Flüchtlingsaufnahme als Identitätsfrage: Der Protestantismus in den Debatten um die Gewährung von Asyl in der Bundesrepublik (1949 bis 1993) [1 ed.] 9783666558474, 9783525558478


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German Pages [393] Year 2022

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Flüchtlingsaufnahme als Identitätsfrage: Der Protestantismus in den Debatten um die Gewährung von Asyl in der Bundesrepublik (1949 bis 1993) [1 ed.]
 9783666558474, 9783525558478

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Jonathan Spanos

Flüchtlingsaufnahme als Identitätsfrage Der Protestantismus in den Debatten um die Gewährung von Asyl in der Bundesrepublik (1949 bis 1993)

Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte

Herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte von Siegfried Hermle und Harry Oelke Reihe B: Darstellungen Band 85

Vandenhoeck & Ruprecht

Jonathan Spanos

Flüchtlingsaufnahme als Identitätsfrage Der Protestantismus in den Debatten um die Gewährung von Asyl in der Bundesrepublik (1949 bis 1993)

Vandenhoeck & Ruprecht

Die Verçffentlichung wurde gefçrdert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (FOR 1765).

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber https://dnb.de abrufbar.  2022, Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schçningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Bçhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschþtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: 3w+p, Rimpar

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-0874 ISBN 978-3-666-55847-4

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Thema, Fragestellung und Struktur der Arbeit . . . . . . . . . . 1.2 Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Historische Forschungen zur Flüchtlingsaufnahme in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Protestantismus und Asylpolitik . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Erkenntnisinteresse und Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Begriffsreflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Protestantismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Religiöse und säkulare Argumentation . . . . . . . . . . . 1.4.3 Flüchtling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.4 Flüchtlingsfigur / Flüchtlingsstereotyp . . . . . . . . . . . 1.5 Untersuchungszeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Quellenauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 13 16 17 21 25 32 33 34 36 37 42 44

2. Debatten um Flüchtlinge des Kalten Krieges (1949 bis 1973) . . . . 47 2.1 Flüchtlinge aus der SBZ/DDR in den 1950er und den frühen 1960er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.1.1 Die Rechtsstellung der „Illegalen“ als Ausgangspunkt der Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.1.2 Mahnungen und Weckrufe – protestantische Argumentationsformen und Solidaritätsrhetoriken . . . . 66 2.1.3 Wer flieht aus dem Osten? Flüchtlingsfiguren des westdeutschen Protestantismus in den 1950er Jahren . . . 92 2.1.4 „Die evangelische Kirche sollte auch zu dieser Frage etwas sagen“ – Politische Einflussnahme des Protestantismus im Kontext der DDR-Flüchtlingspolitik . 117 2.2 Ausländische Flüchtlinge des Kalten Krieges . . . . . . . . . . . 137 2.3 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3. Debatten um internationale Flüchtlingsgruppen in den 1970er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 3.1 Die Aufnahme chilenischer Flüchtlinge in die Bundesrepublik (1973 bis 1976) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 3.1.1 Kontext und Rahmenbedingungen der Chile-Kampagne . 151

6

Inhalt

3.1.2 Flüchtlingsaufnahme zwischen Menschenrechtsuniversalismus, christlicher Nächstenliebe und linker Solidarität . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Die Chile-Flüchtlinge als Projektionsfläche? Streit um das Idealbild politischer Verfolgung . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Zwischen Bundeskanzleramt und Basisgruppen. Politische Einflussnahme, neue Protestformen und Institutionalisierungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Kontroverse um die vietnamesischen „boat people“ 1978/79 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Reaktionen auf die asylpolitischen Tendenzen der späten 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Ausgangspunkt und Voraussetzungen der Debatte . . . . 3.2.3 „Unsere neuen Nachbarn“ – Eine ökumenische Kampagne für Flüchtlinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Innerprotestantische Auseinandersetzungen um die „boat people“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Protestantismus und die Asyldebatte der 1980er Jahre . . . . . 4.1 Protestantische Reaktionen auf die Entwicklungen der 1980er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Flüchtlingshilfe in Zeiten des Abwehr- und Verdächtigungsdiskurses (1980 bis 1983) . . . . . . . . . 4.1.2 Der Beginn der Kirchenasylbewegung in der Bundesrepublik (1983) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Neuformierung und Protest (1983 bis 1986) . . . . . . . . 4.1.4 Die EKD-Studie „Flüchtlinge und Asylsuchende in unserem Land“ (1986) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.5 Die Gründung von „Pro Asyl“ im Geist der evangelischen Akademien (1986) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.6 Eine „Ökumenische Herausforderung“ – Konfessionsübergreifende und europäische Stellungnahmen (1986 bis 1988) . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Zwischen christlicher Ethik und deutscher Verfassungsidentität. Asylpolitische Argumentations- und Deutungsmuster in den 1980er Jahren . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Ein biblischer Befehl? Theologisch-biblische Begründungsmuster und Motive . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Historische Rekurse und bundesrepublikanische Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Gesellschaftspolitische und (menschen-)rechtliche Forderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

157 177 185 192 194 199 203 206 213 215 217 217 230 235 240 253 262

268 268 274 279

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Inhalt

4.3 Protestantische (De-)Konstruktionen von Flüchtlingsfiguren . 4.3.1 Dekonstruktion des „Wirtschaftsflüchtlings“ . . . . . . 4.3.2 Positive Gegendarstellungen zwischen Empowerment und Idealisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Die Figur des verfolgten Christen . . . . . . . . . . . . 4.4 Anwaltschaft oder Moderation? Protestantismus zwischen Staatsnähe und Protestbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Wie politisch soll es sein? Mahnungen im Vorfeld des Wahlkampfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Die gehemmte Diakonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3 Das Verhältnis zum Rechtsstaat in der Diskussion . . . 4.4.4 Konflikt und Kooperation mit den politischen Parteien 4.5 Im Ringen um Solidaritätskonkurrenzen (1988 bis 1990) . . . 4.6 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 281 . 283 . 286 . 290 . 294 . . . . . .

298 300 304 310 317 325

5. Ausblick: Der Protestantismus und der „Asylkompromiss“ von 1993 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 6. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . Archivalische Quellen . . . . . . . . . Periodika und Pressedienste . . . . . Veröffentlichte Quellen und Literatur

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384

Vorwort Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner im März 2020 an der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der LudwigMaximilians-Universität München eingereichten Dissertationsschrift. Seitdem ist viel passiert: Wenige Tage nach Einreichung des Manuskripts im Prüfungsamt wurde die LMU aufgrund steigender Coronavirus-Infektionszahlen für den Publikumsverkehr geschlossen und in Bayern der Katastrophenfall ausgerufen. Die Disputation fand Anfang Juli 2020 digital als Videokonferenz statt, da Präsenzprüfungen in den Räumen des Historischen Seminars untersagt blieben. Es bestand kaum Gelegenheit für einen ausführlicheren Abschied aus der Promotionsphase sowie meiner Zeit in München und vor allem für die vielfach nötigen Danksagungen. Das soll an dieser Stelle nachgeholt werden. Mein besonderer Dank gilt meinen Doktormüttern. Meine Betreuerin Prof. Dr. Claudia Lepp hat mir überhaupt erst die Chance gegeben, im Rahmen der DFG-Forschergruppe arbeiten und promovieren zu dürfen. Die Freiheiten und Möglichkeiten, die sie mir gewährt hat, sind im akademischen Betrieb keine Selbstverständlichkeit. Stets hat sie den Fortschritt des Projekts begleitet, Entwürfe kritisch und fachkundig kommentiert und mich stets bei Fragen der Konzeption und der Recherche unterstützt. Als Frau Lepp den Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft für das Teilprojekt ausarbeitete, in dem diese Arbeit entstand (DFG-Geschäftszeichen: FOR 1765 TP 9 LE 2393/2–2), war noch keineswegs absehbar, dass historische Forschungen zu Asylpolitik und Migrationsdiskursen wieder eine ganz neue Gegenwartsrelevanz erlangen würden. Prof. Dr. Margit Szöllösi-Janze danke ich für die freundliche Aufnahme in das Team des Lehrstuhls Zeitgeschichte am Historischen Seminar der LMU und die Erstellung des Zweitgutachtens. In ihrem Oberseminar habe ich vielfältige Anregungen für meine eigene wissenschaftliche Arbeit mitnehmen können und von zahlreichen klugen wie beeindruckenden Kolleginnen und Kollegen lernen dürfen. Weiterer Dank gilt Prof. Dr. Harry Oelke, meinem dritten Prüfer im Rahmen des Promotionsverfahrens, der mich mehrere Semester als Gast im kirchengeschichtlichen Oberseminar willkommen geheißen hat und immer ein hervorragender Gesprächspartner für Fragen der jüngeren Kirchengeschichte war – bisweilen sogar als Zeitzeuge. Herrn Oelke und Herrn Prof. Dr. Siegfried Hermle danke ich zudem für die Aufnahme der Monographie in die Reihe „Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte“. Zwar handelt es sich bei dieser Arbeit um eine geschichtswissenschaftliche Dissertation, dennoch wäre der Entstehungsprozess nicht ohne den beson-

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Vorwort

deren fachübergreifenden Kontext denkbar gewesen. Erwähnen muss ich daher die vielfältigen interdisziplinären Impulse aus Politik- und Rechtswissenschaft sowie der Theologie, die ich den weiteren Projektleitenden der Forschergruppe verdanke: Prof. Dr. Andreas Busch, Prof. Dr. Martin Laube, Prof. Dr. Christiane Kuller, Prof. Dr. Michael Heinig sowie die beiden Sprecher des Projekts, Prof. Dr. Rainer Anselm und Prof. Dr. Christian Albrecht. Als Doktorand der interdisziplinären DFG-Forschergruppe 1765 bewegte ich mich als Grenzgänger zwischen dem Historischem Seminar und der Evangelisch-Theologischen Fakultät der LMU – eine Position, in der ich mich meistens recht wohl gefühlt habe. Ganz besonders danken möchte ich meinen Kolleginnen und Kollegen aus der Theologie für die gemeinsame Zeit: Katharina Herrmann, Yannik Schlote, Rike Hoffmann, Tim Schedel und Michael Greder. Stets fröhlich war zudem die Zusammenarbeit mit unserer Koordinatorin, Jun.-Prof. Dr. Anette Haußmann. Neben ihr ist zudem mein juristischer Kollege Malte Hakemann aus Göttingen hervorzuheben, da ich mit beiden das Vergnügen hatte, gemeinsam fächerübergreifende wissenschaftliche Texte zu konzipieren und zu schreiben. Einer weiteren Göttinger Kollegin, Lydia Lauxmann, danke ich zudem für kluge Impulse und Austausch zur Menschenrechtsforschung. Erwähnen möchte ich aber auch die Personen, die die Arbeit im Entstehungsprozess in unterschiedlichen Stadien durchgesehen haben. Meine Erfurter Kollegin Luise Poschmann hat mir nicht nur jedes Jahr auf den Projektworkshops im Januar ein Geburtstagsständchen gesungen, sondern auch die Arbeit vollständig gegengelesen. Lukas Lehrhuber, Lisa Erlmann und Paul Schweitzer-Martin haben einzelne Ausschnitte durchgearbeitet, einige peinliche Tippfehler identifiziert und den Text kenntnisreich und aufmerksam kommentiert. Auch dafür bin ich sehr dankbar. Aber auch andere Menschen haben mich in dieser Zeit unterstützt: Für freundschaftlichen Rat und Zuspruch während mancher Durststrecken der Promotionszeit danke ich besonders Dr. Alma Brodersen, Simon Gröger, Antonia Stichnoth sowie Florian Brandenburg. Zuletzt eine persönliche Anmerkung zum Thema dieses Buches. Wenngleich mir daran gelegen ist, persönliche und normative Fragen aus der wissenschaftlichen Arbeit herauszuhalten – die Arbeit an der Dissertation hat mir wie nie zuvor vor Augen geführt, wie meine eigene Familiengeschichte nicht nur vom Protestantismus, sondern auch von Migrationserfahrungen geprägt ist. Bisweilen überschneiden sich die Themen und Orte dieser Arbeit mit der Lebensgeschichte meiner Großeltern. Auch das war eine eindrückliche Lernerfahrung bei den Recherchen. Meine Großmutter verließ 1953 ihre Altmärker Heimat und ihre Familie im heutigen Sachsen-Anhalt, um allein in den Westen zu gehen. Der Weg führte sie ins Aufnahmelager Berlin-Marienfelde, das im ersten Kapitel dieses Buches einen wichtigen Platz einnimmt. Von West-Berlin wurde meine Großmutter nach Hamburg ausgeflogen, wo sie einen Antrag auf Anerkennung als „Sowjetzonenflüchtling“ stellte. Der Freiheitsdrang der Bäckerstochter aus Salzwedel kam den Beamten wohl eher

Vorwort

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suspekt vor: Ihr Antrag auf einen Flüchtlingsausweis wurde vom Bezirkssozialamt Hamburg-Nord wenige Monate später abgelehnt. Die Begründung der Behörde: Nur wirtschaftliche Gründe seien für das Verlassen des sozialistischen Staates ausschlaggebend gewesen. Einige Jahre später verließ meine Großmutter Deutschland vorerst und ging in die USA, wo sie in Michigan einen griechisch-amerikanischen Studenten kennen lernte – der ihr dann wiederum Jahre später zurück in die Bundesrepublik folgen sollte. Die Familie dieses Studenten, meines Großvaters, stammt wiederum von einem Dorf auf der Ägäis-Insel Lesbos. Die Geschichte von Lesbos ist quer durch das gesamte 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart von Migration geprägt. Während mein Urgroßvater und seine Brüder sich wegen Armut und fehlenden Perspektiven per Schiff über den Atlantik nach Amerika aufmachten und dort ein neues Leben aufbauten, kamen wenige Jahre später tausende Vertriebene nach der „kleinasiatischen Katastrophe“ auf die Insel. Ein Ort der Flüchtlinge und Auswanderer ist Lesbos auch heute noch: Spätestens seit 2015 ist die Insel wiederum das eindringliche Symbol der Krise des europäischen Asylsystems geworden. Aber auch die Biographien meiner Großeltern mütterlicherseits sind tief von Migrationserfahrungen geprägt. Mein 2008 verstorbener Großvater floh als Kleinkind mit seinen Eltern gegen Kriegsende aus dem Osten Deutschlands nach Bayern. Und meine Großmutter hat als Kreisheimatpflegerin ihren Ruhestand der Bewahrung der Erinnerung an die Geschichte des ehemaligen DPLagers Föhrenwald und der einst dort lebenden Menschen verschrieben. Mit Demut und Dankbarkeit betrachte ich all diese ungeraden Lebenswege in und durch Griechenland, die Vereinigten Staaten und das geteilte Deutschland. Meinen Großeltern und ihrem Andenken ist daher dieses Buch gewidmet. Bonn, im Februar 2021

1. Einleitung 1.1 Thema, Fragestellung und Struktur der Arbeit Die gegenwärtige öffentliche Debatte über die sogenannte Flüchtlingskrise wird von einer paradox anmutenden Akteurskonstellation bestimmt. Gegenläufig zu ihrem massiven Mitgliederschwund haben sich die christlichen Kirchen in der öffentlichen Debatte um die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen als einflussreiche Akteure etabliert. Sie agieren in einer Expertenrolle für Fragen der Migration und Integration und erhalten dabei häufig große mediale Aufmerksamkeit und die Anerkennung politischer Eliten unterschiedlichster weltanschaulicher Herkunft.1 Der Politikwissenschaftler Oliver Hidalgo sieht in dieser Konstellation den „Trigger für eine Neubewertung des Verhältnisses von Politik und Religion“2 in der Gegenwart. Der Jurist Christoph Möllers erkennt darin zudem eine Inkonsequenz der politischen Kultur: Wer die Rolle der Kirchen in der Asylpolitik begrüße, ohne deren theologische Grundlegung zu teilen, könne nicht an anderer Stelle bei umstritteneren Fragen über vermeintlich illegitime Einmischungen der Religion in die Politik klagen.3 Auch innerhalb des Protestantismus wird die Frage nach der augenscheinlich gestiegenen Relevanz der Kirchen in der öffentlichen Auseinandersetzung diskutiert. Die publikumswirksame Beteiligung der EKD an zivilgesellschaftlichen Seenotrettungsaktionen sowie die dominante Positionierung als anwaltschaftliche Vertretung von Geflüchteten ist innerprotestantisch dem Vorwurf einer einseitigen Moralisierung ausgesetzt.4 Unabhängig von der normativen Bewertung der Präsenz der Kirchen im Kontext der gesellschaftlichen Debatten um Asyl und Flucht stellt sich aus historischer Perspektive die Frage nach der Genese dieser erklärungsbedürftigen Konstellationen. Immer wieder wird von Seiten der historischen Migrationsforschung vorgebracht, dass Flucht und Migration wiederkehrende Phänomene der Menschheitsgeschichte seien.5 Aus einer geschichtswissenschaftlich informierten Perspektive lässt sich daher mit einer gewissen Skepsis auf die Krisendiagnosen der Gegenwart blicken. Bereits die sogenannte Asyldebatte der 1980er und der frühen 1990er Jahre war von einem hohen Grad an gesellschaftlicher Polarisierung und einer zu Superlativen neigenden 1 2 3 4 5

Vgl. Fülling, Flüchtlingspolitik, 227 f. Hidalgo, Verhältnis, 33. Vgl. Möllers, Wir, 11. Vgl. Fülling, Flüchtlingspolitik, 242. Einschlägig der Titel eines Buches von Jochen Oltmer und Klaus Bade: „Normallfall Migration“.

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Einleitung

Krisenrhetorik geprägt. Lauren Stokes verweist in einem Anfang 2019 erschienenen Beitrag in „Central European History“ darauf, dass die Wahrnehmung von „Flüchtlingskrisen“ dauerhafter Bestandteil der Geschichte der Bundesrepublik seit ihrer Gründung gewesen sei und im Kern auf der Differenzierung von „echten“ und „wirtschaftlichen“ Flüchtlingen beruhe.6 In den immer wieder neu übertragenen Konstruktionen dieses Gegensatzes auf neue Migrantengruppen sieht Stokes die entscheidende Kontinuität.7 Grundlegend für die Unterscheidung zwischen Fluchtmotiven ist im deutschen Kontext der Verfassungsrang des Asylrechts geworden. Bis zur Änderung im Jahr 1993 lautete der entsprechende Absatz im Grundgesetz: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“8 Da der Parlamentarische Rat bei seinen Beratungen bewusst auf eine Präzisierung des Begriffs des Politischen verzichtet hatte, wurde dieser wiederholt zum Gegenstand von gesellschaftlichen Kontroversen.9 Die Bestimmung des betroffenen Personenkreises oder der Verfolgungstatbestände wurde zumeist im Wechselspiel von Verwaltung und Justiz geklärt.10 Als individuelles und einklagbares Recht, das jeder Person ohne Rücksicht auf Staatsangehörigkeit oder politische Weltanschauung zukommen sollte, stellte der Grundgesetzartikel im weltweiten Vergleich eine weitreichende Innovation dar.11 Obwohl seine Praxisrelevanz bei der Gewährung von Asyl zumeist von den Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 überlagert wurde, besaß der Grundgesetzpassus überragende Bedeutung für den bundesdeutschen Identitätsdiskurs.12 Vielfach wurde er als verfassungsmäßiger Beleg für eine Abkehr von der nationalsozialistischen Vergangenheit sowie fester Bestandteil einer modernen liberalen Wertordnung interpretiert.13 Der Protestantismus war in unterschiedlicher Form Teil dieser Auseinandersetzung und der damit verbundenen Entwicklungen. Einerseits war er mit humanitär-diakonischem Engagement daran beteiligt, die praktischen Fragen der Zuwanderung und die soziale Lage der Betroffenen in den Blick zu nehmen. Andererseits positionierte er sich je nach Zeitpunkt und Migrantengruppe in der öffentlichen Debatte, nahm Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse und beteiligte sich am gesellschaftlichen Aushandlungsprozess über den Umgang mit Fluchtmigration. Die vorliegende Untersuchung befasst sich mit dem Beitrag des Protestantismus zu Debatten um die Aufnahme und Anerkennung von Flüchtlingen in der „Bonner Republik“. Sie interessiert sich für die Kategorisierung von Fluchtmotiven sowie die Konstruktion von 6 7 8 9 10 11 12 13

Vgl. Stokes, Crisis. Vgl. ebd., 44. Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a. F. Vgl. Steinbach, Asylrecht, 211–213; Schneider, Asylrecht, 228 f.; Feldkamp, Rat, 78. Vgl. Poutrus, Asyl in Westdeutschland, 22; Münch, Asylpolitik, 28–30. Vgl. Steinbach, Asylrecht; Poutrus, Zuflucht, 853. Vgl. Bresselau, Diskurse, 114. Vgl. ebd., 121; Poutrus, Zuflucht, 893.

Thema, Fragestellung und Struktur der Arbeit

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Flüchtlingsfiguren. Leitend sind dabei folgende Fragen: Welchen Beitrag leisteten protestantische Akteure14 zur öffentlichen Debatte um die Kategorisierung von Fluchtmotiven? Welche Argumentationsmuster wurden gegenüber der westdeutschen Aufnahmegesellschaft verwendet, um für die Aufnahme und Anerkennung zu werben? Wie positionierte sich der Protestantismus dabei in der Öffentlichkeit und nahm Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse? Mit Blick auf die Kirchengeschichte erscheint der Weg vom Nationalprotestantismus zu linksalternativ verorteten Kirchenasylgruppen der 1980er Jahre weit. Die Rekonstruktion der Positionierung des Protestantismus soll Aufschluss über Zäsuren sowie Kontinuitäten und Diskontinuitäten in dieser Entwicklung geben. Aus dem die gesamte Phase der „Bonner Republik“ umfassenden Untersuchungszeitraum werden unterschiedliche Zeitabschnitte und Fallbeispiele untersucht. Die Debatten um die Aufnahme und Anerkennung von Flüchtlingen werden dabei als Aushandlungsprozesse um die Identität der Bundesrepublik sowie die Selbstverortung des Protestantismus interpretiert. Die Arbeit bewegt sich damit im Grenzbereich von historischer Migrationsforschung und kirchlicher Zeitgeschichte. Sie versucht, den Protestantismus als Teil des bundesdeutschen Migrationsregimes wahrzunehmen und zugleich seine internen Aushandlungsprozesse und seine Entwicklung zu untersuchen. Der Aufbau folgt einer chronologisch-systematischen Vorgehensweise. In der Einleitung werden Überlegungen zur Grundlegung der Arbeit, zur Verortung innerhalb der Forschung, den für die Untersuchung relevanten Definitionen sowie der Quellenauswahl angestellt. In den drei chronologisch geordneten Hauptkapiteln werden die Phasen der westdeutschen Debatten um die Aufnahme und Anerkennung von Flüchtlingen anhand von Fallbeispielen behandelt. Ein viertes Kapitel gibt einen Ausblick auf die über den eigentlichen Untersuchungszeitraum hinausreichenden Entwicklungen nach 1990. Das erste Kapitel steht unter der Leitperspektive „Flüchtlinge des Kalten Krieges“ und umfasst den Zeitraum 1949 bis 1973. Den Hauptanteil darin nimmt die für den Protestantismus besonders relevante Frage nach dem Umgang mit der deutsch-deutschen Migration und die Diskussion über den Status von SBZ/ DDR-Flüchtlingen ein. Das zweite Kapitel widmet sich den 1970er Jahren als dem entscheidenden Transformationszeitraum des bundesdeutschen Asylregimes. Anhand zweier Fallbeispiele von Flüchtlingsaufnahmeaktionen, einmal zu Beginn und zum Ende des Jahrzehnts, wird die Haltung des Protestantismus zur Aufnahme von Flüchtlingen aus Chile und Vietnam rekon14 Da die allermeisten in dieser Arbeit behandelten individuellen Akteure männlichen Geschlechts waren, wird in der Arbeit durchgehend im generischen Maskulinum von „Akteuren“ gesprochen. Auf eine Verwendung der Bezeichnungen für beide Geschlechter wie „Akteurinnen und Akteure“ wird bewusst verzichtet, da dies im Kontext aller untersuchten Zeitabschnitte ein nicht vorhandenes Gleichgewicht in der Beteiligung von Männern und Frauen suggerieren würde.

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Einleitung

struiert. Das dritte Kapitel behandelt wiederum die 1980er Jahre als die Phase der ersten umfassenden „Asyldebatte“ in der Bundesrepublik. Den Abschluss des Untersuchungsteils bildet ein viertes, kürzer gehaltenes Kapitel, das einen Ausblick auf die Situation nach der deutschen Wiedervereinigung und den Weg zur Änderung des Grundgesetzes 1993 gibt. Den Abschluss der Studie bildet eine Zusammenschau der Untersuchungsergebnisse für den gesamten Untersuchungszeitraum.

1.2 Forschungsstand Der wiederholt erhobene Vorwurf, die deutschsprachige Geschichtswissenschaft habe die Themen Asylrecht und Asylpraxis vernachlässigt, hat spätestens durch eine Vielzahl neuerer Projekte und Publikationen an Berechtigung verloren.15 Angeregt durch die seit 2015 weiter gewachsene Gegenwartsrelevanz des Themas diskutiert die zeithistorische Forschung zunehmend die Einordnung der Asylpraxis beider deutscher Staaten in einen breiteren Kontext. Auf diesem Feld steht die Geschichtswissenschaft keineswegs allein da, vielmehr sieht sie sich einer anhaltenden Dominanz der sozialwissenschaftlichen Forschung gegenüber.16 Zunehmend erfreuen sich die vor allem sozialwissenschaftlich inspirierten „Refugee and Forced Migration Studies“ auch im deutschsprachigen Forschungskontext wachsender Beliebtheit17, die mit ihrer Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung der migrantischen Handlungsmacht auch die historische Forschung beeinflussen.18 Eine historische Studie zu Asyl- und Migrationsdiskursen steht angesichts dieser neuen Konjunktur der sogenannten Flucht- und Flüchtlingsforschung vor der Herausforderung, sich in einem breiten Feld verorten zu müssen. Gleichzeitig ist eine Abgrenzung von den teilweise dominierenden sozialwissenschaftlichen Herangehensweisen notwendig, die bisher vor allem die Forschung zu den gegenwartsnahen Zeiträumen geprägt haben. Im Folgenden wird der allgemeine Forschungsstand kurz referiert und eingeordnet, weitere Ausführungen erfolgen jeweils vor den entsprechenden Kapiteln. Der Schwerpunkt liegt 15 Exemplarisch für diese Kritik: Poutrus, Umkämpftes Asyl, 12. 16 Vgl. ebd. Poutrus verweist dabei auf den Gegenwartsbezug der Sozialwissenschaften. 17 Einen kompakten Gesamtüberblick über die Entwicklungen des Forschungsfeldes in Deutschland bietet das „State-of-Research“-Papier von Olaf Kleist aus der Reihe des Verbundprojekts „Flucht: Forschung und Transfer“: Kleist, Flucht- und Flüchtlingsforschung. Ein prägnantes Beispiel für die Entwicklung ist zudem die sich als multidisziplinär verstehende Zeitschrift für Flucht- und Flüchtlingsforschung, die im Jahr 2017 zum ersten Mal erschienen ist. Vgl. hierzu Scherr / Scherschel, Flüchtling, 24 f. 18 Zur allgemeinen Verortung der Geschichtswissenschaft in diesem Forschungsfeld vgl. den einschlägigen Artikel im entsprechenden „Oxford Handbook“: Elie, Histories; Jansen / Lässig, Responses, 9. Für eine stärkere Berücksichtigung der Eigenmacht von Migranten plädiert unter anderem Joachim Häberlen: Vgl. Häberlen, Erzählungen, 104.

Forschungsstand

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auf der Zusammenfassung des Forschungsstandes zum Status von Kirchen und Religion im Kontext von Migrations- und Asyldebatten. 1.2.1 Historische Forschungen zur Flüchtlingsaufnahme in der Bundesrepublik Die historische Forschung zu Flucht und Asyl lässt sich in verschiedene Phasen unterteilen, die wiederum von der gesellschaftlichen Konjunktur des Untersuchungsgegenstandes abhängig waren. Zur deutsch-deutschen Migration ist bereits eine größere Zahl von Forschungsarbeiten erschienen. Eine erste größere Zahl von Arbeiten wurde in den 1990er Jahren nach dem Ende der deutschen Teilung publiziert.19 Zuvor waren Flüchtlinge aus der DDR nur wenig von der Forschung thematisiert worden.20 In den Arbeiten wurden unterschiedlichste politische, rechtliche und soziale Aspekte der Aufnahme von SBZ/DDR-Flüchtlingen in der Bundesrepublik behandelt. Volker Ackermann und Helge Heidemeyer, die die zwei grundlegenden Monographien zu dem Thema vorgelegt haben, verdeutlichten entgegen verbreiteter Erfolgsnarrative die Konflikthaftigkeit der Aufnahme von DDR-Flüchtlingen in der jungen Bundesrepublik.21 Das Thema ist damit nicht auserforscht, neuere Arbeiten behandeln vermehrt regionale Aspekte und besonders die Situation und Lebensumstände in den Aufnahmelagern.22 Die politischen und administrativen Hintergründe der Asylgewährung für ausländische Flüchtlinge in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik sind ebenfalls von mehreren Studien thematisiert worden.23 Betont wird dabei die prägende Bedeutung des Antikommunismus für den Flüchtlingsdiskurs. Bis Anfang der 1970er Jahre kamen im Vergleich mit den späteren Phasen kleinere Gruppen von Antragstellern in die Bundesrepublik, die in den meisten Fällen aus kommunistischen Staaten kamen.24 Die Aufnahme dieser Flüchtlinge bot der Bundesrepublik die Möglichkeit, sich im Systemwettstreit als dem kommunistischen Osten überlegen darzustellen.25 Ein prominentes Beispiel war etwa die Aufnahme von Ungarn, die in Folge des Volksaufstandes von 1956 den Weg in die westlichen Staaten suchten und deren Aufnahme von

19 Vgl. Ackermann, Flüchtling; Heidemeyer, Flucht. Aus den 2000er Jahren stammen vor allem vertiefende Aufsätze: Daniel, Brüder; Ritter, Sturmflut. 20 Vgl. zur Forschungsgeschichte Ackermann, Flüchtling, 14; Heidemeyer, Flucht, 23. 21 Vgl. Ackermann, Flüchtling, 281. 22 Vgl. exemplarisch van Laak, Notaufnahmelager; Kimmel, DDR-Flüchtlinge; Schiessl, Aufnahme; Schiessl / Hoffrichter, Tor. 23 Grundlegend: Poutrus, Zuflucht; Herbert / Hunn, Beschäftigung. Einen Überblick zum Forschungsstand bei Schneider, Regieren, 140 f. 24 Vgl. Bade, Europa, 370. 25 Vgl. ebd.

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Einleitung

der breiten Bevölkerung und der Bundesregierung unterstützt wurde.26 Einig sind sich die Forschungsarbeiten mittlerweile darüber, dass es sich bei dieser Frühphase aufgrund ausgeprägter restriktiver Tendenzen gegenüber der Flüchtlingsaufnahme in Verwaltungs- und Regierungshandeln keineswegs um eine „goldene Ära“ oder einen Idealzustand der Asylgewährung gehandelt habe.27 Wenngleich der Antikommunismus der prägende Faktor war und die Aufnahmeaktionen den westlichen Staaten Gelegenheiten boten, sich als großzügig und überlegen zu präsentieren, wurde keineswegs pauschal das Leben im Kommunismus als Verfolgungsgrund anerkannt.28 Den entscheidenden Umbruch der Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik sieht die Forschung in den frühen 1970er Jahren, als durch Flüchtlingsgruppen, die nicht dem antikommunistischen Ideal entsprachen, erste Ansätze zu einer Universalisierung des Flüchtlingsschutzes sichtbar wurden.29 Paradigmatisch für diese Entwicklung steht das Fallbeispiel der Chile-Flüchtlinge, deren Aufnahme nach dem Militärputsch 1973 in verschiedenen westlichen Staaten verhandelt wurde. Auch die von einer breiten medialen Unterstützung getragene Aufnahme von Kontingenten vietnamesischer Bootsflüchtlinge gegen Ende des Jahrzehnts lässt sich in diesen Kontext einordnen.30 Zu diesen beiden Aufnahmeaktionen und ihrem historischen Kontext sind in den vergangenen Jahren vermehrt wissenschaftliche Arbeiten erschienen. Das Interesse an den Ereignissen in Chile ist vor allem durch die historische Menschenrechtsforschung angeregt worden, die in den internationalen Protesten gegen das Pinochet-Regime eine Blaupause für ihre Fragestellungen sieht.31 Wenngleich sich der Diskurs über den Rechtsstatus von Flüchtlingen nicht pauschal mit den Sujets der Menschenrechtsforschung gleichsetzten lässt, bestehen relevante Schnittmengen.32 Die beiden Fallbeispiele der Flüchtlinge aus Chile und Vietnam geben sowohl Aufschluss über den Wandel des westlichen Asylregimes als auch über den Aufstieg der Menschenrechte zur dominierenden außenpolitischen Argumentationsfigur.33 Die Analyse der westdeutschen Asylpraxis der 1970er Jahre hat bereits überzeugend belegt, dass die vorhandenen Universalisierungstendenzen des Flüchtlingsschutzes zeitgleich zu einem sich verstärkenden Verdächtigungs- und Abwehrdiskurs 26 Vgl. Poutrus, Asyl in Westdeutschland, 27 f. 27 Vgl. Walaardt, Good old days, 271 f. Mit Schwerpunkt auf die Bundesrepublik: Poutrus, Asyl im Kalten Krieg, 287 f. 28 Diese als widerlegt geltende These vertrat etwa Charles Keely in einem Aufsatz aus dem Jahr 2001: Keely, Refugee Regime, 308. 29 Vgl. Poutrus, Asyl im Kalten Krieg, 285 f. 30 Vgl. hierzu Forschungsarbeiten zur Aufnahme der Bootsflüchtlinge in der Bundesrepublik: Merziger, Humanism; Vössing, Competition; Bösch, Engagement; Kleinschmidt, Aufnahme. 31 Vgl. Eckel, Lupe. 32 Für eine Einbettung der Geschichte des Flüchtlingsrechts in die Menschenrechtsgeschichte plädieren Manfred Nowak und Antonia Walter. Hierzu vgl. Nowak / Walter, Flucht. 33 Grundlegend hierfür: Eckel, Ambivalenz.

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gegen Migranten standen.34 Die gesellschaftliche Ablehnung von Zuwanderung traf neben den Arbeitsmigranten verstärkt die Asylsuchenden in der Bundesrepublik.35 In der Folge entwickelte sich Asylpolitik ab den frühen 1980er Jahren zum dominanten innenpolitischen Streitthema der Bundesrepublik. Die Erschließung der Asyldebatten der 1980er und frühen 1990er Jahre durch geschichtswissenschaftliche Arbeiten hat aufgrund des Ablaufs der Archivfristen und der neuen Konjunktur des Themas erst in jüngster Zeit einen größeren Schub erfahren. Zwar handeln verschiedene Überblicksdarstellungen das Thema durchaus mit ab und skizzieren Entwicklungslinien.36 Grundlegend zu nennen sind zudem Ulrich Herberts Arbeiten zur Geschichte der Ausländerpolitik, die sich ebenfalls der Frage der Aufnahme und sozialen Versorgung von Flüchtlingen widmen.37 Ausführlichere Monographien zu diesem Zeitraum aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive fehlen jedoch aufgrund der durch die Sperrfristen der Archive bedingten Verzögerung noch. Die bereits vorliegenden Studien zu den Asyldebatten der 1980er und frühen 1990er Jahre wurden zumeist von Vertretern der Soziologie und der Politikwissenschaft verfasst und verstanden sich als gegenwartsbezogene Beiträge zur Versachlichung der öffentlichen Diskussion.38 Historische Arbeiten können davon profitieren. Die Veröffentlichungen von Dietrich Thränhardt, Ursula Münch und Simone Wolken sind aufgrund der akribischen Analyse und Dokumentation der Gesetzgebungsprozesse oder Debattenverläufe auch Jahre nach ihrer Veröffentlichung anregend. Thränhardt hatte bereits 1994 in einem Aufsatz ein vereinfachtes Schema zum historischen Wandel der Flüchtlingskategorisierung entwickelt, das einige der späteren geschichtswissenschaftlichen Ergebnisse vorwegnahm.39 Als Einflussfaktoren für die Akzeptanz und Aufnahmebereitschaft der westdeutschen Gesellschaft benannte er etwa das Verhältnis von Ideologie, Rassismus und Gruppengröße.40 Auch Münch und Wolken reflektierten den Debattenverlauf und die Argumentationsmuster der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ihrer Arbeiten noch intensiv geführten Auseinandersetzungen um das Asylrecht.41 Auf deren Grundlage entstanden Anfang der 2000er Jahre erste sprachwissenschaftliche Arbeiten mit Anleihen 34 Vgl. Poutrus, Asyl im Kalten Krieg, 285 f.; Bade, Europa, 370 f.; Thränhardt, Entwicklungslinien, 57–59. 35 Vgl. Münch, Asylpolitik, 72. 36 Vgl. Bade, Europa, 370–377; Wirsching, Abschied, 297–306. 37 Grundlegend Herbert, Ausländerpolitik; Herbert / Hunn, Beschäftigung. 38 Besonders hervorzuheben: Wolken, Grundrecht; Münch, Asylpolitik; Thränhardt, Entwicklungslinien. Für einen Gesamtüberblick sei auf die umfassende Bibliografie von Angelika Hartmann aus dem Jahr 1992 verwiesen, die mehrere tausend Veröffentlichungen aufzählt: Hartmann, Deutschsprachige Literatur. 39 Vgl. Thränhardt, Entwicklungslinien, 57–59. 40 Vgl. ebd. 41 Vgl. Münch, Asylpolitik, 198–216; Wolken, Grundrecht, 97–120.

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aus der Diskursgeschichte42 und erste historische Arbeiten über den westdeutschen Migrationsdiskurs seit den 1970er Jahren, die zumeist auf veröffentlichte Quellen wie Presseartikel und Parlamentsprotokolle zurückgriffen.43 Die jüngste Konjunktur der Flüchtlingsforschung lässt zudem eine größere Zahl neuer Publikationen erwarten.44 Einen Schwerpunkt haben die bisherigen Forschungsarbeiten hingegen auf die frühen 1990er Jahre gelegt. Aufgrund der bereits zeitgenössisch als Zäsur gewerteten Grundgesetzänderung, die häufig auch als „Asylkompromiss“ bezeichnet wird, gilt dieser Zeitraum als bisheriger Höhepunkt der „Asyldebatte“. Mit der Einführung der Drittstaatenregelung wurde das Asylrecht für politisch Verfolgte nach einer langen Auseinandersetzung zwischen den politischen Parteien eingeschränkt. Ulrich Herbert benennt etwa die besondere Konstellation des wiedervereinigten Deutschlands mit seinen ungelösten migrationspolitischen Strukturfragen, die Eigendynamik politisch-medialer Kampagnen und die Wechselwirkung mit der rassistischen Gewalt als Rahmenbedingungen für diesen Einschnitt.45 Patrice Poutrus, der eine Vielzahl von Arbeiten zur Geschichte der Asylpraxis beider deutscher Staaten vorgelegt hat, plädiert dafür, die Grundgesetzänderung von 1993 als einen „Gründungsakt der Berliner Republik“46 zu verstehen. Vergleichbar bezeichnet auch Agnes Bresselau von Bressensdorf ihn als eine wichtige Richtungsentscheidung für das wiedervereinigte Deutschland.47 Vermehrt wird der Stellenwert von Migration innerhalb von Gesamtdarstellungen zur deutschen Geschichte kritisch diskutiert. Weitestgehende Einigkeit besteht darüber, dass die Geschichte der Asylpraxis in der Bundesrepublik kein linearer Prozess war, sondern Praktiken und Politiken der Flüchtlingsaufnahme immer wieder vor den veränderten Rahmenkonstellationen neu ausgehandelt werden mussten.48 Lauren Stokes sieht in der „Permanent Refugee Crisis“49 sogar ein Kontinuum der bundesrepublikanischen Geschichte. Joachim Häberlen beklagt in einem Beitrag in „WerkstattGeschichte“, dass die Themen Flucht und Migration in den Erfolgserzählungen bundesrepublikanischer Demokratie- und Gesellschaftsgeschichte vernachlässigt worden seien.50 Nach einer langen Phase der Missachtung würde das Thema heute von der historischen Zunft vorschnell wahlweise mit dem Begriff „Flüchtlingskrise“ als Bedrohung für die gesellschaftliche Stabilität oder unter 42 Vgl. Wengeler, Topos. 43 Vgl. Steiner, Arguing. 44 Exemplarisch seien hier die Arbeiten von Julia Kleinschmidt genannt. Vgl. Kleinschmidt, Streit, 234 FN 13. 45 Vgl. Herbert, Asylpolitik. 46 Poutrus, Umkämpftes Asyl, 13. 47 Vgl. Bresselau, Diskurse, 126. 48 Vgl. Oltmer, Einleitung, 39. 49 Vgl. Stokes, Crisis. 50 Vgl. Häberlen, Erzählungen, 93 f.

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dem Leitwort „Willkommenskultur“ als Bestätigung des Liberalisierungsnarrativs interpretiert.51 1.2.2 Protestantismus und Asylpolitik Die Rolle der Kirchen in der Asylpolitik oder spezifische konfessionelle Fragen des Flüchtlingsdiskurses sind hingegen in beinahe allen Zeitabschnitten eine Leerstelle geblieben.52 Die Ausnahme bildet das Kirchenasyl, das umfangreich von politikwissenschaftlichen und juristischen Arbeiten thematisiert wurde.53 Die Kirchenasylbewegung erlebte ihren großen Aufschwung in Deutschland jedoch erst in den 1990er Jahren, entsprechend legten die Untersuchungen ihren zeitlichen Schwerpunkt auf diese Phase. Durchgehend lässt sich ein je nach Kontext mehr oder weniger ausgeprägter Kontrast zwischen der durchaus von Forschungsarbeiten wahrgenommenen Präsenz christlicher Akteure und einer gleichzeitig fehlenden Einordnung und Kontextualisierung dieser Konstellation konstatieren. Deutlich zeigt dies die Forschung zum Zeitraum der 1950er und 1960er Jahre. Das von Helge Heidemeyer verfasste Standardwerk zur westdeutschen Politik gegenüber den DDR-Flüchtlingen behandelt mit Ministerien, Gerichten, Parteien und Verbänden eine Vielzahl von relevanten Akteuren des damaligen Migrationsregimes.54 Die Kirchen oder ihre Wohlfahrtsverbände finden hingegen keine Erwähnung. Volker Ackermanns einflussreiche Studie zur Flüchtlingsdebatte der frühen Bundesrepublik zitiert zwar mehrfach Quellen aus dem Evangelischen Hilfswerk und erwähnt die Kritik eines evangelischen Bischofs an der Kategorisierung von Fluchtgründen55, reflektiert aber nicht, warum ausgerechnet Institutionen und Einzelpersonen aus dem Umfeld der evangelischen Kirche oder deren Sozialverbände so große Präsenz im Kontext der Debatte um den Status von DDR-Flüchtlingen hatten. Besonders deutlich wird diese Diskrepanz in einem Aufsatz von Ute Daniel über den Umgang mit den DDR-Flüchtlingen. In einer Nebenbemerkung äußert sich die Historikerin verwundert über den kritischen Tonfall der evangelischen Inneren Mission gegenüber der Flüchtlingspolitik – diese sei ja sonst nicht gerade als „Systemkritikerin“ hervorgetre51 Vgl. ebd., 93–96. 52 Erste Umrisse des Forschungsfeldes sowie der Arbeit der Evangelischen Flüchtlingsseelsorge in West-Berlin werden skizziert bei Lepp, Abwanderung. 53 Vgl. dazu die 2003 erschienene politikwissenschaftliche Arbeit von Matthias Morgenstern: Morgenstern, Kirchenasyl. In den 1990er und 2000er Jahren sind zudem verschiedene rechtswissenschaftliche Arbeiten entstanden, die auch historische Fragen streifen: Grefen, Kirchenasyl; Schultz-Süchting, Kirchenasyl; Stukenborg, Kirchenasyl. Auch in den Theologien beider Konfessionen erschienen ab diesem Zeitraum vermehrt Arbeiten dazu: Nagel, Flüchtlinge; Babo, Kirchenasyl; Barwig, Asyl. 54 Vgl. Heidemeyer, Flucht, 286–324. 55 Vgl. Ackermann, Flüchtling, 86 FN 40 sowie 120.

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ten.56 Wenngleich diese Randbemerkung die Qualität des Aufsatzes keineswegs schmälert, ist sie doch ein Indiz für die fehlende Einordnung der kirchlichen Präsenz in diesem Kontext. Bei genauerer Betrachtung erweist sich die zitierte Quelle keineswegs als verwunderlicher Einzelfall der Kritik am deutschen Migrationsregime. Zudem stammt sie aus dem in der Flüchtlingspolitik breit vernetzten Hilfswerk der EKD und nicht aus der kurz zuvor mit dem Hilfswerk fusionierten Inneren Mission. Der von der bisherigen Forschung durchaus wahrgenommenen Präsenz protestantischer Akteure im Kontext der DDR-Flüchtlingspolitik steht dementsprechend eine fehlende Einordnung gegenüber. Das Vorhaben, diese Lücke zu schließen, kann sich zudem durch neuere globalgeschichtliche Forschungen gestützt sehen. Wenngleich in dieser Arbeit ausschließlich Westdeutschland untersucht wird, lässt sich an die Beobachtungen des britischen Migrationshistorikers Peter Gatrell über die Entwicklung des Flüchtlingsschutzes in der Nachkriegszeit anknüpfen. Gatrell, dessen Arbeiten zu den globalen Fluchtbewegungen der 1950er Jahre als grundlegend gelten können, merkt in einem Beitrag für die „New Global Studies“ an, dass es vor allem religiöse Institutionen wie der Heilige Stuhl, der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) oder der Lutherische Weltbund (LWB) gewesen seien, die vergleichsweise früh dafür eintraten, Flüchtlingen unabhängig von ihrem juristischen Aufnahmestatus Rechte zuzusprechen.57 Auch bei Gatrell ist in den Formulierungen noch ein gewisses säkulares Unbehagen gegenüber der Beobachtung, dass ausgerechnet dezidiert konservative religiöse Kräfte für ein Recht auf Asyl und Einwanderung argumentierten, erkennbar.58 Gatrell, dessen Forschungen unter anderem um die Frage kreisten, unter welchen Bedingungen Flüchtlinge eigene Rechte geltend machen konnten, verweist zudem auf die Verwandtschaft zu den Arbeiten der neueren Menschenrechtsgeschichte. Deren ersten größeren Arbeiten war noch vorgeworfen worden, mit den weltweiten Kirchenbünden einflussreiche Akteure vernachlässigt zu haben.59 Jüngere Studien, vor allem aus dem angelsächsischen Raum, haben sich seitdem vertieft der transnationalen Chile-Solidarität und der Menschenrechtsbewegung zugewandt und zunehmend auch der Rolle der Kirchen beziehungsweise christlicher Gruppen gewidmet.60 Dabei ist auch der bei der Aufnahme von chilenischen Flüchtlingen in der Bundesrepublik eine Schlüsselrolle einnehmende evangelische Pfarrer und Menschenrechtsaktivist Vgl. Daniel, Brüder, 356. Vgl. Gatrell, Putting Refugees, 17 f. Vgl. ebd. Vgl. die Rezension von Benjamin Möckel zu Jan Eckels einflussreicher Monographie „Die Ambivalenz des Guten“: Möckel, Rezension. 60 Exemplarisch hierfür ist die 2018 erschienene Studie von Patrick Kelly und ein Aufsatz von Kim Christiaens zu nennen: Kelly, Sovereign emergencies. Christiaens, Reconfigurations. Mit Helmut Frenz hat sich zudem Felix Jim nez Botta in seiner Forschung zum transnationalen Menschenrechtsaktivismus befasst: Jim nez Botta, Solidarität.

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Helmut Frenz vermehrt zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen geworden. Die französische Historikerin Caroline Moine bilanziert in einem Aufsatz über ihn, dass der evangelischen Kirche eine „zentrale Rolle“61 in der internationalen Solidaritätsbewegung zugekommen sei. Blickt man auf die veröffentlichten Gesamtdarstellungen und Aufsätze, die sich mit den Asyldebatten der 1980er Jahre befassen, ist auffällig, dass die Kirchen zumeist als Bestandteil einer breiten gesellschaftlichen Koalition aufgeführt werden. Karen Schönwälder erwähnt sie als Bestandteil der „refugees lobby“ an der Seite von Wohlfahrts- und Menschenrechtsorganisationen sowie als Partner der frühen Grünen und von Teilen der SPD und FDP.62 Eine vergleichbare Formulierung findet sich bei Ulrich Herbert, der zudem an einer Stelle die Evangelische Akademie Tutzing als Ort erwähnt, an der sich ein weltanschaulich diverses Bündnis gegen die restriktive Politik des Bundesinnenministeriums zusammenfand.63 Differenzierter beschreiben jüngere Arbeiten diese Entwicklung. Einerseits sprechen sie von einem „Pro-asylum movement“64 oder weiterführender von einer „promigrantischen Koalition“65 aus unterschiedlichen Gruppen und Institutionen. Teilweise wird hier zwischen einzelnen christlichen Gruppen und Institutionen als aktiven Teilen der Bewegung und den Kirchen als Partnern dieser unterschieden.66 Julia Kleinschmidt betont unter Berücksichtigung der Ergebnisse der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung, dass die Flüchtlingshilfe zu einem weiteren wichtigen Feld des Zusammengehens von Kirchen und sozialen Bewegungen wurde.67 Eigenständige Arbeiten zum Protestantismus in diesem Kontext liegen nur in geringer Zahl vor. Jenseits der kirchengeschichtlichen Forschung hat die evangelische Theologie die historische Dimension der Asyldebatten allenfalls gestreift. Zwar haben sich mehrere weitere Teildisziplinen, insbesondere die Sozialethik und die Praktische Theologie, vermehrt den Themen Migration und Flucht zugewandt.68 Gemeinsam ist den meisten dieser Publikationen aber die Fokussierung auf normative Fragen und Gegenwartsdiagnostik.69 Sofern die historische Dimension protestantischer Positionen in die Studien einbezogen wird, geschieht dies ausschließlich in Gestalt einer Reduzierung auf die Theologie- und Philosophiegeschichte der Neuzeit unter Ausblendung 61 62 63 64

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Moine, Solidarität, 121. Vgl. Schönwälder, Persons, 80. Vgl. Herbert, Ausländerpolitik, 269 und 279 f. Diese Bezeichnung verwendet etwa Pierre Monforte in seiner Arbeit über die europäische Vernetzung und Entwicklung der Flüchtlingsunterstützergruppen: Monforte, Contention. Der englische Begriff lässt sich nicht unmittelbar ins Deutsche übertragen, da er in diesem Kontext aufgrund der eigenständigen Organisation „Pro Asyl“ besonders auf einen bestimmten Akteur abzielen würde. In dieser Arbeit wird daher der Begriff Flüchtlingshilfebewegung verwendet. Kleinschmidt, Streit, 234. Vgl. zur Situation in Deutschland in den 1990er Jahren: Monforte, Contention, 55. Vgl. Kleinschmidt, Streit, 244. Vgl. Scheliha, Religionspolitik, 303–333. Vgl. einen entsprechenden Sammelband: Schmiedel / Smith, Religion.

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der jüngeren Zeitgeschichte70 oder als vereinfachte Gleichsetzung verschiedener historischer Migrationsphänomene mit der bundesrepublikanischen Gegenwart.71 Kirchen- und diakoniegeschichtliche Arbeiten liegen nur in Ansätzen vor. Zwar existieren besonders im diakonischen Kontext verschiedene teils mit professionellem Anspruch verfasste Darstellungen über die Aktivitäten in der Sozialfürsorge für die betroffenen Flüchtlingsgruppen in der frühen Bundesrepublik.72 Häufig dienten diese Publikationen der Dokumentation der Hilfsarbeit für Spender oder Interessierte.73 Eine Ausnahme bildet mit Blick auf diesen Zeitraum die Veröffentlichungen zur sogenannten Pfarrerflucht. Aufgrund der bereits zeitgenössisch umstrittenen restriktiven Regelungen der westdeutschen Kirchen zur Anstellung geflohener und übergesiedelter ostdeutscher Pfarrer bestand der Bedarf nach historischer Aufarbeitung dieser besonderen Debatte.74 Für den Zeitraum ab den 1970er Jahren gibt es ebenfalls kaum Arbeiten, die sich explizit der Haltung des Protestantismus zur Flüchtlings- und Asylpolitik widmen. Im Rahmen einer Gesamtdarstellung zur Geschichte der Evangelischen Kirche im Rheinland erwähnt etwa Uwe Kaminsky die Flüchtlingsarbeit und den öffentlichen Protest gegen restriktive Asylgesetzgebung als wichtiges Betätigungsfeld.75 Ausführlich befasst sich nur ein Aufsatz der Historikerin Ursula Büttner mit dem Wandel der EKD-Position über den weiten Zeitraum von 1933 bis 2008.76 Ausgehend von der Flucht vor dem nationalsozialistischen Regime skizziert sie darin Entwicklungslinien der Haltung der evangelischen Kirche in Deutschland zur Asylpolitik und stellt vorläufige Thesen auf. Büttner gibt einen Überblick über die kirchenoffiziellen Verlautbarungen und beschreibt den Entwicklungsprozess anhand der Begriffstrias Passivität, Gleichgültigkeit und aktives Eintreten.77 Als Hauptursache für die „späte Umkehr“ in dieser Frage, die Büttner in den 1970er Jahren verortet, benennt sie unter anderem den generationellen Wechsel unter den kirchlichen Eliten sowie die Abkehr von den Traditionen des theologisch legitimierten Obrigkeitsstaatsdenkens.78 Als zentrales Motiv für die „völlige Neuorientierung“ sieht sie die Abkehr von der deutschen Vergangenheit.79 Abweichende Entwicklungen wie die zeitgenössisch kon70 Vgl. Scheliha, Religionspolitik, 303–309. 71 Vgl. Meyer, Bürger, 17–20. 72 Vgl. exemplarisch für die Hilfsarbeit für DDR-Flüchtlinge die mit archivalischen Quellen erstellte, aber nicht wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Dokumentation von Günter Köhler über die Evangelische Flüchtlingsseelsorge in West-Berlin: Köhler, Notaufnahme. 73 Entsprechende Kritik äußert Sommer, Rechtswahrungsansprüche, 396 f. 74 Baum, Integration, 586–612; Schulze et. al., Gehen; Lepp, Abwanderung, 87–90. 75 Vgl. Kaminsky, Kirche, 366–369. 76 Büttner, Umkehr. 77 Vgl. ebd., 44. 78 Vgl. ebd. 79 Vgl. ebd. Im Kontext von Büttners Forschungsarbeiten zum Schicksal von Christen jüdischer

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trovers diskutierte Stellungnahme des Rates der EKD zur Änderung des Asylartikels im Grundgesetz 1993 werden als Rückschritt in diesem Prozess eingestuft.80 Büttner schränkt ihre Hypothese, wonach der historische Rekurs auf die NS-Zeit entscheidend für die Entwicklung sei, in ihrer Arbeit mit Verweis auf die von ihr untersuchten Positionspapiere der EKD bereits ein, da die Quellentexte die ethische Pflicht zur Fürsorge für Geflüchtete vor allem biblisch begründen würden.81 Eine auf Presseauswertung gestützte quantitative Studie zu christlichen Begründungsmustern weist der Kategorie „Rekurs NS-Vergangenheit“ im Kontext der Themen Zuwanderung und Asyl ebenfalls nur Platz 21 von 32 zu.82 Die Aussagekraft beider Untersuchungen ist allerdings eingeschränkt, da sie sich beide ausschließlich auf veröffentliche Quellen stützen und Ego-Dokumente ebenso wie interne Unterlagen nicht einbeziehen.

1.3 Erkenntnisinteresse und Methodik Im Anschluss an den Forschungsüberblick lassen sich die Untersuchungsschwerpunkte der Arbeit verdeutlichen. Zur Präzisierung des Erkenntnisinteresses und der methodischen Verortung ist der Blick auf die beiden größeren Forschungskontexte wichtig, in die sich die Untersuchung einfügt. Zuerst ist die historische Migrationsforschung zu nennen. Aus der Vielzahl der unter diesem Oberbegriff verhandelten Fragestellungen lassen sich mehrere Anknüpfungspunkte identifizieren.83 Die historische Migrationsforschung befasst sich nicht ausschließlich mit der Geschichte von Bevölkerungsbewegungen oder migrantischen Akteuren, sondern auch mit Diskursen über diese.84 Dabei geht sie von der konstruktivistischen Prämisse aus, dass Migration in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen geformt und hergestellt wird.85 Mittlerweile hat sich die Verwendung des analytischen Terminus Migrationsregime durchgesetzt, der von sozialwissenschaftlichen Theorien beeinflusst ist.86 Der Historiker Jochen Oltmer definiert ihn so: „Migrationsbewegungen wurden mithin durch ein Geflecht von Normen, Regeln, Konstruktionen, Wissensbeständen und Handlungen institutioneller Akteure

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Herkunft während der Zeit des Nationalsozialismus erscheint der Fokus auf das historische Motiv im Kontext der Asylpolitik als konsequent. Siehe hierzu Büttner / Greschat, Kinder. Vgl. Büttner, Umkehr, 39. Vgl. ebd., 45. Vgl. Könemann et. al., Interessenvertretung, 202. Für einen Überblick zu historischen Forschungsansätze aus internationaler Perspektive vgl. Elie, Histories. Vgl. den Überblick zum Themenspektrum der historischen Migrationsforschung bei Oltmer, Migration aushandeln, 242–244. Vgl. ebd., 250. Vgl. ebd., 245.

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Einleitung mitgeprägt, das als Migrationsregime gefasst werden kann. Migrationsregime sind integrierte Gestaltungs- und Handlungsfelder institutioneller Akteure, die einen bestimmten Ausschnitt des Migrationsgeschehens fokussierten, Migrationsbewegungen kanalisierten und die (potenziellen) Migrantinnen und Migranten kategorisierten. Jedes Migrationsregime hatte eigene institutionelle Akteure und spezifische migratorische Objekte, problematisierte, plante und handelte anders als andere Migrationsregime, umfasste mithin spezifische Regeln und Verfahren, Bedingungen und Formen des Sammelns von Informationen über einen migratorischen Sachverhalt, bewertete diese Informationen anders und vermittelte die Ergebnisse je verschieden in und zwischen institutionellen Akteuren, gegenüber den (potenziellen) Migranten und der Öffentlichkeit.“87

Die Definition Oltmers zeichnet sich dadurch aus, dass sie im Gegensatz zu staatszentrierten Regimebegriffen auch nichtstaatliche Akteure oder die Migranten selbst miteinbezieht.88 Das Interesse der historischen Migrationsforschung an nichtstaatlichen Organisationen oder den Medien begründet er mit deren Bedeutung für die Produktion von Stereotypen, die Wahrnehmung von Migration, den entsprechenden Wissensbeständen und ihrem Einfluss auf das staatliche Asylregime.89 Diese seien als Bestandteil des Migrationsregimes entscheidend dafür, „welche Menschen beziehungsweise welche Kollektive in Bewegung mit welchen Erwartungen verbunden, in welche Erfahrungshorizonte gefügt und mit welchen Fremdbildern und Stereotypen bedacht“90 würden. Mit der Ausweitung des Begriffs auf nichtstaatliche Akteure wird deren Bedeutung für den Aushandlungsprozess Rechnung getragen. Religiöse Akteure können diesen Prozess unter Rückgriff auf ihre Ursprungsnarrative und theologische Deutungsangebote auf besondere Weise normativ prägen.91 Für die historische Migrationsforschung geht es Oltmer zufolge darum, akteursspezifische und zeitlicher Veränderung unterworfene Konzepte und Kategorien zu untersuchen, „die genutzt worden sind, um Migration vor dem Hintergrund der jeweiligen Interessen zu benennen, zu beschreiben und daraus Wirklichkeitskonstruktion und Handlungen zu formen“92. Eine Untersuchung des Protestantismus in der Bundesrepublik in diesem Sinne lenkt den Blick auf einen von wissenschaftlichen Arbeiten bisher unzureichend beachteten Akteur des bundesdeutschen Migrationsregimes. Gefragt wird nach seinem Beitrag zum Aushandlungsprozess von Fluchtmigration sowie in Teilen nach seiner Interaktion mit anderen prägenden Akteuren wie dem Staat oder den politischen Parteien. Eine solche Untersuchung geht zwangsläufig 87 Oltmer, Einleitung, 20 f. 88 Ähnlich verwendet Peter Gatrell den Begriff, um sich in seiner Forschungsarbeit der Interessenvertretung von Flüchtlingen oder für diese zuzuwenden. Vgl. Gatrell, Putting Refugees, 2 FN 1. 89 Vgl. Oltmer, Einleitung, 21. Vergleichbare Formulierungen bei: Schulz, Exilforschung, 34. 90 Oltmer, Einleitung, 21. 91 Vgl. Hollenbach, Religion. 92 Oltmer, Einleitung, 21–23.

Erkenntnisinteresse und Methodik

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mit der Aussparung anderer denkbarer Untersuchungsschwerpunkte einher. So werden etwa die Praktiken der Flüchtlingshilfe, der Kontakt und die Interaktion mit den geflüchteten Menschen selbst in der Untersuchung nur einbezogen, sofern sie für das bessere Verständnis der diskursiven oder institutionellen Ebene unverzichtbar sind. Der Stellenwert der Religion für die Deutung und Kategorisierung von Fluchtmigration93 verweist auf die kirchliche Zeitgeschichte und damit auf den zweiten umfangreichen Forschungskontext, in dem sich die Arbeit verortet. Hierbei bieten sich unterschiedliche Anknüpfungspunkte. Die offene Frage nach den Hintergründen und Ursachen für die Zuwendung des Protestantismus zum Thema Flüchtlings- und Asylpolitik wurde bereits durch Ursula Büttners Thesen angeschnitten. Vermehrt wird das Zusammenwirken von Protestantismus und sozialen Bewegungen ab den 1970er Jahren erforscht.94 Im Rahmen der Untersuchung geraten hierfür besonders die 1980er Jahre als Formationsphase einer Protestbewegung gegen die Asyl- und Migrationspolitik des Bundes und der Länder in den Fokus. Julia Kleinschmidt vertritt die These, dass sich die Zuwendung kirchlicher Gruppen zum neuen Wirkungsfeld Flüchtlingshilfe als eine Fortführung des im Jahrzehnt davor etablierten Engagements für Menschen im Ausland verstehen lässt. Die im Kontext von Solidaritäts- oder „Dritte-Welt“-Gruppen etablierten Rollenverständnisse seien nun im eigenen Land angewandt und umgesetzt worden.95 Diese Entwicklung betraf den Protestantismus intensiv. Unter den Vorzeichen der sich zuspitzenden öffentlichen Auseinandersetzung agierten protestantische Akteure häufig innerhalb von breit aufgestellten Aktionsgruppen und Arbeitsgemeinschaften. Beispielhaft zu nennen wäre die überkonfessionelle Flüchtlingsschutzorganisation „Pro Asyl“. Auch die Kirchenasylbewegung, die von Abschiebung bedrohte Flüchtlinge in Kirchengemeinden aufnahm und öffentlich gegen das staatliche Vorgehen protestierte, fällt in diesen Kontext. Im Gegensatz zu den anderen zahlenmäßig weitaus größeren sozialen Bewegungen liegen hierzu nur wenige historische Forschungsarbeiten vor.96 Zur 93 94 95 96

Vgl. Hollenbach, Religion, 456 f. Vgl. Lepp, Konfrontation. Vgl. Kleinschmidt, Streit, 244. Eine der Ursachen für das geringere Interesse der Forschung an den Flüchtlingshilfegruppen ist neben der Größe und Reichweite der Bewegung möglicherweise darin zu finden, dass Gruppen mit thematischem Bezug zu Migration und Asyl aufgrund ihrer Zielsetzungen nicht immer als soziale Bewegungen eingestuft wurden. Vgl. hierzu die Einschätzung von Philipp Gassert, der die Vernachlässigung von Migrationsthemen durch die Bewegungsforschung beklagt und die fehlende Sichtbarkeit und Berücksichtigung von migrantischen Bewegungen in vielen Publikationen kritisiert: Gassert, Gesellschaft, 247–251. Der entsprechende Eintrag im Handbuch „Soziale Bewegungen in Deutschland seit 1945“ ist mit „Mobilisierung von und für Migranten“ überschrieben und fasst migrantische Selbstorganisations- und Diasporagruppen mit entsprechenden Unterstützerorganisationen zusammen. Die im Artikel als weitestgehend erfolglos eingestuften Proteste gegen die Entwicklung der deutschen Asylpolitik seit den späten 1970er Jahren werden dort neben anderen Themen abgehandelt. Vgl. Rucht / Heitmeyer, Mobili-

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Beteiligung des Protestantismus an der Friedensbewegung97 und den AntiAtomkraft-Protesten98 während der ersten Hälfte der 1980er Jahre sind bereits mehrere Monographien erschienen. Ein weiterer verwandter Kontext ist das Verhältnis der christlichen Kirchen zu den Menschenrechten, wie sie beispielsweise verstärkt im Kontext der Proteste gegen Diktaturen in Südamerika während der 1970er Jahre thematisiert werden.99 Auch wenn sich die Menschenrechte als „säkularer Glaubenssatz“100 verstehen lassen, fanden sie rasch Eingang in christliche Begründungszusammenhänge. Der Menschenwürdebegriff als normatives Fundament der Menschenrechte ist offen für theologische Deutungsmuster und bietet daher Anknüpfungsmöglichkeiten.101 Der Einfluss der transnationalen Menschenrechtsdebatte der Ökumene wurde auch im westdeutschen Protestantismus sichtbar.102 Gremien und Aktionsgruppen beschäftigten sich mit der Menschenrechtsfrage, das Diakonische Werk richtete ein eigenes Menschenrechtsreferat ein. Die Untersuchung muss diesen Kontext im Rahmen der Debatte um die Aufnahme und Anerkennung von Flüchtlingen miteinbeziehen und fragt daher nach dem Stellenwert der Menschenwürde und der Menschenrechte in der protestantischen Argumentation. Zuletzt lässt sich auch nach dem Beitrag des Protestantismus zur Debatte um das Selbstverständnis der Bundesrepublik fragen.103 Kontroversen um Migration behandelten diese Frage bisweilen offen oder auch nur implizit mit. Agnes Bresselau von Bressensdorf interpretiert den politischen und gesellschaftlichen Diskurs über das Asylrecht als „Selbstverständigungsdebatte um die politischen und moralischen Grundlagen der Bonner beziehungsweise Berliner Republik“104. Das Asylrecht wurde wiederholt zu einem wichtigen Bestandteil der Identität der Bundesrepublik als liberaler Demokratie erklärt.105 Immer wieder kam die Frage auf, ob die Bundesrepublik ein „Nichteinwanderungsland“ sei oder die Konsequenzen aus der historischen Erfahrung des Nationalsozialismus gezogen habe.106 Auch im Protestantismus

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sierung. Zur gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Forschung zur Flüchtlingshilfebewegung vgl. Huke, Teilhabe. Vgl. Wiechmann, Sicherheit; Kalden, Raketenfrage. Vgl. Schüring, Bekennen; Schramm, Kirche. Vgl. für die Katholizismusforschung Garrard-Burnett, Church Responses. Weinke, Ressource, 21. Vgl. Kirchschläger, Menschenrechte, 189; Rethmann, Stellungnahmen, 193. Vgl. Bouwman, Religious Freedom; Albers, ÖRK; Kelly, Human Rights. Die Arbeit ist entstanden im Rahmen des Teilprojekts „Der Protestantismus in den Debatten um gesellschaftliche Integration und nationale Identität“ der DFG-Forschergruppe 1765, die sich mit dem Protestantismus in den ethischen Debatten in der Bundesrepublik 1949 bis 1989 befasst. Zum Forschungsparadigma des Teilprojekts vgl. Lepp, Protestantismus. Bresselau, Diskurse, 113. Vergleichbar argumentieren Maren Möhring und Patrice Poutrus: Möhring, Mobilität, 369; Poutrus, Zuflucht, 893. Vgl. Steiner, Arguing, 148. Vgl. zum Stellenwert des Einwanderungsland-Topos im Kontext der Migrations- und Asyl-

Erkenntnisinteresse und Methodik

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waren Fragen nach der nationalen Identität zumeist mit der Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit verknüpft und entsprechend aufgeladen.107 Die Frage nach der Aufnahme von Flüchtlingen bot nicht nur Anlass, sich der eigenen Position innerhalb der Aufnahmegesellschaft zu versichern, sondern auch, sich über die moralischen Grundlagen der Bundesrepublik zu verständigen. Für evangelische Christen barg der Gegensatz zwischen der universellen ethischen Orientierung der Religion und der auf nationale Grenzen zielenden Politik dementsprechend Konfliktpotential.108 Bereits in der Auseinandersetzung um die Aufnahme von DDR-Flüchtlingen im Westen wurde vor dem Hintergrund der deutschen Teilung die Situation in der Herkunftsgesellschaft thematisiert. Später mussten sich protestantische Akteure in der Diskussion um die Aufnahmekapazitäten der Bundesrepublik positionieren und mit der „latenten Spannung zwischen Nationalstaatsprinzip und Menschenrechten im Feld der Migrationspolitik“109 umgehen. Die Untersuchung widmet sich vor diesem Hintergrund drei Leitkategorien. Erstens rekonstruiert die Studie Debatten um die Aufnahme und Anerkennung von Flüchtlingen sowie den Gehalt des Begriffs der politischen Flucht in der Bundesrepublik aus protestantischer Perspektive. Dabei sind besonders die historischen Rahmenbedingungen und Akteurskonstellationen von Interesse, um die entsprechende Beteiligung des Protestantismus und die Genese seiner Positionierungen kontextualisieren zu können. Wenngleich die Arbeit einen Fokus auf Kommunikationszusammenhänge und Diskurse legt, sollen die einzelnen Akteure dabei nicht außer Acht gelassen werden.110 In die Darstellung werden daher biographische Skizzen zu den debattenprägenden Akteuren und ihren Motiven eingeflochten. Im ersten Kapitel sind das beispielsweise der Flüchtlingspfarrer Karl Ahme und der Jurist Heinrich von Schönberg, im zweiten Kapitel der Pfarrer und Menschenrechtsaktivist Helmut Frenz und im dritten Abschnitt die Theologen Michael Mildenberger und Jürgen Micksch. An zweiter Stelle wird ausgehend von den Akteuren nach Argumentationsformen bei der Kategorisierung und Beurteilung von Fluchtmotiven gefragt. Besonderes Augenmerk erhalten die Grenzziehungen zwischen „politischen“ und „unpolitischen“ Fluchtgründen im Rahmen der Unterscheidung von „echten“ Flüchtlingen und „Wirtschaftsflüchtlingen“. Diese Trennlinie dominierte die öffentliche Auseinandersetzung und ist bis heute konstituie-

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politik Wengeler, Topos, 408–411; Wolken, Grundrecht, 301–309. Zum Geschichts-Topos in diesem Kontext vgl. Wengeler, Topos, 473–475; Poutrus, Zuflucht, 893; Hacke, Bundesrepublik, 43 f. Vgl. Lepp, Protestantismus, 67. Vgl. Hidalgo, Verhältnis, 35 f. Poutrus, Zuflucht, 893. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich Ansätze der Sozial- und Kulturgeschichte gegenseitig ergänzen können und nicht prinzipiell ausschließen. Vgl. hierzu Teuchert, Gemeinschaft, 28 f.

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rend für das deutsche Asylregime.111 Auch die Ansprache der Aufnahmegesellschaft ist von Interesse: Welche Werthaltungen und Solidaritäten wurden angeführt, um für die Aufnahme und Anerkennung von Flüchtlingen zu werben? Analysiert werden verwendete Legitimationsmuster und Topoi, um mögliche Wechsel zwischen christlichen, konfessionellen, nationalen und humanitären Begründungsformen analysieren zu können. Auch die Argumentation protestantischer Akteure mit direkten Bezügen auf religiöse Autoritäten vor dem Kontext des gesellschaftlichen Wandels der Bundesrepublik wird dabei beachtet. Neben der Beurteilung von Fluchtmotiven werden als argumentative Sonderform zudem Flüchtlingsfiguren im Sinne der kulturwissenschaftlichen Stereotypenforschung untersucht. Die Darstellungen geflüchteter Menschen in Debattenbeiträgen werden rekonstruiert, um die Beteiligung protestantischer Akteure an der Konstruktion und Dekonstruktion von Stereotypen aufzuzeigen. Der dritte Schwerpunkt liegt auf der Positionierung in der Öffentlichkeit, der Einflussnahme auf politische Entscheidungsprozesse und der Selbstverortung des Protestantismus gegenüber Staat und Aufnahmegesellschaft. Dabei muss eine zeithistorische Arbeit die reichhaltige politikwissenschaftliche Forschung zur Einflussnahme und Interessenvertretung112 der Kirchen zur Kenntnis nehmen.113 Vielfach wird darauf verwiesen, dass die Themen Migration und Flüchtlingshilfe in der kirchlichen Interessenvertretung einen großen Stellenwert einnehmen.114 Anhand der Legitimierung kirchlicher und diakonischer Debatteninterventionen lässt sich nach dem Wandel des Selbstverständnisses des Protestantismus und seinem Agieren im demokratischen Rechtsstaat fragen. Die Selbstzuschreibungen und Identitätskonstruktionen gilt es zu analysieren und in der zeitlichen Entwicklung zu verorten. Protestantische Akteure und Akteursgruppen appellierten an die politischen Entscheidungsträger, leisteten praktische Hilfe und beanspruchten, die Interessen der Flüchtlinge gegenüber der Politik zu vertreten. Diese politische Interessenvertretung lässt sich anhand ihrer Formen, Kommunikationskanäle und Strategien analysieren. In allen untersuchten Zeiträumen finden sich Beispiele, in denen protestantische Akteure Kritik an der Verwaltung und Gesetzgebung übten. Darüber hinaus entwickelten sich neue Organisations- und Aktionsformen wie etwa die Rechtsberatungsstellen und Betreuungseinrichtungen des Diakonischen Werks. Weitere wichtige Beispiele sind das Verhältnis zu sozialen Bewegungen und Protestgruppen und die 111 Vgl. Schönwälder, Persons, 78. 112 In Anlehnung an Kristian Buchna und dessen historische Studie zur Arbeit der kirchlichen Verbindungsstellen in den 1950er Jahren wird hier der Begriff der Interessenvertretung der Bezeichnung Lobbyismus vorgezogen, da er stärker auf dauerhafte Beziehungspflege abzielt. Siehe hierzu Buchna, Jahrzehnt, 20–23. 113 Vgl. für einen Überblick: Liedhegener, Macht, 242–244; Pickel, Demokratie, 278–280. 114 Vgl. Holzhauer, Lobbyismus, 261. Mit Aktualitätsbezug zur Situation seit 2015: Henkel, Ratgeber; Fülling, Flüchtlingspolitik.

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Diskussion um das Kirchenasyl. Dabei kann die politikwissenschaftliche Forschung Anregungen liefern, etwa mit ihren Befunden zu den Handlungsund Erfolgsbedingungen der kirchlichen Einflussnahme115 sowie Kategoriendiskussionen über die Interessen. Antonius Liedhegener zufolge verfolgen religiöse Gemeinschaften in der politischen Arena drei verschiedene Arten des Interesses: Eigeninteresse116, advokatorische Politik für marginalisierte Gruppen und Adressierung gemeinwohlorientierter Ziele.117 Auch Mischformen sind denkbar und im Kontext der Asyl- und Flüchtlingspolitik gegeben.118 Die politikwissenschaftliche Forschung ignoriert jedoch den historischen Entstehungskontext von Positionen119 und erschließt anders als ein geschichtswissenschaftlicher Zugang nur unzureichend Selbstdeutungen und Legitimationsstrategien der Interessenvertretung.120 Ihre Ergebnisse können aber hilfreich bei der Klärung von Begrifflichkeiten seien, da sich in der Flüchtlingspolitik advokatorisches Politikverständnis und institutionelle Eigeninteressen miteinander verbinden können. Die Studie verortet sich zwischen Fragestellungen der historischen Migrationsforschung und der kirchlichen Zeitgeschichte und folgt daher einem methodenpluralistischen Ansatz. Durch den engen Bezug zur Geschichte des bundesdeutschen Asylregimes ergeben sich zwangsläufig auch Überschneidungen mit der Politikgeschichte. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen aber nicht Migrationsbewegungen oder die Migranten selbst, sondern der gesellschaftliche Aushandlungsprozess über Fluchtmigration und deren Klassifizierung. Dafür wird hermeneutisch gearbeitet und auf Ansätze der Kulturgeschichte sowie der historischen Semantik zurückgegriffen.121 Die Untersuchung befasst sich primär mit sprachlicher Vermittlung und Deutung 115 Vgl. Liedhegener / Thieme, Verstehen, 690. 116 Vgl. hierzu Traunmüller, Preaching, 677. Die Kategorie Eigeninteresse im Sinne der institutionellen Selbsterhaltung der Kirchen wird auch in der zeithistorischen Forschung als Faktor diskutiert. Die Historikerin Hedwig Richter greift etwa bei der Beschreibung der Entwicklung des ÖRK in den 1970er Jahren auf die in der Politikwissenschaft und Soziologie verwendete Theorie des Neoinstitutionalismus zurück, die davon ausgeht, dass Institutionen primär nach Legitimation gegenüber ihrer Umwelt streben, indem sie Mythen der gesellschaftlichen Umwelt übernehmen. Richter erklärt die Übernahme von „linken“ oder „Dritte-Welt-Themen“ durch den ÖRK als Anpassungsversuch einer religiösen Institution an das sich säkularisierende Umfeld (vgl. Richter, Protestantismus). 117 Vgl. Liedhegener, Macht, 250 f. 118 Vgl. Willems, Kirchen, 322. 119 Exemplarisch sei auf eine politikwissenschaftliche Arbeit von Daniel Thieme und Antonius Liedhegener verwiesen, die Positionen der Denkschriften der EKD im politischen Spektrum auf der Rechts-Links-Skala einordnen. Genese und Kontext werden bei der Untersuchung dezidiert ausgespart. Thieme/Liedhegener, Linksaußen, 242–244. Kritisch zur Aussagekraft dieses methodischen Ansatzes aus politikwissenschaftlicher Sicht: Traunmüller, Preaching, 674. 120 Vgl. Thieme / Liedhegener, Linksaußen, 247. 121 Zur Grundlegung und Verortung dieser Ansätze in der zeitgeschichtlichen Forschung vgl. Landwehr, Kulturgeschichte; Kollmeier, Begriffsgeschichte.

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und folgt der Grundannahme der Diskursanalyse, dass Wirklichkeit diskursiv produziert wird.122 Erkenntnisgewinn verspricht dieser Zugang vor allem für die rechtlich-administrative Kategorie „politische Flucht“ und die dahinter stehenden Deutungskämpfe um den Begriff des Politischen. Hierbei teilt die Untersuchung die Prämisse der Kulturgeschichte des Politischen, dass es keine vorgegebenen Rahmenbedingungen des politischen Handelns gibt, sondern diese erst durch kommunikatives und soziales Handeln entstehen.123 In der historischen Betrachtung der protestantischen Debattenbeiträge über den Zeitverlauf von vier Jahrzehnten lassen sich Bedeutungsverschiebungen und Kontinuitäten bestimmten. Die Untersuchung will sich jedoch nicht allein mit der Geschichte von Diskursen oder Begriffen, sondern mit einer gesellschaftlichen Debatte befassen. Als Debatte versteht die Arbeit konflikthafte Aushandlungsprozesse um eine Sachfrage.124 Dabei wird davon ausgegangen, dass die jeweiligen Ansätze sich trotz ihrer sich teils widersprechenden theoretischen Prämissen gegenseitig bei der Deutung historischer Entwicklungen ergänzen können. An diesem komplementären methodischen Zugang orientiert sich auch das zugrundeliegende Verständnis des titelgebenden Debattenbegriffs. Die Analyse der Debatte soll sich nicht allein in der Analyse von strukturierenden Diskursen erschöpfen, sondern auch die debattenrelevanten Personen und Institutionen in den jeweiligen konkreten Kommunikationszusammenhängen beleuchten. Die Debatte um die Aufnahme und Anerkennung von Flüchtlingen in der Bundesrepublik soll daher als Ineinandergreifen von Diskursen, Akteuren und institutionellen Rahmenbedingungen untersucht werden.

1.4 Begriffsreflexionen Mehrere für die Arbeit zentrale Begrifflichkeiten bedürfen einer theoretischen Reflexion. Im Folgenden wird sowohl der Umgang mit Quellenbegriffen als

122 Grundlegend hierzu: Landwehr, Diskursanalyse, 25–54; Sarasin, Geschichtswissenschaft, 32 f. 123 Der Sammelbegriff „Kulturgeschichte des Politischen“ oder „Neue Politikgeschichte“ umfasst zahlreiche methodische, epochale und inhaltliche Herangehensweisen, denen ein akteurszentrierter und konstruktivistischer Begriff des Politischen zugrunde liegt. Die Ansätze wurden unter anderem im Bielefelder DFG-Sonderforschungsbereich „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“ erprobt. Vgl. dazu Frevert, Politikgeschichte; Mergel, Überlegungen, 593 f. 124 Der Debattenbegriff beschreibt eng gefasst eine „sprachliche Auseinandersetzung, die auf einem antagonischen Grundschema beruht“ (Schild, Art. Debatte, 413) und kann auf sehr unterschiedliche Kommunikationssettings wie ein parlamentarisches Plenum angewandt werden. Das hier zugrunde gelegte Verständnis ist weit gefasst. Debatte dient dabei als Sammelbegriff für die Austragung gesellschaftlich-politischer Konflikte.

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auch die Verwendung von analytischen Termini näher bestimmt. Das betrifft insbesondere den Protestantismus- und den Flüchtlingsbegriff. 1.4.1 Protestantismus Die Arbeit verwendet dezidiert den Begriff Protestantismus und nimmt damit für sich in Anspruch, einen Zugang zu wählen, der über die verfassten evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik hinausgeht.125 Zwar wäre es denkbar, auch nur einzelne prominente evangelische Persönlichkeiten, Landeskirchen, christliche Aktionsgruppen oder bestimmte EKD-Gremien zu untersuchen. Für die Untersuchung eines sich über einen langen Zeitraum ziehenden Aushandlungsprozesses bedarf es aber eines darüberhinausgehenden Ansatzes. Im Anschluss an Felix Teuchert wird Protestantismus als ein Kommunikationszusammenhang verstanden, der auf die evangelische Kirche bezogen ist und eigene Deutungsmuster und Themen transportiert und kommuniziert.126 Im Kontext dieser Arbeit handelt es sich demnach um einen Kommunikationsraum, in dem die Frage nach der Aufnahme und Anerkennung von politischen Flüchtlingen und dem richtigen christlichen Handeln in der Asylfrage ausgehandelt wurde. Die Untersuchung konzentriert sich daher auf individuelle und überindividuelle protestantische Akteure in unterschiedlichen Beziehungsgraden zur Amtskirche.127 Von Interesse sind aber auch die eigenen Deutungsmuster des Protestantismus im Kontext der Flüchtlingspolitik. Deren Untersuchung kann einen Erkenntnismehrwert im Vergleich zu anderen nichtstaatlichen Akteuren des Migrationsregimes erbringen. Religiöse Akteure verstehen ihren Einsatz für Geflüchtete häufig als eine Glaubenspraxis, da Migration und Exilerfahrung in den Ursprungserzählungen der drei monotheistischen Weltreligionen eine wichtige Rolle einnehmen.128 Durch normative Lesarten ihrer Traditionen können Religionsgemeinschaften daher auf bestimmte Deutungsangebote und Motivationen zurückgreifen. Im Fall des Christentums gilt das beispielsweise besonders für verschiedene neutestamentliche Stellen sowie die aus dem Judentum übernommene Exoduserzählung.129 Diese zumeist in der Theologie erzeugten „eigenen, kulturellen und tradierten Muster der Welt- und Schicksalsdeutung“130 können ebenfalls als grundlegend für die inhaltliche Bestimmung des 125 Mit diesen Überlegungen knüpft die Arbeit an die Diskussionen um den Protestantismusbegriff der DFG-Forschergruppe 1765 an. 126 Vgl. Teuchert, Gemeinschaft, 50 f. 127 Vgl. ebd., 48 f. 128 Vgl. Hollenbach, Religion, 449; Rethmann, Stellungnahmen, 191 f. Umfassend dargestellt werden die biblischen Topoi zu Flucht und Migration aus einer protestantischen Perspektive bei Claussen, Buch. 129 Vgl. Hollenbach, Religion, 450 f.; Claussen, Buch, 109–114 und 182–188. 130 Teuchert, Gemeinschaft, 50.

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Protestantismusbegriff gelten. Der weitgefasste Protestantismusbegriff lässt sich mit den Überlegungen der historischen Migrationsforschung verbinden. Verstärkt wird ein differenzierter Blick auf die institutionellen Akteure des Migrationsregimes eingefordert. Patrice Poutrus betont, dass die schematisierte Gegenüberstellung einer „Minderheit von aktivistischen Humanisten […] und einer großen Koalition von National- und Obrigkeitsstaatsvertretern“131 nicht zielführend für die Erschließung der bundesrepublikanischen Asyldebatte sein könne und verweist dabei exemplarisch auf das heterogene Meinungsspektrum innerhalb der politischen Parteien. Auch Jochen Oltmer warnt vor einer Pauschalisierung institutioneller Akteure. Sowohl der Staat als auch die Wirtschaft oder die Verwaltung bestünden selbst wieder aus einer Vielzahl von Einzel- und Kollektivakteuren mit abweichenden Konzepten und Interessen.132 Diesen Befunden soll die Untersuchung mit Blick auf den Protestantismus Rechnung tragen. Anstelle einer vereinfachten Einordnung der evangelischen Kirche in die Reihe der eine offene Asylpolitik befürwortenden Organisationen können mithilfe des Protestantismusbegriffs die internen Aushandlungsprozesse über das Verhältnis nationaler Interessen, christlicher Ethik und universeller Menschenrechte analysiert werden. 1.4.2 Religiöse und säkulare Argumentation Wie lässt sich die protestantische Argumentation in der Asyldebatte analysieren? Der Topos-Begriff erscheint als geeignet, um eine Analyse von Argumentationsformen vorzunehmen und wiederkehrende Redeweisen und Aussagen herauszuarbeiten. Derartige argumentationsanalytische Methoden sind vielfach am Beispiel von Migrationsdiskursen erprobt worden.133 Der Begriff Topos soll im Sinne der antiken Rhetoriktheorie als Fundort der Argumente und damit als verdichtetes Argumentationsmuster verstanden werden.134 Martin Wengeler betreibt etwa Diskursanalyse anhand des Toposbegriffs durch die „Herausarbeitung wiederkehrender und quantitativ dominierender Argumentationsmuster“135. Wengeler versteht religiöse Bezüge in seiner Auswertung als Autoritäts-Topoi und führt das beispielhaft an einem Zei131 Poutrus, Umkämpftes Asyl, 101. 132 Vgl. Oltmer, Migration aushandeln, 248. 133 Ein einflussreiches Beispiel ist die Studie „Topos und Diskurs“ des Germanisten Martin Wengeler: Wengeler, Topos. Ähnlich geht auch der Historiker Tycho Walaardt in seinen Arbeiten zur Geschichte des Asyldiskurses in den Niederlanden vor, wenngleich er hierbei auf den aus der Medienwirkungsforschung entlehnten Begriff des Frames zurückgreift. Vgl. Walaardt, New Refugees, 81–89; Ders., Good old days, 280–282. Weitere Ansätze zur Analyse von Argumenten in Asyldiskursen werden diskutiert bei Niehr, Streit, 217–234; Scholz, Migrationspolitik, 222–225. 134 Allgemein zum Topos-Begriff aus rhetoriktheoretischer Sicht: Wagner, Art. Topik. 135 Wengeler, Topos, 339.

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tungsartikel aus, in dem ein evangelischer Kirchenpräsident die Bibel anführt um eine Verpflichtung zur freundlichen Aufnahme von Fremden in der Bundesrepublik zu begründen.136 Für eine auf den Protestantismus ausgerichtete Untersuchung kann diese Einteilung nicht ausreichen. Daher bedarf es jenseits des Topos-Begriffs eines präziseren Rasters für die Untersuchung der religiösen Argumentationsmuster und entsprechender Abgrenzungsmerkmale für Grenzfälle. Das theologisch und politikwissenschaftlich aufgestellte Autorenkollektiv um Judith Könemann unterscheidet in seiner Studie über die mediale Interessensvermittlung der Kirchen explizit religiöse und theologische Argumente von ethisch-moralischen, sozialethischen und gesellschaftspolitischen Argumenten sowie religiösen Markern.137 Als religiöses Argument verstehen sie direkte Bezüge auf religiöse Autoritäten und Normen.138 In diese Kategorie fallen für die christlichen Asylunterstützer beispielsweise Referenzen auf einschlägige Bibelstellen.139 Zwar wird nicht ausgeschlossen, dass sozialethische oder ethisch-moralische Argumente religiös begründet oder motiviert sein können, diese werden aber aufgrund ihrer Anschlussfähigkeit und Übersetzbarkeit in säkulare Kontexte von religiösen Argumenten abgegrenzt.140 Als religiöser Marker wird die Rahmung als religiös-kirchliche Positionierung mithilfe rhetorischer Figuren verstanden. Könemann versteht darunter „Begriffe und Kategorien, welche auf symbolischer, personeller oder struktureller Ebene eine Assoziation mit Religiosität hervorrufen“141. Dieser Unterscheidung von religiöser und säkularer Argumentation wird in der Untersuchung begrifflich gefolgt, um die Abgrenzung zu gesellschaftspolitischer, historischer oder juristischer Argumentation nicht zu verwischen. Damit ist die Frage nach etwaigen Graubereichen nicht erledigt. Eine historische Untersuchung verfügt im Gegensatz zu vielen sozialwissenschaftlichen Ansätzen über die Möglichkeit, sich mit etwaigen semantischen Aufladungen von Begriffen und Argumenten auseinanderzusetzen und diese im zeitlichen Verlauf nachzuvollziehen. Prädestinierte Beispiele dafür wären in der Debatte über die Frage, wer als „echter“ Flüchtling zu gelten habe, etwa der deutungsoffene Menschenwürde- oder der Gewissensbegriff.

136 137 138 139 140 141

Vgl. ebd., 337. Vgl. Könemann et. al., Interessenvertretung, 196–198. Vgl. ebd. 196. Vgl. Steiner, Arguing, 145. Vgl. Könemann et. al., Interessenvertretung, 197. Ebd., 198. Als Beispiele dafür werden Einleitungen wie „wir Christen“ oder „die Bischöfe“ genannt.

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1.4.3 Flüchtling Kernbestandteil der Arbeit ist der Quellenbegriff „Flüchtling“. Die recht umfangreiche Literatur zur Flüchtlingsdefinition hat bereits die Entstehung der Kategorie im Kontext der Durchsetzung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert sowie deren verstärkte völkerrechtliche Kodifizierung in Folge der massenhaften Fluchtbewegungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts rekonstruieren können.142 Die Soziologie interessiert sich etwa für den Flüchtlingsbegriff, weil sie in ihm ein zentrales gesellschaftliches Ordnungsmuster erkennt.143 Aus ihrer Sicht dient die Kategorie „Flüchtling“ dazu, Ursachen und Gründe für Migration rechtlich-politisch auf eine Teilgruppe festzuschreiben.144 In der administrativen Funktion begründet die Kategorie etwa die Unterscheidung von legitimen und illegitimen Gründen für Migration.145 Damit befasste Arbeiten aus Kultur- und Sozialwissenschaften verstehen es konsensual als ihre Aufgabe, den Wandel der Kategorie und ihrer Kriterien zu untersuchen und die Konstruktion der rechtlichen Differenzierung zu hinterfragen.146 Der Geschichtswissenschaft kommt dabei im Gegensatz zu der Vielzahl von sozial- und kulturwissenschaftlichen Studien mit Gegenwartsbezug die Aufgabe zu, den Verlauf über längere Zeiträume zu beleuchten.147 Die gemeinsame Prämisse der historischen Forschung zum Flüchtlingsbegriff wird daher mit prägnanten Formeln wie „Labels have consequences“148 oder „Why definitions matter“149 zusammengefasst. Was aus Perspektive der historischen Semantik vielleicht wie eine Banalität erscheint, ist aufgrund interner Diskussionen der Flucht- und Flüchtlingsforschung insofern nachvollziehbar, weil bestimmte theoretische Ansätze die Verwendung des Begriffs von vornherein als untauglich zurückweisen. Auch die Geschichte dieser Problematisierung reicht weiter zurück. Entsprechende Kritik am Flüchtlingsbegriff aus der Betroffenenperspektive findet sich bereits in dem viel rezipierten Essay „We Refugees“ von Hannah Arendt.150 Die jüngere kritische Grenz- und Migrationsforschung lehnt die Bezeichnung etwa unter anderem mit dem Vorwurf ab, sie schreibe von vornherein die staatlich142 Einschlägig hierfür: Noiriel, Tyrannei (19. Jahrhundert); Gatrell, Making (20. Jahrhundert). Oltmer, Europäische Migrationsverhältnisse, 26; Ther, Außenseiter (epochenübergreifend). 143 Vgl. Scherr / Scherschel, Flüchtling, 64. 144 Vgl. ebd. 145 Vgl. Scherr / Inan, Flüchtlinge, 131. 146 Vgl. ebd., 132; Goebel, Talkshows, 69–73. 147 Vgl. Elie, Histories, 28 f. Grundlegend wird der Beitrag der Geschichtswissenschaft zur Flüchtlingsforschung in einem Beitrag von Peter Gatrell im „Journal of Refugee Studies“ umrissen: Gatrell, What’s wrong. 148 Gatrell, Making, 284. 149 Zolberg et. al., Escape, 3. 150 Vgl. Arendt, Wir Flüchtlinge, 9 f.

