beispiele 8 und 10) verrät, dass die Belgrader Linie eigentlich die des chauvinistischen Diktators Milošević ist und die andere eine dieser entgegengesetzte, die von Deutschland, den USA und nun auch Großbritannien und Frankreich vertreten ist. Es fällt auf, dass sich alle hier angeführten Beispiele unter der Bedeutung ‚einen Weg verfolgen bzw. eine Position vertreten‘ subsumieren lassen und somit zu dem bereits genannten Slot gehören. Das betreffende Phrasem wird durchgehend für die Bezeichnung von Helfern und Unterstützern der jeweiligen Parteien verwendet. jmdn. auf seine Seite ziehen/bringen – ‚jmdn. dazu bringen, sich ihm/seinen Ansichten/Meinungen anzuschließen‘ sich auf jmds. Seite schlagen/auf jmds. Seite kommen – ‚sich jmdm. anschließen; jmds. Partei ergreifen‘ auf jmds. Seite stehen – ‚jmdm. helfen‘
Belege: (12) Milosevic hofft, die Israelis im Kosovo-Streit auf seine Seite zu bringen, und will sie überzeugen, daß es sich bei den aufsässigen Albanern um gefährliche „islamische Fundamentalisten“ handelt. (22/90) (13) Frankreich, das im Ersten Weltkrieg an der Seite Serbiens focht, und Großbritannien, das Marschall Tito bei der Schaffung seines Staates unterstützte, mögen sich bis heute nicht eindeutig auf die Seite der Kroaten schlagen. (39c/91) (14) Jetzt bestehe die akute Gefahr, daß die Nato sich zu einer ‚Besetzung Jugoslawiens‘ verleiten lasse; dann müsse Rußland sich offen auf die Seite Belgrads schlagen, womit die Welt "vor der Drohung eines globalen Konflikts" stünde. (22a/99) (15) Plavsic: Milosevic sollte auf meiner Seite stehen [...] Er muss der Garant für die Friedensvereinbarungen von Dayton sein und nicht auf der Seite jener stehen, die diese Abmachung untergraben […] (30/97) (16) Natürlich wollen die Moslems auf unsere Seite kommen, weil man da besser lebt. (7a/96)
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(17) Ganz Kroatien steht auf unserer Seite. (7a/96)
Die Phraseme in den Beispielen 12–17 dienen als Prädikationen zur Charakterisierung der Positionierung im jugoslawischen Konflikt und vor allem der Gewinnung von Helfern und Unterstützern. Dabei wird impliziert, dass es wiederum verschiedene Kriegsparteien gibt, die bestrebt sind, Helfer und Unterstützer für sich zu gewinnen. Hier zeichnen sich drei Ebenen ab: Erstens werden innerjugoslawische Konfliktparteien unterschieden: Serbien und Kroatien (Beispiel 13), zweitens werden andere innerstaatliche Konfliktbeteiligte von den führenden Kriegsparteien umworben (die Beispiele 15–16) und drittens wird um die fremde Unterstützung gerungen, indem bestimmte ausländische Akteure in den Konflikt hineingezogen werden (die Beispiele 12–14). Auf diese Weise werden bestimmten Akteuren konkrete Positionen im Konflikt zugeschrieben, was zur „Gewichtsverteilung“ beiträgt. Denn es ist nicht dasselbe, ob man z. B. Großbritannien und Frankreich als Unterstützer oder als Gegner hat. Dazu muss betont werden, dass es sich hierbei um diskursive Konstruktion von Helfer-Rollen handelt, die womöglich nur bedingt mit den tatsächlichen politischen Positionen – sofern diese überhaupt ermittelbar waren – im Einklang stehen. Dies betrifft sowohl die ausländischen Mächte als auch die anderen innerjugoslawischen Akteure, deren Rekrutierung in die eigenen Reihen eine Bestätigung der eigenen Kriegsposition gewährleisten soll.