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hegemoniale Perspektive fest und sei aufgrund der Semantik des Suffix „-ling“ pejorativ oder verniedlichend.151 Bisweilen scheint auch ein normativ geprägter Ansatz durch, der etwa einen anderen Flüchtlingsbegriff durchsetzen möchte, wie wenn etwa konstatiert wird, dass die Kriterien der Unterscheidung von Flüchtlingen und Migranten „keineswegs Ergebnis einer logischen Ableitung aus universalistischen moralischen Prinzipien“152 seien, sondern Ergebnis von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen. Eine historische Arbeit kann diese Kritik zwar zur Kenntnis nehmen und ihre Annahmen empirisch überprüfen. Sie kommt jedoch nicht darum herum, Quellenbegriffe wie DDR-Flüchtling oder Asylbewerber trotz ihrer uneinheitlichen Verwendung zu nutzen und Distanz zu materiellen oder normativen Definitionen zu halten. Zwar ließe sich die Geschichte des Begriffs auch als Entwicklung hin zu einer stärkeren menschenrechtlichen Universalisierung des Flüchtlingsschutzes schreiben. Zu groß wäre jedoch die Gefahr eines vorgreifenden Anachronismus oder einer falschen Teleologie.153 Die Arbeit zielt vielmehr darauf ab, die semantischen Verschiebungen aus dem Quellenmaterial heraus zu rekonstruieren und kann es nicht vermeiden, die historischen Begriffe Flüchtling oder Asylbewerber im Sinne der geltenden Gesetze oder zeitgenössischen Diskurse zu nutzen. Im Kontext der Diskussionen der neueren Flüchtlingsforschung mag das als Defizit erscheinen, jedoch wird von der Arbeit kein Anspruch erhoben, Aussagen über die Selbstbezeichnung von migrantischen Organisationen oder die Richtigkeit der getroffenen Zuschreibungen zu den jeweiligen Migrantengruppen zu treffen. 1.4.4 Flüchtlingsfigur / Flüchtlingsstereotyp Als eine spezielle argumentative Ausformung sollen zudem diskursiv konstruierte Figuren des Flüchtlings untersucht werden. Negativstereotype wie die des „Asylbetrügers“ oder „Wirtschaftsflüchtlings“ nahmen in den Asyldebatten der 1980er Jahre einen großen Stellenwert ein.154 Diese Figur lässt sich bereits im Kontext der Aufnahme von Flüchtlingen aus der Sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise der DDR beobachten.155 Unterstützergruppen, darunter auch Akteure des Protestantismus, versuchten in Reaktion darauf positive Darstellungen zu generieren und öffentlich zu verbreiten. Entsprechend ist der Asyldiskurs von einer Vielzahl miteinander konkurrie151 Einen kompakten Überblick über normative Kritik des Flüchtlingsbegriffs und die aktuelle Diskussion in der deutschsprachigen Forschung bietet Kleist, Flucht- und Flüchtlingsforschung, 7 f. 152 Scherr / Scherschel, Flüchtling, 65. 153 Vgl. Elie, Histories, 29. 154 Vgl. Bade, Europa, 373; zum Missbrauchs-Topos vgl. Wengeler, Topos, 313 f. 155 Vgl. Ackermann, Politische Flüchtlinge, 78; Wolff, Migrationsverhältnisse, 786 f.; Hoffrichter / Schiessl, Tor, 335 f.

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render Figuren bevölkert. Die Soziologin Katharina Inhetveen beschreibt diese Gemengelage in einem Essay mit der Metapher des Karussells: „Der Flüchtling erscheint als eine Gruppe von Figuren, als ein Figurenkarussell. An ihm drehen all die am Flüchtling interessierten Akteure. Je nachdem, wessen Auslegung des Konzepts gerade obenauf ist, und je nachdem, aus welcher Perspektive man auf das Karussell schaut, kommt eine andere Figur in den Blick. Der Flüchtling erscheint mal als hilfsbedürftiges Opfer oder als betrügender Schmarotzer, mal als illegaler Einwanderer oder als politisch mobilisierbare Ressource, als tüchtiger Selfmademan oder als getarnter Bürgerkriegsakteur […].“156

Auch hier bietet die soziologische Diskussion zur Analyse der Figuren eine Vielzahl von Anregungen. Die Darstellungen würden wahlweise die „höchsten Ideale oder die schlimmsten Alpträume einer Gesellschaft“157 personifizieren, so wie beispielsweise die politischen Exilanten des Kalten Krieges für das Ideal des mutigen Individuums im Kampf gegen den Totalitarismus gestanden hätten. Zygmunt Bauman nimmt an, dass Flüchtlinge als Boten der Globalisierung gesehen werden und ihnen daher Ablehnung entgegenschlage.158 Heidrun Friese erkennt in den Projektionen von Aktivisten wiederum die Hoffnung darauf, dass die Fremden der westlichen Gesellschaft eine neue gesellschaftliche Ordnung brächten.159 Das Feld der Projektionen und Imaginationen kann dementsprechend weit gesteckt sein. In der Flüchtlingsforschung sind bereits mehrere Schemata entwickelt worden, die der besseren Unterscheidung der Figuren und ihrer Entwicklung dienen sollen. Der Migrationsforscher Aristide Zolberg hat in einer Analyse der Migrationsgeschichte der Nachkriegszeit drei verschiedene Typen unterschieden. Als den ursprünglichen Typus sieht er „the activist“. Diese Kategorie bezeichnet individuell verfolgte Personen aufgrund von Taten gegen politische oder staatliche Ordnung. Auch der Asylrechtsabsatz des Grundgesetzes beruht auf diesem Konzept. Als weitere Kategorie nennt Zolberg „the target“, die Flucht aufgrund von Verfolgung ohne eigenes Zutun, meist aufgrund einer Gruppenzugehörigkeit, eines „öffentlich diskreditierten Gruppenmerkmals“160 beschreibt. Die dritte Figur „the victim“ steht hingegen für nicht intendierte Opfer eines Konflikts, wie beispielsweise Bürgerkriegsflüchtlinge.161 Diese Einteilung ist vereinfachend, bietet aber eine erste Orientierung über die Entwicklung. Die Verschiebungen des Begriffs des „politischen“

156 Inhetveen, Flüchtling, 148. 157 Pupavac, Refugee Advocacy, 274. Im englischen Original: „society’s highest ideals or worst demons.“ 158 Vgl. Bauman, Angst, 21 f. 159 Vgl. Friese, Flüchtlinge, 70 f. Zur aktuellen Diskussion in der politischen Theorie über den Flüchtlingsbegriff vgl. Schulze Wessel, Grenzfiguren. 160 Wong, Fremdheitsfiguren, 207 im Rückgriff auf Zolberg et. al., Escape, 30 f. und 269. 161 Vgl. Zolberg et. al., Escape, 30 f. und 269.

Begriffsreflexionen

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Flüchtlings und seiner Motive lässt sich auch als Ausweitung des Begriffs des Politischen erzählen. Die kulturwissenschaftliche Stereotypenforschung versteht es als ihre Aufgabe, „historisch, kulturell und rechtlich verankerte typisierte Bilder“162 zu analysieren. Sie geht dabei von der Prämisse aus, dass Stereotype Auskunft über die Identität der Gruppe geben, die sie sich zu eigen macht.163 HansHennig Hahn und Eva Hahn zufolge zeichnen sie sich durch einen generalisierenden und apriorischen Charakter und einen hohen Emotionsbezug aus.164 Sie verstehen Stereotype als verallgemeinernde Werturteile über Menschengruppen, die von der eigenen Erfahrung unabhängig sind und als nicht falsifizierbar gelten.165 Zudem sehen sie im Stereotyp „eine Art Wegweiser […] zu dem Träger bzw. Benutzer des Stereotyps, zu dessen aktueller Befindlichkeit“166 und deuten es damit als zentral für die Identitätskonstruktion. Michael Imhof unterstreicht diese Bedeutung, indem er Stereotype als Kollektivsymbole bezeichnet, die Diskurse miteinander verbinden können und so die Konstruktion einer Gruppenidentität gegen andere ermöglichen.167 Diese Annahme gilt besonders für Flüchtlingsstereotype, die als „Fremdheitsfiguren“168 fungieren und damit Wahrnehmungsmuster und Konzeptualisierungen von Fremdheit bündeln. Flüchtlingsstereotype werden daher sowohl als „Figuren der sozialen Imagination […], die von mobilen Menschen gezeichnet werden“169 und als „sozialweltliche Typisierungen des Flüchtlings, also die Deutungsmuster, mit denen ,der Flüchtling‘ interpretiert wird“170 definiert. Was in der kulturwissenschaftlichen Theorie abstrakt verhandelt wird, tritt empirisch zumeist in drei Darstellungsvarianten auf: Bedrohung, Heroisierung und Viktimisierung.171 Im Falle des Protestantismus sind vor allem Darstellungen wie die beiden letzteren von Relevanz. Im Gegensatz zu den verbreiteten Negativstereotypen gibt es hierzu weniger explizite Forschungsarbeiten.172 Der Zusammenhang zwischen beiden wurde jedoch schon mehrfach konstatiert. Bereits in den frühen 1990er Jahren bemerkte Ursula Münch in ihrer Dissertation, dass Darstellungen positiv konnotierter Flüchtlingsgruppen im gesellschaftlichen Diskurs auf die Gegenüberstellung mit dem Negativstereotyp des asylmissbrauchenden Migranten angewiesen 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172

Inhetveen, Flüchtling, 149. Vgl. Hahn / Hahn, Stereotypen, 24–28. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 22. Ebd., 27. Vgl. Imhof, Stereotypen, 68 f. Wong, Fremdheitsfiguren, 405. Friese, Flüchtlinge, 25. Inhetveen, Flüchtling, 149. Vgl. Friese, Flüchtlinge. Vgl. Pupavac, Refugee Advocacy, 271.

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seien.173 Der im Englischen verwendete Begriff „counter-stereotype“174 verdeutlicht diese Beziehung besser als der in der deutschen Sprache gängigere Begriff Positivstereotyp. Die wenigen bisherigen Forschungsarbeiten haben diesen Zusammenhang kritisch im Horizont der Ansprüche der neuen Flüchtlingsforschung reflektiert. Positive Darstellungen werden demnach in der Gegenwart vor allem von den professionellen Mitarbeitenden der Menschenrechtsschutzorganisationen oder Hilfseinrichtungen produziert, die als Vertretung der Interessen einer marginalisierten Gruppe agieren.175 In der Auseinandersetzung mit den restriktiven Kategorien des staatlichen Asylregimes präsentieren sie Figuren, die Sympathie und Empathie erzeugen und die Gegenseite als inhuman erscheinen lassen sollen.176 Als typische Strategie westlicher Flüchtlingsunterstützer gilt etwa die Personalisierung mithilfe narrativer und emotionaler Ausschmückung von Einzelschicksalen.177 Die Konsequenz dessen sei die durchgehende Viktimisierung, die Migranten vor allem als schutzbedürftige und passive Objekte westlicher Hilfe präsentiere.178 Dieser normativ unterfütterten Lesart schließt sich auch Peter Gatrell in seinen historischen Arbeiten zum Flüchtlingsschutz in den 1950er Jahren an. Zwar hätte es auch die Gegenvariante des heroischen und individuell verfolgten Flüchtlings gegeben, darüber hinaus seien Flüchtlinge jedoch ausschließlich zu Objekten von humanitärem Mitgefühl und praktischer Hilfeleistung ohne eigene Handlungsmacht stilisiert worden.179 Ab den 1980er Jahren standen sich zunehmend die Kriminalisierung von illegaler Einwanderung und die Viktimisierung innerhalb der Flüchtlingsfiguren gegenüber.180 Auch das Gegenteil der Viktimisierung, die Heroisierung, lässt sich wiederum als Reproduktion der politischen Ideale der Aufnahmegesellschaft interpretieren. Während in den 1950er und 1960er Jahren das Idealbild des antikommunistischen Dissidenten romantisiert worden sei, würden in der Gegenwart aktivistische Gruppen Flüchtlinge zu antirassistischen und antikapitalistischen Kämpfern stilisieren.181 Für die Arbeit folgt daraus, dass die protestantischen Flüchtlingsfiguren auch auf ihre diskursive Funktion für Selbstlegitimation und Identität zu untersuchen sind. Anhand der Quellen lässt sich nachvollziehen, wie der Protestantismus zur Konstruktion und Dekonstruktion von Flüchtlingsste173 Vgl. Münch, Asylpolitik, 199. 174 Vgl. exemplarisch Pupavac, Refugee Advocacy, 285. 175 Vgl. Schrover / Moloney, Conclusion, 260; Pupavac, Refugee Advocacy, 270–272 und 281. Vanessa Pupavac sieht in diesen Darstellungen eine Legitimationsfunktion für die Arbeit von Hilfsorganisationen. 176 Vgl. Schrover / Moloney, Conclusion, 258. 177 Vgl. ebd., 258–260. 178 Vgl. ebd., 260. 179 Vgl. Gatrell, Putting Refugees, 20–22. 180 Vgl. Friedrichs, Milieus, 38. 181 Vgl. Pupavac, Refugee Advocacy, 274; Friese, Flüchtlinge, 70 f.

Begriffsreflexionen

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reotypen beitrug. Die Prägung eines protestantischen Flüchtlingsbildes ist aufgrund der religiösen und konfessionellen Bezüge von besonderem Interesse. Heidrun Friese schreibt, die religiöse Topik des Christentums ermögliche eine besondere Form der sozialen Imagination, mithilfe derer aus Fremden hilfsbedürftige Schutzsuchende gemacht würden.182 Übertragen auf die Untersuchung wären sowohl religiös geprägte Formen der Viktimisierung als auch die Heroisierung von Glaubensflüchtlingen wie im Fall der geflohenen Mitglieder der Jungen Gemeinde in der DDR während der 1950er Jahre denkbar. Auch der Stellenwert der Religionszugehörigkeit ist dabei relevant. Tycho Walaardt hat am Beispiel einer Aufnahmeaktion in den Niederlanden für türkische Christen in den frühen 1980er Jahren herausgearbeitet, dass die Darstellung der Betroffenen als „rechtschaffenen und guten Christen“183 eine wichtige Funktion für die Produktion eines neuen Flüchtlingsstereotyps besaß. Die Untersuchung prüft, ob sich für die Bundesrepublik vergleichbare Befunde finden lassen. In Anknüpfung an die Diskussionen der Intersektionalitätstheorie lassen sich neben der Religion und Konfession auch Überschneidungen mit Kategorien wie Klasse, Alter oder Nationalität denken.184 Die Forschungsliteratur betont hierbei den Stellenwert der Kategorie Geschlecht. Bilder des Fremden seien entscheidend von der Geschlechterordnung abhängig. Während junge Männer als gefährliche Bedrohung oder wiederum als Heldenfigur gelten, würden Frauen und Kinder fast ausschließlich als Opfer präsentiert.185 Die Figur des heroischen Antikommunisten der 1950er Jahre war fast ausschließlich männlich.186 Marlou Schrover merkt zudem an, dass die Kategorie Geschlecht mit Religion und Klasse interagieren könnte, etwa wenn im Flüchtlingsdiskurs christliche Frauen als von männlichen Muslimen bedroht dargestellt würden.187 Beeinflusst von postkolonialen Perspektiven blickt ein Großteil der Forschungsarbeiten kritisch auf die Formen der Viktimisierung durch die Unterstützergruppen. Diese hätten mit der absolut gesetzten Opferperspektive Flüchtlinge zu Objekten von Mitgefühl und ihrer Hilfsarbeit stilisiert.188 Die Darstellung der Handlungsmacht und Aktionsspielräume der Betroffenen würde dagegen ausgelassen, politische Tätigkeit und Artikulation somit unterbunden.189 In der Arbeit wird diese Problematik bei der Analyse 182 Vgl. Friese, Flüchtlinge, 47 f. 183 Vgl. Walaardt, Heroes, 1214. Im englischen Original: „honest and good Christians“. Die Quellenbasis der Studie besteht aus Briefen von Aktionsgruppen an das niederländische Justizministerium. 184 Vgl. Schrover / Moloney, Conclusion, 255. 185 Vgl. Friese, Flüchtlinge, 31; Walaardt, Heroes, 1208; Pupavac, Refugee Advocacy, 286 f. 186 Vgl. Walaardt, New Refugees, 96 f. 187 Vgl. Schrover / Moloney, Conclusion, 255. 188 Vgl. Gatrell, Putting Refugees, 21 f.; Schrover / Moloney, Conclusion, 260; Walaardt, Heroes, 1214 f. 189 Vgl. Peter Gatrells Fazit zum internationalen Weltflüchtlingsjahr Gatrell, Free World, 248 f.

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Einleitung

der Flüchtlingsfiguren aufgegriffen.190 Protestantische Akteure waren darin bestrebt, Negativstereotype durch positive Gegendarstellungen zu widerlegen. Anhand der Quellen lassen sich die sprachlich erzeugten Stereotype und Deutungen herausarbeiten.191 Auf Grundlage der Ergebnisse lässt sich diskutieren, ob der Protestantismus zum einen eigene Flüchtlingsfiguren und zum anderen neue, idealisierende Stereotype produzierte.

1.5 Untersuchungszeitraum Mit dem Zeitraum 1949 bis 1990 nimmt die Untersuchung die Phase von der Gründung der Bundesrepublik bis zum Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung in den Fokus. Die gewählte Struktur der Studie mit den beiden Übergängen 1973 und 1980 korrespondiert weitestgehend mit den in der historischen Migrationsforschung zur Bundesrepublik gängigen Einteilungen.192 Die Einschreibung des Asylrechts für politisch Verfolgte ins Grundgesetz bildet zwar ebenfalls einen entscheidenden Ausgangspunkt für die später folgenden gesellschaftlichen Diskussionen, ist hier jedoch aufgrund des geringen Einflusses der evangelischen Kirche auf den Parlamentarischen Rat und die dortigen Diskussionen über das Asylrecht vernachlässigbar.193 Die Darstellung setzt daher mit der Debatte um die von den Zeitgenossen als Krise wahrgenommene Situation der DDR-Flüchtlinge in West-Berlin kurz nach Gründung der Bundesrepublik ein. Die Einbeziehung der Diskussion über die DDR-Flüchtlinge in den Untersuchungsrahmen ist begründungsbedürftig, da es sich hierbei um ein mit den späteren Fallstudien nur teilweise vergleichbares Migrationsphänomen handelte. Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur selben Nation war die Gruppe der DDR-Flüchtlinge rechtlich gänzlich anders gestellt als spätere Asylbewerber.194 Entscheidend für die umfangreiche Ge190 Hierbei ist zu unterstreichen, dass es sich dabei um analytische Aussagen und keine normativen oder gar moralischen Wertungen über die geleistete Arbeit und die Motive entsprechender Helfergruppen oder Einzelpersonen handelt. 191 Aufgrund der unterschiedlich ausgeprägten Verfügbarkeit von Bildquellen in den unterschiedlichen Teilen der Untersuchung werden diese nur ergänzend zur Unterstützung der Textquellen herangezogen. Daher wird keine eigenständige Untersuchung der bildlichen Repräsentationen im Sinne von Ansätzen der „Visual History“ vorgenommen. Zur Differenzierung von Text- und Bildebene im Kontext des Migrationsdiskurses vgl. Friedrichs, Milieus, 32. 192 Vgl. die Gliederungen bei Poutrus, Umkämpftes Asyl, 17 f.; Wolken, Grundrecht, 17 f. und 30 f. Vergleichbare Zäsurensetzungen finden sich auch bei Gatrell, Unsettling; Bade, Europa, 360 f. 193 Vgl. hierzu die Urteile bisheriger Forschungsarbeiten zum Einfluss der christlichen Kirchen auf den Verfassungsdiskussionen 1948/49: Buchna, Jahrzehnt, 145–211; Anselm, Verchristlichung. 194 Vgl. die Diskussion zur Vergleichsproblematik bei Ther, Außenseiter, 244; Bispinck, Motive, 65.

Untersuchungszeitraum

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wichtung dieses Fallbeispiels ist die Überlegung, dass es sich hierbei jedoch um die erste umfassende gesellschaftliche Auseinandersetzung über den Flüchtlingsbegriff und die Kategorisierung von Fluchtgründen in der Bundesrepublik handelte.195 Der zeitgenössische Diskurs war bereits erheblich von Bedrohungsszenarien und Belastungsrhetoriken bis hin zur Metapher von der Bundesrepublik als überfülltem Boot geprägt.196 Ebenfalls thematisiert innerhalb des Kapitels werden die ausländischen Flüchtlinge des Kalten Krieges, wie etwa nach dem Ungarn-Aufstand von 1956. Der sich anschließende Schwerpunkt liegt auf den 1970er und 1980er Jahren, in der sich der Kontext vom Gegensatzpaar Ost-West-Konflikt hin zur Kategorie Nord-Süd verschob und die Asylthematik die Arbeitsmigration als zentrale Frage der bundesdeutschen Migrationsdebatte ablöste.197 Die 1980er Jahre bildeten den vorläufigen Höhepunkt protestantischer Debattenbeiträge angesichts einer grundsätzlichen Infragestellung des Asylrechts von Seiten der Politik. Die Arbeit endet mit dem Doppeljahr 1989/90. Diese zeitliche Begrenzung beruht einerseits auf der Fokussierung auf den westdeutschen Kontext. Außerdem stellte die Überschneidung einer neuen Fluchtbewegung von DDR-Bürgern mit den Asyldebatten der 1980er Jahre im Jahr des Mauerfalls einen Kulminationspunkt für die in der Arbeit untersuchten Entwicklungslinien dar.198 Für den Protestantismus bedeutete diese Überschneidung die Herausforderung, sich erneut in der Debatte um die Kategorisierung und Hierarchisierung von Flüchtlingen positionieren und mit Solidaritätskonkurrenzen umgehen zu müssen. Viele der Entwicklungslinien fanden jedoch erst nach der deutschen Einheit unter gewandelten Rahmenbedingungen ihren vorläufigen Abschluss. Der „Asylkompromiss“ von 1992/93 markierte eine Zäsur in der Geschichte der deutschen Asylpraxis.199 Die Untersuchung kann diesen Zeitabschnitt daher nicht ignorieren und muss den Zeitraum bis 1993 trotz der Ausrichtung auf den westdeutschen Kontext einbeziehen. Wenngleich sich die Quellenlage für diese Phase aufgrund noch bestehender archivalischer Sperrfristen problematisch gestaltet, lassen sich die grundlegenden Konfliktlinien und Entwicklungen anhand der Presseberichterstattung sowie der verfügbaren „grauen“ Literatur rekonstruieren. Dabei bleiben interne Abläufe, beispielsweise in den Gremien der EKD, aber unzugänglich. Das abschließende Kapitel dient daher dazu, die Entwicklung des Protestantismus, ausgehend von den Ergebnissen der Untersuchung, anhand von Thesen für weitere mögliche Forschungsarbeiten bis hin zum Jahr 1993 zu skizzieren. 195 Vgl. hierfür die Überlegungen von Lauren Stokes: Stokes, Crisis, 26 f. Stokes bezieht sich dabei umfangreich auf die Ergebnisse der Studie von Volker Ackermann: Ackermann, Flüchtling. Ähnlich argumentiert Philipp Ther: Ther, Außenseiter, 244. 196 Vgl. Stokes, Crisis, 27. 197 Vgl. Wolken, Grundrecht, 379. 198 Vgl. Möhring, Mobilität, 396. 199 Vgl. Steiner, Arguing, 145; Poutrus, Umkämpftes Asyl, 13.

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1.6 Quellenauswahl Die Quellenbasis der Arbeit setzt sich aus verschiedenen veröffentlichten und archivalischen Quellen zusammen. Die Auswahl konzentriert sich auf innerprotestantische Kommunikationszusammenhänge sowie gesellschaftliche Reaktionen auf protestantische Positionierungen und Debattenbeiträge. Zuerst ist die Presseauswertung zu nennen. Besonders die konfessionelle Publizistik bildet einen wichtigen Ausgangspunkt für die Recherche. Systematisch ausgewertet wurde die Berichterstattung der Zentralausgabe und der Dokumentationsreihe des Evangelischen Pressedienstes. An protestantischen Medien weiterhin in die Quellenauswahl miteinbezogen wurden das „Sonntagsblatt“ beziehungsweise dessen Nachfolger, das „Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt“, als bundesweit vertriebene evangelische Wochenzeitung sowie die „Lutherischen Monatshefte“ und die „Evangelischen Kommentare“ als wichtigen Debattenforen der evangelischen Publizistik. Für den Kontext der 1950er Jahre wurde zudem die evangelische Vertriebenenzeitschrift „Der Remter. Blätter für ostdeutsche Besinnung“ untersucht. Besonders die konfessionellen Zeitungen und Zeitschriften bieten die Möglichkeit, zentrale Wahrnehmungsmuster, Argumentationsfiguren und Flüchtlingsfiguren herauszuarbeiten. Ergänzend wurde zudem die Berichterstattung über protestantische Akteure im Kontext von Flucht und Asyl in der nichtkirchlichen Presse ausgewertet, zumeist anhand von Presseausschnittsammlungen sowie systematischen Durchsichten für relevante Zeitabschnitte der Untersuchung. Einbezogen wurden die „Süddeutsche Zeitung“, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, das Magazin „Der Spiegel“ sowie aufgrund des lokalen Schwerpunkts auf West-Berlin der „Tagesspiegel“. Bei der Untersuchung bestimmter Fallkontexte wurden auch Parteimedien wie der SPD-Pressedienst oder die CSU-Parteizeitung „Bayernkurier“ durchgesehen. Den zweiten und zentralen Pfeiler des Quellenfundus bildet die archivalische Überlieferung. In Archiven wurden Protokolle, Schriftverkehr, Manuskripte und Aktenvermerke untersucht. Den umfangreichsten Bestandteil dabei nehmen die reichhaltigen Überlieferungen der kirchlichen Archive ein, die Dokumente protestantischer Institutionen und Einzelpersonen verwahren. Im Evangelischen Zentralarchiv wurden systematisch die verfügbaren Überlieferungen der Kirchenkanzlei beziehungsweise des Kirchenamts der EKD zu Fragen der Flüchtlingsarbeit und den entsprechenden Gremien, Beauftragten und Arbeitsreferaten ausgewertet.200 Ebenfalls untersucht wurden die Bestände des Bevollmächtigten der EKD, der als institutionelle politische 200 Teilweise reichten die zur Verfügung stehenden Überlieferungen des Evangelischen Zentralarchivs nur bis in den Zeitraum 1986 bis 1988. Für die Rekonstruktion von Abläufen ab diesem Zeitraum wurde daher verstärkt auf öffentlich zugängliche Quellen wie die Meldungen des Evangelischen Pressedienstes zurückgegriffen.

Quellenauswahl

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Interessenvertretung für die offizielle Ansprache von Regierung, Ministerien und Abgeordneten zuständig ist. Hinzu kommen die im Evangelischen Zentralarchiv verwahrten Bestände des Deutschen Evangelischen Kirchentags sowie ausgewählte Personenbestände wie der Nachlass des Theologen Helmut Gollwitzer oder die Handakten des „Flüchtlingsbischofs“ Reinhard Wester. Berücksichtigt wurden zudem die vom Kirchenamt edierten Protokolle der EKD-Synode. Um die rekonstruierten Prozesse und Abläufe auf der EKDEbene aus der Perspektive der Gliedkirchen vervollständigen zu können, wurde ergänzend in zwei landeskirchlichen Archiven recherchiert. Zum einen aufgrund des in allen Untersuchungszeiträumen relevanten regionalen Fokus auf West-Berlin im Evangelischen Landeskirchlichen Archiv Berlin, zum anderen im Landeskirchlichen Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern in Nürnberg. Die bayerische Landeskirche bietet aufgrund der restriktiven Flüchtlingspolitik des Freistaats Bayern eine interessante Ergänzung der sonstigen Archivalienauswahl, vor allem aber handelt es sich bei der zur Landeskirche gehörigen Evangelischen Akademie Tutzing um ein wichtiges Forum für die Flüchtlingshilfebewegung der 1980er Jahre. Da im Kontext der Flüchtlingsarbeit die Diakonie als evangelischer Wohlfahrtsverband eine wichtige Funktion innehat, wurden auch Bestände des Archivs für Diakonie und Entwicklung in Berlin herangezogen. Dort wurden die verfügbaren Unterlagen der je nach Zeitabschnitt für Flüchtlingshilfe zuständigen Referate der Hauptgeschäftsstelle des Diakonischen Werks ausgewertet. Für den Zeitraum der 1980er Jahre konnten dabei nur die bisher erschlossenen Bestände des Diakonie-Präsidialbüros ausgewertet werden. Zur Vervollständigung wurde die Parallelüberlieferung in staatlichen Archiven gesichtet, um die Interaktionen zwischen protestantischen Akteuren und staatlichen Stellen ausleuchten zu können. Im Bundesarchiv in Koblenz wurden die einsehbaren Bestände der zuständigen Bundesministerien ausgewertet, insbesondere die des Bundesministeriums des Innern. Ergänzend wurden themenbezogene Akten des Bundeskanzleramtes sowie des Rechts- und des Innenausschusses im Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestags einbezogen. Daran anknüpfend wurden auch Plenarprotokolle von entscheidenden Bundestagdebatten nach Referenzen zu kirchlichen Positionen in der Flüchtlingspolitik durchsucht. Aufgrund der besonderen internationalen Komponente der im zweiten Kapitel untersuchten Aufnahme von Chile-Flüchtlinge wurden zudem auch Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes eingesehen. Den dritten und kleinsten Bestandteil der Quellengrundlage bilden zeitgenössische Texte in Form von Aufsätzen oder Memoiren, in denen die Akteure ihre Bewertungen und Erinnerungen wiedergeben. Darunter fallen beispielsweise retrospektive Reflexionstexte von Akteuren, etwa aus dem Kontext der Kirchenasylbewegung, Selbstdarstellungen der Arbeit der Diakonie in Festschriften und Jahresberichten oder die Memoiren des Pfarrers Helmut Frenz. Auf Zeitzeugeninterviews wurde hingegen verzichtet. Einerseits hätten Gespräche ein Ungleichgewicht zwischen den einzelnen zeitlichen

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Abschnitten der Arbeit bewirken können. Vor allem aber hätten Gespräche mit Zeitzeugen retrospektive Bewertungen reproduziert, die mit weitaus geringerem zeitlichem Abstand zu den Ereignissen bereits in schriftlicher Form vorliegen. Viele Protagonisten der Asylhelfergruppen zogen beispielswiese unter dem Eindruck der 1990er Jahre vorläufige Bilanzen ihrer Tätigkeit.201 Dazu kommt eine gewisse Anzahl von sogenannter grauer Literatur, deren Bedeutung vor allem mit der wichtiger werdenden Rolle von sozialen Bewegungen und lose organisierten Aktionsgruppen ab den 1970er Jahren zunimmt. Teilweise wird sie in Archiven gesondert gesammelt oder lässt sich bibliothekarisch beziehen. Zwar sammeln Archive zunehmend auch Bestände von Verbänden oder sozialen Bewegungen. Für die bereits archivalisch übernommenen Bestände von exponierten Flüchtlingshilfegruppen gilt jedoch, dass die Überlieferungen nur selten in die Formierungszeit der 1980er zurückgreift.202 Im Rahmen dieser Arbeit fallen vor allem Tagungsprotokolle und Publikationen der evangelischen Akademien unter die Kategorie der grauen Literatur.

201 Exemplarisch für die Kirchenasylbewegung ein Text aus dem Jahr 1993, in dem unter anderem die Vorgeschichte bilanziert wird: Just, Konflikt. 202 Das Münchner Stadtarchiv verwahrt beispielsweise die Überlieferung des Bayerischen Flüchtlingsrats, dessen Gründung auf eine Tagung in der Evangelischen Akademie Tutzing im Jahr 1986 zurückgeht. Die archivalisch übernommenen Bestände erfassen jedoch erst den Zeitraum ab den 1990er Jahren. Nach Auskunft des Archivs ist die Überlieferung aus der Formierungszeit der Organisation verloren gegangen. Eine umfangreichere archivalische Überlieferung zu den frühen Jahren von „Pro Asyl“ ist hingegen im Bestand „Gossner Mission“ des ELAB enthalten.

2. Debatten um Flüchtlinge des Kalten Krieges (1949 bis 1973) 2.1 Flüchtlinge aus der SBZ/DDR in den 1950er und den frühen 1960er Jahren Die deutsch-deutsche Migrationsbewegung steht wie die anderen in diesem Zeitraum untersuchten Fallgruppen im Kontext des Kalten Krieges, wenngleich es wichtige Unterschiede zu den untersuchten Gruppen ausländischer Flüchtlinge gab. Die Besonderheiten der Flüchtlingsaufnahme in der Bundesrepublik der beiden Nachkriegsjahrzehnten liegen in der nationalen Legitimation zur Aufnahme von innerdeutschen Flüchtlingen.1 Dennoch war die Solidarität der Gesellschaft mit den Zuwanderern nicht selbstverständlich. Der Diskurs über die innerdeutsche Wanderung war vor allem zu Beginn von Bedrohungsszenarien und Misstrauen geprägt. Die bundesdeutsche Aufnahmepolitik verfolgte das Ziel einer Eindämmung und Abschreckung weiterer Zuwanderung aus dem zweiten deutschen Staat.2 Die anhaltende Abwanderung aus Ostdeutschland entwickelte sich in den 1950er Jahren zu einem komplexen Problem für die bundesrepublikanische Politik. Die Unterbringung und Versorgung der Zuwanderer stellte parallel zum Wiederaufbau und der Integration der Vertriebenen eine weitere sozialpolitische Herausforderung für die junge Bundesrepublik dar.3 Die Furcht vor einer sozialen und finanziellen Überlastung sowie vor möglichen Konkurrenzen mit der Gruppe der Vertriebenen prägten die Politik gegenüber der Zuwanderung aus der DDR.4 Auch nationalpolitische Gesichtspunkte waren mitausschlaggebend. Führende Politiker äußerten während der Beratungen des Notaufnahmegesetzes die Sorge, Ostdeutschland würde durch anhaltenden Fortzug von Deutschen „entvölkert“ und somit den Sowjets preisgegeben. Besonders in den unmittelbaren Nachkriegsjahren zeigte sich hier eine Kontinuität völkischen Denkens.5 Zudem stellte die Abwanderung aus der DDR die Frage nach der Realisierbarkeit der deutschen Wiedervereinigung. Die Bundesregierung befürchtete, eine offene Aufnahme von Ostdeutschen in die Bundesrepublik 1 Vgl. Ther, Außenseiter, 283. 2 Vgl. ebd., 242–244. 3 Helge Heidemeyer sieht die Aufnahme der DDR-Flüchtlinge als wesentlichen Bestandteil der sozialen „Gründungskrise“ der frühen Bundesrepublik. Vgl. Heidemeyer, Flucht, 15. Der Begriff stammt von Hans Günther Hockerts: Hockerts, Sozialstaat, 23. 4 Vgl. Heidemeyer, Flucht, 290. 5 Vgl. Ackermann, Flüchtling, 98 f. sowie Hoffmann, Illegale, 133.

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könne als politische Absage an eine rasche Wiedervereinigung Deutschlands interpretiert werden und zugleich die Opposition innerhalb der DDR schwächen.6 Dieses Geflecht nur schwer aufzulösender Widersprüche und Interessen formte ein Migrationsregime mit erheblicher juristischer und administrativer Komplexität.7 Die Bundesregierung verfolgte dabei einen restriktiven Kurs. Die Strategie bestand zu Beginn der 1950er Jahre in der Abwehr weiterer innerdeutscher Zuwanderung. Aus verfassungsrechtlichen Gründen konnte Deutschen aus der DDR der Zuzug nach Westdeutschland allerdings nicht pauschal verwehrt werden.8 DDR-Bürger genossen die grundgesetzlich garantierte Freizügigkeit im Bundesgebiet und fielen als deutsche Staatsangehörige nicht unter das Asylrecht, wenngleich in zeitgenössischen Debattenbeiträgen nicht immer begrifflich unterschieden wurde.9 Bisweilen sprechen daher auch historische Arbeiten mit Vorbehalt von einem Asylverfahren für DDR-Flüchtlinge.10 Im Jahr 1950 wurde mit dem Notaufnahmegesetz ein Anerkennungsverfahren etabliert und somit die juristische Grundlage für die normative Unterscheidung der Zuwanderer aus der DDR geschaffen.11 Mit unterschiedlichen Regulierungsmaßnahmen versuchte der westdeutsche Staat, die Zuwanderung einzudämmen. Die Kategorisierung nach dem Ausmaß politischer Verfolgung etablierte die Unterscheidung zwischen „falschen“ und „echten“ Flüchtlingen.12 Zuwanderer aus der SBZ beziehungsweise der DDR wurden verdächtigt, nicht aus politischen, sondern aus ökonomischen Gründen in die Bundesrepublik zu kommen. Die Unterscheidung von „echten“ Flüchtlingen und Wirtschaftsflüchtlingen wurde somit prägend für die Politik der Bundesregierung. Auch nachdem 1953 im Bundesvertriebenengesetz der Begriff des „Sowjetzonenflüchtling“ festgeschrieben worden war, rangen Ministerien, Parteien und Verbände weiterhin um die Definitionshoheit.13 Volker Ackermann beschreibt die öffentlich geführte Auseinandersetzung um den Aufnahmeanspruch und den rechtlichen Status der Zuwanderer als Aushandlungsprozess um die Definition des Politischen.14 Seiner Ansicht nach habe der Systemkonflikt zwingend zu einer Politisierung des Flücht6 Vgl. Ritter, Sturmflut, 34 f. 7 Ute Daniel kommt zu dem Fazit, das Verfahren sei finanziell und bürokratisch aufwendig sowie schwer zu legitimieren gewesen. Siehe: Daniel, Brüder, 337. 8 Das Bundesverfassungsgericht unterstrich die Geltung des Freizügigkeitsartikels des Grundgesetzes für Deutsche aus der DDR in seinem Urteil im Mai 1953. Das Gericht bestätigte zwar die Verfassungskonformität des Notaufnahmegesetzes, mahnte aber an, dass Zuwanderern mit einer ausreichenden Lebensgrundlage die Aufnahme nicht verweigert werden dürfe (BVerfGE 2, 266). Zur flüchtlingspolitischen Bedeutung des Urteils siehe: Heidemeyer, Flucht, 164–167. 9 Vgl. Steinbach, Asylrecht, 214 f.; Ackermann, Missbrauch. 10 So beispielsweise Rüfner, Ausgleich, 720. 11 Vgl. Wolff, Migrationsverhältnisse, 789. 12 Grundlegend siehe: Ackermann, Flüchtling; Cooper, Immigration, 88 f. 13 Vgl. Heidemeyer, Flucht, 28–34. 14 Vgl. Ackermann, Flüchtling, 13.

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lingsbegriffes geführt.15 Die Auseinandersetzung um die Kategorisierung und die Beurteilung politischer Fluchtgründe entzündete sich zumeist an juristischen Fragen innerhalb der parlamentarischen Verfahren zum Erlass oder der Änderung von Gesetzen. Diese Dominanz der Rechtsthemen in der Debatte war strukturell durch die zentralen Institutionen des Migrationsregimes bedingt. Federführend zuständig auf Bundesebene waren das Vertriebenenministerium und das Justizressort.16 Das Bundesnotaufnahmegesetz entstand im Rückgriff auf entsprechende Vorschriften in den westlichen Besatzungszonen. Es etablierte ein Aufnahmeverfahren für Deutsche aus der DDR in das Bundesgebiet, die wegen einer „drohenden Gefahr für Leib und Leben, die persönliche Freiheit oder aus sonstigen zwingenden Gründen“ [i] Ostdeutschland hatten verlassen müssen.17 Zur Prüfung der Fluchtgründe wurden Ausschüsse eingerichtet, die unter der Hinzuziehung von zusätzlichen Gutachten über den Aufnahmeantrag entschieden.18 Seine Auswirkungen blieben aber umstritten. Insbesondere in Berlin, das nach der Abriegelung der innerdeutschen Grenze im Jahr 1952 den letzten verbleibenden Weg für DDR-Bürger nach Westdeutschland darstellte, spitzte sich die Situation zu.19 Abgelehnte Antragsteller wurden weder in die DDR zurückgeschickt noch auf die Bundesländer verteilt. Große Teile dieser umgangssprachlich sogenannten Illegalen verblieben in West-Berlin. Aufgrund des für sie geltenden Arbeitsverbots und der angespannten Versorgungslage innerhalb der Stadt stieg der Druck auf die Bundespolitik.20 Als eine Folge dieser sozialen Krise und dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Freizügigkeit im Jahr darauf wurden die Aufnahmepraxis und die Verteilung auf die Bundesländer angepasst.21 Ab Mitte der 1950er Jahre wurde die Aufnahmepraxis großzügiger, die Ablehnungsquote im Notaufnahmeverfahren sank deutlich.22 Während die Ablehnungsquote 1950 noch über 60 Prozent betragen hatte, sank sie in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre in den einstelligen Bereich.23 In der Folge rückte vermehrt das Bundesvertriebenengesetz in den Fokus, in dem die Begriffe des „Vertriebenen“ oder „Sowjetzo15 Ebd. 16 Zum Vertriebenenministerium vgl. grundlegend Beer, Symbolische Politik. Nach Ansicht von Frank Wolff sah das Ministerium für gesamtdeutsche Fragen keine Relevanz der Migrationsbewegung für seine politischen Ziele und überließ das Thema anderen Ressorts. Daher wurde der Themenkomplex DDR-Flucht innenpolitisch eher als „Verwaltungsproblem“ denn als „politisches Kapital“ gesehen. Siehe: Wolff, Migrationsverhältnisse, 789. Allgemein zum gesamtdeutschen Ministerium: Creuzberger, Kampf. 17 BGBl. Teil I, Nr. 36 vom 26. 8. 1950, 367 f. 18 Für eine ausführliche Darstellung des Notaufnahmeverfahrens in den Aufnahmelagern siehe: Kimmel, DDR-Flüchtlinge, 17–25. 19 Vgl. Heidemeyer, Flucht, 133–146. 20 Vgl. ebd., 146 f. 21 Vgl. ebd., 190 f. 22 Vgl. Rüfner, Ausgleich, 719 f. 23 Vgl. ebd., 721 sowie Heidemeyer, Flucht, 190.

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Debatten um Flüchtlinge des Kalten Krieges (1949 bis 1973)

nenflüchtlings“ rechtlich definiert wurden.24 Während die Durchführung des Notaufnahmeverfahrens dem Bund oblag, waren die Verwaltungsbehörden der Länder für das Flüchtlingsausweisverfahren nach dem Vertriebenengesetz zuständig. Die staatlichen Stellen bestanden auf der formalen Trennung der Verfahren von Aufnahme und Anerkennung in Notaufnahme- und Flüchtlingsausweisverfahren.25 Die Definition des Gesetzes umfasste aber nur einen Teil der DDR-Zuwanderer, die Abgrenzung des Begriffs „Sowjetzonenflüchtling“ wurde daher im Laufe der 1950er Jahre zum Gegenstand der Auseinandersetzung in Parlament und Gesellschaft. Mehrere politische Vorstöße zielten auf eine Ausweitung des Flüchtlingsbegriffs ab.26 Aber auch jenseits des politisch-juristischen Feldes wurden die Bewertung und Kategorisierung der Zuwanderung aus dem anderen deutschen Staat verhandelt. Auch diverse nichtstaatliche Akteure wie die Medien und die Wissenschaft prägten als Bestandteil des westdeutschen Migrationsregimes Bilder vom „echten“ Flüchtling.27 Das folgende Teilkapitel untersucht die protestantische Beteiligung an der Debatte um die Aufnahme und den Flüchtlingsstatus von Zuwanderern aus der DDR. Für den deutschen Protestantismus stellte die Migrationsbewegung eine vielschichtige Herausforderung dar. Die besondere Relevanz für die evangelische Kirche war allein schon durch die konfessionelle Zugehörigkeit der Migranten gegeben. Zeitgenössischen Berechnungen zufolge waren circa 77 Prozent der Zuwanderer aus den einstigen protestantischen Kerngebieten in Mitteldeutschland evangelisch.28 Die Notwendigkeit sozialer und seelsorgerlicher Unterstützung stand deswegen für Kirchenvertreter außer Frage. Dennoch sah sich die EKD aufgrund ihres gesamtdeutschen Selbstverständnisses einer schwer lösbaren Interessenlage gegenüber, da sie auch die Auswirkungen auf die Herkunftsgebiete der Zuwanderer mitbedenken musste. Für die von der SED-Kirchenpolitik herausgeforderten ostdeutschen Landeskirchen bedeutete der anhaltende Mitgliederverlust eine zusätzliche Schwächung.29 Für die Untersuchung sind zuerst die Argumentationsformen im Kontext der Aushandlungsdebatten um den „echten“ Flüchtling innerhalb der 1950er Jahre von Interesse. Die Untersuchung beginnt dabei chronologisch mit der West-Berliner Krise in den frühen 1950er Jahren, während der sich die Institutionen der evangelischen Flüchtlingsarbeit als Debattenakteure etablierten. Im Anschluss daran werden vertieft die handlungsleitenden Flüchtlingsbilder des westdeutschen Protestantismus rekonstruiert. Der dritte Abschnitt untersucht die Einflussnahme protestantischer Akteure auf die Flüchtlingspolitik sowie deren Selbstverständnis und Legitimationsstrategien. 24 25 26 27 28 29

BGBl. Teil I, Nr. 22 vom 22. 5. 1953, 201 f. Vgl. Kimmel, DDR-Flüchtlinge, 25–29. Vgl. Heidemeyer, Flucht, 230. Vgl. Ackermann, Flüchtling, 17. Siehe die Zahlen aus einer Studie von 1959: Granicky, Zuwanderung, 493. Vgl. Lepp, Abwanderung, 97.

DDR-Flüchtlinge in den 1950er und den frühen 1960 Jahren

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2.1.1 Die Rechtsstellung der „Illegalen“ als Ausgangspunkt der Debatte Nach der Gründung der Bundesrepublik wurde auf Druck der Länder rasch ein Anlauf zur juristischen Regelung der Zuwanderung genommen.30 Als eine Fortentwicklung der in den Bundesländern der ehemaligen amerikanischen und britischen Besatzungszone geltenden Richtlinien sollte nun das Notaufnahmegesetz die Aufnahme in die Bundesrepublik regeln.31 Im Bundestag trafen in dieser Frage unversöhnliche Positionen aufeinander. Während ein Abgeordneter der nationalkonservativen Deutschen Partei unter Verwendung der Metapher vom übervollen und vom Sinken bedrohten Boot vor einem drohenden Untergang Westdeutschlands warnte, vertrat ein Sozialdemokrat die These, dass angesichts des Terrors in der Sowjetzone keine Unterscheidung zwischen politischen und unpolitischen Flüchtlingen mehr getroffen werden könne.32 Zu Beginn wurde die prinzipielle Notwendigkeit einer Kategorisierung nach individuellen Fluchtgründen innerhalb des Protestantismus nicht in Frage gestellt. Während des Gesetzgebungsverfahrens für das Notaufnahmeverfahren beschränkte sich die EKD darauf, die Streichung einer unbedeutenden Formulierung der Durchführungsverordnung durchzusetzen. Ein Referentenentwurf hatte die Kirchen explizit als mögliche Gutachter für die Aufnahmeausschüsse des Verfahrens vorgesehen.33 Die EKD-Spitze intervenierte daraufhin aus Sorge um negative Konsequenzen für die ostdeutschen Gliedkirchen und drängte beim Bundesrat erfolgreich auf die Streichung dieses Passus, der daraufhin nur noch einen breit gefassten Verweis auf sonstige Organisationen enthielt.34 Als gesamtdeutsche Kirchengemeinschaft bezog die EKD in der Frage der Notaufnahmegesetzgebung damit eine neutrale Position.35 Auch im evangelischen „Sonntagsblatt“ bejahte der Kommentator ausdrücklich die neue rechtliche Regelung und schloss sich durchgehend allen von der Bundesregierung angeführten Argumenten für eine Eindämmung des Zuzugs an. Auch auf die nationale Komponente wurde in der kirchlichen Presse rekurriert: Bundesrat und Bundestag müssten Forderungen nach einer Freizügigkeit für alle trotz bedauerlicher Einzelfälle zur Bewahrung eines deutschen Charakters des Ostens und dem Schutze der Allgemeinheit eine Absage erteilen.36 30 31 32 33 34

Detaillierte Darstellung bei: Hoffrichter, Heinrich Albertz, 389–394. Vgl. Detjen, Loch, 67–70. Vgl. Ackermann, Flüchtling, 96 f. Aktenvermerk der Kirchenkanzlei vom 9. 12. 1950 (EZA Berlin 2/4272). Schreiben von Otto Dibelius an den Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen und den Geschäftsführer des Flüchtlingsausschusses beim Bundesrat, 22. 12. 1950 (EZA Berlin 2/4272). 35 Zur gesamtdeutschen Komponente der EKD in den frühen 1950er Jahren vgl. Lepp, Tabu, 206 f. sowie Greschat, Protestantismus, 123 f. 36 Flüchtlinge vor unserer Tür. Das Problem der „Illegalen“ vor Bundesrat und Bundestag. In: Sonntagsblatt, 29. 1. 1950, 17.

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Debatten um Flüchtlinge des Kalten Krieges (1949 bis 1973)

Mit der Verabschiedung des Notaufnahmegesetzes waren die drängendsten Fragen der Aufnahme und Anerkennung von DDR-Flüchtlingen juristisch geregelt. Über die Auswirkungen des Gesetzes wurde weiter gestritten, auch wenn Bundesvertriebenenminister Hans Lukaschek die Etablierung des Notaufnahmeverfahrens als einen Erfolg wertete.37 Die Versorgung der Zuwanderer, die im Notaufnahmeverfahren keine Anerkennung erhalten oder gar nicht erst daran teilgenommen hatten, blieb ein ungelöstes Problem. Der staatliche Umgang mit dieser Gruppe, für die sich rasch in der Öffentlichkeit die Bezeichnung „Illegale“ etablierte, stellte Bund und Länder vor eine schwierige Situation. Einerseits war eine Legalisierung der Abgelehnten politisch nicht gewollt, da sie dem Prinzip der Abschreckung weiteren Zuzugs widersprochen hätte. Andererseits gab es vermehrt Befürchtungen, dass die „Illegalen“ sich ohne soziale und finanzielle Unterstützung zu einer inneren Gefahr entwickeln könnten.38 Entscheidend spitzte sich die Situation in Berlin während des Höhepunkts der Abwanderungsbewegung zwischen 1952 und 1953 zu. In der geteilten Stadt sammelte sich nach Schließung der Grenzen im Sommer 1952 der größte Teil der Abwanderungsbewegung.39 1953 kamen mehr als 95 Prozent der Menschen, die die DDR in Richtung Bundesrepublik verließen, über WestBerlin.40 Abgelehnte Zuwanderer wurden nicht abgeschoben, sondern verblieben zum größten Teil in der Stadt. Das Land Berlin erhielt keine Unterstützung des Bundes für ihre Versorgung, zudem wurden die Abgelehnten nicht in die Verteilung auf die Bundesländer miteinbezogen und nach Westdeutschland ausgeflogen.41 Die „Illegalen“ hatten keinen Anspruch auf Wohnraum und Rentenansprüche, zudem wurden ihnen zumeist Fürsorgeleistungen und Arbeitslosenunterstützung verweigert.42 Formal besaß diese Gruppe keine Aufenthaltserlaubnis in der Bundesrepublik. Die Situation in West-Berlin wurde dadurch verschärft, dass die Abgelehnten in der Stadt einem Arbeitsverbot unterlagen und ihr finanzielles Überleben häufig mit Schwarzarbeit sichern mussten.43 Angesichts der angespannten Wohnungssituation war eine Überbelegung der West-Berliner Aufnahmeeinrichtungen die sichtbarste Folge dieser Aufnahmepolitik.44 In Westdeutschland wurden die überbelegten Aufnahmelager in der weiterhin von Kriegsschäden gezeichneten Stadt zu einem vielbeschworenen Referenzpunkt von Appellen an die gesamtdeutsche Solidarität. West-Berlin stand bereits als zentrales Symbol für den Kalten Krieg und die deutsche Teilung. Auch in der kirchlichen Presse 37 38 39 40 41 42 43 44

Vgl. Heidemeyer, Flucht, 128 f. Vgl. ebd., 129–133. Vgl. ebd., 133 f. Vgl. Effner, Insel, 5 f. Vgl. Kimmel, DDR-Flüchtlinge, 61. Vgl. Daniel, Brüder, 343. Vgl. Köhler, Notaufnahme, 86. Vgl. Kimmel, DDR-Flüchtlinge, 60.

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wurde die Stadt zum Sinnbild des „gesamtdeutschen Schicksals“45 stilisiert. Eine Illustration im „Sonntagsblatt“ zeigte etwa einen kleinen Berliner Bären auf einer vom Wasser umspülten Insel, Auge in Auge mit einem übergroßen Bären mit Sowjetstern.46 Die Flüchtlingslager der symbolisch aufgeladenen Stadt waren aufgrund ihrer emotionalen Konnotation dafür prädestiniert, Presse und Politik als Bühne der Positionierung im Konflikt der Systeme zu dienen.47 Besonders prominent war das Notaufnahmelager im West-Berliner Vorort Marienfelde, das von bundesrepublikanischen Spitzenpolitikern als Plattform für die Inszenierung symbolischer Politik und als Bühne der Auseinandersetzung des Kalten Krieges genutzt wurde.48 Das Hilfswerk der EKD als treibender Akteur Das Berliner „Illegalenproblem“ markierte auch innerhalb des Protestantismus den Anfang einer Bewusstwerdung für die Situation der Flüchtlinge. Zu Beginn des Jahres 1952, noch vor der Abriegelung der innerdeutschen Grenze, hatte das Hilfswerk der EKD in einem Memorandum zur Berliner Situation Alarm geschlagen.49 Das in West-Berlin geltende Arbeitsverbot für Abgelehnte wurde für die fortsetzende Verschlechterung der sozialen Lage verantwortlich gemacht. Im Memorandum wurde insbesondere das Berliner Flüchtlingsgesetz von 1950 mit seinen Maßnahmen zur Anerkennung politischer Fluchtgründe scharf kritisiert und für die Entstehung von „sozialem Sprengstoff“ verantwortlich gemacht.50 Das etablierte Anerkennungsverfahren sei zudem weltfremd, da die Nachweise für einen politischen Fluchtgrund wie ein Haftbefehl nur schwer zu erbringen seien. Die Auswirkungen des Notaufnahmegesetzes wurden hingegen ambivalent eingeschätzt. Positiv wurde im Memorandum die Einführung einer Beschwerdeinstanz für Abgelehnte bewertet. Bereits zu Beginn der großen Abwanderungsbewegungen aus Ostdeutschland positionierte sich das Hilfswerk damit als Kritiker des staatlichen Aufnahmeregimes. Das Grundprinzip des Notaufnahmeverfahrens, Abwanderungsmotive zu kategorisieren und normativ zu bewerten, wurde zwar nicht zur Gänze in Frage gestellt, jedoch wegen seiner praktischen Folgen und der in Kauf zu nehmenden Härten kritisiert. Einerseits bemängelte das Hilfswerk die 45 46 47 48 49

Zweihunderttausend suchen die rettende Insel. In: Sonntagsblatt, 2. 4. 1952, 2. Jede Nacht klopft es an ihre Tür. In: Sonntagsblatt, 29. 2. 1953, 5. Ebd., 6. Vgl. Heidemeyer, Flüchtlingslager, 91. Das Flüchtlingsproblem in Berlin. Memorandum des Hilfswerks, o. D. [Februar 1952] (ELAB Berlin 1/872). 50 Ebd. Das Berliner Flüchtlingsgesetz galt in West-Berlin auch nach dem Inkrafttreten des Notaufnahmegesetzes weiter. Erst 1951 wurde West-Berlin durch eine Ergänzungsklausel in den Geltungsbereich des Notaufnahmegesetzes miteingeschlossen. Siehe: BGBl. Teil I, Nr. 35 vom 21. 7. 1951, 470.

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vom Gesetz getroffene Unterteilung von Fluchtgründen in „drohende Gefahr für Leib und Leben sowie für die persönliche Freiheit“ sowie „sonstige zwingende Gründe“. Wenn die Flucht als begründet anerkannt werden könne, so der Einwand des Hilfswerks, dann müssten die Flüchtlinge alle dieselben Rechte genießen. Andererseits verwies das Memorandum auf die Diversität der Zuwanderer und ihrer Motive und stellte die Notwendigkeit der Überprüfung von Fluchtgründen nicht in Abrede: Der Einschätzung des Memorandums nach wehrten die bestehenden Gesetze nur unzureichend Kriminelle und sogenannte Asoziale unter den DDR-Abwanderern ab, die sich verstärkt in Berlin sammeln würden.51 Das Hilfswerk entwickelte sich zur zentralen protestantischen Institution für den Themenkomplex DDR-Flüchtlinge und markierte diesen Anspruch gegenüber anderen evangelischen Hilfseinrichtungen. Auf einer Arbeitstagung zum Umgang mit der Flüchtlingssituation trafen im September 1952 Vertreter kirchlicher Einrichtungen und der Landeskirchen zusammen, um eine Bilanz der jüngsten Entwicklungen zu ziehen.52 Die Leitung des Hilfswerks präsentierte auf dieser Tagung eine flüchtlingspolitische Strategie. Als Verantwortlicher des Hilfswerks für Sozialpolitik kündigte Paul Collmer an, aufgrund der unklaren Rechtsentwicklung und der widersprüchlichen Verwaltungspraxis den Fokus auf die rechtlichen Fragen der Anerkennung von Flüchtlingen aus der sogenannten Ostzone richten zu wollen. Der Schwerpunkt sollte auf juristischen und sozialpolitischen Stellungnahmen liegen. Der als Experte hinzugezogene Jurist Heinrich von Schönberg analysierte auf der Tagung die Interessenlage und machte das Vertriebenenministerium als entscheidenden Verfechter einer restriktiven Auslegung der Aufnahmekriterien und somit als Verursacher der sozialen Notlage aus.53 Schönberg bemängelte die fehlende Belehrung der Betroffenen über die Rechtslage und die geringe Fürsorgeunterstützung, die staatliche Praxis bezeichnete er dabei als „ein grosses moralisches Unrecht“54 mit fatalen Folgen für die Flüchtlinge. Kurz darauf erhielt die Aktivität des Hilfswerks im Feld der innerdeutschen Migrationspolitik offizielle Legitimation durch die kirchliche Führungsebene. Vor dem Hintergrund der weiter ansteigenden Zahl von Menschen, die der DDR den Rücken kehrten, befasste sich die Synode der EKD mit der Situation der nicht anerkannten Zuwanderer.55 Bei ihrer Tagung in Elbingerode im Oktober 1952 verabschiedeten die Synodalen einen Beschluss, in dem das Hilfswerk zur Befassung mit dem Notstand aufgefordert wurde. Zudem wurde das Thema auf die Tagesordnung einer Besprechung der Synodalvertretung 51 Das Flüchtlingsproblem in Berlin. Memorandum des Hilfswerks, o. D. [Februar 1952] (ELAB Berlin 1/872). 52 Protokoll über die Arbeitstagung zur Frage der Ostzonenflüchtlinge am 19. 9. 1952 (ADW Berlin ZB 1203). 53 Ebd. 54 Ebd. 55 Vgl. Lepp, Abwanderung, 83.

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mit Bundeskanzler Konrad Adenauer gesetzt.56 Das Kirchenparlament hatte das Hilfswerk zwar formal nur gebeten, die rechtliche Situation der Abgelehnten zu klären, der Beschlusstext ließ aber Interpretationsspielräume für ein weitergehendes Handeln gegenüber der Bundespolitik offen. Den Beschluss begründete die Synode mit der Befürchtung, die nicht anerkannten Flüchtlinge könnten „der sozialen, wirtschaftlichen und moralischen Verelendung preisgegeben“57 und von Politik und Kirche vernachlässigt werden. Im Antragstext war zuvor die Bezeichnung „Ostzonenflüchtlinge“ gegen die deutschlandpolitisch neutralere Formulierung „Flüchtlinge aus der DDR“ getauscht worden.58 Bei dem anschließenden Gesprächstermin einer Delegation der EKD mit dem Bundeskanzler kam das Thema ebenfalls zur Sprache.59 Adenauer verwies die Kirchenvertreter dabei auf bereits geplante rechtliche Maßnahmen.60 Bereits die ersten offiziellen Positionierungen zu den sogenannten Illegalen verweisen auf unterschiedliche Konnotationen des Themenkomplexes Abwanderung aus der DDR. Die befürchtete Verelendung der abgelehnten Flüchtlinge diente als zentrale Begründung der eigenen Stellungnahme. Der mit der Migration verbundene soziale Umbruch sowie die befürchtete Zerstörung geregelter Lebenswelten in den Aufnahmelagern wurde unter dem Paradigma der Säkularisierungstheorie zumeist mit einer Entkirchlichung und dem Bedeutungsverlust der Religion gleichgesetzt.61 Die Aufnahme und Integration der Zuwanderer wurde als eine Bewährungsprobe für die protestantische Gemeinschaft gedeutet. Einerseits sahen sich die führenden Akteure aus ethisch-moralischen Gründen zur Hilfstätigkeit verpflichtet, andererseits auch aus akuter Furcht vor den Folgen einer anhaltenden Zuspitzung der sozialen Notlage. Zudem formierte sich eine grundsätzliche Kritik an der staatlichen Aufnahmepraxis, die besonders in den sich herausbildenden Abteilungen des Hilfswerks institutionalisiert wurde. Gleichzeitig stellte die deutsch-deutsche Migrationsbewegung die sich als gesamtdeutsch verstehende EKD vor politische wie innerkirchliche Herausforderungen. Dieser für den deutschen Protestantismus nur schwer aufzulösende Konflikt wurde besonders 1953 bei einer Veranstaltung des Deutschen Evangelischen Kirchentags deutlich.

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Schreiben von Heinrich Held an Gustav Heinemann, 3. 11. 1952 (EZA Berlin 4/80). Kirchenkanzlei, Elbingerode 1952, 242. Ebd., 267 f. Zur Beurteilung der Änderung des Antragstextes vgl. Lepp, Abwanderung, 83. Aktennotiz zum Vortrag bei Bundeskanzler Adenauer am 30. 10. 1952 in Bonn (EZA Berlin 4/ 80). 60 Schreiben von Heinrich Held an Gustav Heinemann, 3. 11. 1952 (EZA Berlin 4/80). 61 Vgl. hierzu: Teuchert, Gemeinschaft, 86 f.

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Die Kundgebung des Kirchentags zur Fluchtbewegung im März 1953 Als Bewegung evangelischer Laien war die Organisation Kirchentag mit ihrem volksmissionarischen und gesamtdeutschen Selbstverständnis ein geeignetes Forum für Appelle zur Flüchtlingsthematik. Der Kundgebung des Kirchentags im März 1953 war ein aufwendiger Abstimmungsprozess zwischen den staatlichen und kirchlichen Stellen vorangegangen.62 Ministerialvertreter hatten klare Anforderungen an die Veranstaltung formuliert und im Gegenzug dazu staatliche Fördergelder in Aussicht gestellt. Einerseits erwartete man sich eine Positionierung für die Flüchtlinge, andererseits einen klaren Appell zum Bleiben an weitere potentielle Abwanderer im Osten.63 Bedenken gegen die enge Kooperation mit der Bundesregierung aus dem Umfeld des Hilfswerks wurden von den Führungspersönlichkeiten des Kirchentags im Vorfeld zurückgewiesen.64 Die Veranstaltung in Essen fand außerhalb der regulären Tagungen des Kirchentags statt und war prominent mit den Spitzen des Staates besetzt. Neben dem Bundespräsidenten waren der Bundestagspräsident und der Bundesinnenminister als Gäste anwesend.65 Kirchentagspräsident Reinold von Thadden-Trieglaff griff in seiner Rede die Losung des vorherigen Kirchentags von 1951 „Wir sind doch Brüder“ auf und stelle seine rhetorischen Appelle zur Flüchtlingshilfe unter den Obergriff der Hilfe für Geschwister in Not.66 Durch die Benennung der Hilfsbedürftigen als Brüder konnte der Redner Thadden-Trieglaff einerseits an die christlichkonfessionelle wie die nationale Solidarität der Zuhörerschaft appellieren. Potentielle Abwanderer in Ostdeutschland wurden hingegen mit einem Appell an das religiöse Beharrungsvermögen zum Verbleib in ihrer Heimat aufgefordert. Zudem nahm sich die Ansprache gezielt Vorbehalte und Rivalitäten in der Bevölkerung vor und adressierte unterschiedliche Zielgruppen der westdeutschen Aufnahmegesellschaft. Mit der Autorität seiner eigenen Vertreibungserfahrung versprach der Kirchentagspräsident den Vertriebenen, sie würden nicht vergessen werden. An die alteingesessene Bevölkerung richtete sich der Aufruf zu supererogatorischem Handeln. Thadden-Trieglaff dankte der Bevölkerung einerseits für bereits geleistete Hilfe, forderte andererseits aber dazu auf, nicht die bereits geleisteten Hilfstätigkeiten aufzuzählen, sondern unnachlässig Hilfsbedürftige auch weiterhin zu unterstützen.67 Die Ansprache von Staatsoberhaupt Theodor Heuss gegen Ende der Kundgebung richtete sich darüber hinausgehend an „das Ohr der ökumenischen Chris62 63 64 65 66

Vgl. Lepp, Abwanderung, 84 f. Vgl. Palm, Brüder, 165. Vgl. ebd., 166 f. Vgl. Lepp, Abwanderung, 85. Kundgebung des Deutschen Evangelischen Kirchentags in Essen am 24. 3. 1953. In: Pöpping / Beier, Protokolle, Bd. 7, 204. 67 Ebd., 205.

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tenheit“68 und zeichnete mit dem Verweis auf die weltweite Situation ein globales Bild der Fluchtbewegungen. Der Bundespräsident forderte die Zuhörerschaft in seiner knapp gehaltenen Rede mit Verweis auf die christliche Nächstenliebe zur Flüchtlingshilfe auf und mahnte Unterstützung bei der Integration der Neuankömmlinge an.69 Die Rezeption der Veranstaltung innerhalb der evangelischen Kirchen und auch in der DDR war negativ und führte zu einem Ansehensverlust des Kirchentags. Kirchenfunktionäre und Kirchentagsvertreter aus beiden Teilen Deutschlands kritisierten die Regierungsnähe der Veranstaltung, während die staatlichen Stellen der DDR zugleich die Gelegenheit nutzen, um einen angeblichen Missbrauch des Kirchentags durch die aggressiven Mächte des Westens zu propagieren.70 In den Folgejahren verfolgte der Kirchentag die Strategie, sich nicht weiter angreifbar zu machen und vermied daher eine explizite Thematisierung der Fluchtbewegung. Noch gegen Ende der 1950er Jahre lehnte das Kirchentagspräsidium die Beteiligung an innerkirchlichen Initiativen zum Weltflüchtlingsjahr der Vereinten Nationen mit dem Verweis auf die Propaganda der SED und mögliche negative Folgen für die ostdeutschen Gliedkirchen ab.71 Angesichts der Rahmenbedingungen des Ost-WestKonflikts galt der Flüchtlingsbegriff für den gesamtdeutschen Kirchentag selbst im Kontext von Veranstaltungen ohne einen direkten Bezug auf Westeuropa und den Systemkonflikt weiterhin als zu aufgeladen. Die Auseinandersetzung um die Kirchentagskundgebung steht paradigmatisch für die Schwierigkeiten der Spitzenvertreter des Protestantismus, sich angesichts der deutschlandpolitischen Ausgangslage offen zur Aufnahme von Deutschen aus der DDR in die Bundesrepublik zu positionieren. Unter den kirchlichen Eliten und innerhalb der evangelischen Bevölkerung gab es keinen Konsens in dieser Frage. Auch das Verhältnis zur offiziellen Flüchtlingspolitik der Bundesregierung blieb ungeklärt. Diakonische Institutionen wie das Hilfswerk konnten dagegen unabhängiger von kirchenpolitischen Gesichtspunkten agieren und besaßen größere Freiräume. Versehen mit dem formalen Auftrag der Synode entwickelte sich das Hilfswerk der EKD mit seiner Abteilung in der Stuttgarter Hauptgeschäftsstelle zum entscheidenden Akteur des Protestantismus in Angelegenheiten der sogenannten Sowjetzonenflüchtlinge. Das Hilfswerk verstand sich als eine moderne Wohlfahrtsorganisation und grenzte sich von bisherigen Formen konfessioneller Hilfsarbeit wie den Verbänden der Inneren Mission ab.72 Als Leitbild der Organisation 68 69 70 71

Ebd., 210. Ebd., 210–212. Vgl. Palm, Brüder, 168 f. sowie Lepp, Abwanderung, 85. Schreiben von Kirchentagspräsident Thadden-Trieglaff an Reinhard Wester, 15. 6. 1959 (EZA Berlin 2/4307). 72 Vgl. Wischnath, Kirche. Aus sozialpolitischer Perspektive: Hammerschmidt, Wohlfahrtsverbände, 123–137. Eine kritische Beurteilung der Gründung und Konzeption des Hilfswerks findet sich bei: Sommer, Rechtswahrungsansprüche, 403–407.

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fungierte der Begriff der Selbsthilfe.73 In diesem Sinne versuchte die Leitung des Hilfswerks auch im Bereich der Hilfe für Flüchtlinge aus der DDR tätig zu werden. Die Rechtsberatungsstelle des Hilfswerks 1952 holte Paul Collmer den Juristen Heinrich von Schönberg offiziell in das Zentralbüro des Hilfswerks. Mitausschlaggebend für diese Entscheidung war neben dessen juristischer Ausbildung auch sein biographischer Hintergrund. Der Experte des Hilfswerks für Fragen des Flüchtlingsrechts entstammte einer sächsischen Adelsfamilie und hatte die sowjetische Zone nach der Enteignung von Familiengütern verlassen.74 Seine Mitarbeiter kamen zu großen Teilen ebenfalls aus dem Umfeld des mitteldeutschen Protestantismus.75 Schönberg übernahm die Leitung der neu geschaffenen Abteilung Sowjetzonenflüchtlinge und erweiterte sie im Folgejahr um eine eigene Rechtsberatungsstelle für Flüchtlinge.76 Die Rechtsberatung sollte seinem Verständnis nach den Klienten durch fachkundige und neutrale Auskünfte die Selbsthilfe ermöglichen und somit die Leitprinzipien des Hilfswerks in der Beratungspraxis umsetzen. Schönberg formulierte in diesem Sinne einen Leitsatz aus: Wer seine Rechte gegenüber dem Staat nicht kenne, sei auch nicht dazu in der Lage, sie einzufordern.77 Die diakoniegeschichtliche Literatur hat den Aufbau der Beratungsarbeit in der Retrospektive als eine Erfolgsgeschichte moderner Wohlfahrtsarbeit gezeichnet.78 Der Aufbau von Rechtsberatungseinrichtungen in den 1950ern Jahre stellte aber kein Alleinstellungsmerkmal der evangelischen Wohlfahrtsverbände dar. Die entsprechenden Fördergelder konnten beim Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen von Verbänden unterschiedlicher Ausrichtung beantragt werden.79 Das Ministerium zahlte zudem Druckkostenzuschüsse für entsprechende thematische Publikationen.80 Die Beratungsstelle des evangelischen Hilfswerks finanzierte sich zusätzlich durch Spenden befreundeter Kirchen aus dem angelsächsischen Ausland.81 Ihre 73 Zum Selbsthilfegedanken in der Vertriebenenarbeit des Hilfswerks siehe: Teuchert, Gemeinschaft, 145 f. sowie Connor, Churches, 50–54. 74 Nachruf auf Heinrich von Schönberg im Januar 1968 (ADW Berlin HGSt 6918). 75 Vgl. Schönberg, Bürokratismus, 52. 76 Aktenvermerk für Paul Collmer, 9. 7. 1953 (ADW Berlin ZB 1209). 77 Vermerk zum Referat Flüchtlinge aus Mitteldeutschland, o. D. [vermutlich 1959] (ADW Berlin HGSt 6917). 78 Vgl. Krimm, Beistand, 106. 79 Schreiben von Heinrich von Schönberg an den Bundestagsausschuss für gesamtdeutsche Fragen, 3. 10. 1952 (ADW Berlin ZB 1200). 80 Mitteilung des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen an das Hilfswerk der EKD, 30. 8. 1955 (BArch Koblenz B137/327). 81 Aktenvermerk Schönbergs vom 3. 12. 1954 (ADW Berlin ZB 1200).

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Arbeit begann offiziell im August 1953.82 Unter den protestantischen Hilfseinrichtungen kam Heinrich von Schönbergs Beratungsstelle aufgrund ihrer Positionierung ein Sonderstatus zu. Formal war die Beratungsstelle zwar als Einrichtung eines konfessionellen Verbands zu erkennen. Innerhalb des Migrationsregimes beanspruchte sie jedoch eine neutrale Position und betonte ihre Unabhängigkeit von Interessen der politischen Parteien und der Flüchtlingsverbände.83 Die vom Hilfswerk herausgegebenen Merkblätter für Abgewiesene, die in hohen Auflagen gedruckt und in den Aufnahmelagern verteilt wurden, erklärten die Möglichkeit des Widerspruchs gegen die Behördenentscheidungen und enthielten Hinweise zur Rechtshilfe.84 In Abgrenzung zu den Veröffentlichungen politischer Gruppen sollten sie formalistisch und sachlich gestaltet sein und sich ausschließlich auf die Wiedergabe juristischer und administrativer Abläufe und Vorschriften beschränken.85 Schönberg verstand die Beratungsarbeit als gezielte Unterstützung für die Gruppe der „Illegalen“, für die staatliche Beratungseinrichtungen nicht in Frage kamen. Die Beratung sollte ihnen die Möglichkeit eröffnen, sich unabhängig über alle sie betreffenden Rechtsfragen informieren zu können und sie damit in ihrer Position gegenüber den Aufnahmestellen zu stärken.86 Die eigene konfessionelle Ausrichtung des Hilfswerks wurde angesichts der Kirchenzugehörigkeit des Großteils der Zuwanderer nicht als parteiisch verstanden, wenngleich der Aufbau der Beratungsstelle intern auch als Abgrenzung und Konkurrenz zur Hilfsarbeit der katholischen Kirche bewertet wurde.87 Nach eigenen Angaben betreute die Rechtsberatungsstelle in der Zeit ihres Bestehens kostenlos mehrere Tausend Klienten.88 Den Ratsuchenden wurde zumeist postalisch eine Einschätzung ihrer persönlichen Rechtslage und Auskunft über Rechtsansprüche gegeben. Zudem fungierte die Beratungsstelle als zentrale Anlaufstelle für hauptamtliche Mitarbeiter der Flüchtlingsarbeit in und außerhalb der evangelischen Kirchen. Die von ihr regelmäßig herausgegebenen Informationsblätter waren deutschlandweit verbreitet.89 Im offiziellen Publikationsorgan der Beratungsstelle wurden ausschließlich Artikel zur aktuellen Gesetzeslage und neuesten Rechtsprechung in Fragen des 82 Aktenvermerk Schönbergs für Paul Collmer, Betreff: Beratungsstelle, 9. 7. 1953 (ADW Berlin ZB 1209). 83 Schreiben Heinrich von Schönbergs an den Süddeutschen Rundfunk, 28. 1. 1954 (ADW Berlin ZB 1210). 84 Merkblatt für Zuwanderer aus der sowjetischen Besatzungszone und dem Sowjet-Sektor von Berlin, denen die Notaufnahme versagt worden ist, 1953 (LAELKB Nürnberg IV/1–1/1). 85 Mitteilung Paul Collmers an die Gremien der EKD, 5. 11. 1952 (EZA Berlin 4/80). 86 Schreiben von Heinrich von Schönberg an den Bundestagsausschuss für gesamtdeutsche Fragen, 3. 10. 1952 (ADW Berlin ZB 1200). 87 Aktenvermerk Schönbergs für Kirchenrechtsrat Röntsch, 3. 12. 1954 (ADW Berlin ZB 1200). 88 Vgl. Schönberg, Bürokratismus, 51 f. 89 Vgl. Krimm, Beistand, 104.

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Sozial- und Flüchtlingsrechts abgedruckt.90 Daneben wurden regelmäßig Fallbeispiele aus der alltäglichen Beratungsarbeit der Einrichtung sowie die Adressdaten von Bundestagsabgeordneten mitaufgenommen. Die Arbeit mit den von der Rechtslage unmittelbar Betroffenen stellte den Leitungspersonen eine besondere Ressource zur Legitimation der Aktivitäten des Hilfswerks in diesem Politikfeld zur Verfügung. Das Hilfswerk konnte sich daher rasch als ein relevanter Akteur in Fragen der Aufnahme und Anerkennung von DDR-Zuwanderern etablieren. Ende 1952 legte es eine Studie mit dem Titel „Rechtsstellung und soziale Lage der illegalen Sowjetzonenflüchtlinge“ vor, die sowohl an das Ministerium wie auch den zuständigen Bundestagsausschuss versandt wurde.91 Gegenüber den Bundes- und Landespolitikern wurde die Forderung erhoben, eine großzügige Verteilung der „Illegalen“ unter den Bundesländern anzustreben.92 Neben der Besetzung der Abteilung mit Personen, die einen biographischen Bezug zur Flucht aus der DDR hatten, lassen sich weitere Faktoren für die besondere Präsenz des Hilfswerks in diesem Politikfeld benennen. Die antikommunistische Ausrichtung des Hilfswerks unter seinem ersten Leiter, dem Theologen und CDUPolitiker Eugen Gerstenmaier, ist ebenfalls als ein struktureller Faktor miteinzubeziehen.93 Die Tätigkeit des Hilfswerks für ostdeutsche Flüchtlinge wurde offiziell zwar nicht antikommunistisch begründet, verstand sich aber als ein Beitrag zur Auseinandersetzung der politischen Systeme.94 Die Evangelische Flüchtlingsseelsorge West-Berlin Das „Illegalenproblem“ im geteilten Berlin war auch für eine weitere protestantische Einrichtung der Anstoß, sich öffentlich zu positionieren. In WestBerlin wurde durch die dortige Landeskirche Anfang der 1950er Jahre eine eigene gemeindliche Struktur zur Betreuung der Flüchtlingslager geschaffen. Die Evangelische Flüchtlingsseelsorge Berlin verstand sich einerseits als Kirchengemeinde für die Bewohner der Lager und organisierte ein entsprechendes Angebot mit Gottesdiensten, Seelsorge und Angeboten für Kinder und Jugendliche. Zugleich wirkte sie als eine Wohlfahrtsreinrichtung und 90 Themen waren beispielsweise die Anerkennung von Russischkenntnissen von SBZ-Oberschülern in westdeutschen Schulen (Informationen Nr. 18, 2/1955), der Ersatz von verlorenen Urkunden (Informationen Nr. 21, 5/1955) oder die rechtliche Frage, ob Verstoße gegen die Wirtschaftsstrafgesetze der DDR nach bundesdeutschem Recht als Fluchtgrund anerkannt werden könne (Informationen Nr. 23, 7/1955). Fundstelle: LAELKB Nürnberg IV/1–2. 91 Mitteilung Paul Collmers an die Gremien der EKD, 5. 11. 1952 (EZA Berlin 4/80). 92 Paul Collmer: Zusammenfassung der Anregungen für die Organe des Bundes und der Länder, 5. 11. 1952 (ELAB Berlin 1/872). 93 Vgl. Sommer, Rechtswahrungsansprüche, 404 f. Zu Gerstenmaiers Tätigkeit als Leiter des Hilfswerks siehe: Gniss, Eugen Gerstenmaier, 153–202; Foss, Diakonie. 94 Siehe dazu das folgende Teilkapitel.

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organisierte finanzielle und materielle Spenden.95 Als täglich mit deren Problemen konfrontierte Einrichtung musste sich auch die Flüchtlingsseelsorge zur Frage der nichtanerkannten Flüchtlinge in der Stadt verhalten. Offiziell erhob sie als einzige Berliner Wohlfahrtseinrichtung den Anspruch, auch für die „Illegalen“ zu sorgen und diese beim Verfahren zu unterstützen.96 Leiter des neu geschaffenen Pfarramts für Flüchtlingsseelsorge war der Theologe Karl Gustav Ahme, der sich in den 1950er Jahren zu einem der bedeutendsten protestantischen Akteure in diesem Politikfeld entwickelte.97 Zwischen dem Hilfswerk und der Flüchtlingsseelsorge herrschte ein reger Austausch. Wenngleich die Unterschiede zwischen einer Wohlfahrtseinrichtung und einem volksmissionarisch ausgerichteten Sonderpfarramt bestimmend blieben, sahen sich beide Einrichtungen in der Position des sozialpolitischen Anwalts der DDR-Zuwanderer. Ahme schätze besonders die Arbeit des Juristen Schönberg.98 Ähnlich wie im Hilfswerk markierte die prekäre soziale Lage der „Illegalen“ auch für den Berliner Pfarrer einen Bruch mit der Aufnahmepolitik des Staates. Anders als bei den Experten der Diakonie konzentrierte sich die Kritik Ahmes weniger auf rechtliche Detailfragen. Seine Stellungnahmen zielten auf eine Emotionalisierung und Skandalisierung der Situation der „Illegalen“ ab. In öffentlichen Vorträgen und den Eigenpublikationen seiner Einrichtung kritisierte Ahme den Umgang mit den Nichtanerkannten. Deren Situation wurde innerhalb des Protestantismus unterschiedlich rezipiert. Auch in der evangelischen Presse wurde eine mögliche Bedrohung der Bundesrepublik und West-Berlins durch Kriminelle, Spitzel und Glücksritter unter den Ankommenden befürchtet. Die „Illegalen“ wurden in der Berichterstattung zumeist unter Bezug auf die Topoi des zeitgenössischen Asozialitäts-Diskurses als arbeitsscheue und zwielichtige Personen bezeichnet.99 Große Teile der „Illegalen“ seien leichtsinnig in den Westen gekommen, so ein Zeitungsbericht, um das Geld der Berliner Sozialbehörden abzugreifen, viele würden auch angebliche politische Fluchtgründe vortäuschen, um sich vor

95 Eine ausführliche Dokumentation der Arbeit der Evangelischen Flüchtlingsseelsorge in Berlin findet sich bei: Köhler, Notaufnahme, 131–300. 96 Vgl. Kimmel, DDR-Flüchtlinge, 60 f. Zum Einsatz kamen dabei vor allem Laienhelfer, die die in der Stadt verstreuten Personen besuchen und betreuen sollten. Zusätzlich unterstütze die Flüchtlingsseelsorge während der laufenden Notaufnahmeverfahren Antragsteller dabei, Nachweise und Zeugenaussagen zum Nachweis von relevanten Fluchtgründen zu erbringen. Siehe dazu: Köhler, Notaufnahme, 88. Bei der Unterstützung von Flüchtlingen vor den Aufnahmeausschüssen wirkten neben den Kirchen vor allem antikommunistische Verbände wie die „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ und der „Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen“ mit. Vgl. dazu Keith, Befragung, 16–19. 97 Zu Karl Ahme und der West-Berliner Flüchtlingsseelsorge siehe die folgenden beiden Teilkapitel. 98 Schreiben Karl Ahmes an Heinrich von Schönberg, 15. 10. 1953 (ADW Berlin ZB 1210). 99 Vgl. Ackermann, Flüchtling, 79–95.

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Unterhaltszahlungen oder Strafverfolgung zu drücken.100 Auch indifferente Haltungen wurden in Presse und Politik geäußert, beispielsweise vom Sozialsenator West-Berlins.101 Das „Sonntagsblatt“ äußerte angesichts der schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Lage Verständnis für die Haltung der Bundesregierung, forderte aber zugleich, dass bei der Hilfe für Notleidende kein Unterschied zwischen anerkannten und abgelehnten Menschen gemacht werden dürfe.102 Die Zeitung beschrieb die Situation als Dilemma ohne politischen Ausweg. Ein vergleichbarer Artikel warnte vor Gleichgültigkeit gegenüber den bemitleidenswerten „Brüder[n] aus dem Osten“, bezeichnete den Umgang mit den frustrierten Abgelehnten aber als eine „fast unlösbare Aufgabe“ für die evangelische Kirche.103 Die Probleme der Schwarzarbeit und der Kriminalität unter den „Illegalen“ wurden zu bestimmenden Elementen eines Negativstereotyps des abgelehnten Sowjetzonenflüchtlings, das sich nahtlos in entsprechende Diskurse über das Leben in der Großstadt Berlin und in den Lagern der Nachkriegszeit einfügte. Karl Ahme wandte sich bei seinen Auftritten vor inner- und außerkirchlichem Publikum und in seinen Veröffentlichungen gegen diese Stigmatisierung. Der Leiter der Flüchtlingsseelsorge empörte sich öffentlich über die Behandlung der Nichtanerkannten durch die staatlichen Stellen. Auf einer Versammlung von Vertretern des Hilfswerks und der Inneren Mission sagte er, die westdeutsche Gesellschaft würde diese Gruppe stigmatisieren und mit ihren Nöten allein lassen.104 In der Analyse der Ausgangssituation wich er dabei nicht von den negativen Beschreibungskategorien ab. Der entscheidende Unterschied lag hingegen in den Rückschlüssen, die Ahme präsentierte: Die Flüchtlinge seien durch das Arbeitsverbot und die ausweglose Situation zu einem solchen „asozialen“ Verhalten gezwungen, deswegen sei die gesellschaftliche Verurteilung falsch.105 Besondere Kritik äußerte Karl Ahme dementsprechend am Arbeitsverbot für die „Illegalen“, das er für die schlechte Situation hauptverantwortlich machte. Im Sinne der protestantischen Arbeitsethik sei Arbeit „eine göttliche Grundbestimmung des Menschen“106 und dürfe daher einer Gruppe von mehreren zehntausend Menschen nicht vorenthalten werden. Ahmes Plädoyer für die Abgelehnten stellte mithin keine Dekonstruktion des Stereotyps vom asozialen „Illegalen“ dar. Sein Plädoyer zur Fürsorge und für Arbeitsmöglichkeiten enthielt eine sozialdisziplinarische Komponente. Für die seiner Ansicht nach geringfügig kleine Gruppe wirklich „asozialer“ Bericht in Christ & Welt vom 22. 12. 1955, zit. n. Köhler, Notaufnahme, 87 f. Vgl. Kimmel, DDR-Flüchtlinge, 61 f. Draußen vor unserer Tür. Was ist die Freiheit wert? In: Sonntagsblatt, 17. 8. 1952, 1. Menschen zwischen allen Stühlen. In: Sonntagsblatt, 17. 8. 1952, 9. Interner Bericht über die Arbeitstagung in Dassel am 7./8. 10. 1954 (LAELKB Nürnberg DW 1426). 105 Ahme, Flüchtling in Berlin, 38. 106 Ebd., 37.

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Zuwanderer, insbesondere für SED-Sympathisanten, forderte der Theologe einen gesonderten „Arbeitsdienst“107. Ahme trat dennoch zunehmend als Gegner des Notaufnahmewesens auf. Anders als die Leitartikel des „Sonntagsblatts“ verstand er das „Illegalenproblem“ nicht als Dilemma, sondern als eine politisch lösbare und veränderbare Situation. Dabei suchte der Pfarrer auch die Konfrontation mit staatlichen Vertretern. Bei einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum, bei der er selbst als Vortragender auftrat, konfrontierte Ahme den Staatssekretär des Vertriebenenministeriums in der Aussprache mit einer detaillierten Kritik. In seinem Vortrag warf Ahme der Bundesrepublik vor, der Umgang mit den „Illegalen“ sei ein Versagen des jungen Staates, da er auf diese Weise eine ganze Gruppe von Deutschen zu Staatenlosen erklären würde.108 Ähnlich wie Heinrich von Schönberg kritisierte er die unklare Rechtslage und widersprüchliche Entscheidungen im Notaufnahmeverfahren. Auch der Topos, die Politik müsse Lehren aus der jüngsten NS-Vergangenheit ziehen, diente als Referenzpunkt seiner Argumentation: „Was ist das für ein Recht, das denselben Personenkreis einmal so und dann wieder anders behandelt?! Gerade wir Deutsche sollten es doch gelernt haben, wie gefährlich es ist, das Recht nicht heilig ernst zu nehmen. Der Mensch aber, der voller Vertrauen nach hier kam, ist der Leidtragende.“109

Gleichzeitig dankte Ahme dem Staat für seine Bemühungen und warnte vor überzogener Kritik, was durchaus im Kontrast zu seinen kritischen Einlassungen stand.110 Seine eigene Person rechnete Ahme hingegen nicht zur Gruppe der überzogenen Kritiker. Auf die Begründung des Ministerialvertreters, die Abgelehnten dürften aufgrund „gewisser politischer Rücksichten“ nicht arbeiten, antwortete er mit der grundsätzlichen Forderung nach „mehr Menschlichkeit beim Notaufnahmeverfahren“ und der Warnung vor den Folgen einer Verwahrlosung von Menschen ohne Möglichkeit zum Broterwerb durch Arbeit.111 Zwar sei auf den ersten Blick verständlich, dass der Staat den Zustrom aus der DDR durch die unterschiedliche Behandlung der Flüchtlinge verringern wolle, da die Flüchtlinge aber vor allem von Not und Angst nach Berlin getrieben würden, sei diese Strategie verfehlt. Ahmes Plädoyer brachte den Staatssekretär zumindest dazu, die sozialen Probleme vor den Tagungsgästen der Akademie indirekt einzugestehen.112

107 Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Fachausschusses für Flüchtlingsfragen der Arbeitsgemeinschaft öffentliche und freie Wohlfahrtspflege in Berlin am 2. 3. 1953 (ADW Berlin ZB 1209). 108 Seeberg, Vertriebene, 85. 109 Ahme, Flüchtling in Berlin, 37. 110 Vgl. ebd., 88. 111 Seeberg, Vertriebene, 58. 112 Ebd., 59.

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Einsatz für die „Illegalen“ in West-Berlin Sowohl die Flüchtlingsseelsorge als auch das Hilfswerk versuchten die Begriffe Menschlichkeit und Not in ihrem Sinne zu besetzen und als Gegenentwurf zu den rechtlichen Kategorien des Notaufnahmeverfahrens anzuführen. Gegenüber den führenden Stellen der EKD betonte das Hilfswerk, dass bei der geleisteten Betreuung keine Unterscheidung zwischen den nicht anerkannten und den rechtlich akzeptierten Flüchtlingen gemacht werde. Anders als der Staat lege man einzig das Ausmaß der individuellen Not als Kriterium an.113 Der Notbegriff wurde auch in der rechtlichen Grundsatzdebatte aufgegriffen. Heinrich von Schönberg verwendete ihn in einem Fachartikel in der sozialpolitischen Zeitschrift „Sozialer Fortschritt“ als Absage an ein positivistisches Rechtsverständnis. Es gäbe in der Praxis zwar Fälle, bei denen Ablehnungen formaljuristisch ihre Berechtigung hätten, aber aus moralischen und sozialen Gründen abzulehnen seien. Bezogen auf das Notaufnahmegesetz nutzte er eine eingängige Formel: Beim Notaufnahmeverfahren müsse wörtlich genommen weniger die Aufnahme und mehr die herrschende Not in den Vordergrund rücken.114 In einem weiteren Aufsatz entwickelte Schönberg ein neues Argument, das seine Überzeugungskraft aus dem Vergleich mit den Rechten der Displaced Persons ziehen sollte. Im Gegensatz zu den für diese Gruppe rechtlich verbrieften Hilfeleistungen115 erscheine die Notaufnahmegesetzgebung als Rückschritt: „Ein Vergleich […] lohnt sich und stimmt nachdenklich, nicht weil etwa dem heimatlosen Ausländer zu viele Rechte zugestanden wären, sondern weil die Vorteile, die dem heimatlosen Ausländer als eine selbstverständliche Gabe moderner Gesetzgebung geschildert werden, dem nicht anerkannten deutschen Zuwanderer ebenso selbstverständlich vorenthalten werden.“116

Karl Ahmes Position ging noch weiter. Bei einer Ausschusssitzung der Sozialverbände West-Berlins erhob er die in der zeitgenössischen Wahrnehmung radikal anmutende Forderung nach einer Streichung des Notaufnahmeverfahrens. Die Aufnahme der Flüchtlinge, so Ahme, sei „nicht nur eine politische, sondern viel mehr eine menschliche Handlung“117, daher sei es notwendig, allen freiheitssuchenden Deutschen Zuflucht zu gewähren. Es sei 113 Rundschreiben der Berliner Stelle der Kirchenkanzlei an die Mitglieder des Rates der EKD, Betreff: Not der nicht anerkannten Flüchtlinge, 10. 4. 1953 (ELAB Berlin 1/872). 114 Vgl. Schönberg, Notaufnahmegesetz, 15. 115 Das „Gesetz über die Rechtsstellung heimatloser Ausländer im Bundesgebiet“ wurde 1951 erlassen. Siehe: BGBl. Teil I, Nr. 19 vom 27. 4. 1951, 269–271. 116 Schönberg, Zuwanderer, 59. 117 Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Fachausschusses für Flüchtlingsfragen der Arbeitsgemeinschaft öffentliche und freie Wohlfahrtspflege in Berlin am 2. März 1953 (ADW Berlin ZB 1209).

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ausreichend, nur noch polizeiliche Überprüfungen zur Aussortierung von Spitzeln, Kriminellen und sogenannten Asozialen durchzuführen.118 Die Vertreter der anderen Wohlfahrtsverbände widersprachen dem Pfarrer durchweg und verwiesen auf die befürchtete Sogwirkung, die finanziellen Belastungen und die Konsequenzen für die gesamtdeutsche Entwicklung.119 Mit der Flüchtlingsseelsorge und dem Hilfswerk etablierten sich in den frühen 1950er Jahren zwei entscheidende Akteure innerhalb des westdeutschen Protestantismus, die in der Frage der Aufnahme von Flüchtlingen aus der DDR Position gegen die Kategorisierung der Migranten durch die Regierungspolitik bezogen. Als Einrichtungen der direkten Arbeit mit den Betroffenen legitimierten beide Institutionen ihre Vorstöße für die „Illegalen“ als humanitäre Notwendigkeit. Das Hilfswerk argumentierte primär mit juristischen und sozialwissenschaftlichen Gesichtspunkten und entwickelte institutionelle Strukturen zur politischen Einflussnahme im Feld der Flüchtlingspolitik. Mit der Rechtsberatungsstelle sollte der einzelne DDR-Flüchtling im Sinne des Selbsthilfegedankens in seiner Position gegenüber Staat und Gerichten gestärkt werden. Die rechtlichen Grundlagen des Notaufnahmeverfahrens wurden in den Publikationen der Abteilung Sowjetzonenflüchtlinge zudem mit dem Verweis auf die fehlende Berücksichtigung sozialer Folgen und individueller Notlagen in Zweifel gezogen. Karl Ahme versuchte hingegen, das öffentlich verfestigte Bild der „Illegalen“ zu verändern, indem er einerseits ihren Status als Opfer der sozialen und politischen Rahmenbedingungen betonte und andererseits den Vorrang humanitärer Prinzipien vor rechtlichen Kategorien postulierte.120 Der Leiter der Flüchtlingsseelsorge widersprach dem verbreiteten Stereotyp vom asozialen „Illegalen“ nicht, versuchte das Flüchtlingsbild aber durch die Betonung des Opferstatus zu ergänzen und durch empathische Betonung anders zu gewichten. Karl Ahmes Ablehnung des Arbeitsverbots für die „Illegalen“ zeigt die Ambivalenz dieser Viktimisierungsstrategie, die auch eine sozialdisziplinarische Komponente hatte. Einerseits wurde die freizügige Aufnahme von Zuwanderern aus der DDR als christlich-humanitäre Notwendigkeit begründet. Andererseits wurde die Forderung nach einer Abkehr von den Kategorisierungen des Notaufnahmeverfahrens und der Legalisierung der „Illegalen“ auch mit der Befürchtung vor deren sozialem Abstieg und Entkirchlichung legitimiert. Bereits 118 Ebd. 119 Ebd. 120 Karl Ahme blieb nicht durchgehend bei seiner radikalen Forderung nach einer Abschaffung des Notaufnahmeverfahrens. Später sprach er sich bei einer Tagung in der Evangelischen Akademie Loccum 1957 dafür aus, das Verfahren unter stark vereinfachten Rahmenbedingungen und niedrigschwelligen Aufnahmekriterien beizubehalten. Jede Person, die sich in der DDR nichts zuschulden kommen lassen habe, sollte demnach Aufnahme in die Bundesrepublik erhalten (Niederschrift über das Gespräch „Die Verantwortung der evangelischen Kirche für die Vertriebenen“ am 18./19. 3. 1957 in der Evangelischen Akademie Loccum, (ADW Berlin CAW 684)).

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die offizielle Stellungnahme der EKD-Synode zum Thema der nichtanerkannten Flüchtlinge hatte sich in diesem Spannungsfeld zwischen sozialer und moralischer Kontrolle sowie humanitärer Fürsorge bewegt. Ahme selbst erschien die Forderung nach einer Abschaffung des Notaufnahmeverfahrens vor dieser Ausgangslage als konsequent, seine Position war aber auch im Umfeld der Wohlfahrtsverbände nicht mehrheitsfähig. Die öffentliche Debatte um das Berliner „Illegalenproblem“ und die sozialpolitischen Folgen des Notaufnahmeverfahrens markierten auch innerhalb des Protestantismus den Beginn einer Auseinandersetzung mit dem staatlichen Aufnahmeregime. Angesichts der für die evangelischen Landeskirchen komplexen deutschlandpolitischen Ausgangslage und den Rahmenbedingungen des Ost-West-Konfliktes war es den obersten Repräsentanten des deutschen Protestantismus nicht möglich, sich in der Frage der Abwanderung aus der DDR eindeutig in der Öffentlichkeit zu positionieren. Mit dem Synodenbeschluss von 1952 war das Thema an das Evangelische Hilfswerk delegiert worden. Die Reaktionen auf die Kundgebung des Kirchentags belegen dabei die Schwierigkeiten einer sich als gesamtdeutsch definierenden Institution des Protestantismus, sich zur Frage der Anerkennung von DDR-Zuwanderern zu verhalten. Allein schon die Verwendung des Flüchtlingsbegriffs im Kontext des Systemkonflikts durch Vertreter des Protestantismus wurde vor diesem Hintergrund als problematisch bewertet. Auch in den Folgejahren blieben institutionelle Akteure wie die Flüchtlingsseelsorge und das Hilfswerk daher neben den Hilfsangeboten der Landeskirchen im protestantischen Kontext meinungsführend in der Debatte um die deutsch-deutsche Migration. 2.1.2 Mahnungen und Weckrufe – protestantische Argumentationsformen und Solidaritätsrhetoriken Von der Aufnahme- zur Anerkennungsdebatte Das Jahr 1953 markierte in mehrerlei Hinsicht einen Einschnitt in der DDRFlüchtlingspolitik Westdeutschlands. Im Frühjahr wurden Maßnahmen zur Verbesserung der Situation der „Illegalen“ und zur Vereinfachung des Notaufnahmeverfahrens beschlossen.121 Das Notaufnahmegesetz verlor durch die sich ändernde Rechtslage rasch seine zentrale Bedeutung. Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungskonformität des Notaufnahmeverfahrens im Mai 1953 führte ebenfalls zu einer Verringerung der Ablehnungsquote.122 Ab 1955 sank der Anteil der Abgelehnten immer weiter, bis er ab 1958 nur noch um etwa ein Prozent schwankte.123 Die öffentliche Wahr121 Vgl. Heidemeyer, Flucht, 146–164. 122 Ebd., 166 f. 123 Im Jahr 1956 betrug die Ablehnungsquote im Notaufnahmeverfahren noch 12 Prozent, 1957

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nehmung von DDR-Flüchtlingen in der Bundesrepublik verbesserte sich zudem durch die breite mediale Rezeption des Volksaufstands vom 17. Juni.124 Die zentrale Neuerung stellte das Bundesvertriebenengesetz dar, das soziale Vergünstigungen und Hilfeleistungen für Vertriebene und DDR-Flüchtlinge festsetzen sollte. Das Gesetz regelte die Anerkennung von Fluchtgründen neu und setzte somit den durch das Notaufnahmeverfahren angestoßenen Prozess der Definition des Flüchtlingsbegriffs fort.125 Das Anerkennungsverfahren besaß sozialpolitische Relevanz, da die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus für die Betroffenen neben der symbolischen Anerkennung als politische Flüchtlinge Zugang zu Eingliederungshilfen und finanzieller Unterstützung in Form von Darlehen und Beihilfezahlungen garantierte.126 Formal wurde nun primär die Anerkennung politischer Fluchtgründe verhandelt, eine Verbindung zwischen Notaufnahme- und Ausweisverfahren bestand gesetzesmäßig nicht.127 Die Trennung von Aufnahme- und Anerkennungsverfahren galt der Regierungspolitik als notwendig, um falschen Anspruchserwartungen der Zuwanderer zu begegnen.128 Die grundsätzliche Kontroverse um die Aufnahme von DDR-Bürgern in die zunehmend vom wirtschaftlichen Aufschwung erfasste Bundesrepublik rückte hingegen zunehmend in den Hintergrund.129 Die Neudefinition des Kreises der als Flüchtlinge anerkennungsberechtigten Zuwanderer aus der DDR im Vertriebenengesetz implizierte eine Verschiebung des Debattenschwerpunkts auf Fragen der Integration von DDRZuwanderern in die Gesellschaft und Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik. Individuelle und institutionelle Akteure des westdeutschen Migrationsregimes versuchten in den Auseinandersetzungen um das vom Bundesvertriebenengesetz etablierten Anerkennungsverfahren die Praktiken der Anerkennung primär nach ihren integrationspolitischen Vorstellungen zu beurteilen. Auch das Hilfswerk veröffentlichte 1954 eine umfangreiche Studie zur Eingliederung der Sowjetzonenflüchtlinge. Der stark sozialwissenschaftlich angelegte Text plädierte für eine stärkere Fokussierung auf die sich an die Aufnahme anschließenden Fragen der Integration ostdeutscher Zuwanderer in das soziale und wirtschaftliche Leben der Bundesrepublik.130 Auch im Diskurs über die Sondergruppe der jugendlichen Flüchtlinge wurden hauptsächlich Fragen der Integration und Sozialkontrolle verhandelt.131 Die vorge-

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nur noch 3,8 Prozent. Siehe die entsprechende Statistik und Darstellung bei Kimmel, DDRFlüchtlinge, 70. Vgl. Hoffmann, Illegale, 147. Vgl. Ackermann, Flüchtling, 111. Vgl. Rüfner, Ausgleich, 716 f. Vgl. Ackermann, Flüchtling, 115. Vgl. Kimmel, DDR-Flüchtlinge, 28. Vgl. ebd., 64. Vgl. Hilfswerk, Eingliederung, 3. Vgl. hierzu die umfassende Studie von Frank Hoffmann: Hoffmann, Junge Zuwanderer.

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lagerte Frage nach ihrer Aufnahme in die Bundesrepublik und ihres Status wurde im Gegensatz zu den Erwachsenen nur sporadisch gestellt und galt zumeist als unstrittig. Diese integrationspolitische Komponente ist für die Untersuchung einer Debatte um die Definition und Kategorisierung von Fluchtgründen dennoch größtenteils vernachlässigbar. Im Folgenden werden integrationspolitische Aspekte daher nur im Kontext der Kontroversen um die Festschreibung eines Flüchtlingsbegriffs berücksichtigt. Das Bundesvertriebenengesetz verlangte von den Antragstellern, dass ihre Fluchtgründe von den politischen Verhältnissen bedingt und nicht selbst verschuldet sein sollten, zudem schloss es wirtschaftliche Gründe explizit als Anerkennungsgrund aus.132 Die Erstfassung des Gesetzes definierte die besondere Zwangslage als eine Situation, in der „eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben oder die persönliche Freiheit“133 bestand. Die individuellen Umstände sollten den Ausschlag für die Anerkennung geben. Diese Praxis stand nicht im Widerspruch zur allgemein verbreiteten Wahrnehmung der Westdeutschen, die Bürger der DDR seien unfrei und unterdrückt. Direkte Folgen des Alltagslebens im sozialistischen Staat wurden von der Definition nicht erfasst. Einschränkungen der Berufsfreiheit, Verpflichtungen zu Arbeitseinsätzen oder der Mitwirkung an SED-Propaganda in Betrieben galten nicht als individueller Fluchtgrund, da sie jeden Menschen in Ostdeutschland betreffen würden.134 Während des Gesetzgebungsverfahrens hatten Ländervertreter und der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen für eine Berücksichtigung individuellen Widerstands bei der Anerkennung als Flüchtling plädiert, sich aber nicht vollständig durchsetzen können.135 Der Wortlaut des Gesetzes ließ zudem einen breiten Interpretationsspielraum, entsprechend bedeutend wurde in der Folge die Einschätzung der Verwaltungsbehörden und die Auslegung durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit.136 Im Rahmen der Novelle des Vertriebenengesetzes 1957 wurde daher der Begriff des „besonderen Gewissenskonfliktes“ mitaufgenommen, um die Praxis der Verwaltung zu vereinheitlichen.137 Während das Notaufnahmeverfahren für einen großen Teil der Antragsteller ab Mitte der 1950er Jahre kein Hindernis mehr darstellte, gab es im Ausweisverfahren weiterhin hohe Ablehnungsquoten. Zeitweise wurde nur ein Viertel der im Notaufnahmeverfahren aufgenommenen Personen als Sowjetzonenflüchtlinge nach dem Bundesvertriebenengesetz anerkannt.138 Heinrich von Schönberg bilanzierte 1956 in einem weiteren Aufsatz die Veränderungen innerhalb des deutsch-deutschen Migrationsregimes. Die 132 133 134 135 136 137 138

BGBl. Teil I, Nr. 22 vom 22. 5. 1953, 203. Ebd. Vgl. Ackermann, Flüchtling, 114. Vgl. Heidemeyer, Flucht, 208. Vgl. Ackermann, Flüchtling, 113. Vgl. Heidemeyer, Flucht, 220–224. Vgl. Rüfner, Ausgleich, 721.

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soziale Notlage der Abgelehnten habe sich zwar gebessert, durch die uneinheitliche Definition politischer Flucht in Rechtsprechung und Verwaltung entstehe aber eine Vielzahl neuer Probleme für die Flüchtlinge aus der DDR.139 Trotz der erzielten Fortschritte für die Gruppe der „Illegalen“ warnte Schönberg weiterhin mit einem drastischen Vergleich vor den Folgen verfehlter Politik: Wie bei der Bundesbahn könnten auch falsche Weichenstellungen im Flüchtlingsrecht zur Vernichtung von Existenzen führen.140 Das Hilfswerk sah sich weiterhin in Distanz zur Regierungspolitik. Die juristische Definition politischer Verfolgung durch das Gesetz wurden nun zum zentralen Gegenstand der Kritik. Besonders beklagte Schönberg das Auseinanderklaffen der Entscheidungen in Notaufnahme- und Flüchtlingsanerkennungsverfahren. Das Hilfswerk sah in dieser Diskrepanz schwerwiegende Folgen für das Rechtsempfinden der Flüchtlinge und machte den gestiegenen Stellenwert der Administration als Hauptproblem aus. Anders als beim Notaufnahmeverfahren, in dem Entscheidungen von einem aus Parteivertretern besetzten Ausschuss gefällt wurden, entschieden die Behörden im Anerkennungsverfahren über die Beurteilung von Fluchtgründen ohne Hinzuziehung externer Stimmen. Für Entscheidungen über die Zuerkennung des begehrten Sowjetzonenflüchtlingsausweises, der im zeitgenössischen Sprachgebrach zumeist auch als „C-Ausweis“ bezeichnet wurde, waren nun die Verwaltungsbehörden der Bundesländer und der Kommunen verantwortlich.141 In der Wahrnehmung des kirchlichen Wohlfahrtsverbands verharmlosten die Ämter die Lebenssituation und die politischen Verhältnisse in der DDR. Schönberg äußerte den Vorwurf, die Behörden seien mangels Kenntnis des DDR-Rechtssystems unfähig zur Beurteilung individueller Fluchtgründe. Diese Einschätzung sei eine politische Aufgabe, die nicht formaljuristisch von Amtsstellen und Verwaltungsgerichten vorgenommen werden könne.142 Politische Fluchtgründe – eine Gewissensfrage? Die Auseinandersetzung mit dem Bundesvertriebenengesetz machte eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Frage nach der Definition politischer Fluchtgründe und dem Begriff des Politischen nötig. Die protestantischen Akteure bemühten sich darum, ihre Ablehnung der Kategorisierungen des Anerkennungsverfahrens ideologisch zu begründen und mögliche Alternativen in die Debatte einzubringen. In der Debatte um die „Illegalen“ hatte sich ein deutlich erkennbares Deutungsmuster im Sinne des in der Nach-

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Vgl. Schönberg, Bemerkungen, 233 f. Vgl. ebd., 235. Kimmel, DDR-Flüchtlinge, 26–29. Schönberg, Bemerkungen, 234.

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kriegszeit verbreiteten Antitotalitarismus etabliert.143 In der kirchlichen Publizistik überlagerte die Wahrnehmung des als bedrohlich eingeschätzten Kommunismus und der sozialen Situation der Flüchtlinge früh die Frage der juristischen Kategorien. Ein Artikel im „Sonntagsblatt“ fragte bereits während der ersten Höhepunkte der Zuwanderungsbewegung nach der Fortgeltung der von der Bundesrepublik aufgestellten Kategorien angesichts der Lebenssituation in Ostdeutschland: „Sind das alles politische Flüchtlinge? Natürlich nicht. Wo aber läßt sich da ein Trennungsstrich ziehen, wo heute im System des Ostens das Politische so tief in das Dasein des einzelnen, in den letzten Winkel des Menschlichen hineingreift?“144

Die auf der verbreiteten Totalitarismustheorie aufbauende Vorstellung, dass die DDR als sozialistischer Staat dem Nationalsozialismus gleich sämtliche Lebensbereiche einer Politisierung unterziehe, prägte auch den Diskurs über die Beurteilung politischer Fluchtgründe innerhalb des Protestantismus. In der Wahrnehmung der Akteure von Flüchtlingsseelsorge und Hilfswerk ließ sich die geltende Beschränkung des Flüchtlingsbegriffs auf Spitzenfunktionäre und Widerstandskämpfer nicht mehr halten. Vermehrt wurde der hinter den Flüchtlingskategorien stehende staatszentrierte Politikbegriff als überholt zurückgewiesen. Besonders Fälle, in denen kirchennahe Zuwanderer betroffen waren, stießen auf besondere Aufmerksamkeit in der Rechtsberatungsstelle des Hilfswerks. Auch nach der Gesetzesnovelle von 1957, die den Begriff des Gewissenskonfliktes in die Definition mit aufgenommen hatte, kam es zu zahlreichen Ablehnungen.145 Für Unverständnis innerhalb der Kirchenbehörden sorgte beispielsweis ein Fall, in dem die bayerische Verwaltung einem Antragsteller den Flüchtlingsausweis verweigerte, der als Fluchtgrund Benachteiligungen wegen der verweigerten Zustimmung für die Jugendweihe seiner Tochter angeführt hatte. Das Flüchtlingsamt hatte den Antrag auf einen C-Ausweis zurückgewiesen und dafür als Grund angeführt, bei einem solchen Fall handle es sich um alltägliche Probleme des Lebens in der DDR.146 Auch die verweigerte Anerkennung für Lehrer, die aus Gewissensgründen keine Propagandafunktionen innerhalb der Schule übernehmen wollten und dadurch Nachteile in Kauf nehmen mussten, rief Protest hervor.147 Nach Auslegung der Verwaltungsgerichte und der Behörden waren solche Auf143 Zum Einfluss und zur Popularisierung des Totalitarismuskonzepts im Kalten Krieg siehe Söllner, Totalitarismuskonzept, 11. Zur Verbreitung der Totalitarismustheorie in Westdeutschland siehe Doering-Manteuffel, Antikommunismus, 22 f; Grossmann, Internationale, 58 f.; Kössler, Grenzen. 144 Zweihunderttausend suchen die rettende Insel. In: Sonntagsblatt, 2. 4. 1952, 2. 145 Siehe die Einschätzung bei Heidemeyer, Flucht, 224. 146 Schreiben des Vertriebenenbeauftragten Bunzel an Kirchenrat Riedel, 20. 5. 1958 (EZA Berlin 2/4273). 147 Rundschreiben des Bundesvertriebenenministeriums an die Landesflüchtlingsverwaltungen, Betreff: Gewissenskonflikt als besondere Zwangslage, 14. 8. 1958 (EZA Berlin 2/4273).

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gaben für Lehrer im politischen System der DDR üblich und damit trotz des anzuerkennenden Gewissenskonfliktes hinnehmbar.148 Kirchenmitarbeiter artikulierten ihr Unverständnis über die restriktive Auslegung des Bundesvertriebenengesetzes gegenüber ihren Vorgesetzten und den zuständigen kirchlichen Stellen. Stereotype Flüchtlingsbilder der Kategorie des activist, des Widerstandskämpfers oder Oppositionellen, fanden dabei nur geringfügige Erwähnung. Deren Aufnahme galt als unstrittig, hingegen wurde der Umgang mit Personen problematisiert, deren Berufs- und Familienleben durch den Staat indirekt beeinträchtigt wurde. Besonders die Behandlung kirchennaher Zuwanderer im Flüchtlingsausweisverfahren wurde zum Stein des Anstoßes für eine Auseinandersetzung mit den Entscheidungen der Bürokratie und der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Das Unbehagen über die Kriterien des Bundesvertriebenengesetzes korrespondierte mit dem Diskurs über das Leben in der DDR als einem sozialistischen Staat. Die in der westdeutschen Gesellschaft verbreiteten antikommunistischen Deutungsmuster waren in unterschiedlicher Ausprägung innerhalb des Protestantismus präsent.149 Kirchenrelevanten Themen wie der Jugendweihe, dem Familienbild und Fragen der Moral wurde dabei besondere Aufmerksamkeit geschenkt.150 Die Lage der Familien im sozialistischen Staat wurde zu einem der wichtigsten Themen, da Familien der Vorstellung der Kirchen und des gesellschaftlichen Konservatismus nach als kleinste gesellschaftliche Einheit einen Ort der Privatheit bilden und frei von äußeren Einwirkungen durch staatliche Einflüsse bleiben sollten.151 Die Rezeption der politischen Veränderungen in Ostdeutschland bildete für die Akteure der evangelischen Flüchtlingshilfe die argumentative Grundlage, um für Änderungen des Anerkennungsverfahrens zu werben. Der Politikbegriff wurde in den Beiträgen protestantischer Akteure auf Berufsalltag und Familienleben ausgeweitet. Die Auflösung christlich-bürgerlicher Familienideale durch die beklagte Dauerpolitisierung im sozialistischen Staat wurde besonders hervorgehoben. In Vorträgen und Rundbriefen wurde diese Wahrnehmung durch narrative Elemente untermauert, in denen die Situation von Familien oder einzelnen Kindern besonders im Mittelpunkt stand. Karl Ahme präsentierte an prominenter Stelle bei einem Vortrag vor Pfarrern und Diakoniemitarbeitern die Geschichte von ostdeutschen Eltern, die aus Furcht vor ihren vom DDR-System ideologisierten Kindern das Land verlassen mussten.152 Im „Sonntagsblatt“ wurde eine ähnliche Geschichte abgedruckt, in der geschildert wurde, wie ein von der FDJ begeisterter junger Mann zwecks Gründung einer sozialistischen Familie die eigene Mutter aus der Wohnung werfen ließ. 148 149 150 151 152

Ebd. Vgl. Loos, Stimmen, 213. Zu kirchlichen Familienbildern in den 1950er Jahren vgl. Grossbölting, Himmel, 34–39. Vgl. Schildt / Siegfried, Kulturgeschichte, 103; Klessmann, Staatsgründung, 58. Ahme, Karl: Das Flüchtlingsproblem als Frage an Kirche und Gemeinde, April 1957 (ELAB Berlin 1/873).

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Derartige im Berichtsstil gehaltene Anekdoten signalisierten der westdeutschen Leserschaft, dass im sozialistischen Staat das Politische nicht einmal vor der Zerstörung der Familieneinheit halt mache.153 Diese narrativen Elemente boten ein doppeltes Potential zur emotionalen Mobilisierung. Für ein bürgerlich-protestantisches Publikum in Westdeutschland stellte der geschilderte Tabubruch von der Zerstörung der Kernfamilie und der elterlichen Autorität durch das sozialistische Regime eine Schreckensvorstellung dar. Als authentisch markierte Berichte vom Leben in Ostdeutschland sollten sie die These einer unausweichlichen Politisierung des Lebens der Menschen in Ostdeutschland belegen und die DDR-Abwanderer als Opfer nicht selbst verschuldeter Umstände darstellen. Die christliche Konnotation der Familie als gottgewollter Einheit stärkte diese Darstellung.154 Kirchenvertreter konnten so einerseits moralische Appelle an die westdeutschen Adressaten richten, selbst die propagierte Familienordnung zu bewahren, andererseits Empathie mit den DDR-Flüchtlingen wecken.155 Diese Deutungsmuster wurden auch auf die ökonomische Sphäre angewandt. Aufgrund der in der westdeutschen Gesellschaft weit verbreiteten Ablehnung sogenannter Wirtschaftsflüchtlinge hatte die Unterscheidung von politischen und wirtschaftlichen Fluchtgründen besondere Relevanz für die Legitimation des Migrationsregimes.156 Ab Mitte der 1950er Jahre wurde die Differenzierung zunehmend in Frage gestellt, behielt aber bis 1961 ihre rechtliche Geltung.157 Zwei Gruppen wurden hierbei besonders in den Fokus genommen. Jugendlichen wurde nachgesagt, sich besonders wegen des westlichen Wohlstands auf den Weg zu machen.158 Die zweite Gruppe waren Landwirte, deren Betriebe im Rahmen der Kollektivierung enteignet worden waren und die somit ein Paradebeispiel für die Verschränkung von politischen und wirtschaftlichen Gründen darstellten.159 Das Hilfswerk stellte in der Auseinandersetzung um das Bundesvertriebenengesetz die grundsätzliche Unterscheidbarkeit von ökonomischer und politischer Sphäre in Frage und versuchte sie in einer veröffentlichten Studie als wirklichkeitsfremdes Kon153 Zweihunderttausend suchen die rettende Insel. In: Sonntagsblatt, 2. 4. 1952, 2. 154 Vgl. Grossbölting, Himmel, 35. Eine Untersuchung zum Nachkriegskatholizismus zeigt einen übertragbaren Befund. Die katholischen Bischöfe sahen in ihren Verlautbarungen die katholisch-bürgerliche Familie „als Bollwerk gegen die Infiltration durch den Materialismus“ (Brechenmacher, Katholische Kirche, 185). 155 Vgl. Untersuchungen zur Öffentlichkeitsarbeit der Flüchtlingsseelsorge bei Niedenthal, Nahaufnahme, 44 f. 156 Ute Daniel verweist auf die Paradoxie der westdeutschen Politik in dieser Frage. Einerseits diente die Tatsache der massenhaften Abwanderung aus der DDR bundesrepublikanischen Politikern als Beleg für die ökonomische und ideologische Überlegenheit des Westens, andererseits wurden ökonomische Gründe zur Abwanderung negativ bewertet und waren als parasitär konnotiert. Siehe: Daniel, Brüder, 331–334. 157 Vgl. Ackermann, Flüchtling, 116–118. 158 Vgl. ebd., 117. 159 300.000 Bauern warten. In: Sonntagsblatt, 15. 2. 1953, 1.

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zept der politischen Eliten darzustellen.160 Heinrich von Schönberg schrieb dazu in einer Einschätzung zu den Konflikten über die Zuteilung von Flüchtlingsausweisen: „Es wird um diesen Ausweis ein Kampf entbrennen, der mit einem Übermass an Enttäuschung und Verbitterung enden kann. […] Wirtschaftliche Gründe der Flucht allein berechtigen nicht zum Ausweis C. Was ist Wahrheit? Wo hört der wirtschaftliche Grund auf und wo beginnt die Gefahr? Ist es nicht selbstverständlich, dass Beides so verflochten und verwoben ist, dass ein anderer – noch dazu nach Jahren! – unmöglich eine gerechte Trennung finden kann? Was bei denen, die am Hebel der gesetzgeberischen Maschine stehen, klar und eindeutig wirkt, wird auf dem Wege nach unten zu einem nicht mehr durchschaubaren Dickicht.“161

Schönberg beschwor in seinen Beiträgen die Ubiquität des Politischen in der DDR. Vordergründig bestand in der Wahrnehmung und Deutung des Lebens in der DDR kein Unterschied zum Standpunkt der Regierungspolitik, die ebenfalls eine totalitäre Durchdringung des Lebens im sozialistischen Staat konstatierte. Verwaltung und Rechtsprechung entschieden aber dezidiert auf Grundlage eines eingeschränkten Politikbegriffs.162 Heinrich von Schönberg bezeichnete diese Perspektive als einseitig westdeutsch.163 In seinen juristischen Gutachten war diese Prämisse grundlegend für die Kritik an der Definition des Politischen in der herrschenden Rechtsprechung. Schönberg beschrieb die Mängel des Anerkennungsverfahrens als Defizit der Wahrnehmung der Situation in der DDR: „Andeutungsweise kann man alles auf den Generalnenner bringen, daß in den westdeutschen Behördenbescheiden das Wort ,politisch‘ insofern bei dem Flüchtling ständig falsch ausgelegt wird als wir in der westdeutschen Terminologie kein Wort haben, das den Begriff des ,Politischen‘ im ostzonalen bzw. sowjetischen Sinngehalt umreisst.“164

Diese Ausdehnung der Definition des Politischen wurde nicht nur von Akteuren und Institutionen der protestantischen Flüchtlingsarbeit betrieben. Auch in der Publizistik oder innerhalb der CDU gab es punktuell Kritik am eingeschränkten Politikbegriff.165 Neben der Einbeziehung wirtschaftlicher Gründe besaß die Frage nach dem Status von Gewissenskonflikten einen hohen Stellenwert für die ArgumentaVgl. Innere Mission und Hilfswerk, Flüchtlingssituation 1958, 36. Heinrich von Schönberg: Die große Unsicherheit, August 1953 (ADW Berlin ZB 1209). Ebd. Vortragsmanuskript Heinrich von Schönbergs „Entwicklung und Stand der Rechtsstellung der Flüchtlinge aus Mitteldeutschland“, o. D. (EZA Berlin 87/130). 164 Schreiben von Heinrich von Schönberg an Harald von Koenigswald 7. 7. 1959 (ADW Berlin HGSt 6909). 165 Vgl. Ackermann, Flüchtling, 116 f.

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tion protestantischer Akteure. Die Berücksichtigung von Gewissenskonflikten sollte eine individuellere Beurteilung der Fluchtgründe ermöglichen. Der Gewissensbegriff ermöglichte den Akteuren zudem die Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs auf Personen, die ohne eigenes Zutun in unlösbare Konfliktsituationen gelangt waren. Ab 1958 wurde das Thema Gewissen zu einem neuen Schwerpunkt der Debatte um die DDR-Flüchtlinge.166 In der ursprünglichen Fassung des Bundesvertriebenengesetzes hatte die Definition des Sowjetzonenflüchtlings das Vorliegen einer Zwangslage verlangt, die bei Gefahr für das eigene Leben und die persönliche Freiheit gegeben sei.167 1957 wurde im Rahmen einer Novellierung des Gesetzes eine Anpassung der Definition vorgenommen, die zu einer Vereinheitlichung der Entscheidungspraxis der Behörden beitragen sollte.168 Mit der Novelle wurde der „schwere Gewissenskonflikt“ als weitere mögliche Zwangslage in die Flüchtlingsdefinition eingefügt.169 Die Bundesregierung bezweckte mit der Ergänzung jedoch keine Ausweitung des anerkennungsberechtigten Personenkreises.170 Protestantischen Akteuren bot der in das umstrittene Gesetz aufgenommene Gewissensbegriff mit seiner christlichen Verwendungstradition hingegen neue Anknüpfungsmöglichkeiten. Unter anderem, die in der westdeutschen Gesellschaft verbreitete Vorstellung von einer Überzahl sogenannter Wirtschaftsflüchtlinge zurückzudrängen. Das Hilfswerk konzentrierte seine Kritik nun stärker auf die Auslegung des Gewissensbegriffs, um ihn als juristischen Hebel zur Ausweitung der Definition politischer Fluchtgründe zu nutzen. Im Mittelpunkt standen besonders Angehörige von akademischen Berufen, die dem ostdeutschen Staat weiterhin in großer Zahl den Rücken kehrten. Deren Situation wurde in den späten 1950er Jahren in der Presse mehrfach thematisiert.171 Von einer stärkeren Berücksichtigung des Gewissenskonflikts bei der Anerkennung hätten vor allem Ärzte oder Lehrer profitieren können.172 Angehörige dieser bürgerlichen Berufsgruppen hatten in den allermeisten Fällen zwar keinen direkten Widerstand gegen Staat und Partei geleistet, wurden aber in ihrem Alltag vor persönliche Dilemmata gestellt. Die Informationsbriefe der Beratungsstelle behandelten beispielsweise ausführlich den Fall einer kirchlich sozialisierten Verwaltungsmitarbeiterin, die sich mehrfach einem Beitritt in die SED verweigert hatte und aus Furcht vor Schikanen in den

166 167 168 169 170

Vgl. ebd., 136. Vgl. Heidemeyer, Flucht, 212. Vgl. ebd., 223. BGBl. Teil I, Nr. 47 vom 20. 8. 1957, 1208. Die Novelle des Gesetzes wurde als eine technische Änderung verstanden und sollte ausschließlich der Vereinheitlichung der Anerkennungspraxis dienen. (Vgl. Heidemeyer, Flucht, 222–224.) 171 Vgl. Ackermann, Flüchtling, 136. 172 Vgl. ebd., 137.

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Westen gekommen war, ohne einen C-Ausweis zu erhalten.173 Das Verwaltungsgericht hatte in diesem Fall geurteilt, die Motive der Antragstellerin seien zwar anerkennenswert, jedoch sei keine Zwangslage im Sinne einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben oder persönliche Freiheit gegeben gewesen.174 Aufbauend auf solchen Fallbeispielen wurden Gewissenskonflikte wiederholt zum Hauptthema der diakonischen Veröffentlichungen. Heinrich von Schönberg verwendete den Gewissensbegriff dabei ausschließlich juristisch. In einem Vortrag im Programm des Süddeutschen Rundfunks bezog er sich primär auf das Argument, die restriktive Auslegung von Gewissensgründen durch die Ämter widerspreche dem ursprünglichen Willen des Gesetzgebers.175 Auch auf eine besondere protestantische Semantik wurde kein Bezug genommen.176 Dem dezidiert neutralen Selbstverständnis der Rechtsberatungsstelle stand ein direkter Bezug auf die religiöse Konnotation des Begriffs entgegen. Weder auf die protestantische Tradition des Begriffes noch auf ein allgemeiner gefasstes christliches Gewissensverständnis wurde in den Publikationen rekurriert. Für die kirchlichen Vertreter hatte das Thema dennoch hohen Stellenwert. Anhand der Frage, wie individuelle Gewissensgründe zu beurteilen seien, ließ sich eine Abgrenzung der Kompetenzen von Staat und Kirche vornehmen. Protestantische Akteure sahen sich als Experten für dieses Thema und polemisierten gegen den staatlichen Umgang mit dem Gewissensthema. Der Selbsteinschätzung des in den späten 1950er Jahren aktiven Flüchtlingsbeirats der EKD zufolge war die evangelische Kirche die einzige Institution, die dieses vernachlässigte Thema auf die Agenda der Flüchtlingspolitik brachte.177 Dem Staat wurde die Qualifikation zur Beurteilung von Gewissensfragen abgesprochen. Eine 1958 publizierte Studie des Hilfswerks stellte apodiktisch fest, solche Angelegenheiten seien formal nicht überprüfbar.178 Auch der Kontext der Systemauseinandersetzung wurde bemüht. In der Anerkennungspraxis würden die Behörden Gewissensgründe meist als nicht existent ansehen und somit kein freiheitliches Menschenbild vertreten.179 Indirekt erklärte das Hilfswerk die Gewissensfrage damit auch zu einem Bestandteil des Systemkonflikts: In der Auseinandersetzung mit dem sozialistischen Kollektivge173 Informationen der Beratungsstelle für Sowjetzonenflüchtlinge Nr. 65, Januar 1959 (EZA Berlin 54/11). 174 Ebd. 175 Schreiben Heinrich von Schönberg an Wilhelm Gundert, 29. 8. 1958 (EZA Berlin 2/4273). 176 Im Protestantismus wird das Gewissen zumeist als eine an die biblische Offenbarung gebundene, handlungsbeurteilende Instanz des Individuums verstanden. Diese Begriffstradition wird bis zur Reformation zurückgeführt. Vgl. Kress, Art. Gewissen; Anselm, Art. Gewissen. 177 Niederschrift über die Sitzung des Flüchtlingsbeirats am 19./20. 1. 1959 (EZA Berlin 54/9). Diese zeitgenössische Selbsteinschätzung ist größtenteils nicht haltbar, da auch die katholische Seite gegenüber der Politik die Frage der Gewissensgründe thematisierte und es Thema der Aussprachen im Deutschen Bundestag war. (Ackermann, Flüchtling, 119 und 136 f.). 178 Innere Mission und Hilfswerk, Flüchtlingssituation 1958, 34. 179 Ebd.

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danken sollte die Bundesrepublik das Gewissen als Zeichen für den Wert des freien Individuums hochhalten. Der Flüchtlingsbeirat der EKD skandalisierte in Berufung auf den Gesetzestext die Situation. In einem von Heinrich von Schönberg maßgeblich mitverfassten Papier bezeichnete das Gremium die fehlerhafte Beurteilung von Gewissenskonflikten als einen der „hauptsächlichsten menschlichen Schäden, die vielen Zuwanderern zugefügt“180 würden. Zudem beklagte der Flüchtlingsbeirat in einem Schreiben an Bundeskanzler und Bundesvertriebenenminister die fehlende Berücksichtigung von Gewissensnöten der Flüchtlinge und forderte eine „authentische Interpretation der Anerkennungsvoraussetzungen“181 nach dem Bundesvertriebenengesetz ein. Der hohe Stellenwert der Gewissensthematik innerhalb des westdeutschen Protestantismus lässt sich auch mit Blick auf die teilweise parallel verlaufende Auseinandersetzung um die Kriegsdienstverweigerung erklären. Im Rahmen der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik hatte es eine umfangreiche Auseinandersetzung um die Definition des Gewissensbegriffs und die Position der evangelischen Kirche zur Beurteilung individueller Gewissensgründe gegeben.182 Die Akteure der Flüchtlingshilfe versuchten bisweilen rechtliche Parallelen zur Anerkennung von Gewissensgründen im Rahmen der Wehrdienstverweigerung zu ziehen.183 Flüchtlingsaufnahme als Bestandteil der Systemauseinandersetzung Die Argumentation des Hilfswerks bediente zugleich den Kontext der Auseinandersetzung der politischen Systeme im Kalten Krieg. Die wiederholte Forderung nach einer angemessenen Berücksichtigung des Gewissens für die Flüchtlingsaufnahme ermöglichte auch Appelle an das Selbstbild der Bundesrepublik als westlichen Staat, der sich zur Abgrenzung vom totalitären Osten besonders für den Schutz und die Anerkennung des individuellen Gewissenskonflikts einsetzen müsse. Derart konnte eine großzügige Flüchtlingsanerkennung gegenüber dem Staat als Schutz der Personalität und der Individualität vor der sozialistischen Vermassung präsentiert werden. Für die Ausweitung des Begriffs der politischen Flucht durch die Akteure evangelischer Flüchtlingshilfe war der Antikommunismus von entscheidender Bedeutung. Zugleich bieten die Quellen aus dem Kontext der Flüchtlingsdebatte auf den ersten Blick ein ambivalentes Bild. Zwar gab es im Protestantismus auch dezidiert antikommunistische Stimmen, die sich besonders im Umfeld 180 Arbeitsergebnisse des Sonderausschusses Notaufnahmeverfahren, 28. 10. 1958 (EZA Berlin 54/11). 181 Entschließung des Flüchtlingsbeirats der EKD, 25. 2. 1959 (EZA Berlin 87/133). 182 Zur Positionierung des Protestantismus in der Debatte um die Kriegsdienstverweigerung in den 1950er Jahren siehe Meyer-Magister, Individualisierung. 183 Aktenvermerk Paul Collmers für Heinrich von Schönberg, 10. 8. 1959 (ADW Berlin HGSt 6909).

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der Unionsparteien sammelten.184 Auf Veranstaltungen und Foren der Flüchtlingsarbeit wurde hingegen vor ideologischen Formen des Antikommunismus gewarnt. Ein Referent auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum zum Thema DDR-Flucht, bei der auch Karl Ahme auftrat, bezeichnete derart simple Formen der Auseinandersetzung mit dem Marxismus als gefährlich.185 Besonders in der akademischen Theologie und in den evangelischen Akademien186 wurde der Anspruch gepflegt, sich intellektuell mit dem Kommunismus auseinanderzusetzen. Auch auf Tagungen der Flüchtlingshilfe wurden Vorträge gehalten, die sich dem marxistischen Atheismus und dem ihm zugrundeliegenden historisch-dialektischen Materialismus widmeten.187 Ein wiederkehrendes Element war die Selbstverortung als in der Konfliktsituation einzig dem Ideal der Humanität verpflichtete neutrale Kraft. Der kirchlich engagierte Ministerialbeamte Ludwig Landsberg188 vertrat in seinen Veröffentlichungen in der evangelischen Vertriebenenzeitschrift „Der Remter“ die Position, die evangelischen Christen könnten sich auf keine der beiden Seiten stellen, da der sich nominell als christlich bezeichnende Westen durch das fehlende Mitgefühl für Flüchtlinge beweise, dass er dem religionslosen Osten nicht überlegen sei.189 Im Sinne des Neutralismus überschrieb Landsberg einen seiner Artikel mit „Weg zwischen Ost und Westen“190. Flüchtlingspfarrer Ahme lies zwar keinen Zweifel an seiner Ablehnung des Kommunismus, widmete aber der Anklage der westlichen Gesellschaft weitaus mehr Redezeit. Bei einem seiner Vorträge in Loccum beklagte er, die bundesdeutsche Gesellschaft mache sich durch ihr Verhalten schuldig191, an anderer Stelle empörte er sich über kostenintensive Kirchenneubauten in Westdeutschland angesichts der Notlagen seiner Schutzbefohlenen.192 Das Unbehagen hinsichtlich der westlichen Gesellschaft durchzog viele Beiträge zum Verhältnis von Flüchtlingshilfe und Systemkonflikt. Explizit als Bestandteil der Systemauseinandersetzung des Kalten Krieges bezeichnete ein Diskussionsteilnehmer die Flüchtlingsaufnahme bei der Tagung „Christliche Verantwortung im Kraftfeld des Kommunismus“ in der Evangelischen Akademie Bad Boll. Der Umgang mit den Flüchtlingen, so das Protokoll der Diskussion, habe eine zentrale politische Dimension, da der Wettstreit der Systeme nicht mit dem Beharren auf Formalismus zu gewinnen 184 Vgl. Loos, Stimmen, 213. Zum christdemokratischen Umfeld: Sauer, Westorientierung. 185 Vgl. Fischer, Verantwortung, 15. 186 Zur Arbeit der Akademien in der Nachkriegszeit siehe Treidel, Akademien; Mittmann, Akademien, 13–81. 187 Exemplarisch: Evangelische Akademie Bad Boll, Verantwortung, Teil 2; Ahme, Flüchtlingsproblem, 56. 188 Zu Ludwig Landsbergs Biographie siehe Teuchert, Gemeinschaft, 397 f. 189 Landsberg, Spannungsfeld, 22 f. 190 Ders., Weg, 30. 191 Ahme, Flüchtling in Berlin, 38. 192 Ahme, Karl: Das Flüchtlingsproblem als Frage an Kirche und Gemeinde, April 1957 (ELAB Berlin 1/873).

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sei.193 Vielmehr würde der bürokratische und abweisende Umgang mit den Flüchtlingen den östlichen Sicherheitsdiensten die Möglichkeit geben, den Westen zu verunglimpfen.194 Ähnliche Meinungen wurden in der kirchlichen Publizistik geäußert. Im „Sonntagsblatt“ appellierte ein Kommentator, der Westen müsse den Bürgern Ostdeutschlands die Möglichkeit bieten in Freiheit zu leben, sonst wirke „die Propaganda der Freiheit nicht ehrlich“195 und verfehle ihre Wirkung. Die Markierung der Flüchtlingshilfe als Teil der Systemauseinandersetzung wurde zumeist von einer Rhetorik überlagert, die für den Protestantismus einen neutralen Standpunkt beanspruchte. Diese Positionierung konnte sich institutionell durch den gesamtdeutschen Status der EKD legitimieren. Das Hilfswerk äußerte in seinem Bericht für die EKD-Synode in Berlin-Spandau 1957, seine Zielsetzung sei nicht die Beteiligung an der Auseinandersetzung zwischen den beiden deutschen Staaten, sondern „sich mit den Opfern dieser politischen Situation“196 zu beschäftigen. Die diakonische Tätigkeit ignoriere den politischen Kontext und geschehe allein „um der Menschen willen, die in Not sind und Anspruch auf unseren Beistand haben“197. Die explizite Negation einer eigenen Position in der politischen Systemauseinandersetzung unterstrich die von den Akteuren des Hilfswerks wie auch der Flüchtlingsseelsorge gepflegte Rhetorik der Humanität. Zumeist wurde die Hinwendung zu den Opfern der politischen Teilung als die zentrale Aufgabe protestantischer Institutionen umschrieben. Karl Ahme betonte, für ihn und seine Mitarbeiter sei die „Flüchtlingssituation in erster und entscheidender Linie eine rein menschliche Frage“198. Die Kirche trete nicht für Deutschland oder die Freiheitsideale des Westens ein, sondern aufgrund der jesuanischen Gebote nur für die Menschen selbst.199 Die Dichotomie von Menschlichkeit und Politischem durchzog Ahmes Veröffentlichungen und Stellungnahmen. Durch die Betonung „menschlicher“ Gründe stellte er die Flüchtlingskategorie des victim stärker in den Vordergrund. Ahme versuchte das Schlagwort der „politischen Fluchtgründe“ auszuweiten und durch den Begriff allgemein „menschlicher Fluchtgründe“ zu ersetzen: „Weiterhin verbreitet ist die Vorstellung, als wenn lediglich die Gefährdung an Leib und Leben, also der rein politische Fluchtgrund allein als Fluchtgrund Geltung haben dürfte, und dass alle anderen Gründe dem gegenüber zurückzutreten hätten, also keine Fluchtgründe wären, und dieser Mensch in der Zone hätte 193 194 195 196 197 198

Evangelische Akademie Bad Boll, Verantwortung, Teil 2, 2. Ebd. Draußen vor unserer Tür: Was ist die Freiheit wert? In: Sonntagsblatt, 17. 8. 1952, 1. Bericht des Hilfswerks für die Synodalen 1957 (ADW Berlin HGSt 6906). Ebd. Karl Ahme: Gedanken zum Notaufnahmeverfahren in Berlin, Februar 1957 (ELAB Berlin 1/ 873). 199 Vgl. Ahme, Flüchtlingsproblem, 61.

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bleiben müssen. Diese Meinung ist die Folge der Unkenntnis der wahren Verhältnisse in der DDR. […] Alles zusammengenommen dürfen wir sagen: Die rein menschlichen Gründe, die eine Folge des politischen Zustandes sind, veranlassen den weitaus grössten Teil der Flüchtlinge, ihre bisherige Heimat und Umgebung aufzugeben.“200

Ahme vertrat die Forderung nach einem Primat der Humanität vor Fragen der politischen Abwägung bei der Beurteilung von Fluchtgründen bei vielen sich ihm bietenden Gelegenheiten. Die Motivation aus Nächstenliebe garantiere, so Ahme, auch in politisch-rechtlich aufgeladenen Kontexten die eigene Neutralität. Die von der Flüchtlingsseelsorge geleistete Unterstützung bei der Erlangung einer Anerkennung als politischer Flüchtling dürfe nur als Erfüllung des christlichen Liebesgebots verstanden werden.201 Die Betonung der eigenen Neutralität blieb jedoch im Kontext des Systemkonflikts verhaftet. Die rhetorische Beschwörung der Menschlichkeit baute auf antikommunistischen Prämissen auf, die nicht in jeder kommunikativen Situation explizit gemacht wurden. Besonders deutlich wurde die antikommunistische Implikation des Menschlichkeitsbegriffs der evangelischen Flüchtlingshilfe beim Hilfswerk.202 Dessen Führungspersonal markierte die Flüchtlingshilfe als Bestandteil der Auseinandersetzung mit der Ideologie des „Ostblocks“. Paul Collmer, der Vorgesetzte Heinrich von Schönbergs, forderte in der Eröffnungsrede einer Tagung der Einrichtungen evangelischer Flüchtlingsarbeit von den Teilnehmern die Bereitschaft für einen „Kampf um die Menschlichkeit“203 ein. Besonders in der alltäglichen Arbeit der Mitarbeiter von Kirche und Diakonie sei es notwendig, angesichts des Kommunismus mit einer „menschlichen Seite“ und Zuwendung zu den Hilfsbedürftigen Stärke zu beweisen.204 Die antikommunistische Ausrichtung wurde zumeist über die unausgesprochenen Prämissen verhandelt und von der Betonung des neutralen Standpunkts der Flüchtlingshilfe verdeckt. So war die Flüchtlingsdebatte etwa auch Bestandteil des zeitgenössischen Diskurses über den Personalismus als Gegenpol zu Kommunismus und Liberalismus205, auch wenn der in christdemokratischen und katholischen Kreisen verbreitete Personenbegriff nicht verwendet wurde. Deutlicher trat dies hingegen hervor, wenn protestantische Akteure die Perspektive auf die westdeutsche Aufnahmegesellschaft richteten. 200 Karl Ahme: Das Flüchtlingsproblem als Frage an Kirche und Gemeinde, April 1957 (ELAB Berlin 1/873). 201 Ahme, Flüchtling in Berlin, 47. 202 Zum Zusammenhang von Menschlichkeitsrhetorik, Menschenrechtsgedanken und Antikommunismus in der Nachkriegszeit vgl. Moyn, Last Utopia, 71. Die bedeutendste West-Berliner Antikommunistenorganisation unter Leitung des kurzzeitigen Hilfswerk-Mitarbeiters Ernst Tillich gab sich zudem den einschlägigen Namen „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ (Allen, Befragung, 16–19 und 54 f.). 203 Collmer, Einleitung, 13. 204 Ebd., 11 f. 205 Vgl. Moyn, Personalismus, 66 f.

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Kritik der westdeutschen Aufnahmegesellschaft – Die Flüchtlingsdebatte als Rechristianisierungs- und Volksmissionsdiskurs Das „Sonntagsblatt“ zitierte in einem umfangreichen Artikel zur Situation der DDR-Flüchtlinge einen ostdeutschen Pfarrer mit den Worten: „Ich fürchte den Staatssicherheitsdienst, aber ich fürchte auch euer Gesellschaftssystem.“206 Dieser kurze Ausschnitt aus der Berichterstattung während der Hochphase der Abwanderungsbewegung 1953 verweist auf die Verwobenheit der Debatte um die Aufnahme und Anerkennung von Flüchtlingen in den westdeutschen Staat und der Kritik der Aufnahmegesellschaft. Jan Eckel hat auf die Doppelfunktion der Gemeinschaftskonzepte verwiesen, die auf den christlichen Personalismus und der Rhetorik der Humanität aufbauten. Sie ermöglichten ihren Vertretern, ein christlich-konservatives Gesellschaftskonzept gegen den liberalen Individualismus und die Totalitarismen beider politischer Extreme abzugrenzen.207 Dieser Befund lässt sich mit Anpassungen auch auf den protestantischen Flüchtlingsdiskurs der Nachkriegszeit übertragen. Während die antikommunistische Ausrichtung im Protestantismus selten explizit gemacht und zugunsten einer Inszenierung der eigenen Neutralität heruntergespielt wurde, wurde das Verhalten der westdeutschen Aufnahmegesellschaft intensiv und kritisch verhandelt. Die Debattenakteure formulierten ihre Positionierungen zur Flüchtlingsaufnahme häufig als Appelle an die westdeutsche Bevölkerung und verbanden somit den Flüchtlingsdiskurs mit einer volksmissionarischen Gesellschaftskritik. Die Aufnahmegesellschaft selbst wurde von den Akteuren der evangelischen Flüchtlingshilfe oftmals nur sporadisch beschrieben. Zumeist wurde ein vom Wirtschaftsaufschwung profitierendes bürgerlich-mittelständisches Klientel als repräsentativ für die Westdeutschen gesetzt. Diese verhielten sich würdelos, seien vor allem interessiert an Konsum und Luxus und hätten das Schicksal der Ostdeutschen rasch vergessen, so der Referent einer Loccumer Akademietagung.208 Paul Collmer erklärte sich die immer größer werdende Distanz zwischen ostdeutschen Flüchtlingen und westdeutscher Gesellschaft mit dem Phänomen der unbewussten Verdrängung. Für die meisten Westdeutschen passten die Flüchtlinge nicht in die geordnete Alltagswelt, daher würde man „ihre Existenz im öffentlichen Bewusstsein als störend“209 empfinden. Der Vorwurf der Verdrängung des Schicksals der Ostdeutschen im Allgemeinen und dem der Flüchtlinge im Besonderen fungierte als zentraler Topos. Besonders detailliert entwickelte Ludwig Landsberg diese Form der Psychologisierung in seinen Beiträgen im „Remter“. Die gesamte öffentliche Diskussion über Fluchtursa206 207 208 209

Jede Nacht klopft es an ihrer Tür. In: Sonntagsblatt, 29. 2. 1953, 5. Vgl. Eckel, Ambivalenz, 78. Vgl. Fischer, Verantwortung, 19. Collmer, Einleitung, 11.

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chen und die Bestimmung politischer Fluchtgründe, so Landsberg, sei ein Abwehrreflex der westdeutschen Gesellschaft, die wegen materieller Verlustängste und einer falschen Grundeinstellung nur die Zurückweisung weiterer Flüchtlinge im Sinn habe.210 Das Volk befinde sich in „den Ketten des Mammons“211 und sei fixiert auf materialistische Werte. Besonders die verbreitete „Das-Boot-ist-voll“-Rhetorik regte Landsberg zum Widerspruch an. Die Bootsmetapher drehte er um, indem er anführte, die aufgenommenen Millionen Flüchtlinge und Vertriebene hätten kräftig dabei geholfen, das bundesdeutsche Boot „wieder flott zu machen“212. Die vorgebrachten Argumente für ein restriktives Aufnahmeregime bezeichnete Landsberg als „fadenscheinig“ und bezweifelte in einem seiner Texte, ob es den in Ruhe und Wohlstand lebenden Westdeutschen überhaupt möglich sei, die Lage der Menschen im Osten zu beurteilen.213 Ein anderer Autor des Remter stellte die These auf, die westdeutsche Gesellschaft würde Einzelfälle von kriminellen Flüchtlingen aus dem anderen Deutschland in erster Linie verallgemeinern, um sich so vor der eigenen Verantwortung und dem unterbewussten Schuldgefühl gegenüber den Hilfsbedürftigen zu drücken.214 Teilweise beruhte die Polemik auch auf realen Erfahrungen aus der praktischen Arbeit. Karl Ahme wetterte in einem seiner Vorträge gegen anonyme Zuschriften an seine Gemeinde, in denen sich Absender abfällig über das Verhalten der DDR-Zuwanderer und deren Motive äußerten.215 In seiner Replik warf Ahme der westdeutschen Gesellschaft Unkenntnis über die Verhältnisse in der DDR sowie umfassende Verdrängung vor. Ursächlich für die Abwehrhaltung sei, dass die Westdeutschen nach den Arbeitsanstrengungen des Wiederaufbaus und der Kriegszeiten sämtliche Erinnerungen an unsichere Existenzlagen nicht sehen wollten.216 Vielmehr müsse die christliche Verkündigung an die Notleidenden nun höchste Priorität haben.217 An Karl Ahme wird die Doppelausrichtung der Volksmission im Kontext der DDRFlüchtlinge besonders deutlich sichtbar. Einerseits zielte die Flüchtlingsseelsorge auf die Rechristianisierung beziehungsweise Missionierung der Zuwanderer aus der DDR, deren Kirchenbindung sich mit der Verfestigung des ostdeutschen Staates und seines Einflusses auf die Bevölkerung deutlich verringerte, ab. Andererseits wurde das Thema Flüchtlingsaufnahme auch als Gelegenheit zur religiösen Reaktivierung der Christen in Westdeutschland und ihrer Kirchengemeinden gesehen und somit zum Programm der Re210 211 212 213 214 215

Vgl. Landsberg, Spannungsfeld, 23. Ders., Vertriebenen- und Flüchtlingsproblem, 14. Landsberg, Spannungsfeld, 23. Ebd. Vgl. Reinartz, Flucht, 259. Ahme, Karl: Das Flüchtlingsproblem als Frage an Kirche und Gemeinde, April 1957 (ELAB Berlin 1/873). 216 Ebd. 217 Ebd.

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christianisierung einer zwar in volkskirchlichen Strukturen lebenden, aber innerlich vom Glauben entfremdeten Bevölkerung erklärt.218 Ahme forderte bei einem seiner Auftritte vor kirchlichen Mitarbeitern, die Kirche müsse die Flüchtlingsseelsorge überall zu ihrem Schwerpunkt machen, nur so könnten die statischen Gemeinden aufgeweckt und zu einer wirklichen christlichen Kirche werden.219 Ludwig Landsberg, der besonders den Konsummaterialismus als Ursache für das Desinteresse an der Flüchtlingssituation ausmachte, verstand den Einsatz für die Aufnahme von Flüchtlingen in den Westen als Beitrag zu einer christlichen Erneuerung der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Die vermeintliche geistige Schwäche der westdeutschen Gesellschaft ordnete er zudem in die Systemauseinandersetzung ein. In einem seiner Aufsätze stellte er die rhetorische Frage, ob der Westen überhaupt besser dastehen würde, wenn der sozialistische Osten alle seine Versprechungen wahr machen könnte.220 Im Umkehrschluss forderte Landsberg, der Westen müsse seine Stärke aus einer Besinnung auf die geistigen Grundlagen des Christentums ziehen.221 In einem Bericht des Deutschen Evangelischen Frauenbundes zur Arbeit mit geflüchteten Müttern wurde in ähnlichem Stil vermerkt, besonders Mütter aus ländlichen Gegenden, die mit großen Hoffnungen auf eine christliche Gesellschaft gekommen seien, könnten angesichts des herrschenden Egoismus und Materialismus im Westen nur enttäuscht werden.222 Eine Broschüre der Flüchtlingsseelsorge setzte diese Argumentationsform illustrativ in einem Zweischritt um. Anhand von Texten aus SED-Zeitungen wurde ein diffamierendes Bild des dialektischen Materialismus als Hassideologie gezeichnet. Eine dem gegenübergestellte Sammlung von Bibelzitaten schloss mit der anklagenden Frage an die Leserschaft, ob die westdeutschen Kirchengemeinden überhaupt dazu in der Lage seien, die christliche Liebe als Vorbild für die Geflüchteten und Gegenstück zu dieser Weltanschauung zu verwirklichen.223 Deutlich wird die Verknüpfung von Flüchtlingshilfe, Gesellschaftskritik und Volksmissionskonzepten ebenfalls am Beispiel der Person Reinhard Wester, dem höchsten Repräsentanten des westdeutschen Protestantismus in Flüchtlingsangelegenheiten. Wester war ein exponierter Vertreter volksmissionarischer Ansätze. Der Bischof von Schleswig hatte sich vor seiner Ernennung zum Ratsbeauftragten für Vertriebene und Flüchtlinge im Jahr 1957 mit der Forderung nach einer neuen volksmissionarischen Bewegung profiliert. In einem Referat vor der Generalsynode der lutherischen Gliedkirchen 218 Volksmission bezeichnete christliche Missionsbestrebungen innerhalb bestehender Kirchenstrukturen und christlicher Bevölkerungsgruppen, siehe dazu Knobloch, Art. Volksmission, 1196. 219 Ahme, Flüchtlingsproblem, 59. 220 Landsberg, Weg, 32 f. 221 Ebd. 222 KJ 1960, 294. 223 Handzettel der Evangelischen Flüchtlingsseelsorge, o. D. (LAELKB Nürnberg DW 1395).

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hatte Wester gefordert, angesichts einer verkrusteten bürgerlichen Gemeindestruktur müssten Diakonie und Mission zur neuen Grundlage des kirchlichen Handelns werden.224 Kurz nach seiner Ernennung zum EKD-Beauftragten wurde Wester, der bei der Außendarstellung auf medienwirksame Besuche von Aufnahme- und Übergangslagern setzte, in der Presse mit dem Satz zitiert, das Wirtschaftswunder habe die Christen in den „satt und unbeweglich gewordenen Kirchengemeinden“225 blind für die Not der Flüchtlingslager gemacht. Dieses bischöfliche Zitat fand trotz seiner missionarischen Stoßrichtung in der politischen Öffentlichkeit größeren Widerhall. Ein Bundestagsabgeordneter zitierte es in einer Parlamentsdebatte über die Lage der DDR-Flüchtlinge als Beleg für die vermeintliche Apathie der bundesdeutschen Gesellschaft.226 Die Abwertung des westdeutschen Wohlstandsmaterialismus erfreute sich auch in der christlichen Publizistik großer Verbreitung. Rhetorisch stellte das „Sonntagsblatt“ seinen Lesern die Frage, ob Menschen in bürgerlicher Sicherheit überhaupt etwas von der Not der Flüchtlinge verstehen könnten.227 In einem anderen Artikel wurde die materielle Sicherheit der Westdeutschen als trojanisches Pferd bezeichnet, für das sie jetzt den Preis zu zahlen hätten.228 Die Zuwanderung der entbehrenden Menschen aus dem anderen deutschen Staat sei die Rechnung für die prall gefüllten Schaufenster des westlichen Lebens, so der Artikel.229 Die Flüchtlingsdebatte ließ sich vielfach um Forderungen nach einer geistigen Erneuerung der Bundesrepublik ergänzen und mit volksmissionarischen Deutungsmustern verknüpfen. Angesichts der verbreiteten Ansichten über die Hegemonie der Kirchen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft der 1950er Jahre230 wirkt es möglicherweise kontraintuitiv, dass die wichtigsten Akteure der protestantischen Flüchtlingsarbeit ein ausgesprochen pessimistisches Bild vom Stellenwert des Christentums in der westdeutschen Gesellschaft zeichneten. Vor dem Hintergrund einer konservativen Vergangenheitsdeutung, für die der Krieg und der Nationalsozialismus als Produkt einer säkularisierten Gesellschaft galten, erschien das Negativbild der westdeutschen Aufnahmegesellschaft aber als konsequent.231 Ahme bezeichnete den Materialismus als ein andauerndes

224 225 226 227 228 229 230

Wester, Missionierende Kirche, 15–18. Der evangelische Flüchtlingsbischof. In: Rheinischer Merkur, 29. 8. 1958, 6. Sten. Ber. BT 3/39 vom 3. 7. 1958, 2310. Zweihunderttausend suchen die rettende Insel. In: Sonntagsblatt, 2. 4. 1952, 2. Jede Nacht klopft es an ihrer Tür. In: Sonntagsblatt, 29. 2. 1953, 5. Ebd. Zum Status der beiden christlichen Großkirchen in der Nachkriegszeit siehe Grossbölting, Himmel, 22–34. Den Stellenwert der christlichen Konfessionen in der Gesellschaft der 1950er Jahre wird differenziert von Kristian Buchna diskutiert, vgl. Buchna, Jahrzehnt, 348–368. 231 Vgl. Solchany, Antimodernismus, 382–385.

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Übel, das die Deutschen bereits seit dem 19. Jahrhundert heimsuche und das auch durch die Kriegsgräuel nicht überwunden sei.232 Oberstes Ziel der Appelle an die Aufnahmegesellschaft war die Bestärkung der Solidarität mit den Zuwanderern. Dabei ging es den volksmissionarisch orientierten Akteuren einerseits um praktische Hilfe im Alltagsleben, andererseits um eine geistige Erweckung. Im Falle der deutsch-deutschen Migration ließ sich sowohl auf nationale wie auch religiös-konfessionelle Solidaritäten referieren, um für Empathie zu werben. Im protestantischen Kontext wird diese Doppelfunktion besonders an der Verwendung der Bezeichnung der DDR-Bürger als Geschwister deutlich. Einerseits verwies der Begriff „Brüder und Schwestern“ auf den Volksbegriff und sollte die nationale Verbundenheit der Deutschen über die Zonengrenzen hinweg verdeutlichen. Zum anderen ermöglichte die Geschwistermetapher die Anknüpfung an die biblische Verwendungstradition, die das Verhältnis der christlich-kirchlichen Gemeinschaft untereinander beschreiben sollte. Das Beispiel des im vorhergehenden Unterkapitel behandelten Kirchentagsmottos „Wir sind doch Brüder“ belegt die Popularität der Geschwistersemantik im Protestantismus der Nachkriegszeit.233 Der Begriff verdeutlicht mit seiner Doppeldeutigkeit auch die Funktion der protestantischen Solidaritätsrhetoriken im Kontext der Flüchtlingsdebatte. Karl Ahme bezog sich häufig auf die Notwendigkeit einer Solidarität mit den Angehörigen des eigenen Volkes und bezeichnete die Lage als einen nationalen und kirchlichen Notstand, der die Aufmerksamkeit der gesamten evangelischen Christenheit benötige.234 Die nationale Codierung nahm im Verlauf der 1950er Jahre ab und wurde von den Bezügen auf eine unbestimmte christliche Humanität überlagert. Die Hilfe für die DDR-Flüchtlinge wurde zunehmend in eine Reihe mit der Hilfe für Flüchtlinge auf der ganzen Welt gestellt und als universelle christliche Pflicht begründet. Im Kontext des von den Vereinten Nationen initiierten Weltflüchtlingsjahrs 1959 veröffentlichte der Flüchtlingsbeirat der EKD, dem auch Karl Ahme angehörte, eine Broschüre, in der die Hilfe für Flüchtlinge ausschließlich biblisch begründet und die deutsch-deutsche Migration in eine Reihe mit weltweiten Fluchtbewegungen gestellt wurde.235 Diese Entwicklung lässt sich teilweise auf transnationale Einflüsse zurückführen. Im konkreten Fall des Weltflüchtlingsjahrs kam der Impuls zur Beteiligung vom Lutherischen Weltbund, der seine Mitgliedskirchen dazu aufgefordert hatte, sich an den Aktionen im Rahmen des Weltflüchtlingsjahres zu beteiligen.236 Auch der Ökumenische Rat der Kirchen hatte an seine Mitglieder appelliert, die Aus232 Ahme, Flüchtlingsproblem, 55. 233 Exemplarisch vgl. Palm, Brüder. 234 Karl Ahme: Das Flüchtlingsproblem als Frage an Kirche und Gemeinde, April 1957 (ELAB Berlin 1/873). 235 Faltblatt „das habt ihr mir getan“ zum Weltflüchtlingsjahr 1959/1960 (EZA Berlin 2/4307). 236 Rundbrief der Hauptgeschäftsstelle Innere Mission und Hilfswerk der EKD an die Landesverbände, Betreff: Weltflüchtlingsjahr, 19. 5. 1959 (EZA Berlin 2/4307).

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rufung des Weltjahrs durch die Vereinten Nationen aufzugreifen.237 Der Aufruf des ÖRK negierte eine an nationalen oder konfessionellen Kriterien ausgerichtete Flüchtlingshilfe und argumentierte ausschließlich mit einem Verweis auf christliche Nächstenliebe: „Wir haben diesen Dienst der Hilfe nicht etwa deshalb getan, weil die Flüchtlinge zu unseren eigenen Kirchen gehörten. Bei den allermeisten von ihnen ist das ja keineswegs der Fall. Sondern wir haben es getan, getreu der Losung des Apostels Paulus: Die Liebe Christi dringt uns also!“238

Im Flüchtlingsbeirat der EKD wurden diese Gedanken aufgegriffen. Unter den Akteuren des westdeutschen Protestantismus erzeugte die Kampagne des Weltflüchtlingsjahres große Resonanz. Die kirchliche Hilfsarbeit verdankte besonders ihren britischen Partnerkirchen umfangreiche finanzielle Spenden für den Aufbau ihrer Einrichtungen in der ersten Hälfte der 1950er Jahre.239 Auch die später von den Vereinten Nationen aufgegriffene Ursprungsinitiative für das Sonderjahr stammte aus dem Umfeld der britischen Konservativen.240 Die Adaption der internationalen Kampagne innerhalb des westdeutschen Protestantismus war entsprechend von zwei Tendenzen geprägt. Einerseits wurde mit der Kampagne die Hoffnung verbunden, die internationale Aufmerksamkeit auf die Situation in der Bundesrepublik zu lenken.241 Andererseits sollte die deutsche Situation als ein Teil eines weltweiten Phänomens präsentiert werden. Der Ratsvorsitzende Otto Dibelius bezog sich in einem Aufruf an die Pfarrer seiner Landeskirche unmittelbar auf den ÖRK und betonte, die hiesige Situation sei nur „ein kleiner Ausschnitt aus der riesengroßen Not, die sich von Europa über den Nahen Orient bis zu den Ufern des Stillen Ozeans“242 ziehe. Der Fokus auf die nationale Sondersituation blieb bestimmend, während zugleich die das Weltflüchtlingsjahr dominierende humanitäre Rhetorik und die globale Kontextualisierung des Migrationsphänomens Eingang in den Diskurs des westdeutschen Protestantismus fanden. Das Sprechen über Migration und Fluchtgründe wurde zunehmend entnationalisiert. Die erstellte Gottesdienstvorlage des EKD-Flüchtlingsbeirats zeigt die Anpassungsfähigkeit des etablierten Vokabulars der Flüchtlingshilfe. In der neuen Gottesdiensthilfe erbat die Gemeinde in den Fürbitten nicht nur für das Vaterland, sondern auch um Hilfe für die „Brüder und Schwestern in aller Welt“243. Botschaft des Präsidenten des ÖRK zum Weltflüchtlingsjahr, 8. 6. 1959 (EZA Berlin 2/4307). Ebd. Vgl. Krimm, Beistand, 103. Vgl. Gatrell, Crisis, 34. Rundbrief Karl Ahmes an die Pfarrerschaft von Berlin-Brandenburg, 14. 8. 1959 (EZA Berlin 2/4308). 242 Rundbrief von Otto Dibelius an die Pfarrerschaft von Berlin-Brandenburg, 7. 8. 1959 (EZA Berlin 2/4308) 243 Gottesdienstbroschüre des Flüchtlingsbeirats zum Weltflüchtlingsjahr (EZA Berlin 2/4307).

237 238 239 240 241

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Protestantische Argumentationsformen im Flüchtlingsdiskurs der Nachkriegszeit Trotz der Tendenz zur Universalisierung der Deutung des Fluchtgeschehens gegen Ende der 1950er Jahre und der Legitimation der Flüchtlingshilfe mit dem Primat der Humanität kann diese innerprotestantische Entwicklung nicht als eine Hinwendung zu den universellen Menschenrechten als Leitkategorie gedeutet werden. Mit einem ausgefeilten Menschenrechtsprogramm wie der zeitgenössischen Menschenrechtserklärung von 1948 hatten die Akteure der evangelischen Flüchtlingshilfe keine Berührungspunkte. Als argumentativer Bezugspunkt hatte diese nur marginale Bedeutung. Karl Ahme referierte zwar im Kontext der Debatte um die Rechte der West-Berliner „Illegalen“ auf die Menschenrechte, um die Situation als politisches Versagen zu skandalisieren. Dabei wies er aber nur auf die Selbstbeschreibung des Staates hin. Die Demokratie, so Ahme in einem Vortrag in Loccum, habe sich zwar „die Menschrechte auf ihre Fahnen geschrieben“, wage es aber „Tausende und Abertausende von Menschen zu Bürgern 2. Klasse zu machen“244 und beschädige so ihre eigenen Wertmaßstäbe. Ahme referierte im Kontext dieser Äußerung vielmehr auf die „göttliche Grundbestimmung des Menschen“245, die durch das Arbeitsverbot für Nichtanerkannte verletzt werde sowie die möglichen Konsequenzen für den einzelnen Flüchtling. Die religiöse Anthropologie des Protestantismus und nicht die Menschenrechtserklärungen der Nachkriegszeit dienten ihm zur Legitimation. Zugleich lassen sich im protestantischen Flüchtlingsdiskurs der 1950er Jahre zahlreiche Elemente des christlichen Personalismus identifizieren, die Samuel Moyn bereits anhand mehrheitlich katholischer Untersuchungsbeispiele als Grundlage eines konservativen und antikommunistischen Menschenrechtsprogramms der Nachkriegszeit beschrieben hat.246 In diesem Kontext ist nicht nur auf die omnipräsente Deutung des Politischen im Horizont des Antitotalitarismus zu verweisen. Die sozialdisziplinarische Komponente des kirchlichen Flüchtlingsdiskurses belegt ebenfalls eine enge Verwandtschaft zum Personalismus, dessen Ideen bei Vertretern beider christlicher Konfessionen verbreitet waren.247 Wenngleich die hier untersuchten Akteure sich nicht in den christdemokratischen und akademischen Netzwerken der Personalismus-Vertreter bewegten, hatten sie auf Akademietagungen und in weltlichen und kirchlichen 244 Ahme, Flüchtling in Berlin, 38. 245 Ebd. 246 Vgl. Moyn, Last Utopia, 44–83; Ders., Personalismus, 63–91; Ders., Christian Human Rights, 4–12. 247 Moyn konstatiert, auch innerhalb des Protestantismus sei der Personalismus über Intellektuellennetzwerke verbreitet gewesen und verweist dabei auf seine Untersuchungen zu dem evangelischen Historiker Gerhard Ritter (Moyn, Christian Human Rights, 17 f. und 101–136; Ders., Personalismus, 86 f.).

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Publikationsorganen Zugang zu den entsprechenden Deutungsangeboten. Die Befürchtung, die Persönlichkeiten der Flüchtlinge könnten durch Lageraufenthalt und die Verlusterfahrung auf der Flucht deformiert werden, war ebenfalls einer der Legitimationsgründe für den Synodenantrag 1952 und die Arbeit des Hilfswerks. Im hier betrachteten Zeitraum des protestantischen Flüchtlingsdiskurses lassen sich bei der Untersuchung der Argumentationsformen deutliche Unterschiede zwischen den jeweiligen Debattenforen feststellen. Die Vertreter passten ihre Argumentation kontext- und adressatenbezogen an. Dem Gefahren- und Überlastungstopos setzten protestantische Akteure zumeist den Verweis auf nationale und konfessionelle Solidarität, Menschlichkeit aber auch auf die politischen Konsequenzen einer schlechten Behandlung der Zuwanderer entgegen. Der Rekurs auf die gesamtdeutsche Solidarität mit den Angehörigen des eigenen Volks nahm mit der Verfestigung der deutschen Teilung zunehmend ab.248 Die Akteure der Flüchtlingshilfe beklagten zunehmend eine „Verschwörung des Schweigens“249 und die fehlende Solidarität der Westdeutschen, ab Mitte der 1950er Jahre verschwanden Überschriften wie „Hüben und drüben – Ein Volk!“250 weitestgehend aus dem Sprachgebrauch der professionellen Flüchtlingshilfe wie der konfessionellen Publizistik. Zwar blieben gesamtdeutsche Aspekte innerhalb des Protestantismus präsent, verloren aber durch die Verschiebung des Debattenschwerpunkts weg von der prinzipiellen Frage nach der Aufnahme von DDR-Bürgern hin zu Detailfragen der Anerkennung an Bedeutung. Der evangelische Flüchtlingsbeauftragte Reinhard Wester stellte dem Schlagwort „Wir sind doch Brüder“ in seiner Botschaft an die Kirchengemeinden für das Jahr 1959 entsprechend den Verweis auf den alttestamentlichen Auftrag zum Schutz von Fremden zur Seite.251 Im innerprotestantischen Kontext waren theologische Deutungen des Migrationsgeschehens wie direkte Bezüge auf göttliche Imperative in Gestalt der biblischen Überlieferung präsent. Der Rekurs auf die christliche Nächstenliebe, zumeist unterstrichen mit dem Verweis auf einschlägige Bibelstellen, legitimierte eine großzügige Aufnahme von DDR-Flüchtlingen sowie den Einsatz der Kirche in diesem Politikfeld. Zudem war die Forderung nach einer offenen Aufnahme von DDR-Auswanderern eine Folge sozialdisziplinarischer und volksmissionarischer Überlegungen. Bereits zu Beginn bei der Debatte um die Rechtsstellung der abgelehnten Flüchtlinge in West-Berlin hatte sich der Humanitäts-Topos als zentraler Bezugspunkte etabliert. Der Rekurs auf 248 Marion Detjen vertritt die These, dass die neu erlangte wirtschaftliche Prosperität der Bundesrepublik eine gesellschaftliche Entwicklung hin zu Individualismus und apolitischen Einstellungen bedingte und der antikommunistische Aspekt der Flüchtlingsaufnahme daher an Bedeutung verlor (Detjen, Loch, 71). 249 Ahme, Flüchtlingsproblem, 49. 250 Hüben und drüben – Ein Volk. In: Sonntagsblatt, 20. 3. 1953, 1. 251 KJ 1959, 138.

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die Pflicht zu einer menschlichen Behandlung gilt in der Toposforschung als besonders anschlussfähig, da er in Bezug auf unterschiedliche ideologische Anliegen operieren kann.252 Karl Ahme leitete sein Verständnis von menschlicher Behandlung der „Illegalen“ beispielsweise aus religiösen Imperativen und Normvorstellungen ab. Insofern kann in diesem Fall von einer Präsenz religiöser Argumente in der Debatte gesprochen werden, die aber gegenüber der Öffentlichkeit immer in anpassungsfähigen Mischformen auftraten. Im Falle der diakonischen Flüchtlingshilfe verhielt sich die Situation anders. Das Hilfswerk der EKD trat seinem Selbstverständnis als moderner Wohlfahrtsverband entsprechend primär mit juristischen und sozialwissenschaftlichen Argumenten in die Öffentlichkeit, die in der Form von publizierten Studien, Memoranden, Fachartikeln oder Rundfunkvorträgen an die Rezipienten gelangen sollten. Die Publikationen hatten das Ziel, entweder politische Entscheider zu beeinflussen oder DDR-Flüchtlinge in der Wahrnehmung ihrer eigenen Rechtslage zu bestärken. Eine theologische Argumentation hätte der Selbststilisierung als advokatorischer Akteur ohne Eigeninteresse entgegengestanden. Auch nach der Fusion des Hilfswerks mit der allein schon durch ihren Namen eindeutiger als volksmissionarische Einrichtung markierten Inneren Mission im Jahr 1957253 änderte sich nichts an diesem Umstand, da die Abteilung für Sowjetzonenflüchtlinge und die Rechtsberatungsstelle von der Zusammenlegung der beiden großen evangelischen Wohlfahrtsverbände nicht betroffen waren.254 Die Vertreter des Hilfswerks wollten auf Augenhöhe mit anderen Experten fungieren und in erster Linie die Auslegung des Bundesvertriebenengesetzes mithilfe juristischer und sozialpolitischer Argumente beeinflussen. Bei der Frage nach der Anerkennung von Gewissensgründen verfolgte das Hilfswerk nach der Gesetzesnovelle von 1957 die Strategie, seine Interpretation der Flüchtlingsdefinition im Bundesvertriebenengesetz gegen die herrschende Rechtsauslegung durchzusetzen. Innerhalb dieses juristischen Spezialdiskurses hätten Bezüge auf naturrechtliche Vorstellungen und religiöse Grundwerte der Position des Hilfswerks eher geschadet und den eigenen Anspruch als juristische Experten aufzutreten, unterminiert. Die Flüchtlingsdebatte der 1950er Jahre als protestantischer Identitätsdiskurs Die Debatte um den Umgang mit der Migrationsbewegung bot die Gelegenheit zu einer neuen Selbstverortung in der Gesellschaft der Bundesrepublik. Der Einsatz für die Zuwanderer ermöglichte dem Protestantismus sich seiner 252 Vgl. Wengeler, Topos, 455. 253 Vgl. hierzu Wischnath, Kirche, 340–369; Sommer, Rechtswahrungsansprüche, 410. 254 Interner Vermerk Heinrich von Schönbergs zur Abteilung Flüchtlinge aus Mitteldeutschland, o. D. (ADW Berlin HGSt 6917).

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Funktion als gesamtdeutsche Klammer in praktizierter Solidarität mit den Menschen in Ostdeutschland zu versichern. Angesichts der Haltung der ostdeutschen Gliedkirchen gab es auf Ebene der EKD keine einheitliche Position zur Frage des Umgangs mit der DDR-Flucht. Während die Spitzenfunktionäre explizite Aussagen zu dem Thema mieden, sahen die Akteure der Flüchtlingshilfe in der Hilfe für und der Begegnung mit den Zuwanderern die Möglichkeit zur Selbstbewährung als christliche Gemeinschaft in Deutschland. Besonders die volksmissionarischen Deutungsmuster erwiesen sich als anpassungsfähig, da sie es den Akteuren ermöglichten, die Ereignisse der jüngeren Vergangenheit und der gegenwärtigen Umbrüche mithilfe tradierter Deutungsmuster theologisch zu interpretieren. Zudem boten die volksmissionarischen Ideen im Kontext der Flüchtlingsseelsorge die Möglichkeit zum Rückgriff auf bewährt erscheinende Handlungskonzepte zur Kompensation der Ausnahmesituation. Schleswigs Bischof Wester forderte als Flüchtlingsbeauftragter der EKD in einem Appell die Kirchengemeinden dazu auf, mit der Unterstützung der DDR-Flüchtlinge ihren Beitrag für den Zusammenhalt des geteilten Deutschlands zu leisten. Die Gemeinden nahm er dabei besonders in die Pflicht, sich „als zuverlässigste Brücke zwischen Ost und West“255 zu erweisen. Damit einher ging auch die Erwartung, die volkskirchlichen Strukturen und das religiöse Leben durch die Mobilisierung zur Flüchtlingshilfe in einen Prozess der geistigen Erneuerung zu führen. Volksmissionarisch orientierte Akteure wie Wester und Ahme versprachen sich von Flüchtlingsarbeit eine Möglichkeit zur religiösen Erneuerung. Von der Zuwendung zu den mittellosen Flüchtlingen erhofften sie sich eine christlich deutbare Alteritätserfahrung im Kontrast zur Lebenswelt der kritisch beäugten Wirtschaftswundergesellschaft. Dementsprechend wurde der Umgang mit den Flüchtlingen auch zur Bewährung der evangelischen Kirche in einem Ausnahmezustand deklariert. Nicht nur der freie Westen sollte sich im Gegensatz zum kommunistischen Osten bewähren, sondern auch die protestantische Gemeinschaft. Die Akteure diagnostizierten vielfältige Herausforderungen in Gestalt der saturierten westlichen Gesellschaft und der Gefahr der massenhaften sozialen wie geistigen Verelendung von Flüchtlingen. In der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus dominierte trotz differenzierter Stimmen eine seit Jahrzehnten etablierte Tendenz, die Bedrohung des Christentums durch den Kommunismus in den dunkelsten Farben zu zeichnen.256 Auch in dieser Hinsicht ließ sich der Einsatz der evangelischen Kirche in der Flüchtlingshilfe zur Überlebensfrage stilisieren. Der Bewährung des Christentums bei der Flüchtlingsaufnahme wurde ein größerer Stellenwert als der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem dialektischen Materialismus zugewiesen. Im Gutachten zu einer Loccumer Tagung konstatierten die Ver255 KJ 1959, 138. 256 Vgl. Greschat, Protestantismus, 329–332; Loos, Stimmen, 200–202. Exemplarisch für die zeitgenössische Einschätzung siehe Landsberg, Spannungsfeld, 20.

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fasser, dass eine Überwindung dieser Weltanschauung und ihrer „kristallklaren Logik“ nur durch christliche Liebestätigkeit und nicht durch intellektuelle Angriffe geschehen könne.257 Den Bedrohungsszenarien entsprechend dominierte die Rhetorik des historischen Superlativs zur Beschreibung des Zeitgeschehens und der Beschwörung einer Notwendigkeit des eigenen Handelns. In besonderem Maße galt dies für die zeitgenössischen Migrationsbewegungen. In seiner Botschaft zum Weltflüchtlingsjahr zeichnete der Vorsitzende des Rats der EKD, Otto Dibelius, das dramatische Bild von einer in der Weltgeschichte nie gesehenen „Sturmflut der Flüchtlinge“ und einem anbrechenden „Zeitalter der Barbarei“, unter dem Deutschland besonders zu leiden habe.258 Karl Ahme ging noch weiter und deutete die Situation in geschichtstheologischen Kategorien. Fluchtbewegung und deutsche Teilung seien eine göttliche Strafe für die Deutschen und somit eine religiöse Bewährungsprobe für Christen im Land: „Es müßte unseren Gemeinden und den verschiedenen Gemeindekreisen noch viel mehr als bisher bekannt gemacht werden, daß unsere heutige politische Situation nicht von ungefähr kommt, sondern daß wir wohl allen Anlaß haben, in ihr zu erkennen, daß das Strafgericht Gottes mit unserem Volke noch nicht zu Ende ist. Der Flüchtlingsstrom, der sich täglich aus der Zone nach Westdeutschland ergießt, ist das lebendige Menetekel für dieses noch im Vollzug stehende Gericht Gottes.“259

In einem Manuskript bezog er die Bewältigung der göttlichen Strafe direkt auf die Bewährung der Deutschen: „Ich bin heute der Meinung, daß die echte Lösung der Flüchtlingsfrage unter Umständen über die Existenz unseres Volkes entscheidet. Ich habe mich lange davor gehütet, dies auszusprechen, aber ich meine, so müssen wir als Christen die Sache sehen. Wir können doch das, was wir erleben, nicht anders sehen als das sich vollziehende Strafgericht Gottes an unserem Volk.“260

In der Form wie Karl Ahme vertrat sonst kein Akteur offen eine solche Interpretation der jüngsten Ereignisse als religiöse Prüfung. Sein Beispiel verdeutlicht aber die besondere Stellung, die Teile des Protestantismus der Befassung mit dem Flüchtlingsthema zumaßen.

257 Gutachten zum Loccumer Gespräch mit Bundesminister Oberländer, o. D. (EZA Berlin 87/ 130). 258 KJ 1959, 136. 259 Ahme, Flüchtlingsproblem, 55. 260 Karl Ahme: Erfahrungen aus den Berliner Flüchtlingslagern, o. D. (LAELKB Nürnberg IV/ 1–1/1).

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Flüchtlingshilfe – Deutung als politisches oder moralisches Problem? Die Neigung zu einer geschichtstheologisch eingefärbten Wahrnehmung der Flüchtlingssituation als religiöse Prüfung verweist auf die Tendenz insbesondere konservativer protestantischer Kreise, die sozialen und kulturellen Dimensionen des Migrationsgeschehens nicht politisch, sondern mit metaphysischen Kategorien zu deuten.261 Die Frage der Aufnahme und Unterstützung sowie der Konstruktion des Begriffs „echter“ und „falscher“ Flüchtlinge wurde religiös gedeutet und als Problem der moralischen Einstellung der Aufnahmegesellschaft verstanden. So schrieb das „Sonntagsblatt“: „Es ist keine materielle, es ist in erster Linie eine Frage nach unserer inneren Kraft, dass wir diese Menschen aufnehmen […].“262 Die Berliner Flüchtlingsseelsorge sah die Wurzel des Problems in der Apathie der Aufnahmegesellschaft. Dementsprechend setzte sie auf die moralische Beeinflussung von Einzelpersonen und Kirchengemeinden sowie die geistige Erneuerung der Bevölkerung, um Zustimmung für eine offene Aufnahme und Anerkennung von Flüchtlingen aus dem anderen deutschen Staat zu schaffen. Zugleich lässt sich in diesem Kontext ein Bewusstwerdungsprozess für die Veränderbarkeit der Migrationskategorien beschreiben. Mit der Reflexion des Begriffs des Politischen unter antitotalitären Prämissen und der zunehmenden Kritik der bürokratischen Strukturen und der Rechtsbestimmungen etablierte sich neben der religiös-moralischen Deutung eine politisch-systemische Perspektive. Insbesondere das Wirken des Hilfswerks, das mit seiner Arbeit sozialpolitische und rechtliche Veränderungen bewirken wollte, verdeutlicht diese Entwicklung. Für die Flüchtlingsseelsorge lässt sich dieser Befund trotz des Vorrangs der individuell-moralischen Deutung und der engen Verwachsenheit mit dem Volksmissionsdiskurs mit Einschränkungen übertragen. Auch der von einer missionarischen Agenda geprägte Karl Ahme hatte bereits bei seinem Eintreten für die „Illegalen“ die Notwendigkeit einer politischen Veränderung der rechtlichen Kategorien betont und sich mit entsprechenden Forderungen positioniert. In dieser Frage nahm Ahme eine teils widersprüchliche Position ein. Einer der Leitsätze der Flüchtlingsseelsorge war die Aussage, es handele sich hier „nicht so sehr [um] eine politische, sondern eine rein menschliche Frage“263. An anderer Stelle markierte Ahme die Einmischung in politische Auseinandersetzungen jedoch als eine dem Ausnahmezustand geschuldete Grenzüberschreitung gegenüber dem Staat. Die Flüchtlingsseelsorge verlasse zwar ihre eigentlichen Aufgaben, wenn sie Flüchtlingen einen Anwalt oder politische Vertretung zur Verfügung stelle, 261 Vgl. Grossbölting, Himmel, 75; Pollack, Kontinuitätslinien, 458. 262 Hüben und drüben – Ein Volk. In: Sonntagsblatt, 20. 3. 1953, 1. 263 Karl Ahme: Gedanken zum Notaufnahmeverfahren in Berlin, Februar 1957 (ELAB Berlin 1/ 873).

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müsse aber zugunsten ihrer Schützlinge in bestimmten Fällen so handeln.264 Zugleich implizierte die Humanitäts-Rhetorik der Flüchtlingsseelsorge auch einen Entzug des Themas aus der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung. Entsprechend blieben auch im innerprotestantischen Kontext die Konflikte um die Zulässigkeit der parteipolitischen und gesellschaftlichen Kontroverse sowie der Kategorisierung von Flüchtlingen nicht aus.265 2.1.3 Wer flieht aus dem Osten? Flüchtlingsfiguren des westdeutschen Protestantismus in den 1950er Jahren Im vorherigen Kapitel wurde bereits anhand der Ausweitung des Begriffs des Politischen dargestellt, wie protestantische Akteure versuchten, den Gegensatz zwischen „echten“ Flüchtlingen und „Wirtschaftsflüchtlingen“ aufzulösen und die Aufnahmekriterien zu dekonstruieren, indem diese als einseitige westdeutsche Perspektive auf den sozialistischen Staat dargestellt wurden. Bisher standen Argumentationsformen und rhetorische Strategien im Mittelpunkt. Der folgende Untersuchungsabschnitt widmet sich der Untersuchung von Flüchtlingsfiguren und der Konstruktion von Stereotypen durch die untersuchten Akteure. Welche soziale Funktion erfüllten die Flüchtlingsbilder innerhalb des Protestantismus? Zudem stellt sich bei der Ausarbeitung eines protestantischen Flüchtlingsbildes die Frage nach der Abgrenzung der spezifisch konfessionellen Gesichtspunkte von verwandten zeitgenössischen Diskursen sowie nach Kontinuitäten und Brüchen. Hierbei kann auf einige Arbeiten zurückgegriffen werden, die sich insbesondere mit der Vermittlung von Stereotypen jugendlicher DDR-Flüchtlinge befassen.266 Frank Hoffmann vertritt dabei die Ansicht, dass besonders die mediale Rezeption des 17. Juni 1953 dazu beitrug, dass die westdeutsche Presse die DDR-Flüchtlinge stärker als Freiheitskämpfer oder Opfer von Unterdrückung zeichnete und trotz gewisser Rückfälle in negative Klischees deutlich positiver darstellte.267 Belegt wird diese These mit der Auswertung der Aussagen von Politikern und der Zeitungsberichterstattung. Auf den protestantischen Kontext ist dieser Befund hingegen nur eingeschränkt übertragbar. Wie bereits dargestellt, hatten sich innerhalb protestantischer Kommunikationszusammenhänge aufgrund des besonderen Augenmerks für das „Illegalen“-Problem, das besonders Anfang der 1950er Jahren verhandelt wurde, bereits früher viktimisierende Darstellungen der DDR-Zuwanderer etabliert. Als Quellenarten bieten sich die öffentlich kommunizierten Darstellungen der Flüchtlingsseelsorge und des 264 Ahme, Flüchtling in Berlin, 47. 265 Vgl. hierzu den Abschnitt zum Streit um die Positionierung im Vorfeld der Bundestagswahl 1957. 266 Vgl. Hoffmann, Überlegungen, 63 f. 267 Hoffmann, Illegale, 147.