4.2.2 Gruppe B jmdn. unter Beschuss/Feuer nehmen; unter Beschuss/Feuer stehen/liegen/geraten – ‚jmdn. angreifen; von jmdm. angegriffen werden‘
Belege: (18) Flüchtlinge werden von Flugzeugen unter Beschuß genommen. (16k/99) (19) Fast schien es, als würden die Serben nun erst recht die Entscheidungsschlacht suchen. Auch die Altstadt von Dubrovnik geriet wieder unter Beschuß. (23/92) (20) […] daß zur gleichen Zeit Bihać und Žepa unter serbischem Beschuß lagen. (31a/95)
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(21) Der slawonische Nachbarort Erdut fiel an die Armee, die Stadt Osijek, deren Vororte schon unter Beschuß lagen. (32/91) (22) Die Kroaten halten die strategisch wichtigen Hügel besetzt und können jeden Punkt der Carsija exakt unter Beschuß nehmen. Sie haben sich als gelehrige Schüler der serbischen Belagerer von Sarajevo erwiesen. (36a/93) (23) Als vergangenen Montag abend Kampfflugzeuge den Fernsehturm am Stadtrand unter Beschuß nahmen, wurden aber auch die sorglosesten Zagreber aus ihrer Illusion gerissen, daß der Krieg nur ein Medienereignis sei, […] (39a/91) (24) Wieder einmal hatten ihre Truppen bewiesen: Sie können eine neue Front eröffnen, wann immer sie wollen, und jede beliebige Stadt unter Feuer nehmen. (19/93) (25) In der direkt an der Donau gelegenen slawonischen Ortschaft Erdut wurde eine Stellung der Nationalgarde am vorigen Donnerstag vom serbischen Ufer aus mit Panzergeschützen und Mörsern unter Feuer genommen. (31/91) (26) Wird Europa auch beide Augen zudrücken, wenn die Serben Dubrovnik oder Zagreb unter Feuer nehmen? (31a/95) (27) Elf Stunden nahmen die Serben von den umliegenden Bergen herunter das Dorf Radieva unter Feuer. (37/98)
Die Phraseme aus Gruppe B werden in der Regel unmodifiziert verwendet. Eine Ausnahme stellt Beleg (20) dar, in dem die Modifikation durch das Adjektiv serbisch erfolgt. Die Funktion dieser Modifizierung ist wiederum Referenzsicherung. In den restlichen Fällen handelt es sich um einen unauffälligen Gebrauch von Phrasemen, die bei dem Slot über die Kriegsrollen eine signifikante Rolle spielen. Dabei lassen sich bestimmte Konstellationen von Angreifern und Angegriffenen bzw. Tätern und Opfern feststellen. In den Belegen kommen folgende Täter-Opfer-Konstellationen vor: Täter: Serben – Opfer: kroatische und muslimische Städte, albanische Flüchtlinge, beliebige Städte; Täter: Kroaten – Opfer: die Hauptstadt Bosniens Sarajevo. Auf der semantischen Ebene wird ein emotionales Potenzial der genannten Phraseme – ausgedrückt insbesondere durch die Intensität – bemerkbar. In den Phrasemen wird nämlich eine verstärkte Aggressivität der als Täter zu bezeichnenden Referenten kommuniziert.