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Hilfswerks an. Medial vermittelte Flüchtlingsfiguren lassen sich anhand der Darstellung der Migranten in der kirchlichen Publizistik untersuchen. Relevante Foren zur Verbreitung der Flüchtlingsbilder waren zudem die evangelischen Akademien sowie interne Veranstaltungen für Mitarbeiter der kirchlichen Flüchtlingshilfe. Die Tagungen der Akademien bieten sich besonders für eine Untersuchung an. Die Evangelische Akademie Loccum war aufgrund der ihr angeschlossenen Forschungsstelle für Flüchtlingsfragen für Migrationsthemen prädestiniert.268 In anderen Akademien wurden eigene Veranstaltungen für Flüchtlinge angeboten, die ihnen die Plattform zum Austausch untereinander und zur Darstellung ihres eigenen Standpunkts bieten sollten. Ein Tagungsbericht aus Tutzing im November 1953 vermerkte die rege Beteiligung vieler selbst vom Thema der Veranstaltung Betroffener.269 Die Akademie im württembergischen Bad Boll veranstaltete in Zusammenarbeit mit den sogenannten Jugendgilden zudem eigene Tagungen für jugendliche DDRFlüchtlinge.270 Als herausgehobener Akteur für die Verbreitung eines protestantischen Flüchtlingsbildes im Untersuchungszeitraum kann Karl Ahme gelten. Das Hilfswerk verwendete in seinen Veröffentlichungen zwar ebenfalls stereotype Flüchtlingsdarstellungen, anhand der aber primär rechts- und sozialwissenschaftlichen Veröffentlichungen lassen sich die Konstruktionsmechanismen der Flüchtlingsfiguren aber nur mit Einschränkungen verdeutlichen. Im Folgenden wird die Darstellung anhand des Akteurs Karl Ahme entwickelt. Ein vorangestellter Exkurs zu Ahmes Biographie soll Aufschluss über die ideologischen Prägungen des Theologen und die von ihm verwendeten Deutungsmuster geben. Superintendent Karl Ahme: Ein Nationalprotestant als früher Flüchtlingsaktivist? Aufgrund seiner exponierten Stellung als Leiter der besonders betroffenen Flüchtlingsseelsorge West-Berlin kam Karl Ahme eine besondere Funktion innerhalb des protestantischen Diskurses über die Abwanderungsbewegung aus der DDR zu. Als Berichterstatter mit dem Anspruch auf Authentizität und dem rhetorischen Gestus eines Mahners war der Berliner Theologe einer der wichtigsten Multiplikatoren von Flüchtlingsbildern. Für zahlreiche Vortragsreisen reiste er durch die Bundesrepublik, um Laienhelfer für den mehrmonatigen Hilfsdienst in der Flüchtlingsseelsorge anzuwerben und um auf Tagungen Vorträge zu verschiedenen theologischen und sozialen Aspekten

268 Zur Forschungsstelle siehe Teuchert, Anspruch, 174–185. 269 Vgl. Angermann, Flüchtlinge, 164. 270 Vgl. Evangelische Akademie Bad Boll, Probleme, 1.

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der Flüchtlingsarbeit zu halten.271 Während seiner Amtszeit als Leiter der Flüchtlingsseelsorge absolvierten hunderte westdeutscher Freiwilliger, meist junge Erwachsene aus Predigerseminaren und Studentengemeinden, einen Hilfsdienst in den Aufnahmelagern West-Berlins.272 Zudem wurden etwa 200 Gastpfarrer im Aufnahmelager eingesetzt.273 Viele dieser Freiwilligen wirkten als weitere Multiplikatoren der Flüchtlingsseelsorge in die westdeutschen Landeskirchen hinein.274 Erfahrungsberichte von ehemaligen Helfern belegen den Einfluss Ahmes auf die Prägung der Flüchtlingsbilder und die Deutung des Erlebten.275 Zudem publizierte er in konfessionellen Zeitschriften276 und stand im Briefkontakt mit Funktionsträgern aus den Kirchenleitungen und Wohlfahrtsverbänden wie Paul Collmer, Heinrich von Schönberg, Otto Dibelius und Reinhard Wester. Bei öffentlichen Anhörungen im Bundestag sprach Ahme mehrfach als Sachverständiger und mahnte die Abgeordneten, sich der Situation der DDR-Flüchtlinge anzunehmen.277 Gegen Ende der 1950er Jahre setzte bereits eine Glorifizierung seiner Person ein. In der Zeitschrift „Der Remter“ wurde gemutmaßt, Ahme würde eines Tages als leidenschaftlicher Anwalt der Flüchtlinge einen besonderen Platz in der Geschichte der Diakonie einnehmen.278 Die DDR-Staatssicherheit, die eine Akte über Ahme und die Flüchtlingsseelsorge führte, notierte hingegen, der öffentlichkeitswirksame Pfarrer sei dauerhaft an der „revanchistischen Hetze gegen die DDR“279 beteiligt gewesen. Gegen Ende seiner Berufstätigkeit wurde der Berliner Pfarrer von kirchlichen wie politischen Stellen mit verschiedenen Auszeichnungen und dem Ehrentitel eines Kirchenrats geehrt.280 In Anbetracht seiner isolierten Position unter den West-Berliner Wohlfahrtsverbänden und seines kompromisslosen Auftretens gegenüber staatlichen Stellen zu den Hochzeiten der Zuwanderung in der ersten Hälfte der 1950er Jahre war diese Auszeichnung im Beisein des Berliner Sozialsenators keine selbstverständliche Entwicklung.281 Der Flüchtlingspfarrer von West-Berlin war bereits zu Zeiten der Weimarer 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281

Mitteilung an das Lagerpfarramt Kempten, 20. 7. 1955 (LAELKB Nürnberg IV/1–1/3). Vgl. Köhler, Notaufnahme, 193–195. Flüchtlingsseelsorge, Volk, 39. Vgl. ebd., 193. Bericht von Vikar Hans Heyn zum Thema „Flüchtlinge in Berlin“, o. D. (LAELKB Nürnberg IV/1–1/1). Ahme veröffentlichte unter anderem Beiträge im Remter (Ahme, Flüchtling als Objekt). Protokoll der 10. Sitzung des Ausschusses für gesamtdeutsche und Berliner Fragen vom 21. 10. 1955 (BT PA Berlin 3105/A2/35); Kurzprotokoll der 7. Sitzung des Ausschusses für gesamtdeutsche und Berliner Fragen vom 7. 5. 1958 (BT PA Berlin 3105/A3/4). O. V., Zufluchtstätte, 361. Bericht über die Evangelische Flüchtlingsseelsorge, 22. 5. 1963 (BStU Berlin MfS HA XX 26014). Bericht über Ehrung für Karl Ahme durch Kirchenleitung und Berliner Senat, 9. 8. 1963, (ELAB Berlin 7/4210). Ebd.

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Republik in sozialfürsorgerlichen und volksmissionarischen Aufgabenfeldern tätig gewesen. Ahme, der 1893 geboren wurde und aus bürgerlichen Verhältnissen stammte, war in den 1920er Jahren als Pfarrer an verschiedenen Orten in Preußen und Thüringen eingesetzt worden.282 Der aus Westfalen stammende Theologe hatte während seiner ersten Dienstjahre verschiedene Positionen in der Inneren Mission und in Erziehungseinrichtungen innegehabt und somit Aufgaben versehen, die ihn nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs für das Arbeitsfeld der Flüchtlingshilfe qualifizierten.283 Sein theologisches Denken war von der nationalprotestantischen Tradition des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik geprägt.284 Antibolschewismus und Antikommunismus waren prägende Elemente seiner geistigen Biographie. Das im Jahr 1914 begonnene Studium der Theologie hatte er nach kurzer Zeit unterbrochen, um sich als Freiwilliger beim Militär zu melden.285 Während des Ersten Weltkriegs wechselten sich Kriegseinsätze und Studiensemester mehrfach ab.286 Nach Kriegsende bewegte sich der Theologiestudent Ahme in nationalkonservativen Kreisen. In Münster war er eigenen Angaben zufolge begeistert an der Niederschlagung des Spartakusaufstandes durch die Freikorps beteiligt gewesen.287 Die Spartakisten bezeichnete er als „Abschaum des Volkes“ und die in Auseinandersetzung mit den Kommunisten gemachten Erfahrungen als Bestätigung, um den Pfarrberuf zu wählen.288 In einer der wenigen erhaltenen Predigten Ahmes aus diesem Zeitraum lassen sich bereits zentrale Topoi des Gesellschaftsbildes identifizieren, das auch seine späteren Veröffentlichungen prägen sollte. Schon 1921 zeichnete Ahme als Pfarramtsanwärter ein Narrativ von Verfall und Entkirchlichung im Sinne der konservativen Modernekritik: Die deutsche Gesellschaft sei im Niedergang, das Bürgertum genusssüchtig, pflichtvergessen und unmoralisch.289 Dem Materialismus des Sozialismus auf der einen und des Bürgertums auf der anderen Seite setzte der junge Prediger die Rückbesinnung auf christliche Religion, 282 Eine Darstellung von Ahmes Biographie erfolgte bereits im Rahmen einer diakoniegeschichtlichen Publikation zur Geschichte der Evangelischen Flüchtlingsseelsorge in Berlin. Dort wird der Theologe ausgesprochen positiv gezeichnet und als Begründer einer erfolgreichen Hilfseinrichtung gelobt. Siehe: Köhler, Notaufnahme, 59–61. 283 Ahme publizierte zudem in den 1920er Jahren zu sozial- und familienrechtlichen Themen aus kirchlich-fürsorgerischer Perspektive. Siehe: Ahme, Vormund. 284 Der klärungsbedürftige Begriff Nationalprotestantismus wird hier analytisch verwendet und verweist auf eine Denktradition der Zeit vor 1945, die den Zusammenhang von Protestantismus und deutscher Nation propagierte. Zur Problematik und Verwendung des Begriffs siehe: Teuchert, Gemeinschaft, 412 FN 445 sowie Lepp, Tabu, 68 f. FN 204. 285 Köhler, Notaufnahme, 50. 286 Ebd. 287 Lebenslauf Karl Ahmes für die kirchliche Prüfungskommission, 18. 12. 1919 (ELAB Berlin 15/ 27). 288 Ebd. 289 Predigtarbeit Karl Ahmes für die theologische Examensprüfung im Juni 1921 (ELAB Berlin 15/27).

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Vaterland und innere Werte entgegen.290 Während des Zweiten Weltkriegs war der mittlerweile zum Superintendenten in Zossen bei Berlin aufgestiegene Pfarrer unter anderem als nebenamtlicher Standortseelsorger der Wehrmacht eingesetzt.291 Umfassende Aussagen über sein Verhältnis zum nationalsozialistischen Regime und seinen Karriereweg lassen sich in Ermangelung von Quellen nicht treffen.292 In der unmittelbaren Nachkriegszeit übernahm er zunächst Koordinierungsfunktionen zwischen dem Hilfswerk der EKD und seiner Landeskirche.293 Im Jahr 1952 verließ er seine Stellung in Brandenburg und ging nach West-Berlin.294 Dort wurde er von Bischof Otto Dibelius mit der Leitung der neu geschaffenen Flüchtlingsseelsorge betraut.295 Die Situation im Westteil der Stadt hatte die Kirchenleitung dazu bewogen, eine eigene kirchengemeindliche Struktur in den Aufnahmelager zu errichten. An Ahmes Biographie lässt sich auch die Frage nach der Kontinuität des Antikommunismus der frühen Bundesrepublik mit dem Antikommunismus vor 1945 verhandeln. Vergleichbare Studien zur sogenannten Ära Adenauer interessieren sich dabei für Experten des Antikommunismus aus der Zeit vor 1945, die in der frühen Bundesrepublik mit gewissen semantischen Anpassungen an den veränderten politischen Kontext weiterhin öffentlich in Erscheinung traten.296 Wenngleich Ahme seine weltanschaulichen Prämissen in der Tätigkeit als Flüchtlingsseelsorger nur gelegentlich offen zur Sprache brachte und sich von einem ideologischen Antikommunismus distanzierte, verkörperte sein Geschichtsbild den zeitgenössischen Antimodernismus des konservativen Spektrums in Reinform.297 Die Gegenwart deutete der Flüchtlingsseelsorger unter antikommunistischen und geschichtstheologischen Prämissen als Konsequenz der gesellschaftlichen Umbrüche des vorangegangenen 19. Jahrhunderts. Die Deutschen, so Ahme, wären verflucht bis in 290 Ebd. 291 Köhler, Notaufnahme, 53. 292 Vor dem Hintergrund Ahmes nationalprotestantischer Prägungen sowie seiner Position als Militärseelsorger erscheint die Annahme, dass der Theologe in einem positiven Verhältnis zum NS-Regime stand, plausibel. Der einzig überlieferte Eintrag in seiner Personalakte aus diesem Zeitraum ist ein Indiz für eine Affinität des Theologen zum Nationalsozialismus. Ein befreundeter Beamter bezeichnete Ahme in einem Empfehlungsschreiben 1941 als vorbildlichen „Christ und Nationalsozialist“ (Schreiben von S. an Nordmann, 7. 10. 1941, ELAB Berlin 15/ 27). Aufgrund der Ermangelung von entsprechenden Ego-Dokumenten und Archivalien zur Person Ahmes aus dem Zeitraum vor 1945 lässt sich diese These aber nicht weiter belegen. Auch in den zahlreichen späteren Quellen zu seiner Person finden sich keine direkten Hinweise. In den im Bundesarchiv verwahrten Mitgliederkarteien des Berlin Document Center ist sein Name nicht verzeichnet. 293 Schreiben Karl Ahmes an das Brandenburgische Konsistorium, 14. 2. 1946 (ELAB Berlin 15/ 28). 294 Der Flüchtling hilft den Flüchtlingen. Superintendent Ahme, Seelsorger in Berlin zu seinem 70. Geburtstag. In: FAZ, 10. 8. 1963. 295 Mitteilung des Konsistoriums Berlin-Brandenburg, 1. 8. 1952 (ELAB Berlin 15/28). 296 Vgl. Schildt, Antikommunismus, 186. 297 Vgl. Solchany, Antimodernismus, 386.

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die vierte Generation, da sie die „Enkel und Urenkel jener bewußt gottlosen und in der Empörung gegen Gott stehenden Philosophen des vorigen Jahrhunderts, die das Handwerkszeug und die geistigen Grundlagen für das gelegt haben, was im Herrschaftsbereich des Kremls praktiziert wird“298 seien. Die in der Nachkriegszeit im Konservatismus weit verbreitete Vorstellung, der Nationalsozialismus sei ein Endprodukt der säkularen Moderne und somit ein „atheistisches Modernisierungsregime“299 gewesen, ermöglichte es zum einen die Frage nach Schuld und Verantwortung zu umgehen und zum anderen eine Agenda der gesellschaftlichen Rechristianisierung zu legitimieren.300 In dieser Hinsicht sah sich auch Karl Ahme einem „Defensivkonzept der Rechristianisierung von Staat und Gesellschaft“301 als Reaktion auf jüngste Vergangenheit verpflichtet. Entsprechend ist auch seine Tätigkeit in der Flüchtlingsseelsorge zu verorten. Flüchtlinge als Opfer des Totalitarismus und des Kalten Krieges Bei seiner Arbeit als Seelsorger und Fürsprecher der DDR-Flüchtlinge konnte Karl Ahme auf die erprobten Deutungsressourcen der Zwischenkriegszeit zurückgreifen. Insofern kann an dieser Stelle eine Kontinuität zum Antikommunismus der 1920er Jahre festgestellt werden.302 Seinem Verständnis nach folgte der Imperativ zur offenen Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ausnahmesituation. Die deutsche Teilung und die Migrationsbewegung als nationale und religiöse Bewährungsprobe verlange, dass Christen sich für die von der Situation besonders betroffenen Menschen einsetzten.303 Das von Karl Ahme und der von ihm geleiteten Flüchtlingsseelsorge verbreitete Flüchtlingsstereotyp setzte daher umfassend auf eine Viktimisierung. Die Flüchtlinge sollten als Opfer des Kalten Krieges gesehen werden. Ahme verallgemeinerte, der Flüchtling sei „wie kein anderer Mensch in Deutschland in das Getriebe der Folgeerscheinungen der politischen Zerreißung unseres Vater-

Ahme, Flüchtlingsproblem, 55. Grossmann, Internationale, 58. Vgl. hierzu Schildt, Schulddebatte, 288–290. Vollnhals, Hypothek, 68. Thomas Sauer spricht sich in einer Studie zum konservativ-protestantischen Spektrum dagegen aus, den Antikommunismus der Nachkriegszeit in eine direkte Linie der Kontinuität mit der nationalsozialistischen Ideologie zu setzen, da der konservative Antikommunismus auch jenseits von Deutschland auftrat und seine Entstehung zeitlich vor dem Nationalsozialismus zu verorten sei (Sauer, Westorientierung, 199 FN 319). Im Falle Karl Ahmes erscheint die Übernahme dieser These aufgrund der gut nachzuvollziehenden Sozialisation des Theologen in den 1920er Jahren angebracht, sie lässt sich angesichts der Ermangelung von Quellen zu dessen Aktivitäten in der NS-Zeit nicht vollständig belegen. 303 Ahme, Karl: Erfahrungen aus den Berliner Flüchtlingslagern, o. D. (LAELKB Nürnberg IV/ 1–1/1).

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landes“304 geraten und bedürfe daher der Unterstützung und Zuwendung. Die Verknüpfung mit der Situation des geteilten Deutschlands war durchaus auch gegen moralische Abwertung und Diffamierung der Zuwanderer gerichtet. Ahme forderte dieselbe Solidarität wie mit den Opfern des Weltkriegs ein und bediente sich dafür eines inhaltlichen und sprachlichen Vergleichs: Die Opfer eines „heißen“ Krieges würde man ja auch nicht fragen, ob sie der Hilfe würdig seien, während die Gesellschaft meine, bei denen des Kalten Krieges andere Maßstäbe anlegen zu dürfen.305 Ähnlich beurteilte Heinrich von Schönberg die Situation für das Hilfswerk. Bereits 1953 konstatierte der Jurist, dass die Trennung von wirtschaftlichen und politischen Gründen nicht zu halten sei und der Großteil der Flüchtlinge vor allem von der politischen Situation „zermahlen“ werde.306 Ahme stellte deswegen den in seinen Augen negativ behafteten Flüchtlingsbegriff sprachkritisch in Frage: „Es muss einmal offen gesagt werden: Das Wort ,Flüchtling‘ ist falsch! Falsch deswegen, weil es nicht dem Tatbestand entspricht. Nach unserem deutschen Sprachempfinden ist Flucht immer ein Zeichen von – sagen wir es ganz grob – Feigheit. Der Tapfere flieht eben nicht, der Tapfere hält aus. So liegt schon in dem Wort ,Flüchtling‘ eine moralische Abwertung.“307

In einem seiner Rundbriefe schlug Ahme daher einen in seinen Augen geeigneteren Begriff vor, der die Notlage der Betroffenen beinhalte. Da die weitverbreitete Ablehnung der Zuwanderer schon allein durch das negativ konnotierte Wort Flüchtling mitbedingt sei, bemühe sich die Flüchtlingsseelsorge primär von Zufluchtsuchenden zu sprechen.308 Ahme und seine Einrichtung verwendeten die Begriffe zumeist synonym. Die Viktimisierung der abwandernden Ostdeutschen war eine Konsequenz der Wahrnehmung der DDR als totalitärem Staat, in dem der Kommunismus das Leben der Menschen bis in den letzten Winkel durchdringe. Die Darstellungen betonten daher den Druck des Regimes auf die Bürger und die Verfolgung von Andersdenkenden. Innerhalb kirchlicher Kommunikationszusammenhänge wurde zudem dem marxistischen Atheismus und der daraus resultierenden Bedrohung des gewohnten kirchlichen Lebens besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Die Kampagne gegen die Junge Gemeinde in den frühen 1950er Jahren bot dafür eine große Fundgrube an Fallbeispielen.309 304 305 306 307 308 309

Ahme, Flüchtling als Objekt, 8. Ahme, Flüchtlingsproblem, 54. Heinrich von Schönberg: Die große Unsicherheit, August 1953 (ADW Berlin ZB 1209). Flüchtlingsseelsorge, Volk, 8. Vgl. Köhler, Notaufnahme, 51. Die Junge Gemeinde (JG) bezeichnete die Jugendgruppen und Jugendarbeit innerhalb der ostdeutschen Kirchengemeinden. In den frühen 1950er Jahren führten die SED und ihre Nachwuchsorganisation FDJ eine Diffamierungskampagne gegen die JG und übten repressive Maßnahmen gegen deren aktive Mitglieder aus. Vgl. hierzu ausführlich Ueberschär, Junge Gemeinde; Greschat, Protestantismus, 137–139.

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Dabei ist interessant, dass die protestantischen Akteure in ihren Darstellungen wenig auf das Idealbild des Flüchtlings als activist im Sinne eines antikommunistischen Widerstandskämpfers, der individuell durch die Behörden des SED-Staates verfolgt wird, referierten. Auch in der Einschätzung der Anzahl überzeugter Christen, die für ihr Bekenntnis im sozialistischen Staat negative Folgen hatten erleiden müssen, waren die Akteure sehr zurückhaltend. In der evangelischen Frauenarbeit wurde in einem Bericht konstatiert, die ankommenden Frauen müssten schon aus einem „außergewöhnlichen Elternhaus“310 kommen, um noch über Grundwissen zu Kirche und Christentum zu verfügen. Karl Ahme warnte vor falschen Erwartungen der westdeutschen Kirchenvertreter und versuchte somit die Notwendigkeit volksmissionarischer Aktivitäten zu legitimieren.311 Gleichzeitig waren die zahlenmäßig wenigen Beispiele der Flucht von mit schwerer Verfolgung bedrohten Protestanten dafür prädestiniert, um zu Heldenfiguren stilisiert zu werden. Das Leben evangelischer Christen in der DDR wurde von westdeutschen Kirchenvertretern bisweilen als ein Vorbild beschworen. Äußerungen, nach denen die Kirchengemeinden in der DDR aufgrund des Zwangs zum öffentlichen Bekenntnis die christliche Religion authentisch leben würden, lassen sich als Projektion der Akteure mit dem Zweck der Kritik an der eigenen religiösen Praxis interpretieren.312 Die Mitglieder der Jungen Gemeinde waren eine besonders geeignete Projektionsfläche für westdeutsche Protestanten. Die Grenze zwischen dem stereotypen DDR-Flüchtling und dieser zeitgenössisch als exklusiv geltenden Gruppe wurde von den Akteuren der Flüchtlingshilfe deutlich markiert. In einem Vortrag Karl Ahmes wird diese Unterscheidung besonders deutlich. Der Pfarrer schätzte die Anzahl der überzeugten Junge-Gemeinde-Mitglieder als gering ein und schilderte diese Gruppe als eine außergewöhnliche Glaubenselite, die einer besonderen existenziellen Prüfung ausgesetzt gewesen sei.313 Diese kleine Gruppe sei zwar ein herausragendes Vorbild für christliche Standhaftigkeit, aber nicht beispielhaft für die Gruppe der geflüchteten Jugend, die in der Flüchtlingsseelsorge weiterhin vor allem als Objekt sozialer und religiöser Disziplinierung wahrgenommen wurde. Ahme machte die Differenz sogar an der äußeren Gestalt und phänotypischen Merkmalen fest. In seinem Bericht behauptete er, die Mitglieder der Jungen Gemeinde hätten „völlig andere Gesichter“314 als die meisten jugendlichen DDR-Flüchtlinge. Diese Übertragung religiöser Zuschreibungen und Wertungen auf die opti310 KJ 1960, 295. 311 So konstatierte Ahme in einem Vortrag, die Zahl der überzeugten Kirchenmitglieder unter den Flüchtlingen, die noch dazu in der Lage seien in den Aufnahmelagern der Gottesdienstliturgie zu folgen, sei sehr klein. (Ahme, Karl: Das Flüchtlingsproblem als Frage an Kirche und Gemeinde, April 1957 (ELAB Berlin 1/873)). 312 Vgl. Greschat, Protestantismus, 329–332. 313 Vgl. Köhler, Notaufnahme, 299. 314 Ahme, Flüchtling in Berlin, 44.

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sche Wahrnehmung spiegelt sich auch in der kirchlichen Publizistik wider. Zur Hochzeit der staatlichen Angriffe gegen die kirchliche Jugendarbeit in der DDR im Frühjahr 1953315 präsentierte das „Sonntagsblatt“ seiner Leserschaft auf der Titelseite die fett gedruckte Überschrift „Schafft diesen Jungen Platz“316 neben der Zeichnung eines freundlich dreinblickenden und ruhig wirkenden jungen Mannes. Diese stereotype Darstellung eines Mitglieds der Jungen Gemeinde unterschied sich deutlich von vergleichbaren bildlichen Darstellungen der Sowjetzonenflüchtlinge in der kirchlichen Presse. Artikel zu diesem Thema wurden zumeist von Zeichnungen illustriert, die bis an den Horizont reichende Menschenmengen zeigten. Einzelpersonen waren in diesen Bildern nur in den ersten Reihen der dargestellten Menge zu erkennen und oft mit Kindern als Familie angeordnet. Die Mimik der im Mittelpunkt stehenden Figuren symbolisierte Niedergeschlagenheit und Traurigkeit, wie beispielsweise bei der Darstellung einer Frau, die einen Säugling am Körper und ein trauriges Kind an der Hand hielt.317 Ein weiterer Leitartikel zur Situation der Flüchtlinge wurde etwa von einer Zeichnung flankiert, in deren auf den Betrachter ausgerichteten Mitte ein Mann mit erschöpftem Gesichtsausdruck gezeigt wurde, der ein Kleinkind an sich presste.318 Während die Mitglieder der Jungen Gemeinde heroisiert wurden, war das allgemeine Stereotyp des Ostzonenflüchtlings auch auf der visuellen Ebene von Viktimisierung bestimmt. Das Flüchtlingsbild der protestantischen Akteure lässt sich trotz der Tendenz zur Viktimisierung nicht von den verwandten zeitgenössischen Diskursen über die Gründe zur Abwanderung aus der DDR in die Bundesrepublik trennen. Die medial und gesellschaftlich verbreiteten Negativstereotype wurden nicht dekonstruiert, sondern aufgegriffen und je nach Kontext ergänzt oder relativiert. Klischees von an Konsum und Luxus orientierten „Wirtschaftsflüchtlingen“ sowie auch das besonders noch in den frühen 1950er Jahren vorhandene Negativstereotyp des kriminellen, arbeitsscheuen „Asozialen“ wurden auch von den Akteuren der evangelischen Flüchtlingshilfe reproduziert. Ein süddeutscher Vikar schrieb nach seinem Aufenthalt in Ahmes Einrichtung in seinem Erfahrungsbericht, es gäbe zwar auch unter den Flüchtlingen einige „asoziale“ und arbeitsscheue Personen, angesichts der mit dem Nationalsozialismus vergleichbaren Durchdringung ihres Lebens in der DDR könne man den Menschen ihre Verfehlungen aber nicht vorwerfen.319 Hier zeigt sich der Stellenwert des Antitotalitarismus für die Viktimisierung 315 Zur Abwanderung von JG-Mitgliedern innerhalb des Jahres 1953 vgl. Ueberschär, Junge Gemeinde, 274. 316 Schafft diesen Jungen Platz – Glieder der Jungen Gemeinde brauchen Hilfe. In: Sonntagsblatt, 31. 5. 1953, 1. 317 Menschen zwischen allen Stühlen. In: Sonntagsblatt: 17. 8. 1952, 9. 318 Hüben und drüben – Ein Volk. In: Sonntagsblatt, 20. 3. 1953, 1. 319 Bericht von Vikar Hans Heyn zum Thema „Flüchtlinge in Berlin“, o. D. (LAELKB Nürnberg IV/1–1/1).

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der Flüchtlinge. Ähnlich ist Ahmes Protest gegen das Arbeitsverbot für die „Illegalen“ zu verorten. Ahme forderte zwar mehr Verständnis und Mitgefühl für diese Gruppe ein und führte das vermehrte Auftreten von Schwarzarbeit und Kriminalität auf die prekäre rechtliche Lage der Nichtanerkannten zurück. In seinem Plädoyer gegen die Stigmatisierung dieser Gruppe berief er sich aber zugleich auf die Annahme, dass es unter den Flüchtlingen wie auch in der westdeutschen Gesellschaft unvermeidbar „asoziale Elemente“ geben werde und „Menschen, die für die DDR kein Verlust und für Westdeutschland kein Gewinn“ seien, sich unter die Zuwanderer mischen würden.320 Auch das Hilfswerk unterstrich in seinen Analysen wiederholt die Diversität der Migrationsbewegung. Der Lagebericht des Hilfswerks für die Synode 1952 konstatierte bereits, neben den treuen Mitgliedern der Jungen Gemeinde würden sich auch Glücksritter und Kriminelle auf den Weg nach Westdeutschland machen.321 Die protestantischen Akteure hinterfragten zwar die staatlichen Bewertungsmaßstäbe und forderten eine Ausweitung der Gruppe der Anerkennungsberechtigten ein, die Abgrenzung von einem meist als unbedeutend eingestuften Negativstereotyp hielt sich aber kontinuierlich. Der Flüchtlingsbeirat der EKD veröffentlichte noch wenige Monate vor der Errichtung der Berliner Mauer eine Broschüre, in der verschiedene klischeehafte Charakterzüge der Zuwanderer nebeneinandergestellt wurden. Neben positiven Charakteren wurde auch die Gruppe der Kriminellen und der „Asozialen und geistig Unterernährten“ aufgeführt.322 Um mehr Menschen den Flüchtlingsstatus zu verschaffen, grenzten protestantische Akteure ihre Positivbeispiele von einer imaginierten Gruppe ab, deren Aufnahme und Anerkennung konsensual von der westdeutschen Gesellschaft abgelehnt wurde. Die Auseinandersetzung mit den Negativstereotypen war zudem anschlussfähig an den protestantischen Volksmissionsdiskurs. Deutlich wird diese Verknüpfung am Beispiel von Ludwig Landsberg, der sich vielfach gegen die Zuschreibung negativer Attribute besonders auf junge Flüchtlinge wandte. Im Rahmen seiner Tätigkeiten in den Gremien der Jugendhilfe forderte er mehr Verständnis für deren Situation und beklagte sich über die verbreiteten Vorurteile gegenüber dieser Gruppe.323 Besonders galt das für die bisweilen als Undankbarkeit gewertete Enttäuschung junger DDR-Flüchtlinge über den 320 Ahme, Karl: Das Flüchtlingsproblem als Frage an Kirche und Gemeinde, April 1957 (ELAB Berlin 1/873). 321 Das Flüchtlingsproblem in Berlin. Memorandum des Hilfswerks, o. D. [Februar 1952] (ELAB Berlin 1/872). 322 Broschüre „Was sind die Zufluchtsuchenden für Menschen?“, Februar 1961 (EZA Berlin 2/ 4294). 323 Da Landsberg sich sowohl in administrativ-politischen wie auch kirchlichen Kontexten zu diesem Thema äußerte und mehrfach zur Integration junger Flüchtlinge publizierte, haben viele Forschungsarbeiten seine Positionen bereits aufgegriffen und im breiteren Kontext der Fürsorge für jugendliche Zuwanderer verortet. Siehe unter anderem Ackermann, Flüchtling, 137; Ders., Radikalisierung, 333–336; Brecht, Integration, 89 f.; und Hoffmann, Junge Zuwanderer, 719.

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Alltag in der Bundesrepublik.324 Vor allem sorgten junge DDR-Flüchtlinge für Irritationen, die weiterhin Sympathien für sozialistische Ideen zeigten.325 Für Landsberg und seine volksmissionarisch orientierte Kritik der westdeutschen Gesellschaft und des Konsummaterialismus war dieses Unbehagen über den westlichen Alltag hingegen sehr anschlussfähig. Die kritisch beäugten Jugendlichen dienten ihm in seinen Publikationen als Beispiel, mit dem das Thema Zuwanderung als Vehikel für kritische Anfragen an die Aufnahmegesellschaft genutzt werden konnte. So schrieb er, der Westen habe den mit hohen Erwartungen in die Bundesrepublik gekommenen Jugendlichen nichts anzubieten, daher sei deren Enttäuschung nicht verwunderlich.326 Berechtigterweise würden die jungen Flüchtlinge das auf ökonomische Angelegenheiten reduzierte Freiheitsverständnis des Westens als hohl empfinden.327 Flüchtlingsaufnahme als religiöser Auftrag Das Flüchtlingsbild wurde im Protestantismus auch mit religiösen Kategorien verhandelt und entsprechend geprägt. Nicht nur der Imperativ zur Aufnahme von DDR-Flüchtlingen in die Bundesrepublik ließ sich theologisch untermauern. Besonders unter Zuhilfenahme biblischer Topik wurde die Figur des Flüchtlings theologisch aufgeladen. Die Begegnung mit den Geflüchteten wurde zu einer Form der religiösen Erfahrung erhoben. Mit diesem Flüchtlingsbild operierten in innerprotestantischen Foren Akteure wie Karl Ahme, aber auch der aus dem in Fragen der theologischen Positionierung zurückhaltenden Hilfswerk stammende Paul Collmer. Zumeist war damit ein Appell an verstärktes kirchliches Engagement für Flüchtlinge verbunden. Ahme präsentierte im Vorwort eines von der Flüchtlingsseelsorge herausgegebenen Sammelbandes die Rede vom Jüngsten Gericht aus dem Matthäusevangelium. Die Referenz auf den Textabschnitt, in dem der biblische Jesus die Vergeltung des diesseitigen Handelns wie bei der Aufnahme von Fremden gegenüber den Geringsten im Jenseits verkündet, ist ein wichtiger Bestandteil und Referenzpunkt christlicher Flüchtlingsdiskurse.328 Aus diesem Text lässt sich ein direkter religiös legitimierter Imperativ zur Aufnahme von Flüchtlingen ableiten. Auch Ahme setzte den normativen Anspruch des biblischen Textes gezielt an die Spitze seiner Reflexionen über die Grundlagen der Flüchtlingshilfe. Diese theologische Deutungsfigur markierte zugleich die Differenzierung christlicher Fürsorge von einer Hilfstätigkeit für Flüchtlinge aus ausschließlich humanitären Gründen. Christliche Hilfstätigkeit müsse mehr 324 Vgl. einen entsprechenden Vortrag auf einer Akademietagung für jugendliche Flüchtlinge: Evangelische Akademie Bad Boll, Probleme, Anlage 1, 1–7. 325 Vgl. Ackermann, Radikalisierung, 337 f. 326 Landsberg, Spannungsfeld, 22. 327 Ders., Freiheit, 16. 328 Vgl. hierzu Claussen, Buch, 309.

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als „menschliches Mitleid“ sein, sondern eine Erfüllung des moralisch-ethischen Anspruchs des christlichen Glaubens.329 Auch Paul Collmer stellte in seinem Eröffnungsvortrag für eine Fachtagung der Flüchtlingshilfe die rhetorische Frage, ob sich die Christen darüber bewusst seien, dass Gott ihnen in den Flüchtlingen selbst begegnen wolle.330 Der Verweis auf die Bibelstelle wurde zwar nicht explizit genannt, es kann aber davon ausgegangen werden, dass sie der Zuhörerschaft vertraut war. Der Topos vom Flüchtling als einem Medium der christlichen Gotteserfahrung war besonders geeignet, um Negativerfahrungen und Klischees zu kompensieren. Zudem knüpfte er an die volksmissionarischen Konzepte an, da er die Einheit von sozialdiakonischer Hilfe und religiöser Erfahrung geschickt zu umschreiben vermochte. Mit diesem metaphysisch eingefärbten Flüchtlingsbild ließen sich auch radikale Ideen untermauern, wie die Forderung Ahmes, dass die Flüchtlingsseelsorge zur Hauptaufgabe aller kirchlichen Arbeit in Deutschland erklärt werden müsse.331 Flüchtlinge als gefährdete Menschen Eine weitere zentrale Facette des Flüchtlingsstereotyps bildete die Darstellung der Zuwanderer als Gefährdete und die damit einhergehende Forderung nach Sozialkontrolle und missionarischer Aktivität. Der protestantische Nachkriegsdiskurs über die DDR-Flüchtlinge wie auch die Vertriebenen war in seiner frühen Phase von der Sorge vor einer politischen Radikalisierung geprägt.332 Besonders der Hilfswerk-Gründer Eugen Gerstenmaier hatte sich die Prävention von politischer Radikalisierung auf die Agenda gesetzt.333 Die Zuwanderer aus der DDR wurden oft als gefährdete und von unterschiedlichen sozialen, geistigen und kulturellen Außenwirkungen bedrohte Personen in Szene gesetzt. Hieraus legitimierten die Institutionen ihre Aktivitäten. Dem Schlüsselbegriff des christlichen Personalismus entsprechend wurde auf die drohende Entmenschlichung der Flüchtlinge verwiesen. Die Präsentation der einzelnen Menschen sollte deren eigenen personellen Wert in den Mittelpunkt stellen und somit den Gegensatz zu ideologischen Gegnern wie dem gefürchteten Kommunismus wie auch dem konsumistischen Materialismus markieren. Insofern hatte die Inszenierung von Flüchtlingen eine implizit antikommunistische Ausrichtung. In den Darstellungen sollten die Flüchtlinge als Personen erkennbar sein, um somit den Gegensatz zum sowjetischen Flüchtlingsseelsorge, Volk, 1. Collmer, Einleitung, 15. Ahme, Flüchtlingsproblem, 59. Vgl. Connor, Refugees, 186; Ders., Churches, 61; und Teuchert, Gemeinschaft, 70 f. Der identische Befund gilt für die Gruppe der jugendlichen Flüchtlinge, hierzu vgl. Ackermann, Radikalisierung, 330–332. 333 Vgl. Connor, Refugees, 141 f.

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Kommunismus als einer Ideologie, in der der einzelne Mensch keinen Wert habe, zu illustrieren. Entsprechend kritisch äußerte sich Karl Ahme über den allgemeinen Sprachgebrauch seiner Umwelt, nach dem die Flüchtlinge zu einer homogenen Gruppe erklärt würden. Die Flüchtlingsseelsorge erhob den Anspruch, in ihrer Öffentlichkeitsarbeit das gegenteilige Ziel zu verfolgen. Die öffentlichen Darstellungen der Flüchtlinge müssten Personalität bewahren, Einzelschicksale dürften nicht hinter abstrakten Zahlen verschwinden.334 Dezidiert wandten sich Vertreter der Flüchtlingsseelsorge gegen die verbreitete Ansicht, in den Aufnahmelagern würden die Menschen durch einen Vermassungsprozess ihre Persönlichkeit verlieren.335 Der aus dem Fundus der tradierten modernekritischen Deutungsmuster stammende Begriff der „Vermassung“ wurde als drohende Gefahr bei anhaltender Untätigkeit der westdeutschen Gesellschaft beschworen, jedoch nicht für das Flüchtlingsstereotyp herangezogen.336 Die Flüchtlingsseelsorge versuchte derartige Interpretationen als Vorurteile zu entlarven und betonte entsprechend den Freiheitsdrang der Zuwanderer: Die Menschen in den Aufnahmelagern würden den Tendenzen zur Entpersönlichung und Vermassung widerstehen. Auch in der Zurückweisung eines im Nachkriegsprotestantismus verbreiteten Deutungsmusters wie der Vermassung verdeutlicht sich die Ambivalenz des protestantischen Flüchtlingsbildes. Der stereotype Flüchtling wurde als Person auf der Suche nach Freiheit und einem Leben in Würde gezeichnet und zugleich als eines missionarischen Impulses bedürftiger Mensch. Ahme ging davon aus, dass christlicher Zuspruch die beste Möglichkeit sei, um den Menschen in den Flüchtlingslagern „Persönlichkeitswert“337 zu geben. In den Gottesdiensten der Flüchtlingsseelsorge und im Erleben kirchlicher Gemeinschaft würden die Flüchtlinge vom Objekt des Aufnahme- und Verwaltungsregimes wieder zu bejahten Individuen mit Wert.338 Praktisch umgesetzt wurde dieser Leitgedanke in der Öffentlichkeitsarbeit der Flüchtlingsseelsorge. Die Rund- und Spendenbriefe setzten besonders auf kurz gefasste und persönliche Geschichten von Flüchtlingen.339 Die Leserschaft und potentielle Spender sollten anhand der Einzelschicksale emotional berührt und religiös erbaut werden. Häufig wurde dabei die persönliche Fluchtgeschichte und das prekäre Leben im Aufnahmelager als religiöse Grenzerfahrung gedeutet. Im Mittelpunkt der kleinen Erzählungen standen zumeist Bauern und ihre verlassenen Betriebe, die Schicksale von Familien 334 Ahme, Flüchtling als Objekt, 3. 335 In diesem Sinne äußerten sich beispielsweise Elisabeth Pfeil und Karl Ahme auf einer Akademietagung in Loccum im Jahr 1954 (Seeberg, Vertriebene, 86 und 93). 336 Zur Bedeutung des Begriffspaars Masse und Vermassung im protestantischen Vertriebenendiskurs vgl. Teuchert, Gemeinschaft, 64 f. 337 Ahme, Flüchtlingsproblem, 52 f. 338 Ders., Flüchtling als Objekt, 4. 339 Zu diesen auch in den Publikationen des ÖRK beliebten „human interest stories“ und deren Verortung in der Propaganda des Kalten Krieges vgl. Gatrell, Free World, 129 f.

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und die Situation der Kinder in den Flüchtlingslagern.340 Die Darstellung der Flüchtlinge in den Rundbriefen zog ihre Glaubwürdigkeit dabei aus der Markierung als authentischer Bericht aus der Arbeit der Hilfseinrichtung sowie einer religiösen Rahmung mit einer biblischen Erzählung oder einem geistigen Lied. Anhand des geistlichen Kinderlieds „Weil ich Jesu Schäflein bin“ stellte Ahme beispielsweise die Geschichte eines Mädchens aus der Kinderstunde der Flüchtlingshilfe vor, dessen Eltern nach dem wirtschaftlichen Niedergang des eigenen Gaststättenbetriebs die DDR verlassen hatten. Die Verflechtung der kindlichen Schilderungen mit der Lamm-Symbolik des Liedtextes diente Ahme zur religiösen Deutung des Flüchtlingsschicksals: Erst das „ungeborgene Lagerkind“ sei dazu in der Lage, den eigentlichen Inhalt des Liedes zu verstehen.341 Dieses nur wenige Sätze umfassende Beispiel verdeutlicht zudem den Umgang der Flüchtlingsseelsorge mit der strittigen Definition politischer Fluchtgründe. Die Motive der geschilderten Familie zum Verlassen der DDR wurden als eindeutig ökonomisch motiviert vorgestellt und zugleich in einen politischen Kontext gestellt: Knapp enthielt der Text die Information, die elterliche Gaststätte habe aufgrund der Bevorzugung sozialistischer Betriebe den Niedergang erlebt, ansonsten stellte die Kurzerzählung ausschließlich die unschuldige Kinderfigur in den Mittelpunkt, deren religiöse Erbauung, Grenzerfahrung und Gefährdung dem Rezipienten vermittelt werden sollte.342 Das Bild vom Flüchtling als einem gefährdeten Menschen war zudem eng mit dem zeitgenössischen Diskurs über das Leben in den Unterbringungslagern sowie die Situation der Familien in der Nachkriegszeit verknüpft. Lager wurden in Westdeutschland zumeist zum Gegenstand von Diskursen um soziale und moralische Gefährdung ihrer Bewohner und Anwohner.343 Diese Verbindung wird anhand von Untersuchungen zur öffentlichen Wahrnehmung der Lagerunterbringung jugendlicher Flüchtlinge deutlich, wenngleich die Topoi mit gewissen Variationen auf Lagerbewohner aller Altersgruppen übertragbar sind. In Flüchtlingslagern wohnende Menschen galten als emotional und sittlich gefährdet.344 In den späten 1940er und frühen 1950er Jahren wurden in der Presse in Lagern wohnende Menschen noch häufig als Kriminelle und sogenannte Asoziale gezeichnet.345 Die Flüchtlingsseelsorge vermochte mit ihrer Außendarstellung geschickt an diese öffentlichen Elemente anzuknüpfen, indem man einerseits die Zustände und die gesellschaftliche Stigmatisierung skandalisierte und andererseits die beschworenen Gefahren zur Legitimation des eigenen Handelns heranzog. Karl Ahme empörte sich 340 Zur Darstellung von Kindern und Kindheit in den Fotographien der Flüchtlingsseelsorge vgl. Niedenthal, Nahaufnahme, 44–55. 341 Rundbrief Karl Ahmes an westdeutsche Spender im April 1960 (EZA Berlin 7/4209). 342 Vgl. ebd. 343 Vgl. Schiessl, Aufnahme. 344 Vgl. ebd. 345 Vgl. ebd.

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häufig über die Zustände in den Flüchtlingslagern. Er schrieb, noch unter den im Vergleich mit den frühen Jahren verbesserten Zuständen im Jahr 1958 seien die Formen der Unterbringung in engen Lagern mit der einhergehenden Gefährdung für die Sittlichkeit einem Kulturvolk unwürdig.346 Ahme steigerte dieses Bild der Gefährdung noch mit einem drastischen Vergleich, der zudem eine Entlastung der Deutschen von den nationalsozialistischen Verbrechen implizierte: Die Zustände in den Flüchtlingslagern seien den Ghettos für Juden „nicht unähnlich“347. Das Lager wurde zum Ort der latent drohenden Entpersonalisierung stilisiert. Im „Sonntagsblatt“ schrieb ein Kommentator, im Aufnahmeverfahren und dem anschließenden Lageraufenthalt in West-Berlin werde „der Mensch im wahrsten Sinne des Wortes zur Nummer“348 gemacht. Eine Tagung in Bad Boll zum Thema „Der Mensch im Lager“ bündelte Kritik an der Behandlung von Flüchtlingen vor und nach dem Aufnahmeverfahren. Die Teilnehmenden der Akademieveranstaltung kritisierten, die schlechten hygienischen Zustände und die fehlenden privaten Rückzugsräume würden die „personale Würde“349 der geflohenen Menschen verletzen. Das Flüchtlingslager galt weiterhin als ein Ort der Verwahrlosung. Der Diskurs über die Folgen des längerfristigen Lageraufenthalts war anfangs von der Forderung nach Sozialdisziplinierung durch Arbeitseinsätze mitgeprägt. Das Hilfswerk hatte bereits in seinem Memorandum von 1952 die Befürchtung geäußert, dass Flüchtlinge ohne Beschäftigung im Lager ihre Arbeitslust verlieren würden und ihren Kindern ein schlechtes Vorbild werden könnten.350 Bei der Kundgebung des Kirchentags wurde ein Arbeitsprogramm zur Integration jugendlicher Ostzonenflüchtlinge gefordert. Ein Sprecher bei der Veranstaltung hatte verlangt, solche Maßnahmen trotz „böser Erinnerungen an argen Mißbrauch eines an und für sich gesunden Gedankens in der Vergangenheit“351 von Seiten des Staates in die Wege zu leiten. Vergleichbar argumentierte Ahme bei seinen Forderungen nach Arbeitsdiensten für die nichtanerkannten Flüchtlinge. Die offiziellen Fotographien der Flüchtlingsseelsorge inszenierten die Abgelehnten mit den stereotypen Merkmalen illegalen Verhaltens als im Schatten von Berliner Hinterhöfen herumlungernden Männergruppen.352 Eines der Bilder wurde mit dem programmatischen Untertitel „Menschen im Zwielicht ohne Arbeit, an einem Wendepunkt ihres Lebens“353 versehen. Im besonderen Fall der West-Berliner Aufnahmelager kamen zudem verschieAhme, Flüchtlingsproblem, 51 f. Ebd., 61. Eine Stadt wurde zum Massenlager. In: Sonntagsblatt, 1. 2. 1953, 5. Evangelische Akademie Bad Boll, Mensch im Lager, 4. Das Flüchtlingsproblem in Berlin. Memorandum des Hilfswerks, o. D. [Februar 1952] (ELAB Berlin 1/872). 351 Kundgebung des Deutschen Evangelischen Kirchentags in Essen am 24. 3. 1953. In: Pöpping / Beier, Protokolle, Bd. 7, 207. 352 Niedenthal, Nahaufnahme, 95. 353 Zit. n. ebd.

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dene Gefahrentopoi des Urbanitätsdiskurses hinzu. West-Berlin, einerseits als Schaufenster des Westens und Symbol der Hoffnung auf die deutsche Einheit positiv konnotiert, war andererseits der idealtypische großstädtische Moloch. Ein Lager inmitten einer von vielen deutschen Protestanten als sittlich verwahrlost und gefährlich wahrgenommenen Metropole erschien vielen Kirchenvertretern als besonderes Risiko für Menschen in einer existenziellen Ausnahmesituation. So wurde befürchtet, dass unbedarften Flüchtlingen dort Gefahr durch Glücksspiel, Kriminalität und Arbeitslosigkeit drohte. Aus der Perspektive des bürgerlichen Protestantismus in Westdeutschland waren besonders die Jugendlichen der sittlichen Gefährdung der Großstadt ausgesetzt. In der kirchlichen Publizistik wurde die Befürchtung geäußert, die Flüchtlingsmädchen würden sich in der Stadt prostituieren, junge Männer hingegen mit Rauschgift handeln oder sich homosexuellen Verlockungen hingeben.354 Auch wenn die Probleme und Risiken des Lageralltags betont wurden, stellten die Publikationen der Flüchtlingsseelsorge das Aufnahmelager nachdrücklich als Kontrast zur bürgerlichen Lebenswelt der Westdeutschen dar. Besonders die Familie als kleinste gesellschaftliche Einheit stand dabei im Mittelpunkt. Der beschworenen Bedrohung der Familie durch den Lageralltag wurde die Fürsorge der kirchlichen Hilfsverbände entgegengesetzt. Das mit der Familie besonders assoziierte Weihnachtsfest im Flüchtlingslager wurde in der Außendarstellung der Flüchtlingsseelsorge besonders inszeniert.355 Die Adventszeit und die Weihnachtsfeiertage in den Aufnahmelagern West-Berlins stießen auf ein großes mediales Interesse, dem die Flüchtlingsseelsorge mit einem quasiprofessionellen Niveau begegnete. In den Rundschreiben für Spender wurden die Gottesdienste und Feierstunden besonders emotionalisierend dargestellt.356 Die Christvesper im Lager wurde als ein herausragendes Ereignis authentischer christlicher Erfahrung gedeutet. Die Szenerie des improvisierten Weihnachtsgottesdienstes im Speisesaal eines Wohnblocks wurde zum einen als Kontrast zur bürgerlichen Lebenswelt dargestellt.357 Zum anderen wurden die Flüchtlinge in dieser Darstellung mit Nachdruck als mittellos und existenziell erschüttert in Szene gesetzt. Das hierbei geprägte Flüchtlingsbild erfüllte zwei verschiedene Funktionen: Einerseits sollte es Empathie wecken und emotionalisierend auf die Adressaten wirken. Andererseits wurden die Flüchtlinge als religiöse Vorbilder stilisiert. So wurde ein alter Bauer im Rundbrief mit dem Satz zitiert, er habe erst in diesem Gottesdienst zum ersten Mal die Weihnachtsgeschichte wirklich verstanden.358 Auch das Motiv der Gottesbegegnung in der Flüchtlingsarbeit konnte im 354 355 356 357

Zweihunderttausend suchen die rettende Insel. In: Sonntagsblatt, 2. 4. 1952, 2. Vgl. exemplarisch Niedenthal, Nahaufnahme, 55. Vgl. Köhler, Notaufnahme, 218–221. Ein übertragbarer Befund gilt für die Außendarstellung von Taufen, Konfirmationen, Trauungen und Beerdigungen innerhalb der Arbeit der Evangelischen Flüchtlingsseelsorge Vgl. ebd., 221–244. 358 ebd., 221.

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Kontext des Weihnachtsfestes aktiviert werden. Familien aus den Lagern wurden in den Berichten allegorisch als Heilige Familie in Szene gesetzt.359 Mit dem Rekurs auf biblische Motive wurde die prekäre Lebenssituation der Flüchtlinge als Gegenmodell zum Sicherheitsdenken der westdeutschen Aufnahmegesellschaft unterstrichen. Der zumeist negativ konnotierte Ort des Aufnahmelagers wurde unter Zuhilfenahme der biblischen Topoi zusätzlich zu einem Ort der christlichen Mission und der spirituellen Erfahrung stilisiert. Die Akteure der Flüchtlingshilfe variierten damit die im parallel geführten Vertriebenendiskurs weit verbreitete „beinahe klischeehafte Deutungsfigur“360 vom christlichen Pilgrimstand. Diese unter anderem vom hannoverschen Landesbischof Hanns Lilje geprägte Idee von der Diskrepanz zwischen einer verbürgerlichten Kirche und dem authentischen christlichen Flüchtlingsschicksal war ebenfalls antimaterialistisch geprägt.361 Einerseits ermöglichte diese Deutungsfigur eine symbolisch-theologische Sinnzuschreibung für das Migrationsgeschehen, andererseits zeichnete sie sich durch die Ausblendung der sozialen Frage aus.362 Anders als im Vertriebenendiskurs fehlten in den evangelischen Hilfsorganisationen für die Sowjetzonenflüchtlinge allerdings Vertreter von Positionen, die sich gegen den dominierenden antimaterialistisch-konservativen Standpunkt aussprachen und die Legitimität materieller Interessen vertraten.363 Für die Plausibilisierung ihres Flüchtlingsbildes griffen die Akteure der Flüchtlingsseelsorge nicht nur auf theologische Deutungsmuster, sondern auch auf Beschreibungskategorien der Sozialwissenschaften zurück. Im Kontext der Debatte um die Aufnahme und Integration der DDR-Flüchtlinge wurden auch soziologische Begriffe und Wissensbestände genutzt. Forschungsarbeiten haben mehrfach auf diesen Zusammenhang verwiesen und die Übernahme von soziologischen Wissensbeständen und Deutungsangeboten in konfessionellen Kontexten unter dem Paradigma der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ und der „Versozialwissenschaftlichung“ diskutiert.364 Relevant für den Transfer von sozialwissenschaftlichen Termini in die Kommunikationszusammenhänge des westdeutschen Protestantismus war besonders die Forschungsstelle der Evangelischen Akademie HermannsburgLoccum mit ihrem Flüchtlingsreferat.365 In der Aufbauphase der Rechtsberatungsstelle korrespondierte Heinrich von Schönberg mit der Forschungsstelle der Soziologin Stella Seeberg zum Austausch von Forschungsergebnissen und der Einschätzung der Migrationsdynamik.366 Neben dem Hilfswerk stand auch 359 360 361 362 363 364 365 366

Niedenthal, Nahaufnahme, 13. Teuchert, Gemeinschaft, 80. Vgl. ebd., 81. Vgl. ebd. Vgl. Teuchert, Anspruch, 197. Vgl. Teuchert, Gemeinschaft, 177 f. Siehe hierzu Teuchert, Normativer Anspruch, 174–182. Schreiben von Stella Seeberg an Heinrich von Schönberg, 3. 10. 1953 (ADW Berlin ZB 1209).

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die Flüchtlingsseelsorge im Austausch mit der Forschungsstelle. Auf einer der Loccumer Tagungen im Jahr 1954 diskutierte Karl Ahme mit den Soziologinnen Elisabeth Pfeil und Stella Seeberg sowie verschiedenen Akteuren der evangelischen Vertriebenenarbeit.367 Seine Publikationen zeigen, dass der sonst theologischen und nationalen Kategorien verhaftete Ahme die flüchtlingssoziologischen Arbeiten durchaus aufgriff und in seine öffentlichen Stellungnahmen integrierte. Motive wie das vom Flüchtling als Archetyp der Zeitenwende oder die Diagnose einer bindungslosen Gesellschaft lieferten eine doppelte wissenschaftliche Bestätigung der konservativen Gesellschaftsund Modernedeutung und waren ausgesprochen anschlussfähig für den theologischen Binnendiskurs der Flüchtlingsseelsorge. Beispielsweise waren die in Publikationen häufig in den Vordergrund gestellten Flüchtlingsfamilien zugleich beliebter Untersuchungsgegenstand der im Aufstieg befindlichen Soziologie.368 Es erscheint plausibel, anzunehmen, dass Ahme zumindest in Teilen Elisabeth Pfeils Buch „Der Flüchtling. Gestalt einer Zeitenwende“ rezipierte, das in protestantischen Kontexten weit verbreitet war.369 Pfeil hatte sich selbst in einer Studie neben der Vertriebenenfrage auch mit der Situation der Ostzonenflüchtlinge befasst und dafür eigens kirchliche Gelder eingeworben.370 Auf der Loccumer Tagung 1954 betonte die Gastreferentin Pfeil in Anwesenheit Ahmes, dass die Familie als Schutzfaktor gegen die Vermassung im Aufnahmelager fungieren könne und die Flüchtlinge als Einzelpersonen gesehen werden müssten.371 Der christliche Personalismus und die Humanitätsrhetorik Ahmes konnten aus diesen sozialwissenschaftlichen Ansätzen zusätzliche Legitimation ziehen. Mit der zunehmenden Institutionalisierung der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung innerhalb der zuständigen Ministerien blieb das Interesse der evangelischen Einrichtungen an den soziologischen Beschreibungskategorien erhalten. Im Bundesvertriebenenministerium versprachen sich die Ministerialen von den demographischen Forschungskonzepten bessere Möglichkeiten, die Migrationsbewegung erfassen und politisch steuern zu können.372 Das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen führte zudem mehrere Studien durch, um die Motive der Migranten zu erfassen.373 Der Flüchtlingsbeirat der EKD setzte ebenfalls auf sozialwissenschaftliche Ex367 Seeberg, Vertriebene, 81–91. 368 Verbreitet waren die Familienstudien des Soziologen Helmut Schelsky, dessen Schriften innerhalb des Protestantismus intensiv rezipiert wurden. Vgl. Teuchert, Gemeinschaft, 178; Nolte, Ordnung, 217–219. 369 Vgl. zur Rezeption von Pfeils Buch in den protestantischen Vertriebenendiskursen: Teuchert, Gemeinschaft, 151–153; zur allgemeinen gesellschaftlichen Verbreitung des Buches siehe Nolte, Ordnung, 226–229. 370 Vgl. Schnitzler, Soziologie, 361–367. 371 Seeberg, Vertriebene, 91. 372 Ackermann, Flüchtling 21–26; Bethlehem, Heimatvertreibung, 48–70. 373 Vgl. Roesler, Ursachen, 6 f.

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pertise, um die deutsch-deutsche Migration besser verstehen und adäquater auf ihre Folgen reagieren zu können. Bereits bei seiner Konstituierung im Jahr 1958 hatte er sich die Einbeziehung von Forschungsergebnissen in die kirchliche Hilfsarbeit auf die Tagesordnung gesetzt.374 Anfang 1959 referierte Erich Dittrich, der Leiter des Instituts für Raumforschung, auf einer Tagung des Flüchtlingsbeirats.375 Wilhelm Gundert, der Geschäftsführer des Flüchtlingsbeirats, betonte in einem daran anschließenden Rundschreiben an die westdeutschen Landeskirchen die Bedeutung der Kenntnis von Migrationsstatistik für die Arbeit mit Flüchtlingen: Phänomene wie die Verstädterung, die Vermischung der Konfessionen und die als unmittelbare Folge der Migration eintretende Entkirchlichung müssten zur Kenntnis genommen werden, damit man mit volksmissionarischer Arbeit adäquat auf sie reagieren könne.376 Die empirischen Untersuchungsergebnisse bestätigten somit das Stereotyp vom Ostzonenflüchtling als einem entkirchlichten und entwurzelten Menschen. Missionierung und Sozialkontrolle – Stereotype des jungen DDR-Flüchtlings Der Untersuchung von Frank Hoffmann zufolge trugen sozialwissenschaftlich angelegte Umfragen und Studien in besonderem Maße mit dazu bei, das Stereotyp des indifferenten und in religiösen Fragen ungebildeten wie uninteressierten jugendlichen Flüchtlings zu formen.377 Das Stereotyp des jugendlichen DDR-Flüchtlings war eine präsente Sondervariante des Flüchtlingsbildes. Wenngleich die grundsätzliche Frage, ob man die Jugendlichen in der Bundesrepublik aufnehmen sollte, zumeist unstrittig war, entspann sich um ihre Fluchtmotive und ihre Integration eine breite Diskussion.378 Wegen des Wechsels zwischen den politischen Systemen galt diese Gruppe als politisch ungefestigt, zur Verstellung neigend und als besonders gefährdet für soziale und politische Bedrohungen.379 Frank Hoffmann kommt in seiner umfangreichen Studie zu der abschließenden These, dass die jugendlichen DDR-Flüchtlinge trotz verschiedener Differenzierungen vor allem als Herausforderung für die westdeutsche Gesellschaft und partiell auch als Bedro374 Rundbrief der Kirchenkanzlei an die Kirchenleitungen der evangelischen Kirchen in Westdeutschland vom 6. 3. 1958 (EZA Berlin 2/4292). 375 Einladung zur Tagung der Flüchtlingsbeauftragten am 20. Januar 1959, 26. 11. 1958 (EZA Berlin 2/4305). Der Kontakt zu Dittrich kam über eine weitere Tagung Stella Seebergs an der Evangelischen Akademie Loccum zu Stande. (Schreiben von Bischof Wester an Wilhelm Gundert, 14. 11. 1958 [EZA Berlin 2/4292]). 376 Rundschreiben Wilhelm Gunderts an die westdeutschen Landeskirchen, 29. 5. 1959 (EZA Berlin 7/4209). 377 Hoffmann, Junge Zuwanderer, 719–723. 378 Vgl. Ackermann, Politische Flüchtlinge, 85 f. 379 Ausführlich siehe: Ders., Flüchtling, 214–280;

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hung der Nachkriegsdemokratie betrachtet wurden.380 Dem gegenüber standen Bemühungen, explizit westlich gesinnte junge Menschen in den Westen holen wollten.381 Zugleich war die öffentliche Wahrnehmung der Jugendlichen eng mit zeitgenössischen Familien-, Jugend- und Reifediskursen verflochten, häufig wurden anhand des Themas allgemeine Fragen wie die Verlässlichkeit der Jugend und die Furcht vor kommunistischer Infiltration verhandelt.382 Paul Nolte beschreibt den Jugenddiskurs der 1950er Jahre daher auch als einen Aushandlungsprozess über soziale Verschiebungen und Risiken.383 Jugendliche Flüchtlinge galten in der Nachkriegsgesellschaft als Übergangsphänomen und waren daher dafür prädestiniert, zum Symbol der diagnostizierten gesellschaftlichen Umbrüche und der befürchteten Bindungslosigkeit stilisiert zu werden.384 Innerhalb des protestantischen Kommunikationsraums gab es hierbei keine besonderen Abweichungen, wenngleich die Aufmerksamkeit kontextbedingt stärker um Fragen der religiösen Sozialisation kreiste. Tendenziell wurden im Protestantismus die Reifegrade für junge Menschen in religiöskirchlichen Angelegenheiten höher angesetzt als im Feld der Politik.385 Da der Gesetzgeber den freien Trägern bei der Versorgung der Jugendlichen eine gewichtige Rolle einräumte, verfügten die konfessionellen Wohlfahrtsverbände hierbei über umfangreiche Einflussmöglichkeiten und beteiligten sich intensiv in Gremien und Fachdebatten.386 Auf die markante Differenzmarkierung zwischen der als vorbildlich geltenden kleinen Gruppe der geflüchteten Junge-Gemeinde-Mitglieder und dem stereotypen jugendlichen DDRFlüchtling wurde bereits verwiesen. Bei der Gruppe der als besonders kirchentreu geltenden und als christliche Vorbilder heroisierten Flüchtlinge bemühten sich die kirchlichen Institutionen um eine engmaschige Betreuung. Innerhalb der EKD wurde eine Leitstelle für Oberschüler und Studierende geschaffen, die Unterbringungsmöglichkeiten und eine Weiterleitung an Schulen und Universitäten vermitteln sollte.387 In der allgemeinen Auseinandersetzung über den Umgang mit jugendlichen Zuwanderern trugen die protestantischen Institutionen mit dazu bei, das gesellschaftliche Bild vom jugendlichen DDR-Flüchtling als auf der einen Seite hilfsbedürftigen und auf der anderen Seite indifferenten und potentiell politisch gefährlichen Person zu prägen und zu verfestigen. Eine Ausnahme bildete Ludwig Landsberg, der wiederholt betonte, die Flüchtlingsjugend un380 381 382 383 384 385 386 387

Vgl. Hoffmann, Junge Zuwanderer, 727–729. Vgl. Ritter, Sturmflut, 36. Vgl. Hoffmann, Überlegungen, 80–82. Vgl. Nolte, Ordnung, 229–231. Vgl. ebd. Vgl. Behrendt, Reifegrade, 233–238. Vgl. Hoffmann, Junge Zuwanderer, 732. Mitteilung der Kirchenkanzlei der EKD, Betreff: Leitstelle für Oberschüler und Studenten aus Mitteldeutschland, 28. 3. 1956 (EZA Berlin 2/4312).

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terscheide sich nicht von den einheimischen Jugendlichen in Westdeutschland und der die Diskussion erfolglos in den allgemeinen Jugenddiskurs reintegrieren wollte.388 Innerhalb des Protestantismus bestimmte eine sozialdisziplinarische Komponente die Wahrnehmung der jungen DDR-Zuwanderer. Soziale Kontrolle und die Anknüpfungsmöglichkeiten von volksmissionarischer Arbeit bildeten dabei die Leitkategorien. Die Besonderheit im missionarischen Kontext bestand darin, dass die Institutionen der evangelischen Flüchtlingshilfe ab Mitte der 1950er verstärkt mit jungen Menschen ohne religiöse Sozialisation durch Schulen und Familien konfrontiert wurden.389 Die Flüchtlingsseelsorge hatte sich dabei dem Ziel verschrieben, die atheistisch sozialisierten Jugendlichen an das Christentum heranzuführen.390 Der Jugendverband CVJM richtete beispielsweise seine „Häuser für Alle“ in den Flüchtlingslagern ein, die als Jugendheime fungieren sollten.391 Der Generalsekretär des Verbands bezeichnete diese Einrichtungen als beste Option, um im Massenlager Privatheit zu ermöglichen und gegen die Einflüsse des Lagerlebens mit „missionarischen Stationen modernster Art“392 auf die Jugendlichen einzuwirken. Karl Ahme verstand die Zuwendung zu den Jugendlichen nicht nur als eine Zukunftsfrage für die evangelische Kirche, sondern auch als notwendige Prävention politischer Radikalisierung. Der Antikommunist Ahme sah auch noch nach dem Verbot der KPD durch das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1956 die Gefahr, die Jugendlichen könnten schnell von der im Untergrund tätigen West-FDJ und anderen kommunistischen Tarnorganisationen beeinflusst und angelockt werden.393 Die Hinwendung von Flüchtlingen zu kommunistischen Organisationen war für den Pfarrer nur mit dem Vokabular der Verführung und Bedrohung beschreibbar. Einer These von Volker Ackermann zufolge konnten viele westdeutsche Journalisten und Funktionsträger aufgrund eines geringen Differenzierungsvermögens den Status DDR-Flüchtling nicht mit einem Bekenntnis zu den Ideen des Sozialismus zusammendenken.394 Die antikommunistischen Klischees hätten es vielen Westdeutschen unmöglich gemacht, die bisweilen anhaltende Zuwendung der jugendlichen DDR-Abwanderer zum Marxismus zu verstehen.395 Die Untersuchung der protestantischen Akteure unterstreicht diesen Befund. 388 Landsberg, Vertriebenen- und Flüchtlingsproblem, 18. 389 Erfahrungsbericht der Inneren Mission für das 1. Halbjahr des Jugendlagers Krofdorf, Nebenlager des Notaufnahmelagers Giessen, 5. 7. 1955 (ADW Berlin CAW 698). 390 Vgl. Lepp, Abwanderung, 95 f. 391 Exemplarisch vgl. Ackermann, Politische Flüchtlinge, 79. Zum CVJM als Akteur bei der Unterbringung jugendlicher Flüchtlinge vgl. Baum, Integration, 616. 392 Bericht zum Heimatlosen-Lagerdienst CVJM/YMCA, 7. 10. 1954 (LAELKB Nürnberg DW 1426). 393 Ahme, Flüchtlingsproblem, 60. 394 Ebd. 395 Vgl. Ackermann, Radikalisierung, 342.

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Kontinuitäten und Brüche im Flüchtlingsbild – Das UN-Weltflüchtlingsjahr 1959 Ihrer Selbstdarstellung nach beanspruchte die Flüchtlingsseelsorge, den menschlichen Einzelfall in den Mittelpunkt ihrer Arbeit zu stellen und lehnte Verallgemeinerungen als Vorurteil der kritisierten Aufnahmegesellschaft ab. Als Praktiker der Hilfsarbeit wisse man, dass es „den Normalflüchtling“, der sich in ein Schema ordnen ließe, nicht gebe.396 Diese Distanzierung von Stereotypisierungen steht im Widerspruch zu der langjährigen Praxis der Einrichtung, die in Publikationen, Vorträgen und Rundbriefen selbst derartige Bilder prägte. Im westdeutschen Protestantismus lassen sich im Zeitraum bis zum Bau der Berliner Mauer zwei unterschiedliche Flüchtlingsfiguren identifizieren. Das Stereotyp des heroischen christlichen Glaubenszeugen wie den Junge-Gemeinde-Mitgliedern der frühen 1950er Jahren blieb ein randständiges Phänomen. In der Mehrheit prägten protestantische Akteure ein Flüchtlingsbild, das die DDR-Zuwanderer als Opfer eines totalitären Staatssystems und ideologischer Kontrollversuche zeichnete. Der hinter der Anerkennung von Fluchtmotiven stehende Politikbegriff wurde unter Bezugnahme auf den antitotalitären Konsens der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft von unmittelbar Verfolgten zu mittelbaren Opfern des politischen Systems und der deutschen Teilung ausgedehnt. Das Bild des Flüchtlings wurde umfassend auf den im Alltag von staatlichen Maßnahmen in seiner zumeist bürgerlichen Existenz betroffenen Menschen ausgeweitet. Dieser umfassenden Viktimisierung der DDR-Bürger als Opfer des kommunistischen Systems wurde zwar auch innerhalb protestantischer Kommunikationsräume widersprochen, unter den Akteuren der evangelischen Flüchtlingsarbeit bildete er aber die Grundlage zur Ausbildung des handlungsleitenden Stereotyps. Mit Blick auf die beteiligten Institutionen ist dieser Befund nicht erklärungsbedürftig. Sowohl das Hilfswerk der EKD als auch die Flüchtlingsseelsorge waren ideologisch vom Antikommunismus geprägt. Besonders der als populärster Fürsprecher der DDR-Flüchtlinge exponierte Karl Ahme griff auf traditionell erprobte Deutungsmuster des nationalprotestantischen Antikommunismus aus der Zwischenkriegszeit zurück und reaktivierte diese mit nur geringen Anpassungen in seiner neuen Tätigkeit. Zusätzliches motivationales und emotionales Mobilisierungspotential boten die von der zeitgenössischen Theologie und der christlichen Tradition zur Verfügung gestellten Topoi. Besonders anschlussfähig an das Bild vom Flüchtling als Opfer waren das Motiv von der Gottesbegegnung durch den Flüchtling und der Verweis auf die Imperative christlicher Ethik. Da die Akteure des Protestantismus die Aufnahme und Anerkennung der Zuwanderer in weitaus größerem Maße als die staatlichen Institutionen bejahten, verschob sich die Thematisierung negati396 Flüchtlingsseelsorge, Volk, 8.

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ver Aspekte in den Integrationsdiskurs, in dem die aufgenommenen Flüchtlinge auch als Objekte sozialer Disziplinierung, christlicher Mission und im Fall der Jugendlichen besonders als potentielle Opfer kommunistischer Infiltration gesehen wurden. Die Konstruktion von Bedrohungsszenarien im Kontext der Jugenddebatte belegt auch hier die Kontinuität antikommunistischer Deutungsmuster. Trotz der Verflechtung mit dem antikommunistischen und nationalen Kontext lassen sich Ansätze zur Internationalisierung und Universalisierung des Flüchtlingsbildes beschreiben. Als Kirchenrat Karl Ahme im Jahr 1979 im Ruhestand verstarb, wurde in der Sterbeanzeige im Sinne des Verstorbenen um Spenden für die internationalen Projekte der evangelischen Hilfsaktion „Brot für die Welt“ gebeten.397 Diese biographische Randnotiz illustriert einen gegen Ende der 1950er Jahre beginnenden Prozess, in dem die protestantischen Akteure das Thema Flucht zunehmend in einen internationalen Kontext stellten. Transnationale Einflüsse gingen auch an der besonders gelagerten deutsch-deutschen Migration und an einem nationalprotestantisch geprägten Theologen wie Ahme nicht spurlos vorüber. Gegen Ende der 1950er Jahre setzte im Vorfeld der Kampagnen zum Weltflüchtlingsjahr eine Tendenz zur Universalisierung des Flüchtlingsbildes ein. Über den Lutherischen Weltbund und den Ökumenischen Rat der Kirchen standen die Institutionen der EKD in einem regelmäßigen globalen Austausch mit anderen Kirchen.398 Auch mit dem UNHCR tauschten sich kirchliche Stellen bereits seit den frühen 1950er Jahren beispielsweise über die Frage der Medialisierung von Fluchtschicksalen aus.399 Ab Mitte der 1950er Jahre erregte vor allem die Situation chinesischer Flüchtlinge in Honkong Aufmerksamkeit in Westeuropa. Der ÖRK trug bedeutend mit dazu bei, die dortige Situation weltweit öffentlich zu machen.400 Das Hilfswerk der EKD und der nationale Ausschuss des LWB organisierten die Vortragsreise eines Pfarrers durch die Bundesrepublik, der von seinen Erlebnissen im vom Flüchtlingszustrom aus der neu gegründeten Volksrepublik China besonders betroffenen Hongkong berichtete.401 Der Referent, der wie Karl Ahme antikommunistisch ausgerichtete Pastor Karl Stumpf, reiste dafür durch viele Gemeinden in der Bundesrepublik.402 Seine Präsentationen leitete er laut Manuskript mit der Bemerkung ein, die Situation in Hongkong sei wesentlich katastrophaler als die im Europa der unmittelbaren Nach-

397 Todesanzeige für Karl Ahme, 26. 10. 1979 (ELAB Berlin 15/30). 398 Zum Ökumenischen Rat der Kirchen in den 1950er Jahren vgl. Richter, Protestantismus, 412 f. 399 Schreiben des UNHCR an die Kirchenkanzlei der EKD, 6. 5. 1953 (EZA Berlin 2/4291). 400 Vgl. Peterson, Uneven Development, 330; Gatrell, Crisis, 37. 401 Schreiben des Zentralbüros des Hilfswerks der EKD und des Deutschen Hauptausschusses LWB an die gliedkirchlichen Landesverbände, Betreff: Vortragsreise Pastor Stumpf, 20. 9. 1956 (LAELKB Nürnberg DW 1390). 402 Vgl. Gatrell, Crisis, 36 f.

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kriegsjahre.403 Wie beim späteren Weltflüchtlingsjahr der Vereinten Nationen dominierte im Fall der Honkong-Vortragsreise weiterhin eine eurozentrische Perspektive auf die weltweiten Migrationsphänomene. Das antikommunistische Paradigma blieb dominierend, die Einflüsse der internationalen kirchlichen Organisationen und des UNHCR führten aber eine internationale Perspektive in den westdeutschen Diskurs ein. Auch in der Alltagspraxis der Flüchtlingsseelsorge wurden Folgen dieser Entwicklung sichtbar. In den Gottesdiensten, die von der Flüchtlingsseelsorge in den Aufnahmelagern West-Berlins durchgeführt wurden, gedachten die Teilnehmer unter Berufung auf ökumenische Verbundenheit Flüchtlingen „wo auch immer sie leben“404. In den Gottesdiensten wurden zudem Spenden für Flüchtlinge in Honkong und in Jordanien gesammelt, deren Elend auch angesichts der prekären Situation der Flüchtlinge in West-Berlin unvorstellbar sei.405 Die Relativierung der eigenen Notlage mit dem Verweis auf die weltweite Situation ermöglichte es der Flüchtlingsseelsorge, ihre Klientel nach außen als solidarisch und bescheiden zu präsentieren. Den Flüchtlingen selbst ermöglichte dieses Deutungsangebot, sich als Teil einer gedanklichen Weltgemeinschaft von Menschen auf der Flucht zu definieren.406 Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung mit der Beteiligung der evangelischen Kirche am Weltflüchtlingsjahr der Vereinten Nationen.407 Auf EKD-Ebene wurde ein eigener Sonderausschuss zur Konzeption und Koordination der protestantischen Mitwirkung an der Kampagne eingerichtet.408 Wie bereits dargestellt, hofften Mitglieder des Flüchtlingsbeirates der EKD, darunter Karl Ahme, vermehrte Aufmerksamkeit aus dem Ausland für die Situation der deutschen Vertriebenen und DDR-Flüchtlinge gewinnen zu können.409 In der Hauptgeschäftsstelle von Hilfswerk und Innerer Mission versprach man sich von einer intensiven Adaption der Kampagne auch die Möglichkeit zur Verbesserung des Ansehens der Deutschen in den westlichen Ländern.410 Im Flüchtlingsbeirat wurde die Aufteilung der im Rahmen der kirchlichen Kampagne zum Weltflüchtlingsjahr gesammelten Spenden zwischen Projekten für deutsche Flüchtlinge und weltweite Projekte breit diskutiert. Obwohl das Bundesvertriebenenministerium vorgeschlagen hatte, 403 Vortragsmanuskript von Karl Stumpf zum Thema „Flüchtlingsnot in Honkong“, 20. 9. 1956 (LAELKB Nürnberg DW 1390). 404 Liturgie-Handblatt „Berliner Flüchtlinge beten“, o. D. (EZA Berlin 7/4209). 405 Flüchtlingsseelsorge, Volk, 10. 406 Vgl. Lepp, Abwanderung, 97. 407 Zum Verlauf des Weltflüchtlingsjahres in der Bundesrepublik vgl. Gatrell, Free World, 105–109. 408 Protokoll der Sitzung des Sonderausschusses Weltflüchtlingsjahr des Flüchtlingsbeirats der EKD vom 20. 5. 1959 (EZA Berlin 2/4307). 409 Rundbrief Karl Ahmes an die Pfarrerschaft von Berlin-Brandenburg, 14. 8. 1959 (EZA Berlin 2/4308). 410 Rundbrief der Hauptgeschäftsstelle der Inneren Mission/Hilfswerk der EKD an die Landesverbände, Betreff: Weltflüchtlingsjahr, 19. 5. 1959 (EZA Berlin 2/4307).

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70 Prozent der gesammelten Gelder für Angebote in Deutschland aufzuwenden, entschieden sich die Beiratsmitglieder am Ende dafür, die Summe jeweils zur Hälfte zwischen den beiden Gruppen aufzuteilen.411 Das Bild des Flüchtlings als Opfer der politischen Umwälzungen, besonders in der Form der Etablierung kommunistischer Systeme, wurde nun stärker internationalisiert. Diese Entwicklung verlief in engen Grenzen. Berechtigterweise wird das Weltflüchtlingsjahr von der Forschung zumeist als eurozentrisch und als eine für viele Phänomene blinde Kampagne beurteilt.412 Der offizielle Aufruf des EKD-Ratsvorsitzenden Dibelius zum Weltflüchtlingsjahr verwies zwar gleich zu Beginn auf die weltweite Not von Flüchtlingen, um dann aber mit dem Zusatz fortzufahren, Deutschland habe aktuell am schwersten unter der Situation zu leiden.413 Zugleich darf diese kritische Einordnung nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich im Umfeld des von den Vereinten Nationen initiierten Sonderjahres auch auf Ebene der Kirchen interessante Austauschprozesse identifizieren lassen. Der Migrationshistoriker Peter Gatrell verweist darauf, dass das Weltflüchtlingsjahr gerade für die Wohlfahrtsorganisationen und konfessionellen Verbünde eine neue Öffentlichkeit geschaffen und die Etablierung neuer Aktionsformen ermöglicht habe, auch weil es durch den Antikommunismus eine politische Dimension für die Ausweitung des Flüchtlingsschutzes besaß.414 Mit der Relativierung der eigenen Situation in Deutschland und dem Bedeutungsverlust der nationalen Komponente ging eine Bewusstwerdung für internationale Zusammenhänge und Kontexte einher.415

411 Niederschrift über die Sitzung des Flüchtlingsbeirates der EKD am 11. 8. 1959 (EZA Berlin 7/ 4209). 412 Die Rezeption des Weltflüchtlingsjahrs wird in der Forschung ambivalent bewertet. Einerseits entwickelten sich in seinem Kontext neue aktivistische Formen zur Ansprache der Öffentlichkeit. Zudem manifestierte sich in der Aktion der Vereinten Nationen die verstärkte Tendenz zum Humanitarismus. Andererseits konstatiert Philipp Ther, dass die Umsetzung des Weltflüchtlingsjahrs von der eurozentrischen Idee bestimmt gewesen sei, vor allem den Kontinent Europa von den verbliebenen Fluchtströmen der Nachkriegszeit frei zu machen. (Ther, Außenseiter, 241) Peter Gatrell betont, dass das Sonderjahr zwar in Teilen von einem bevormundenden Tonfall geprägt gewesen sei, gleichzeitig aber Bewusstsein für globale Fluchtphänomene geschaffen habe (Gatrell, Crisis, 45). Zudem schuf es erstmals eine breite Öffentlichkeit für die Arbeit des UNHCR (Ders., Making, 91). 413 KJ 1959, 136. 414 Vgl. Gatrell, Crisis, 44 f. 415 Vgl. Gatrell, Free World, 246.

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2.1.4 „Die evangelische Kirche sollte auch zu dieser Frage etwas sagen“416 – Politische Einflussnahme des Protestantismus im Kontext der DDR-Flüchtlingspolitik Die kritische Positionierung kirchlicher Verbände gegenüber der Politik in der Frage der Notaufnahmegesetzgebung ist von historischen Arbeiten, sofern sie überhaupt zur Kenntnis genommen wurde, meist als erklärungsbedürftig und für evangelische Wohlfahrtsorganisationen untypisch dargestellt worden.417 Insofern erscheint die Aktivität protestantischer Akteure in diesem Kontext untersuchungswürdig. Der folgende Abschnitt stellt anhand einiger ausgewählter Initiativen die Versuche protestantischer Akteure dar, Einfluss auf die politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen der Aufnahme und Anerkennung von DDR-Flüchtlingen zu nehmen. Da bereits eine umfassende Studie zur kirchlichen Interessenvertretung in den 1950er Jahren vorliegt, sind hierfür nur politikfeldspezifische Fragen der Aufnahme und Anerkennung von DDRZuwanderern relevant.418 Untersucht werden die Formen der Selbstlegitimierung der protestantischen Akteure gegenüber dem Staat und den Parteien sowie Kanäle und Strategien der politischen Einflussnahme. Mitberücksichtigt werden aber auch wechselseitige Beziehungen zwischen Kirche und Politik. Der Politikwissenschaftler Richard Traunmüller verweist auf das Phänomen, das auch Parteien und staatliche Institutionen im Wechselspiel mit religiösen Akteuren versuchen, ihren Anliegen mit moralisch-religiösen Argumenten zusätzliche Legitimation zu verschaffen.419 Diese Entwicklung lässt sich auch im Kontext der Migrationspolitik beschreiben und vor dem Hintergrund der Parteiengeschichte der 1950er Jahre zu konkretisieren. Mit dem für die rechtlich-politische Arbeit des Hilfswerks der EKD hauptverantwortlichen Akteur Heinrich von Schönberg wird zu Beginn in einer biographischen Skizze die Entwicklung der kirchlichen Interessenvertretung im Politikfeld DDR-Flüchtlingspolitik vorgestellt. Heinrich von Schönberg: Der diakonische „Cheflobbyist“ für SBZ-Flüchtlinge Heinrich von Schönberg kann als die zentrale Figur der kirchlichen Einflussnahme auf die Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik in den 1950er Jahren gelten. Als Mitarbeiter des Hilfswerks und Verfasser zahlreicher Studien und Kommentare zu Gesetzesentwürfen fungierte er in der Position des professionellen Interessensvertreters der Diakonie gegenüber der Politik. 416 417 418 419

Niederschrift über die Sitzung des Flüchtlingsbeirates am 19./20. 1. 1959 (EZA Berlin 54/9). Vgl. Daniel, Brüder, 356. Siehe Buchna, Jahrzehnt. Vgl. Traunmüller, Preaching, 679.

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Bereits in den 1960er Jahren wurde retrospektiv eine Erfolgsgeschichte von Schönbergs Arbeit gezeichnet. In einem Beitrag für das Jahrbuch der Diakonie vier Jahre nach dem Mauerbau resümierte Schönberg seine ein knappes Jahrzehnt andauernde Tätigkeit im Hilfswerk der EKD und zeichnete sie als einen andauernden Kampf für die Flüchtlinge gegen die Bürokratie.420 Diese Selbstzuschreibung wurde in der Rezeption reproduziert. Die Diakoniegeschichte stilisierte Schönberg in den folgenden Jahren zu einem brillanten Juristen, der gemeinsam mit seinem Vorgesetzten Collmer eine unter den Wohlfahrtsverbänden einzigartige moderne sozialpolitische Beratungsarbeit aufgebaut habe.421 Auf die Probleme einer unkritischen Übernahme dieses Erfolgsnarratives wurde bereits an vorhergehender Stelle verwiesen. Heinrich von Schönberg stammte aus einer in Sachsen ansässigen Adelsfamilie und hatte neben Rechtswissenschaften auch Land- und Forstwirtschaft studiert. Bereits 1945 hatte er den Familiensitz aufgrund der Enteignungen verlassen und sich in die westlichen Besatzungszonen begeben.422 Seinen persönlichen Hintergrund als Sowjetzonenflüchtling der ersten Stunde machte er nur sporadisch öffentlich. Der promovierte Jurist galt aufgrund seines persönlichen Hintergrunds als prädestiniert für die Übernahme der Flüchtlingsberatung des Hilfswerks.423 Bereits bei einem seiner ersten offiziellen Auftritte auf einer Arbeitstagung des Hilfswerks konnte er sich als ein rechtlich und politisch fachkundiger Kritiker des Notaufnahmegesetzes mit großem Detailwissen über die parlamentarischen Abläufe profilieren.424 Neben dem Aufbau der Rechtsberatungsstelle im Jahr 1953425 entstanden unter seiner Federführung zahlreiche Studien und Konzeptpapiere zur Rechtslage und sozialen Situation der DDR-Zuwanderer, die innerhalb der evangelischen Kirche und unter Fachpolitikern verbreitet wurden.426 Dabei legte Schönberg besonderen Wert darauf sicherzustellen, dass aus den Schriften des Hilfswerks „der eine oder andere Punkt zum Gegenstand weiterer Überlegungen der massgeblichen Persönlichkeiten“427 würde. Zudem war Schönberg für den Transfer sozialwissenschaftlichen und juristischen Wissens in die Arbeit der 420 Vgl. Schönberg, Bürokratismus. 421 Vgl. Krimm, Beistand, 103 und 106. 422 Nachruf für Heinrich von Schönberg, o. D. [vermutlich Januar 1968] (ADW Berlin HGSt 6918). 423 So beispielsweise die Einleitung Paul Collmers zu Schönbergs Referat auf einer Tagung (Protokoll über die Arbeitstagung zur Frage der Ostzonenflüchtlinge am 19. 9. 1952 (ADW Berlin ZB 1203)). 424 Protokoll über die Arbeitstagung zur Frage der Ostzonenflüchtlinge am 19. 9. 1952 (ADW Berlin ZB 1203). 425 Aktenvermerk Schönbergs für Paul Collmer über den Aufbau der Beratungsstelle, 9. 7. 1953 (ADW Berlin ZB 1209). 426 Exemplarisch das vielfach verbreitete Memorandum von 1954: Hilfswerk, Sowjetzonenflüchtlinge. 427 Schreiben Schönbergs an Regierungsdirektor Katzenberger, 14. 6. 1956 (Bundesratsarchiv Berlin Fl 3703).

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kirchlichen Hilfseinrichtung verantwortlich. Teilweise erstellte er auch selbst interne Untersuchungen wie über den Zugang von Flüchtlingen zum Wahlrecht in den einzelnen Bundesländern.428 Zugleich nahm Schönberg auch die Aufgabe der externen Vertretung des Hilfswerks wahr. In der sozialreformerischen Fachzeitschrift „Sozialer Fortschritt“ veröffentlichte er mehrfach kommentierende Aufsätze zu Themen der Flüchtlingsarbeit.429 Ergänzend verfolgte Schönberg zeitweise eine mediale Strategie. Von einer erhöhten publizistischen Präsenz hatte vor allem Paul Collmer sich größeren Erfolg bei der Beeinflussung der politischen Entscheider versprochen.430 Für die weitere Verbreitung der Themen des Hilfswerks in der Öffentlichkeit bemühte sich Schönberg daher proaktiv um Auftritte im Rundfunk.431 Das Hilfswerk hatte sich strategisch schon früh dafür entschieden, stärker auf informelle Kanäle der Einflussnahme als auf die offizielle Vertretung der Verbände und Wohlfahrtsorganisationen gegenüber dem Bundesvertriebenenministerium zu setzen. Collmer maß dem offiziellen Beirat des Ministeriums, in dem unterschiedliche Verbände der Vertriebenen- und Flüchtlingsarbeit vertreten waren, nur eine geringe Bedeutung bei.432 Bereits nach Konstituierung des Gremiums notierte er in einem internen Vermerk, es handele sich hierbei eher um ein Forum für den Austausch mit anderen Interessensgruppen, darüber hinaus sei der Beirat nicht arbeitsfähig.433 Erschwerend hinzu kamen interne Konkurrenzen, die sich auch in den Zuständigkeiten des Bonner Ministeriums spiegelten. In den frühen 1950er Jahren wurde im diakonischen Kontext häufiger die Befürchtung geäußert, ein zu großes Engagement für die DDRFlüchtlinge könnte für Verärgerung bei den Vertriebenen sorgen.434 Forderungen nach einer sozialpolitischen Gleichstellung der beiden Gruppen im Lastenausgleich und bei Integrationshilfen blieben anfangs ein Tabuthema.435 Entsprechend autonom agierte das Referat für Sowjetzonenflüchtlinge von den bestehenden Strukturen der kirchlichen Vertriebenenarbeit. Heinrich von Schönberg nutzte zur Verbreitung der Publikationen des Hilfswerks ein Netzwerk von Funktionären aus der Politik, den Wohlfahrtsverbänden und den Flüchtlingsorganisationen.436 Die politischen und legislativen Abläufe in Bonn beobachtete er aufmerksam. Als besonders gut beschrieb er seine 428 Aktenvermerk für Paul Collmer: Wahlrecht für anerkannte Flüchtlinge, 11. 1. 1954 (ADW Berlin ZB 1209). 429 Schönberg, Zuwanderer; Ders., Notaufnahmegesetz; Ders. Bemerkungen. 430 Aktenvermerk Paul Collmers für Heinrich von Schönberg, 28. 2. 1953 (ADW Berlin ZB 1209). 431 Schreiben Schönbergs an den Süddeutschen Rundfunk, 28. 1. 1954 (ADW Berlin ZB 1210). 432 Zum Beirat des Bundesvertriebenenministeriums vgl. Teuchert, Gemeinschaft, 292–295. 433 Aktenvermerk Paul Collmers über die Sitzung des Beirats, 1. 4. 1954 (ADW Berlin ZB 918). 434 Schreiben von Stella Seeberg an Heinrich von Schönberg, 3. 10. 1953 (ADW Berlin ZB 1209). 435 Vgl. Krimm, Beistand, 104. 436 Exemplarisch: Aktenvermerk Schönbergs für Paul Collmer über Besprechung mit der Interessensgemeinschaft der in der Ostzone enteigneten Betriebe, 9. 7. 1959 (ADW Berlin HGSt 6917).

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Kontakte in einzelne Ministerien und zum Bundesrat.437 Vor allem im Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen hatte sich Schönberg einen Ruf als kompetenter Experte erarbeitet und Gelder für die Arbeit des Hilfswerks eingeworben.438 Die starke Position des Hilfswerk in der Frage der deutschdeutschen Migration, von Beginn an befördert durch die offizielle Beauftragung der EKD-Synode, wurde dabei durch eine zurückhaltende Position des eigentlich für die politische Interessenvertretung der EKD zuständigen Bevollmächtigten Hermann Kunst noch begünstigt. Der für die Begleitung von Gesetzgebung im Büro des Bevollmächtigten verantwortliche Referent Hansjürg Ranke versuchte den Flüchtlingsbeirat der EKD bei seinen Auseinandersetzungen mit dem Bundesvertriebenenminister vielmehr zu bremsen und relativierte die von den Akteuren der Flüchtlingshilfe aufgeworfenen Probleme.439 Vor der Bundestagswahl 1957: Flüchtlingspolitik als Wahlkampfthema? Uneinigkeit herrschte über die Frage der Haltung der evangelischen Kirche zum Umgang mit Themen der Flüchtlingspolitik in Wahlkampfzeiten. Im Vorfeld der Bundestagswahl 1957 kam es zwischen Flüchtlingsseelsorge und Hilfswerk zu einer Auseinandersetzung um die Haltung der Kirche zur Politisierung des Themas. Karl Ahme nahm seine anhaltende Frustration über die starre Haltung des Vertriebenenministeriums zum Anlass, um im Vorfeld des Wahlkampfes eine Gruppe von Gleichgesinnten zu sammeln, die sich öffentlich für eine Entpolitisierung des Flüchtlingsthemas aussprechen sollte. Seiner Idee zufolge sollte der Rat der EKD die Parteien auf offiziellem Weg darum bitten, Flüchtlingsfragen aus der politischen Auseinandersetzung herauszuhalten und den Zugewanderten keine falschen Versprechungen zu machen.440 Skepsis gegenüber den Parteien der jungen Bundesrepublik und ihrer Fähigkeit zur Repräsentation der Anliegen der Flüchtlinge lässt sich in Karl Ahmes Schriften wiederholt identifizieren: An anderer Stelle hatte Ahme den Parteien schweres Versagen vorgeworfen.441 Hinter dem Misstrauen gegenüber der Interessenvertretung durch Parteien stand ein paternalistisches Selbstverständnis. Die Flüchtlingsseelsorge nahm für sich in Anspruch, die Flüchtlinge vor falschen Versprechungen schützen zu müssen. Die Idee, durch 437 Aktenvermerk Schönbergs für Kirchenrechtsrat Röntsch, 3. 12. 1954 (ADW Berlin ZB 1200). 438 Aktenvermerk über Schönbergs Studie zur Eingliederung von Sowjetzonenflüchtlingen in der Bundesrepublik, 5. 2. 1954 (BArch Koblenz B137/327). 439 Schreiben von Hansjürg Ranke an Wilhelm Gundert, 10. 10. 1958, (EZA Berlin 2/4273). Zu Hansjürg Ranke und seiner Position in der EKD-Kirchenkanzlei siehe: Buchna, Jahrzehnt, 287–290. 440 Schreiben Karl Ahmes an Kirchenrat Berg, 12. 10. 1956 (ADW Berlin ZB 918). 441 Karl Ahme: Erfahrungen aus den Berliner Flüchtlingslagern, o. D. (LAELKB Nürnberg IV/ 1–1/1).

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den öffentlichen Appell einer als neutral geltenden Institution wie der Kirche flüchtlingspolitische Themen den Auseinandersetzungen des Wahlkampfs zum Zwecke der Versachlichung oder dem Schutz der Migranten zu entziehen, erschien aus dieser Perspektive folgerichtig. Zudem lässt sich Ahmes Initiative auch als Versuch beschreiben, das Thema Flüchtlingspolitik dem öffentlichen Diskurs zu entziehen. Seine Forderung nach einem thematischen Moratorium für den Wahlkampf wurde daraufhin in den Kirchennachrichten der Rundfunkanstalten aufgegriffen.442 Vorbilder für Ahmes Haltung gab es durchaus. In der kirchlichen Presse hatten sich Kommentatoren bereits während der Entstehung des Notaufnahmegesetzes missbilligend über das Taktieren der Politik und die ungeklärten Kompetenzen zwischen Bund und Ländern geäußert und gefordert, Sowjetzonenflüchtlinge dürften nicht „Objekt parteitaktischer Schachzüge“443 werden. Der Vorstoß blieb in der weiteren Umsetzung jedoch erfolglos. Dafür war insbesondere eine Kollision mit den Interessen des Hilfswerks verantwortlich. Ahme wertschätzte besonders Heinrich von Schönberg und die Arbeit der Rechtsberatungsstelle im Hilfswerk.444 Die Gründung seiner Initiativgruppe hatte er mit dem besonderen Wunsch versehen, den Juristen für den Appell an den Rat der EKD zu gewinnen.445 Sein Versuch, den diakonischen Experten des Hilfswerks miteinzubeziehen, scheiterte aber auf ganzer Linie und führte zu einem Dissens zwischen den führenden Institutionen evangelischer Flüchtlingshilfe. Paul Collmer widersprach dem Anliegen deutlich und äußerte sein Unverständnis für Ahmes Vorstoß: Die Parteien könnten gar nicht genug über die Flüchtlingspolitik debattieren, vielmehr müsse das Thema dauerhaft im politischen Bewusstsein der Bundesrepublik präsent bleiben.446 Dabei flossen auch die praktischen Erwägungen aus der Perspektive der politischen Interessenvertretung des Hilfswerks in Bonn mit in die Begründung ein: Umso mehr die Parteien Versprechungen zu dem Thema machten, desto einfacher könne man sie als Wohlfahrtsverband anschließend darauf verpflichten. Zudem sei der Vorschlag angesichts des Bestehens von Parteien wie dem BHE, der sich als Vertretung der Vertriebeneninteressen verstehe, nicht praktikabel.447 Ungeachtet der Kritik veröffentlichte Karl Ahme Anfang 1957 einen längeren Text zur Lage der Flüchtlinge in Berlin, in dem er die fehlende Empathie in der westdeutschen Gesellschaft beklagte und erneut den Verzicht auf eine Thematisierung im Wahlkampf forderte:

442 Aktenvermerk Heinrich von Schönbergs für Paul Collmer, 16. 10. 1956 (ADW Berlin ZB 918). 443 Flüchtlinge sind kein Objekt der Parteitaktik. Zur Regelung der Notaufnahme von OstzonenFlüchtlingen durch Bonn. In: Sonntagsblatt, 27. 11. 1949, 17. 444 Schreiben Karl Ahmes an Heinrich von Schönberg, 15. 10. 1953 (ADW Berlin ZB 1210) 445 Schreiben Karl Ahmes an Kirchenrat Berg, 12. 10. 1956 (ADW Berlin ZB 918). 446 Schreiben Paul Collmers an Kirchenrat Berg, 15. 10. 1956 (ADW Berlin ZB 918). 447 Ebd.

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„Es wäre also gut, wenn alle unsere Parteien sich dahingehend abstimmen würden, das Flüchtlingsproblem so weit wie möglich aus der Wahlpropaganda herauszulassen. […] Es geht hier um rein menschliche Fragen und um die Existenz des Menschen und nicht um seine politische Meinung. So sollte bei der zu erwartenden Härte des Wahlkampfes alles und alles getan werden, dieses rein menschliche Problem mit allen seinen Auswirkungen auch nicht mit hineinzuziehen, und alle sollten sich nur von dem einen leiten lassen, das zu tun, was für den Menschen selbst, wenn er einmal hier ist, das Beste wäre.“448

Mit teils identischen Worten wandte sich Ahme zudem bei einer Anhörung an die Bundestagsabgeordneten des Ausschusses für gesamtdeutsche Fragen.449 Der Versuch, im Rekurs auf den übergeordneten Wert der Humanität die Notwendigkeit politischen Streits zu verneinen, ignorierte die vom Hilfswerk geäußerten Einwände. In dieser Frage prallten zwei verschiedene Konzepte politischer Interessenrepräsentation aufeinander. Für Ahme waren die Maximen zur Aufnahme und Anerkennung von DDR-Flüchtlingen in die Bundesrepublik dem alltagspolitischen Diskurs entzogen. Entsprechend abwehrend blieb seine Haltung gegenüber der Repräsentation von Interessen durch Parteien. Da Ahme seine flüchtlingspolitischen Positionen teilweise durch theologische Argumente begründete, die im demokratischen Parteienstreit nicht verhandelbar waren, blieb ein anhaltender Konflikt bestehen. Die religiösen und moralischen Deutungskategorien schlossen eine Wahrnehmung des Migrationsregimes als ein politisch im demokratischen Meinungswettstreit veränderbares Konstrukt aus. Noch wenige Tage vor dem Mauerbau äußerte der Pfarrer sich gegenüber Pressevertretern kritisch über die Auswirkungen des Wahlkampfes auf das öffentliche Interesse für die Anliegen der Flüchtlinge: Angesichts der aufgrund der ansteigenden Zuwanderungszahlen schwierigen Lage sollten sich die Menschen nicht von Sommerurlaub und Wahlkampf ablenken lassen, sondern auf die „Fragen und Forderungen, die uns Gott durch die Zufluchtsuchenden“450 stelle, besinnen. Das Hilfswerk legte zwar in seiner Außendarstellung ebenfalls Wert auf die Selbstinszenierung als neutrale Kraft und polemisierte gegen Verwaltung und Gerichtsbarkeit, akzeptierte aber die Parteien als zentrale Akteure der politischen Entscheidungsfindung.

448 Ahme, Karl: Gedanken zum Notaufnahmeverfahren in Berlin, Februar 1957 (ELAB Berlin 1/ 873). 449 Kurzprotokoll der 7. Sitzung des Ausschusses für Gesamtdeutsche und Berliner Fragen vom 7. 5. 1958 (BT PA Berlin 3105/A3/4). 450 Neuer Appell: Spendet für die Flüchtlinge. In: epd-ZA Nr. 179, 7. 8. 1961.

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Ungewohnte Verbündete: Protestantische Annäherungen an die Sozialdemokratie Anhand der Aktivitäten des Referats für Sowjetzonenflüchtlinge lässt sich auch das wechselhafte Verhältnis der protestantischen Akteure zu den Parteien im Kontext der Flüchtlingspolitik im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik skizzieren. Heinrich von Schönberg bemühte sich um ein enges Verhältnis zu den Bonner Parlamentsfraktionen und befand sich im andauernden Austausch mit den für das Politikfeld zuständigen Abgeordneten.451 Bereits wenige Wochen nach seinem Dienstantritt in der Geschäftsstelle des Hilfswerks im Jahr 1952 führte Schönberg ein vertrauliches Gespräch mit einem Abgeordneten aus dem für das Notaufnahmeverfahren zuständigen Unterausschuss im Bundestag.452 Das rasch etablierte Netzwerk im Bonner Parlamentsbetrieb garantierte aber keinen Erfolg bei der Durchsetzung der politischen Agenda der diakonischen Institutionen. Heinrich von Schönberg fand mit seinen Studien und Forderungspapieren in erster Linie bei der Opposition Unterstützung. Das Verhältnis zu den Unionsparteien gestaltete sich angesichts der unterschiedlichen flüchtlingspolitischen Vorstellungen nicht immer spannungsfrei. Obwohl selbst von einem hochrangigen CDU-Politiker ins Leben gerufen, hatte das Hilfswerk in der Frage der DDR-Flüchtlinge im Umgang mit der regierenden Partei keine Vorteile. Zwar gab es innerhalb der CDU keine einheitliche Haltung zum Umgang mit der Flüchtlingsfrage. Die Regierung von Bundeskanzler Adenauer und die zuständigen Minister verfolgten aber aus deutschlandpolitischen Gründen durchgehend den Kurs einer restriktiven Definition politischer Fluchtgründe.453 Die Zusammenarbeit mit den Politikern der Union gestaltete sich für das Hilfswerk wechselhaft. Trotzdem fanden die kirchlichen Positionen zur Frage des Umgangs mit den DDR-Zuwanderern bei den politischen Eliten der Regierung durchaus Gehör. Nach dem Beschluss der Synode in Elbingerode 1952 hatte die Delegation der EKD das Thema der Verelendung der „Illegalen“ bei ihrem anschließenden Gespräch mit Konrad Adenauer zumindest am Rande thematisieren können.454 Das in den Angelegenheiten der Flüchtlingsanerkennung federführende Bundesvertriebenenministerium war in der Wahrnehmung der protestantischen Akteure hingegen maßgeblich für den Misserfolg der eigenen politischen Vorschläge verantwortlich. Heinrich von Schönberg misstraute 451 Beispielsweise wurden Heinrich von Schönberg und Karl Ahme 1958 von Herbert Wehner, damals Vorsitzender des Ausschusses für gesamtdeutsche und Berliner Fragen, zur Anhörung im Bundestag eingeladen (Einladungsschreiben Herbert Wehners an Karl Ahme, 16. 4. 1958 (EZA Berlin 54/11)). 452 Aktenvermerk Heinrich von Schönbergs, 1. 7. 1952 (ADW Berlin ZB 1200). 453 Vgl. Heidemeyer, Flucht, 313 f. 454 Aktennotiz zum Vortrag bei Bundeskanzler Adenauer am 30. 10. 1952 in Bonn (EZA Berlin 4/ 80).

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vor allem den Spitzenbeamten des Ministeriums, die er als die größte Hürde ausgemacht hatte.455 Auch die Zusammenarbeit mit dem Vertriebenenminister selbst gestaltete sich als kompliziert. Hermann Kunst, Bevollmächtigter der EKD, sah in dem von 1954 bis 1960 amtierenden Theodor Oberländer zwar einen für Anliegen der Kirchen grundsätzlich offenen Minister.456 Zudem trat der Minister als prominenter Vortragsredner auf Tagungen der evangelischen Vertriebenen- und Flüchtlingsarbeit in den Akademien auf.457 Dabei forderte er von den evangelischen Landeskirchen auch explizit die Mitwirkung bei der Integration besonders der jugendlichen Flüchtlinge ein.458 Trotz dieser günstigen Rahmenbedingungen konnten die flüchtlingspolitischen Vorstöße protestantischer Akteure bei Oberländer jedoch nichts bewirken. Der Minister hielt wenig von Karl Ahmes Vorschlägen zu einer Abschaffung beziehungsweise einem Umbau des Notaufnahmeverfahrens. In einem Brief zeigte er sich unbeeindruckt von dessen Auftritt bei einer Anhörung im zuständigen Bundestagsausschuss und unterstrich die Notwendigkeit zu einer Begrenzung der Zuwanderung aus bevölkerungspolitischen Gründen.459 In der Auseinandersetzung mit dem evangelischen „Flüchtlingsbischof“ Reinhard Wester antwortete er zwar ausführlich und mit allen gegenüber einem kirchlichen Würdenträger gebotenen Höflichkeitsfloskeln, zeigte aber wenig Bereitschaft für politisches Entgegenkommen.460 Erst nach dem Bau der Mauer suchte der neue Bundesvertriebenenminister Kai-Uwe von Hassel, ein eng in protestantischen Kreisen vernetzter Politiker, explizit die Unterstützung der Kirchen für die Umsetzung neuer soziapolitischer Leitlinien im Umgang mit den DDRFlüchtlingen.461 Auch die bayerische Schwesterpartei CSU vertrat ähnlich wie Teile der CDU einen restriktiven Kurs in der Frage der Anerkennung politischer Fluchtgründe. Die Anerkennungspraxis der bayerischen Behörden wurde vom Hilfswerk noch zu Beginn der 1960er Jahre als im Vergleich zu anderen Bundesländern juristisch rückständig eingestuft.462 Bei einer Anhörung im Bayerischen Landtag lieferte sich Heinrich von Schönberg eine Diskussion mit einem Ministerialrat des vom CSU-Koalitionspartner BHE besetzten Sozial455 Aktenvermerk Heinrich von Schönbergs für Paul Collmer, 22. 6. 1959 (ADW Berlin HGSt 6909). 456 Schreiben von Hermann Kunst an Theodor Oberländer, 10. 5. 1960 (EZA Berlin 742/243). 457 Niederschrift über das Gespräch „Die Verantwortung der evangelischen Kirche für die Vertriebenen“ am 18./19. 3. 1957 in der Evangelischen Akademie Loccum, (ADW Berlin CAW 684). 458 Schreiben von Wilhelm Gundert an Hansjürg Ranke, 11. 2. 1957 (EZA Berlin 87/130). 459 Schreiben Theodor Oberländers an MdB Gustav Gedat, 27. 2. 1956 (ADW Berlin HGSt 6907). 460 Schreiben von Bundesminister Oberländer an Bischof Wester, 9. 6. 1959 (BArch Koblenz B150/419). 461 Vgl. Spanos, Verantwortung, 159 f. 462 Schönberg, Heinrich von: Expos zu dem Begriff „Schwerer Gewissenskonflikt“ als Fluchtgrund aus der SBZ und die Auslegung dieses Begriffes bei der Anerkennung von SBZFlüchtlingen in Bayern, 25. 11. 1960 (EZA Berlin 54/12).

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ministeriums. Auf den Einwand, Bayern sei ein vorbildliches Flüchtlingsland und habe bereits viele Menschen aufgenommen, wandte Schönberg erfolglos ein, der Freistaat habe zwar viele Vertriebene, aber kaum Sowjetzonenflüchtlinge aufgenommen.463 Schönbergs Fazit von der Anhörung durch die bayerischen Landespolitiker fiel wenig schmeichelhaft aus. Die anwesenden Landtagsabgeordneten hätten nicht einmal den Unterschied zwischen den Flüchtlingsausweisen A und C gekannt und wären kaum dazu in der Lage gewesen, seinen fachlichen Ausführungen zu folgen.464 Weitere Interventionen bei der bayerischen Landespolitik unterließ das Hilfswerk aufgrund der als gering eingeschätzten Erfolgsaussichten.465 Positiv entwickelte sich hingegen die Zusammenarbeit mit der sozialdemokratischen Opposition. Das Politikfeld deutsch-deutsche Migration und Flüchtlingsversorgung hatte sich bereits seit dem Kriegsende zu einem zentralen Feld der Annäherung und Kooperation von Protestantismus und der ursprünglich laizistisch ausgerichteten Sozialdemokratie entwickelt. Eindrucksvolles Beispiel für diese Entwicklung war das Land Niedersachsen, in dem mehrere evangelische Pfarrer aus der Flüchtlings- und Vertriebenenhilfe für die SPD in teils hochrangige politische Positionen rückten. Der niedersächsische Flüchtlingsminister und spätere Regierende Bürgermeister Berlins, Heinrich Albertz, ist hierbei das prominenteste Beispiel.466 Der Sozialdemokrat Albertz hatte gegen Ende der 1940er Jahre in der Funktion als Landesminister die rechtliche Unterscheidung zwischen „echten“ und „falschen“ Flüchtlingen aus der sowjetischen Besatzungszone prominent vertreten und kann als eine der treibenden Kräfte hinter der Notaufnahmegesetzgebung gelten.467 Dazu kamen allein in den 1950er Jahren drei weitere evangelische Theologen, die als sozialdemokratische Abgeordnete in den Deutschen Bundestag einzogen.468 Diese personellen Überschneidungen wie auch die Anknüpfungsmöglichkeiten in der Flüchtlingspolitik schufen Möglichkeiten zur Annährung von evangelischer Kirche und sozialdemokratischer Partei im Vorfeld des Godesberger Programms.469 Heinrich von Schönberg schrieb Schreiben Heinrich von Schönbergs an Bischof Wester, 13. 1. 1961 (EZA Berlin 54/12). Ebd. Schreiben Heinrich von Schönbergs an Bischof Wester, 8. 2. 1961 (EZA Berlin 54/12). Zu Heinrich Albertz im Kontext der Debatten um die Vertriebenen siehe Teuchert, Normativer Anspruch, 196 f.; Grebing, Politischer Radikalismus, 261–263. 467 Zu diesem Urteil kommt die detaillierte Rekonstruktion des Gesetzgebungsprozesses und der Rolle von Heinrich Albertz von Arne Hoffrichter, siehe: Hoffrichter, Heinrich Albertz, 409. Zu einer identischen Einschätzung gelangt Duncan Cooper, siehe: Cooper, Immigration, 89. 468 Neben den beiden Niedersachsen Ernst-Moritz Priebe und Fritz Wenzel handelte es sich hierbei um den in Hessen gewählten Hans Merten. Wenzel war vor seiner Wahl in den Bundestag für die Flüchtlingsseelsorge der Inneren Mission Braunschweig tätig gewesen, Hans Merten als Abteilungsleiter im Hilfswerk und im Bundesvertriebenenministerium (vgl. Boberach, Pfarrer, 59). 469 Vgl. Buchna, Jahrzehnt, 427 f; Greschat, Protestantismus, 123 f.; Heimerl, Evangelische Kirche.

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positiv über seine Gespräche mit den Abgeordneten und schätzte die Bundestagsfraktion als aufgeschlossen für die kirchliche Position ein.470 Auch der nationalkonservativ geprägte Ahme lobte bei den Anhörungen im Parlamentsausschuss die Ansätze der SPD-Fraktion.471 Eine breite Rezeption der protestantischen Publikationen durch die sozialdemokratischen Parlamentarier bestätigt diese Einschätzung. In den Plenardebatten zur Frage der Flüchtlingsausweisgesetzgebung verwiesen Abgeordnete der SPD-Fraktion unter anderem auf die Äußerungen von Bischof Wester oder die Veröffentlichungen des Hilfswerks. Die in der Bundestagsfraktion für DDR-Zuwanderer zuständige Abgeordnete Lisa Korspeter zitierte in einer Plenarrede an hervorgehobener Stelle eine Studie des Hilfswerks, um die Kritik an den bestehenden Kriterien des Anerkennungsverfahrens zu unterstreichen: „Treffender kann die Situation für den Flüchtling und für die Fragwürdigkeit der Überprüfung der Fluchtgründe nicht dargestellt werden als in dieser Analyse der Evangelischen Kirche.“472 Die fehlende Differenzierung zwischen der EKD und dem Hilfswerk tat dabei nichts weiter zur Sache. Diese Ungenauigkeit kann als Indiz für die bisweilen vorgenommene Gleichsetzung der Äußerungen diakonischer Einrichtungen und kirchenoffizieller Gremien durch Außenstehende gelesen werden. Ein Fraktionskollege Korspeters referierte hingegen auf Äußerungen des evangelischen „Flüchtlingsbischofs“ Wester zur Lage der Sowjetzonenflüchtlinge.473 Die Bezugnahme auf die kirchlichen Äußerungen erlaubten den Abgeordneten, ihre Forderungen mit dem Verweis auf eine als glaubwürdig und neutral geltende Institutionen zu unterfüttern. Die evangelische Kirche übernahm in den Reden der SPD-Abgeordneten die rhetorische Funktion eines neutralen Kronzeugen gegen die offizielle Haltung der Bundesregierung. Der Flüchtlingsbeirat der EKD Eine Hochphase der kirchlichen Stellungnahme zur DDR-Flüchtlingspolitik wurden die späten 1950er Jahre. Die Ernennung Reinhard Westers zum evangelischen „Flüchtlingsbischof“ im Jahr 1957 bot den bisher nur für ihre jeweilige Institution sprechenden Akteuren die Möglichkeit einer kirchenoffiziellen Stellungnahme innerhalb des vielstimmigen deutschen Protestantismus. Im Februar 1958 veranstaltete Wester in Kassel eine groß angelegte Tagung der landeskirchlichen Flüchtlingsreferenten. In der Nachbereitung der Konferenz wurde mit Zustimmung der Kirchenkanzlei ein Ausschuss mit 470 Schreiben Heinrich von Schönbergs an Wilhelm Gundert, 29. 8. 1958 (EZA Berlin 87/133). 471 Kurzprotokoll der 7. Sitzung des Ausschusses für gesamtdeutsche und Berliner Fragen vom 7. 5. 1958 (BT PA Berlin 3105/A3/4). 472 Sten. Ber. BT 3/158 vom 4. 5. 1961, 9116. 473 Sten. Ber. BT 3/39 vom 3. 7. 1958, 2310.

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Vertretern der evangelischen Flüchtlingsarbeit eingerichtet, der Bischof Wester in inhaltlichen Fragen beraten sollte.474 Das Gremium konstituierte sich Mitte 1958 unter Westers Vorsitz. Neben Paul Collmer, der das Hilfswerk vertrat, gehörte unter anderem Karl Ahme zu den Mitgliedern. Die Agenda des Beirats umfasste neben der Organisation von Multiplikatorenveranstaltungen für kirchliche Mitarbeiter auch die Erarbeitung liturgischer Texte für Bittgottesdienste wie einer Medienstrategie zur Spendenwerbung. Er organisierte zudem federführend die protestantische Beteiligung am Weltflüchtlingsjahr der Vereinten Nationen.475 Fragen der Gestaltung von Broschüren und Fürbitten wechselten sich auf der Tagesordnung des Gremiums ab mit der Planung von Fortbildungen und der politischen Lobbyarbeit. Zudem sollte der Beirat sich theologischen und sozialwissenschaftlichen Forschungen zur Flüchtlingsarbeit widmen.476 Obwohl die ursprüngliche Intention der EKD zur Benennung eines Beauftragten die Repräsentation der seelsorgerlichen Vertriebenenarbeit gewesen war, wurden die Angelegenheiten der DDR-Flüchtlinge zu einem Hauptbeschäftigungsfeld Westers.477 Auch die Einflussnahme auf die Politik entwickelte sich zu einem seiner Arbeitsschwerpunkte. Bereits kurz nach seiner Konstituierung Anfang 1958 befasste sich der Flüchtlingsbeirat mit dem Flüchtlingsausweisverfahren.478 Zur Erarbeitung einer Stellungnahme von Seiten der EKD wurde eine eigene Fachkommission eingesetzt.479 Das Hilfswerk stellte hierfür auf Betreiben Paul Collmers seine juristische und sozialpolitische Expertise zur Verfügung.480 Heinrich von Schönberg übernahm aufgrund der Vermittlung seines Vorgesetzten die Federführung in der Arbeitsgruppe. Am Ende dieses Arbeitsprozesses stand ein umfangreicher flüchtlingspolitischer Forderungskatalog, den sich der Flüchtlingsbeirat per Beschluss zu eigen machte.481 Die Verfasser des Papieres übten scharfe Kritik an den zuständigen Verwaltungsbehörden. Diese seien mit der besonderen Situation der Flüchtlinge überfordert, würden Gewissensfragen zumeist falsch beurteilen und somit den Zuwanderern aus der DDR schaden. Zur Verbesserung der Situation schlug das Papier vor, die Entscheidung über den Flüchtlingsausweis C von den Verwaltungsämtern auf Sachverständigengremien zu übertragen und die Verfahren an den Bedürf474 Schreiben der Kirchenkanzlei an die Kirchenleitungen der evangelischen Kirchen in Westdeutschland vom 6. 3. 1958 (EZA Berlin 2/4292). 475 Protokoll der Sitzung des Sonderausschusses des Flüchtlingsbeirats der EKD zum Weltflüchtlingsjahr vom 20. 5. 1959 (EZA Berlin 2/4307). 476 Schreiben der Kirchenkanzlei an die Kirchenleitungen der evangelischen Kirchen in Westdeutschland vom 6. 3. 1958 (EZA Berlin 2/4292). 477 Hartmut Rudolph beschreibt die Einrichtung des Amts des Beauftragten als eine Verdrängung der Vertriebenenthematik durch die Arbeit für DDR-Flüchtlinge aus der DDR. Vgl. Rudolph, Kirche Bd. 1, 443 f. 478 Ausführlich hierzu vgl. Spanos, Verantwortung, 150–158. 479 Niederschrift über die Sitzung des Flüchtlingsbeirates am 24. 6. 1958 (EZA Berlin 2/4292). 480 Schreiben von Paul Collmer an Bischof Wester, 18. 8. 1958 (EZA Berlin 54/11). 481 Ergebnisse des Sonderausschusses Notaufnahmeverfahren, 28. 10. 1958 (EZA Berlin 54/11).

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nissen der Flüchtlinge auszurichten.482 Als langfristiges Ziel wurde die Einführung eines eigenen Sowjetzonenflüchtlingsgesetzes gefordert, um die Materie aus dem politisch schwierigen Kontext der Vertriebenengesetzgebung zu lösen.483 Auch die Forderung nach einer weitgehenden sozialpolitischen Gleichstellung der Flüchtlinge mit der Gruppe der Aussiedler brach mit den Grundsätzen der Bundesregierung. Die Vorlage der Arbeitsgruppe wurde in einer modifizierten und gekürzten Fassung Anfang 1959 als eine offizielle Entschließung des Flüchtlingsbeirats übernommen. Im Mittelpunkt der Entschließung stand die Forderung nach einer „authentischen Interpretation“ der Fluchtgründe und einer stärkeren Berücksichtigung von Gewissensfragen.484 Die Argumentation des Textes enthielt hingegen ausschließlich juristische, administrative und politische Gesichtspunkte. Trotz der großen Zahl der Theologen im Flüchtlingsbeirat enthielt die Entschließung keine explizit religiösen Begründungsmuster. Bischof Wester trat als Vorsitzender des Flüchtlingsbeirates mehrmals an die zuständigen Ministerien heran und suchte den Kontakt zur Bundesregierung. Der Flüchtlingsbeirat griff aber nicht auf die institutionalisierte Interessenvertretung der EKD in der Person des Bevollmächtigten Hermann Kunst zurück. Vielmehr entschied man sich für eine direkte Intervention an höchster Stelle und sandte die Entschließung des Beirates direkt an das Kanzleramt, während der fachlich zuständige Minister bloß einen Durschlag des Schreibens erhielt.485 Wester und der Beirat versprachen sich von dieser Strategie direkte Unterstützung durch Konrad Adenauer. Den Fachreferenten des Ministeriums sollte keine Gelegenheit gegeben werden, die Initiative des Flüchtlingsbeirats durch die Ausarbeitung umfangreicher Erwiderungen auszubremsen.486 Der Erfolg blieb jedoch aus. Das Bundeskanzleramt leitete die Schreiben wiederholt zur Prüfung an das Ministerium weiter.487 Infolgedessen führte Bischof Wester einen längeren Briefwechsel mit dem Vertriebenenminister Theodor Oberländer, den der Beirat eigentlich hatte umgehen wollen. Oberländer antwortete zwar ausführlich, wies die Kernpunkte der Kritik aber zurück. Die zentralen Forderungen nach einer sozialpolitischen Gleichstellung der DDR-Flüchtlinge lehnte er aus national- wie finanzpolitischen Gründen entschieden ab. Derartige Maßnahmen hätten eine „Sogwirkung“ auf die DDR-Bürger zur Folge und stünden daher nicht zur Diskussion.488 Als Konsequenz aus dem Scheitern seiner politischen Initiative stellte der Beirat Überlegungen für eine publizistische Offensive an. In renommierten Zeitschriften sollte gezielt öffentliche Aufmerksamkeit für die Situa482 483 484 485 486 487 488

Ebd. Ebd. Entschliessung des Flüchtlingsbeirates der EKD vom 25. 2. 1959 (EZA Berlin 87/133). Schreiben Bischof Westers an Bundeskanzler Adenauer, 2. 3. 1959 (EZA Berlin 54/11). Schreiben Heinrich von Schönbergs an Bischof Wester, 17. 2. 1959 (EZA Berlin 54/11). Niederschrift über die Sitzung des Flüchtlingsbeirats am 22. 5. 1959 (EZA Berlin 2/4292). Schreiben Theodor Oberländers an Bischof Wester, 9. 6. 1959 (BArch Koblenz B150/419).

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tion der DDR-Flüchtlinge und die Missstände in der Anerkennungspraxis geschaffen werden.489 Anfang 1960 wandte sich Bischof Wester zum letzten Mal an den Bundesminister. Versöhnlich bat er Oberländer zuerst um Verständnis für die Penetranz bei diesem Thema. Die Behandlung von Gewissensfragen bei Flüchtlingsausweisverfahren sei aber weiterhin inakzeptabel, die evangelische Kirche aber jederzeit bereit dazu, im Falle einer Novellierung des Gesetzes ihre verantwortliche Mitarbeit und Unterstützung beizutragen.490 Im Jahr darauf setzte der Mauerbau der Fluchtbewegung ein Ende und veränderte somit die Ausgangslage. Der Flüchtlingsbeirat stellte seine Arbeit und seine politischen Initiativen daraufhin weitestgehend ein.491 Die Beiratsmitglieder beklagten zwar das absinkende öffentliche Interesse für ihr zentrales Thema, sahen sich aber nicht im Stande, dieser Entwicklung mit einer entsprechenden Öffentlichkeitsarbeit entgegenzutreten.492 Die Konstituierung des Flüchtlingsbeirats markierte den vorläufigen Höhepunkt der Institutionalisierung der Flüchtlingsarbeit im Protestantismus der 1950er Jahre. Der Beirat beanspruchte die Deutungshoheit über das Thema Flüchtlingsaufnahme in Westdeutschland. Das Gremium brachte die verschiedenen Akteure aus Hilfswerk, Flüchtlingsseelsorge und Gliedkirchen zusammen und konnte damit entscheidend für die flüchtlingspolitische Positionierung der EKD werden. Trotz der exklusiven Kommunikationskanäle, über die Reinhard Wester in der Position als evangelischer „Flüchtlingsbischof“ verfügen konnte, scheiterten die Forderungen nach einer weiten Auslegung anerkennenswerter Fluchtgründe an den politischen Mehrheitsverhältnissen und den Beharrungskräften im Vertriebenenministerium. Die Kernforderung nach einer stärkeren Berücksichtigung von Gewissensfragen wurde außerhalb des Protestantismus aber wahrgenommen. Die DDRStaatssicherheit hielt etwa in ihrer Akte zur Flüchtlingsseelsorge zu dem Vorgang fest, Karl Ahme hätte zusammen mit verbündeten Kräften eine öffentliche Kampagne geführt, der zufolge Christen aufgrund von Gewissenskonflikten in der DDR kein Leben mehr führen könnten.493 Selbstverständnis und Legitimation der politischen Einflussnahme Der Bundesvertriebenenminister hatte von den christlichen Kirchen Mitwirkung bei der Integration von Zuwanderern und bei der Betreuung von ju489 Niederschrift über die Sitzung des Flüchtlingsbeirats am 3. 11. 1959 (EZA Berlin 2/4293). 490 Schreiben von Bischof Wester an Oberländer, 7. 1. 1960 (EZA Berlin 2/4293). 491 Die letzte Sitzung des Flüchtlingsbeirats unter Westers Vorsitz lässt sich für November 1961 belegen. (Niederschrift über die Sitzung des Flüchtlingsbeirats am 21. 11. 1961 (EZA Berlin 2/ 4300)). 492 Schreiben Wilhelm Gunderts an Rasch, 14. 11. 1962 (EZA Berlin 2/4300). 493 Bericht über die Evangelische Flüchtlingsseelsorge, 22. 5. 1963 (BStU Berlin MfS HA XX 26014).

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gendlichen Flüchtlingen eingefordert. Weitergehende Forderungen nach einer vollständigen rechtlichen Revision des Aufnahme- und Anerkennungsregimes und Kritik an den Beamten seines Ministeriums hatte Theodor Oberländer vermutlich nicht erwartet, derlei Kritik wies der Minister als unbegründet zurück.494 Die politische Einflussnahme protestantischer Akteure in den 1950er Jahren stand daher in einem ambivalenten Kontext. Einerseits waren die Rahmenbedingungen für erfolgreiche Interessenvertretung der Kirchen im Nachkriegsjahrzehnt günstig, gleichzeitig wurde aber auch bereits in diesem Zeitraum in einer Debatte um die Klerikalisierung die Legitimität kirchlichen Agierens im politischen Raum hinterfragt.495 Das Auftreten evangelischer Kirchenvertreter im Kontext des hier untersuchten Politikfeldes lässt daher Rückschlüsse auf die Legitimierung der politischen Einflussnahme sowie auf Identitätskonstruktionen zu. Im Kontext der deutsch-deutschen Migration wurde die Legitimität des Agierens aufgrund der nominellen Konfessionszugehörigkeit eines großen Teils der Zuwanderer nicht in Frage gestellt. Die Vertreter der evangelischen Kirche verstanden sich einerseits aus dem gesamtdeutschen Selbstverständnis wie auch der Fürsorgepflicht für die eigenen Mitglieder heraus als mitzuständig für die Bewältigung der Migrationsbewegung. Diese Zuständigkeit wurde bisweilen auch exklusiv konfessionell verstanden. Karl Ahme lehnte überkonfessionelle Bündnisse ab und sah die Fürsorge für die evangelischen Flüchtlinge als alleinige Aufgabe ihrer Kirche.496 Das interkonfessionelle Verhältnis stellte sich anfangs nicht nur bei der Versorgung, sondern auch bei der politischen Interessenvertretung als Konkurrenzsituation dar.497 An seiner antikatholischen Position hielt Ahme durchgehend fest und warf dem katholischen Pendant des Flüchtlingsbeirats noch 1960 mangelnden Einsatz für die Flüchtlinge vor.498 In den 1950er Jahren gab es zudem zwischen evangelischen und katholischen Stellen in Angelegenheiten der DDR-Flüchtlinge nur geringfügigen Austausch. Die Einrichtung des Amtes des EKD-Beauftragten für Umsiedler und Vertriebene, die der evangelischen Flüchtlingsarbeit eine bessere Repräsentation auf der höchsten Ebene verschaffte, war auch eine Reaktion auf das Konkurrenzverhältnis der beiden Konfessionen. Mit der Schaffung eines offiziellen Beauftragten wollte die EKD gegenüber der katholischen Kirche in der Frage der Repräsentation gegenüber der Bundespolitik gleichziehen.499 Erst mit Beginn der 1960er Jahre löste sich die Struktur monokonfessioneller Interessenvertretung in den An494 Schreiben von Bundesminister Oberländer an Bischof Wester, 9. 6. 1959 (BArch Koblenz B150/419). 495 Vgl. Buchna, Jahrzehnt, 395 und 455. 496 Vgl. Flüchtlingsseelsorge, Volk, 5. 497 Die These einer „ökumenischen Stunde Null“ im Verhältnis der beiden christlichen Großkirchen nach dem Ende des Krieges in Deutschland kann nach neueren Forschungsergebnissen als weitestgehend widerlegt gelten (Buchna, Jahrzehnt, 221 f.). 498 Schreiben Karl Ahmes an Bischof Wester, 19. 9. 1960 (EZA Berlin 54/10). 499 Vgl. Rudolph, Kirche Bd. 1, 438 f.

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gelegenheiten der DDR-Flüchtlinge auf und machte einer engeren Kooperation der offiziellen politischen Interessenvertretung der beiden Kirchen Platz.500 Neben der von institutionellen Gesichtspunkten geprägten Fürsorge für die Angehörigen der eigenen Konfession inszenierten sich die protestantischen Akteure als Fürsprecher und Anwälte einer politisch marginalisierten Gruppe. Dabei beschrieben sie ihre eigene Position innerhalb des politischen Raums als neutral und dem politischen Alltagsstreit entzogen. Im Flüchtlingsbeirat der EKD wurde sogar ein Exklusivitätsanspruch in der Frage der Berücksichtigung der Interessen der Flüchtlinge gegenüber dem Staat geäußert: Wenn sich die evangelische Kirche nicht zu Fragen wie Berücksichtigung von Gewissenskonflikten bei der Anerkennung von Flüchtlingen äußere, würde das keine andere Institution tun.501 Die Selbstbeschreibung als unparteiischer und im Sinne der Flüchtlinge agierender Akteur wurde mehrfach wiederholt. In Betrachtung der professionell organisierten Interessenvertretung des Hilfswerks mutet diese rhetorische Figur der Selbstlegitimierung paradox an, da sie die Möglichkeit interessenloser politischer Vertretung voraussetzte. Die vom Referat Sowjetzonenflüchtlinge aufwendig betriebene Beobachtung von Gesetzgebungsprozessen sowie die exklusiven Zugangskanäle zu den politischen Eliten aus dem Umfeld des Bonner Bundestags wie auch der Landtage liefen diesem Selbstbild entgegen. Für die Akteure bestand hierin aber kein Widerspruch. Auch das Verbindungsbüro der EKD, die Stelle des Bevollmächtigten der EKD Hermann Kunst, verstand sich selbst nicht als Interessenvertretung, sondern sah sich dem Gemeinwohl verpflichtet.502 Ähnlich sah dies der Geschäftsführer des Flüchtlingsbeirats, Wilhelm Gundert, der die EKD zudem im Beirat des Bundesvertriebenenministeriums vertrat. Im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie zur Arbeit des Beirats nach seinem Selbstverständnis befragt, gab Gundert zur Antwort, seine Tätigkeit im Beirat sollte ausschließlich den Vertriebenen und Flüchtlingen nutzen.503 Mögliches institutionelles Eigeninteresse der evangelischen Kirche und die Bedürfnisse der Gruppe, deren Vertretung die protestantischen Akteure für sich in Anspruch nahmen, wurden gleichgesetzt. Der rhetorische Rückgriff auf nicht interessengeleitete Werte wie Menschlichkeit kam diesem Selbstbild sehr entgegen. Die Institutionen konnten sich damit außerhalb des politischen Kontexts der Systemauseinandersetzung und der parteipolitischen Interessen stellen. In seinem Memorandum zu Situation in West-Berlin im Jahr 1952 hatte das Hilfswerk bereits in der Einleitung deutlich betont, es beschäftige

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Vgl. Spanos, Verantwortung, 160 f. Niederschrift über die Sitzung des Flüchtlingsbeirates am 19./20. 1. 1959 (EZA Berlin 54/9). Vgl. Buchna, Jahrzehnt, 396 f. Schreiben Wilhelm Gunderts an Peter Loviscach, 20. 5. 1961 (EZA Berlin 2/4251).

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sich bei seiner Arbeit nicht mit politischen Fragen, sondern ausschließlich mit gefährdeten und hilfsbedürftigen Menschen.504 Die Präsenz evangelischer Einrichtungen im Feld der DDR-Flüchtlingspolitik lässt sich auch durch die Akteurskonstellation erklären. Bisherige Forschungsarbeiten beurteilen die Position der von den DDR-Flüchtlingen gegründeten Verbände wie dem Verband der Sowjetzonenflüchtlinge und der Landesmannschaft der Mitteldeutschen als marginal und aufgrund der vor allem im Vergleich zu den Vertriebenenverbänden geringen Mobilisierungsfähigkeit als wenig durchsetzungsfähig.505 Diese Ausgangslage ermöglichte es Gremien wie dem Flüchtlingsbeirat, den Vertretern des Hilfswerks oder der Flüchtlingsseelsorge, sich als exklusive Fürsprecher der Zuwanderer zu inszenieren. Für den Protestantismus besaß dieses Selbstbild aufgrund der tradierten Distinktion von der demokratischen Parteipolitik eine große Attraktivität zur Selbstverortung in der sich herausbildenden Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik. Der Umstand, dass mit Heinrich von Schönberg ein Angehöriger des Adels die Vertretung der diakonischen Interessen gegenüber den Fraktionen und Ministerien übernahm, verweist auf diesen Zusammenhang. Auch wenn Schönberg sich ausnahmslos als fachkundiger Jurist und Interessensvertreter in Szene setzte, steht seine Distanzierung von den Abläufen des parlamentarischen Systems in einer Tradition der im deutschen Protestantismus zur Weimarer Zeit weit verbreiteten und bis zur Ablehnung gehenden Skepsis gegenüber der modernen Parteiendemokratie.506 So bezeichnete er den Umgang des Bonner Politikbetriebs mit den Themen der Flüchtlingspolitik im pejorativen Sinne als einen „Kuhhandel“507 der Parteien. Der Wohlfahrtsverband sah sich im Gegensatz dazu. Anders als der Staat, so Schönberg in einem seiner Fachaufsätze, sei das Hilfswerk dazu in der Lage, die Person und den dahinterstehenden Einzelfall zu würdigen und ihm politische Geltung zu verschaffen: „Während der Staat von Schuld oder Nichtschuld ausgeht, löst sich für den Wohlfahrtsverband die anonyme Masse der in bestimmte Sammelbegriffe Zusammengefaßten auf in eine Unzahl äußerlich wohl ähnlicher, innerlich aber tausendfach verschiedener Einzelfälle. Der Wohlfahrtsverband ist daher in der Lage, aus dem Mosaik der Einzelfälle einen wirklichen Einblick nicht nur in die äußerliche Situation, sondern weit tiefer in den Kern oft geradezu unseliger Verflechtungen zu gewinnen.“508

504 Das Flüchtlingsproblem in Berlin. Memorandum des Hilfswerks, o. D. [Februar 1952] (ELAB Berlin 1/872). 505 Vgl. Heidemeyer, Flucht, 315–330; Gehrmann, Überwindung, 58–62. 506 Zur „Anti-Parteien-Mentalität“ des westdeutschen Protestantismus vgl. umfassend Klein, Protestantismus. 507 Schreiben Heinrich von Schönbergs an Wilhelm Gundert, 17. 3. 1961 (EZA Berlin 2/4294). 508 Schönberg, Zuwanderer, 57.

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Mit der Selbstverortung als neutraler Vertreter der Anliegen einer in politischen Auseinandersetzungen marginalisierten Gruppe konnten sich Vertreter des Protestantismus nach dem Einschnitt des Zweiten Weltkriegs auch ihrer Position in der Gesellschaft der Bundesrepublik versichern. Zugleich war der advokatorische Einsatz für DDR-Flüchtlinge von Seiten des Protestantismus eine Folge der Ermangelung anderer einflussreicher Akteure, die in dieser Frage das Wort ergreifen hätten können. Anders als etwa in der Vertriebenenpolitik, in der mitgliederstarke Verbände wie der Bund der Vertriebenen als Stimme der Betroffenen auftraten, waren die DDR-Flüchtlinge nur geringfügig organisiert.509 Die Attraktivität der advokatorischen Rolle lag auch in der Entlastung. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten während der nationalsozialistischen Herrschaft konnte so verdrängt und durch eine imaginierte Tradition des christlichen Beistands für Flüchtlinge überlagert werden. Eine Autorin im „Remter“ konstruierte diese historische Herleitung als direkten Rückgriff auf die Ursprünge der eigenen Religion und das biblische Motiv des wandernden Gottesvolkes: „Die Kirchen haben stets dem Flüchtlingsproblem gegenüber eine andere Stellung eingenommen. Die Christenheit ist in besonderer Weise mit jedem Flüchtling verbunden, weil sie sich selbst als ein Volk in der steten Wanderschaft zu Gott versteht und um die Fragwürdigkeit und Vergänglichkeit aller irdischen Gegebenheit weiß.“510

Über den Rekurs auf christliche Motive ließ sich die Hilfe für die DDRFlüchtlinge in eine als weit zurückreichend beschriebene Traditionsgeschichte der Hilfe für Fremde einordnen. Vertreter des Protestantismus konnten sich so unter den veränderten politischen Rahmenbedingungen in Berufung auf Bezüge zu ihren heiligen Texten und der Traditionsbestände ihrer Gemeinschaft ihrer Position in der Gesellschaft versichern.511 Prozesse der Identitätskonstruktion lassen sich gut anhand der Markierung von Differenzen zu anderen Akteuren des zeitgenössischen Migrationsregimes untersuchen. Die Kritik an den staatlichen Behörden wurde zunehmend mit Polemiken bestärkt. In der selbstgewählten Rolle des Anwalts der Interessen der Zuwanderer erhoben die Akteure des Protestantismus verstärkt Kritik an den Verwaltungseinrichtungen. Mit dem Erlass des Bundesvertriebenengesetzes und der dadurch gestiegenen Bedeutung der staatlichen Administration in der Frage der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus entwickelte sich eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Arbeitsweise und Struktur der zuständigen Ämter. Die Kritik entzündete sich meistens am Umgang der 509 Vgl. Teuchert, Gemeinschaft, 268. Zum Verbandswesen der SBZ/DDR-Flüchtlinge vgl. Heidemeyer, Deutsche Flüchtlinge, 485 f. 510 Reinartz, Flucht, 259. 511 Thomas Großbölting spricht in einem anderen Kontext vom „moralisch-ethischen Überschuss der Gründungstexte“ der christlichen Kirchen, der deren Affinität für bestimmte Themen wie die Hungerhilfe begünstigt habe. (Grossbölting, Nächsten- zur Fernstenliebe, 250).

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Verwaltung mit den Flüchtlingen. Abwertend wurde die Tätigkeit der Verwaltung beispielsweise im „Sonntagsblatt“ geschildert. Bereits 1952 verglich ein Artikel das Vorgehen der Bürokratie gegen abgewanderte DDR-Bürger mit einem bürgerkriegsähnlichen Kampf: „Der Westen muß sich wehren, er muß Dämme bauen. Nach den Gesetzen der rechnenden Vernunft ist das nötig. Daß es so ist, ist beschämend. Daß der Mensch gegen den Menschen kämpfen muß, der Deutsche gegen den Deutschen. Nicht mit der Waffe in der Hand – Gott sei Dank noch nicht! –, aber doch mit Paragraphen und Verfügungen, mit Verhören und Stempeln.“512

Die Assoziation der Verwaltung mit den „Gesetzen der rechnenden Vernunft“ und eines Kampfes gegen Menschen mithilfe von gestempelten Bescheiden und Anhörungsgesprächen, zwei zentralen Elementen der Notaufnahmebürokratie, verdeutlichen die sich verstärkende Entwicklung hin zu einer unterstellten Dichotomie von humanitär orientierter Kirche und Diakonie sowie einem unmenschlichen Verwaltungsapparat. Der Topos von der mit Stempeln gegen Menschen kämpfenden Bürokratie wurde sowohl im Hilfswerk der EKD als auch in der Flüchtlingsseelsorge kontinuierlich wiederholt. Der Gegensatz von abstrakt arbeitender Verwaltung und am einzelnen menschlichen Schicksal orientierter Wohlfahrtsorganisation besaß eine hohe Attraktivität für die protestantischen Akteure, da sie sich somit ihrer eigenen Position versichern und die eigene Aktivität nachdrücklicher legitimieren konnten. Karl Ahme sah nicht nur die Parteien als ungeeignet an, um die Interessen seiner Klientel zu vertreten, sondern artikulierte auch mehrfach sein Misstrauen gegenüber den staatlichen Stellen. Das Vertriebenenministerium hielt der Pfarrer für größtenteils inkompetent. Gegenüber anderen Kirchenvertretern polemisierte er gegen die Ministerialbeamten. Besonders beklagte er deren mangelndes Wissen über die Arbeit der Hilfsverbände. Die Unkenntnis über die Hilfstätigkeit der evangelischen Einrichtungen für die Flüchtlinge und deren Nöte sei ein Skandal, so Ahme in einem Brief.513 Wilhelm Gundert, Geschäftsführer des Flüchtlingsbeirats mit Sitz in der Kirchenkanzlei, unterstellte, die der preußischen Sparsamkeit verpflichteten Verwaltungsbeamten seien nicht zu einer adäquaten Würdigung von Gewissensgründen bei Flüchtlingsanerkennung in der Lage.514 Für das Hilfswerk wurden die Abgrenzung und die imaginierte Gegnerschaft zu einem als seelenlos gezeichneten Verwaltungsregime zum Bestandteil der eigenen Identität als christlicher Wohlfahrtsverband moderner Prägung. Wiederholt beschworen dessen Vertreter das Bild einer nahezu inkompetenten Verwaltung. Heinrich von Schönberg betitelte sein persönliches Fazit einer etwa ein Jahrzehnt dauernden Arbeit für das Hilfswerk zu späterem 512 Die schmale Schleuse in die Freiheit. In: Sonntagsblatt, 12. 8. 1952, 9. 513 Schreiben Karl Ahmes an Wilhelm Gundert, 27. 1. 1960 (EZA Berlin 2/4312). 514 Schreiben von Wilhelm Gundert an Hansjürg Ranke, 25. 10. 1958 (EZA Berlin 2/4273).

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Zeitpunkt mit der einschlägigen Überschrift „Im Kampf gegen Bürokratismus und Formalismus“.515 Teilweise bedienten sich die Polemiken aus der Diakonie auch pejorativer Elemente. Paul Collmer notierte in einem internen Vermerk über den Einzelfall eines abgelehnten Antragstellers: „Die Blödheit der Behörden nimmt kein Ende!“516 Ähnlich drückte sich auch der besonders von den Mitarbeitern des Hilfswerks beeinflusste Vorabentwurf für ein Beschlusspapier des Flüchtlingsbeirats aus, in dem den Behörden fehlende Kompetenzen für die Beurteilung von Fluchtgründen und Überforderung vorgeworfen wurde.517 Im Kontrast zu diesem Stereotyp der inkompetenten und menschenfeindlichen Verwaltung konnten sich die Akteure der Diakonie ihrer Identität als anwaltschaftlicher Fürsprecher versichern. Exkurs: Der Sonderfall geflohener kirchlicher Mitarbeiter und die Pfarrerflucht Das Selbstbewusstsein des mit der Inneren Mission zum Diakonischen Werk fusionierten Hilfswerks bei der Vertretung und Durchsetzung seiner Forderungen machte auch vor der Auseinandersetzung mit der eigenen Kirche nicht Halt. Im Dezember 1959 hatte der Rat der EKD neue interne Richtlinien zum Umgang mit Kirchenbeamten und Pfarrern erlassen, die ihre Stellen in Ostdeutschland ohne Zustimmung ihrer Kirchenleitungen verlassen hatten.518 Die institutionellen Interessen der ostdeutschen Landeskirchen am Erhalt ihrer Personalstrukturen waren zunehmend theologisch mit dem Verweis auf eine biblisch begründete Beistandspflicht und das Ordinationsgelübde der Pfarrer legitimiert worden.519 Ursprünglich hatte sich der Flüchtlingsbeirat in dieser innerprotestantisch heiklen Frage Zurückhaltung auferlegt.520 Heinrich von Schönberg und Paul Collmer nutzten den Flüchtlingsbeirat in Reaktion auf die neue Richtlinie als Forum, um eine Diskussion über ein eigenes als Denkschrift betiteltes Papier zu dieser Frage anzustoßen. Die Interessensgemeinschaften der betroffenen Kirchenmitarbeiter und Pfarrer, die auf Anerkennung ihrer Pensionsansprüche und auf Übernahme in den Dienst westdeutscher Landeskirchen hofften, hatten sich verstärkt an die Rechtsberatungsstelle und in Bittbriefen an Reinhard Wester gewandt.521 Die Mitglieder des Flüchtlingsbeirats sahen sich dadurch in ihrer anwaltschaftlichen Rolle 515 Schönberg, Bürokratismus, 51. 516 Vermerk Paul Collmers für Heinrich von Schönberg, 29. 10. 1962 (ADW Berlin HGSt 6917). 517 Arbeitsergebnisse des Sonderausschusses Notaufnahmeverfahren, 28. 10. 1958 (EZA Berlin 54/11). 518 Zur Vorgeschichte des Beschlusses vgl. Schulze et. al., Gehen, 41–46. 519 Vgl. Lepp, Abwanderung, 87–90 und 97. 520 Niederschrift über die Sitzung des Flüchtlingsbeirates der EKD am 19./20. 1. 1959 (EZA Berlin 87/133). 521 Niederschrift über die Sitzung des Flüchtlingsbeirates der EKD am 20. 6. 1961 (EZA Berlin 2/ 4294).

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bestärkt und versuchten ihre flüchtlingspolitischen Forderungen nun auch auf die Regelungen des kirchlichen Dienstrechts anzuwenden. Die diakonische „Denkschrift“ Collmers und Schönbergs von Anfang 1960 sparte dabei nicht mit Kritik am Umgang mit den Betroffenen. Der Hauptvorwurf lautete, die Kirche orientiere sich bei der Beurteilung der in den Westen geflohenen Pfarrer zu stark an den Kriterien des Staates.522 Sie könne aber nicht einerseits vom Staat eine stärkere Berücksichtigung von Gewissenskonflikten bei der Vergabe von Flüchtlingsausweisen verlangen und andererseits solche Aspekte bei ihren eigenen Mitarbeitenden ignorieren, ohne ihre Glaubwürdigkeit gegenüber der Öffentlichkeit und der Politik zu gefährden. Daher müsse die besondere Würdigung von Gewissensfragen auch bei der Frage des Umgangs mit der Sondergruppe kirchlicher Mitarbeiter und auch der Pfarrer zur Geltung kommen.523 Die Konsequenz des Vorstoßes war eine Auseinandersetzung mit der Kirchenverwaltung. Die Kirchenkanzlei beharrte nachdrücklich auf ihrer alleinigen Zuständigkeit für das Dienstrecht von Pfarrern und Kirchenbeamten und warf dem Diakonischen Werk wie auch dem Flüchtlingsbeirat eine Übertretung ihrer Kompetenzen vor.524 Collmer konterte das Zuständigkeitsargument mit einem Verweis auf die offizielle Beauftragung der Sondergremien und beteiligten Mitarbeiter für alle mit Flucht verwandten Themenfelder. Da Flüchtlinge im Kirchendienst nie explizit aus der Arbeit des Ratsbeauftragten Wester und des Flüchtlingsbeirats ausgeschlossen worden seien, wolle man sich sehr wohl als Experten für dieses Thema sachlich äußern.525 In der darauffolgenden Sitzung des Beirats äußerte Collmer bei der Aussprache erneut, es bestünden aus diakonischer Sicht erhebliche Zweifel daran, ob die Disziplinarverfahren der ostdeutschen Landeskirchen gegen geflohene Mitarbeiter überhaupt rechtsstaatlichen Ansprüchen genügten.526 Rückendeckung für diese Position kam vom Bevollmächtigten der EKD, Hermann Kunst.527 Die Auseinandersetzung mit der Kirchenkanzlei zog sich über mehrere Monate und wurde vor allem intern geführt. Die verstärkte Thematisierung der prekären Situation geflohener Pfarrer in den Medien ermöglichte es den Diakonievertretern, die Frage wieder auf die Tagesordnung zu setzen.528 Ein kritischer Artikel des „Spiegel“, der dem Berliner Bischof und 522 Entwurfsfassung der internen Denkschrift der Hauptgeschäftsstelle, 1. 3. 1960 (ADW Berlin HGSt 6919). 523 Ebd. 524 Schreiben von Oberkirchenrat Merzyn an Paul Collmer, 10. 3. 1960 (EZA Berlin 87/1115). 525 Schreiben von Paul Collmer an Oberkirchenrat Merzyn, 14. 3. 1960 (EZA Berlin 87/1115). 526 Niederschrift über die Sitzung des Flüchtlingsbeirates der EKD am 13. 9. 1960 (EZA Berlin 54/9). 527 Schreiben von Hermann Kunst an Paul Collmer, 16. 3. 1960 (EZA Berlin 87/1115). 528 Das Aufgreifen des Themas in Zeitschriften wie dem „Spiegel“ lässt sich im Kontext der von Nicolai Hannig beschriebenen Veränderungen in der Medialisierung von Kirche und Religion in der Bundesrepublik ab den späten 1950er Jahren verorten. Vgl. Hannig, Religion, 103–108

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EKD-Ratsvorsitzenden Kurt Scharf im Umgang mit geflohenen Pfarrern Doppelmoral und den Bruch westdeutschen Rechts vorwarf, sorgte für Verärgerung bei den Kirchenoffiziellen.529 Auf der Sitzung des Flüchtlingsbeirats wurde das zunehmende Interesse der nichtkirchlichen Presse an dem Thema als Problem gewertet.530 Collmer gelang es dabei, die Mehrheit des Flüchtlingsbeirats von seiner Position zu überzeugen, dass es bei der Beurteilung der Fluchtgründe und Gewissensentscheidungen von Pfarrern Änderungen geben müsse. Unter anderem wurde die Idee einer Eingabe an den Rat der EKD sowie einer entsprechenden Studiengruppe gefasst.531 Die nach dem Mauerbau einsetzende Inaktivität des Flüchtlingsbeirats verhinderte aber eine weitere Verschärfung dieser Auseinandersetzung mit den Spitzengremien der EKD.

2.2 Ausländische Flüchtlinge des Kalten Krieges Bis Anfang der 1970er Jahre blieben die Ankunft von Flüchtlingen nach dem Ungarn-Aufstand 1956 und der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968/69 die einzigen beiden nennenswerten größeren Ausschläge der bundesdeutschen Asylstatistik.532 Die ältere Forschung hat ein positives Bild von diesen Aufnahmeaktionen gezeichnet. Die Ungarn und Tschechoslowaken seien im Westen mit Respekt und als Helden empfangen worden.533 Jüngere Arbeiten haben diese Pauschalisierung hinterfragt und stärker auf die Ambivalenzen verwiesen.534 Trotz einer fast ausnahmslos positiven Haltung der Bevölkerung und der Medien zeigte die staatliche Aufnahmepraxis in vielen westeuropäischen Ländern bei näherer Untersuchung restriktive Tendenzen.535 Die Bundesrepublik folgte bei der Ausgestaltung ihrer frühen ausländer- und asylrechtlichen Regelungen vor allem dem Druck der Alliierten und agierte „so liberal wie nötig und so restriktiv wie möglich“536. Ein eigenständiges Ausländergesetz wurde erst 1965 erlassen.537 Prägenden Einfluss übte angesichts einer Ermangelung vertiefender rechtspolitischer Diskussionen vor allem die

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(Wandel der Medialisierung) und 109–129 (Religionsjournalismus in Zeitschriften und Magazinen). Pfarrerflucht: Geistliches Standrecht. In: Der Spiegel 23/1961, 34–36. Niederschrift über die Sitzung des Flüchtlingsbeirates der EKD am 20. 6. 1961 (EZA Berlin 2/ 4294). Aktenvermerk Paul Collmers für Heinrich von Schönberg, 28. 9. 1961 (EZA Berlin 87/1115). Vgl. Münz et. al., Zuwanderung, 53–59; Bade, Politisch Verfolgte, 412, Benzler, Migranten, 214 f. Vgl. Bade, Europa, 366; Cseresny s, Flüchtlingsrecht, 387 f. Vgl. Poutrus, Öffentlichkeit, 108. Vgl. Walaardt, Good old days; Poutrus, Öffentlichkeit. Vgl. Münch, Asylpolitik, 50 f.; Schneider, Regieren, 140 f.; Herbert / Hunn, Beschäftigung, 791. Vgl. umfassend Schönwälder, Liberalisierung.

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Exekutive aus.538 In der breiteren Öffentlichkeit galten die Aufnahme und Integration der ausländischen Flüchtlinge im Vergleich zu den Angelegenheiten deutscher Flüchtlinge und Vertriebener als marginal.539 In parteipolitischen Diskussionen tauchte das Thema lange Zeit nicht auf.540 Reichhaltig ist die Forschung zur Aufnahme von ungarischen Flüchtlingen in Österreich. Als direkter Nachbar Ungarns war die Alpenrepublik unmittelbarer als Deutschland von der Fluchtbewegung betroffen. Die Arbeit protestantischer Hilfsorganisationen wie dem deutschen und dem österreichischen Hilfswerk in diesem Kontext ist von der Forschung wiederholt bemerkt worden.541 Die Bewältigung der Folgen der Ungarn-Krise wurde mehrfach zum Ausgangspunkt einer großzügigen Asyltradition Österreichs stilisiert.542 Vergleichbares gilt für die Schweiz.543 Auch die Kampagne zum Weltflüchtlingsjahr wenige Jahre später bezog sich auf die Erfahrungen bei der Aufnahme der Ungarn.544 Ein verbindendes Element zwischen den westlichen Staaten stellte trotz der unterschiedlichen Grade der Betroffenheit der Antikommunismus dar.545 Besonders die Bundesrepublik sah hierbei die Möglichkeit, sich als Teil des westlichen Bündnisses zu präsentieren.546 Den Ausgangspunkt bildete dabei die Rezeption der Situation in Österreich. Die Unruhen in den kommunistischen Staaten und die darauffolgenden Fluchtbewegungen wurden von den westlichen Medien intensiv verfolgt.547 Die deutsche Presseberichterstattung war von einem „Stimmungsgemisch aus Russenangst, Kriegsfurcht und Freiheitsliebe“548 geprägt und rückte die Ungarn-Flüchtlinge in Österreich in eine Reihe mit den deutschen Vertriebenen.549 Eine Folge der medial vermittelten Bilder waren Solidaritätsdemonstrationen und Aktionen in westdeutschen Großstädten, die die Verbundenheit mit den Opfern der sowjetischen Intervention zum Ausdruck bringen sollten.550 Die Bundesrepublik erklärte sich im November 1956 mithilfe einer besonderen Rechtskonstruktion unter Bezug auf die Genfer

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Vgl. Schneider, Regieren, 140 f. Vgl. Herbert / Hunn, Beschäftigung, 782. Vgl. Schönwälder, Einwanderung, 363. Vgl. Marrus, Unwanted, 360; Cseresny s, Flüchtlingsrecht, 405. Umfassend zur konfessionellen Hilfe: Niessen, Hungarians. Vgl. Ther, Außenseiter, 241. Vgl. Kecskes, Aufnahme, 95. Vgl. Ther, Außenseiter, 241. Zur internationalen Dimension der Ungarn-Hilfe vgl. Gatrell, Unsettling, 66 f. Vgl. Poutrus, Asyl im Kalten Krieg, 287 f.; Herbert / Hunn, Beschäftigung, 799. Vgl. Fassmann / Munz, East-West Migration, 527. Poutrus, Öffentlichkeit, 99. Zur Position der Vertriebenenverbände bei der Aufnahme von ungarischen Flüchtlingen vgl. Poutrus, Asyl in Westdeutschland, 27 f. Vgl. Poutrus, Öffentlichkeit, 98.

Ausländische Flüchtlinge des Kalten Krieges

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Flüchtlingskonvention dazu bereit, 3000 der ungarischen Flüchtlinge aus österreichischen Lagern aufzunehmen.551 Für den westdeutschen Protestantismus hatte die Unterstützung der kleinen österreichischen Bruderkirche Priorität.552 Das Thema wurde von Anfang an als eine Angelegenheit der Ökumene betrachtet. Der ÖRK und der LWB übernahmen bei der Unterstützung und Verteilung ungarischer Flüchtlinge orthodoxer sowie lutherischer Konfession eine Schlüsselrolle.553 Die konfessionellen Verbände hatten zwar besondere Aufmerksamkeit für Angehörige ihrer eigenen Religion, sahen sich aber in der Verantwortung für alle Flüchtlinge.554 Ein Mitarbeiter des ÖRK beschrieb die Situation an der österreichischen Grenze mit dramatischen Ausschmückungen – wer dort in die Gesichter der Flüchtlinge blicke, sehe in das Gesucht Jesu und sei in der Verantwortung zu helfen.555 Akteure des Protestantismus sahen sich somit nicht nur als Teil des Westens, sondern als auch als aktives Glied der weltweiten Christenheit. Die Bewährung in der Ungarn-Hilfe wurde als „ökumenische Verpflichtung“ und Beweis für die Verbundenheit der Christen gesehen.556 Bischof Hanns Lilje schrieb im „Sonntagsblatt“, angesichts der Gewalttaten in Ungarn müssten sich die evangelischen Gemeinden mit der weltweiten Christengemeinde im Gebet vereinen und Österreich bei der Bewältigung der Flüchtlingssituation unterstützen.557 Die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland stand dabei nur in einer Reihe verschiedener Hilfsaktionen. Große Aufmerksamkeit erhielten insbesondere Spendenaktionen. Von Bayern aus wurden Lieferungen für das Hilfswerk der evangelischen Kirche in Österreich organisiert.558 Die kirchliche Publizistik überschlug sich in den Wochen vor Weihnachten 1956 mit stolzen Rekordmeldungen zur Anzahl der Bahnwaggons, die das Hilfswerk mit Spenden nach Österreich schickte.559 Als unmittelbarer Partner von ÖRK und LWB war das kurz vor seiner Fusion mit der Inneren Mission stehende Hilfswerk der relevante Akteur.560 Der Wohlfahrtsverband dominierte die protestantische Hilfe im bundesrepublikanischen in der Bundesrepublik. Auch die Diskussion um die Aufnahme der Ungarn war von der Gleichzeitigkeit eines paternalistischen Blicks und der Einforderung von Individualrechten der Flüchtlinge geprägt. Bei einer 551 552 553 554 555 556 557 558 559 560

Vgl. ebd., 99 f. Vgl. Hilfswerk, Jahresbericht 1956/57, 12. Vgl. Paterson-Morgan, Hilfe, 116. Vgl. Niessen, Hungarians, 583 f. Niessen untersucht in seinem Beitrag die Arbeit katholischer, protestantischer und jüdischer Hilfsorganisationen für Ungarn-Flüchtlinge. Zit. n. ebd., 573. Hilfswerk, Jahresbericht 1956/57, 11. Der Friede ist bedroht. In: Sonntagsblatt, 11. 11. 1956, 1. Nürnberg Leitlager für Ungarnhilfe. In: epd-Bayern Nr. XI/108, 30. 11. 1956. Die offene Schleuse. In: Sonntagsblatt, 9. 12. 1956, 3; Bereits 29 Waggons Ungarn-Spenden ab Nürnberg. In: epd-Bayern Nr. XI/114, 22. 12. 1956. Vgl. Niessen, Hungarians, 573.

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Debatten um Flüchtlinge des Kalten Krieges (1949 bis 1973)

Tagung von EKD-Vertretern mit Mitarbeitenden des ÖRK-Flüchtlingsdienstes, des Lutherischen Weltbundes und des Hilfswerks kam etwa Kritik daran auf, dass die Flüchtlinge ihren neuen Lebensort nicht frei wählen könnten und so in ihrer Freiheit eingeschränkt würden.561 Eine weitergehende politische Stellungnahme veröffentlichte der Ausschuss jedoch nicht. Als zentrale Aufgabe der deutschen Kirche in dieser Angelegenheit definierten die beteiligten Organisationen die seelsorgerliche Begleitung.562 Die Aufnahme von Flüchtlingen selbst wurde in diesem Kontext kaum thematisiert und als selbstverständlich vorausgesetzt. Die evangelischen Institutionen gingen davon aus, dass es sich nur um zahlenmäßig kleine Kontingente handele.563 Teils sah sich das Hilfswerk dazu verpflichtet, falsche Erwartungen der euphorischen Aufnahmegesellschaft zu korrigieren. Die Wünsche mehrerer deutscher Familien und Kirchengemeinden, die ungarische Flüchtlingskinder aufnehmen wollten, beschied das Hilfswerk ablehnend und stellte klar, dass es nicht sinnvoll sei, Kinder aus ihrem gewohnten familiären Umfeld zu nehmen.564 Auch gab es entgegen der deutschen Presseberichterstattung565 vermehrte Zweifel, ob die meisten Flüchtlinge überhaupt in die Bundesrepublik kommen wollten. Das Hilfswerk führte etwa mit seinem österreichischen Pendant Gespräche über die Aufnahme junger Ungarn in deutsche Heime oder Lehrwerkstätten und stelle dabei mit Ernüchterung fest, dass viele lieber in die USA als die Bundesrepublik ausreisen wollten.566 Das Flüchtlingsbild war geprägt von Elementen des Humanitarismus- und Personalismusdiskurses und sah in den Betroffenen vor allem die Objekte der ökumenischen Hilfsarbeit. Ein internes Rundschreiben des Hilfswerks betonte besonders den Gefährdungs-Topos. Die Ungarnflüchtlinge seien häufig seelisch erschüttert und erlebten zugleich viele ihnen bisher unbekannte Freiheiten, daher bräuchten sie Begleitung und Beratung auf ihrem Weg.567 Besonderer Augenmerk wurde auf die Jugendlichen gerichtet.568 Diese Wahrnehmung prägte nicht nur die Veröffentlichungen des Hilfswerks. Auch in der Berichterstattung des „Sonntagsblatt“ wurden die Ungarn-Flüchtlinge in den österreichischen Aufnahmelagern als demoralisiert, verarmt und naiv dargestellt.569

561 562 563 564 565 566 567 568 569

Ungarnhilfe für DP-Ausschuss der EKiD. In: epd-Bayern Nr. XI/110, 6. 12. 1956. Ebd. Vgl. Hilfswerk, Jahresbericht 1956/57, 13. Rundschreiben des Zentralbüros des Hilfswerks an die landeskirchlichen Hilfswerke, Betreff: Aufnahme von ungarischen Flüchtlingskindern, 20. 11. 1956 (ADW Berlin ZB 1175). Ungarn-Flüchtlinge: Die Alten kommen später. In: Der Spiegel 49/1956, 13 f. Schreiben des Landesverbands der Inneren Mission Bayern an das Zentralbüro des Hilfswerks, Betreff: Aufnahme jugendlicher Ungarn, 17. 9. 1957 (ADW Berlin ZB 1175). Rundschreiben der Hauptgeschäftsstelle der Inneren Mission und Hilfswerk der EKD an die Landesverbände, Betreff: Ungarnhilfe – Abschlussbericht, 1. 7. 1957 (LAELKB Nürnberg DW 1390). Vgl. Hilfswerk, Jahresbericht 1956/57, 13. Mit dem Asylrecht ist es nicht getan. In: Sonntagsblatt, 7. 12. 1956, 4.

Ausländische Flüchtlinge des Kalten Krieges

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Im Jahr 1958 gab der zuständige EKD-Ausschuss für Angelegenheiten heimatloser Ausländer in Kooperation mit dem ÖRK und dem LWB eine Broschüre heraus, die den ökumenischen Charakter der Flüchtlingshilfe herausstellte.570 Darin wurde die Aufnahmegesellschaft ermahnt, die ausländischen Flüchtlinge nicht zu vergessen, auch wenn es sich bei ihnen im Vergleich zu den deutschen Betroffenen nur um kleine Gruppen handele.571 Viktimisierung prägte auch hier das Flüchtlingsbild. Antikommunistische Freiheitskämpfer fanden keine Erwähnung, die Broschüre betonte vielmehr, dass die Betroffenen in einer prekären Situation lebten und daher auf seelsorgerliche Unterstützung angewiesen seien.572 Betont wurde zudem die Verbundenheit des deutschen Protestantismus mit der Orthodoxie über den ÖRK und die Chance, die sich in der Begegnung bieten würde: „Die Anwesenheit nichtdeutscher Flüchtlinge kann […] eine Möglichkeit sein, die weltweite Christenheit am Heimatort kennenzulernen.“573 Für den Protestantismus wurden die Ungarn-Flüchtlinge so nicht nur Teil einer „imaginierten Gemeinschaft von Aussiedlern, Heimkehrern und DDR-Flüchtlingen“574, sondern auch der weltweiten Ökumene. Die junge Bundesrepublik konnte mit der Aufnahmeaktion ihre Verortung in der westlichen Gemeinschaft unter Beweis stellen, der Protestantismus seine Verbundenheit mit der ökumenischen Gemeinschaft. Der Jahresbericht des Hilfswerks bilanzierte die evangelische Ungarn-Hilfe dementsprechend als erbrachten Beweis für die Verbundenheit mit den Kirchen der Welt: „Die Gemeinden und diakonischen Werke unserer Kirche haben dem Flüchtlingsstrom aus der Tragödie Ungarn, seines Volkes und der evangelischen Gemeinden den Strom der helfenden Liebe entgegengesetzt. Dieser Dienst der Ungarnhilfe wird zu einem Stück zwischenkirchlicher Hilfe, die die Kirchen der Welt heute einander schuldig sind.“575

Die Beteiligung an der Ungarn-Hilfe sowie der Flüchtlingsverteilung bereitete mit der Intensivierung der Ökumene-Komponente den Boden für die Entwicklungen, die sich in den späten 1950er Jahren im Kontext der DDRFlüchtlingsarbeit in Gestalt der Rezeption des Weltflüchtlingsjahres fortsetzten. Weitestgehend ohne offizielle protestantische Intervention verlief die Aufnahmeaktion für Tschechoslowaken nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ durch Militäreinheiten des Warschauer Pakts im Jahr 1968. Deren Aufnahme in die Bundesrepublik verlief nach bisherigem For570 Schreiben Wilhelm Gunderts an die Kirchenleitungen der westdeutschen Landeskirchen, Betreff: Heft „Nichtdeutsche Flüchtlinge“, 26. 8. 1958 (EZA Berlin 2/4169). 571 Broschüre „Nichtdeutsche Flüchtlinge“, 1958 (EZA Berlin 2/4169). 572 Ebd. 573 Ebd. 574 Vgl. Poutrus, Öffentlichkeit, 104 f. 575 Hilfswerk, Jahresbericht 1956/57, 14.

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Debatten um Flüchtlinge des Kalten Krieges (1949 bis 1973)

schungsstand ohne innenpolitische Konflikte.576 Die Hilfeleistung und Unterbringung tschechoslowakischer Flüchtlinge wurde in der bundesdeutschen Öffentlichkeit als Routine bewertet und nicht hinterfragt.577 Auch im Rat der EKD wurde zwar eine eigene bejahende Positionierung diskutiert.578 Auf eigenständige Forderungen oder Kampagnen wurde jedoch bewusst verzichtet, da die Bundesregierung zur Vermeidung außenpolitischer Verwicklungen an einer möglichst diskreten Behandlung des Themas interessiert war.579 Diese Zurückhaltung war auch eine Folge der gewandelten Rahmenbedingungen. Der Antikommunismus hatte an diskursiver Bedeutung verloren, die Flüchtlingsaufnahme dagegen wurde nun teilweise als Zeichen für die Aussöhnung der Deutschen mit ihren östlichen Nachbarn bewertet.580

2.3 Zwischenfazit Die Entwicklung der protestantischen Flüchtlingsarbeit in den 1950er und frühen 1960er Jahren vollzog sich als Übergang von einer nationalen zu einer globalen Orientierung unter den Prämissen des Systemkonflikts. Die Bezugspunkte der Solidarität verschoben sich von der eigenen Nations- und Volkszugehörigkeit hin zu einer globalen und ökumenischen Gemeinschaft. Diese Sichtweise zeichnete sich dadurch aus, dass die Konfrontation mit dem Kommunismus im Mittelpunkt stand. Die DDR-Flüchtlinge, die UngarnFlüchtlinge des Jahres 1956 oder die Menschen im weit entfernten Honkong wurden als Teil einer globalen Gemeinschaft der Flüchtlinge verstanden. Die nationale Solidarität ließ sich weitestgehend nahtlos in eine internationale überführen. Die theologischen Deutungsmuster des Fluchtgeschehens waren dabei vielfach übertragbar. In der Flüchtlingsarbeit sollte sich der deutsche Protestantismus in der jeweiligen nationalen wie globalen Ausnahmesituation einerseits einer Bewährungsprobe stellen und andererseits eine eigene geistige Erneuerung durch die Konfrontation mit den Flüchtlingsschicksalen erfahren. Die Ausdehnung des Begriffs der politischen Fluchtgründe war dabei in erster Linie eine Konsequenz aus dem identitätsstiftenden Antikommunismus. Für die protestantischen Akteure war der ubiquitäre Politikbegriff des Sozialismus der entscheidende Anlass, um Auswirkungen auf das Privatleben und den religiösen Alltag als „echte“ Fluchtgründe anzuerkennen. Sie betonten daher vermehrt den religiös konnotierten Gewissensbegriff und somit 576 Vgl. Poutrus, Öffentlichkeit, 107 f. 577 Vgl. ebd. 578 Schreiben von Hermann Kunst an Landesbischof Dietzfelbinger, 25. 7. 1970 (EZA Berlin 742/ 231). 579 Der Rat der EKD befasste sich nach dem Bericht des Bevollmächtigten Kunst auf dessen Anraten nicht weiter mit der Thematik. Vgl. ebd. 580 Vgl. Poutrus, Öffentlichkeit, 107 f.

Zwischenfazit

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den individuellen Anspruch des Flüchtlings auf rechtliches Gehör und Einzelfallprüfung. Dabei entwickelte sich innerhalb eines antikommunistischen Diskurses, flankiert von viktimisierenden und paternalistischen Flüchtlingsfiguren und volksmissionarischen Konzepten, in Ansätzen ein Konzept von Flüchtlingsrechten. Entscheidende Einflüsse dafür waren die Vorstellungen des christlichen Personalismus und die Deutungsmuster der Ökumene. Wie sich der Protestantismus in diesem Kontext wandelte, verdeutlicht ein Blick auf einen der führenden Protagonisten und die Akteurskonstellationen. Die Biographie des nationalprotestantisch sozialisierten Theologen Karl Ahme steht exemplarisch für diese Entwicklung. Vorbedingung war die Institutionalisierung der Flüchtlingsarbeit. Das Engagement für Flüchtlinge und ihre Praxiserfahrung prädestinierten einzelne Akteure dafür, gegen die Haltung der offiziellen Gremien als Stimmen des Protestantismus aufzutreten. Die Führung der EKD bestimmte ihre Haltung zu den DDR-Flüchtlinge maßgeblich mit Blick auf die Situation des Protestantismus in der DDR und trat in diesem Kontext ausgesprochen zurückhaltend auf. Auch im Büro des Bevollmächtigten wurden die Forderungen nach einer weiteren Auslegung der politischen Flucht nicht vorbehaltlos unterstützt. Die Akteure der Flüchtlingshilfe suchten sich daher eigene Kommunikationskanäle und Mittel der Einflussnahme auf die Politik. Der Flüchtlingsbeirat nahm bei seinen Überlegungen zur Bewertung von Gewissensgründen auch keine Rücksicht auf amtskirchliche Erfordernisse, als er etwa auch für die geflüchteten Pfarrer und Kirchenbeamten der ostdeutschen Kirchen weitergehende Rechte einforderte.

3. Debatten um internationale Flüchtlingsgruppen in den 1970er Jahren Gegen Ende des Jahres 1973 trafen im niedersächsischen Grenzdurchgangslager Friedland die ersten chilenischen Flüchtlinge ein. In der Folge protestierten einige der das Lager unterstützenden Spendenorganisationen. Der Verein Friedlandhilfe, 1957 zur Unterstützung der Eingliederung von Neuankommenden gegründet, sah sich gezwungen, gegenüber aufgebrachten Spendern klarzustellen, dass das Geld des Vereins nicht für vermeintliche Kommunisten, sondern gemäß dem Vereinszweck ausschließlich für deutsche Flüchtlinge ausgegeben werde.1 Mancher Spender verlangte, sein Geld solle allein für Personen verwendet werden, die vor dem Kommunismus geflohen seien.2 Diese Ereignisse, dargestellt in einer Forschungsarbeit zum Lager Friedland, das ähnlich wie das Notaufnahmelager Marienfelde in West-Berlin eine hohe symbolische Bedeutung für den westdeutschen Flüchtlings- und Vertriebenendiskurs der 1950er und 1960er Jahre besaß, verdeutlichen den Wandlungsprozess der Flüchtlingsaufnahme in 1970er Jahren. In den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik war Flüchtlingshilfe hauptsächlich eine Frage der Aufnahme von Deutschen nach der Vertreibung aus den ehemaligen Ostgebieten oder der Abwanderung aus der DDR. Im Falle von ausländischen Betroffenen waren Oppositionelle aus kommunistischen Staaten im Mittelpunkt gestanden. Die Aufnahme von Flüchtlingen, die von einem anderen Kontinent kamen und dazu noch potentiell sozialistisch gesinnt waren, markierte hingegen einen Bruch in der Asylpraxis. Die Übergangslager Friedland und Marienfelde illustrieren diesen Übergang. Als symbolische Orte und Bühnen der für die Bundesrepublik prägenden Diskurse über Vertreibung, deutsche Teilung und nationale Identität waren sie nun auch für die Unterbringung von internationalen Flüchtlingen zuständig. Das folgende Kapitel untersucht die 1970er Jahre als die Phase des Übergangs und der fortgesetzten Internationalisierung der Flüchtlingsdebatten mit Auswirkungen auch auf den protestantischen Debattenbeitrag. In zwei Fallstudien werden die Flüchtlingsfiguren, Argumentationsformen und das öffentliche Agieren des Protestantismus in diesem Zeitraum untersucht. Die Auseinandersetzung um die Aufnahme chilenischer Flüchtlinge fällt in die erste, die ebenfalls breit geführte Debatte um die Aufnahme der als „boat 1 Vgl. Schiessl, Versprechen, 229. 2 Flüchtlinge: Mal abwarten. In: Der Spiegel 52/1973, 34.

Debatten um internationale Flüchtlingsgruppen in den 1970er Jahren

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people“ bezeichneten Vietnam-Flüchtlinge in die zweite Hälfte des Jahrzehnts. Die Behandlung dieser beiden Fallbeispiele innerhalb eines eigenständigen Kapitels begründet sich durch vier Beobachtungen zur Abgrenzung vom Flüchtlings- und Asyldiskurs der Vorjahre sowie der 1980er Jahre: Erstens spielten die Kategorien des Kalten Krieges in den 1970er Jahren trotz veränderter personeller Zusammensetzungen, gesellschaftlicher Veränderungen und gewandelter institutioneller Strukturen weiterhin eine entscheidende Rolle für die Bewertung von Fluchtmotiven. Die politische Bewertung des jeweils auslösenden Fluchtereignisses, des Militärputsches in Chile 1973 beziehungsweise des Endes des Vietnam-Krieges, prägte in beiden Fällen die Beurteilung der Flüchtlingsaufnahme. Der Vorwurf der politischen Voreingenommenheit entweder im Sinne einer pro- oder antikommunistischen Einstellung wurde in beiden Kontexten sowohl von Gegnern wie Befürwortern der Aufnahme von Flüchtlingen vorgebracht. In den 1980er Jahren dominierte hingegen in der zeitgenössischen Argumentation das Begriffspaar des reichen Nordens und armen Südens.3 Bei beiden im folgenden Kapitel untersuchten Fallbeispielen verschränkten sich diese Deutungsmuster. Einerseits lässt sich trotz des weitgreifenden Wechsels der Akteure und des Debattenkontextes im Vergleich zum vorhergehenden Kapitel die anhaltende Präsenz des Antikommunismus beobachten, andererseits vollzogen sich die Auseinandersetzungen im Kontext weiterer gesellschaftlicher wie innerkonfessioneller Veränderungsprozesse. Das betrifft, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird, vor allem die Hinwendung des Protestantismus zur „Dritten Welt“ und die Diskussion um die Theologie der Revolution.4 Innerhalb des Protestantismus wurde die Zustimmung oder Ablehnung der Aufnahme von Flüchtlingen aus Chile und Vietnam daher teilweise auch als eine Frage der „Linkspolitisierung“ der evangelischen Kirche und des Verhältnisses von Religion und Sozialismus verhandelt.5 Zweitens: In den 1970er Jahren entzündete sich die Auseinandersetzung in erster Linie anhand von Gruppen, die sich noch nicht in der Bundesrepublik, sondern aus westdeutscher Perspektive teils weit entfernten Ländern befanden. In den Debatten wurde auch die Frage verhandelt, ob die Bundesrepublik politisch Verfolgte durch eigenes Zutun ins Land holen sollte oder ob diese wie im Falle der vietnamesischen Bootsflüchtlinge sogar aktiv aus einer potentiell lebensbedrohlichen Notlage heraus gerettet und nach Deutschland gebracht werden sollten. Mit dem deutlichen Anstieg der Asylbewerberzahlen ab dem Jahr 1980 war die Politik 3 Vgl. Gatrell, Free World, 245. Als Übergang des Gegensatzpaars von West/Ost zu Nord/Süd beschreibt Klaus Bade den Strukturwandel der Migration gegen Ende der 1970er Jahre. Vgl. Bade, Europa, 361 und 366 f. 4 Vgl. umfassend Widmann, Wandel. 5 Der Politisierungsbegriff ist an dieser Stelle klärungsbedürftig, da er sich sowohl als analytischer Begriff nutzen lässt als auch in den Quellen der 1970er Jahre für Polemiken und Diffamierungen verwendet wurde. In dieser Arbeit wird die Verwendung des Begriffs entsprechend im Text deutlich gemacht. Vgl. Lepp, Einleitung, 20; Hauschild, Kirche, 76–79.

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Debatten um internationale Flüchtlingsgruppen in den 1970er Jahren

hingegen verstärkt mit Gruppen konfrontiert, die sich als Antragsteller im Asylverfahren bereits in der Bundesrepublik befanden.6 Deren Flüchtlingsstatus und später auch das Grundrecht auf Asyl wurden zunehmend in Frage gestellt – ein Thema, dem im Kontext der 1970er Jahre noch keine derart große Bedeutung zugemessen wurde. Drittens ist bei der Abgrenzung der Untersuchungsabschnitte der Resonanzkreis der Debatten zu bedenken. Zwar wurde das Thema Flüchtlingsaufnahme bereits in den 1970er Jahren von einer größeren Anzahl gesellschaftlicher Gruppen und den Medien aufgegriffen. Zum dominierenden Gegenstand der westdeutschen Innenpolitik, der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und der Agenda der politischen Parteien wurde das einstige Expertenthema Asylrecht aber erst in den frühen 1980er Jahren.7 Dies hatte auch Auswirkungen auf die involvierten protestantischen Akteure, die auf diese Entwicklung reagieren mussten. Viertens wurde die evangelische Flüchtlingsarbeit während der siebziger Jahre zeitweise Teil eines umfassenderen Menschenrechtskonzepts und erfuhr im Raum der Kirche eine neuartige Institutionalisierung als Menschenrechts- und Flüchtlingsarbeit. Auch Amnesty international erlebte in dieser Zeit einen Professionalisierungsschub. Diese Entwicklung gilt es als eigenständige Entwicklung zu untersuchen.

3.1 Die Aufnahme chilenischer Flüchtlinge in die Bundesrepublik (1973 bis 1976) Im Herbst 1973 rückte das politische Geschehen in Chile in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit.8 Der Militärputsch gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende stand zwar in einer Reihe mit der Entstehung anderer Militärdiktaturen in Südamerika seit dem Ende der 1960er Jahre, zog aber wie kaum ein anderes Ereignis die Aufmerksamkeit der Medien auf sich.9 Nach der Machtübernahme ging das Regime unter Augusto Pinochet brutal gegen seine politischen Gegner vor. Im Anschluss an die Verhängung des Ausnahmezustands kam es zu einer umfangreichen Welle der Verfolgung in Form von

6 Vgl. Bade, Europa, 363 f. sowie das folgende Kapitel. 7 Poutrus, Asylum, 131; Gassert, Gesellschaft, 257. 8 Für einen allgemeinen Überblick mit Fokus auf die USA siehe: Kelly, Coup, 170–172. Zum Begriff Weltöffentlichkeit vgl. Weinke, Ressource, 29. 9 Vgl. Dufner, West Germany, 174 f.; Wojak / Holz, Chilenische Exilanten, 169–172. Jan Eckel nennt als begünstigende Rahmenbedingungen für die umfassenden öffentlichen Reaktionen im Fall Chile im Vergleich zu zahlreichen der anderen Menschenrechtsverletzungen in den 1970er Jahren neben der Stärke des politischen Protests der privat organisierten Gruppen auch außenpolitische Faktoren und die Informationspolitik des Militärregimes selbst. Vgl. Eckel, Lupe, 375 f.

Die Aufnahme chilenischer Flüchtlinge (1973 bis 1976)

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Berufsverboten, Verhaftungen, Folter und Ermordungen.10 Auch in der Bundesrepublik war das Echo auf den Umsturz und seine Folgen enorm. Rasch wurde über die Aufnahme von gefährdeten und verfolgten Chilenen verhandelt. Die westdeutsche Sektion von Amnesty International forderte von der Bundesregierung nur wenige Wochen nach dem Putsch unter Berufung auf den Asylartikel des Grundgesetzes die Aufnahme politischer Verfolgter aus Chile.11 Für die bisherige westdeutsche Asylpolitik markierte diese Auseinandersetzung eine Zäsur, da nun zum ersten Mal umfassend die Aufnahme von Flüchtlingen aus einer nicht-kommunistischen Diktatur debattiert wurde.12 Die historisch arbeitende Migrationsforschung zur Bundesrepublik weist dem chilenischen Fall eine zentrale Bedeutung für den Wandel der Asylpolitik zu. Patrice Poutrus deutet die Debatte um die Asylgewährung für Chilenen als Auflösung des antitotalitären Konsens zwischen den politischen Parteien, da nun die Aufnahme von sozialistischen Flüchtlingen erwogen wurde.13 Die Aufnahme einer als links geltenden Flüchtlingsgruppe vor dem Hintergrund des den westdeutschen Flüchtlingsdiskurs bis dahin dominierenden Antikommunismus reihte sich in eine Vielzahl anderer Tendenzen der gesellschaftlichen Liberalisierung in diesem Zeitraum ein.14 Poutrus zufolge lassen sich am Beispiel der Aufnahmeaktionen für chilenische Flüchtlinge zwei entscheidende Aspekte für die Entwicklung der bundesdeutschen Asylpraxis erkennen: Einerseits habe sich eine „Universalisierung des Schutzes politisch Verfolgter vor jeglicher diktatorischer Herrschaft“ vollzogen, andererseits habe diese Entwicklung damit bereits ihre Grenze erreicht.15 Auch im Falle der letztendlich von der Bundesregierung unterstützten Aufnahme der Chilenen gab es in Politik und Gesellschaft Vorbehalte gegenüber den Flüchtlingen, deren Status als politisch Verfolgte strittig blieb. Entsprechend wurden in diesem Zusammenhang auch vernehmbar Forderungen nach einem restriktiven asylpolitischen Kurs gestellt. Auch die Haltung der Politik war keineswegs einmütig. Der Freistaat Bayern beteiligte sich beispielsweise trotz der Fürsprache der sozialliberalen Koalition auf Bundesebene nicht an der Aufnahme chilenischer Flüchtlinge und führte dafür Sicherheitsbedenken an.16 Die Versuche einzelner unionsregierter Bundesländer zur Beschränkung der Aufnahme von Flüchtlingen in der ersten Hälfte der 1970er Jahre lassen sich entsprechend auch als Anfang der sich im weiteren Verlauf der 1970er und 10 Vgl. Koch, Zuflucht DDR, 34–37. 11 Schreiben der Amnesty International-Sektion in der Bundesrepublik Deutschland an Bundesminister Walter Scheel, 4. 10. 1973 (PA AA Berlin B33/100604). 12 Vgl. Poutrus, Asyl im Kalten Krieg, 285 f. 13 Poutrus, Öffentlichkeit, 108. 14 Vgl. Poutrus, Asyl in Westdeutschland, 29. Poutrus referiert dabei auf Überlegungen von Ulrich Herbert zum Prozess der Liberalisierung der westdeutschen Gesellschaft: Herbert, Liberalisierung. 15 Poutrus, Zuflucht, 879 f. 16 Vgl. Poutrus, Asyl im Kalten Krieg, 285.