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4.2.3 Gruppe C das Sagen haben – ‚Einfluss haben, bestimmen, was geschieht‘ die Oberhand behalten – ‚der Stärkere sein‘ den Ton angeben – ‚führend, dominierend, mächtig sein‘ unter Kontrolle haben – ‚kontrollieren‘
Belege: (28) Am mazedonischen Ohridsee, wo im Mittelalter die Slawen-Mission ihren Anfang nahm, demonstrierte Milosevic einmal mehr, wer auf dem Balkan das Sagen hat. (23/93) (29) Junge Serben zeigen denen von drüben, wer auf dieser Seite das Sagen hat. (27c/99) (30) Die Angst, geknechtet und abgeschlachtet zu werden, wenn die andere Seite die Oberhand behält, stachelt beide Volksgruppen zu erbarmungsloser Unnachgiebigkeit an. (30/91) (31) Die Oberhand behielten Kräfte, die das Dayton-Abkommen generell ablehnen und Bosnien als souveränem Staat jede Existenzberechtigung absprechen. (43/97) (32) Polizeiterror und Militär gaben den Ton an. (9/91) (33) Ungeachtet der Nato-Luftschläge haben die Serben die Lage hier noch immer gut unter Kontrolle. (13/99)
In Gruppe C kommen ausschließlich unmodifizierte und deshalb unauffällige Phraseme vor, die dem Slot über die Verteilung der Machtverhältnisse in jugoslawischen Konflikten zuzurechnen sind. In allen relevanten Belegen wird eine ausgeprägte Vormachtstellung der Serben gegenüber allen anderen Volksgruppen diskursiv konstruiert. Mithilfe von Phrasemen wird die Dominanz der serbischen Mehrheit und in erster Linie die politische und militärische Überlegenheit der serbischen Regierung und der Armee hervorgehoben. Die Phraseme aus dieser Gruppe werden eingesetzt, um sowohl einzelne Persönlichkeiten als auch generalisierende Volksbezeichnungen zu referenzieren. Wiederum handelt es sich um charakterisierende Zuschreibungen, die über Phraseme zustande kommen, und durch die Akteure ganz bestimmte Eigenschaften im Diskurs erhalten. In den Belegen (28–33) werden durchgängig Serben (Serbien, serbische Politiker) als die
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mächtigste Kriegspartei dargestellt und somit in eine klare Dominanzposition gegenüber anderen kriegsbeteiligten Volksgruppen gerückt. Auf diese Weise werden mittels Phraseme soziale Positionen suggeriert, die sich auf die Dichotomie stark – schwach herunterbrechen lassen.
5 Zusammenfassung der Ergebnisse Alle drei Phrasemgruppen mit ihren Modifikationen dienen als Filler für Slots im Wissensframe . Die bedienten Slots betreffen die Akteure bzw. Kriegsparteien sowie deren Helfer und Unterstützer, denen mithilfe von Phrasemen ganz bestimmte Rollen, Funktionen, Positionen zugewiesen werden. Da es sich bei dem hier analysierten Diskurs um einen politischen Kriegsdiskurs handelt, spiegeln die unterschiedlichen Positionen die jeweiligen Kriegsparteien wider – sei es auf politischer oder militärischer Ebene. Die Phraseme weisen unterschiedliche Idiomatizitätsgrade und unterschiedliches Variabilitätspotenzial auf. Unabhängig davon bilden sie dennoch einen Wissensrahmen um die Kriegsparteien im Jugoslawienkrieg und lassen die jeweiligen Akteure bestimmte Positionen vertreten. Auf der propositionalen Ebene treten die Phraseme als Prädikationen auf und werden mit bestimmten Referenten verbunden. Dabei erfahren sie etliche Modifikationen (vor allem in Gruppe A), welche allesamt die Funktion der wissenskonstitutiven Referenzsicherung ausüben. In den Phrasemen schlägt sich das Wissen um die Akteure bzw. Kriegsparteien im Jugoslawienkrieg nieder. Auf der semantischen Ebene begegnen wir emotional-wertender Lexik unterschiedlicher Intensität, die an die Phraseme gebunden ist – beispielsweise negativ: chauvinistisch, diktatorisch oder positiv: reformorientiert, demokratisch. Aufgrund der syntaktischen Einbettung und lexikalischen Umgebung sowie kulturspezifischen Semantik werden in einigen Lexemen bestimmte positive bzw. negative Konzepte mittransportiert. Einige Filler enthalten ebenfalls deontische Bedeutungsdimensionen im Sinne von ‚Soll befürwortet bzw. verurteilt werden‘. Demnach stellt sich hier eine diskursive Funktion der Evaluation und Persuasion ein. Trotz der relativ eindeutigen funktionalen Zuordnung erfordern diskursive Phrasemfunktionen eine eingehendere Differenzierung, die auf der Auswertung einer breiteren empirischen Basis beruht. Als Anhaltspunkt können Vorarbeiten von Sandig (1989), Koller (1997) und Pfeiffer (2016) dienen.
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6 Fazit und Ausblick Ziel dieses Beitrags war es, an einem Beispiel aufzuzeigen, dass phraseologische Einheiten ein signifikantes diskurslinguistisches Analyseobjekt darstellen und als diskursmarkierende Sprachmittel (vgl. Stumpf & Kreuz 2016) fungieren. Darüber hinaus sollte nachgewiesen werden, dass in Phrasemen das diskursiv konstruierte, gesellschaftlich geteilte und verstehensrelevante Wissen gespeichert ist, welches wiederum durch Phraseme aktiviert wird. Das diskursstiftende Potenzial von Phrasemen dürfte im Beitrag auf mindestens zwei Ebenen deutlich geworden sein: erstens auf der Ebene der Serialität. Phraseme werden im Diskurs immer wieder aufgegriffen und erscheinen stets in einem geordneten semantisch-pragmatischen Muster. Selbst in der modifizierten Form behalten die formelhaften Strukturen ihren semantischen und pragmatischen Mehrwert, wenn sie ihn sogar nicht ausweiten. Auf diese Weise erhalten die involvierten Akteure bzw. Akteursgruppen gewisse Eigenschaften und werden emotional dargestellt. So werden bestimmten Akteuren im Diskurs mittels Phraseme verschiedene Rollen und Positionen zugeschrieben. Dies folgt bezeichnenderweise immer denselben Mustern: Gleichen Akteuren werden in der Regel immer gleiche Rollen bzw. Positionen zugewiesen. Zweitens werden auf der assoziativen (kognitiven) Ebene in den Phrasemen Wissenselemente gespeichert und bei jeder weiteren Erwähnung wieder aufgerufen, möglicherweise modifiziert und weitergegeben. Dies geschieht mittels Zuordnung der konkreten Phrasemrealisierungen zu einem bestimmten Slot im jeweiligen Wissensrahmen (Frame), der hierdurch neu gefüllt werden kann. Man kann sagen, dass sich in Phrasemen die Mentalitäten im Sinne von Dispositionen des Denkens, Fühlens, Wollens – und sehr wichtig Sollens – niederschlagen.
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Quellenangaben zu den analysierten Beispielen Im Folgenden werden alle Texte, denen die im Beitrag angeführten und kommentierten Belege entstammen, mit genauen Angaben zu Erscheinungsdatum, Ausgabe und Artikelüberschrift (in genau dieser Reihenfolge) in chronologischer Anordnung aufgelistet. In den Fällen, in denen aus einem Quelltext mehrere Belege zitiert wurden, wird der Text nur einmal aufgeführt.
7/90 – 12.02.1990, 7, „Biologische Zeitbombe“ 22/90 – 28.05.1990, 22, „Israel flirtet mit Jugoslawien“ 42/90 – 15.10.1990, 42, „Flausen austreiben“ 9/91 – 25.02.1991, 9, „Rückkehr der alten Dämonen“ 30/91 – 22.07.1991, 30, „,Das geht nur über Leichen‘“ 30a/91 – 22.07.1991, 30, „Viertes Reich“ 31/91 – 29.07.1991, 31, „Vor die Hunde“ 32/91 – 05.08.1991, 32, „Das ist eine Invasion“ 38a/91 – 16.09.1991, 38, „Ewig den Fuß auf der Bremse“ 39a/91 – 23.09.1991, 39, „,Wir werden nicht aufgeben‘“ 39c/91 – 23.09.1991, 39, „Verheerende Folgen“ 46/91 – 11.11.1991, 46, „Neues Gefängnis“ 18/92 – 27.04.1992, 18, „Auf Pferden reiten“