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Debatten um internationale Flüchtlingsgruppen in den 1970er Jahren

1980er Jahre zuspitzenden innenpolitischen Auseinandersetzung interpretieren.17 Klaus Bade verweist auf die sich in der Debatte über die chilenischen Flüchtlinge abzeichnende Tendenz der Verdächtigung von Migranten als potentielle Gefahr für das Aufnahmeland, die sich gegenläufig zu den aufnahmefreundlichen Kampagnen formierten.18 Im Fall der chilenischen Flüchtlinge lassen sich sowohl die Position einer offenen wie auch die Position einer auf die Abwehr von Zuwanderung ausgerichteten Asylpolitik ausmachen, die sich beide in den Folgejahren weiter ausbildeten. Insofern ist der Zeitraum von 1973 bis 1976 für die Untersuchung des Wandels von Flüchtlingsfiguren und Argumentationsformen von großer Relevanz und bildet den zeitlichen Rahmen des folgenden Abschnitts.19 Die internationalen Auswirkungen des Militärputsches in Chile von 1973 sind von der Forschung in den letzten Jahren mit großer Aufmerksamkeit bedacht worden.20 Für unterschiedlichste zeitgeschichtliche Fragestellungen bietet eine Untersuchung der politischen Reaktionen auf den Putsch sowie der Kampagnen und Solidaritätsbewegungen im Umfeld der Ereignisse Anknüpfungsmöglichkeiten.21 Neben den Cold-War-Studies und der Diplomatiegeschichte22 ist der Fall Chile besonders für die Menschenrechtsforschung und die Globalgeschichte zum Präzedenzfall geworden, anhand dessen sich der Aufstieg der Menschenrechte zum Kernbegriff der internationalen Politik nachvollziehen und illustrieren lässt.23 Jan Eckel bezeichnet die Kampagne gegen die Diktatur in Chile dementsprechend als „einen Fall sui generis“ der sich entwickelnden Menschenrechtspolitik.24 Besonders die Durchführung und Konzeption der Kampagnen und die wachsende Bedeutung von Organisationen wie Amnesty International, die für die Verbreitung von Informationen und die Aufrechterhaltung des öffentlichen Interesses für das Geschehen in Chile verantwortlich waren, rückten dabei in den Fokus der 17 Vgl. Schönwälder, Persons, 77. 18 Bade, Europa, 370. 19 Der Zeitraum von 1973 bis 1976 gilt als die erste Phase der Repression in Chile (vgl. Koch, Zuflucht DDR, 36). Daneben fallen weitere für den bundesdeutschen Asyldiskurs relevante Ereignisse in diesen Zeitraum. Im Oktober 1975 entschied das Bundesverwaltungsgericht in den Leitsätzen zu einem Urteil, dass das Grundrecht auf Asyl nach dem Grundgesetz unbeschränkte Wirkung habe (vgl. Poutrus, Zuflucht, 886). Damit wurde auf juristischer Ebene die sich in Teilen der Flüchtlingsdebatte manifestierende Universalisierung des Asylrechts für politische Flüchtlinge nachvollzogen. Zudem verlor die Chile-Solidaritätsbewegung in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre deutlich an Bedeutung und Kampagnenfähigkeit (vgl. hierzu Dufner, West Germany, 180). 20 Abrisse der jüngeren Forschungsgeschichte liefert Christiaens, Reconfigurations, 413–416. Mit Fokus auf Westdeutschland: Jim nez Botta, Foreign Policy, 629 f. 21 Einen umfassenden Überblick zur Forschungsgeschichte und den jüngeren Tendenzen der zeitgeschichtlichen Untersuchungen bietet: Christiaens et. al., Global Perspective, 9–12. 22 Vgl. Dufner, Chile. 23 Vgl. die Beurteilung von Samuel Moyn: Moyn, Return, 2. 24 Eckel, Ambivalenz, 583. Eine identische Beurteilung findet sich bei: Kelly, Coup, 166.

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Forschung.25 Die weltweit aktiven Nichtregierungsorganisationen waren dazu in der Lage, eine internationale Öffentlichkeit zu mobilisieren. Damit trugen sie entscheidend dazu bei, aus der Kampagne gegen die Menschenrechtsverletzungen des Pinochet-Regimes und den Solidaritätsbewegungen für chilenische Flüchtlinge ein globales Phänomen zu machen.26 Eine Vielzahl von jüngeren Studien aus der internationalen Forschung wie die von Kim Christiaens, Caroline Moine, Patrick Kelly und Felix Jim nez Botta haben sich auf den Spuren der von der Menschenrechtsforschung aufgestellten Thesen zu den Transformationsprozessen der 1970er Jahre der transnationalen Solidaritäts- und Menschenrechtsbewegung, ihren Praktiken und Netzwerken gewidmet.27 Auch der Menschenrechtsaktivismus im Nachklang des ChilePutsches wurde dabei umfassend thematisiert.28 An der Analyse dieser Entwicklung interessierte Untersuchungen, die stärker auf der Mikroebene und an einzelnen Fallbeispielen arbeiten, beschreiben eine professionelle und breite Mobilisierung von Solidaritätsbewegungen in der Form von Unterstützungskomitees und Hilfskampagnen in den USA.29 Dabei wurde die Beteiligung amerikanischer Kirchen an der Unterstützung der chilenischen Flüchtlinge hervorgehoben.30 Auch aus der Perspektive der religions- und kirchengeschichtlichen Forschung bietet das chilenische Beispiel eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten. Das gilt insbesondere für das Agieren christlicher Gruppen innerhalb der Menschenrechtskampagnen. Bereits vor dem jüngeren Aufschwung der neueren Menschenrechtsgeschichte hatte die Katholizismusforschung den Einsatz von Bischöfen und Ordensmitgliedern für den Schutz der Menschenrechte in Chile als herausstechendes Beispiel für die Entwicklung eines neuen christlichen Engagements auf diesem Feld hervorgehoben.31 Samuel Moyn bezieht sich in seinen Arbeiten etwa auf die Ausbildung von Gruppen innerhalb des linkskatholischen und ökumenischen Umfelds im Kontext der Nachwirkungen des Chile-Putsches.32 Während sich einige der Arbeiten der historischen Menschenrechtsforschung in Rezensionen vorwerfen lassen mussten, mit den Kirchen eine wichtige auf globaler Ebene agierende Kraft ausgeblendet zu haben,33 betonten daran anschließende Arbeiten deren Be25 Moyn, Last Utopia, 147 f. 26 Vgl. Weinke, Ressource, 37 f.; Eckel, Lupe, 369 f. 27 Hervorzuheben sind: Moine, Solidarität; Kelly, Sovereign emergencies; Christiaens, Reconfigurations; Jim nez Botta, Solidarität. 28 Für eine Erörterung des Themas mit Fokus auf christliche Bezüge siehe Kelly, Human Rights. 29 Vgl. Power, U.S. Movement. 30 Die US-amerikanische Lateinamerikahistorikerin Margaret Power führt zur Verdeutlichung dieser These Beispiele aus der lutherischen Kirche in Illinois an. Siehe: Ebd., 56 f. 31 Vgl. Lowden, Moral Opposition. 32 Moyn, Last Utopia, 145. Für einen breiteren Überblick zum Themenkomplex Katholizismus, Lateinamerika und Menschenrechte siehe: Garrard-Burnett, Church Responses. 33 Vgl. die Rezension von Benjamin Möckel zu Jan Eckels Monographie „Die Ambivalenz des

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deutung.34 Für den deutschen Protestantismus war seine internationale Verflechtung ein maßgeblicher Faktor für die Affinität zum Thema Chile. Hierbei handelte es sich allerdings nicht um ein konfessionelles Alleinstellungsmerkmal: Auf katholischer Seite galt im Kontext Flüchtlingsaufnahme und Menschenrechtsarbeit etwa der global aufgestellte Jesuitenorden als einflussreicher Akteur.35 Auf den westdeutschen Protestantismus wirkten im Fall Chile transnationale Einflüsse besonders über die evangelischen Auslandsgemeinden und internationale Organisationen wie den ÖRK und den LWB ein. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Chile hatte ihre Ursprünge in den Gemeinden deutscher Siedler aus der Mitte des 19. Jahrhunderts; über das Kirchliche Außenamt der EKD und die nach Chile entsandte Pfarrerschaft war sie auch weiterhin mit dem deutschen Protestantismus verbunden.36 In den Jahren 1974/75 spaltete sich die Kirche infolge des Streits über die Bewertung des Militärputsches und dessen Folgen.37 Der Propst der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Chile, der norddeutsche Pfarrer Helmut Frenz, erlangte in der Folgezeit rasch eine enorme mediale Aufmerksamkeit in der Debatte um die Aufnahme von chilenischen Flüchtlingen. Aufgrund seiner vielfältigen Vernetzung innerhalb des sich semiprofessionell etablierenden Menschenrechtsaktivismus und seinem Ansehen unter den Solidaritätsgruppen wurde Frenz zur Symbolfigur der Debatte. Im Rahmen dieser Untersuchung ist insbesondere seine Bedeutung als Fürsprecher verfolgter Chilenen in der Bundesrepublik von Interesse. Zu Frenz’ Position und Funktion kann auf kirchengeschichtliche Studien zur deutschsprachigen evangelischen Kirche in Chile, umfangreiche archivalische Überlieferung aus kirchlichen wie staatlichen Beständen sowie unter Berücksichtigung der entsprechenden methodischen Vorbehalte gegenüber dieser Quellengattung auf autobiographische Schriften des Akteurs zurückgegriffen werden. Die protestantische Beteiligung an der Debatte um die Chilenen darf dabei aber nicht auf die Person Frenz reduziert werden. Trotz dessen großer Popularität wäre es unzureichend, die Untersuchung auf einen kurzbiographischen Abriss zu beschränken. Vielmehr lässt sich die Flüchtlingsdebatte nur mit Blick auf die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse und verwandte innerprotestantische Streitthemen der 1970er Jahre verstehen. Zwar lassen sich viele dieser Ein-

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Guten“: Möckel, Rezension. Dieselbe Einschätzung äußert auch der US-amerikanische Historiker Patrick William Kelly: Kelly, Human Rights, 96. Moine, Solidarität, 121. Caroline Moine betont „die zentrale Rolle“ insbesondere der evangelischen Kirche für die Solidaritätsbewegungen der 1970er Jahre. Die 2018 erschienene Monographie von Patrick Kelly zur Menschenrechtspolitik in Lateinamerika setzt sogar dramaturgisch mit der Schilderung des Treffens von Helmut Frenz und seinem katholischen Pendant mit dem Diktator Pinochet ein und verweist auf die christlichen Menschenrechtsaktionen. Siehe: Kelly, Sovereign emergencies, 1 f. Vgl. die entsprechende Monographie zur Arbeit der Jesuiten in Chile: Schnoor, Gehorchen. Vgl. Lenski, Spaltung, 17–21. Vgl. Lenski, Frage der Identität.

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flüsse anhand der Person Helmut Frenz illustrieren. Dabei ist jedoch zu beachten, dass das Thema Chile-Flüchtlinge einerseits kirchliche Institutionen wie das Diakonische Werk, einzelne Landeskirchen und protestantische Bildungseinrichtungen, andererseits auf der Mikroebene viele Gruppen an der kirchlichen Basis erfasste. Zugleich gab es innerprotestantische Kontroversen um die Darstellung der Flüchtlinge, die ebenfalls in der Untersuchung Berücksichtigung finden. Der letzte Abschnitt des Teilkapitels befasst sich erneut mit dem protestantischen Agieren im politischen Raum in der Frage der Flüchtlingsaufnahme. 3.1.1 Kontext und Rahmenbedingungen der Chile-Kampagne Die jüngere Forschung hat detailliert nachgezeichnet, wie der Putsch der Militärjunta zu einem internationalen Medienereignis wurde, dessen Bilder eine weltweite Öffentlichkeit erreichten.38 Die Debatte um die Aufnahme von chilenischen Flüchtlingen in die Bundesrepublik ist daher als Teil einer umfassenderen und globalen Entwicklung zu verstehen. In der Bundesrepublik entstanden in der Phase nach dem Militärputsch Solidaritätskomitees und Initiativkreise, die insbesondere in Hochschulstädten aktiv waren.39 Sie fanden vor allem im Umfeld der Studentenbewegung und der sogenannten außerparlamentarischen Opposition Resonanz.40 Die circa 50 Chile-Komitees organisierten etwa Demonstrationen und gaben mit den „Chile-Nachrichten“ eine eigene Zeitschrift heraus.41 Der Einsatz für die Aufnahme von Flüchtlingen in das eigene Land stellte dabei nur eines von verschiedenen Tätigkeitsfeldern neben der allgemeinen Aufklärung der Öffentlichkeit über die Verbrechen des Regimes oder Aktionen zur Freilassung von politischen Gefangenen vor Ort dar.42 Protestantische Gruppen als Teil der Solidaritätsbewegung Auch Teile des westdeutschen Protestantismus und Katholizismus waren an der Chile-Solidaritätsbewegung beteiligt. In der Frühphase der Solidaritätsbewegung nach dem Putsch hatten Einrichtungen der evangelischen Kirche der Historikerin Caroline Moine zufolge aufgrund ihrer Kontakte nach Südamerika die Funktion als „zentrale Relaisstation[en]“43 für die Mobilisie38 39 40 41 42 43

Vgl. Dufner, Chile, 543–545. Vgl. Rupflin, Chile-Solidarität, 191 f. Vgl. Seibert, Vergessene Proteste, 167; Dufner, West Germany, 178. Vgl. Weitbrecht, Aufbruch, 349 f. Vgl. Power, U.S. Movement, 59. Moine, Solidarität, 99.

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rung.44 Besonders die evangelischen Studentengemeinden (ESG) in der Bundesrepublik besaßen eine große Affinität zu den Themen der Studentenbewegung und den Dritte-Welt-Gruppen.45 Im Umfeld der Chile-Komitees formierte sich ein breites Spektrum von Akteuren.46 So veröffentlichten beispielsweise zwei Wochen nach dem Putsch mehrere Jugend- und Studentenverbände eine gemeinsame Erklärung, in der die Machtergreifung des Militärs als imperialistischer und antidemokratischer Akt verurteilt wurde. Die unterzeichnenden Organisationen betonten, das chilenische Volk benötige jetzt für seinen schweren Kampf „die Solidarität der arbeitenden und studierenden Jugend, der Christen, Sozialisten und Demokraten“47 aus der Bundesrepublik. Unterzeichner waren unter anderem die Jungsozialisten, der marxistische Studentenbund Spartakus, die Jungdemokraten wie auch die Arbeitsgemeinschaft der evangelischen Jugend.48 Forschungsarbeiten zählen zur Verdeutlichung der Mobilisierungswirkung der Kampagne oft ähnliche Konstellationen auf.49 Neben Ortsgruppen der Menschenrechtsorganisationen finden dabei Gruppierungen der politischen Linken von Kommunisten bis Sozialdemokraten sowie auch christliche, gewerkschaftliche und bürgerliche Initiativen Erwähnung.50 Derart schematisierende Darstellungen besitzen im Hinblick auf die Abgrenzung der jeweiligen Motive und zur Verdeutlichung der über das linke Lager hinausgehenden Mobilisierungskraft der ChileSolidarität ihre Berechtigung. Die bisweilen erkennbare pauschale Gleichsetzung kirchlicher beziehungsweise christlicher Gruppen mit dem bürgerlichen Spektrum muss aber im hier untersuchten Zusammenhang relativiert werden. Für eine Untersuchung des protestantischen Anteils jenseits der institutionellen Ebene ist zu beachten, dass die Motive der beteiligten Basisgruppen und einzelnen Akteure auf der Mikroebene nicht pauschal einer der aufgezählten Gruppierungen und Institutionen zugeordnet werden können. Die an der Chile-Solidarität beteiligten Akteure des Protestantismus verfügten häufig über lagerübergreifende Identitätskonzepte und verstanden sich sowohl als Menschenrechtsaktivisten, Christen und Sozialisten, ohne darin

44 Kim Christiaens fokussiert in ihrer Darstellung auf Gruppen aus dem linken politischen Spektrum, betont aber gerade für die Frühphase der Chile-Solidaritätsbewegung in den westlichen Staaten im Jahr 1973 die bedeutende Rolle von „progressive christian groups“ (Christiaens et al., Global Perspective, 29). 45 Vgl. Hager, Protestantismus; Widmann, Linksprotestantismus; Weitbrecht, Aufbruch, 226–245. Detailliert nachgezeichnet werden die Chile-Solidaritätsaktionen einer katholischen Hochschulgemeinde in einem Beitrag von Barbara Rupflin: Rupflin, Chile-Solidarität. 46 Vgl. Eckel, Ambivalenz, 583. 47 Solidarität mit Chile. In: Sonntagsblatt, 23. 9. 1973, 8. 48 Ebd. 49 Vgl. exemplarisch für die Münsteraner Chile-Solidarität, bei der der örtliche evangelische Studentenpfarrer die Sprecherrolle des breit aufgestellten Bündnisses übernahm: Rupflin, Chile-Solidarität, 191 FN 4. 50 Wojak / Holz, Exilanten, 177–179.

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Widersprüche zu sehen.51 Diese Differenzierung ist für die Untersuchung des meist pauschal als christlich umschriebenen Teils der Solidaritätsbewegung von Bedeutung. Das Verschmelzen von christlichen und sozialistisch markierten Protest- und Aktionsformen illustriert eine Veranstaltung der zeitgenössisch als besonders radikal geltenden ESG Hannover.52 Bei einer Protestaktion wollten die Hannoveraner Studierenden Geld für den bewaffneten Widerstandskampf gegen die Militärjunta sammeln, eine Blutspendenaktion durchführen und sich mit dem Schicksal der geflüchteten Chilenen und der dortigen Kirchengemeinden auseinandersetzen.53 Mobilisierung durch den ÖRK Innerhalb des Protestantismus war das Thema Lateinamerika seit Mitte der 1960er Jahre präsent. Die Programme des Ökumenischen Rats der Kirchen hatten einen großen Anteil daran.54 Im kirchlichen Kontext hatten sich sogenannte Dritte-Welt-Gruppen gebildet, die zumeist im Kontext von Hochschul- und Ortskirchengemeinden wirkten und innerhalb der zeitgenössischen sozialen Bewegungen agierten.55 Studierende hatten in größerer Zahl mit der Förderung kirchlicher Institutionen Aufenthalte an südamerikanischen Hochschulen absolviert.56 Nach der Wahl von Allende zum chilenischen Präsidenten im Herbst 1970 hatte sich in westlichen Ländern die Ausbildung der Chile-Solidarität intensiviert, deren Anhänger besonders die Idee eines demokratischen Wegs in den Sozialismus rezipierten.57 Gerade für Gruppen, die eine Annäherung von Christentum und Sozialismus diskutierten und sich mit der aus dem südamerikanischen Raum stammenden Befreiungstheologie beschäftigten, besaß Chile unter der Präsidentschaft des Sozialisten Allendes eine große Strahlkraft.58 Das Interesse für die politischen Veränderungen in Lateinamerika ging aber über die klassischen Foren des linken Milieus hinaus. So wurde zum Beispiel nach dem Putsch in Chile im „Sonntagsblatt“ ein

51 Zu Überschneidungen zwischen sozialistischen und menschenrechtsaktivistischen Gruppen vgl. Rigoll, Erfahrene Alte, 190 f. 52 Zur Hannoveraner ESG vgl. Hauschild, Kirche, 77 f. 53 Evangelische Studentengemeinde plant „Chile-Aktion“. In: epd-ZA Nr. 10, 15. 1. 1974, 6. 54 Grundlegend zu den Verflechtungen des lateinamerikanischen Protestantismus mit dem ÖRK: Schilling, Revolution. 55 Vgl. Spliesgart, Theologie, 190–193; Lepp, Konfrontation, 375; Nuscheler / Gabriel, DritteWelt-Gruppen, 23–29; Siegfried, Politisierungsschübe, 42 f. 56 Vgl. ebd., 200 f.; Weitbrecht, Aufbruch, 328–348. 57 Vgl. Eckel, Lupe, 371. Vgl. für die Formierung der Chile-Bewegung in den USA ab 1970: Power, U.S. Movement, 49–52. 58 Vgl. Widmann, Gespräch, 139 f. Zur Rezeption der Befreiungstheologie in der Bundesrepublik vgl. Spliesgart, Theologie, 193 und 196 f.

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umfangreiches Dossier über die Situation in verschiedenen Staaten der Region veröffentlicht.59 Supranationale Organisationen wie Amnesty International waren entscheidend für die weltweite Aufmerksamkeit für das Thema Chile und die Mobilisierung für die folgenden Kampagnen.60 Im protestantischen Kontext kam diese Rolle dem ÖRK zu, der bereits vor dem Putsch als wichtigster Impulsgeber für die Menschenrechtslage in Süd- und Lateinamerika fungiert hatte.61 Nur wenige Tage nach dem Putsch forderte der ÖRK die Militärjunta dazu auf, den Asylstatus von Flüchtlingen aus anderen lateinamerikanischen Ländern, die sich bereits in Chile befanden, zu respektieren.62 Der ÖRKGeneralsekretär Philip Potter sandte ein entsprechendes Telegramm an die UN-Sicherheitsratsmitglieder, dessen Wortlaut in kirchlichen Zeitungen abgedruckt wurde.63 Der ÖRK schuf zudem eine eigene Arbeitsgruppe für die Chile-Hilfe, die „Chile Task Force“.64 In der Folge richteten die Kirchen in Chile zur Unterstützung der ausländischen Flüchtlinge eigene Projektbüros ein, an denen sich auch die lutherische Kirche beteiligte.65 Ein neu ins Leben gerufener Flüchtlingsausschuss nahm Kontakt mit dem UNHCR und anderen internationalen Organisationen auf.66 Da der Schutz der internationalen Flüchtlinge garantiert und deren Ausreise von der Junta meist problemlos ermöglicht wurde, rückte rasch die Situation verfolgter Chilenen in den Fokus der kirchlichen Arbeit.67 Auch hier übernahmen die weltweit agierenden Zusammenschlüsse eine Schlüsselrolle.68 Die über den ÖRK verbreiteten Meldungen innerhalb der christlichen Gemeinschaften setzten auf eine emotionalisierende Ansprache sowie die gezielte Adressierung der Menschen in Europa und Nordamerika, die zu Aktivität in ihren Heimatländern aufgefordert wurden. Eine Broschüre des vom ÖRK ins Leben gerufenen „Chile Emergency Desk“ warb mit drastischen Schilderungen für die Aufnahme von Chilenen und äußerte sich ablehnend über die Staaten, die sich eine Selektion der Aufzunehmenden vorbehalten hatten.69 In einem dort mitabgedruckten offenen Brief kamen die betroffenen Personen mit ihrem Anliegen selbst zu 59 Lateinamerika: Kontinent im Ausverkauf. In: Sonntagsblatt, 21. 10. 1973, 21–26. 60 Für eine Darstellung der Rolle von Amnesty in der Zeit nach dem Putsch siehe Kelly, Coup, 172–176. 61 Vgl. Kelly, Human Rights, 107 f. Ausführlich mit der im ÖRK geführten Menschenrechtsdebatte und deren Entwicklung befassen sich: Bouwman, Religious Freedom; Albers, ÖRK. 62 Weltkirchenrat fordert Junta zur Achtung des Asylrechts auf. In: epd-ZA Nr. 180, 17. 9. 1973, 4. 63 Potters Appell. In: Sonntagsblatt, 23. 9. 1973, 3. 64 Vgl. Moine, Solidarität, 119. 65 Kirchen in Chile starten Hilfsprojekt für politische Flüchtlinge. In: epd-ZA Nr. 189, 28. 9. 1973, 1. 66 Flüchtlinge aufnehmen, auch wenn man sie nicht „braucht“? In: epd-ZA Nr. 214, 2. 11. 1973, 6. 67 Vgl. Frenz, Chile, 182. 68 Eine mit Quellen aus dem Archiv des ÖRK gesättigte Darstellung dessen Aktivitäten in der Causa Chile bietet: Kelly, Human Rights, 107–111. 69 Broschüre “Chile – an appeal for urgent action”, 30. 11. 1973 (ADW Berlin HGSt 9718).

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Wort. Der in einem universalistischen Duktus gehaltene Text richtete sich an „people from all countries“70 und adressierte neben der globalen Öffentlichkeit die Vereinten Nationen. Die Mobilisierung in der Bundesrepublik fiel auf einen fruchtbaren Boden. Caroline Moine bezeichnet sie zutreffend als das Resultat aus „den ebenso engen wie komplexen transnationalen Vernetzungen mit Lateinamerika, aber auch aus der spezifischen Kultur und Vergangenheit des deutschen Protestantismus und der ökumenischen Bewegung“71. Umgehend forderten Stimmen aus einzelnen Gliedkirchen und Diakonieverbänden der EKD eine Beteiligung der Bundesrepublik bei der Aufnahmeaktion. Der badische Landesbischof telegraphierte dem Bundesinnenminister persönlich, seine Kirche sei bereit, hierfür Platz in ihren Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen.72 Verbände wie Aktion Sühnezeichen starteten Spendenaktionen für verfolgte Chilenen.73 In West-Berlin forderte Bischof Kurt Scharf die Kirchengemeinden dazu auf, Wohnungen für Flüchtlinge zu beschaffen.74 Zahlreiche protestantische Gruppen auf Gemeindeebene und an den theologischen Fakultäten reihten sich ein in die Vielzahl von Organisationen aus Studentenbewegung und Gewerkschaften, die in großer Zahl offene Briefe, Protestschreiben und Unterschriftensammlungen an Politiker und Ministerien schickten.75 Nach wenigen Monaten erreichte das Thema auch die Gremien der EKD. Im Januar 1974 beschloss die Synode bei ihrer Tagung in Kassel eine Eingabe an den Rat der EKD, sich bei der Bundesregierung für eine unbegrenzte Aufnahme von chilenischen Flüchtlingen einzusetzen.76 Die Lageberichte des ÖRK fanden auch jenseits kirchlicher Gruppen Beachtung und wurden etwa von sozialdemokratischen Politikern als eine glaubwürdige Referenz für die Appelle an die Politik angesehen.77 In der schwierigen Informationslage nach dem Putsch nahmen katholische und evangelische Geistliche, die sich weiterhin vor Ort in Chile verhältnismäßig frei bewegen konnten, gegenüber Ministerien und Nichtregierungsorganisationen im Ausland die Funktion von Berichterstattern über Menschenrechtsverletzungen ein. Hierauf berief sich auch der Präsident des evangelischen Hilfswerks „Brot für die

70 Ebd. 71 Moine, Solidarität, 94. 72 Telegramm des badischen Landesbischofs Heidland an den Bundesinnenminister, 25. 10. 1973 (BArch Koblenz B106/69037). 73 Sühnezeichen ruft zu Spenden für Verfolgte in Chile auf. In: epd-ZA Nr. 192, 3. 10. 1973, 1. 74 Bischof Scharf bittet um Hilfe für Chile-Flüchtlinge. In: epd-ZA Nr. 218, 8. 11. 1973, 3. 75 Exemplarisch für Schreiben aus dem Hochschulkontext: Schreiben des Fachbereichs evangelische Theologie an der Universität Mainz an Bundeskanzler Willy Brandt, 20. 11. 1973 (BArch Koblenz B136/6243). 76 EKD-Synode nahm zur Gemeinsamen Erklärung Stellung. In: epd-ZA Nr. 13, 18. 1. 1974, 1 f. 77 Offener Brief an das Bundesinnenministerium, Betreff: Politische Verfolgte in Chile, 25. 10. 1973 (BArch Koblenz B106/69037); Schreiben von AI-Generalsekretär Elmar Müller an Oberbürgermeisterin Luise Albertz, 22. 10. 1973 (BArch Koblenz B106/69037).

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Welt“, Hans-Otto Hahn, in einer Mitteilung an das Auswärtige Amt.78 Bereits während der Regierung Allendes hatten die dortigen Kirchen eine vermittelnde Position eingenommen. Sowohl in der katholischen als auch in der evangelischen Kirche in Chile hatte es durchaus Zustimmung zum Militärputsch gegeben, der als eine Befreiung vom antichristlichen Marxismus und als notwendige Maßnahme zur Bewahrung der Stabilität des Landes verstanden wurde, ohne dass zugleich die Gewalt gegen die Opposition und die sich anschließende Verfolgungswelle gutgeheißen wurde.79 Aufgrund der schon länger bestehenden Kommunikation mit allen Seiten verfügten die Kirchen in Chile nach dem gewaltsamen Machtwechsel über eine gefestigte Position.80 Die Vertreter der beiden christlichen Konfessionen konnten sich so im Land Handlungsspielräume sichern und verhältnismäßig unabhängig von staatlichen Einflüssen agieren. Auch Helmut Frenz nahm in seinem ersten Bericht an das Kirchliche Außenamt noch eine indifferente Haltung zum Militärregime ein, ehe er sich zu einem entschiedenen Gegner der Junta entwickelte.81 Die große Affinität von Teilen des westdeutschen Protestantismus für das Thema Chile sowie die Mobilisierungskraft in der Frage der Aufnahme von chilenischen Flüchtlingen war von transnationalen Einflüssen und der Affinität der jüngeren Generation für die Themen der „Dritten Welt“ bedingt. Christentum wurde innerhalb des westdeutschen Protestantismus zunehmend in einer globalen Perspektive gedacht. Zudem hatte sich besonders die Region Lateinamerika zu einer Projektionsfläche für die Anhänger neuer, von marxistischen Ideen beeinflusster theologischer Entwürfe entwickelt. Im Fall Chile kam neben der besonderen Außenwirkung des Putsches als weltweites Medienereignis und der Prädisposition protestantischer Basisgruppen und Institutionen für die Region Lateinamerika hinzu, dass die Kirchenvertreter sich aufgrund der politischen Rahmenbedingungen in einer exponierten Position zur Übernahme einer beobachtenden, humanitären und vermittelnden Rolle wiederfanden. In der öffentlichen Debatte verband sich das Thema zudem mit der seit den 1960er Jahren anhaltenden Auseinandersetzung um die „Politisierung“ des Protestantismus.82

78 Schreiben von Hans-Otto Hahn an Legationsrat Bindewald, 8. 11. 1973 (PA AA Berlin B33/ 100605). 79 Vgl. Schnoor, Gehorchen, 303 f. und 308. 80 Vgl. Lenski, Spaltung, 15. 81 Vgl. ders., 27. In seinen Memoiren bezeichnet Frenz seine erste, später überworfene Haltung gegenüber dem Putsch als naiv und uniformiert, vgl. Frenz, Chile, 146–155. 82 Vgl. Widmann, Linksprotestantismus, 217–222.

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3.1.2 Flüchtlingsaufnahme zwischen Menschenrechtsuniversalismus, christlicher Nächstenliebe und linker Solidarität Helmut Frenz – Leitfigur der Kampagne für chilenische Flüchtlinge Zum zentralen protestantischen Akteur im Rahmen der Kampagne entwickelte sich der norddeutsche Pfarrer Helmut Frenz. Seine biographischen Prägungen, die Funktion als medienwirksamste evangelische Figur in der Debatte um die Aufnahme der Chilenen sowie seine Rolle als Bindeglied zwischen Kirche, Menschenrechtsorganisationen und Basisgruppen prädestinieren den Akteur Frenz für eine nähere Beschäftigung im Rahmen dieser Untersuchung. Ähnlich wie vergleichbare Personen der kirchlichen Flüchtlingsarbeit aus der unmittelbaren Nachkriegszeit wie Karl Ahme oder Heinrich von Schönberg wurde Helmut Frenz bereits zu seinen Lebzeiten in bestimmten institutionellen Kontexten wie der Diakonie oder Amnesty International sehr positiv dargestellt. Als personifizierter Garant des Transfers zwischen dem westdeutschen Protestantismus und dem Geschehen in Lateinamerika, als von vielen sozialistischen Akteuren anerkannter Aktivist und als späterer Generalsekretär der westdeutschen Sektion von Amnesty International bot Helmut Frenz unterschiedlichen Gruppen Identifikationsmöglichkeiten. Zudem bot seine persönliche Entwicklung vom holsteinischen Inselpfarrer zum weitbekannten Menschenrechtsaktivisten vielfältige erzählerische Anknüpfungsmöglichkeiten für literarische und mediale Verarbeitungen.83 Im Jahr 1933 in Ostpreußen geboren, war Helmut Frenz nach dem Zweiten Weltkrieg in Berlin und Norddeutschland aufgewachsen. Als Student orientierte er sich an dem Theologen Helmut Gollwitzer84, dem später öffentlichkeitswirksamsten Vermittler zwischen Protestantismus und Studentenbewegung.85 Seiner eigenen Darstellung nach prägten den norddeutschen Pfarrer in seinen ersten Berufsjahren vor allem die Beschäftigung mit Entwicklungen in Ländern jenseits des Wirtschaftswunderdeutschlands, vermittelt über internationale kirchliche Verbände und Missionare. Sich selbst beschrieb Frenz als früh interessiert an den Themen globale Armut und Entwicklung, zudem sei der Verdruss über die konservative Politik der Adenauer-Zeit ein treibendes Motiv für ihn gewesen, um sich einer Auslandspfarrstelle zuzuwenden.86

83 Vgl. die veröffentlichten Memoiren: Frenz, Chile. Eine breite Darstellung der biographischen Prägungen sowie der Tätigkeiten in der chilenischen Kirche findet sich bei: Moine, Solidarität, 99–102. 84 Lenski, Spaltung, 46 FN 147. Frenz spricht selbst von Gollwitzer in seinen Memoiren als seinem „hochverehrten theologischen Lehrer“ (Frenz, Chile, 225). 85 Vgl. Lepp, Helmut Gollwitzer. 86 Frenz, Chile, 26 f.

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Schon vor Antritt seiner Stelle in Chile galt Frenz als ein politischer Prediger.87 Seine Wahl zum Probst88 der lutherischen Kirche in Chile im Jahr 1970 fiel in das gleiche Jahr wie die Wahl Allendes zum chilenischen Präsidenten.89 Der deutsche Pfarrer hatte durchaus Sympathien für die neue Regierung und deren Reformprojekte, was zu Konflikten mit den Mitgliedern seiner mehrheitlich bürgerlich-traditionalistisch ausgerichteten Kirche führte.90 Zudem verfügte Frenz früh durch Gremienarbeit im Lutherischen Weltbund über weltweite Kontakte innerhalb der christlichen Verbände.91 Die christlichen Kirchen in Chile befanden sich nach dem Putsch in der Position als einzig verbliebene Großorganisationen wieder, die noch einen selbstständigen Handlungsspielraum gegenüber der neuen Regierung hatten.92 Unter Vorsitz von Helmut Frenz bildete sich in den Wochen nach dem Putsch ein Flüchtlingskomitee, das neben katholischer und evangelischer Kirche auch das Rote Kreuz und den UNHCR an einen Tisch brachte.93 Der Aufbau des Komitees wurde zu einem ökumenischen Projekt und setzte innerhalb der beiden christlichen Kirchen parallele Abläufe in Gang.94 Die evangelisch-lutherische Kirche in Chile war im Vergleich zur katholischen sehr klein und galt als ausgesprochen konservativ. Frenz selbst bezeichnete die Katholiken in Chile als engagierter in sozialen Fragen und aufgeschlossener für den Dialog mit den Sozialisten, während seine eigenen Kirchengemeinden einem reaktionär-traditionalistischen Verständnis des Christentums anhängen würden.95 Die Militärjunta billigte die Arbeit des Flüchtlingskomitees, das sich zu Beginn vor allem um sich in Chile aufhaltende politische Emigranten aus anderen südamerikanischen Staaten kümmern wollte.96 Während die ausländischen Exilanten aufgrund des Schutzes durch internationale Abkommen als sicher gelten konnten, rückte hingegen rasch die Situation der innenpolitisch Verfolgten in den Mittelpunkt der Arbeit des Komitees. Das Flüchtlingskomitee wurde daraufhin mit finanzieller Unterstützung des ÖRK in ein ökumenisches Friedenskomitee umgewandelt.97 In der Position des Gremienvorsitzenden prangerte Frenz gegenüber der internationalen Presse

87 Lenski, Spaltung, 46 FN 147. 88 Formal war die Bezeichnung Probst für den leitenden Geistlichen der zahlenmäßig kleinen chilenischen Kirche üblich, umgangssprachlich wurde aber mangels eines passenden spanischen Begriffs häufig die Bezeichnung Bischof verwendet (Frenz, Chile, 93). 89 Ebd., 24 f. 90 Ebd., 99–113. 91 Ebd., 129 f. 92 Ebd., 182. 93 Die Rache trifft die Kleinen. In: Sonntagsblatt, 18. 11. 1973, 4. 94 Vgl. Schnoor, Gehorchen, 325. 95 Frenz, Chile, 156. 96 Flüchtlinge aufnehmen auch wenn man sie nicht „braucht“? Zusammenarbeit politischer und kirchlicher Organisationen. In: epd-ZA Nr. 214, 2. 11. 1973, 6. 97 Vgl. Kelly, Human Rights, 107.

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die ersten Verfolgungswellen der Junta gegen politische Gegner an.98 Das Komitee wurde damit zu einem wichtigen Ansprechpartner für Diplomaten. Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes wurde die übergreifende Kooperation des Gremiums mit Organisationen wie dem UNHCR und dem Roten Kreuz aufmerksam verfolgt.99 Frenz trat bei der Verhandlung über die Aufnahme von Flüchtlingen ausgesprochen selbstbewusst gegenüber der deutschen Botschaft auf. Mit dem gegenüber der Botschaft geäußerten Vorschlag zur Einrichtung von Transitlagern stellte er sich auch gegen die Präferenzen des UNHCR.100 Nach Auseinandersetzungen mit dem deutschen Botschafter in Chile über die Flüchtlingsaufnahme schrieb Frenz angesichts der sich zuspitzenden Lage einen langen vertraulichen Brief an den Bundeskanzler, in dem er um eilige Unterstützung bat.101 In dem direkt an Willy Brandt persönlich adressierten Schreiben formulierte Frenz teils drastische Schilderungen über die Foltermethoden der Junta und wies bestimmt darauf hin, dass andere Länder und deren Botschaften deutlich größere Aufnahmekontingente als die Bundesrepublik zur Verfügung gestellt hätten. In Umgehung der in Teilen der Öffentlichkeit geführten juristischen Auseinandersetzungen forderte er zudem vom Regierungschef, die rechtlichen Detailfragen zurückstehen zu lassen und die Aufnahme bedrohter Chilenen unkompliziert zu einer Gewährung von diplomatischem Schutz zu erklären. Zugleich positionierte sich Frenz gegenüber dem Kanzler auch zu den gegen seine Person erhobenen Vorwürfe, er sympathisiere mit Guerillas und der extremen Linken: „Ich bin ein entschiedener Gegner des Extremismus. […] Ich habe mich als Pastor mit studentischen Extremistengruppen auseinandergesetzt. Heute muss ich Extremisten schützen, weil sie verfolgt werden und auf sie Folter und Tod warten. […] Wir dürfen es nicht hinnehmen, dass hier in Chile eine Gruppe von Menschen wie Wild gehetzt, verfolgt und geschlachtet wird. Unser Schweigen und Nichtstun macht uns schuldig. Sehr verehrter Herr Bundeskanzler, mir ist Ihre Haltung gegenüber dem Dritten Reich bekannt. Darum wage ich überhaupt nur, mich mit diesem Brief an Sie zu wenden. Wir bedürfen dringend Ihrer Hilfe. Einige hundert junge Menschen müssen vor den Folterkammern in Chile gerettet werden. Die Bundesregierung könnte eine entscheidende Hilfe leisten […].“102

98 „Erschreckende Denunzierungskampagne“ in Chile. Kirchenpräsident Frenz: Menschenrechte werden nicht voll respektiert. In: epd-ZA Nr. 221, 13. 11. 1973, 1. 99 Vertraulicher Vermerk der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amts über humanitäre Hilfe für Chile, 26. 10. 1973 (PA AA Berlin B33/100605). 100 Bericht der Botschaft Santiago an das Lagezentrum des Auswärtigen Amtes, 13. 12. 1973 (PA AA Berlin B33/100606). 101 Für die eigene Darstellung der Vorgeschichte des Briefs an den Bundeskanzler sowie einen Abdruck des Schreibens vgl. Frenz, Chile, 192–198. 102 Schreiben von Helmut Frenz an Bundeskanzler Willy Brandt, 27. 10. 1973 (BArch Koblenz B136/6242).

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Aufgrund seiner eigenen Verfolgungs- und Exilgeschichte und seinem Status als Friedensnobelpreisträger war Willy Brandt der passend erscheinende Adressat für derartige Appelle. So verlangte zum Beispiel das von kommunistischen Gruppen dominierte Frankfurter Solidaritätskomitee in einem Schreiben, gerade als Friedensnobelpreisträger müsse Brandt den faschistischen Terror in Chile verurteilen.103 Auch andere westdeutsche Theologen forderten in ähnlich drastisch formulierten Briefen an den Kanzler mit Verweis auf dessen Nobelpreis und den UN-Beitritt der Bundesrepublik die sofortige Einreiseerlaubnis für alle Flüchtlinge aus Chile ohne zahlenmäßige und politische Einschränkungen.104 Frenz selbst präsentierte sich in seinem Brief an den Regierungschef der Bundesrepublik als einen von seinem Gewissen getriebenen Pfarrer, der aufgrund der verzweifelten Lage dazu gezwungen sei, auf einen solch drastischen Tonfall zurückgreifen zu müssen.105 In der Rolle des unnachgiebigen Mahners avancierte Frenz zur zentralen Figur der Solidaritätsbewegung. Er war nicht nur eine Identifikationsfigur für Chile-Unterstützer unterschiedlichster weltanschaulicher Herkunft, sondern gleichzeitig auch der ideale Protagonist für die Berichterstattung der Medien. Eine im Dezember 1973 unternommene Europareise markierte den vorläufigen Höhepunkt von Frenz‘ Bemühungen um die Aufnahme von chilenischen Flüchtlingen durch westeuropäische Staaten.106 Die Planung des Aufenthalts verdeutlichte die über evangelische Kreise hinausgehende Wahrnehmung der Ereignisse in Chile und seiner Person. Der Propst der kleinen Kirche besuchte nicht nur seine westdeutsche Heimat, sondern reiste auch in die Niederlande. Der Ablaufplan der Besuchsreise, professionell unter Beteiligung kirchlicher Einrichtungen organisiert, enthielt mehrere Pressekonferenzen und Rundfunkinterviews sowie Besprechungen mit Staatssekretären aus dem Bundesinnenministerium und dem Auswärtigen Amt unter Beteiligung des EKD-Bevollmächtigten Hermann Kunst.107 Die protestantischen Netzwerke unter den politischen Eliten der Bundesrepublik ermöglichten Frenz nach eigener Darstellung sogar einen Termin beim Staatsoberhaupt. In seiner Autobiografie berichtete er von einem über Helmut Gollwitzer vermittelten inoffiziellen und ausgedehnten Gespräch mit Bundespräsident Gustav Heinemann.108 Bei einem weiteren vertraulichen Gespräch mit Mitar103 Offener Brief des Frankfurter Solidaritätskomitees für Chile an Bundeskanzler Willy Brandt, 5. 2. 1974 (BArch Koblenz B136/6242). 104 Schreiben von Pfarrer Thomas N. an Bundeskanzler Brandt, 26. 11. 1973 (BArch Koblenz B136/6242). 105 Schreiben von Helmut Frenz an Bundeskanzler Willy Brandt, 27. 10. 1973 (BArch Koblenz B136/6242). 106 Die Reise nach Europa wird auch bei Daniel Lenski erwähnt: Vgl. Lenski, Spaltung, 29. 107 Besuchsprogramm von Bischof Frenz in der Bundesrepublik und in Holland im Dezember 1973 (ADW Berlin HGSt 9718). 108 Frenz, Chile, 156 f. Zwar besteht kein Anlass, diese Darstellung in Zweifel zu ziehen, da sich viele der Details aus der Autobiographie über den inoffiziellen Kontakt mit den Bundesministerien anhand von Recherchen in den Beständen des Bundesarchivs verifizieren lassen. In

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beitern des Bundeskanzleramts nannte Frenz als seine wichtigsten Ziele, einerseits die Aufnahme weiterer Flüchtlinge anzustoßen und andererseits das negative Bild der Flüchtlinge, das viele Deutsche hätten, „zurechtzurücken“109. Die Kampagne für die Flüchtlingsaufnahme wurde zunehmend von einer Debatte über die Bewertung des politischen Kontextes der Flucht überlagert, sowohl in Teilen der westdeutschen Gesellschaft wie aber auch in Chile selbst. Die exklusiven Gesprächstermine bei den Politikeliten der Bundesrepublik wie auch die große mediale Beachtung standen im Kontrast zur Stellung des Propstes in seiner eigenen Kirche in Chile. Die Fürsprache des Bischofs für Flüchtlinge sorgte dort für eine tiefgehende Auseinandersetzung, die letztendlich die Einheit der dortigen Kirche in Frage stellte. Mitglieder seiner lutherischen Kirche beklagten, dass Frenz die neue Regierung angreife, obwohl viele der Kirchenmitglieder deren Kurs unterstützen würden. Kritik wurde vor allem an Frenz’ Einsatz für die Regierungsgegner geäußert, denen der Status als politisch Verfolgte abgesprochen wurde. Der Hauptvorwurf lautete, dass viele der Betroffenen, für die Frenz sich einsetze, unter der Allende-Regierung Christen und Mittelständler bedroht hätten.110 Der Universalismus in der Kritik Der Vorwurf, der Einsatz für politisch Verfolgte sei einseitig und in erster Linie ideologisch motiviert, etablierte sich nicht nur innerhalb der lutherischen Kirche Chiles, sondern auch in der Bundesrepublik zum Kernargument gegen die Kampagne der Solidaritätsbewegung. Mit dieser Strategie sollte der Universalismus der Unterstützer einer Aufnahme von Flüchtlingen entweder als naiv oder gar als Verschleierung einer potentiellen Gefahr für die Sicherheit entlarvt werden. Mit ihren Vorwürfen zielten die Gegner Frenz’ in erster Linie auf dessen persönliche Glaubwürdigkeit. Sowohl im bürgerlich-konservativen wie auch im rechtsnationalistischen Kontext wurden diese Vorwürfe mit unterschiedlichen Schwerpunkten artikuliert. Der Universalisierungsthese von Poutrus zufolge verdeutlicht der chilenische Fall sowohl die Tendenz zur Auflösung des antitotalitären Konsenses der frühen Bundesrepublik als auch den Ansatz, die Zuwanderung von Flüchtlingen gesellschaftlich zu einer Gefahr und Bedrohung zu stilisieren.111 Zwar vollzogen sich bereits in den 1960er Jahren beispielsweise in der Auseinandersetzung um den Erlass des neuen Ausländergesetzes vergleichbare Gefährdungsdebatten, die als Vorläufer dieden zugänglichen Beständen des Bundespräsidialamtes findet sich jedoch anders als in denen des Kanzleramts kein Vermerk zu den inoffiziellen Gesprächsterminen über die Aufnahme chilenischer Flüchtlinge mit Frenz. 109 Vermerk über Chile und Gespräch mit Bischof Frenz, 12. 12. 1973 (BArch Koblenz B136/ 6242). 110 Vgl. Lenski, Spaltung, 29 f. 111 Vgl. Poutrus, Zuflucht, 879 f.

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ser Entwicklung gelten können.112 Die sich im späteren Verlauf der westdeutschen Asyldebatte verfestigende Ausformung zweier konträrer Standpunkte zur Frage der Aufnahme und Anerkennung von Flüchtlingen lässt sich in der Auseinandersetzung um die Chilenen aber besonders prägnant beschreiben.113 Der Aufruf des ÖRK zur Hilfe für die Verfolgten hatte vor allem den Schutz der Menschenrechte beschworen.114 Auch Helmut Frenz setzte in seinen persönlichen Statements christlichen und menschenrechtlichen Universalismus gleich und legitimierte so den Einsatz für die Verfolgten sowie seine Forderungen nach einer Aufnahmeaktion der Bundesrepublik.115 Die aufzunehmenden Menschen wurden als bedrohte Opfer präsentiert. Eine Karikatur im „Sonntagsblatt“ über den Terror der Junta gegen politische Gegner im November 1973 setzte beispielsweise auf die Darstellung der Verfolgten als wehrlose Opfer und zugleich auf die Skandalisierung der Untätigkeit der zusehenden Staaten. Die Zeichnung präsentierte einen von Junta-Soldaten mit Bajonetten niedergestochenen und am Boden liegenden Mann, dem eine die Weltgemeinschaft symbolisierende Erdkugel mit in die Ferne gerichtetem Blick den Rücken zuwandte.116 Doch während die Solidaritätskampagne versuchte, universelle Prinzipien wie die Menschenrechte anzuführen, unterstellten ihre Gegner angesichts des politischen Kontexts und der in Teilen der Solidaritätsbewegung präsenten sozialistischen Einflüsse, dass es sich hierbei um eine ideologisch einseitige Aktion handele. Ihre Heterogenität machte die Chile-Solidarität in diesem Kontext angreifbar. Auf diese Weise konnten kritische Stimmen den scheinbaren Widerspruch zwischen Solidarität mit weltanschaulichen Gesinnungsgenossen und dem Ideal des Menschenrechtsuniversalismus zum Thema machen.117 In Chile wurden den deutschen Pfarrern um Helmut Frenz vorgeworfen, ihr Antrieb sei nicht christliche Nächstenliebe, sondern Hilfe für „ihre ideologischen Freunde“118 aus dem sozialistischen Umfeld. Helmut Frenz wies zwar den Vorwurf, er sei politisch voreingenommen, wiederholt zurück. Er handele ausschließlich als Pastor aus einem christlichen Ethos heraus und lehne es ab, Hilfsbedürftige nach ihrer politischen Einstellung zu fragen.119 Dennoch wurde Frenz zur Zielscheibe für die sich im Herbst 1973 ebenfalls formierenden Kritiker der Aufnahmeaktion, die ihn als „linken Wolf im menschenrechtlichen Schafspelz“120 darzustellen versuchten. Der hamburgische Pastor Friedrich Tute, Vorgänger von Frenz in 112 113 114 115 116 117 118 119 120

Vgl. Schönwälder, Liberalisierung. Vgl. Poutrus, Öffentlichkeit, 108 f. Ausführlich dazu vgl. Kelly, Human Rights, 107–110. Siehe ausführlicher im Unterkapitel „Menschenrechte und Flüchtlingsaufnahme“. Die Rache trifft die Kleinen. In: Sonntagsblatt, 18. 11. 1973, 4. Vgl. Kelly, Coup, 166. Abgespaltene Lutheraner suchen nach Pfarrern. In: epd-ZA Nr. 196, 10. 10. 1975, 1. Der Kritiker der Junta. In: Sonntagsblatt, 7. 7. 1974. Jim nez Botta, Solidarität, 136.

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der Position des Probstes von Chile121, verfasste einen Rundbrief an seine Landeskirche, in dem er die Kampagne der Solidaritätsbewegung scharf kritisierte. Dabei zielte er besonders auf die Positionen von Amnesty International ab. Ausgestattet mit der Autorität des lateinamerikaerfahrenen Pfarrers wandte sich Tute gegen die vom Hamburger Jugendpfarramt organisierte Aktionen zur Unterstützung der Aufnahmekampagne. Dabei verwarf er die verbreiteten Darstellungen der Ereignisse als einseitig und irreführend: Das Militär habe mit seinem Putsch in erster Linie versucht, die parlamentarische Demokratie in Chile zu retten, viele der Widerständler seien zudem linksextreme Fanatiker – entsprechend gäbe es auch keinen Anlass für die Bundesrepublik, ihnen Asyl anzubieten. Tute widersprach auch direkt seinem Nachfolger Frenz und forderte Amnesty International dazu auf, die Flüchtlinge in jene Länder zu bringen, mit denen sie ideologisch übereinstimmten. Seine ablehnende Haltung unterstrich der pensionierte Pfarrer zudem mit kulturellen Vorurteilen und Stereotypen: „Die BRD hat keinen Grund, Terroristen politisches Asyl zu bieten, die mit ihrem am politischen Vorbild des sozialistischen Totalitarismus ausgerichteten Denken Gegner unserer freiheitlichen Demokratie sind. Man darf gewiß sein, daß es sich bei der Aufnahme der Asyl-Suchenden nicht um eine Vermehrung erwünschter Arbeitskräfte handeln würde, sondern um fanatische Missionare einer handfesten östlichen Ideologie, deren missionarischer Eifer potenziert wird durch südamerikanische Mentalität und dem damit verbundenen Temperament.“122

Tutes Referenzen auf eine mögliche Bedrohung durch „sozialistischen Totalitarismus“ und „Missionare einer handfesten östlichen Ideologie“ verdeutlicht, wie stark auch Teile des Protestantismus weiterhin den Deutungsmustern des Kalten Krieges verhaftet waren. Tute stellte die universalistische Rhetorik der Solidaritätsbewegung vor diesem Hintergrund als gefährliche Vertuschung potentieller Bedrohungen durch den totalitären Kommunismus dar. Das Rundschreiben sorgte für Beunruhigung bei den Frenz-Unterstützern, da man ihm durchaus das Potential zusprach, die eigene Glaubwürdigkeit zu beschädigen. Die Diakonie und das Hilfswerk „Brot für die Welt“, die sich beide schon zu einem frühen Zeitpunkt für die Aufnahmeaktion eingesetzt hatten und Helmut Frenz organisatorisch unterstützten, waren ebenfalls von solcher Kritik betroffen. Bei „Brot für die Welt“ beklagten sich Spender über die angebliche Zweckentfremdung der Hilfsgelder für „chilenische Terroristen“. Ein erregter Schreiber drohte damit, kein Geld mehr zu geben, solange die evangelische Kirche ohne eine objektive Beurteilung der politischen Lage

121 Zur Person Friedrich Tute und seiner Tätigkeit als Probst in Chile vgl. Lenski, Spaltung, 21 f. 122 Rundbrief Friedrich Tutes an die Hamburgische Landeskirche, 6. 11. 1973 (ADW Berlin HGSt 9718).

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in Lateinamerika und derart einseitig in der Frage der Chilenen agiere.123 Der Rundbrief des ehemaligen Probsts Tute mit seinen Attacken gegen die Solidaritätskampagne wurde daher von den kirchlichen Einrichtungen intern als eine „delikate Angelegenheit“124 eingestuft, die die Intensität der Zuschriften aus beiden weltanschaulichen Lagern weiter befeuerte. In einem Antwortschreiben an die besonders von der Auseinandersetzung betroffenen Hamburger Diakonie versuchte „Brot für die Welt“ sich in der Reaktion als neutrale und allein dem Humanitarismus verpflichtete Organisation jenseits politischideologischer Auseinandersetzungen zu inszenieren und die Unterstützung des von Frenz gegründeten Komitees positiv als eine urchristliche Aufgabe darzustellen. Der Text referierte explizit auf das christliche Gebot der Nächsten- und Feindesliebe. Man habe sowohl in der Diakonie als auch bei „Brot für die Welt“ immer betont, dass man eine nicht politisch exponierte Organisation sei und die eigene Arbeit nur an der Not der Menschen ausrichte, nicht an deren Religion oder Weltanschauung.125 Als Beispiel wurde angeführt, dass christliche Organisationen sowohl in Nord- wie auch in Südvietnam, quasi zwischen den ideologischen Fronten, Betroffenen auf beiden Seiten helfen würden. Eine Mitarbeiterin des Lateinamerika-Referats der Hilfsorganisation versuchte das Argument zu entkräften, es gäbe in Westeuropa aufgrund der tendenziösen Quellen keine objektive Beurteilung der Lage in Chile: „Wir, die wir außerhalb der Geschehnisse stehen, sollten alle sich widersprechenden Informationen gegeneinander abwägen. Wir sollten zu einer objektiven, nicht nur von Emotionen bestimmten Beurteilung der Vorgänge in Chile beitragen. Wir stehen unter keinem Druck, der es uns verbietet, dem Menschen in seiner Not – sei er politisch orientiert, wie immer er möge – zu sehen. Fanatische Missionare sind sowohl östlicher als auch westlicher Ideologie von Übel. Daß es politische Fanatiker gibt, soll uns nicht daran hindern, diesen plötzlich heimatlos gewordenen Menschen die Hand zu reichen. Es steht einem Christen schlecht an, sich als parteiliches Sprachrohr gebrauchen zu lassen.“126

Auch in der Folgezeit war „Brot für die Welt“ dazu gezwungen, Stellung zum Vorwurf einer radikalen Politisierung zu beziehen. Oft geschah das mit dem Hinweis, dass der Kooperationspartner Amnesty International auch für politische Gefangene in kommunistischen Staaten eintreten würde und der Vorwurf der Einseitigkeit ins Leere laufe.127 Mit der Darstellung der tradierten Position, das Christentum stünde als unparteilicher Akteur über den Inter123 Schreiben von H. Seeliger an Brot für die Welt, 22. 11. 1973 (ADW Berlin HGSt 9718). 124 Schreiben von Gundert an L., Betreff: Hilfe für Flüchtlinge in Chile, 20. 11. 1973 (ADW Berlin HGSt 9718). 125 Ebd. 126 Ebd. Unterstreichung original. 127 Schreiben von R. an Hennig, Betreff: Politisierung von „Brot für die Welt“, 14. 10. 1975 (ADW Berlin HGSt 9718).

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essen und Ideologien der Machtblöcke, gelang es den kirchlichen Einrichtungen jedoch nicht, die aufziehende Auseinandersetzung zu unterbinden oder abzuschwächen. Die Frage nach der Definition politischer Fluchtgründe und der Geltung christlicher Moral bei der Aufnahme der verfolgten Chilenen wurde von konservativen Gruppen zu einer Generaldebatte über die angebliche Linkspolitisierung des Protestantismus erklärt. Diese Auseinandersetzung entzündete sich zumeist wieder am zentralen Protagonisten der Flüchtlingshilfe. Auf der einen Seite war Helmut Frenz durch seinen Einsatz für die Gruppe der bedrohten Chilenen zu einer auch von offizieller kirchlicher und staatlicher Seite anerkannten Person der Flüchtlingshilfe und Menschenrechtsarbeit geworden, deren Glaubwürdigkeit außer Frage stand. Seine Position als Fürsprecher der Flüchtlinge wurde im Herbst 1974 auch symbolisch markiert, als Frenz eine Auszeichnung des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen für seinen Einsatz, den Nansen-Flüchtlingspreis, erhielt.128 Auf der Gegenseite wurde hingegen versucht, Frenz trotz seiner offiziellen Auszeichnungen als Personifizierung eines linksradikalen Irrwegs des Protestantismus darzustellen. Auftritte des in der Studentenbewegung populären Frenz mit Vertretern linker Gruppen wurden als linksextreme Propagandaveranstaltungen diffamiert.129 Seine enge Zusammenarbeit mit sozialistischen Gruppen sowie seine Kritik am bundesrepublikanischen Antikommunismus wurden in einen Widerspruch zu seiner Selbstinszenierung als allein an den Nöten Unschuldiger interessierter Pfarrer gesetzt.130 Am rechten Rand des protestantischen Spektrums wurde Helmut Frenz über Jahre hinweg zu einem regelrechten Feindbild stilisiert. In einem Artikel in der rechtsradikalen „Deutschen Nationalzeitung“ wurde das im Jahr 1975 von der chilenischen Regierung gegen ihn verhängte Einreiseverbot mit Häme kommentiert. Der Verfasser des Beitrags, der NPD-Politiker Werner Petersmann, war ein Theologe aus dem Umfeld der evangelischen Vertriebenenarbeit und der nationalkonservativ orientierten „Notgemeinschaft evangelischer Deutscher“.131 In der Nationalzeitung versah Petersmann Frenz mit der pejorativen Bezeichnung „roter Bischof“ und attackierte die evangelische Kirche unter anderem für ihr Agieren bei der Aufnahmeaktion. Die Bezeichnung der in die Bundesrepublik aufgenommenen Personen als Flüchtlinge fand sich nur in Anführungszeichen. Vielmehr betonte die „Nationalzeitung“, die Kirche habe sich ideologisch einseitig für die Aufnahme von potentiell gefährlichen Kommunisten ausgesprochen:

128 Bischof Frenz empfing Nansen-Medaille. In: Der Tagesspiegel, 15. 10. 1974. 129 Vgl. die innerkatholische Auseinandersetzung über einen Auftritt von Frenz in der katholischen Hochschulgemeinde von Münster: Rupflin, Chile-Solidarität, 207 f. 130 Ähnliche Auseinandersetzungen prägten die Frühphase der westdeutschen Amnesty-Sektion, deren späterer Generalsekretär Frenz wurde. Vgl. hierzu Wildenthal, Language, 76–88. 131 Zur „Notgemeinschaft“ vgl. Lepp, Tabu, 550–556 und 570 f.; Vollnhals, Schatten, 430 f. Zur Person Werner Petersmann vgl.: Boyens, Schuldbekenntnis, 374 FN 1.

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„Das also sind die politisch ,Verfolgten‘ und ,Flüchtlinge‘ des heutigen Chile, die das propagandistisch aufheulende Weltmitleid erfahren. Und eben für diese setzt sich Bischof Frenz mit seinem für sie gegründeten Komitee ein, mit weltweit beachtetem Engagement und dem verliehenen Nansen-Preis. Ist […] diese Vorliebe nicht eindeutig ,rot‘?“132

Die philanthropische Legitimierung der Flüchtlingsaufnahme und die Glaubwürdigkeit ihres Protagonisten wurde mit dem Vorwurf in Zweifel gezogen, Frenz habe sich nicht nur nicht um die Angelegenheiten der chilenischen Mittelschicht gekümmert, sondern er habe zudem trotz seiner eigenen ostpreußischen Herkunft keinerlei Interesse für die Angelegenheiten der evangelischen Vertriebenen gezeigt.133 Dabei wurde nicht nur der Politisierungsvorwurf gegen Frenz in Stellung gebracht, sondern auch versucht, eine Solidaritätskonkurrenz zwischen deutschstämmigen Vertriebenen und Lateinamerikaflüchtlingen zu konstruieren. Wenngleich der nationalkonservative Standpunkt der Notgemeinschaft, deren Aktionsradius bis in die 1964 gegründete NPD hineinreichte, innerhalb des Protestantismus eine marginalisierte Minderheitenposition darstellte, verdeutlicht er, welche Widerstände die Aufnahme der Flüchtlinge weiterhin innerhalb national orientierter Kreise des Protestantismus hervorrief. Die antikommunistischen Legitimationsmuster des bisherigen Flüchtlingsdiskurses ließen sich nicht in einen neuen Konsens über den universellen Schutz vor politischer Verfolgung übertragen.134 Wiederholt wurde in der Auseinandersetzung ein Gegensatz zwischen der Fürsorge der evangelischen Kirche für die ihr als treu verbunden dargestellten deutschstämmigen Aussiedler und Vertriebenen sowie einer als ideologisch verbrämt dargestellten Hilfe für am anderen Ende der Welt lebende radikale Kommunisten konstruiert. Ein empörter Fernsehzuschauer, der deutlich auf seine Herkunft aus evangelischen Aussiedlerkontexten verwies, beklagte sich nach einem Fernsehauftritt von Helmut Frenz in einem Beschwerdeschreiben an die EKD über angebliche linke Propaganda kirchlicher Vertreter: Angesichts der deutschen Teilung und der Gefährdung Europas durch den Kommunismus könne man auf derartige Pfarrer und Bischöfe gut verzichten.135 Differenzierter, wenngleich in der inhaltlichen Stoßrichtung vergleichbar, beurteilte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ den Streit um die Beurteilung 132 Der rote Bischof Frenz. Zur Verweigerung seiner Rückkehr nach Chile. In: Deutsche Nationalzeitung, 28. 11. 1975. 133 Selbst zog Frenz nur selten Vergleiche zwischen der Hilfe für die Chile-Flüchtlinge und die Vertriebenen. Eines der wenigen Beispiele bei denen sich Frenz nur die Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirche in der Vertriebenenintegration bemühte stammt zudem nicht aus einem öffentlichen Kontext, sondern aus dem Briefwechsel mit einem Ministerium. Siehe: Moine, Solidarität, 107. 134 Vgl. Poutrus, Asylum, 130. 135 Schreiben von Dirk K. an die EKD, Betreff: Auftritt von Helmut Frenz im Fernsehen, 8. 10. 1975 (EZA Berlin 87/2257).

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der chilenischen Flüchtlinge am Beispiel der Reaktion der Sozialdemokraten. In einem Kommentar wurde der Solidaritätsbewegung vorgeworfen, mit ihrer schwungvollen Kampagne und übertriebenen Begrüßungsfeiern dem eigenen Anliegen zu schaden, da so erst der Eindruck einer Ungleichbehandlung von Ostblock-Flüchtlingen und verfolgten Sozialisten entstehe: „Was skeptisch stimmt, sind gerade die so überaus herzlich ausgebreiteten Arme für die Chile-Flüchtlinge. Das provoziert die Frage, ob sich in der emphatischen Aufnahme dieser Flüchtlinge nicht ein Bekenntnis zeugt zu dem in Chile misslungenen Versuch, auch über das Fehlen von Mehrheiten hinweg Sozialismus einzuführen.“136

Zeitgleich wurde auch in anderen konservativen Publikationen der Vorwurf laut, antikommunistische Flüchtlinge aus Osteuropa und Afrika seien von der sozialliberalen Regierung jahrelang ignoriert worden, während im Fall Chile plötzlich zahlreiche finanzielle und organisatorische Mittel mobilisiert würden.137 Frenz versuchte in kirchlichen Kreisen auf derartige Vorwürfe mit Verweisen auf die christliche Beistandspflicht für Hilfsbedürftige zu reagieren. Bei einer Pressekonferenz während seiner Europareise im Dezember 1973 beklagte er sich über die auch in christlichen Gemeinden weit verbreitete Ablehnung, die den chilenischen Verfolgten entgegentrete.138 Aber auch damit war es Frenz nicht möglich, die Sicherheitsbedenken von Teilen der westdeutschen Gesellschaft und der Regierung als gänzlich irrelevant zurückzuweisen. Entsprechend versah er sich zunehmend darauf, in Interviews zu betonen, dass die in die Bundesrepublik einreisenden Flüchtlinge nicht unter die Gruppe der radikalen Kämpfer fallen würden.139 Einige Jahre später wich er bei der innenpolitisch heiklen Frage, wie mit Angehörigen der gewaltbereiten marxistischen Gruppe „Movimiento de Izquierda Revolucionaria” verfahren werden sollte, wieder von dieser Strategie ab und berief sich in erster Linie auf die Tatsache, dass diese Personen von den Umständen zur Gewaltanwendung gezwungen gewesen seien und im Exil kein Interesse an politischen Aktionen hätten.140 Deutlich wandte Frenz sich aber 1973 gegen stigmatisierende Begriffe wie „Ostagenten“, „Extremisten“ und „Tupamaros“, die aus der Auseinandersetzung um den deutschen Linksterrorismus stammten und nahtlos in die Flüchtlingsdebatte Einzug fanden. Im Gegensatz dazu versuchte er vor allem, die Hilfsbedürftigkeit der Betroffenen herauszustellen und den christlichen Charakter seiner Hilfsarbeit zu unterstreichen.141 Frenz stellte die 136 Besonders gute Flüchtlinge. In: FAZ, 20. 12. 1973. 137 Ungenügende Hilfe für Ost-Flüchtlinge – Aber für chilenische Kommunisten ist Geld da. In: Bayernkurier, 5. 1. 1974, 5. 138 Die Revolution verzichtet auf Asyl. In: Sonntagsblatt, 23. 12. 1973, 5. 139 Ebd. 140 Vgl. hierzu das Teilkapitel „Politische Flüchtlinge und politische Gewaltanwendung“. 141 „Chile-Flüchtlinge keine Extremisten“ Ausweise nur nach strenger Überprüfung / Bischof Frenz wendet sich gegen „Diskriminierungen“. In: FAZ, 14. 12. 1973.

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Hilfe aus christlicher Motivation als per se neutral da. In einem weiteren Interview bemühte er das biblische Gleichnis vom barmherzigen Samariter, um seine eigene Position zu legitimieren. Das Flüchtlingskomitee wie auch die Kirche in Chile seien keinen expliziten Gegner der Militärjunta, sie wollten ausschließlich Menschen helfen die „unter die Räder gekommen“142 seien. In der Retrospektive beschrieb Frenz die kirchlichen Aktivitäten für die Flüchtlinge in diesem Zeitraum als eine authentische christliche Erfahrung, bei der er sich als selbstwirksamer Teil einer handelnden Kirche habe fühlen können.143 Die Spaltung entlang der Bewertung der Flüchtlingsgruppe und deren Motiven blieb ein anhaltendes Thema für die evangelischen Chile-Unterstützer. Wenngleich es Frenz immer wieder gelang, politisch nicht exponierte Unterstützer für die Kampagnen zu gewinnen, stieß er weiterhin auf Vorbehalte. Als er nach 1976 mit einem neuen Verein von der Bundesrepublik aus für die Unterstützung politisch Verfolgter in Chile werben wollte, gelang es ihm zwar durchaus, prominente Schirmherren zu gewinnen. Neben dem für das Thema exponierten Helmut Gollwitzer, den christlichen Hochschulgemeinden und Amnesty International wurden bekannte Persönlichkeiten wie Heinrich Albertz, Heinrich Böll und Jürgen Habermas Unterstützer seines neuen Aktionskomitees.144 Mit einer gewissen Ernüchterung bilanzierte Frenz jedoch in einem Schreiben an die neuen Schirmherren, dass es ihm nicht gelungen sei, über den Kreis der üblichen Namen aus dem linksintellektuellen Milieu hinauszukommen.145 Auch in seiner späteren Position als Generalsekretär der westdeutschen Amnesty-Sektion sah sich Frenz vor der Herausforderung, den universalistischen Anspruch der Menschenrechtsorganisation gegen den Vorwurf der ideologischen Einseitigkeit zu verteidigen.146 Schande für die Bundesrepublik? Flüchtlingshilfe als Lehre aus der Geschichte Die Debatte um die Flüchtlingsaufnahme vollzog sich auch als eine Auseinandersetzung um die deutsche Vergangenheit. Einzelne Unterstützer der Chile-Solidarität erklärten die Flüchtlingsaufnahme zu einer notwendigen Konsequenz aus den Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus. Ein prominenter Vertreter dieses Standpunkts war der Helmut Frenz als Lehrer142 Ebd. 143 Besonders plastisch als religiöse und politische Lernerfahrung schildert Frenz die Geschehnisse im Rahmen einer Akademietagung 1976. Siehe hierzu: Evangelische Akademie Bad Boll, Chile Aktuell, 17–19. Ähnlich beschreibt er dies auch in seinen Memoiren: Frenz, Chile, 240. 144 Rundbrief von Helmut Frenz an die Schirmherren der Aktion zur Befreiung der politischen Gefangenen in Chile e.V., 7. 9. 1976 (ELAB Berlin 36/2896). 145 Ebd. 146 Vgl. Jim nez Botta, Solidarität, 136 f. Vgl. zu den Diskrepanzen zwischen Mitgliederstruktur, Selbstverständnis und öffentlicher Wahrnehmung von Amnesty: Eckel, Ambivalenz, 416.

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figur verbundene Theologe Helmut Gollwitzer. Dieser stand im engen Austausch mit der Studentenbewegung.147 Gollwitzer verfasste im Dezember 1973, quasi zur Flankierung der Europareise von Helmut Frenz, einen offenen Brief an den Bundeskanzler und den Bundesinnenminister, den weitere Berliner Professoren unterzeichneten. Gollwitzer empörte sich darin unter Berufung auf das Schicksal deutscher Exilanten über die Zurückhaltung der Bundesrepublik bei der Flüchtlingsaufnahme: „Wir sind ein Volk, das selbst erst vor kurzem die Erfahrung einer grausamen Diktatur gemacht hat, und in dessen politischer Führung sich Männer befinden, die ihr Leben nur der Tatsache verdanken, daß damals anderen Länder bereit waren, deutsche Emigranten aufzunehmen. Wir fordern Sie deshalb auf, der gegenwärtigen Schande der Bundesrepublik ein Ende zu machen und Ihren Behörden die nötigen Anweisungen zu geben […] lateinamerikanische Flüchtlinge aus Chile einreisen zu lassen.“148

Bei der historischen Herleitung einer Pflicht zur Aufnahme von Flüchtlingen wurde auf die Erfahrungen von deutschen Exilanten und nicht auf eine aus den deutschen Kriegsverbrechen und Massenmorden resultierende Pflicht referiert.149 Hier bewegte Gollwitzer sich in einem ähnlichen Rahmen wie die an Bundeskanzler gerichteten Bittschreiben, die Willy Brandt besonders in seiner Rolle als politischen Exilanten adressiert hatten. Der in dem offenen Brief gewählte Leitbegriff der „Schande“ prägte auch die Berichterstattung über Gollwitzers öffentlichkeitswirksamen Appell und sorgte für Widerspruch in der konservativen Publizistik.150 Dieses Beispiel verdeutlicht, dass sich der neue Aufarbeitungsdiskurs der auslaufenden Studentenbewegung und bis dahin das westdeutsche Vergangenheitsbild dominierende Antitotalitarismus unverbunden gegenüberstanden. Gollwitzers Kritiker ließen sich nicht auf das historische Argument ein und betonten die Auslegung des Begriffs politischer Fluchtgründe in den tradierten antitotalitären Deutungsmustern, nicht in der Kategorie einer historischen Lehre. Besonders eindrücklich reagierte der West-Berliner CDU-Vorsitzende Peter Lorenz auf Gollwitzers offenen Brief, indem er die Bedeutung der moralisch-historischen Ebene relativierte. Es ginge gar nicht darum, Zufluchtsuchenden die Hilfe der Bundesrepublik zu verwehren, da im Falle der Chilenen eine große Zahl sozialistischer Länder zur Aufnahme bereit sei und diese für die Betroffenen eine weitaus angenehmere Umgebung darstellen würden.151 Der von der CSU herausgegebene Bayernkurier attackierte Gollwitzer in einem ähnlichen Tonfall und warf ihm vor, mit 147 Vgl. Lepp, Helmut Gollwitzer; Weitbrecht, Aufbruch, 216–226. 148 Offener Brief Gollwitzers an den Bundeskanzler und den Bundesinnenminister, 1. 12. 1973 (EZA Berlin 686/8560). 149 Vgl. zu historischen Bezügen einem anderen Fallbeispiel: Steiner, Arguing, 139. 150 „Der gegenwärtigen Schande der Bundesrepublik ein Ende machen“. In: epd-Berlin Nr. 214, 4. 12. 1973. 151 Berliner Theologe macht sich für Flüchtlinge stark. In: SZ, 5. 12. 1973.

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seinem offenen Brief und seiner Kritik an der westdeutschen Gesellschaft die eigentlichen politischen Fragen zu ignorieren: „Für Gollwitzer mag sich das Problem rein menschlich stellen – in Wirklichkeit ist es wesentlich komplizierter, wesentlich politischer. Das wissen natürlich auch die Bundesbehörden, die in einer nicht unwichtigen Sache überlegter handeln, als es der Allende-Rausch der Bundesregierung vermuten ließe. Aber Gollwitzer sieht die chilenische Situation natürlich auf die schlichte linke Art […]. Man wird also weiterhin sorgfältig überlegen müssen, wo das Asylrecht beginnt und wo es aufhört angesichts der Frage, ob unser Land Allende-Anhänger, darunter eben militante Kommunisten, mit noch großzügigerer Geste zu Tisch bitten sollte.“152

Indem der Bayernkurier die Solidaritätsbewegung mit Bezeichnungen wie Rausch und Schlichtheit belegte, versuchte er, ihren Standpunkt als irrational und naiv darzustellen. In einer anderen Ausgabe wurde in derselben pathologisierenden Metaphorik der westdeutschen Linken ein grassierendes „ChileFieber“153 diagnostiziert. In der Darstellung von konservativen Publikationen handelte es sich bei der Kampagne für die chilenischen Flüchtlinge um eine ganz im Kontext der Systemauseinandersetzung stehende Aktion. Wenngleich die Geltung des Asylrechts nominell akzeptiert wurde, wurde auf dem Standpunkt beharrt, im Falle der Chilenen träfen dessen Voraussetzungen aufgrund der kommunistischen Bedrohung nicht zu. „Kirche kritisiert Verfassungsschutz“154 – Asylrecht und Sicherheitspolitik im Konflikt Die sozialliberale Koalition auf Bundesebene entschied sich trotz der Widerstände der Länder Bayern und Baden-Württemberg für eine Beteiligung an der Flüchtlingsaufnahme. Die Bundesrepublik erklärte sich dazu bereit, als Teil des vom UNHCR organisierten Aufnahmeprogramms im Rahmen eines Kontingents mehr als eintausend Flüchtlinge aufzunehmen, von denen sich viele bereits in die Botschaften westlicher Staaten begeben hatten.155 Unter anderem wegen der Vorbehalte der süddeutschen Bundesländer wurde jedoch zur Überprüfung der Aufzunehmenden eine Kommission mit Vertretern verschiedener Behörden eingesetzt. Diese Maßnahmen ermöglichten es der Regierung, die Einwürfe von Seiten der oppositionellen Unionsparteien teilweise auszuräumen.156 Vor dem Hintergrund der die westdeutsche Ausländerpolitik seit den 1960er Jahren prägenden Entwicklungslinien erschien 152 Keine unbegründete Angst. In: Bayernkurier, 15. 12. 1973, 2. 153 Revolutionäre willkommen. In: Bayernkurier, 22. 12. 1973, 3. 154 Kirche kritisiert Verfassungsschutz. Evangelischer Bischof von Santiago fordert Bonn zu rascher Flüchtlingshilfe auf. In: SZ, 20. 12. 1973. 155 Vgl. Wojak / Holz, Exilanten, 174. 156 Vgl. Jim nez Botta, Foreign Policy, 637.

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diese Praxis konsequent: Die Innenministerien hatten bereits im Falle osteuropäischer Flüchtlinge eine misstrauische Position gegenüber der politischen Betätigung von Ausländern eingenommen.157 Der Aufstieg des Linksterrorismus während der 1970er Jahre verstärkte diese Sicherheitsbedenken besonders gegenüber den lateinamerikanischen Flüchtlingen.158 Zum Politikum avancierte die Beteiligung des Bundesamtes für Verfassungsschutz, das einen Beamten in die Überprüfungskommission entsandte. Die Einbindung des Nachrichtendienstes verdeutlichte die Absicht der Bundesregierung, trotz der humanitären Geste weiterhin die öffentliche Sicherheit im Blick zu behalten und der christdemokratischen Opposition im Bundestag keine entsprechende Angriffsfläche zu bieten.159 Die Unterstützer der ChileKampagne reagierten verärgert und beklagten eine Einschränkung des universellen Asylrechts. Die Folge war eine Skandalisierungskampagne, die sich im bereiteren Kontext der Proteste gegen den sogenannten Radikalenerlass aus dem Jahr 1972 verorten lässt. Auch in der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion gab es Empörung über die Beteiligung der Verfassungsschützer an dem Aufnahmeverfahren und Vorwürfe gegen die eigene Regierung.160 Protestantische Gruppen beteiligten sich ebenfalls an den Protesten. Die saarländische ESG verfasste mit Amnesty und einem weiteren Solidaritätskomitee einen Beschwerdebrief an den Ministerpräsidenten und den Bundeskanzler, in dem die Überprüfung potentiell aufzunehmender Chilenen durch den Inlandsnachrichtendienst als Skandal bezeichnet und jedwede Vorauswahl von Flüchtlingen als illegitim zurückgewiesen wurde.161 Ein Kommentator des „Sonntagsblatts“ bemerkte polemisch, die Prüfungspraxis unter Beteiligung der Verfassungsschützer habe sich wohl ein „überängstliches Bürokratenhirn“162 ausgedacht: Es sei ein Unding, dass Diakonisches Werk und ÖRK wegen der ablaufenden Fristen unter Druck stünden und die Sicherheitsbehörden den Aufnahmeprozess verzögerten. Zudem wurde dort angemerkt, dass es angesichts eines „faschistischen Putsches“ absurd sei, Flüchtlinge als potentielle Linksradikale zu behandeln; auch stelle sich die Frage, ob die Regierungspraxis nicht ein Verstoß gegen den Artikel 16 des Grundgesetzes darstelle.163 Die Involvierung des Verfassungsschutzes in die Aufnahme der verfolgten Chilenen bot vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um den Radikalenerlass die Gelegenheit, den Gegensatz von träger, kaltherziger Bürokratie und der Notwendigkeit dringlicher Hilfe zu bemühen. Mit den Verweisen auf die historischen Ursprünge des Asylartikels 157 Vgl. Schönwälder, Liberalisierung, 134. 158 Vgl. Jim nez Botta, Foreign Policy, 630. 159 Klaus Bade schreibt von einer Kampagne der CDU/CSU gegen die Chile-Flüchtlinge. Vgl. Bade, Europa, 370. 160 Chile-Flüchtlinge: Dampf machen. In: Der Spiegel 49/1973, 99. 161 Studentengemeinde für Aufnahme weiterer Chile-Flüchtlinge. In: epd-ZA Nr. 18, 15. 1. 1974, 2. 162 Verfassungsschützer als Fluchthelfer? In: Sonntagsblatt, 9. 12. 1973, 6. 163 Ebd.

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im Grundgesetz und den Kontext des Putsches der Militärjunta ließ sich diese Kritik zusätzlich untermauern. Zudem konnten die Behörden so als Institutionen dargestellt werden, die gegen den ursprünglichen Verfassungswillen agieren würden. Bürgerliche Zeitungen stellten die Aufregung um die Sicherheitsüberprüfungen hingegen als überzogen dar. In der FAZ wurde betont, dass es keinerlei Zurückweisung sozialistischer Flüchtlinge ohne kriminelle Vorbelastung gegeben habe.164 Ähnlich abwägend äußerte sich die Wochenzeitung „Die Zeit“, deren Kommentator zwar der Kritik zustimmte, dass das Aufnahmeverfahren zu lange dauere, viele der Vorwürfe aber als überzogen zurückwies.165 Hingegen stilisierte die Berichterstattung Helmut Frenz zum Geheimdienstkritiker. Rechtzeitig vor einer Fragestunde zu diesem Thema im Bundestag hatte Frenz in einem Brief Kritik an der Befragungspraxis der Sicherheitsorgane geübt, die mit ihren an Verhöre erinnernden Fragen die Flüchtlinge verunsichern würden.166 Frenz hatte sich zu diesem Zeitpunkt allerdings anders als etwa der Kommentar des „Sonntagsblatts“ differenzierter zu diesem Zusammenhang geäußert. So beklagte er zwar einen an Polizeistaaten erinnernden Stil bei den Befragungen der chilenischen Flüchtlinge durch den Verfassungsschutzbeamten und sprach gegenüber dem „Spiegel“ von „gemeiner Diskriminierung“167, äußerte aber gleichzeitig ein gewisses Verständnis für die Sicherheitsbedenken der Bundesregierung.168 Die „Süddeutsche Zeitung“ setzte Frenz in ihrem Bericht aber mit der evangelischen Kirche gleich und überschrieb ihren Bericht über eine von dessen Pressekonferenzen mit der Titelzeile: „Kirche kritisiert Verfassungsschutz“169. Auch in den Folgejahren blieb das Verhältnis der kirchlichen Unterstützer zu den Anforderungen der Sicherheitsbehörden trotz der funktionierenden Kooperation mit den Regierungsstellen angespannt. Das galt auch noch für die Phase, in der die professionellen Stellen der Diakonieverbände die Basisgruppen bei der Hauptverantwortung für die Aufnahme und Versorgung der Flüchtlinge teilweise abgelöst hatten. Wiederholt betonten die kirchlichen Institutionen ihre Unabhängigkeit von den staatlichen Stellen und proklamierten dabei ein Primat der christlichen Pflicht zur Hilfeleistung über die sicherheitsbürokratischen Anforderungen des Staates. Im Mai 1976 ermahnte das Bundesinnenministerium das Diakonische Werk mittels einer schriftlichen Mitteilung. Das Ministerium beklagte, dass einige Hilfsorganisationen 164 Besonders gute Flüchtlinge. In: FAZ, 20. 12. 1973. 165 Die Chilenen kommen. Nicht alle Vorwürfe gegen das Bonner Prüfungsverfahren stimmen. In: Die Zeit, 7. 12. 1973. 166 Der „dritte Mann“ prüft seit vier Wochen. Flüchtlingsauslese durch den Verfassungsschutz empört SPD-Politiker. In: SZ, 3. 12. 1973. 167 Flüchtlinge: Mal abwarten. In: Der Spiegel 52/1973, 34. 168 Die Revolution verzichtet auf Asyl. In: Sonntagsblatt, 23. 12. 1973, 5. 169 Kirche kritisiert Verfassungsschutz. Evangelischer Bischof von Santiago fordert Bonn zu rascher Flüchtlingshilfe auf. In: SZ, 20. 12. 1973.

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unter Auslassung der von Bund und Ländern verlangten Sicherheitsüberprüfung Chilenen ohne Aufenthaltserlaubnis in die Bundesrepublik gebracht hätten. Deutlich wurde dabei auch von der Diakonie eingefordert, Einreisen von chilenischen Flüchtlingen nur innerhalb der vom Staat festgelegten Verfahren durchzuführen.170 Die Reaktionen aus den einzelnen Diakonie-Landesverbänden waren durchaus unterschiedlich, da durch die Weigerung von Bundesländern wie Bayern, sich an der Aufnahme zu beteiligen, nicht alle Gliedkirchen der EKD von dieser Angelegenheit betroffen waren.171 Ein Landesverband formulierte deutlich seine Vorbehalte gegen die Einbeziehung der Sicherheitsbehörden in das Verfahren der Flüchtlingsaufnahme. Der Diakonie-Verband der Landeskirche Hessen-Nassau leitete aus seinem humanitärchristlichen Anspruch das Recht ab, sich in Ausnahmefällen über die staatlichen Anforderungen hinwegzusetzen. Im Antwortschreiben an das Bundesministerium wurde diese Ansicht selbstbewusst als christliche Verpflichtung dargestellt. Zwar sei man grundsätzlich an einer guten Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen interessiert und stimme in den meisten Punkten überein, jedoch müssten sich Christen in bestimmten Fällen über bürokratische Regeln hinwegsetzen: „Wir sind uns einig, daß in der Regel die Hilfe für die chilenischen Staatsangehörigen mit den dafür zuständigen staatlichen Stellen abgestimmt sein muss. […] Ich möchte aber doch darauf hinweisen, daß es gelegentlich Einzelfälle geben kann, in denen humanitäre oder kirchliche Gesichtspunkte so gravierend sind, daß wir als Christen gezwungen sind, unmittelbar zu handeln und hier evtl. die Situation entstehen könnte, daß die zuständigen Stellen nicht rechtzeitig eingeschaltet gewesen sind. Ich hoffe, daß dies von den Verantwortlichen in unserer Regierung verstanden und akzeptiert wird.“172

Die Bitte um Verständnis für die selbstständige diakonische Praxis verdeutlicht, dass das Verhältnis zwischen christlicher Ethik und den rechtlichen Kriterien des staatlichen Asylregimes in ein nicht auflösbares Spannungsverhältnis gesetzt wurden. Protestantische Einrichtungen wie die Diakonie oder „Brot für die Welt“ nahmen im Fall der chilenischen Flüchtlinge eine Vermittlungs- und Brückenposition zwischen den Behörden und den Basisgruppen der Solidaritätsbewegung ein. Diese Selbstinszenierung als Kooperationspartner des Staates einerseits und Teil einer Bewegung andererseits baute jedoch auf schwer lösbaren Interessenskonflikten auf. Im Kontext der Flüchtlingshilfe setzten protestantische Institutionen zwar auf die enge Ko170 Mitteilung des Bundesinnenministeriums an die Hauptgeschäftsstelle des Diakonischen Werks, Betreff: Aufnahme chilenischer Flüchtlinge in die Bundesrepublik Deutschland, 10. 5. 1976 (ADW Berlin HGSt 9718). 171 Mitteilung der bayerischen Diakonie an die Hauptgeschäftsstelle, 19. 2. 1974 (ADW Berlin HGSt 9718). 172 Mitteilung der Diakonie Hessen-Nassau an das Bundesinnenministerium, 24. 5. 1976 (ADW Berlin HGSt 9718).

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operation mit den Behörden und den Kontakt zu kirchennahen politischen Eliten. Zugleich wurde zunehmend ein Konflikt zwischen rechtsstaatlich-sicherheitspolitischen Kriterien und der christlichen Beistandspflicht diskutiert. Die Distinktion vom staatlichen Migrationsregime und dessen Kriterien trotz der engen Zusammenarbeit mit den Behörden wurde neben dem selbstbewussten Beharren auf der korrekten Beurteilung von Einzelfällen konstituierend für das Selbstverständnis der professionellen Flüchtlingshilfe in der Diakonie. Menschenrechte und Flüchtlingsaufnahme Die Verbindung zwischen dem an Deutungsmacht gewinnenden Menschenrechtsaktivismus und der Aufnahmeaktion für Flüchtlinge wird von den jüngeren Forschungsarbeiten immer wieder betont. Dabei ist zu aber zu beachten, dass die Flüchtlingsaufnahmeaktion selbst nur ein Element innerhalb langwieriger Kampagnen der Chile-Unterstützerbewegung war. Unstrittig sind die Aktionen für die Flüchtlingsaufnahme im protestantischen Kontext als ein Teil eines komplexen und analytisch bedeutsamen Entwicklungsprozesses zu verstehen. Patrick Kelly und Bastiaan Bouwman verstehen die Reaktionen auf die Situation in den Ländern Lateinamerikas in den frühen 1970ern als die entscheidende Zäsur im christlichen Umgang mit den Menschenrechten.173 Ausgehend von den Impulsen des ÖRK hätten christliche Akteure in der Reaktion auf die Ereignisse neue aktivistische Praktiken unter menschenrechtlichem Vorzeichen entwickelt und die Kooperation mit den Kampagnen der Menschenrechtsorganisationen angeregt.174 Seit den 1950er Jahren habe sich das ökumenische Menschenrechtsverständnis von der Fokussierung auf Individualrechte, besonders die Religionsfreiheit, zu einem umfassenderen Konzept sozialer Rechte weiterentwickelt.175 Diese Befunde sind allerdings differenziert zu betrachten. Die Aufnahme von Chilenen in die Bundesrepublik lässt sich nicht ausschließlich unter die Erkenntnisse der neueren Menschenrechtsgeschichte subsumieren, da die Legitimationsstrategien für die Flüchtlingsaufnahme zwar von menschenrechtlichen Argumentationsmustern gerahmt wurden, maßgeblich aber auf andere Begründungsmuster aufbauten. Diese Vielfalt der Argumentationsstrategien ergab sich bereits aus der Pluralität der Chile-Bewegung. Georg Dufner verweist darauf, dass der Kontext der Menschenrechtsverletzungen allein das besondere Ausmaß der Reaktionen auf den Fall Chile in der Bundesrepublik nicht erklären kann und betont, dass Chile unter der Präsident173 Kelly, Human Rights, 97; Bouwman, Religious Freedom, 269. 174 Vgl. Kelly, Human Rights, 111. 175 Exemplarisch für die Forschungsdebatten zu diesem Transformationsprozess: Bouwman, Religious Freedom; Albers, ÖRK.

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schaft Allendes zur Austragungsfläche für innerdeutsche politische Streitigkeiten und die Systemfrage des Kalten Krieges wurde.176 Eine andere der jüngeren Arbeiten zur transnationalen Chile-Bewegung fokussiert sich auf den normativ aufgeladenen Solidaritätsbegriff.177 Ehemals aus der Arbeiterbewegung kommend sei dieser semantisch im Verlauf der 1960er Jahre zu einer „weltumspannenden universalistischen Pflicht“178 erweitert worden. Frank Bösch verweist hierbei auf die enge Verbindung mit den verschiedenen zeitgenössischen Utopien, wie der Umsetzung des Sozialismus, der Menschenrechte und der Stärkung der sogenannten Drittweltländer, die den Begriff anschlussfähig machte.179 Die Person Helmut Frenz und seine späteren Aktivitäten unter anderem als Generalsekretär der westdeutschen Amnesty-Sektion werden von der Forschung unterschiedlich interpretiert. Felix Jim nez Botta nimmt den späten Frenz in seiner Rolle als Generalsekretär als Beispiel, um Kritik an der von Jan Eckel und Samuel Moyn vertretenen These zu üben, der sich im Nachklang der Lateinamerikagruppen entfaltende Menschenrechtsaktivismus habe sich als linker Utopieverlust und Entpolitisierungsprozess vollzogen.180 Patrick Kelly bezieht sich hingegen auf eine zeitgenössisch breit rezipierte Rede Frenz’ vor einem Untersuchungsausschuss der Vereinten Nationen, in der er eine Schlüsselquelle für christliche Adaptionen der Menschenrechte sieht.181 Diese beiden unterschiedlichen Interpretationen müssen nicht zwangsläufig als Widerspruch gewertet werden, da sie sich jeweils auf unterschiedliche zeitliche Abschnitte in Frenz‘ Biographie stützen. Je nach Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand ergeben sich zutreffende Beobachtungen, da sich bei Frenz eine inhaltliche Weiterentwicklung erkennen lässt. Jim nez Botta zielt stärker darauf ab zu belegen, dass die Übernahme menschenrechtlicher Sprache durch die politische Linke keineswegs mit dem von Moyn postulierten Utopieverlust einherging.182 Vor dem Hintergrund der bisherigen 176 Dufner, West Germany, 176. 177 Bösch plädiert dafür, Solidarität nicht als analytische Kategorie, sondern als einen mit bestimmten Perzeptionen und Praktiken verbundenen Quellenbegriff zu verstehen. Ihm zufolge ist Solidarität sozial konstruiert und setze eine Verbundenheit voraus, die durch Handeln erreicht werden soll. Siehe: Bösch, Internationale Solidarität, 10. 178 Ebd., 11. 179 Vgl. ebd., 10 f. 180 Jim nez Botta argumentiert dabei mit den Ergebnissen seiner Forschungen zu den Protesten gegen die Militärdiktatur in Argentinien zu Beginn der 1980er Jahren. Er vertritt dabei die These, dass die Aktivität der linken Protestgruppen aus diesem Zusammenhang die These einer umfassenden Entpolitisierung durch die Kooperation mit Menschenrechtsgruppen nicht belegen kann. Dabei verweist er zutreffend auf mehrere zeitgenössisch für Aufsehen sorgende Äußerungen von Frenz über den bewaffneten Befreiungskampf, die weit über die üblichen Forderungen von Amnesty hinausgingen. Siehe: Jim nez Botta, Solidarität, 150 f. 181 Vgl. Kelly, Sovereign emergencies, 2. 182 Entsprechende Kritik an der These wird anhand neuerer Untersuchungsergebnisse zu linken westdeutschen Gruppen und deren Kooperation mit den Menschenrechtsorganisationen formuliert. Siehe: Jim nez Botta, Solidarität, 123.

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Forschungen zur transnationalen ökumenischen Menschenrechtsdebatte183, die stark auf soziale und kollektive Rechte ausgerichtet war und den wichtigsten Nährboden für die hier untersuchte Entwicklung darstellte, erscheint dieser Befund plausibel. Für Frenz und viele christlich geprägte Akteure der Chile-Solidarität bedeutete die Berufung auf Menschenrechte keineswegs eine Reduzierung auf Minimalforderungen sowie den Verlust von sozialen Utopien. Die von Frenz mitgegründeten Komitees für den Schutz von Verfolgten in Chile definierten ihre Arbeit zwar von Anfang an als Beitrag zum Menschenrechtsschutz.184 Dennoch ist für den speziellen Kontext der Flüchtlingsaufnahme besonders im frühen Stadium zu beachten, dass primär mit einer neutralen Rhetorik agiert wurde, die darauf abzielte, potentielle Opfer von Gewalt und Verfolgung in den Mittelpunkt zu stellen. Mit Blick auf die Ausrichtung der Kampagne auf die westdeutsche Aufnahmegesellschaft erschien diese Strategie folgerichtig. Die Betonung der eigenen Überparteilichkeit sowie das Beharren auf universalistischen Ideen stellten angesichts der politisch polarisierten Bundesrepublik der 1970er Jahre den einzigen Weg dar, um die Aufnahme von Flüchtlingen aus Chile gegenüber einer breiteren kirchlichen wie auch gesamtgesellschaftlichen Öffentlichkeit zu bewerben. In den Monaten nach dem Putsch vertraute Frenz etwa in seinem Schreiben an den Bundeskanzler vor allem auf die drastische Schilderung der Geschehnisse in Chile und deren Rhetorik der Unmittelbarkeit und des Nachempfindens von Leiden. Im Mittelpunkt stand die Präsentation von menschlichen Notlagen. Das Zeugnis von den Verbrechen der Militärjunta, im Brief an den Bundeskanzler drastisch umschrieben als Menschenjagd und Menschenschlachtung in den chilenischen Folterkammern, bildete den Mittelpunkt der Argumentation im Kontext der ersten Flüchtlingsaufnahmeaktionen gegen Ende des Jahres 1973.185 Die Berufung auf legalistisch-abstrakte Menschenrechte, ein konkretes Recht auf Asyl oder weitergehende Konzepte von sozialen Rechten besaß in diesem situativen Kontext keine große Relevanz. Im weiteren Verlauf traten Menschenrechte hingegen nachträglich als die eigene Praxis überwölbender theoretischer Begründungsrahmen hinzu. Damit wurde ein Anstoß für die weitere Institutionalisierung kirchlicher Menschenrechtsarbeit gegeben.186 Im Jahr 1975 hatte Frenz an der für den christliche Menschenrechtsdebatte bedeutenden Vollversammlung des ÖRK in Nairobi teilgenommen.187 Bei späteren Auftritten in der Funktion als Amnesty-Generalsekretär bezog er sich umfassend auf die dort beschlossene

183 Vgl. Albers, ÖRK, 207 f. 184 Vgl. Frenz, Chile, 175 f. 185 Schreiben von Helmut Frenz an Bundeskanzler Willy Brandt, 27. 10. 1973 (BArch Koblenz B136/6242). 186 Siehe hierzu das Unterkapitel „Institutionalisierung der Menschenrechtsarbeit in der Diakonie“. 187 Vgl. Moine, Solidarität, 116 f.

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Menschenrechtserklärung des ÖRK und äußerte sich kapitalismuskritisch.188 Das menschenrechtliche Vokabular verfügte, wie bereits häufiger in Forschungsarbeiten zur Menschenrechtsgeschichte erwähnt, über die für die Aktivisten attraktive Möglichkeit, eine größere Öffentlichkeit anzusprechen und sich intern trotz ideologischer Differenzen auf einen gemeinsamen Begriff verständigen zu können.189 Zweifellos besaßen christliche Bezüge dabei das Potential, die Legitimität dieses Anliegens gegenüber der Gesellschaft zu verstärken.190 Auch gegenüber dem angeklagten autoritären Regime besaßen christlich grundierte Berufungen auf die Menschenrechte den Vorteil, dass sie weniger leicht zu ignorieren waren als andere Proteste.191 Der Fall der Chile-Flüchtlinge verdeutlicht hingegen auch, dass dieser Strategie aufgrund der bereits dargestellten Widerstände und Verdächtigungen von Seiten des konservativen Spektrums enge Grenzen gesetzt waren. Die entpolitisierte Darstellung der Flüchtlingshilfe mit der Fokussierung auf das Schicksal leidender Menschen konnte in der Perspektive der westdeutschen Gesellschaft weder den überwölbenden Kontext des Systemkonflikts noch die Auseinandersetzung um den Terrorismus ausblenden. 3.1.3 Die Chile-Flüchtlinge als Projektionsfläche? Streit um das Idealbild politischer Verfolgung Die Aufnahme der Chile-Flüchtlinge in der Wahrnehmung christlicher Solidaritätsgruppen Kim Christiaens benennt als die grundlegende Stärke der Chile-Bewegung deren Heterogenität, die es ermöglichte, den Solidaritätsbegriff je nach eigenem weltanschaulichem Hintergrund auszufüllen und eine Verbindung zwischen der eigenen Situation in den westlichen Staaten und der Lage der Betroffenen in Südamerika zu konstruieren.192 Ein von ihr zu diesem Thema herausgegebener Sammelband konstatiert dabei durchaus kritisch, dass die westlichen Gruppen allzu oft ihrem nationalen Wahrnehmungskontext und einer eurozentrischen Perspektive verhaftet blieben und trotz des proklamierten Internationalismus und Antiimperialismus von exotisierenden Vorstellungen über das revolutionäre Leben auf dem südamerikanischen Kontinent geprägt war.193 Hinsichtlich der Flüchtlingshilfe lässt sich daher die Frage diskutieren, inwiefern sich diese Erkenntnisse auf die von protestantischen 188 189 190 191 192 193

Frenz, Hafen, 119. Vgl. Jim nez Botta, Solidarität, 151; Kelly, Coup, 177. Vgl. Moine, Solidarität, 103. Vgl. Moyn, Last Utopia, 145. Vgl. Christiaens et. al., Global Perspective, 20 f. Vgl. Dufner, West Germany, 172.

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Akteuren präsentierten Flüchtlingsfiguren im Kontext der Aufnahmeaktionen ab 1973 übertragen lassen. Die Ereignisse in Chile waren zur „Projektionsfläche politischer Konflikte“194 für westliche Gruppen geworden. Die Solidaritätsbewegung verstand sich als Teil einer transnationalen Gemeinschaft mit den Chilenen, in die später auch die im deutschen Exil lebenden Flüchtlinge eingeschlossen wurden.195 Anhänger der Chile-Solidarität idealisierten die Begegnung mit den Exilanten bisweilen und beschrieben ihre Erfahrungen als umfassenden Prozess des Lernens und Bewusstwerdens über globale politische Zusammenhänge.196 Für die beteiligten Gruppen war das Chile-Engagement identitätsstiftend. Im christlichen Kontext wurde Lateinamerika zu einem regelrechten Sehnsuchtsort stilisiert, an dem sich die in der polarisierten Bundesrepublik umstrittene Versöhnung des Christentums und der politischen Linken vollziehen könne.197 Im Jahr 1970 hatte sich in Chile die Gruppierung „Christen für den Sozialismus“ zur Unterstützung Allendes zusammengefunden, deren Gründung auch in der Bundesrepublik etwa von studentischen Gruppen interessiert verfolgt wurde.198 Helmut Gollwitzer sprach bei einem studentischen Teach-in wenige Tage nach dem Putsch über Chile als vorbildlichen Ort der Begegnung von Christentum und Sozialismus. Dort hätten sich beide Weltanschauungen begegnen und zusammenfinden können: „Christen sind Marxisten geworden, ohne aufzuhören Christen zu sein, und Marxisten haben an dieser Bundesgenossenschaft erkannt, daß Christentum auch ein revolutionäres Potential sein kann, nicht notwendig ein reaktionäres Potential sein muß. Das muß Wirkung haben bei uns. Vom Streit der Christen und Marxisten hat bisher nur das Kapital profitiert.“199

Obgleich Chile als Folie für die Utopie eines christlichen Sozialismus fungierte, wurden die Chile-Flüchtlinge von protestantischen Akteuren in der Öffentlichkeit nicht dementsprechend dargestellt. Auch wenn sich solche Projektionen und Idealisierungen hintergründig hielten, wurde angesichts der skeptischen bunderepublikanischen Öffentlichkeit in erster Linie mit dem Bild des von Verfolgung bedrohten Menschen operiert. Für einen Akteur wie 194 Dufner, Chile, 544. 195 Vgl. Rupflin, Chile-Solidarität, 200 f. 196 Vgl. hierzu beispielhaft für die nordamerikanische Chile-Solidarität: Power, U.S. Movement, 64. 197 Noch umfassender lässt sich diese Entwicklung anhand der späteren Nicaragua-Solidarität in den 1980er Jahren ablesen. Vgl. hierzu: Bösch, Internationale Solidarität, 14 f.; Ders., Zeitenwende, 118 f. 198 Vgl. Schilling, Context and Conflict, 281; Weitbrecht, Aufbruch, 335; Moine, Solidarität, 97. 199 Gollwitzer, Helmut: Lehrstück Chile. Schlußwort bei einem teach.in in West-Berlin am 14. 9. 1973 (EZA Berlin 686/8560).

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Helmut Frenz stellte sich diese Situation als strategisches Dilemma dar. Zwar handelte es sich bei dem Personenkreis, der Chile verlassen musste, in erster Linie um politisch Engagierte, die als aktive Personen hätten dargestellt werden können. Aufgrund der Verdächtigungen und des antikommunistischen Klimas hätten solche Flüchtlingsfiguren den Konflikt um die Aufnahmeaktion aber weiter befeuert. Entsprechend wurde in der Frühphase der Aufnahme von chilenischen Flüchtlingen in erster Linie auf Viktimisierung gesetzt. Die Einwände von konservativer Seite, die Aufnahmeaktion würde linksradikale Aktivisten in die Bundesrepublik bringen, ließ sich so mit dem Verweis begegnen, den Aufzunehmenden sei ungeachtet etwaiger politischer Betätigung in der Vergangenheit nur an ihrem Überleben und persönlicher Sicherheit gelegen.200 Ungeachtet dessen bestand innerhalb der Solidaritätsbewegung der Wunsch nach Begegnung und Austausch mit den aufgenommenen Chilenen. Die Aktiven der Chile-Solidarität hatten den Wunsch, von den Erfahrungen der Flüchtlinge zu lernen. Dazu kam es beispielsweise im Rahmen von speziellen Tagungen in evangelischen Akademien. Die Tagungsteilnehmer brachten ihre Bewunderung und ihre positiven Eindrücke über das Zeugnis der chilenischen Referenten sowie das christliche Engagement für politisch Verfolgte vor Ort zum Ausdruck.201 Auf den Tagungen kamen die Betroffenen auch selbst zu Sprache, kritisierten ihre Unterbringungssituation und forderten die Möglichkeit ein, arbeiten zu dürfen.202 Die Wahrnehmung der westdeutschen Gesellschaft und deren Haltung zur Aufnahme der Chile-Flüchtlinge durch die protestantischen Akteure ist in diesem Zusammenhang bedeutend für die Analyse ihrer Identitätskonstruktion und Selbstlegitimation. Sofern die Aufnahmegesellschaft zum Thema gemacht wurde, äußerten sich die Unterstützer der Flüchtlingshilfe dezidiert materialismuskritisch. Damit ließ sich auch die in evangelischen Kontexten verbreitete Skepsis gegenüber der kirchlichen Unterstützung für die Chilenen adressieren. In einer seiner in einem Amnesty-Sammelband verbreiteten Predigten bezeichnete Frenz die Kirche in Deutschland im rhetorischen Gestus der Selbstanklage als korrumpiert von der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Anstelle sich wie in der Bibel gefordert auf die Seite der Schwachen zu stellen, verrate sie bei der Flüchtlingsaufnahme ihren christlichen Auftrag: „Wir aber nehmen Abstand von den Niedrigen und Geringen. Wir gucken von oben herab auf sie, wenn z. B. lateinamerikanische Flüchtlinge um Aufnahme in unsere Länder bitten. Wir halten sie für gefährliche Elemente in unserer Gesellschaft, […] weil sie über unser Sein und unser materialistisches Gehabe ein Urteil 200 Rundschreiben: „Diakonie-aktuell 49/73: Gegen Diskriminierung der Chile-Flüchtlinge“, 14. 12. 1973 (ADW Berlin HGSt 9718). 201 Evangelische Akademie Bad Boll, Chile Aktuell, 30 f. 202 Für entsprechende Ausschnitte aus der Dokumentation zu den Bad Boller Tagungen mit chilenischen Flüchtlingen siehe: Evangelische Akademie Bad Boll, Asylsuchende, 16 sowie 32–34.

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fällen. Können wir wirklich noch meinen, daß wir an ihrem Elend […] unschuldig seien? Unser Wohlstand, auch der Wohlstand unserer Kirchen, ist eben nicht nur das Ergebnis unseres Fleißes, sondern ist das Resultat unserer Teilhabe am ungerechten System unserer Gesellschaft.“203

Die chilenischen Flüchtlinge fungierten in diesem Kontext als Medium der Gesellschaftskritik. Für den Prediger Frenz bedeutete Kritik an der westdeutschen Gesellschaft in erster Linie Materialismuskritik. Anders als in der Debatte der 1950er Jahre wurde die Flüchtlingsaufnahme hier aber nicht mit antikommunistischen Motiven begründet. Im Gegenteil beklagte Frenz ihn nun als Grund für die voreingenommene Haltung der Mehrheitsgesellschaft. Frenz beklagte auch eine voreingenommene Haltung der Westdeutschen zum Sozialismus, die sich mit der Kritik der materialistischen Konsumgesellschaft verband. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk im Jahr 1976 nahm er Anstoß an einem „irrationalen, unkontrollierten und fanatischen Antikommunismus“204, der es unmöglich mache, über die Schuld des Westens gegenüber der Dritten Welt zu sprechen. Die Wohlstands- und Konsumkritik als Topos protestantischer Gesellschaftskritik im Kontext der Flüchtlingshilfe stand in einer Kontinuität zu den volksmissionarischen Deutungsmustern der frühen Bundesrepublik. In den frühen 1970er Jahren war sie besonders für die an Deutungsmacht gewinnende christliche Dritte-Welt-Bewegung attraktiv. Seit den 1960er Jahren war das in den christlichen Kirchen präsente Thema Dritte-Welt-Hilfe verstärkt politisch aufgeladen worden und hatte sich so zu „einem effektiven Medium der Kritik westlicher Gesellschaften durch westliche Linke“205 entwickelt. Die Pflicht zur Aufnahme von Flüchtlingen und die Verbundenheit mit dem Geschehen in entfernten Weltregionen wurden von der Chile-Hilfe im kritischen Kontrast zu einer desinteressierten und konsumorientierten Mehrheitsgesellschaft eingefordert. Ökumenische Solidarität und Elemente des antiimperialistischen Internationalismus gingen dabei eine Verbindung ein. Politische Flüchtlinge und politische Gewalt Die in der Frühphase der Flüchtlingsaufnahme 1973/74 angewandte Strategie, die chilenischen Flüchtlinge zu viktimisieren und ihre politische Betätigung möglichst auszuklammern, ließ sich über die Folgejahre nicht durchhalten. Die Debatte um die Aufnahme überschnitt sich vermehrt mit der Frage, wie die Anwendung von Gewalt zu politischen Zwecken beurteilt werden sollte.206 203 Frenz, Hafen, 117. 204 Manuskript Radiointerview mit Helmut Frenz vom 12. 3. 1976 (BArch Berlin-Lichterfelde DO 4/3563). 205 Grossbölting, Nächsten- zur Fernstenliebe, 251. 206 Die Frage nach der Beurteilung politisch motivierter Gewaltanwendung aus christlicher Per-

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Mit dem Aufkommen der Diskussion, ob Flüchtlinge aus gewaltbereiten politischen Gruppen aufgenommen werden sollten, mussten sich auch Helmut Frenz und die westdeutsche Unterstützerszene mit den Grenzen des Begriffs politischer Verfolgung auseinandersetzen. Die Kritik an der Beteiligung des Verfassungsschutzes an den Sicherheitsüberprüfungen hatte hierfür nur den Ausgang dargestellt. Für die sozialliberale Regierung in Bonn, die nach dem Wechsel des Bundeskanzleramts von Willy Brandt zu Helmut Schmidt in dieser Frage zunehmend restriktiver agierte, stellte sich dieselbe Herausforderung.207 Mit der Bejahung von Gewalt als Mittel für die Durchsetzung des Sozialismus war im Verständnis staatlicher Akteure der Bundesrepublik die Grenze des Begriffs politischer Verfolgung erreicht. Vor dem Hintergrund der Terroranschläge der RAF wurden viele Begriffe der Solidaritätsbewegung und der Menschenrechtsorganisationen zu Reizwörtern für die konservative westdeutsche Öffentlichkeit. Bereits der von Amnesty verwendete Begriff „politischer Gefangener“ war in der Bundesrepublik besonders konnotiert und umstritten, da er auch von RAF-Sympathisanten beansprucht wurde.208 Schon bei ersten Kontakten vor dem Putsch hatte es in der Frage, ob sich die vielfach verwendete Bezeichnung mit der Bejahung von Gewaltanwendung vertrage, Konflikte zwischen den EKD-Stellen und der kooperierenden Menschenrechtsorganisation gegeben.209 Die Auseinandersetzung entzündete sich an der Frage nach dem Umgang mit Mitgliedern des „Movimiento de Izquierda Revolucionaria” (MIR), einer auch als Guerillagruppe operierenden Partei, die während der Regierung Allende in Chile legalisiert worden war.210 Diese von der Verfolgung durch die Junta besonders betroffene Gruppierung hatte sich einer revolutionär-sozialistischen Agenda verschrieben und war aufgrund ihrer Haltung zur Gewaltfrage in Westdeutschland besonders umstritten.211 Auch unter den chilenischen Exilanten in der Bundesrepublik selbst war die Positionierung zur MIR nicht einhellig.212 Das Eintreten von Aktivisten der Chile-Solidarität für die Aufnahme von MIR-Angehörigen gegen Mitte der 1970er Jahre trieb die schwelende Auseinandersetzung erneut auf die Spitze. In der Frühphase war die Aufnahme von MIR-Mitgliedern von Seiten der Sicherheitsbehörden noch

207 208 209 210 211 212

spektive wurde im westdeutschen Protestantismus in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre im Kontext des Linksterrorismus, des Anti-Rassismus-Programms des ÖRK und der Befreiungskämpfe in afrikanischen Ländern ebenfalls kontrovers diskutiert. Zur umfassenden Kontextualisierung vgl. Widmann, Wandel, 385–474. Umfassend hierzu: Jim nez Botta, Solidarität. Vgl. Moine, Solidarität, 107 f. Vgl. ebd. Vgl. Weitbrecht, Aufbruch, 334–336. Zur Programmatik und globalen Vernetzung der MIR vgl. Christiaens et. al., Global Perspective, 15 f. Vgl. Christiaens et. al., Global Perspective, 26 f.

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verhindert worden, ihre Situation und prominentere Einzelfälle wurden aber wiederholt von Aktivisten thematisiert, insbesondere von Fürsprechern aus der SPD.213 Frenz beschreibt in seinen Memoiren, dass er erst mit der anhaltenden Zuspitzung der Situation in Chile und durch die Begegnung mit Betroffenen mehr Verständnis und Sympathie für das revolutionäre Anliegen des MIR gewonnen habe.214 Seit dem Jahr 1975 trat auch Frenz in der Öffentlichkeit zur Unterstützung bedrohter Chilenen aus dem MIR-Umfeld auf und geriet dadurch unter Rechtfertigungsdruck. Die Positionierung in dieser Frage war angesichts der polarisierten Öffentlichkeit heikel. Für den nach seiner Ausweisung aus Chile wieder in der Bundesrepublik weilenden Frenz stellte dies bei seinen zahlreichen öffentlichen Auftritten jedoch kein Hemmnis da. Frenz kritisierte den Umgang mit den Flüchtlingen und beklagte die in seinen Augen eklatante Benachteiligung der Opfer faschistischer Regime gegenüber antikommunistischen Flüchtlingen.215 Ein Interview mit den Lutherischen Monatsheften geriet zu einer Abrechnung mit einer restriktiven und vorurteilsbeladenen Stimmung der westdeutschen Gesellschaft bei der Kategorisierung von politischen Fluchtgründen. Auf die Frage des Interviewers, welchen „Geist“ Frenz in der Gesellschaft sehe, antworte dieser: „Dahinter verbirgt sich natürlich die Meinung, daß die Militärdiktatur in Chile nicht so schlimm sei wie die Diktatur des Proletariats; daß Pinochet besser als Stalin sei. Wer sein humanitäres Gewissen noch nicht hat verschütten lassen unter einem Berg irrationaler antimarxistischer Propaganda, der sollte – auf dem Boden unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehend – zu der Erkenntnis gelangt sein, dass es sich in beiden genannten Fällen um Verbrecherregime handelt und dass deren Opfer gleicherweise von uns angenommen werden sollten. Das ist leider bei uns nicht der Fall. […] Wer sich heute in Chile für einen bewaffneten Widerstand gegen die Militärdiktatur einsetzt, wird bei uns als ,Extremist‘ und ,Terrorist‘ eingestuft […].“216

Trotz des Einflechtens von Begriffen wie der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ geriet das Werben für die Angehörigen des MIR und die gleichzeitige Pflege des eigenen neutralen Images zu einer Gratwanderung. Auf die Frage nach seinem Verhältnis zum Marxismus und zu sozialistischen Gruppen antworte Frenz, zwar kein Kommunist zu sein, aber jede Hilfe „für die Sache des leidenden Menschenbruders“217, egal welcher politischen Couleur, zu begrüßen. Seine Kritiker nahmen derartige Äußerungen erneut zum Anlass, seine Glaubwürdigkeit und damit die gesamte Flüchtlingsaufnahme zu 213 Vgl. Jim nez Botta, Foreign Policy, 637 f. 214 Frenz, Chile, 239 f. 215 Bundesrepublik soll Aufnahmequoten für Chile-Flüchtlinge erhöhen. In: epd-ZA Nr. 47, 8. 3. 1976, 6. 216 „Ich darf nicht nachgeben“. Gespräch mit Helmut Frenz. In: Lutherische Monatshefte 3/76, 156. 217 Ebd.

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diskreditieren. Frenz’ zahlreichen Auftritte und Äußerungen auf dem Höhepunkt der Diskussion über die Aufnahme der MIR-Angehörigen um die Jahreswende 1975/76 zielten in erster Linie darauf ab, die Aufnahmekriterien als eurozentrisch darzustellen. Der Relativierungstopos218 wurde fester Bestandteil seiner Redebeiträge, so auch bei einem Auftritt als geladener Gastredner auf dem SPD-Bundesparteitag. Dort appellierte Frenz an die Parteitagsdelegierten: „Ich kann Ihnen mit ganz festem Gewissen sagen: Lassen Sie die Kriterien, die Sie hier im Lande haben, für das, was Sie Extremismus, Terrorismus, Anarchismus nennen und legen Sie sie nicht automatisch an lateinamerikanische Flüchtlinge an! Ich kenne nicht einen politischen Flüchtling […] in Chile, der mit dem Wunsch in die Bundesrepublik käme, hier die innere Sicherheit zu zerstören. […] Wir müssen unsere Kriterien und unser Gewissen schärfen.“219

Neben den zahlreichen Appellen an das Gewissen verlegte sich Frenz in seiner Ansprache vor den Parteitagsdelegierten auf die Forderung, ausschließlich humanitäre Kriterien anzulegen. Die sicherheitspolitischen Kriterien der Bundesregierung versuchte er im weiteren Verlauf der Rede zusätzlich mit einem Verweis auf das Vorgehen der nationalsozialistischen Justiz zu relativieren: Die sicherheitspolitischen Maßstäbe der Junta an die Flüchtlinge anzulegen, sei vergleichbar damit, Fälle aus der Nazi-Zeit mit den Unterlagen des Volksgerichtshofpräsidenten Freisler zu beurteilen.220 Der Rekurs auf die Verbrechen des Nationalsozialismus war ein häufig im Rahmen des Menschenrechtsaktivismus wiederkehrendes Element zur Deutung der Situation und Legitimierung des eigenen Handelns.221 Frenz nutze den Vergleich mit dem Terror des Dritten Reiches beziehungsweise dem Widerstand gegen das NS-Regime mehrfach in diesem Kontext, um die Ausweitung des Begriffs der politischen Verfolgung durch historische Referenzen zu stützen. Um positive Konnotationen aus protestantischer Perspektive zu bemühen, forderte er dazu auf, die Mitglieder des MIR nicht mir der RAF, sondern mit dem Widerstandskreis um den Theologen Dietrich Bonhoeffer zu vergleichen.222 An anderer Stelle bezog er sich auf das Widerstandsrecht des Grundgesetzes und versuchte, die Aktionen der MIR als Kampf gegen eine Tyrannenherrschaft darzustellen.223 Wenngleich die bis zur Diffamierung reichende Kritik aus der konservativen Publizistik nicht nachließ, wurde der aus Chile verbannte Frenz von 218 Zum Relativierungstopos in Migrationsdiskursen vgl. Wengeler, Topos, 330. 219 Die Rede von Helmut Frenz auf dem Mannheimer Parteitag. In: SPD-Informationsdienst Kirchenfragen – Evangelischer Bereich, 15. 12. 1975, 20. 220 Ebd. 221 Vgl. Eckel, Ambivalenz, 401. 222 Helmut Frenz: Projektentwurf Patenschaftsprogramm zur Betreuung und Befreiung politischer Häftlinge in Chile, 1. 5. 1976 (EZA Berlin 2/20195). 223 Pressedokumentation des Lutherischen Weltbundes, Oktober 1976 (ADW Berlin HGSt 9718).

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Menschenrechtsaktivisten in der Bundesrepublik als besonders glaubwürdig wahrgenommen.224 Im November 1976 trat er das Amt des Generalsekretärs von Amnesty International in Westdeutschland an.225 Doch nicht nur der protestantische Akteur Frenz gewann im Zuge der Debatte an Einfluss. So setzte die SPD angesichts der Debattenlage auf die evangelische Kirche als Garanten für die Ausweitung des Begriffs der politischer Fluchtgründe.226 Die Zusammenarbeit zwischen Partei und Kirche ging so weit, dass der Parteivorstand aus Furcht davor, seitens der Unionsparteien in der Auseinandersetzung um die Mitglieder des MIR als Wegbereiter des Radikalismus dargestellt zu werden, vertraulich um kirchlichen Beistand in der Öffentlichkeit bat.227 Von der Unterstützung durch die evangelische Kirche erhoffte man sich eine Entschärfung des Konfliktes. Durch die christliche Markierung des Themas Flüchtlingsaufnahme sollte es dem tagespolitischen Deutungskampf mit den Unionsparteien entzogen werden. In einem internen Vermerk wurde das Anliegen der Sozialdemokraten an die EKD entsprechend beschrieben: „Man wünsche sich jedoch, daß dann, wenn durch die SPD die Angelegenheit in der Öffentlichkeit angestoßen und die ganze Radikalenfrage erneut diskutiert würde, Kirchenmänner da wären, die vom christlichen Standpunkt aus klarmachten, daß die Aufnahme von Verfolgten und Bedrohten christliche Pflicht sei und ohne Rücksicht auf deren politische Haltung zu erfolgen habe.“228

Der kirchlich gut vernetzte Sozialdemokrat und Protestant Jürgen Schmude, zu diesem Zeitpunkt Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium, hielt Rücksprache mit der Führungsebene des Diakonischen Werks über die Positionierung in dieser Angelegenheit.229 Dabei erbat er im Namen der Bundesregierung öffentliche „Schützenhilfe“ der EKD für weitere Forderungen nach der humanitären Aufnahme von Chilenen.230 Schmude setzte sich anschließend trotz zahlreicher Widerstände aus dem Auswärtigen Amt und der Unionsfraktion für eine Aufnahme von einer zahlenmäßig kleinen Gruppe MIR-Angehöriger ein.231 Dabei stimmte er sein Vorgehen eng mit dem Diakonischen Werk und dem Bevollmächtigten der EKD ab.232

224 Vgl. Jim nez Botta, Solidarität, 137; Moine, Solidarität, 117. 225 Vgl. Claudius / Stepan, Amnesty International, 294 f. 226 Zur Kooperation zwischen SPD und evangelischer Kirche in diesem Kontext vgl. den entsprechenden Abschnitt im folgenden Teilkapitel. 227 Vertraulicher Aktenvermerk für Präsident Schober, Betreff: Anruf Rüdiger Reitz / SPD – Chileflüchtlinge, 24. 2. 1976 (ADW Berlin HGSt 9718). 228 Ebd. 229 Aktenvermerk für Präsident Schober, Betreff: Aufnahme von Chile-Flüchtlingen, 29. 1. 1975 (ADW Berlin HGSt 9718). 230 Ebd. 231 Vgl. Jim nez Botta, Foreign Policy, 638 f. 232 Schreiben von PStS Jürgen Schmude an Oberkirchenrat Kalinna, Betreff: Entschließung des Diakonischen Rats, 2. 4. 1976 (EZA Berlin 87/2258).

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3.1.4 Zwischen Bundeskanzleramt und Basisgruppen. Politische Einflussnahme, neue Protestformen und Institutionalisierungsprozesse Der folgende Abschnitt widmet sich erneut dem Schwerpunkt der politischen Einflussnahme in der Frage der Aufnahme und Anerkennung chilenischer Flüchtlinge und greift dabei verschiedene bereits ausgeführte Aspekte wieder auf. Beginnend mit der konventionellen politischen Beteiligung am Beispiel der Parteien, insbesondere der SPD, sowie der Kooperation mit den Basisgruppen innerhalb der Solidaritätsbewegung werden die Interaktionen und Netzwerke zwischen protestantischen Institutionen und Akteuren mit der Regierungspolitik und sozialen Bewegungen abgehandelt. Den Abschluss bildet das Unterkapitel zur Institutionalisierung von Menschenrechtsarbeit und Flüchtlingshilfe. Seit an Seit – Sozialdemokraten und Protestanten machen Flüchtlingspolitik Während der Kanzlerschaft Brandts unterstützte die Sozialdemokratie offen die Aufnahme chilenischer Flüchtlinge. Brandts Amtsnachfolger Helmut Schmidt ging hingegen vor dem Hintergrund seines Vorgehens gegen den Linksterrorismus im Inland sehr viel weniger auf die Anliegen der Solidaritäts-Aktivisten ein.233 Unabhängig von der Kanzlerschaft gab es in der SPD unterschiedliche Strömungen. Während sich besonders die von den Ausläufern der Studentenbewegung geprägten Jungsozialisten stark mit dem Thema identifizieren, agierte der pragmatische Flügel der Partei angesichts der Regierungsverantwortung und der Polarisierung der westdeutschen Öffentlichkeit zurückhaltender.234 Die SPD war somit ähnlich wie die Gewerkschaften und die Kirchen im Umgang mit der Chile-Solidarität mit einer großen Binnenpluralität konfrontiert. Vergleichbar mit den 1950er Jahren, als sich die DDR-Flüchtlingspolitik zum Feld der Annäherung und Kooperation entwickelt hatte, kam es nun im Falle der Chile-Flüchtlinge zu einer bis zu vertraulichen organisatorischen Absprachen reichenden Kooperation, wie schon im letzten Abschnitt anhand des Beispiels der MIR-Angehörigen gezeigt. Besonders Helmut Frenz avancierte auch in SPD-Kreisen zu einer Identifikationsfigur. Auf die prominenten Empfänge im Bundeskanzleramt wurde bereits verwiesen. Im sozialdemokratischen Pressedienst wurde die Person Frenz und das christliche Engagement für die Chilenen ausführlich gelobt; anlässlich der vom Pinochet-Regime verweigerten Rückkehr von Frenz nach Chile sprach die Pressemitteilung der SPD sogar im Superlativ von

233 Vgl. Jim nez Botta, Foreign Policy, 628 f. 234 Vgl. ebd., 635.

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einem „Weltskandal“235. Wenig später folgte Frenz’ Auftritt als Redner auf dem SPD-Parteitag im Dezember 1975, bei dem er unter lebhaftem Beifall für die Aufnahme weiterer Chilenen in die Bundesrepublik warb.236 In einer mit dem rhetorischen Auftreten eines Predigers durchaus vergleichbaren Sprache appellierte Frenz an die Delegierten, dass eine staatstragende Regierungspartei wie die SPD auch auf „die Stimme des Gewissens hören“237 solle. Willy Brandt würdigte in seiner Funktion als Parteivorsitzender den Auftritt des prominenten Pfarrers mit den Worten, dieser habe für die Partei bekräftigt, dass man „eine besondere Antenne für das haben müsse, was man politische Verfolgung nennt“238. Frenz galt für religionsskeptische Sozialdemokraten als Garant für eine neue Kooperation zwischen evangelischer Kirche und Partei. Im Zuge der Diskussion um die Aufnahme von MIR-Angehörigen erwähnte der zuständige Referent des Parteivorstands, dass die Person Frenz mit ihrem Einsatz die Glaubwürdigkeit der evangelischen Kirche aus Perspektive der Partei besonders gefördert habe.239 Neben Jürgen Schmude hatte in diesem Zusammenhang auch der ehemalige Bundesminister Erhard Eppler eine Scharnierfunktion zwischen dem Protestantismus und der sozialdemokratischen Partei. Der baden-württembergische SPD-Landeschef forderte intern eine noch vehementere Positionierung der EKD und des Ratsvorsitzenden in der Angelegenheit der Chile-Flüchtlinge.240 Mit dem württembergischen Abgeordneten Karl-Hans Kern, einem evangelischen Pfarrer aus Epplers Landesverband, gab es für die evangelische Kirche zudem einen direkten Ansprechpartner in der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion. So bat etwa der Direktor von „Brot für die Welt“ den Abgeordneten Kern vertraulich um die Einreichung einer parlamentarischen Anfrage zum Schicksal politischer Gefangener in Chile.241 Eine gegenläufige Entwicklung gab es hingegen mit Blick auf die Unionsparteien. Prominentes Beispiel für den sich entwickelnden Konflikt war der kirchlich engagierte CDU-Politiker Kai-Uwe von Hassel, ehemaliger Ministerpräsident und Bundestagspräsident.242 Hassels Kritik an der Haltung seiner Landeskirche zur Aufnahme von Chilenen in sein Heimatbundesland wurde 235 Chile-Junta jagt einen Christen. Der Fall des Bischofs Frenz wird zum Weltskandal. In: SPDPressedienst, 15. 10. 1975, 3 f. 236 Die Rede von Helmut Frenz auf dem Mannheimer Parteitag. In: SPD-Informationsdienst Kirchenfragen – Evangelischer Bereich, 15. 12. 1975. 237 Ebd., 19. 238 Willy Brandt in seiner Schlußansprache. In: SPD-Informationsdienst Kirchenfragen – Evangelischer Bereich, 15. 12. 1975, 17. 239 Vertraulicher Aktenvermerk für Präsident Schober, Betreff: Anruf Rüdiger Reitz / SPD – Chileflüchtlinge, 24. 2. 1976 (ADW Berlin HGSt 9718). 240 Aktenvermerk für Präsident Schober, 28. 1. 1975 (ADW Berlin HGSt 9718). 241 Schreiben von Hans-Otto Hahn an MdB Karl-Hans Kern, 26. 8. 1975 (ADW Berlin HGSt 9718). 242 Vgl. Stoltenberg, Hassel.

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von der dortigen Kirchenleitung öffentlich zurückgewiesen.243 Besonders angespannt war das Verhältnis zur CSU, die in der Lateinamerikapolitik eine zur Chile-Solidarität diametral gegenläufige Richtung verfolgte. Die Christsozialen pflegten Kontakte zum Pinochet-Regime und versuchten sich mit dem Thema als antikommunistischer Garant politischer Stabilität zu profilieren.244 Die innerchilenischen Gegner von Helmut Frenz suchten daher auch gezielt den Kontakt zur CSU.245 Im „Bayernkurier“ wurde der Einsatz der Solidaritätsbewegung für die Chile-Flüchtlinge mit einem pejorativen Einschlag kommentiert.246 Frenz wiederum lieferte sich noch in den späten 1980er Jahren öffentliche Auseinandersetzungen mit Franz Josef Strauß, die ihren Ursprung in dieser Phase hatten.247 Teil einer Bewegung? – Flüchtlingshilfe zwischen Aktivismus und Amtskirche Protestantische Akteure kooperierten jedoch nicht nur mit der regierenden SPD, sondern agierten auch in der heterogen aufgestellten Chile-Solidaritätsbewegung. Vertreter aus kirchlichen Kontexten übernahmen dabei häufig tragende organisatorische Funktionen innerhalb der gegenüber Hierarchien skeptischen Bewegung. Gemeinden und kirchliche Verbände stellten den Gruppen ihre Räumlichkeiten zur Verfügung oder brachten mithilfe ihrer involvierten Hauptamtlichen organisatorische Kompetenzen ein.248 So initiierte etwa die ESG West-Berlin Abendveranstaltungen und Spendenaktionen mit Vertretern aus SPD und Gewerkschaften zum Thema Chile-Flüchtlinge und politische Verfolgung.249 Im Ruhrgebiet organisierte die örtliche evangelische Jugendreferentin ein Chile-Solidaritäts-Workcamp mit der Unterstützung von katholischen, studentischen, gewerkschaftlichen und kommunistischen Gruppen.250 Eine in der ESG Köln mit Helmut Frenz geplante Abendveranstaltung zur Lage in Chile wurde in Kooperation mit kommunistischen Gruppen organisiert.251 Die evangelischen Basisgruppen wurden in der Frage der Flüchtlingsaufnahme in mehrfacher Hinsicht aktiv. Sie beteiligten sich im Vorfeld an den 243 Landeskirche wehrt Hassel-Kritik ab. „Warnung vor der Aufnahme von Chile-Flüchtlingen unbegründet“. In: epd-ZA Nr. 235, 5. 12. 1975, 6. 244 Vgl. Dufner, Chile, 546. 245 Vgl. Moine, Solidarität, 115. 246 Revolutionäre willkommen. In: Bayernkurier, 22. 12. 1973, 3. 247 Frenz: Strauß verharmlost schlimmste Verbrechen. In: epd-ZA Nr. 151, 11. 8. 1987, 3. 248 Vgl. die Darstellung zur Chile-Solidarität in Münster und der Bedeutung der dortigen christlichen Hochschulgemeinden: Rupflin, Chile-Solidarität. 249 Schreiben von Ausländerreferent Ton V. an Bischof Kurt Scharf, 21. 2. 1976 (ELAB Berlin 36/ 2896). 250 Schreiben von Synodaljugendreferentin Ingrid H. an Helmut Gollwitzer, 18. 9. 1978 (EZA Berlin 686/8560). 251 Vgl. Löwenthal, Studentengemeinden, 96.

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Protesten und nach der Aufnahme bei der Unterstützung aufgenommener Chilenen. Während der Debatte um die Flüchtlingsaufnahme forderten einzelne Gruppen mit Nachdruck von den Kirchenleitungen Positionierung und Einsatz für die Flüchtlinge ein. Nicht nur die bei der Abfassung von offenen Protestschreiben routinierten Hochschulgruppen, sondern auch Dekanatsund Kreissynoden und einzelne Kirchengemeinden wandten sich in Briefen an den Bevollmächtigten oder den Rat der EKD, um auf öffentliche Interventionen für Menschenrechts- und Flüchtlingsschutz sowie eine Erhöhung der Aufnahmequote zu dringen.252 Das Eintreten lokaler Gruppen für Flüchtlingsaufnahme und Menschenrechtsschutz war auch Ausdruck eines in der Konsequenz von Individualisierungsprozessen entwickelten emanzipativen Bewusstseins.253 Einzelne engagierte Gruppen und Personen forderten unter Umgehung der konventionellen Hierarchien und unter Berufung auf ihr christliches Gewissen kirchliche Stellen dazu auf, in der Sache der Flüchtlinge unmittelbar tätig zu werden. Aktionsformen und Deutungsmuster von linken Aktivisten, Amnesty-Gruppen und evangelischen Gemeinden diffundierten innerhalb der Chile-Bewegung.254 Beispielsweise forderte eine rheinländische Kreissynode in Folge eines Gastvortrags eines Amnesty-Referenten unter besonderer Berufung auf die christliche Verantwortung vom Bevollmächtigten der EKD, in dieser Sache tätig zu werden.255 Die Zusammenarbeit amtskirchlicher Einrichtungen mit den Aktivisten, Aktionsgruppen und Menschenrechtsorganisationen gestaltete sich nicht immer reibungslos. Das galt bereits für den Protagonisten Frenz: Der für die Interessenvertretung in Bonn zuständige Bevollmächtigte der EKD beklagte sich über dessen mangelnde Kooperation mit den etablierten kirchlichen Strukturen der Interessenvertretung gegenüber den Ministerien und äußerte sich intern erbost über Frenz’ eigensinnigen Umgang mit seinem Büro.256 Von anderen Institutionenvertretern gab es zudem Klagen über die Zusammenarbeit mit den Gruppen der Solidaritätsbewegung. Besonders in der Frühphase des Chile-Hilfskomitees kam es zu Konflikten. In der württembergischen Landeskirche gab es beispielsweise Beschwerden über einen Tübinger Chile-Hilfsverein, der ungefragt die Anschrift der kirchlichen Wohlfahrtsverbände auf seine Flugblätter hatte drucken lassen.257 Das selbstbewusst252 Exemplarisch: Schreiben des Gemeinderats der ESG Münster an den Bevollmächtigten HansGeorg Binder, 17. 5. 1977; Mitteilung von Superintendent Wirths an den Bevollmächtigten Hans-Georg Binder, 6. 6. 1978 (EZA Berlin 87/2258). 253 Vgl. hierzu Lepp, Konfrontation, 385 (am Beispiel der Kirchen und der neuen sozialen Bewegungen) sowie Eckel, Ambivalenz, 418 (am Beispiel Amnesty International). 254 Vgl. Moine, Solidarität, 120. 255 Mitteilung von Superintendent Wirths an den Bevollmächtigten Hans-Georg Binder, 6. 6. 1978 (EZA Berlin 87/2258). 256 Schreiben von Hermann Kunst an das kirchliche Außenamt, 11. 10. 1975 (EZA Berlin 87/ 2258). 257 Aktenvermerk für Pastor Hahn, Betreff: Chilenische Flüchtlinge, 20. 2. 1974 (ADW Berlin HGSt 9718).

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aktivistische Auftreten der Solidaritätskomitees sowie deren weltanschauliche Heterogenität machte diese für viele kirchliche Mitarbeiter nicht zu natürlichen Verbündeten. Die Beschwerden sowie ablehnenden Äußerungen über die politischen Motive der involvierten Gruppen schlugen im Tübinger Fall derart hohe Wellen, dass sich die Hauptgeschäftsstelle der Diakonie dazu gezwungen sah, nachdrücklich klarzustellen, dass Amnesty International keine politisch einseitige Ausrichtung vorgeworfen werden könne.258 Hier stellte sich folglich die Leitungsebene der kirchlichen Großeinrichtung hinter die Menschenrechtsorganisation. Insgesamt gut gelang das Ineinandergreifen von Basisbewegung und kirchlichen Institutionen im Fall der evangelischen Akademien.259 Aufgrund ihres Selbstverständnisses als Forum und Begegnungsort gelang es den Akademien, sich als Orte des Kontaktes mit den Basisgruppen und später den chilenischen Exilanten selbst zu etablieren. Arbeitsgruppen auf den Akademietagungen sollten den einzelnen Ortskomitees die Möglichkeit zum überregionalen Austausch bieten und zur Diskussion aktueller Fragen dienen. Auch auf dem Kirchentag in West-Berlin 1977 gab es ein Forum zum Thema Menschenrechte und Chile-Hilfe.260 Auf einer Tagung der Akademie Bad Boll im Jahr 1976 unter dem Titel „Chile Aktuell“ tauschten sich die Teilnehmenden, gerahmt von Vorträgen und einem geistlichen Programm, in Kleingruppen zu den Themen „Christliches Engagement“, „Menschenrechte“, „Politische Flüchtlinge“ und „Integration von Flüchtlingen“ aus.261 Akademietagungen für die betroffenen Flüchtlinge und deren Exilgemeinschaften ergänzten das Angebot.262 Neben der Diakonie als dem relevanten sozialpolitischen Akteur etablierten sich die Akademien mit den im Rahmen ihrer Veranstaltungen entstandenen Publikationen und ihren Kontakten zu den sozialen Bewegungen der Flüchtlingshilfe und Menschenrechtsarbeit als die wichtigsten flüchtlings- und asylpolitischen Foren innerhalb des Protestantismus. An die erprobten Veranstaltungsformate und Netzwerke ließ sich später in der Phase anhaltender öffentlicher Präsenz des Themas Asylpolitik und Flüchtlingsarbeit in den Folgejahren nahtlos anschließen.

258 Aktenvermerk für Pastor Hahn, Betreff: Hilfe zur Integration chilenischer Flüchtlinge, 12. 3. 1974 (ADW Berlin HGSt 9718). 259 Grundsätzlich zur Bedeutung der Akademien für die Vernetzung des Protestantismus mit sozialen Bewegungen in den 1970er Jahren vgl. Mittmann, Akademien, 105. 260 Veranstaltungsplakat für den Kirchentag 1977 „Kooperation Menschenrechte Lateinamerika“ (BArch Koblenz B138/33517). 261 Evangelische Akademie Bad Boll, Chile Aktuell. 262 Evangelische Akademie Bad Boll, Asylsuchende, 7 und 16.

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Institutionalisierung der Menschenrechts- und Flüchtlingsarbeit in der Diakonie Für das Diakonische Werk ergaben sich im Zeitraum zwischen 1973 bis 1977 ebenfalls bedeutende organisatorische und inhaltliche Veränderungen. Ausschlaggebend hierfür war zu Beginn die enge Kooperation mit den Gruppen der Chile-Solidarität. 1975 wurde in Frankfurt unter dem Dach des dortigen Diakonieverbands die sogenannte Gesamtdiakonische Koordinierungsstelle eingerichtet und mit einer ehemaligen Amnesty-Mitarbeiterin besetzt.263 Die Arbeit der Projektstelle sollte vor allem die schnelle Aufnahme von besonders gefährdeten Flüchtlingen in die Wege leiten und die Aufnahmeprozeduren beschleunigen.264 Die Stelleninhaberin war vor allem für die Prüfung von Einzelfällen und die Koordination der Zusammenarbeit von kirchlichen und staatlichen Stellen sowie den zahlreichen Initiativen zuständig.265 Dabei wurde insbesondere auf eine enge Kooperation mit Amnesty gesetzt.266 Zur Einrichtung dieser zwischen Bewegung und Wohlfahrtsverband angesiedelten Projektstelle trug der sich in der EKD verfestigende Wunsch nach einem Ausbau der Menschenrechtsarbeit innerhalb der kirchlichen Strukturen bei. Mittauschlaggebend für die Konzeption einer Menschenrechtsstelle unter dem Dach der evangelischen Kirche war die ÖRK-Vollversammlung in Nairobi 1975.267 Auf ÖRK-Ebene war ein Menschenrechtsbüro eingerichtet worden, das seine Wurzeln in der 1973 entstandenen „Chile Task Force“ hatte.268 In der EKD wurde Menschenrechtsarbeit durch das Aufgreifen der ÖRK-Konzepte in einer Denkschrift ab 1975 weit oben auf die Agenda gesetzt.269 Im westdeutschen Protestantismus wurden somit die Entwicklung auf der internationalen Ebene nachvollzogen. Innerhalb weniger Monate setzte sich daher die Bestrebung durch, die rudimentär entwickelten Strukturen aus der Chile-Hilfe unter Berücksichtigung des Antirassismus-Programms des ÖRKweiter auszubauen und den Arbeitsfokus über den Kreis der chilenischen Flüchtlinge hinaus auszuweiten. Dabei wurde die bisher geleistete Arbeit für die Aufnahme von Flüchtlingen umfassender als Beitrag zum Schutz der Menschenrechte definiert. Das neue im Diakonischen Werk geplante Men263 Rundbrief der Diakonie an die Gliedkirchen zur Einrichtung der Koordinierungsstelle zur Hilfe für politische Häftlinge in Chile, 2. 7. 1975 (ADW Berlin HGSt 9718). 264 Vorlage Schobers für den Rat der EKD zur Gesamtdiakonischen Koordinierungsstelle, o. D. [Juni 1976] (ADW Berlin HGSt 9718). 265 Bericht über die Arbeit der gesamtdiakonischen Koordinierungsstelle für Chile, September 1976 (ADW Berlin HGSt 9718). 266 Beratungsstelle für chilenische Flüchtlinge. In: epd-ZA Nr. 137, 21. 7. 1975, 2. 267 Sitzungsprotokoll Besprechung über Arbeit der Gesamtdiakonischen Koordinierungsstelle für Chile, 22. 3. 1976 (ADW Berlin HGSt 9718). 268 Vgl. Moine, Solidarität, 119. 269 Vgl. Albers, ÖRK, 205–207.

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schenrechtsreferat übernahm einen Teil der Zuständigkeiten des bestehenden Referats „Wanderungen“, das bisher für Migrationsangelegenheiten zuständig gewesen war.270 Ein entsprechendes Konzeptpapier betonte die enge Verbindung von Flüchtlingsarbeit und Menschenrechtsengagement.271 DiakoniePräsident Schober übernahm diese Konzeptionen und veranlasste ihre Umsetzung.272 Die kirchliche Menschenrechts- und Flüchtlingsarbeit sollte Schober zufolge die theoretischen Überlegungen in praktische Projekte umsetzen.273 Mit dem Jahresbeginn 1977 wurde die bisherige Koordinierungsstelle in ein eigenständiges Referat für politisch Verfolgte und Flüchtlinge innerhalb der Diakonie-Hauptgeschäftsstelle umgewandelt.274 Das einst aus der Chile-Hilfsarbeit entstandene „Pilotprojekt“ sollte in eine feste Institution für Menschenrechtsarbeit innerhalb der kirchlich-diakonischen Aufgabenfelder umgewandelt werden.275 Organisatorisch verortet wurde das Referat in der Abteilung für Ökumenische Diakonie. Zu den Zuständigkeiten wurde ein breites Feld an Aufgaben gerechnet, das von der Hilfe für Flüchtlinge in der Bundesrepublik, der Pflege von ökumenischen Kontakten und konzeptioneller Arbeit bis zur Unterstützung politischer Gefangener in Südamerika reichte.276 Die Zusammenarbeit mit den zuständigen Stellen des ÖRK wurde fortgeführt.277 In dieser breit angelegten inhaltlichen Konzeption wurde die globale Verortung des Themas deutlich. Die Transformation von einem auf den Aktions- und Protestformen einer staatskritischen Bewegung aufbauenden Aktionsbüro in eine professionelle Abteilung des diakonischen Dachverbandes verlief nicht ohne Konflikte. 1976 kam es zu einem Eklat in der Zusammenarbeit mit dem in der Frage der Chile-Flüchtlinge zurückhaltenden Auswärtigen Amt, als von Seiten der Diakonie der Vorwurf erhoben wurde, ein Botschaftsmitarbeiter habe den kirchlichen Verband und seine Einrichtung als „illegales Einwanderungsbüro der kommunistischen Partei“278 bezeichnet. Für einige Beamte waren die Mitarbeiter des Diakonischen Werks aufgrund ihres Agierens sprichwörtlich ein rotes Tuch. Kurze Zeit später warf das Außenministerium dem Diakonischen Werk wiederum vor, falsche und überzogene Behauptungen über die Aufnahmesituation chilenischer Flüchtlinge zu verbreiten.279 270 Aktenvermerk Werner Lottje: Einordnung des Referates „Hilfen für Opfer von Menschenrechtsverletzungen“ innerhalb der Hauptabteilung II, 11. 5. 1977 (EZA Berlin 2/20196). 271 Vgl. ebd. 272 Vgl. Lottje, Einsatz, 318. 273 Vorlage des Diakonischen Werks für den Rat der EKD, o. D. [April 1976] (EZA Berlin 87/2258). 274 Schreiben von Hahn an Regine W., 10. 1. 1977 (ADW Berlin HGSt 9718). 275 Ebd. 276 Vgl. Lottje, Einsatz, 322. 277 Vgl. Diakonisches Werk, Jahrbuch 78/79, 198. 278 Schreiben von Theodor Schober an Hermann Kunst, Betreff: Deutsche Botschaft in Chile, 3. 2. 1976 (EZA Berlin 87/2258). 279 Mitteilung des Auswärtigen Amtes an Kirchenrat Kalinna, Betreff: Entschließung des Diakonischen Rats, 22. 3. 1976 (EZA Berlin 87/2258).

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Mit der Institutionalisierung der zwischen professioneller Verbandsarbeit und sozialen Bewegungen agierenden Menschenrechts- und Flüchtlingsarbeit innerhalb der Diakonie etablierte sich neben der auf Arbeitsmigranten ausgerichteten Ausländerarbeit der EKD eine der für die spätere Flüchtlingsarbeit grundlegenden Einrichtungen innerhalb des Protestantismus. Für institutionelle Akteure stellte der Fall Chile eine Lern- und Erprobungsphase dar.280 Das advokatorische Selbstverständnis und die ausgeprägte Bürokratiekritik waren zwar in der Tradition evangelischer Flüchtlingsarbeit keine Neuerung. Durch die internationalen Einflüsse und die Impulse der sozialen Bewegungen erlangten diese aber neue Relevanz, Überzeugungskraft sowie eine globale Ausrichtung. Durch die Kooperation mit den Chile-Solidaritätsgruppen sowie den sich im Verlauf der 1970er Jahre ebenfalls professionalisierenden Stellen von Amnesty International281 verstärkten sich diese Tendenzen. Die Entwicklungen der Jahre zwischen 1973 und 1976 mündeten in der Etablierung gefestigter Organisationsstrukturen, in der die Flüchtlingsarbeit konzeptionell als Teil eines umfassenderen Menschenrechtskonzepts wie auch der ökumenischen Zusammenarbeit verstanden wurde. Damit dauerten allerdings bestehende Konflikte der kirchlichen Flüchtlingsarbeit an: Innerprotestantisch musste die Diakonie als Institution zwischen den Aktivisten der Solidaritätsbewegung und konservativeren Gemeinden und Kirchenleitungen vermitteln und zugleich im Umgang mit dem Staat einen Mittelweg zwischen Fundamentalkritik und professioneller Kooperation finden.

3.2 Die Kontroverse um die vietnamesischen „boat people“ 1978/79 Die Aufnahme der vietnamesischen Flüchtlinge wurde in den letzten Jahren ebenfalls vermehrt von Forschungsarbeiten thematisiert.282 Ähnlich wie der Fall Chile wird sie als eine Zäsur in der westdeutschen Menschenrechts- und Flüchtlingspolitik bewertet und zudem als Grundlage für die Entstehung einer neuen administrativen Kategorie des „humanitären Flüchtlings“ angesehen.283 Auch wird die große Bedeutung der Medien als Akteuren bei der öffentlichen Mobilisierung für die Hilfskampagnen sowie des strukturellen Wandels der Zivilgesellschaft betont.284 Erneut handelte es sich um eine alle westliche Staaten erfassende Debatte. Neben den USA und Kanada waren in Europa vor allem Frankreich, das Vereinigte Königreich und die Bundesrepublik an der 280 Vgl. Eckel, Lupe, 395 f. 281 Vgl. zur Organisationsentwicklung von Amnesty: Eckel, Ambivalenz, 418–421. 282 Seit 2016 erschienene Aufsätze zu diesem Thema: Merziger, Humanism; Vössing, Competition; Bösch, Engagement; Tran, Responding. 283 Vgl. Kleinschmidt, Aufnahme. 284 Vgl. ebd.

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Aufnahme größerer Kontingente beteiligt.285 In der Auseinandersetzung um die „boat people“ setzten sich viele Entwicklungen fort, die bereits im Kontext der Chile-Kampagne beschrieben wurden. In der Frage der Bewertung der Aufnahmeaktion und der Einschätzung, was unter politischen Fluchtgründen zu verstehen sei, unterschied sich die Situation jedoch diametral von der Auseinandersetzung um die Flüchtlinge aus den Militärdiktaturen Südamerikas. Zugleich markiert die Diskussion um die „boat people“ für viele Forschungsarbeiten den anhaltenden „Durchbruch“ der Menschenrechte und des Humanitarismus. Hingegen hätten die in den späten 1960er Jahren dominierenden sozialistischen und antikolonialen Beschreibungen ihre Deutungskraft eingebüßt. Frank Bösch beschreibt diese Entwicklung mit der eingängigen Formulierung, viele engagierte Deutsche seien bei der Hilfsaktion für die vietnamesischen Bootsflüchtlinge nun vermehrt der Fahne des Roten Kreuzes als der roten Fahne des Sozialismus gefolgt.286 Wie bei den Chile-Flüchtlingen war die Debatte um die Aufnahme vietnamesischer Bootsflüchtlinge die Folge einer umfangreichen und von Fotographien gestützten Berichterstattung, bei der einzelne Pressemedien selbst zu Akteuren wurden und sich an einer Unterstützungskampagne beteiligten.287 Für die Öffentlichkeit war die Hilfeleistung anders als bei den immer wieder unter Radikalismusverdacht stehenden Chilenen wenig kontrovers. Mediale Darstellung und öffentliche Stimmung entsprachen einander. Umfragedaten ließen auf eine positive und offene Einstellung der Bundesbürger zu der Flüchtlingsgruppe schließen.288 Die einzige relevante Ausnahme bildeten hingegen linke Gruppen, die stark vom Protest gegen den Vietnam-Krieg geprägt waren. Diese übten teilweise Kritik an der Hilfsaktion. Damit erlangte die altbekannte Konfliktlinie Ost-West in der Flüchtlingsdebatte erneut an Bedeutung, da verschiedene Akteure anhand des Themas politische Auseinandersetzungen austrugen.289 Diese Kontroverse beschäftigte auch den Protestantismus, der sich in den späten 1970er Jahren neu auf die tiefgreifenden Veränderungen des bundesdeutschen Asylregimes einstellen musste. Hervorzuheben ist der Ausnahmecharakter des Falls der „boat people“. Die Aufnahmeaktionen und die von Medien zuschaugestellte Hilfsbereitschaft standen im Kontrast zu den sich verstärkenden Tendenzen asylpolitischer Abschottung der Bundesrepublik. Eine Untersuchung der Debatten um die Aufnahme vietnamesischer Bootsflüchtlinge muss daher die gegenläufigen Entwicklungen miteinbeziehen und die späten 1970er Jahre als „Scharnierphase“290 und Übergangszeit der westdeutschen Flüchtlingspolitik einordnen. Vgl. Ther, Außenseiter, 256 f.; Beuchling, Vietnamese refugees, 731. Bösch, Engagement, 39. Vgl. ebd., 23 f. Vgl. Cooper, Immigration, 230 FN 174. Eine entsprechende Einschätzung mit Blick auf die vietnamesischen Flüchtlinge äußerte bereits Ursula Münch in den frühen 1990er Jahren: Münch, Asylpolitik, 198 FN 154. 290 Bösch, Zeitenwende, 190.

285 286 287 288 289

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Im ersten Abschnitt wird die asylpolitische Entwicklung der späten 1970er Jahre daher als Kontrastfolie zur Aufnahme der vietnamesischen Flüchtlinge skizziert und die sich im Protestantismus in Reaktion darauf vollziehenden Entwicklungen beschrieben. Die folgenden Unterkapitel befassen sich im Anschluss daran mit den protestantischen Reaktionen auf die Hilfskampagne für die Vietnam-Flüchtlinge. 3.2.1 Reaktionen auf die asylpolitischen Tendenzen der späten 1970er Jahre Weder die Diskussion um die chilenischen noch jene um die vietnamesischen Flüchtlinge war jeweils repräsentativ für die sich in den 1970er Jahren entwickelnde Tendenz der Asyl- und Flüchtlingspolitik in der Bundesrepublik. Besonders die breite Unterstützung der „boat people“ war eine parallel zum restriktiven asylpolitischen Kurs verlaufende Ausnahme. Seit Mitte der 1970er Jahre hatte sich die asylpolitische Ausgangslage weitestgehend unabhängig von den Kontingentaufnahmen verändert. Die Zahl der Flüchtlinge vor allem aus Asien, Afrika und Nahost war deutlich angestiegen.291 Asyl löste die Arbeitsmigration zusehends als ausländerpolitisches Schwerpunktthema auf der Agenda der sozialliberalen Koalition ab.292 Im Jahr 1978 wurde das erste Gesetz zur Beschleunigung des Asylverfahrens verabschiedet.293 Simone Wolken sieht ab diesem Zeitpunkt in der Senkung der Zahl von Asylanträgen aus sogenannten Dritte-Welt-Ländern das wichtigste Ziel der westdeutschen Flüchtlingspolitik.294 Die protestantischen Stellungnahmen zum Thema Asyl in dieser Phase waren geprägt von der Verknüpfung mit dem Themenfeld Arbeitsmigration. Häufig setzten sie darauf, im Gegenzug zu den geplanten Asylrechtsänderungen auf anderweitige ausländer- und flüchtlingspolitische Verbesserungen zu dringen. Im Jahr 1977 nahm wenige Monate nach Werner Lottje in der Diakonie der neue juristische Referent des Bevollmächtigten der EKD, Joachim Gaertner, seine Arbeit auf. Die ersten großen Projekte der Zusammenarbeit der beiden Männer waren die geplanten Gesetzesänderungen zur Beschleunigung von Asylverfahren.295 Dabei konnte auf inhaltliche Vorarbeiten und bewährte Kontakte zurückgegriffen werden. Neben der bereits etablierten evangelischen Ausländerarbeit und deren Strukturen waren neue Erklärungen des ÖRK zur christlichen Verantwortung gegenüber Flüchtlingen von Relevanz für das Aktivwerden der kirchlichen Stellen.296 Lottje hatte bereits in Vgl. Münch, Asylpolitik, 72. Vgl. Herbert, Ausländerpolitik, 263 f. Vgl. Münch, Asylpolitik, 72–77. Wolken, Grundrecht, 369 f. Schreiben von Gaertner an Lottje, Betreff: Modelle für eine Änderung des Asylverfahrens, 13. 10. 1977 (EZA Berlin 87/2280). 296 Ebd. 291 292 293 294 295

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Zusammenarbeit mit dem in der EKD für ausländische Arbeitnehmer zuständigen Oberkirchenrat Jürgen Micksch die intensivere Befassung mit Asylfragen angeregt.297 Zudem bestand weiterhin der Kontakt zu Amnesty, vor allem durch die Person von Generalsekretär Helmut Frenz.298 Der Austausch wurde zudem durch gemeinsame Beratungen mit dem deutschen UNHCRBüro ergänzt.299 Dem Aufkommen der Asylmißbrauchsrhetorik in diesem Zeitraum300 und der Agitation gegen wirtschaftliche Fluchtgründe begegneten EKD- und Diakonievertreter betont sachlich. In den Stellungnahmen wurde zwar anerkannt, dass es vermehrt erfolglose Asylanträge gebe, die Bundesrepublik aber ungeachtet dessen die rechtlichen Verfahren für Antragsstellende schützen müsse.301 Die asylpolitischen Änderungsvorschläge der Bundesregierung wurden vom Rat der EKD zu großen Teilen kritisch bewertet.302 Der Rat fokussierte sich bei seiner Stellungnahme zur geplanten Gesetzesänderung auf die ausländerrechtlichen Komponenten und verlangte Verbesserungen im Aufenthaltsrecht von ausländischen Arbeitnehmern.303 Diese Doppelstrategie prägte auch die Arbeit des Bevollmächtigten der EKD gegenüber der Bundespolitik. Der Jurist Gaertner, der nun für Asylrechtsfragen mitzuständig war, hatte zuvor in einem Bundesministerium gearbeitet.304 Seine Strategie bei der Interessenvertretung für die EKD in Fragen der Asylpolitik setzte entsprechend auf Ausgleich und Gespräch. Das beinhaltete für Gaertner auch, dass die Kirche bei ihrem Eintreten für das Asylrecht anerkennen müsse, dass es eine zunehmende Zahl von aussichtlosen Asylanträgen gebe, hinter denen keine politische Verfolgung stünde.305 Gaertner skizzierte die flüchtlingspolitische Agenda aus Perspektive des Büros des Bevollmächtigten der EKD in einem Kurzbeitrag für einen Sammelband im Jahr 1978 entsprechend: Einsatz für den Erhalt des Asyls als historisch gewachsene humanitäre Institution, Ausweitung der Rechte von bereits in Deutschland lebenden Ausländern, mehr Schutz für Angehörige verfolgter religiöser und ethnischer Minderheiten, zugleich aber Anerkennung des staatlichen Interesses an der Steuerung und Kategorisierung von Migration.306 Im Gespräch mit der SPD-Fraktion äußerte Gaertner etwa erst Verständnis für den politischen Handlungsbedarf, 297 Aktenvermerk von Werner Lottje für Theodor Schober, 30. 11. 1977 (EZA Berlin 87/2280). 298 Vgl. Moine, Solidarität, 118. 299 Schreiben des UNHCR-Büros Deutschland an Joachim Gaertner, Betreff: Beratung Asylsuchender in der Bundesrepublik, 23. 6. 1978 (EZA Berlin 87/2280). 300 Vgl. Wolken, Grundrecht, 45. 301 Schreiben des Diakoniepräsidenten Schober an den Bundesratspräsidenten, 25. 2. 1977. In: epd-Dok 20/77, 9. 5. 1977, 31 f. 302 EKD unterstreicht Bedenken gegen Änderung des Asylrechts. In: epd-ZA Nr. 43, 2. 3. 1977, 1. 303 Auszug aus dem Kommuniqu des Rates der EKD, 26. 2. 1977. In: epd-Dok 20/77, 9. 5. 1977, 28. 304 Vgl. Hessler, Kirche, 375. 305 Mitteilung des Bevollmächtigten der EKD an die Kirchenkanzlei und das Kirchliche Außenamt, Betreff: Neuere Entwicklungen im Asylrecht, 3. 5. 1978 (EZA Berlin 87/2280). 306 Vgl. Gaertner, Asylrecht, 59–62.

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um anschließend zum Ausgleich anderweitige Verbesserungen und Reformen vorzuschlagen.307 Diese Positionierungen wurden von der Ermahnung, historische und verfassungsrechtliche Pflichten zu erfüllen, eingerahmt. Viele der verantwortlichen Akteure erhofften sich durch eine konstruktive Beteiligung an den Reformprozessen der sozialliberalen Koalition umfangreichere Verbesserungen, vor allem in Gestalt der lang angestrebten Reform des Ausländerrechts.308 Im Gespräch mit der oppositionellen Unionsfraktion traten die offiziellen Vertreter der beiden christlichen Kirchen zusammen auf. Bei der geplanten Reform des Asylverfahrens wurde Einverständnis mit dem geplanten Wegfall einer der rechtlichen Berufungsinstanzen in Asylverfahren signalisiert, sofern der Staat im Gegenzug bessere Vorprüfungsverfahren für Asylbewerber garantiere. Während einige Abgeordnete von CDU/CSU in dieser Frage Gesprächsbereitschaft signalisierten, machte der zuständige Fraktionsexperte in der Frage der Ausweitung der Asylgewährung auf Menschen jenseits individueller Verfolgung umgehend klar, dass es hier von Seiten der Union keine im Sinne der Kirchen befriedigende Lösung geben könne.309 Jenseits der auf Ausgleich abzielenden Position der offiziellen EKD-Stellen wurde in anderen protestantischen Kontexten zunehmend eine dezidiert staatskritische Stoßrichtung eingeschlagen. Werner Lottje erklärte die Arbeit seines neuen Diakonie-Referats zu einer unmittelbaren Glaubwürdigkeitsfrage für die Kirche und Diakonie in Deutschland: „Es darf uns nicht genügen, ins überseeische und europäische Ausland für die Bewältigung der weltweiten Flüchtlingsnot enorme Summen von Spenden- und Kirchensteuer-Geldern zur Verfügung zu stellen, und gleichzeitig mit anzusehen, daß Flüchtlinge in unserem Land in zum Teil menschenunwürdigen Verhältnissen (Lagern) leben müssen und ihren beschwerlichen Versuchen der gesellschaftlichen Integration und der Erhaltung der persönlichen und kulturellen Identität ohne zureichende geistliche, rechtliche und soziale Beratung bleiben.“310

Die Stilisierung zur Identitätsfrage stand teilweise im Gegensatz zum moderaten Stil des Bevollmächtigten. Konterkariert wurde die offizielle Strategie der EKD zusehends von aufmerksamkeitserregenden Einzelfällen, die den verschärften asylpolitischen Kurs anhand von individuellen Schicksalen greifbar machte. Immer wieder wurden Einzelfälle abgelehnter Asylsuchender zu „Katalysatoren des Konflikts um Einwanderung“311. Im protestantischen Kontext verdeutlichte der öffentlichkeitswirksame Fall des christlichen Ehe307 Aktennotiz zur Anhörung des Arbeitskreises Innenpolitik der SPD-Bundestagsfraktion über Fragen zum Asylverfahren am 16. 1. 1978, 30. 12. 1977 (EZA Berlin 87/2280). 308 Für einen Überblick über die entsprechenden Forderungen der EKD zu Rechten für ausländische Arbeitnehmer vgl. Micksch, Ausländische Arbeitnehmer. 309 Aktennotiz über Gespräche mit dem Arbeitskreis der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum Thema Asylverfahren, 17. 4. 1978 (EZA Berlin 87/2280). 310 Aktenvermerk von Werner Lottje für Theodor Schober, 30. 11. 1977 (EZA Berlin 872280). 311 Kleinschmidt, Streit, 257.

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paars Shivangulala diese Entwicklung.312 Daniel Shivangulala war in seiner namibischen Heimat aufgrund von politischen Aktivitäten verfolgt worden. Über Kontakte der Vereinigten Evangelischen Mission, einem internationalen Kirchenbund mit Sitz in Wuppertal, kam er in die Bundesrepublik, um dort Asyl zu beantragen.313 Die sich im Umfeld der Vereinigten Mission sammelnden Unterstützer setzten sich mit Nachdruck für die Shivangulalas ein. Der sich über ein Jahr hinweg ziehende Rechtsstreit mit den Behörden rief unter anderem Amnesty und die evangelischen Ausländerpfarrer auf den Plan und führte zu lautstarkem Protest des Missionswerks.314 Die rechtlich umstrittene Abschiebung der Shivangulalas nach Botswana sorgte für großes Presseecho315 sowie für Protest der evangelisch-lutherischen Kirche in Namibia, die großen Schaden für das Ansehen der Bundesrepublik sah.316 Das Missionswerk, das sogar eine Bürgschaft für das Ehepaar übernommen hatte, sparte nicht mit Kritik an den Politikern und der Verwaltung. Die Argumentation der Behörden und der Verwaltungsgerichte, die sich darauf stützte, dass die Shivangulalas vorher in Botswana Asyl erhalten hätten, wurde mit Verweis auf die dortige Lage nicht akzeptiert.317 Die Wuppertaler Mission durchlief im Zuge der Auseinandersetzung in kurzer Zeit eine Entwicklung hin zum Protestaktivismus. Die Diskussion um das Schicksal der Shivangulalas machte auch die tieferliegenden innerprotestantische Konflikte deutlich. Besonders auf Seiten der Kirchenleitungen und der EKD herrschte Verunsicherung über den angemessenen Umgang mit der Angelegenheit. Mitarbeiter des für den Fall zuständigen Düsseldorfer Verwaltungsgerichts, die in kirchlichen Ehrenämtern aktiv waren, empörten sich über die polemischen Angriffe gegen die Justiz und beklagten eine Diffamierung des Rechtsstaats.318 Die Beschwerden fanden schnell den Weg bis zur EKD. Die Kirchenkanzlei sah sich aufgrund des scharfen Tonfalls zu einem Ordnungsruf an die im Fall Shivangulala involvierten Mitarbeiter der rheinischen Landeskirche genötigt.319 In einer Mitteilung wurde rhetorische Mäßigung, eine Entschuldigung der Verantwortli312 Der Fall wurde vom Evangelischen Pressedienst ausführlich dokumentiert. Siehe: Protokoll einer Abschiebung. In: epd-Dok 51/77, 15. 12. 1977, 4–10. 313 Ebd. 314 Pressemitteilung der Konferenz der Ausländerpfarrer zur Abschiebung der Shivangulalas. In: epd-Dok 51/77, 15. 12. 1977, 70. 315 Pressespiegel zum Fall Shivangulala. In: epd-Dok 51/77, 15. 12. 1977, 71–76. 316 Schreiben der evangelisch-lutherischen Kirche in Namibia an die Vereinigte Evangelische Mission, 21. 2. 1978 (EZA Berlin 87/2280). 317 Vereinigte Mission plant Schritte im „Fall Shivangulala“. In: epd-ZA Nr. 229, 15. 12. 1977, 3 f. 318 Mitteilung der Kirchenkanzlei der EKD an die Kirchenleitung der rheinischen Landeskirche, Betreff: Asylverfahren zum Aufenthalt der Eheleute Shivangulala, 3. 1. 1978 (EZA Berlin 87/ 2280). 319 Die Synode der rheinischen Landeskirche hatte sich bereits 1977/78 in öffentlichen Erklärungen für den Schutz des Asylrechts ausgesprochen. Auch Jürgen Schmude war zu diesem Zeitpunkt Synodaler. Vgl. Kaminsky, Kirche, 366–368.

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chen aus der Vereinigten Evangelischen Mission und mehr Respekt vor der Justiz eingefordert. Der Stil der Auseinandersetzung sei für die Kirche unangemessen und schade den eigenen Interessen des aus Sicht der EKD zu aggressiv auftretenden Missionswerks: „Ferner wäre es sicherlich zu begrüßen, wenn kirchliche Amtsträger sich daran gewöhnen würden, in Richtern und Staatsbeamten nicht nur Vertreter einer anonymen und gegnerischen Staatsmacht zu sehen, sondern damit zu rechnen, daß es sich u. U. auch um Persönlichkeiten handelt, die am folgenden Sonntag im Gottesdienst der Gemeinde mit Klingelbeutel und Kollektenteller wieder Opfergaben für die Mission einsammeln.“320

Der ebenfalls involvierte Werner Lottje versuchte die Mitarbeiter der Vereinigten Mission in Schutz zu nehmen: Diese hätten zwar nicht immer professionell agiert und manche Wortwahl sei bedauerlich gewesen, angesichts ihres über ein Jahr gehenden persönlichen Einsatzes für die Shivangulalas sei das Verhalten aber verständlich.321 Der EKD-Ratsvorsitzende versuchte zu vermitteln und schlug eine klärende Aussprache mit dem sich ungehalten gebenden Verwaltungsgericht vor: Die rheinische Landeskirche und das Missionswerk sollten zudem ihre Rhetorik mäßigen und damit aufhören, anhand des Einzelfalls die Rechtsstaatlichkeit in der Bundesrepublik in Frage zu stellen.322 Lottje bilanzierte den Fall Shivangulala entsprechend. Auch wenn kein Erfolg für die Betroffenen erzielt wurde, habe man zumindest mit der Präsentation eines Einzelschicksals angesichts der großen medialen Aufmerksamkeit die Öffentlichkeit bewusster für die Anliegen von Flüchtlingen machen können.323 Auch von den Akteuren selbst wurden die späten 1970er Jahre als Übergangszeit wahrgenommen, in der sich die bestehenden Gruppen der Flüchtlingshilfe neu orientierten und an die gewandelten Rahmenbedingungen anpassen mussten. Sowohl Joachim Gaertner als auch Werner Lottje konstatierten, die neue Öffentlichkeit für das einstige Expertenthema Asyl bringe umfangreiche Herausforderungen mit sich.324 Der politische Druck nahm durch die geplanten Asylrechtsverschärfungen weiter zu. Prominente Einzelfälle wie die Abschiebung der Shivangulalas sowie die durch die neuen Gesetzesentwürfe der sozialliberalen Koalition auf die Tagesordnung gerückten asylpolitischen Einschränkungen und Strukturveränderungen verlangten nach Reaktionen. Dass eine Einrichtung wie die Vereinigte Mission, 320 Mitteilung der Kirchenkanzlei der EKD an die Kirchenleitung der rheinischen Landeskirche, Betreff: Asylverfahren zum Aufenthalt der Eheleute Shivangulala, 3. 1. 1978 (EZA Berlin 87/ 2280). 321 Aktenvermerk von Werner Lottje zum Fall Shivangulala, 5. 3. 1978 (EZA Berlin 87/2280). 322 Mitteilung an die Mitglieder des Rats der EKD, Betreff: Asylverfahren Shivangulala, 4. 4. 1978 (EZA Berlin 87/2280). 323 Aktenvermerk von Werner Lottje zum Fall Shivangulala, 5. 3. 1978 (EZA Berlin 87/2280). 324 Gaertner, Asylrecht, 59.

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die über vielfältige ökumenische Netzwerke in die ganze Welt verfügte, sich im Fall Shivangulala innerhalb eines Jahres teils radikal anmutender Staats- und Justizkritik bediente, verdeutlicht die Bedeutung der globalen Perspektive und der Dritte-Welt-Bewegung für die Entwicklung der Flüchtlingsunterstützerszene innerhalb des Protestantismus. Im Umfeld von Amnesty und den linken Solidaritätsgruppen verortete sich weiterhin ein buntes Spektrum an evangelischen Akteuren. Der politische Systemkonflikt hatte zwar an Deutungsmacht verloren, erlangte jedoch am Ende der 1970er Jahre ein letztes Mal größere Bedeutung, als die Rettung und Aufnahme von Vietnamflüchtlingen zur Diskussion stand. 3.2.2 Ausgangspunkt und Voraussetzungen der Debatte Die jüngere Forschung hat sich intensiv mit der enormen medialen Reichweite des Schicksals der vietnamesischen Bootsflüchtlinge beschäftigt. Die Medien wurden hierbei selbst zu Akteuren der Hilfsarbeit und forderten ihre Leserund Zuschauerschaft direkt zum Spenden und Tätigwerden auf.325 Großen Einfluss hatten die Bilder von den auf Booten im Meer treibenden Menschen, die den Rezipienten suggerierten, an einem bewegenden Ereignis teilzuhaben und darauf zugleich mit ihrem lokalen Engagement reagieren zu können.326 Zwar hatte die Bundesrepublik bereits vor der Aufnahme der „boat people“ Kontingente vietnamesischer Flüchtlinge aufgenommen, auch unter Beteiligung der Diakonieverbände.327 Nachdem aber ab Ende 1978 die Zahl der südostasiatischen Flüchtlinge weiter angestiegen war setzten sich vornehmlich christdemokratische Politiker für deren Aufnahme in die Bundesrepublik ein.328 Den Ausgang hatte die Entwicklung in Frankreich genommen, wo die Geschehnisse in Südostasien aufgrund der kolonialen Vergangenheit mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt wurden.329 In der Bundesrepublik wurde der Journalist Rupert Neudeck mit der von ihm gegründeten Initiative „Ein Schiff für Vietnam“ zum prominentesten Gesicht der Hilfsaktionen. Neudeck hatte nach einem Treffen mit dem in Frankreich für die Aktionen wortführenden Philosophen und Ex-Marxisten Andr Glucksmann einen eigenen Aufruf zur Gründung eines Hilfsprojekts in der Presse veröffentlicht.330 Ein Bericht über die Begegnung Glucksmanns mit dem deutschen Journalisten

325 Vgl. Bösch, Zeitenwende, 196–199. 326 Vgl. Kleinschmidt, Aufnahme. 327 Bundesländer nehmen weitere 1200 Vietnam-Flüchtlinge auf. In: epd-ZA Nr. 190, 30. 9. 1977, 2. 328 Vgl. Bösch, Zeitenwende, 193 f. Zum Hintergrund der Fluchtbewegung in Vietnam vgl. Beuchling, Bootsflüchtling, 46–53. 329 Vgl. Gatrell, Making, 208. 330 Vgl. Vössing, Competition, 350–352.

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wurde auch in den „Evangelischen Kommentaren“ abgedruckt.331 Neudecks Privatinitiative zur Seenotrettung vietnamesischer Bootsflüchtlinge verschrieb sich dem Motiv einer überparteilichen „radikalen Humanität“332. Die neu gegründete Organisation verstand sich als zivilgesellschaftlich; sie agierte ohne staatliche Hilfe, finanzierte sich fast ausschließlich durch Spenden und grenzte sich in ihrem Selbstverständnis auch von den professionellen Hilfsorganisationen ab.333 Neudeck erhielt breite Unterstützung von den deutschen Medien und einigen Intellektuellen. Nach der Veröffentlichung von Bildern eines mit Menschen überladenen und im chinesischen Meer treibenden Schiffes im Spätherbst 1978 drangen zuerst Vertreter der sonst in Fragen der Flüchtlingsaufnahme restriktiv agierenden CDU auf die Aufnahme der Flüchtlinge in die Bundesrepublik. Über das Auswärtige Amt erreichte Neudeck nach langen Verhandlungen die Aufnahme von im südchinesischen Meer geretteten Flüchtlingen in die Bundesrepublik über humanitäre Kontingente.334 Die breite Welle der Unterstützung für die „boat people“ blieb in der Bundesrepublik aber nicht unumstritten. Sozialdemokratisch regierte Bundesländer beklagten, dass die Vietnamesen im Gegensatz zu Flüchtlingen aus Südamerika rasche und unkomplizierte Aufnahme erhielten.335 Um die Bewertung und weltanschauliche Konnotation der Flüchtlingsaufnahme entwickelte sich besonders innerhalb des linken Milieus eine Auseinandersetzung. Anders als in Frankreich, wo auch einflussreiche Linksintellektuelle die Hilfeaufrufe unterzeichnet hatten, stellten in der Bundesrepublik vom Widerstand gegen den Vietnamkrieg geprägte Personen und Gruppen in Frage, ob es sich hier um „echte“ Flüchtlinge handele. Während in anderen Ländern Aktionsgruppen bisweilen auch Kontinuitätslinien zwischen der Hilfe für chilenische und vietnamesische Flüchtlinge zogen,336 folgten in der Bunderepublik Auseinandersetzungen über Solidaritätshierarchien. Die konfessionelle Komponente wie auch die Positionen innerhalb der beiden christlichen Kirchen zu dieser Frage ist von den bisher erschienenen Untersuchungen nur am Rand beachtet worden. Auf den ersten Blick ist auffällig, dass sich die prominentesten Unterstützer der westdeutschen Hilfsaktion recht eindeutig verorten ließen: Bei dem „Schiff für Vietnam“-Gründer Rupert Neudeck, dem CDU-Sozialpolitiker Norbert Blüm, dem Journalisten Franz Alt und dem Schriftsteller Heinrich Böll handelte es sich um exponierte Vertreter des Laienkatholizismus. Neudeck hatte unter anderem katholische Theologie

331 332 333 334 335 336

Die Hälfte kommt an. Die chinesischen Flüchtlinge aus Vietnam. In: EvKo 3/79, 144–146. Merziger, Humanism, 173–176. Vgl. ebd., 174; Vössing, Competition, 345. Vgl. Bösch, Engagement, 30. Vgl. ebd, 20. Vgl. Christiaens, Reconfigurations, 433.

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studiert und war ehemaliger Jesuitennovize.337 Auch gab es eine bildliche Form der unmittelbaren konfessionellen Verbundenheit mit den Vietnamesen. Der Großteil der Betroffenen war zwar buddhistisch oder konfuzianistisch, nur bei einer Minderheit handelte es sich um Katholikinnen und Katholiken.338 Ein Teil der Betroffenen wurde auf den veröffentlichten Bildern dennoch explizit als katholisch markiert und inszeniert. Eine der von Neudecks Organisation verbreitete Fotographie zeigte gerettete Bootsflüchtlinge, die ihre mitgenommenen Heiligenbilder präsentierten.339 Auf protestantischer Seite gab es keine entsprechenden Identifikationen; die Religions- oder Konfessionszugehörigkeit der Flüchtlinge wurde nur selten thematisiert. Die prominenten Protestanten, die Neudecks Hilfsaktion unterstützten, stammten zumeist aus christdemokratischen Kontexten oder waren wie der 1979 amtierende Kirchentagspräsident und ehemalige WDR-Intendant Klaus von Bismarck auf parteipolitische Neutralität bedacht.340 Der Ministerpräsident von Niedersachsen, der Protestant Ernst Albrecht, argumentierte in dieser Frage allgemein mit der christlichen Nächstenliebe und nahm verhältnismäßig unbürokratisch mehrere Tausend Flüchtlinge in seinem Bundesland auf.341 Jenseits von engagierten katholischen Persönlichkeiten und evangelischen Christdemokraten waren auch protestantische Institutionen beteiligt. Zum Höhepunkt der Berichterstattung beteiligte sich auch die kirchliche Publizistik intensiv an der medialen Begleitung der Situation der Bootsflüchtlinge und warb um Spenden und Mitgefühl. Im Sommer 1979 schrieb der Lutherische Weltbund begeistert und mit einem gewissen Erstaunen an seine Kooperationspartner, dass dank der Massenmedien die „fast vergessenen Flüchtlinge inzwischen die bekanntesten Flüchtlinge der Welt“342 geworden seien. Innerhalb weniger Wochen wurden mehrmals Aufrufe wie „Stoppt endlich den Kleinmut!“ und „Wir könnten 50.000 aufnehmen“ neben den Fotos von Flüchtlingsfamilien mit kleinen Kindern auf der Titelseite des „Sonntagsblatts“ abgedruckt.343 Die evangelischen Akademien, die mit ihren Tagungen für Exil-Chilenen bereits entsprechende Foren und Formate etabliert hatten, wandten die erprobten Konzepte nach Ankunft der ersten

337 Zu Neudecks biographischen Prägungen im Kontext seiner Flüchtlingsrettungsaktion vgl. Ther, Außenseiter, 258; Bösch, Engagement, 27. 338 Zu den Überlegungen der konfessionellen Wohlfahrtsverbände zum Umgang mit den religiösen Praktiken der Flüchtlinge bei der Integration vgl. Evangelische Akademie Bad Boll, Vietnamesische Flüchtlinge, 31. 339 Neudeck, Abenteuer, 38. 340 Vgl. Schmid, Intendant. 341 Vgl. Bösch, Engagement, 18–20; ergänzend: Kleinschmidt, Aufnahme. 342 Rundschreiben des LWB an Partnerorganisationen, 7. 8. 1979 (ADW Berlin HGSt 9455). 343 Südostasien: Die Indochina-Flüchtlinge sterben schon zu lange. Stoppt endlich den Kleinmut! In: Sonntagsblatt Nr. 29, 22. 7. 1979, 1; Wir könnten 50.000 aufnehmen. In: Sonntagsblatt Nr. 32, 12. 8. 1979, 1.

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Kontingente auch für die Vietnam-Flüchtlinge an.344 Zudem bildeten sich unterschiedliche kirchliche Basisinitiativen, die beispielsweise Spenden sammelten, um einen Pfarrer zur Unterstützung weiterer Aufnahmebemühungen nach Vietnam zu schicken.345 Große Bedeutung für die Unterstützung der Aufnahme von Bootsflüchtlingen von evangelischer Seite hatte das Diakonische Werk, das in enger Kooperation mit dem Caritasverband bei der Bundesregierung für eine Erhöhung der Aufnahmequoten eintrat.346 Ergänzend zu der bestehenden Referentenstelle zum Themenfeld Menschenrechtsarbeit und politische Flüchtlinge von Werner Lottje wurde in der Diakonie-Hauptgeschäftsstelle eine weitere Stelle für die Unterstützung von Kontingentflüchtlingen geschaffen, die der ehemalige Amnesty-Mitarbeiter Peter von Bethlenfalvy übernahm.347 Häufig zogen protestantische Akteure die im medialen und politischen Diskurs bemühten historischen Referenzen heran. Im „Sonntagsblatt“ wurde mit einer unbestimmten Anspielung auf die deutsche Erfahrung im Umgang mit dem Elend von Geflohenen für eine rasche und unbürokratische Hilfeleistung plädiert.348 Implizit ließ sich damit eine Traditionslinie zu den eigenen Erfahrungen aus der Flüchtlingsarbeit in den 1950er und 60er Jahren herstellen.349 Anders als im Falle der Chile-Flüchtlinge wurden somit nicht nur universalistische Ideale, sondern auch die eigenen konfessionellen wie nationalen Erfahrungen in der Flüchtlingshilfe herangezogen. Diakonie-Präsident Schober erinnerte in einem Namensbeitrag speziell an das Schicksal der Ostvertriebenen und der DDR-Flüchtlinge und unterbreitete das Angebot seines Wohlfahrtsverbands, in Kooperation mit dem Auswärtigen Amt vor Ort Unterstützung bei der Flüchtlingsauswahl und der Bewältigung von Einreisemodalitäten zu leisten. Schober sprach dabei die Identität der Bundesrepublik und ihre christliche Prägung an. So sei die Bundesrepublik als eine Demokratie mit „christlicher Grundverfassung“350 zur Wahrung der Menschenwürde verpflichtet, daher sollten anderweitige Motive bei der Aufnahme von Flüchtlingen keine Rolle spielen. Schober mahnte aber auch, dass man sich neben den medial präsenten Bootsflüchtlingen auch anderen Gruppen zuwenden müsse; es dürfe keine Flüchtlinge erster oder zweiter Klasse geben. Für die Diakonie sei nur die Dringlichkeit der Not relevant, nicht die politische 344 Tagungsprogramm „Vietnamesische Flüchtlinge in der Bundesrepublik“ der Evangelischen Akademie Bad Boll, 1980 (BArch Koblenz B106/68983). 345 Vgl. Bösch, Zeitenwende, 198. 346 Vgl. ebd., 198 f. 347 Aktenvermerk von Peter von Bethlenfalvy für Präsident Neukamm, 30. 6. 1989 (ADW Berlin PB 973). 348 Südostasien: Die Indochina-Flüchtlinge sterben schon zu lange. Stoppt endlich den Kleinmut! In: Sonntagsblatt Nr. 29, 22. 7. 1979, 1. 349 Zu historischen Referenzen im Kontext der Aufnahme der „boat people“ im staatlichen Kontext vgl. Kleinschmidt, Aufnahme. 350 Wenn die Flüchtlinge kommen. In: Sonntagsblatt Nr. 34, 26. 8. 1979, 10.

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Couleur.351 Der Präsident des Diakonischen Werks setzte sich in seinem Text auch mit dem Einwand auseinander, die Rettung von Bootsflüchtlingen stelle einen „Pull-Faktor“ dar, der nur noch mehr Flüchtlinge aufs Meer bringe. Im Stil seiner auf nationale und religiöse Verpflichtung abzielenden Argumentation verzichtete er sogar darauf, die These zu widerlegen, sondern erklärte sie unter Verweis auf den Umgang mit der DDR zu einer notwendigen Nebenfolge der moralischen Glaubwürdigkeit: „Wird darum unsere Aufnahmebereitschaft nicht wie ein Sog wirken, der immer mehr Menschen aus Vietnam auf den lebensgefährlichen Fluchtweg zieht? Aber wir haben keine Alternative! Wir können nicht auf der einen Seite für die Freizügigkeit der Menschen in der DDR plädieren und der Regierung dort den Mauerbau als Unmenschlichkeit vorwerfen, während wir in Vietnam nur für eine Schließung der Grenzen eintreten.“352

Die Vietnam-Flüchtlinge standen so in einer Reihe mit DDR-Flüchtlingen und anderen Opfern kommunistischer Diktaturen. Im Unterschied zu den lateinamerikanischen Flüchtlingen war es für Diakonie in diesem Falle einfacher möglich, historische Bezüge zur eigenen institutionellen Tradition der Flüchtlingshilfe im Rahmen des Kalten Krieges herzustellen und sich als neutrale Organisation zu inszenieren. 3.2.3 „Unsere neuen Nachbarn“ – Eine ökumenische Kampagne für Flüchtlinge Auch im Fall der „boat people“ erhielt der deutsche Protestantismus wichtige Impulse durch den ÖRK. Dieser skizzierte im August 1979 für seine Mitglieder in einem Statement eine umfangreiche flüchtlingspolitische Strategie. So forderte er von den Kirchen, eine Anwaltsrolle („advocacy role“) für Geflüchtete zu übernehmen und sich darüber hinaus für eine Liberalisierung der Aufnahmekriterien gegenüber den heimischen Regierungen einzusetzen.353 In dem Text wurde überdies eine enge ökumenische Zusammenarbeit mit der katholischen Seite angemahnt.354 Die internationalen christlichen Organisationen waren auch an der Schaffung einer weltweiten Öffentlichkeit für die Situation in Vietnam beteiligt. Der ÖRK und verschiedene lutherische Hilfswerke hatten mit Lageberichten über die Situation der Flüchtlinge und die Zustände in den vietnamesischen Lagern Anteil an der Breitenwirkung der Kampagne.355 Von Anfang an war die Arbeit der kirchlichen Wohlfahrtsver351 Vgl. ebd. 352 Ebd. 353 Rundschreiben der WCC-Programme Unit on Justice and Service, Betreff: WCC Indochina Consultation, 9. 8. 1979 (ADW Berlin HGSt 9455). 354 Ebd. 355 Vgl. Gatrell, Making, 205–211.