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23/92 – 01.06.1992, 23, „Serbien in die Knie zwingen“ 28/92 – 06.07.1992, 28, „Wir meinen es ernst“ 19/93 – 10.05.1993, 19, „Stärker als die ganze Welt“ 23/93 – 07.06.1993, 23, „Drang nach Süden“ 36a/93 – 06.09.1993, 36, „,Wir sind für immer verloren‘“ 31a/95 – 31.07.1995, 31, „,Dann helfen wir uns selbst‘“ 7a/96 – 12.02.1996, 7, „,Ich sage nein‘“ 30/97 – 21.07.1997, 30, „,Karadžić mordet sein Volk‘“ 43/97 – 20.10.1997, 43, „Land der Apartheid“ 37/98 – 07.09.1998, 37, „Leben im Wald“ 13/99 – 29.03.1999, 13, „,Alle Serben im Krieg‘“ 13j/99 – 29.03.1999, 13, „Der letzte Zug aus Belgrad“ 15h/99 – 12.04.1999, 15, „Der Haß hat tiefe Wurzeln“ 16k/99 – 19.04.1999, 16, „,Die Gefahr eines dritten Weltkriegs‘“ 22a/99 – 31.05.1999, 22, „,Aufs Ganze gehen‘“ 23a/99– 07.06.1999, 23, „Schachern um Frieden“ 27c/99 – 05.07.1999, 27, „,Unsere Mauer ist der Fluß‘“
Index Alltagsargumentation 182, 191 Akteur 354ff. argumentativ 151f., 159 BEWERTEN 217, 220f., 223ff., 227f., 234f., 241, 251 Beziehungsgestaltung 217, 221, 226, 232, 248, 250ff. Depression 283ff., 290ff., 307 Diskurs 3, 9ff., 23, 105, 109, 115, 117f., 122ff., 130, 140f., 143, 147, 149f., 158, 163ff., 266, 283ff., 315ff., 351ff. Diskurs, Fachdiskurs 311, 328 Diskurs, Jugoslawiendiskurs 351ff. Diskurs, Krisendiskurs 147f., 155, 157 Diskurs, Medizindiskurs 283ff., 288, 305 Diskursanalyse 147ff., 151f., 158ff., 351ff. diskursanalytisch 109, 147f., 150, 153, 158, 185, 267 Diskurshandlung 283, 287, 309 diskursiv, Wissen 141 Diskurslinguistik 1ff., 6ff., 11, 85, 115ff., 123, 140, 143ff., 147ff., 168, 351ff. diskursmarkierend, Potenzial 115, 117, 119 Expressivität 185, 193f., 196 formelhaft, Sprache 1, 7f., 11, 15, 19, 42, 85f., 87, 109f., 182, 257, 311, 351 formelhaft, Sprachgebrauch 100, 151, 311ff., 322, 351 formelhaft, Text 4, 15, 22, 31f. Formelhaftigkeit 1, 8, 15, 16, 28, 32, 34f., 39ff., 45, 86, 87ff., 90f., 103, 109, 189, 311, 313 Formulierungskonvention 1 Formulierungsressource 29, 47 Frames 359f. geflügeltes Wort 125, 128, 130 Gegenöffentlichkeit 164, 166, 169, 177
Handlungstyp 221f., 225, 228, 234, 241f., 250 Homöopathie 311ff., 324, 327, 330, 338f., 341, 344ff. Karikatur 115f., 121, 123ff., 129ff., 137, 139ff. Kommunikation 163ff., 168, 174, 178, 180 Konditionalgefüge 86, 90, 92, 96, 104 Konstruktion 31, 85ff., 91, 93ff., 156, 194, 217, 240, 312, 324, 332, 352, 365 Konstruktionsgrammatik 311ff., 327, 332ff. konstruktionsgrammatisch 8, 31, 85, 327 Kontextualisierung 1 Lehrbuch 311, 315, 327, 338, 345 massenmedial 283, 285, 288ff., 292, 295, 302, 304f., 309 Medien, sozial 166 medizinisch 311ff., 319ff., 327, 329ff., 334, 336ff., 345ff. Mentalität 257, 266, 279 Modifikation 49, 51ff., 56f., 60, 63, 68ff., 73, 76, 79ff., 83 modifiziert 50, 53ff., 58ff., 69, 73, 78, 80 multimodal 115, 118f., 121, 125, 141, 144 Multimodalität 115, 118, 120, 134, 142f. Muster, Anspielungsmuster 22 Muster, Argumentationsmuster 152, 157f., 275, 315 Muster, Ausdrucksmuster 33, 301, 322 Muster, Formulierungsmuster 6, 8, 15, 22, 27, 29ff., 31, 34, 35, 42, 86, 103, 141, 217ff., 221f., 225ff., 233ff., 246, 248ff., 252, 323f. Muster, global 1 Muster, Handlunsmuster 2, 27, 154, 169, 287, 292f., 300, 305 Muster, komplex 1, 27 Muster, Phrasem-Bild-Beziehungen/ Visualisierung 115ff. Muster, Sprachgebrauchsmuster 117, 313, 328, 336, 355
378 | Index
Muster, Textmuster/Textsortenmuster 1f., 10, 19, 20, 27, 28, 40, 217 Musterhaftigkeit 16, 17, 31, 115, 148, 312, 315, 326, 328 Nationalsozialismus 256ff., 260, 263ff., 276ff. nationalsozialistisch 255, 258, 261, 269 Naturheilkunde 311, 313ff., 319f., 327, 330, 339, 344f., 348 okkasionell 51ff., 58, 60, 63, 65, 75, 78f. online-Kundenbeschwerde 163, 170f. Phrasem 3ff., 7f., 11, 15, 19, 20, 21, 23ff., 31ff., 49ff., 53, 56, 59f., 64, 66, 68, 72, 77, 110, 163ff., 147ff., 255, 257ff., 267ff., 272, 274, 276, 278f., 283, 293, 323ff., 351ff. Phrasem, Gebrauch von Phrasemen 24ff., 49, 51, 53, 54, 57, 59ff., 64, 68ff., 70, 75ff. Phrasem, Diskursphrasem 6, 147ff., 153f. Phraseologie 3f., 6f., 9ff., 15f., 19, 21ff., 26, 32, 38ff., 45f., 49ff., 85ff., 115ff., 120, 123, 128, 131, 140ff., 147ff., 218, 257f., 266, 276ff., 323ff., 351 phraseologisch 3, 6, 16ff., 41, 49ff., 85ff., 147, 163ff., 229, 255, 258, 267, 292f., 304f., 323ff., 351ff. Phraseologismus 6, 16ff., 51f., 56ff., 170, 172f., 175ff., 184, 190ff., 217f., 293 Phraseologismus, idiomatisch 181, 184, 188, 190, 200, 205 Politolinguistik 85, 87, 109 politolinguistisch 85, 87, 104, 109 Potential, illokutiv 198
Prägung, idiomatisch 15ff., 32ff., 89, 110, 336f. Rede 255ff., 263, 267ff., 272ff., 276f. Rezension, wissenschaftlich 217, 219, 221, 223, 225, 241f., 251f Routine, kommunikativ/sprachlich 2, 16, 311f., 322ff. Routine, Textroutine 30 Routineformel 18, 21, 29, 40, 45f., 185, 198f., 218, 269, 272f., 276, 358 Satz, salient 127, 143 Schnittstelle 116, 123, 140, 145 Schulmedizin 311ff., 330, 339, 344, 347, 350 Slogan 87, 103ff., 111 Social Construction Grammar 114 Sprichwort 89f., 100ff., 112f. Sprichwortbildung 86 Sprichwortformel 85f., 107 Text 1ff., 9ff., 15ff., 19ff., 51ff., 85ff., 147ff., 200, 217ff., 255ff., 285ff., 322ff., 354 Textlinguistik 1, 10, 15ff. textpragmatisch 15, 22 Textproduktion 18, 22, 26f., 29, 33ff., 37, 43f., 47 Topos 87, 109, 152ff., 158, 192, 320 usuell 49, 51, 64, 76, 79 Vagheit, semantisch 181, 196f., 200f. V1-Konditionalgefüge 85f., 92 Verbspitzenstellung 91, 94, 110 Vorgeformtheit 6, 15f., 18, 22f., 26, 28, 31ff., 35ff., 41, 43f.