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bände in Südostasien von ökumenischer Kooperation geprägt. Die Diakonie hatte bereits zu Beginn des Vietnam-Kriegs eine eng mit den Caritasverbänden verzahnte Hilfsarbeit in der Region aufgebaut.356 Sie nutzte hierbei besonders die Strukturen ausländischer Partner, da sie anders als die mit vietnamesischen Katholiken im Kontakt stehende Caritas kaum direkte Ansprechpartner im Land besaß.357 Entsprechend gut aufgestellt waren die konfessionellen Verbände, um sich mit der auf das Kriegsende folgenden Fluchtbewegung und der Integration von Flüchtlingen in Deutschland zu befassen. Dazu kam die Tätigkeit von kirchlichen Entwicklungshilfeorganisationen wie „Brot für die Welt“, die ebenfalls die Lage der Flüchtlinge aufgriffen.358 In der Folge führten Diakonie und Caritas ihre institutionellen Anstrengungen mit einer gemeinsamen und professionell gestalteten Kampagne zur Unterstützung und Integration der vietnamesischen Flüchtlinge zusammen.359 Diese fasste zahlreiche Aspekte der „boat people“-Debatte kompakt zusammen, indem sie das Werben für die Rettung aus Notlagen, die Aufnahme in die Bundesrepublik und die anschließende Integration in die Gesellschaft zusammenbrachte. Die Kampagne entsprach den gestiegenen Anforderungen der Medialisierung und beinhaltete Vorlagen für Handzettel, Plakate, Wandzeitungen sowie Sprachführer.360 Unter dem Titel „Unsere neuen Nachbarn – eine Flüchtlingsfamilie“ warb sie um die Unterstützung der Bevölkerung.361 Visuell setzte die Kampagne vor allem auf die schematisierte Darstellung von überfüllten Booten und im Wasser watenden Menschen.362 Damit wurde nahtlos die geradezu ikonische viktimisierende Darstellung der Medien übernommen. Die Kampagne wollte für mehr Verständnis und Hilfsbereitschaft werben und den Neuankommenden so eine schnelle Integration in die Gesellschaft der Bundesrepublik ermöglichen. Die wichtigste Zielgruppe waren die Kirchengemeinden, die im Gottesdienst und bei Ortsveranstaltungen erreicht werden sollten. Caritas und Diakonie veröffentlichten Arbeitshilfen für ehrenamtliche Kreise zur Unterstützung der Vietname-

356 Die Monographie von Michael Vössing zur westdeutschen Vietnam-Hilfe hat diese Entwicklung der kooperativen Zusammenarbeit der christlichen Wohlfahrtsverbände ausführlich als „kombinierte Vietnamhilfe“ beschrieben. Siehe: Vössing, Humanitäre Hilfe, 287–379. 357 Vgl. ebd., 331 f. 358 Aufruf zum Weihnachtsopfer für Indochina-Flüchtlinge. In: epd-ZA Nr. 233, 1. 12. 1978, 1. 359 Die Kampagne wurde redaktionell vor allem von katholischer Seite aus bearbeitet und betreut und anschließend als gemeinsame Veröffentlichung herausgegeben (Vgl. Evangelische Akademie Bad Boll, Vietnamesische Flüchtlinge, 31.). Das verwendete Bildmaterial stammte von der katholischen Nachrichtenagentur. (Werbeanzeige „Unsere neuen Nachbarn – Eine Flüchtlingsfamilie.“ In: Sonntagsblatt Nr. 34, 26. 8. 1979, 10.). 360 Vgl. Evangelische Akademie Bad Boll, Vietnamesische Flüchtlinge, 31. 361 Unsere neuen Nachbarn – Eine Flüchtlingsfamilie. Hinweise für Partnergruppen. Arbeitshilfe von Diakonie und Caritas, o. D. [1979] (ELAB Berlin 36/2895). 362 Plakat „Unsere neuen Nachbarn – eine Flüchtlingsfamilie“, 1979 (EZA Berlin 513/552).

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sen mit der Bezeichnung „Partnergruppe“.363 Deren Benennung unterschied sich in der Namensgebung deutlich von den aus dem studentisch-sozialistischen Umfeld stammenden Solidaritätskomitees für die Flüchtlinge aus Lateinamerika, wenngleich es sich in der Praxis um ein vergleichbares Konzept für ehrenamtliche Flüchtlingshilfe handelte. Die Kirchengemeinden wurden auch von weiteren begleitenden Aktionen als Hauptzielgruppe in den Fokus genommen.364 Eine gemeinsame ökumenische Kanzelabkündigung an einem eigenen Thementag sollte möglichst viele Ortsgemeinden erreichen. Der von Caritas und Diakonie erarbeitete Text integrierte sowohl die Sprechweisen des medial bekannten Neudeck-Hilfskomitees als auch die Nachbarschaftssemantik der Kampagne. Im Eingangsteil des Textes wurde das Regime in Vietnam kritisiert und die Situation vieler Menschen dort als hoffnungslos und unfrei beschrieben. Die Abkündigung appellierte an die Kirchenmitglieder, sich dem „Gebot der Nächstenliebe“ oder dem „hohen Gut der Humanität“ verpflichtet zu fühlen und den Flüchtlingen in der Bundesrepublik zu helfen.365 Die Begründungsmuster des im Rahmen der Rettungsaktionen proklamierten Konzepts eines „radikalen Humanismus“ und christliche Motive wurden so nebeneinander gestellt und letztlich für identisch erklärt. Der Aufruf sollte in allen Gemeinden beider Konfessionen verlesen werden.366 Die Reaktionen auf die Kampagne waren jedoch geteilt und förderten eine anhaltende innerprotestantische Konfliktlinie zu Tage. Für die protestantische Mehrheit in den Gliedkirchen der EKD war die indirekte Gleichsetzung des Menschenrechtsuniversalismus und des „radikalen Humanismus“ mit christlichen Werten ausgesprochen wirkmächtig. Viele zeitgenössische Reaktionen belegen, dass christliche Akteure diesen Zusammenhang für evident und nicht diskussionswürdig hielten. Die westfälische Landeskirche nahm die Diakonie-Aktion beispielsweise zum Anlass, um mit den rhetorischen Superlativen von unvorstellbarem Leid und Elend eigene Spendenaktionen ins Leben zu rufen und spezielle Gottesdienstkollekten für die Vietnam-Flüchtlinge zu sammeln.367 Die öffentlich präsentierten Flüchtlingsfiguren entsprachen dieser Entwicklung. Während es bei den Chile-Flüchtlingen noch Bemühungen gegeben hatte, die Aufzunehmenden auch als politisch aktive Personen darzustellen und intern bisweilen auch als christlich-sozialistisches Ideal zu zeichnen, dominierte bei den „boat people“ vollständig die Viktimisierung und Entpolitisierung der Flüchtlingsfiguren. 363 Unsere neuen Nachbarn – Eine Flüchtlingsfamilie. Hinweise für Partnergruppen. Arbeitshilfe von Diakonie und Caritas, o. D. [1979] (ELAB Berlin 36/2895). 364 Werbeanzeige „Unsere neuen Nachbarn – Eine Flüchtlingsfamilie.“ In: Sonntagsblatt Nr. 34, 26. 8. 1979, 10. 365 Kanzelabkündigung von Diakonie und Caritas, 14. 8. 1979 (ELAB Berlin 36/2895). 366 Gemeinsame Aktion der Kirchen für Indochinaflüchtlinge. In: epd-ZA Nr. 164, 24. 8. 1979, 2. 367 Rundschreiben der westfälischen Kirchenleitung, Betreff: Hilfe für Vietnam-Flüchtlinge, 23. 7. 1979 (ADW Berlin HGSt 9455).

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Neben dem Übergang zu ökumenischen Aktionsformen in der professionellen evangelischen Flüchtlingshilfe bestand hierin eine der zentralen Entwicklungstendenzen. 3.2.4 Innerprotestantische Auseinandersetzungen um die „boat people“ Angesichts des aufgeladenen Themas Vietnamkrieg blieb entgegen der Erwartungen vieler Akteure der Widerspruch gegen die Kampagne der Diakonie nicht aus. Innerhalb des Protestantismus hatte es bereits seit Beginn des Krieges Unstimmigkeiten über die Vietnam-Hilfsarbeit gegeben. Sowohl von konservativer wie auch linker Seite waren Hilfsprojekte von Diakonie und „Brot für die Welt“ in dem vom Krieg verheerten Land je nach Zielgruppe der Unterstützung in Frage gestellt worden. Im Jahr 1977 hatte sich „Brot für die Welt“ noch innerkirchlich dafür rechtfertigen müssen, auch nach dem Sieg des Vietcongs an Hilfsprojekten in Vietnam festzuhalten.368 Über das Jahr 1979 hinweg entwickelte sich parallel zum medialen Aufstieg von Rupert Neudecks Rettungsaktion eine publizistische Debatte um die Vietnam-Flüchtlinge und die Haltung der politischen Linken.369 Diese Auseinandersetzung erfasste auch den Protestantismus und die Akteure der kirchlichen Flüchtlingsarbeit. Ursächlich dafür waren Positionierungen aus dem Umfeld des von der ausebbenden Studentenbewegung geprägten „Linksprotestantismus“, die sich dagegen verwahrten, das Flüchtlingsthema ausschließlich aus einer humanitären Perspektive zu betrachten und an bestehenden politischen Deutungen festhielten. Damit kam es zu einer im Vergleich zur Auseinandersetzung um die Chile-Flüchtlinge umgekehrten Situation: Nun waren die Unterstützer der verfolgten Südamerikaner dem Vorwurf ausgesetzt, ideologisch eingefärbte Positionen zur Flüchtlingshilfe zu vertreten und einen beschränkten Begriff der politischen Flucht zu besitzen. Der Theaterautor Peter Weiss galt als einer der profiliertesten Kritiker der westdeutschen Linken an der neuen Vietnam-Flüchtlingshilfe. Der Vietnamkrieg als Kernthema linker Protestkultur sowie die Kritik der US-amerikanischen Außenpolitik prägten seine Interpretation der Geschehnisse. Dergestalt blickte Weiss auch auf die Menschen, die Vietnam nach den langanhaltenden Verheerungen des Krieges und dem Sieg des Vietcongs verließen. In Zeitungsund Zeitschriftenbeiträgen rechtfertigte der Schriftsteller die dort eingerichteten Internierungslager als notwendig und beklagte eine angebliche Verunglimpfung der neuen vietnamesischen Regierung.370 Seiner Ansicht nach 368 „Brot für die Welt“ verteidigt Vietnam-Hilfe. In: epd-ZA Nr. 92, 12. 5. 1977, 4. 369 Eine Dokumentation der Debatte ist enthalten in: Neudeck, Wie helfen wir Asien. 370 In der linken Zeitschrift „konkret“ äußerte Weiss sich diffamierend über die vietnamesischen Bootsflüchtlinge und bezeichnete diese als Kollaborateure mit den USA und Kriminelle. Siehe hierzu: Bösch, Engagement, 29.

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handelte es sich mangels staatlicher Verfolgung in Vietnam bei den „boat people“ nicht um Flüchtlinge, sondern um Emigranten.371 Die Äußerungen des Dramatikers sorgten für erregte Reaktionen. Auch innerhalb linker Debattenräume gab es emotionale Kritik. Die westdeutsche Linke unterstützte Ansichten wie die von Peter Weiss keineswegs pauschal und zeigte sich in der Frage gespalten – einstige Ikonen der Studentenbewegung wie Rudi Dutschke und der Schriftsteller Heinrich Böll bekannten sich beispielsweise zu Neudecks Rettungsaktionen.372 Etwa zeitgleich äußerte sich der Theologe Helmut Gollwitzer und trug die Auseinandersetzung damit in den Protestantismus. Gollwitzer hatte sich bereits in den späten 1960er Jahren auf der Seite der Demonstrationen gegen die US-amerikanische Außenpolitik positioniert und eine christliche Pflicht zur Unterstützung der Vietnamkriegsgegner postuliert.373 Im Juli 1979 äußerte er sich abwägend in einer Fernsehsendung, als er die Streichung westdeutscher Entwicklungshilfegelder für die Regierung in Hanoi in einen Kontext mit der Hilfe für vietnamesische Flüchtlinge stellte.374 Zu diesem Zeitpunkt hatte der Theologe noch versucht, jeder der beteiligten Gruppen Inkonsequenzen vorzuwerfen. Die Zuspitzung im protestantischen Kontext folgte auf die ökumenische Kanzelabkündigung, die einen Abschnitt mit unmissverständlicher Kritik an der neuen vietnamesischen Regierung enthielt. Für entschiedene Vietnamkriegsgegner stellte diese Positionierung der kirchlichen Wohlfahrtsverbände einen Affront dar. In der Folge wurde Kritik an der kirchlichen Hilfsaktion laut. In einer schnell verbreiteten persönlichen Erklärung äußerte Gollwitzer, man müsse den Flüchtlingen zwar helfen, stellte dabei aber relativierend und in Anspielung auf die in den Jahren zuvor diskutierte Aufnahme von Chilenen fest, dass die Bootsflüchtlinge aus Vietnam nicht politisch verfolgt seien: „Diese Flüchtlinge sind weder Vertriebene noch Flüchtlinge so wie die lateinamerikanischen Flüchtlinge vor Verfolgung und Folter. Sie fliehen vor den harten Lebensbedingungen, mit denen das ganze vietnamesische Volk beim Wiederaufbau seines durch die amerikanische Kriegsführung verwüsteten Landes zu kämpfen hat.“375

Eine romantisierende Wahrnehmung des Vietcongs als heroischen antiimperialistischen Kämpfern sowie die innerlinke Diskussion um die für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft notwendigen Maßnahmen spielten in diese Positionierung mit hinein. Angesichts der breiten Unterstützung für die Rettung der Bootsflüchtlinge in der bundesdeutschen Presselandschaft 371 372 373 374 375

Vgl. Weiss, Flüchtlinge. Vgl. Bösch, Zeitenwende, 200. Vgl. Weitbrecht, Aufbruch, 221 f. Gollwitzer setzt sich für Vietnam-Flüchtlinge ein. In: epd-Berlin, 25. 7. 1979, 5. Erklärung Helmut Gollwitzers, 24. 8. 1979 (ELAB Berlin 36/2895).

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wurde Gollwitzer so neben Peter Weiss zu einem hervorragenden Ziel für konservative Kritiker, die einen Beleg für die moralische Verkommenheit der westdeutschen Linken suchten. In einem offenen Brief an Neudeck versuchte Gollwitzer sich nach erregten Reaktionen ausführlicher zu erklären: Er habe nichts gegen die Seenotrettungsaktion, er empfinde aber die Ungleichbehandlung von südamerikanischen Flüchtlingen skandalös. Erneut beließ Gollwitzer es aber nicht dabei, die Ungleichbehandlung von Flüchtlingen in Westdeutschland zu beklagen. Wie Peter Weiss äußerte er sich ebenfalls relativierend über die politischen Repressionsmaßnahmen der vietnamesischen Regierung. Zudem verwies er darauf, die Betroffenen seien hauptsächlich Händler und Angehörige der einstigen Oberschicht.376 Wirtschaftliche Einbußen oder Einschränkungen für die vietnamesische Mittel- und Oberschicht fielen in der Perspektive der einstigen Vietnam-Kriegsgegner implizit nicht in den Begriff der politischen Fluchtgründe. Dementsprechend versuchte Gollwitzer in seinen Äußerungen auch die Kategorie Klasse in die Diskussion um den Flüchtlingsstatus einzubinden. Der Berliner Theologe und sein Umfeld operierten dabei mit einem engen Begriff von politischen Fluchtgründen, in diesem Fall nun aus einer sozialismusaffinen Perspektive. Ähnlich wie bei Peter Weiss war für Gollwitzer die Klage über die Differenzierung zwischen den jeweiligen Flüchtlingsgruppen zentral: Das Zugeständnis, man müsse den Flüchtlingen im südchinesischen Meer helfen, wurde jeweils von relativierenden Aussagen flankiert. Indem die Betroffenen als primär ökonomisch motivierte Auswanderer und als Angehörige der wohlhabenden Schicht dargestellt wurde, sollte ihr Flüchtlingsstatus in Frage gestellt werden. Aus analytischer Perspektive ist Vorsicht bei der unmittelbaren Übernahme der zeitgenössischen Kritik an Gollwitzers Position geboten, die rasch mit moralischen Vorbehalten reagierte.377 Die relativierenden Äußerungen aus dem linksprotestantischen Umfeld lassen sich auch als Versuch deuten, die Debatte thematisch umzulenken und die Verantwortung der Bundesregierung oder die ausgebliebene Positionierung der EKD zum Vietnam-Krieg auf die Agenda zu setzen. Das omnipräsente Flüchtlingsthema sollte für eine Repolitisierung des protestantischen Hilfediskurses genutzt werden. Die Polemik gegen eine vorgebliche Einseitigkeit der Kampagne zur Seenotrettung vietnamesischer Flüchtlinge stand dennoch in einer Außenseiterposition. Bereits unter linken Intellektuellen regte sich Widerspruch. Kritik übte vor allem Heinrich Böll, der angesichts der Debattenlage gar von einer regelrechten Traumatisierung der deutschen Linken sprach.378 Der Schriftsteller äußerte zwar Verständnis für Gollwitzers Verärgerung über die Zurückhaltung bei der Hilfe für südamerikanische Flüchtlinge, forderte aber nachdrücklich dazu auf, 376 Vgl. Gollwitzer, Humanität, 171 f. 377 Auch Frank Bösch warnt davor, den Streit um die „boat people“ pauschal als moralisches Versagen der späten 68er-Gruppen zu werten. Siehe: Bösch, Zeitenwende, 201. 378 Auch wir könnten 50.000 aufnehmen. In: Sonntagsblatt Nr. 32, 12. 8. 1979, 1.

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ideologische Fragen beiseite zu lassen. Böll sprach sich dagegen aus, Flüchtlinge nach ihrem sozialen Status einzuteilen und warb dafür, sich wie die in dieser Frage weitaus geschlossener auftretende französische Linke ausschließlich „auf das Urmotiv der Lebensrettung“379 zu besinnen. Der Schriftsteller appellierte damit ebenfalls an ein vorpolitisches Humanitätsideal. Im protestantischen Kontext sorgte die Auseinandersetzung auch jenseits publizistisch-intellektueller Debatten für handfeste Konflikte. Die Äußerungen Gollwitzers führten vor allem zu Verwerfungen um die Beteiligung evangelischer Institutionen an der Vietnam-Hilfe. Aus Gollwitzers Umfeld in West-Berlin wurde die ökumenische Kampagne als einseitig antikommunistisch kritisiert. Ein Berliner Gemeindemitglied empörte sich etwa per Brief bei der Kirchenleitung besonders über die „Ein Schiff für Vietnam“-Aktion: Es sei keine christliche Hilfe, Menschen nach dem Verlassen Vietnams auf dem Meer einzusammeln; den irreführenden Titel der Aktion dürfte Neudeck sich nur anheften, wenn er dem vietnamesischen Staat Hilfsgüter zum Wiederaufbau ins Land bringen würde.380 Zum zentralen Anstoß der Auseinandersetzung wurde die ökumenische Kanzelabkündigung von Diakonie und Caritas mit ihrer Kombination aus dem Aufruf zur Hilfe für vietnamesische Flüchtlinge und der Kritik an der kommunistischen Regierung. In einigen West-Berliner Gemeinden wurde der Text aufgrund von Protesten teilweise gekürzt, mit kritischen Anmerkungen versehen oder bisweilen gar nicht verlesen.381 Zu einer kirchenpolitisch delikaten Angelegenheit entwickelte sich der Streit endgültig, als der Superintendent von Berlin-Zehlendorf die Beteiligung an der Kanzelabkündigung mit der Begründung verweigerte, diese sei „selbstgerecht-antikommunistisch“ und verschweige die Schuld des Westens.382 Die Folge war eine Dienstaufsichtsbeschwerde, in der dem Superintendenten vorgeworfen wurde, sich die Propaganda der Sowjetunion und der DDR zu eigen zu machen.383 Ähnlich gelagerte Kritik an der Kanzelabkündigung und den Vorwurf der Privilegierung der Vietnam-Flüchtlinge gab es auch innerhalb der Landeskirche von Hessen-Nassau.384 Umsichtiger äußerte sich hingegen die Konferenz der Ausländerpfarrer, die darauf verzichtete, eine Bewertung der politischen Situation in Vietnam vorzunehmen und sich darauf beschränkte, eine Gleichbehandlung aller

379 Böll, Gespräch, 188. 380 Schreiben von W. Duwe an Bischof Kruse, 7. 9. 1979 (ELAB Berlin 36/2895). 381 Stellungnahme von „Kirche in Verantwortung“, AG Berliner Christen, 14. 9. 1979 (ELAB Berlin 36/2895). 382 Stellungnahme des Superintendenten von Zehlendorf, 12. 9. 1979 (ELAB Berlin 36/2895). 383 Schreiben von H. Z. an die Kirchenleitung von Berlin-Brandenburg, 10. 10. 1979 (ELAB Berlin 36/2895). 384 Kritik an Kanzelaufruf der Kirchen zu Vietnamflüchtlingen. Gleiches Engagement für Asylsuchende aus anderen Ländern gefordert. In: epd-ZA Nr. 165, 27. 8. 1979, 5.

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Flüchtlingsgruppen zu fordern.385 Den gleichen Tenor schlug auch die EKDSpitze in ihren Stellungnahmen an. Der Ratsvorsitzende warnte davor, andere Flüchtlingsgruppen unter Vorwand auszuschließen und äußerte die Hoffnung, dass die unbürokratische Hilfe für die Vietnam-Flüchtlinge allgemein auf die bundesdeutsche Asylpraxis abfärben werde.386 Die Kritik linksprotestantischer Kreise stieß ansonsten auf Unverständnis und wurde als Beleg für die Notwendigkeit von lagerübergreifendem und neutralem Handeln gesehen. Im „Sonntagsblatt“ urteilte der Kommentator sowohl Linke wie Konservative als verlogen ab und forderte eine lagerübergreifende Hilfsaktion ohne gegenseitige Schuldzuweisungen: „Kein Linker in diesem Land kann jetzt noch sagen, er habe nichts gewußt. Wer wissen will, der weiß auch. Hunderttausende von Flüchtlingen sind schließlich kein politischer Zufall oder eine Erfindung der konservativen Presse. Und Konservative, die jetzt noch immer scheinheilig fragen, wo bleiben eigentlich die Linken mit ihrem Protest, braucht man nicht mehr ernst zu nehmen.“387

Aufschlussreich waren auch die Reaktionen aus dem Diakonischen Werk. Dessen Mitarbeitende sahen in der Entpolitisierung der Seenotrettungsaktion eine strategische Chance zur längerfristigen Beeinflussung der öffentlichen Stimmung. Ihr Vorgehen folgte zwei sich gegenseitig bedingenden Überlegungen. Einerseits stand weiterhin die Befürchtung im Raum, dass die offene Stimmung schnell wieder in ihr Gegenteil kippen könnte. Die positiven öffentlichen Reaktionen gegenüber den Bootsflüchtlingen wurde als ein fragiler Ausnahmefall gesehen, den man sich für die gesamte Flüchtlingsarbeit zunutze machen wollte. Die Entpolitisierung der Seenotrettungsaktion und die Betonung der Überparteilichkeit der Hilfsaktion sollten dazu beitragen. Diakonie-Präsident Theodor Schober äußerte dementsprechend bei der Vorstellung der ökumenischen Kampagne, die Flüchtlingsrettung verbiete sich von selbst als Wahlkampfthema.388 Andererseits hoffte man, den prominenten Fall der „boat people“ als Hebel für die Durchsetzung einer liberaleren Flüchtlingspolitik und asylpolitischer Veränderungen nutzen zu können. Mit den breit akzeptierten Vietnam-Flüchtlingen sollte ein Positivbeispiel geschaffen werden, um mittelfristig das gesellschaftliche Klima gegenüber allen in Deutschland lebenden Asylbewerbern zu verbessern. Als erster Schritt sollte die Integration der Vietnam-Flüchtlinge zum Vorzeigeprojekt werden, um dann mithilfe der positiven Flüchtlingsfiguren atmosphärische und rechtliche Verbesserungen zu erzielen. Bei einem Vortrag in der Akademie Bad Boll benannte Peter von Bethlenfalvy die aus den gesonderten Kontin385 Ausländerpfarrer: Nicht nur Indochina-Flüchtlingen entgegenkommen. In: epd-ZA Nr. 204, 19. 10. 1979, 2. 386 Stellungnahme von Kirchenpräsident Helmut Hild, 23. 8. 1979 (ELAB Berlin 36/2895). 387 Wir könnten 50.000 aufnehmen. In: Sonntagsblatt Nr. 32, 12. 8. 1979, 1. 388 Wenn die Flüchtlinge kommen. In: Sonntagsblatt Nr. 34, 26. 8. 1979, 10.

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gentregelungen für die Vietnamesen resultierenden rechtlichen Unklarheiten und forderte davon ausgehend die Schaffung eines allgemeinen neuen Rechtsstatus für Flüchtlinge aus Krisengebieten.389 Die politische Forderung nach einer Ausweitung des Flüchtlingsschutzes auf Gruppen, die nicht unter den Begriff der politischen Verfolgung oder wie die Vietnamesen unter ein eigenes humanitäres Aufnahmekontingent fielen, war in diesen Überlegungen durchaus präsent. Der Fall der „boat people“ blieb gesamtgesellschaftlich ein Sonderfall inmitten eines Zeitraums, der sich durch eine auf die Abwehr von Asylbewerbern gerichtete politische Tendenz auszeichnete. Im Protestantismus stießen im Zuge der Vietnam-Hilfe gleich mehrere Entwicklungen aufeinander. Während sich in der diakonischen Flüchtlingsarbeit leichter als noch im Fall der lateinamerikanischen Flüchtlinge Verbindungslinien zur eigenen Arbeit für Flüchtlinge aus kommunistischen Staaten in den Nachkriegsjahrzehnten herstellen ließen, wurde im Umfeld Gollwitzers die Situation ausschließlich am Bild der Chile-Hilfe gemessen. Während sich große Teile des Protestantismus nahtlos in den dominierenden Humanitäts- und Humanitarismusdiskurs integrierten und diesen teilweise für ihre flüchtlingspolitische Agenda nutzten, scheiterten die verbliebenen Verfechter einer politischen Deutungsoption. Die im Kontext der Chile-Flüchtlinge noch präsente linkspolitische Deutung war im vorherrschenden Diskurs, der von einem vorpolitischen Humanitätsbegriff bestimmt wurde, nicht mehr sagbar und kaum anschlussfähig. Die Bewertung der Flüchtlingsaufnahme in einer dezidiert politisch-kontextualisierenden Form, wie sie Gollwitzer und sein Umfeld forderten, stand daher auf einer Außenseiterposition. In der Flüchtlingsarbeit verstärkte sich hingegen die Professionalisierung in einem doppelten ökumenischen Kontext. Zum einen arbeiteten evangelische Institutionen enger mit katholischen Einrichtungen zusammen, andererseits verorteten sie ihre Arbeit innerhalb der weltweiten ökumenischen Verbindung mit anderen christlichen Kirchen. Christliche Motive ließen sich dabei mit dem Begriff des „radikalen Humanismus“ verbinden und blieben anschlussfähig. Zwar erklärte die ökumenische Kanzelabkündigung Nächstenliebe und Humanität nicht direkt für identisch, setzte die beiden Begriffe aber inhaltlich gleich. Auch damit bewegte sich der protestantische Flüchtlingsdiskurs in einer Kontinuität zu seinen Vorläufern in den 1950er Jahren, die im Kontext der Flüchtlingsaufnahme auf das persönliche Schicksal und Leiden des menschlichen Individuums abgestellt hatten. Die verbliebenen Gruppen, die auf dem Primat einer politischen Wahrnehmung der Flüchtlingssituation beharrten, gerieten mit ihrer Position hingegen ins Abseits. Weder gelang es ihnen, ihrem Anliegen Zustimmung jenseits der eigenen Milieus zu verschaffen, noch die Verschiebung hin zu einem universalistischen Humanitätsideal zu reflektieren. Die in den späten 1960er Jahren in Teilen des Protestantismus erprobte 389 Vgl. Evangelische Akademie Bad Boll, Vietnamesische Flüchtlinge, 24 f.

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Verzahnung von christlichen Motiven und linken Solidaritätspraktiken gelangte damit an ein vorläufiges Ende. Auf der anderen Seite stand – der These von Patrick Merziger zufolge – ein einschneidender Umbruch bei den zivilgesellschaftlichen Hilfsorganisationen, die in Abkehr von den tradierten Motiven verstärkt auf kurzfristige Aktionen und eine neutralistische Sprache und Selbstdarstellung setzten.390 Auf den ersten Blick erscheint es daher naheliegend, die in der historischen Menschenrechtsforschung diskutierte These vom Verlust der Strahlkraft linker Utopien in den westlichen Staaten nahtlos auf die untersuchte Entwicklung anzuwenden.391 Im Detail ist dabei jedoch Differenzierung notwendig und die zeitliche Reichweite der Aussagen zu überprüfen.392 Die Entwicklungen im protestantischen Kontext können diesen Standpunkt stützen. Zwar steht gerade die Aufnahme der „boat people“ wie kaum ein anderer als Beispiel für den Verlust von Deutungsmacht der sozialistischen Gruppen zugunsten eines Ideals von neutralem humanitärem Engagement. Mit Blick auf die sich anschließende Entwicklung der protestantischen Flüchtlingshelferszene ist jedoch eine Feindifferenzierung notwendig. Dafür steht zum einen die Pluralität der Gruppen, die sich im Bereich Migration und Flüchtlingsarbeit engagierten: Gerade in kirchlichen Kontexten entwickelte sich eine breite Vielzahl von Aktionsformen und Motiven, die von einer betont konservativen Fixierung auf christliche Familien bis hin zu Formen des migrantischen Empowerments und Protestaktivismus reichte. Dabei vollzogen sich teils parallele und teils gegenläufige Entwicklungen. Zudem entwickelten sich die Gruppen in ihrem Selbstverständnis und ihren Aktionsformen weiter. Auch in der Diakonie pflegten manche Akteure etwa ein instrumentell-strategisches Verhältnis zur humanitären Rhetorik, weil sie sich um die labile öffentliche Stimmung sorgten. Die proklamierte Neutralität christlicher Hilfe ließ sich angesichts des Handlungsdrucks nicht immer aufrechterhalten und wurde teilweise von den Akteuren selbst in Frage gestellt. Prägnant dafür steht das Beispiel der Vereinigten Evangelischen Mission, die sich aufgrund der Erfahrung der eigenen Machtlosigkeit gegenüber staatlichen Entscheidungen in nur kurzer Zeit zu einem Kritiker von Staat und Justiz entwickelte. Kritik an den Grundlagen des staatlichen Migrationsregimes aus der Erfahrung der eigenen Ohnmacht heraus wurde so zur Triebfeder für eine neue Form der Politisierung von Flüchtlingshelfergruppen. Über die Themen Flüchtlingsaufnahme und Asylgewährung hinaus muss die Entwicklung im breiteren Kontext der Hinwendung zu neuen Formen des Protestaktivismus in den sogenannten neuen sozialen Bewegungen verortet werden. In vielfältiger Form waren protestantische Gruppen und Einzelpersonen Teil dieser Entwicklung. Parallel führten 390 Merziger, Humanism, 172. Merziger sieht darin die Grundlage zur Entpolitisierung der humanitären Hilfe. 391 Grundlegend hierfür vgl. Moyn, Last Utopia; Ders., Return. 392 Vgl. für entsprechende Kritik: Jim nez Botta, Solidarität, 123.

Zwischenfazit

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beispielsweise christliche Dritte-Welt-Gruppen und Verbände wie der Evangelische Frauenbund eine umfangreiche Kampagne gegen die Apartheid in Südafrika.393 Die im Kontext der „boat people“-Debatte zu beobachtende Tendenz zu einer umfassenden Entpolitisierung des Flüchtlingsbildes und der Hilfsarbeit blieb insgesamt nur eine kurze Episode, die im Laufe der 1980er Jahre von einem erneuten Schub der (Re-)Politisierung auf dem Feld der Flüchtlings- und Asylthematik abgelöst wurde.

3.3 Zwischenfazit Der bereits in den 1950er Jahren ausgeprägte Einfluss der Impulse des ÖRK erfuhr in den 1970er Jahren einen neuen Höhepunkt. Der erhobene Universalanspruch der christlichen Hilfsverpflichtung erstreckte sich nun auch auf die Ereignisse in Lateinamerika oder auf das Meer vor der Küste Vietnams. Getragen von intensiver Medienberichterstattung und transnationalen Vernetzungen nahmen sich viele evangelische Christinnen und Christen in der Bundesrepublik dem Schicksal der Flüchtlinge auf anderen Kontinenten an. Der Ost-West-Konflikt als tradiertes Deutungsmuster wurde zunehmend von der „Dritte-Welt“-Thematik überlagert, besaß aber weiterhin entscheidende Relevanz für die Beurteilung der Flüchtlingsaufnahme. Dieser Umstand ist vor allem mit Blick auf die Akteurskonstellationen von Bedeutung, da er den Wechsel in der protestantischen Meinungsführerschaft erklärt. Für die Aufnahme der Chile-Flüchtlinge setzten sich vor allem Personen aus dem linksprotestantischen Umfeld ein, die sich als Teil einer vielschichtigen Bewegung definierten. Die Person Helmut Frenz mit ihrem Bemühen, universalistische und linke Begründungsmuster miteinander zu vereinen, verkörperte diese Entwicklung. Die Kontroversen um die Haltung zu den vietnamesischen Bootsflüchtlingen am Ende des Jahrzehnts zeigten jedoch die Begrenzung dieser Argumentationsform auf. Die Deutung der Flüchtlingsaufnahme mit den Mustern des Antiimperialismus stand nun im Gegensatz zu humanitären Ansprüchen. Die Chile-Flüchtlinge, von denen viele eigentlich activists im klassischen Sinne waren, mussten gegenüber der westdeutschen Aufnahmegesellschaft dennoch als bedrohte und um ihr Leben fürchtende Opfer präsentiert werden, die kein Interesse mehr an politischer Betätigung hätten. Abweichungen davon waren auch mit Referenzen auf die Geschichte des christlichen Widerstands gegen den Nationalsozialismus nicht durchsetzbar. Die Figur des Chile-Flüchtlings als Verkörperung einer Utopie des funktionierenden christlichen Sozialismus war nur für den Binnendiskurs des christlichen Teils der Chile-Solidarität von Bedeutung. Beinahe jeder Versuch, die Flüchtlings393 Vgl. grundlegend: Tripp, Anti-Apartheid-Gruppen.

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Debatten um internationale Flüchtlingsgruppen in den 1970er Jahren

aufnahme als eine der ideologischen Auseinandersetzung entzogene und überparteiliche Aufgabe darzustellen, war dem Vorwurf der Blindheit für Sicherheitsinteressen und der Einseitigkeit ausgesetzt. Der normative Anspruch, sich an der Universalität der Menschenwürde und der Menschenrechte zu orientieren, wurde immer wieder in Frage gestellt. Dennoch erlangte dieser Aspekt eine Schlüsselfunktion im protestantischen Flüchtlingsdiskurs. Der semantisch unscharfe Menschenwürdebegriff ermöglichte es, sich menschenrechtliche Begründungsmuster nahtlos zu eigen zu machen. Die Verletzung von Menschenrechten sollte nun den politischen Flüchtling definieren. Auf institutioneller Ebene fand dieser Zusammenhang im Aufbau der Menschenrechtsschutzstelle der Diakonie Ausdruck. Die Flüchtlingsaufnahme und das Recht auf Asyl selbst wurden aber nicht als Rechtsanspruch der Betroffenen, sondern vielmehr durch die Referenz auf menschliches Leid und Notsituation begründet. Die breite Zustimmung zur Aufnahme der als gesonderte Kontingentflüchtlinge aufgenommenen „boat people“ verdeutlichte diese Entwicklung. Mit Blick auf die politische Einflussnahme und die Vielfalt der Akteure lassen sich mehrere Parallelentwicklungen innerhalb des Protestantismus ausmachen. In der Diskussion um die Aufnahme der Chilenen prägten vor allem exponierte Vertreter des Linksprotestantismus und ihre nationalkonservativen Gegner die Debattenkonstellation. Aktions- und Initiativgruppen prägten die Wahrnehmung der Aufnahme der Chile-Flüchtlinge und mobilisierten für die Aufnahmeaktion. Enger Kontakt wurde mit der SPD gepflegt, die sich explizit die Fürsprache evangelischer Kirchenleute zur Stützung ihrer Politik für die Aufnahme von Chile-Flüchtlingen erbat. Die Aufnahme der Bootsflüchtlinge 1979 wurde hingegen zur Stunde der etablierten Wohlfahrtsinstitutionen. Bedeutenden Einfluss hatte dabei die verstärkte ökumenische Kooperation zwischen Diakonischem Werk und Caritasverband, die mit ihrer Kampagne und der darin enthaltenen Kanzelerklärung den Ton setzten. Parallel dazu entwickelte sich innerhalb des Protestantismus eine große Bandbreite an Reaktionen auf den sich gegen Ende der 1970er verschärfenden asylpolitischen Kurs der Bundesregierung, die von der Dialogbereitschaft des Bevollmächtigten gegenüber der Regierungspolitik in Bonn bis zur polemischen Justizkritik der Vereinigten Evangelischen Mission reichte.

4. Der Protestantismus und die Asyldebatte der 1980er Jahre Allgemein steht das Jahr 1980 für den Beginn einer Phase der restriktiven Asylpolitik und des sich zuspitzenden xenophoben Diskurses.1 Zum ersten Mal überschritt die Zahl der Asylbewerber die Marke von 100.000 Menschen, mitausschlaggebend dafür war der Militärputsch in der Türkei.2 Neben der Türkei kamen auch vermehrt Menschen aus dem globalen Süden und asiatischen Ländern in die Bundesrepublik, um Asyl zu beantragen. Meistens waren soziale oder ökonomischen Krisen in den Herkunftsländern ausschlaggebend.3 Der Anteil der weiterhin aufenthaltsrechtlich privilegierten Flüchtlinge aus Staaten des Ostblocks war hingegen schon seit Beginn der 1970er Jahre deutlich gesunken.4 Süd-Nord- und Ost-West-Migration in der Bundesrepublik überlagerten sich jedoch zunehmend.5 Der in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wieder einsetzende Anstieg der Zahl von Flüchtlingen aus Osteuropa verstärkte erneut die Dynamik der Asyldebatte und machte somit die Widersprüche des bundesdeutschen Migrationsregimes deutlich.6 Für viele Zuwanderer stellte der Asylantrag nach dem Anwerbestopp den einzig verbliebenen Weg dar, um auf legale Weise in die Bundesrepublik einwandern zu können.7 Zeitgenössisch wurden die steigenden Zahlen als außergewöhnlich wahrgenommen und im Wahlkampf politisch dramatisiert.8 Auch erste Gewaltakte gegen Flüchtlinge waren zu verzeichnen. So gab es bereits 1980 in Hamburg einen rassistisch motivierten Anschlag auf eine Unterkunft.9 Der Debattenschwerpunkt verschob sich im Gegensatz zu den vorherigen Jahren stärker auf die Fragen des Anerkennungsverfahrens, den Flüchtlingsstatus, besonders aber auf den Umgang mit abgelehnten Antragstellern in Deutschland. Das Thema Asyl wurde zur neuen „zentralen Konfliktarena im 1 Vgl. exemplarisch Bösch, Engagement, 13; Ther, Außenseiter, 258; Cooper, Immigration, 226. Auch Ursula Büttner wählt 1980 als Zäsur, vgl. Büttner, Umkehr, 24. Eine divergierende Position bezieht hier Simone Wolken, die nicht ein bestimmtes Jahr, sondern den Zeitkorridor zwischen 1977 und 1982 als Übergangsphase charakterisiert (vgl. Wolken, Grundrecht, 44–55). 2 Vgl. Herbert, Geschichte Deutschlands, 994; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, 43; Stokes, Crisis, 36. 3 Vgl. Wirsching, Abschied, 297; Schönwälder, Persons, 77. 4 Vgl. Dickel, Einwanderungs- und Asylpolitik, 282. 5 Vgl. Poutrus, Vorhang, 123 f. 6 Vgl. Herbert, Ausländerpolitik, 274 f. 7 Vgl. Möhring, Mobilität, 394. 8 Vgl. Bade, Karriere, 5 f. 9 Vgl. Poutrus, Umkämpftes Asyl, 89.

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Der Protestantismus und die Asyldebatte der 1980er Jahre

Streit um Migration“10 und löste dabei die Arbeitsmigration ab. Durch die sich zuspitzende gesellschaftliche Konfrontation wurde zunehmend auch der Asylpassus des Grundgesetzes in Frage gestellt.11 Während in den frühen 1980er Jahren noch die Verbindung mit dem Thema „Gastarbeiter“ prägend war, erlangte im Verlauf des Jahrzehnts die Unterscheidung von deutschstämmigen Migranten wie den Aussiedlern und die Diffamierung von Wirtschaftsmigranten eine neue tragende Bedeutung.12 Der Flüchtlingsbegriff und die Kategorisierung von Fluchtmotiven wurden dabei zu zentralen Konfliktlinien. Die bisherigen vom Kalten Krieg geprägten Vorstellungen vom Gehalt des Begriffs der politischen Flucht wurden von Vertretern eines restriktiven asylpolitischen Kurses gegen den Begriff des „Wirtschaftsflüchtlings“ abgegrenzt: Motive von Migranten aus Ländern der „Dritten Welt“ galten als zweifelhafter als die der einstigen Ostblockflüchtlinge.13 Die 1980er Jahre sind erst in den letzten Jahren vermehrt in den Mittelpunkt der zeithistorischen Forschung gerückt.14 Bisher erschienene Fallstudien und Monographien, die sich der asylpolitischen Debatte in diesem Zeitraum annehmen, erwähnen die christlichen Kirchen zwar durchgehend als relevante Akteure, die in einer Reihe mit antirassistischen Initiativen, Sozialverbänden und Menschenrechtsorganisationen Kritik an der Asylpolitik der Bundesregierung übten.15 Auch die Entstehung der deutschen Kirchenasylbewegung fand dabei Beachtung.16 Eine umfassendere Verortung innerhalb der kirchlichen Zeitgeschichte hat bisher hingegen nur sporadisch stattgefunden.17 An dieser Schnittstelle setzt das folgende Kapitel an. Der Protestantismus hatte einen großen Teil der neuen politischen Entwicklungen aufgrund seiner eigenen institutionellen Lernprozesse schon in einem früheren Stadium reflektiert und nachvollzogen. Zugleich war er in besonderem Maße von der neuen Omnipräsenz der Themen Flucht und Asyl betroffen. Die Beteiligung an der gesellschaftlichen Debatte erhielt dadurch eine neue Dynamik. Die umfangreichen Entwicklungen in dieser Phase der sogenannten Asyldebatte der 1980er Jahre werden im folgenden Kapitel untersucht. Die Akteure der Flüchtlingsarbeit sahen sich nun kontinuierlichem Handlungs- und Reaktionsdruck ausgesetzt. Ein Aushandlungsprozess über die adäquate Stellungnahme der evangelischen Kirche setzte ein. Die neue Breitenwirkung des Themas führte zu einer Ausweitung des Kreises der be10 11 12 13 14 15

Gassert, Gesellschaft, 257. Vgl. Herbert, Ausländerpolitik, 265. Vgl. Cooper, Immigration, 228. Vgl. Bade, Europa, 367. Grundlegend: Wirsching, Abschied. Vgl. Herbert, Ausländerpolitik, 267. Zur Diversität der Asylunterstützergruppen vgl. Templin, Kopf, 203. 16 Vgl. Kleinschmidt, Streit, 231 f. Grundlegend dazu aus politikwissenschaftlicher Perspektive: Morgenstern, Kirchenasyl. 17 Ansatzweise vgl. Kleinschmidt, Streit, 244.

Protestantische Reaktionen auf die Entwicklungen der 1980er Jahre

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teiligten Akteure sowie einer verdichteten Reflexion über die eigene Positionierung und Argumentation. Besonders galt das für die Definition des Begriffs der politischen Flucht und den Umgang mit auftretenden Solidaritätskonkurrenzen. Ausgehend von den Ergebnissen des vorhergehenden Untersuchungsabschnitts wird im folgenden Kapitel die Entwicklung protestantischer Positionierungen in den 1980er Jahren beleuchtet. Der erste Abschnitt skizziert die Entwicklungen anhand ausgewählter Beispiele in chronologischer Reihenfolge bis 1988. Die dichte Quellenlage verlangt dabei eine Beschränkung auf bestimmte Themen. Der Fokus liegt auf den protestantischen Reaktionen auf die asylpolitischen Entwicklungen, den internen Debatten auf der EKD-Ebene sowie auf dem protestantischen Anteil an den im Kontext der Flüchtlingsunterstützerszene entstehenden Organisationen wie „Pro Asyl“. Die daran anschließenden Teilkapitel widmen sich querschnitthaft den analytischen Kategorien Argumentationsformen, Flüchtlingsfiguren und politische Einflussnahme. Der letzte Abschnitt unter dem Leitbegriff Solidaritätskonkurrenzen nimmt die chronologische Struktur wieder auf und schließt das Kapitel mit einer Betrachtung des Zeitraums 1988 bis 1990 ab.

4.1 Protestantische Reaktionen auf die Entwicklungen der 1980er Jahre 4.1.1 Flüchtlingshilfe in Zeiten des Abwehr- und Verdächtigungsdiskurses (1980 bis 1983) Der Eintritt in die Phase steigender Asylbewerberzahlen und eines verschärften Debattenklimas wirkte sich auch auf die beteiligten protestantischen Institutionen aus. Für die vielfältigen Akteure der evangelischen Flüchtlingsarbeit, die zu weiten Teilen entweder aus der bisherigen Ausländerarbeit mit dem Schwerpunkt Betreuung von Arbeitsmigranten oder der diakonischen Menschenrechts- und Flüchtlingsarbeit kamen, stellte die neue Öffentlichkeit für ihre Arbeit eine Herausforderung dar. Der Jahresbericht des Diakonischen Werks zum Doppeljahr 1980/81 vermerkte zahlreiche organisatorische und strukturelle Anpassungen und sah einen anhaltenden Druck auf der Flüchtlingshilfe lasten.18 Die Zahl der diakonischen Rechtsberatungsstellen verdoppelte sich in diesem Zeitraum annähernd.19 Parallel entwickelte sich zunehmend eine heterogene Szene aus Unterstützungsgruppen in den Kirchengemeinden der EKD-Gliedkirchen sowie im Umfeld protestantischer Verbände und Dachorganisationen.20 18 Vgl. Diakonisches Werk, Jahrbuch 80/81, 139. 19 Vgl. ebd. Ausführlicher: Lottje, Menschlichkeit. 204–207. 20 Vgl. für das Beispiel der Evangelischen Kirche im Rheinland: Kaminsky, Kirche, 366 f.

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Der Protestantismus und die Asyldebatte der 1980er Jahre

Die evangelische Stadtakademie Düsseldorf führte im Frühjahr 1980 ein Symposium in Zusammenarbeit mit der Diakonie durch, das den eindeutigen Titel „Krise des Asylrechts – Wege zu deren Überwindung“21 trug. Die Wahrnehmung einer anhaltenden Verschlechterung der Situation sowie einer damit einhergehenden Apathie weiter Teile der westdeutschen Aufnahmegesellschaft blieb prägendes Element für die folgenden Jahre. Horst Oberkampf, Pfarrer und Studienleiter in Bad Boll und Engagierter der Flüchtlingsarbeit, resümierte im Themenheft „Asylsuchende aufnehmen“ der Akademie die Situation gegen Ende 1981 so: „Das Engagement für Asylsuchende ging weiter; an verschiedenen Stellen wurde es intensiviert. Die Probleme haben sich zugespitzt, die Situation verschärfte sich. Die Flüchtlingszahlen sind nicht zurückgegangen, sie sind in den letzten Jahren gestiegen, leider – in unserem Land und auch weltweit. […] Die Situation hat sich verändert – aber die Aufgabe der Kirche blieb die gleiche: sich an der Seite Fremdlinge, der Entwurzelten und Suchenden zu stellen. […] Was wir […] wollen, ist eigentlich bescheiden und doch auch wieder sehr viel: Menschen nachdenklich und empfindsam zu machen, damit sie an ,Fremden‘ nicht gleichgültig vorübergehen, sondern in ihnen Menschen entdecken, die wie Du und ich sind.“22

Oberkampfs Reflexionen über den Verlauf der Entwicklungen und die von ihm skizzierte Gegenposition stehen beispielhaft für die protestantischen Reaktionen in diesem Zeitraum. Der sich immer offener artikulierenden Fremdenfeindlichkeit sollte mit dem Werben für respektvollen und humanen Umgang mit den Betroffenen begegnet werden. Angesichts der aufgeladenen Stimmung des Wahlkampfjahres 1980 versuchten viele engagierte protestantische Akteure mit Hilfe von Petitionen ihre Haltung zu unterstreichen und vergeblich eine Brandmauer in die öffentliche Debatte einzuziehen. Mit einer kurz gefassten Entschließung der EKD-Synode im November 1980, die unter dem Titel „Asylanten aufnehmen“ veröffentlicht wurde, forderten die Kirchenparlamentarier vom Rat der EKD, weiterhin für Asylbewerber einzustehen und sich gegen Einschränkungen des Asylrechts zu stellen. Damit einher ging der Arbeitsauftrag, das Thema von kirchenoffizieller Seite weiterhin zu verfolgen.23 Enthalten waren außerdem Kritik an der langwierigen Unterbringung von Flüchtlingen in Großlagern sowie ein Appell an die Hilfsbereitschaft der Kirchengemeinden.24 Die Entschließung sollte eine Reaktion auf das zweite Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz25 sein, die ausländerpoliti21 Protokoll des Symposions der evangelischen Stadtakademie Düsseldorf vom 15. 3. 1980, Mai 1980 (BArch Koblenz B106/90346). 22 Evangelische Akademie Bad Boll, Asylsuchende, 2. 23 Entschließung „Asylanten aufnehmen“ der 6. EKD-Synode am 7. 11. 1980 in Osnabrück (BArch Koblenz B106/70770). 24 Für Zusammenarbeit. Gegen Einschränkung des Asylrechts. In: epd-ZA Nr. 216, 7. 11. 1980, 2. 25 BGBl. Teil I, Nr. 50 vom 22. 8. 1980, 1437 f. Das Gesetz regelte unter anderem die Wohnsitzauflagen für Geflüchtete, das Einlegen von Rechtsmitteln und das Prozedere von Abschiebun-

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sche Positionierung der EKD flankieren und die Situation christlicher Asylbewerber aus der Türkei adressieren.26 Die ausführlichste Passage deklarierte den Umgang mit Flüchtlingen zu einer Glaubwürdigkeitsfrage für Bundesrepublik und Kirche: „Wie staatliche Behörden und Christen im Alltag gerade mit diesen besonders verletzbaren Menschen und ihrer Leiderfahrung umgehen, wie sie deren Menschenwürde achten und sie als Mitbürger hilfreich begleiten, ist ein Prüfstein für unsere freiheitliche Demokratie und unser Christsein.“27

Der Antrag auf der Synode wurde ohne Aussprache einstimmig angenommen.28 Die in der Flüchtlingshilfe engagierten Gruppen sahen in der Entschließung eine offizielle Bestätigung für ihre Arbeit. Die Fokussierung auf die Angehörigen christlicher Minderheiten in der Türkei wurde von kirchenoffiziellen Stellen dankbar aufgegriffen und beispielsweise vom Kirchlichen Außenamt hervorgehoben.29 Der in der Entschließung enthaltene und rhetorisch prägnante Aufruf an die Christen in Deutschland, die Glaubensgeschwister aus der Türkei nicht zu vergessen, wurde von vielen Stellen aufgenommen.30 In vielen Gliedkirchen der EKD hatten sich zusätzliche Strukturen für die Unterstützung dieser speziellen Gruppe gebildet. In der Landeskirche Braunschweig setzte sich etwa ein Gemeindepfarrer in der Position als Beauftragter für syrisch-orthodoxe Christen öffentlich für deren Belange ein.31 Die umgangssprachlich bisweilen als Assyrer bezeichneten Christen fielen nicht unter die herkömmlichen juristischen Kategorien politischer Flucht. Ihre Unterstützer, die sich nur teilweise mit der bisherigen evangelischen Helferszene überschnitten, sahen sich daher genötigt, ebenfalls Kritik an den bisherigen Maßstäben der Flüchtlingskategorisierung zu üben. In einem an Bundestagsabgeordnete verschickten Faltblatt einer Unterstützergruppe wurde betont, die assyrischen Christen seien zwar nicht staatlich verfolgt, aber aufgrund der Verfolgung durch andere Gruppen in ihrem Heimatland dringend schutzbedürftig.32 Vergleichbares hatte auch der Rat der EKD im Vorfeld der Synode beklagt, als er in Übereinstimmung mit dem Diakonischen Werk eine stärkere Berücksichtigung von religiösen Fluchtgründen im Rahmen der

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gen. Als besonders einschneidend galt die Übertragung der Entscheidungskompetenz bei Anerkennungsverfahren von dreiköpfigen Gremien zu einzelnen Mitarbeitern des zuständigen Bundesamtes. Kirchenkanzlei, Osnabrück 1980, 312. KJ 1981/82, 249. Kirchenkanzlei, Osnabrück 1980, 313. Mitteilung des Kirchlichen Außenamts an die Landeskirchen und das Diakonische Werk, Betreff: Asylanten, 19. 12. 1980 (EZA Berlin 87/2281). Vgl. Evangelische Akademie Bad Boll, Asylsuchende, 27. Rundbrief der Gemeinde St. Ulrici in Braunschweig an die Abgeordneten des Deutschen Bundestags, 16. 5. 1980 (BArch Koblenz B106/90346). Ebd.

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Der Protestantismus und die Asyldebatte der 1980er Jahre

Aufnahmekontingente angemahnt hatte.33 Auch in Gesprächen mit der Bundesregierung brachten die kirchlichen Wohlfahrtsverbände das Thema zur Sprache.34 Teilweise trug die Situation christlicher Flüchtlingen mit dazu bei, die kirchliche Positionierung anzutreiben und innerhalb des Protestantismus auch Kräfte mit Distanz zu den bisherigen Strukturen der Flüchtlingshilfe für das Thema zu gewinnen. Das Gesamtbild bei der Frage beim Umgang mit den Christen aus der Türkei blieb jedoch uneinheitlich. Der braunschweigische Beauftragte wollte die christlichen Flüchtlinge strikt von sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen abgegrenzt wissen.35 Der Landesbischof Joachim Heubach äußerte hingegen, es verbiete sich, die Religionszugehörigkeit von Verfolgten zum Kriterium für Hilfsbereitschaft zu machen, es sei aber zugleich für die Kirche unvermeidbar, sich auf die Situation christlicher Minderheiten zu konzentrieren.36 Der Bad Boller Studienleiter Horst Oberkampf, ebenfalls geprägt von der Hilfsarbeit für assyrische Christen, war hingegen weiterhin Verfechter einer universalistisch ausgerichteten Hilfe.37 Dieser Standpunkt blieb auch die offizielle Linie gegenüber der Politik: Die Diakonie betonte gegenüber dem Vorsitzenden der Innenministerkonferenz in einer gemeinsamen Erklärung mit katholischen Einrichtungen, dass das Asyl weiterhin unabhängig von der religiösen Zugehörigkeit und der politischen Einstellung einer Person gewährt werden müsse.38 In den beiden Folgejahren beschlossen Rat und Synode der EKD Papiere mit ähnlichen Forderungen, die sich inhaltlich auf die Entschließung vom November 1980 bezogen.39 Der Rat forderte etwa einen eigenen Schutzstatus für nichtanerkannte Flüchtlinge und benannte Bürgerkriegsflüchtlinge und türkische Christen als drängende Beispiele für die Notwendigkeit dieser neu zu schaffenden rechtlichen Kategorie.40 Zusätzlichen Anstoß erhielt diese Positionierung im August 1981 durch eine Erklärung des ÖRK-Zentralausschusses zum Thema „Die Kirchen und die Weltflüchtlingskrise“, in dem die Mitgliedskirchen zum wiederholten Mal aufgefordert wurden, für Flüchtlinge in ihren Ländern aktiv zu werden: 33 Kommuniqu der 15. Sitzung des Rates der EKD: epd-ZA Nr. 178, 16. 9. 1980, 7. 34 Schreiben des Chefs des Bundeskanzleramts Schreckenberger an die Präsidenten von Caritas und Diakonie, Betreff: Christen aus der Türkei, 16. 12. 1982 (EZA Berlin 2/20201). 35 Rundbrief der Gemeinde St. Ulrici in Braunschweig an die Abgeordneten des Deutschen Bundestags, 16. 5. 1980 (BArch Koblenz B106/90346). 36 Stellungnahme von Landesbischof Heubach als Sprecher des Rates der Konföderation evangelischer Kirche in Niedersachsen bei der Begegnung mit der Landesregierung am 9. 12. 1980 zum Thema „Ausländer und Asylanten“ (EZA Berlin 2/17640). 37 Vgl. Evangelische Akademie Bad Boll, Asylsuchende, 6 und 23–27. 38 Schreiben von Theodor Schober und dem Kommissariat der Bischöfe im Vorfeld der Innenministerkonferenz zur Lage der Asylbewerber und Änderungen des Asylrechts, 8. 9. 1980 (BArch Koblenz B106/90346). 39 Vgl. Kirchenkanzlei, Fellbach 1981, 316 f. 40 „Vorläufigen Schutz“ für Flüchtlinge ohne Asylberechtigung angeregt. In: epd-ZA Nr. 90, 10. 5. 1982, 8.

Protestantische Reaktionen auf die Entwicklungen der 1980er Jahre

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„Eines der alarmierendsten Kennzeichen der heutigen Zeit ist die unfreiwillige Wanderung von Millionen von Menschen, die gezwungen sind, ihr Heim und Ihr Land zu verlassen. Man bezeichnet sie als Flüchtlinge, als Vertriebene, als Ausgewiesene oder Exilanten. Sie sind die Opfer von ungerechten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen, von Verletzungen der grundlegenden Menschenrechte und von brutalen bewaffneten Konflikten. Auf der Suche nach Nahrung und Unterkunft, Identität und Zugehörigkeit kämpfen sie um ihr Überleben. Sie brauchen Gerechtigkeit, Frieden und die Anerkennung ihrer Menschenwürde. Ihr Anspruch auf Hilfe seitens der Kirchen ist daher eine Selbstverständlichkeit.“41

Der ÖRK-Zentralausschuss sprach im Gegensatz zu den Beschlüssen der EKD explizit von einer Herausforderung, die sich aus kolonialem Erbe, nationalen Machtpolitiken und dem Kampf von Minderheiten um ihre Rechte speise.42 Auch der zugewandte Umgang mit Flüchtlingen anderer Religionszugehörigkeit wurde explizit hervorgehoben.43 Im Sinne der ÖRK-Erklärungen positionierten sich protestantische Akteure wiederholt gegen ausländerfeindliche Äußerungen und den dahinter zu Tage tretenden Rassismus. Als ein besonders öffentlichkeitswirksamer Beleg für die von völkischen Einstellungen geprägte Stimmung in den beginnenden 1980er Jahren gilt das sogenannte Heidelberger Manifest von 1981.44 In diesem mehrheitlich von Professoren unterzeichneten Text warnten die Verfasser vor einer Überfremdung Deutschlands mit Ausländern, um zugleich in rassistischem Duktus den Schutz nationaler Identitäten zu beschwören.45 Der in einem elitär-akademischen Stil geschriebene Text bündelte die xenophoben Stimmungen und Diskurse seiner Zeit und wurde viel rezipiert, löste aber auch eine Reihe von Gegenpositionierungen aus.46 Die evangelischen Studentengemeinden beschlossen auf ihrer Bundesdelegiertenkonferenz einen Antrag, in dem sie das Heidelberger Manifest als weiteren Beitrag zur Aushöhlung des Asylrechts und einer inhumanen Ausländerpolitik verurteilten.47 Das Manifest sei als Wiedereintritt in eine Politik der Aussonderung zu verstehen, an deren Ende erneut Konzentrationslager stünden.48 Ein pikantes Detail bei der protestantischen Auseinandersetzung mit dem Manifest kam dabei ebenfalls an die Öffentlichkeit: Mit dem Biologieprofessor Joachim Illies hatte auch ein Mitglied der EKD-Synode die Erklärung unterzeichnet.49 Kritiker forderten ÖRK, Zentralausschuss 33. Tagung, 113. Vgl. ebd., 114. Vgl. ebd., 115. Vgl. Wirsching, Abschied, 298; Poutrus, Umkämpftes Asyl, 90 f. Vgl. umfassend Wagner, Heidelberger Manifest, 286–291. Vgl. ebd., 306–312. Schreiben des Pressereferenten der Bundes-ESG an den Rat der EKD, 6. 3. 1982 (EZA Berlin 2/ 17640). 48 Ebd. 49 Vgl. Leuninger, Kirche und Heidelberger Manifest, 124.

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Der Protestantismus und die Asyldebatte der 1980er Jahre

eine umgehende Klärung von Seiten des Rats der EKD ein.50 Die Reaktionen der EKD-Spitze ließen nicht lange auf sich warten. In einer öffentlichen Erklärung wurde die Stoßrichtung des Manifests zurückgewiesen und für unvereinbar mit „biblischen Überzeugungen“51 erklärt. Ein von Mitarbeitern der Ausländerarbeit beider christlicher Kirchen gemeinsam mit den Gewerkschaften publiziertes Faltblatt nahm die Argumente des Manifests kritisch auseinander.52 Nur selten waren die Reaktionen von protestantischer Seite derart breit aufgestellt und schnell. Akteure, die bereits über Erfahrungen aus dem vorhergehenden Jahrzehnt verfügten, sahen sich in einem scheinbar aussichtlosen Kampf gegen den xenophoben Zeitgeist gefangen. Der DiakonieJahresbericht 1981 vermerkte im Abschnitt zu Werner Lottjes Menschenrechtsreferat in einem resignierenden Tonfall, die Hilfe für Asylsuchende werde immer schwieriger und bei der Bevölkerung unpopulärer.53 Besonders die Unionsparteien thematisierten das angebliche „Ausländerproblem“ vermehrt in ihren Kampagnen.54 Die zeitgenössischen Umfragedaten der frühen 1980er Jahre verdeutlichen diese Entwicklung. Zwar wurde das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte von einer Mehrheit in Umfragen prinzipiell akzeptiert, zugleich aber hohe Zustimmung für die Ansicht gemessen, die Asylpraxis sei zu liberal.55 Auch die Bedeutung des Asylrechts für die Identität der Bundesrepublik wurde in den Umfragen als gering eingeschätzt. Entsprechend niedrige Werte wurden etwa bei einer Erhebung im Jahr 1980 gemessen: Nicht einmal ein Fünftel der Befragten stimmte der Aussage zu, es gebe historisch-moralische Verpflichtungen für die Gewährung von Asyl.56 Die Diskrepanz zu den Engagierten der christlichen Flüchtlingshilfe war in dieser Frage besonders groß. Seit den späten 1970er Jahren hatte sich der Stellenwert von historischen Referenzen in diesem Kontext verändert. Zwar waren Rekurse auf die deutsche Geschichte in der Flüchtlingshilfe kein neues Phänomen. Jedoch hatte sich im Vergleich zu den vorhergehenden Fällen der Bezugsrahmen verschoben. Gollwitzer hatte für die Aufnahme der Chilenen noch mit einem Verweis auf die Schicksale deutscher Exilanten geworben, Frenz auf die Praxis der braunen Willkürjustiz verwiesen. Die Vernichtung der europäischen Juden hatte in diesem Kontext hingegen keine prägende Rolle gespielt. Die parallel verlaufende massenmediale Rezeption der NS-Geschichte sowie die Wandlung der Geschichtskultur, wie sie oft anhand der Fernsehserie „Holocaust“ beschrieben wird, hinterließ auch im Asyl- und

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Vgl. ebd. Rat der EKD wendet sich gegen völkisches Gedankengut. In: epd-ZA Nr. 221, 12. 11. 1982, 1 f. Vgl. Leuninger, Kirche und Heidelberger Manifest, 123. Vgl. Diakonisches Werk, Jahrbuch 80/81, 139. Vgl. ebd., 168. Vgl. Cooper, Immigration, 234–236. Vgl. ebd., 233.

Protestantische Reaktionen auf die Entwicklungen der 1980er Jahre

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Flüchtlingsdiskurs prägende Spuren.57 Im Verlauf der 1980er Jahre, die von verschiedenen fünfzigsten Jahrestagen wie dem der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 durchzogen waren, wurde der Topos von den Lehren aus der Geschichte zu einem wichtigen Referenzpunkt.58 Explizit darauf bezog sich etwa ein offener Brief der Heidelberger ESG, in der die Studierenden als christliche Gemeinde den Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann adressierten: „Sollte nicht gerade heute, fünfzig Jahre nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, von Regierungsseite jede Maßnahme vermieden werden, die einer Stimmung gegen eine bestimmte Gruppe in diesem Land, die der Ausländer, Vorschub leistet?“59

Deutlich wurde diese Entwicklung nicht nur anhand von vergleichbaren Reaktionen wie der Erklärung des ESG-Bundesverbandes, nach dem das Heidelberger Manifest den direkten Pfad hin zu neuen Konzentrationslagern ebenen würde. Auch andere Publikationen der Flüchtlingshilfebewegung hoben diesen Aspekt hervor, etwa der Einleitungstext des von einer breiten Riege Engagierter in der Flüchtlingshilfe verantworteten Sammelbands „Asyl bei den Deutschen“ mit der Überschrift „Asylrecht und Vergangenheitsbewältigung“60. Der Text schloss mit der Bemerkung, das im Grundgesetz verankerte Asylrecht sei eine große Aufgabe, die als Beitrag zur Verarbeitung der jüngeren deutschen Vergangenheit verstanden werde.61 In diesem Tenor agierten auch viele protestantische Akteure, die diesen Aspekt als wichtiges persönliches Motiv benannten, ihn aber auch für die Argumentation in der Öffentlichkeit nutzten. Das Thema Asyl wurde vielfach in seiner moralischen und historischen Dimension betont. Beispielsweise schickte das Diakonische Werk im Saarland eine Unterschriftensammlung an das Bundesinnenministerium. Als Anlass nannten die Initiatoren den zunehmenden Hass auf Ausländer sowie den Wunsch, zu zeigen, dass man aus der Erfahrung des Nationalsozialismus gelernt habe.62 Vergleichbar argumentierte auch das Schreiben einer Gemeinschaft aus evangelischen und katholischen Pfarrern und Helferkreisen sowie einer Amnesty-Gruppe in Karlsruhe, das als Bittbrief für eritreische Flüchtlinge an den baden-württembergischen Ministerpräsidenten geschickt wurde. Die Unterzeichner erklärten die Asylgewährung darin ebenfalls zum Element der Vergangenheitsbewältigung: 57 Auf diesen Zusammenhang hat bereits Frank Bösch in seinen Arbeiten zur Aufnahme der „boat people“ verwiesen. Vgl. Bösch, Engagement, 25 f.; Ders., Zeitenwende, 393–395. 58 Vgl. Morgenstern, Kirchenasyl, 120. 59 Offener Brief des Gemeinderats der ESG Heidelberg an Bundesinnenminister Zimmermann, Februar 1983 (EZA Berlin 2/20201). 60 Vgl. Schmid, Asylrecht. 61 Vgl. ebd., 12. 62 Unterschriftensammlung des Diakonischen Werks Saar an Bundesinnenminister Baum, 1980 (BArch Koblenz B106/90347).

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Der Protestantismus und die Asyldebatte der 1980er Jahre

„Wir würden uns nicht derart intensiv für unsere eritreischen Brüder und Schwestern einsetzen, hätten wir nicht die Überzeugung gewonnen, daß wir mit ihnen einen guten gemeinsamen Weg in die Zukunft gehen können […]. Wir denken an das vergleichbare Schicksal jüdischer Emigranten während der Nazizeit und sollten unseren eritreischen Freunden ähnliche Hilfe ermöglichen […]. Auch das ist ein Stück Geschichtsbewältigung.“63

Eine im Sommer 1983 im „Sonntagsblatt“ veröffentlichte Karikatur setzte diesen Zusammenhang bildlich um. Dort wurde der deutsche Michel gezeigt, der in seinem Fernseher die Serie „Holocaust“ ansieht und sich die Augen zuhält, während vor seinem Fenster die Parole „Ausländer raus“ an die Wand gesprayt wird.64 Historische Referenzen auf die Verfolgung im NS-Staat und den Holocaust verbanden sich dabei mit Verweisen auf die Position der evangelischen Kirche in der NS-Zeit im positiven wie im negativen Sinne.65 Auch die Diskussion um die Legitimität von zivilem Ungehorsam und der Gewährung von Kirchenasyl war von der neuen Wahrnehmung der Vergangenheit beeinflusst.66 Die zunehmende Präsenz des Topos von der historischen Verantwortung und den Lehren aus der Geschichte verdeutlicht, dass in diesem Zeitraum implizit die Frage nach der Identität der Bundesrepublik mitverhandelt wurde. Offene Asylpolitik wurde von den Akteuren der Flüchtlingsunterstützer als eine Absage an die nationalsozialistische Vergangenheit verstanden.67 Diese diskursive Verknüpfung stand jedoch auch für ein „dezidiert enthistorisierendes Bewusstsein“68, da sie oft ausschließlich über die Betonung augenscheinlicher Parallelen und über bildliche Assoziationen funktionierte. Eindrucksvoll illustriert das eine Quelle aus dem Umfeld der evangelischen Helferkreise in Frankfurt: In seinem an Freunde und Unterstützer der örtlichen Hilfsarbeit gerichteten Weihnachtsrundbrief Ende 1982 reflektierte der zuständige Pfarrer über die Begegnung einer Kirchengemeinde mit eritreischen Flüchtlingskindern. Zur Skandalisierung des Umgangs der Behörden mit diesen bediente sich der Weihnachtsbrief eines doppelten Rekurses auf biblische Geschichte ebenso wie auf den Holocaust:

63 Schreiben des Karlsruher Betreuerkreises an Ministerpräsident Lothar Späth, Betreff: Eritreische Flüchtlinge, 18. 4. 1980 (EZA Berlin 2/20199). 64 Bonn, die Türken und das Grundgesetz: Menschenwürde ist unteilbar. In: Sonntagsblatt, 31. 7. 1983, 1. 65 Vgl. Büttner, Umkehr, 45. Büttner bezieht sich in ihrem Aufsatz auf eine Ansprache des Berliner Altbischofs Kurt Scharf im Jahr 1987, in der dieser sich positiv auf die Barmer Erklärung als Zeichen der Abgrenzung vom totalen Staat bezog. Ein Ausschnitt der Rede ist abgedruckt bei: Just, Kirchenasylbewegung, 143. 66 Vgl. Morgenstern, Kirchenasyl, 85 und 120. Siehe hierzu ausführlicher im Abschnitt zur Kirchenasyldebatte. 67 Vgl. Poutrus, Zuflucht, 893. 68 Eckel, Ambivalenz, 401. Jan Eckel verwendet den Begriff bei der Analyse der Motive von AIAktivisten.

Protestantische Reaktionen auf die Entwicklungen der 1980er Jahre

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„Kinder werden von unseren Behörden so gut wie nie als Flüchtlinge anerkannt, weil sie angeblich nicht politisch verfolgt werden können. Wie grausig naiv ist diese Praxis! Die biblische Geschichte erzählt von einer Flucht, die nur des Kindes wegen geschah! Und als einige von uns Kinder waren, wurden in Deutschland jüdische Kinder in die Gasöfen geschickt…“69

Auch in Gottesdiensten fand diese Form der doppelten Bezugnahme Einzug. Im Programm eines Jugendgottesdienstes in Heidelberg zum Thema wurde die biblische Erzählung von der Flucht aus Ägypten ebenfalls in Bezug zur Situation der Juden und von Flüchtlingskindern während des Zweiten Weltkriegs gesetzt.70 Für die heterogene Asylhilfebewegung war der Verweis auf die Vergangenheit ein wichtiger gemeinsamer Nenner. Die verschiedenen Helfergruppen und Organisationen mit ihren unterschiedlichen Motiven und Aktionsformen suchten immer wieder den Austausch über diese Fragen. Die komplexen, sich in andauernder Veränderung befindlichen rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen sowie die Vielfalt der beteiligten Institutionen prädestinierten weiterhin die evangelischen Akademien als Sammlungsort und Forum. Exemplarisch dafür kann die Auseinandersetzung um die Asylrelevanz von Folter stehen.71 Mehrere Verwaltungsgerichte hatten mit Urteilen zu der Frage, ob drohende Folter im Herkunftsland allein als politische Verfolgung anzusehen sei, für Aufmerksamkeit gesorgt.72 Der Umstand, dass die Rechtsprechung Folter nicht per se als asylrelevant beurteilte, sorgte für Unverständnis und Protest. Akademien wie Bad Boll, Hofgeismar und Nordelbien griffen die Kontroverse auf und veranstalteten Tagungen, an denen Juristen, Menschenrechtsaktivisten, Vertreter von Exilantenorganisationen und Engagierte aus der Flüchtlingsbetreuung teilnahmen. Das Aufeinandertreffen von Richtern und Engagierten der christlichen Flüchtlingshilfe sollte dem Austausch und der Verständigung zwischen den Justizvertretern und den zivilgesellschaftlichen Akteuren dienen. Zumeist endeten die Tagungen aber im Eingeständnis des gegenseitigen Missverstehens. Engagierte christliche Gruppen standen oft empört und mit Unverständnis vor der juristischen Auslegungspraxis und reagierten mit Skandalisierung und Justizkritik.73 Prominente Stimmen wie Helmut Frenz, der in den 1980er Jahren als Generalsekretär von Amnesty in Westdeutschland tätig war, verurteilten das Vorgehen des Staates und der Justiz ebenfalls.74 Die Gräben zwischen der Flüchtlingshilfebewegung und den staatlichen Stellen wurden immer deutli69 Weihnachtsrundbrief von Pfarrer G. Hoffmann, Dezember 1982 (EZA Berlin 2/17641). 70 Gottesdienst „Ich war fremd und obdachlos…und ihr habt mich aufgenommen“. Jugendgottesdienst Heidelberg, 19. 12. 1986 (ELAB Berlin G1/1741). 71 Vgl. hierzu ausführlich Spanos / Hakemann, Protestantismus. 72 Vgl. Münch, Asylpolitik, 34 f. 73 Exemplarisch: Passoth, Fremder, 66. 74 Vgl. Frenz, Bundesregierung.

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cher offenkundig. Den restriktiven Tendenzen in der Rechtsprechung und Politik begegneten die protestantischen Akteure der Flüchtlingsarbeit mit Protest und moralischer Verurteilung.75 Innerprotestantische Kritik an solchen Positionierungen blieb jedoch nicht aus. Die sich bereits im Fall Shivangulala abzeichnenden Konfliktlinien um das Ausmaß und den Tonfall protestantischer Staats- und Justizkritik traten in den internen Auseinandersetzungen immer wieder zu Tage. Eine protestantische Polyphonie zeichnete sich ab. Auf der einen Seite positionierten sich Landeskirchen wie die des Rheinlands klar mit Synodenbeschlüssen für eine offene Asylpolitik und eine advokatorische Haltung des Protestantismus.76 Andererseits wurden zunehmend auch kritische Stimmen gegen diese eindeutige Position laut. Dabei tat sich besonders der als konservativ geltende Landesbischof von SchaumburgLippe, Joachim Heubach, hervor.77 Trotz der geringen Größe seiner Landeskirche besaß Heubach aufgrund seiner Funktionen als Sprecher der evangelischen Kirchen in Niedersachsen sowie als Beauftragter der EKD für die Seelsorge im Bundesgrenzschutz einen großen Resonanzraum im westdeutschen Protestantismus. Heubach nutzte einen Gesprächstermin zwischen Kirchen und Landesregierung am Jahresende 1980 für eine Fundamentalkritik an den bisherigen asylpolitischen Stellungnahmen seiner evangelischen Brüder und Schwestern. Die Ansprache des Landesbischofs vor dem niedersächsischen Kabinett enthielt nicht nur Lob für christdemokratische Politiker, sondern auch eine Abrechnung mit den Initiativen innerhalb der eigenen Kirche: „Kirchliche Gruppen, insbesondere in der Jugend- und in der sozialen Arbeit, neigen zur Zeit zu einer solchen kämpferischen, ja manchmal fanatischen Ausländerfreundlichkeit. Man wird dafür immer Verständnis haben müssen, denn es ist ein subjektiv ehrlicher Versuch, das christliche Gebot ganz ernst zu nehmen. Dennoch wird man auf die Gefahren solchen ethischen Rigorismus hinweisen müssen. Es scheint auch, daß es Leute gibt, denen die Empörung über Unrecht so sehr zur zweiten Natur geworden ist, daß sie – unbewußt – geradezu Gelegenheit zur Empörung herbeiwünschen oder sie gar durch Provokation selbst schaffen.“78

Heubach erklärte damit die in der Flüchtlingshilfe engagierten Protestanten in einem paternalistischen Duktus zu emotional getriebenen Idealisten. Die eigene Haltung umriss er als eine von der lutherischen Theologie geprägte Position des Realismus und des Ausgleichs: Auch aus christlicher Perspektive 75 Vgl. Spanos / Hakemann, Protestantismus. 76 Vgl. Kaminsky, Kirche, 366 f. 77 Heubach trat auch als Kritiker der christlichen Friedensbewegung in Erscheinung, der er ähnlich wie im Fall seiner Ansprache zum Asylthema moralischen Rigorismus vorwarf. Vgl. hierzu seine Äußerungen zum Hamburger Kirchentag 1983: Druck auf Gehirn und Gewissen. In: Der Spiegel 22/1983, 52. 78 Stellungnahme von Landesbischof Heubach bei der Begegnung mit der Landesregierung am 9. 12. 1980 zum Thema „Ausländer und Asylanten“ (EZA Berlin 2/17640).

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müsse anerkannt werden, dass es sich um komplexe Themen handele und die zunehmende Polarisierung zwischen Extrempositionen den gesellschaftlichen Frieden bedrohe. Viele der Kernforderungen der kirchlichen Ausländerund Asylarbeit, wie das Konzept der multikulturellen Gesellschaft, das kommunale Wahlrecht für Ausländer sowie die strikte Ablehnung der Unterbringung in Sammellagern und einer Grundgesetzänderung verwarf Heubach. Dabei gehörte der Protestest gegen die Sammellager Anfang der 1980er Jahre zum Kernbestand der Forderungen der Diakonie.79 Die Fremdenfeindlichkeit erklärte Heubach zudem zu einem düsteren Bestandteil der menschlichen Seele, dem man nicht mit pädagogischen Maßnahmen und moralischer Empörung begegnen könnte. Diese bis zu einer Essentialisierung reichende Psychologisierung der Skepsis gegenüber dem Fremden rahmte Heubach mit leiser Behördenkritik und einem Plädoyer für den Schutz christlicher Flüchtlinge durch Kontingentlösungen.80 Heubach blieb seiner Position auch in den Folgejahren treu. Auf der Sitzung der EKD-Kirchenkonferenz im März 1982 kritisierte er im Namen der niedersächsischen Kirchen das Vorgehen der inhaltlich federführenden evangelischen Institutionen bei der Stellungnahme zur Asylpolitik: Das Diakonische Werk und das Kirchliche Außenamt könnten nicht derart grundlegende Stellungnahmen abgeben.81 Die Frage, wer über die Befugnis verfüge, sich im Namen des bundesdeutschen Protestantismus zu asylpolitischen Grundsatzfragen zu äußern, kam vermehrt zur Sprache. Durch die stark gewachsene Öffentlichkeit und die zunehmende Polarisierung, die sich bei den kirchenleitenden Stellen in Form zahlreicher Zuschriften niederschlug, war die bisherige Alleinzuständigkeit der kirchlichen Experten für Flüchtlingsarbeit in EKD und Diakonie in Frage gestellt. Heubachs Angriff auf den Einfluss der Diakonie wurde auf der Kirchenkonferenz von Diakonie-Präsident Schober mit dem Argument pariert, diese könne aus ihrer unmittelbaren Erfahrung mit den Betroffenen sehr wohl genaue Aussagen über die Notwendigkeiten in diesem Feld treffen. Die Konfliktlinie blieb aber bestehen. Der Vorwurf, die protestantische Positionierung zum Thema Asyl speise sich hauptsächlich aus dem engen Netzwerk einiger hochinvolvierter Akteure auf einer von den Gemeinden abgehobenen Ebene, trat in den Folgejahren immer wieder auf.82 Da in der medialen Öffentlichkeit nur geringfügig zwischen kirchenoffiziellen Äußerungen sowie den Positionen von Fachgruppen, EKD-Kammern oder Einzelpersonen unterschieden wurde, stellte sich diese Frage umso akuter. Auf der anderen Seite reagierte die Diakonie mit unbeirrtem Festhalten an ihrem etablierten Kurs. Mit der Gründung einer abteilungsübergreifenden 79 Vgl. Lottje, Menschlichkeit. 203. 80 Ebd. 81 Auszug aus dem Protokoll der Sitzung der Kirchenkonferenz vom 25. 3. 1982 (EZA Berlin 2/ 17640). 82 Ebd.

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Arbeitsgruppe „Ausländerarbeit“, die die bisherigen Strukturen aus der Arbeitsmigranten-, Menschenrechts- und Flüchtlingsarbeit besser bündeln sollte, wurde dem steigenden Koordinierungsbedarf genüge getan.83 In einem Beitrag, der ebenfalls im Sammelband „Asyl bei den Deutschen“ erschien, skizzierte Werner Lottje die Grundlagen der diakonischen Flüchtlingsarbeit explizit in Abgrenzung zum staatlichen Handeln: Aufgabe der Wohlfahrtsverbände sei es, die Rolle als „kritische Beobachter und Anwälte“ und „Stimme der Stimmlosen“84 einzunehmen. Aufgrund ihrer globalen Orientierung und Vernetzung seien die kirchlichen Wohlfahrtsverbände für kulturellen Austausch und die Begegnung mit Flüchtlingen prädestiniert, zudem müssten sie ihre Aufgabe besonders in der Einspeisung einer globalen Perspektive in die deutsche Diskussion sehen.85 Lottje äußerte sich in dem Beitrag auch über den Konflikt mit der Politik. Dabei stellte er angesichts einer befürchteten weiteren Verschlechterung der Situation selbstbewusst den Anspruch, es sei an der Politik, wieder sachlich in der Asyldiskussion zu agieren, um kooperativ mit den Wohlfahrtsverbänden zusammenarbeiten zu können.86 Die Gesprächsfäden zwischen Politik und evangelischer Kirche waren zu Beginn des Jahrzehnts noch weitestgehend intakt. Der Chef des Bundeskanzleramts schrieb nach der rechtlichen Neuregelung von Familienzusammenführungen an den Diakonie-Präsidenten, der Kanzler und die Regierung legten großen Wert auf die Stimme der Kirchen und hofften, dass diese trotz der kritisierten Beschlüsse weiterhin ihre umfangreiche Arbeit im Bereich Flüchtlingshilfe und Integration fortsetzen würden.87 Auch mit dem bei Asylrechtsverschärfungen federführenden Bundesinnenministerium bestand noch ein funktionierender Kommunikationskanal. Bei einem Gespräch mit Minister Gerhard Baum im Februar 1982 erörterten hochrangige Kirchenvertreter unter anderem die entsprechende Beschlusslage der EKD.88 Eine gewisse Skepsis der Beamten des damals noch FDP-geführten Ministeriums gegenüber den kirchlichen Positionen zur Asylpolitik blieb im Hintergrund aber präsent: Im Vorbereitungsdossier für den Minister wurde die Haltung der Kirchen zum Asylgrundrecht als unrealistisch eingestuft.89 Auch die von der evangelischen Kirche in Besprechungen mit dem Ministerium vorgebrachte Forderung nach der zusätzlichen Aufnahme von Menschen, die nicht un83 Interner Vermerk zur Bildung der abteilungsübergreifenden Arbeitsgruppe „Ausländerarbeit“ im Diakonischen Werk, 9. 6. 1980 (ADW Berlin PB 974). 84 Lottje, Menschlichkeit, 200. 85 Vgl. ebd., 209 f. 86 Vgl. ebd., 212. 87 Schreiben des Chefs des Bundeskanzleramts an Präsident Schober, 28. 12. 1981 (EZA Berlin 2/ 17640). 88 Protokoll der Besprechung von Bundesminister Baum mit Kirchenvertretern am 26. 2. 1982, 1. 3. 1982 (BArch Koblenz B106/70770). 89 Dossier für das Gespräch des Bundesinnenministers mit Kirchenvertretern, 3. 4. 1981 (BArch Koblenz B106/70770).

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mittelbar individuell verfolgt seien, wurde von der Ministeriumsspitze bloß zur Kenntnis genommen.90 In vertraulicher Gesprächsrunde mit Kirchen- und UNHCR-Vertretern rechtfertige der liberale Innenminister Verschärfungen als notwendig für den Erhalt des Asylgrundrechts und verwies auf den steigenden Unmut der Parteibasis, den die Bundesebene auf Dauer nicht zurückhalten könne.91 Die unter Baum noch vorhandenen Gesprächsfäden gingen mit der Ablösung der Regierung weitestgehend verloren. Der Wechsel von der sozialliberalen Koalition hin zum ersten Kabinett von Helmut Kohl im Herbst 1982 markierte im Kontakt mit dem Bundesinnenministerium eine Zäsur. Der neue Innenminister Friedrich Zimmermann von der CSU personifizierte neben seinem Berliner CDU-Amtskollegen Heinrich Lummer die harte asyl- und ausländerpolitische Linie der Unionsparteien. Zimmermann setzte in nur wenigen Monaten weitere Verschärfungen im Ausweisungsrecht durch.92 Das Doppeljahr 1982/1983 bündelte neben dem Regierungswechsel viele Ereignisse und Entwicklungen, die weitere Dynamik in die asylpolitische Auseinandersetzung brachten.93 Das noch von der sozialliberalen Koalition beschlossene Asylverfahrensgesetz von 198294 erleichterte unter anderem das Prozedere von Abschiebungen und führte eine Klassifizierung von Asylanträgen nach Erfolgsaussicht ein. Lottje, der als Vertreter des Diakonischen Werks an der Expertenanhörung des Bundestags-Rechtsausschusses zum Gesetz teilnahm, kritisierte diese neue Vorkategorisierung von begründeten und unbegründeten Fluchtmotiven ohne Erfolg.95 Mit den Tamilen und Libanesen gab es zunehmend weitere Flüchtlingsgruppen in der Bundesrepublik, deren Situation von vielen Unterstützergruppen als unhaltbar angesehen wurde und die von Abschiebungen in Konfliktregionen bedroht waren.96 Ein kritischer Bericht des UNHCR aus dem Jahr 1983, der zu Spannungen mit der Regierung führte, rügte die Bundesrepublik für ihre Abschottungspolitik, wobei insbesondere die Unterbringung von Asylbewerbern in Sammelunter-

90 Aktenvermerk zur Besprechung des Bundeskanzlers mit den Regierungschefs der Länder, Betreff: Haltung der Kirchen und Wohlfahrtsverbände zum Asylrecht, 27. 2. 1980 (BArch Koblenz B106/90346). 91 Aktenvermerk Gaertners für den EKD-Bevollmächtigten Binder zum Gespräch mit Bundesminister Baum am 9. Mai 1980, 13. 5. 1980 (EZA Berlin 87/2279). 92 Vgl. Seibert, Vergessene Proteste, 182. 93 Martin Wengeler sieht in diesem Zeitraum eine Zäsur im bundesdeutschen Migrationsdiskurs. Vgl. Wengeler, Topos, 516. 94 BGBl. Teil I, Nr. 25 vom 16. 7. 1982, 946–954. Ausführlich dazu vgl. Münch, Asylpolitik, 88–97; Dickel, Einwanderungs- und Asylpolitik, 287 f. 95 Stenographisches Protokoll über die 32. Sitzung des Rechtsausschusses am 12. März 1982 (BT PA Berlin 3109 [ohne Signatur]). 96 Diakonie warnt vor falscher Einschätzung der Herkunftsländer von Asylbewerbern. In: epd-ZA Nr. 148, 4. 8. 1983, 5. Zu tamilischen Flüchtlingen vgl. umfassend Wolken, Grundrecht, 169–187.

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künften negativ hervorgehoben wurde.97 Der Bericht wurde ebenfalls breit rezipiert und beispielsweise innerhalb der Diakonie rasch verbreitet.98 Das Büro des Bevollmächtigten der EKD sah ihn als Bestätigung der bisherigen Position und diskutierte kontrovers die Frage, ob der Bericht Thema kirchlicher Verlautbarungen werden müsste. Dabei stand die Befürchtung im Raum, das ohnehin schon angespannte Verhältnis zur Bundesregierung und einzelnen Landesregierungen mit allzu anklagenden Vorstößen weiter zu belasten.99 Während die amtskirchlichen Stellen und die offiziellen EKDGremien noch unsicher über den adäquaten Umgang mit der Politik waren und um einen moderaten Tonfall bemüht blieben, durchliefen viele Unterstützergruppen eine fortlaufende Entwicklung zu einer neuen Protestbewegung. 4.1.2 Der Beginn der Kirchenasylbewegung in der Bundesrepublik (1983) Das Kirchenasyl wurde in kurzer Zeit zu einer der bekanntesten, aber auch umstrittensten Praktiken der christlichen Flüchtlingshilfe. Die Ursprünge der Kirchenasylbewegung in Deutschland sind in den asylpolitischen Entwicklungen des Doppeljahres 1982/1983 zu verorten. Aufgrund ihrer Knotenfunktion für den internationalen Verkehr waren Großstädte wie Frankfurt am Main, Hamburg und vor allem West-Berlin die regionalen Schwerpunkte für die Ankunft von Asylbewerbern und somit auch der zunehmenden Protestbewegung. Besonders zugespitzt war besonders die Situation in West-Berlin, da sich dort der als „Hardliner“ geltende CDU-Innensenator Lummer und eine gut vernetzte und organisierte Helferszene gegenüberstanden.100 Vermehrt wurden evangelische Unterstützergruppen in der Stadt mit den Konsequenzen der rigide durchgesetzten Abschiebungspolitik konfrontiert. Auch Pfarrer und kirchengemeindliche Helferkreise waren dort bei Abschiebungen zunehmend in Konflikt mit der Polizei gekommen.101 Zudem unterstützte das Berliner Missionswerk intensiv den Berliner Flüchtlingsrat, den örtlichen Zusammenschluss der Hilfegruppen aus Wohlfahrtsverbänden, Kirchenvertretern, Menschenrechts- und Friedensgruppen.102 Dieser verstand sich als 97 Zum UNHCR-Bericht von 1983 vgl. Schönwälder, Persons, 79; Münch, Asylpolitik, 99 f. 98 Rundschreiben des Diakonischen Werks an die Diakonischen Werke der Gliedkirchen, Betreff: UNHCR-Bericht, 10. 8. 1983 (EZA Berlin 87/2283). 99 Aktenvermerk für den Bevollmächtigten der EKD zum vertraulichen UNHCR-Bericht, 8. 9. 1983 (EZA Berlin 87/2283). 100 Vgl. Seibert, Vergessene Proteste, 187. 101 Berliner Pfarrer protestiert gegen Praktiken der Ausländerpolizei. In: epd-ZA Nr. 161, 23. 8. 1983, 2. 102 Einer der Vorläufer des „Flüchtlingsrats Berlin“ war eine Arbeitsgruppe innerhalb des Missionswerks. Vgl.: Flüchtlingsinitiativen stellen sich vor: Flüchtlingsrat Berlin. In: epd-Dok 14/ 87, 23. 3. 1987, 29.

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überparteilich, allerdings war die Verankerung innerhalb der protestantischen Strukturen nicht zu übersehen: Der Flüchtlingsrat verschickte sogar seine offiziellen Briefe an den Berliner Senat mit dem Briefkopf des Missionswerks.103 Bundesrepublikweit kam es 1983 zu aufsehenerregenden Fällen von Abschiebungen, die auch Familien und Kleinkinder betrafen.104 Im Juli 1983 erschien im „Sonntagsblatt“ eine Titelgeschichte über die Rückführungspolitik, in der unter der Schlagzeile „Menschenwürde ist unteilbar“ Kritik am Vorgehen des CSU-geführten Innenministeriums geübt wurde.105 Der Tod von Kemal Cemal Altun, einem türkischen Asylbewerber, markierte im August 1983 den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung. Wenige Wochen vor Altuns Suizid hatte es bereits in Frankfurt mit Unterstützung zahlreicher Organisationen, auch unter Berufung auf die Stellungnahmen von ÖRK und EKD, eine groß angelegte Protestaktion gegen die Abschiebung von über 40 Türken gegeben.106 Neben dem Auftritt einer ökumenischen Protestgruppe bei der Kundgebung sorgten Blockadeversuche von einzelnen Aktionsgruppen aus den Reihen des demonstrierenden Bündnisses auf dem Flughafengelände für Aufsehen.107 In mancherlei Hinsicht ähnelte der Umgang mit dem Fall Altuns dem des Ehepaars Shivangulala, dessen Schicksal in den späten 1970ern die Unterstützer im Umfeld der Vereinigten Evangelischen Mission in Wuppertal gegen die Behörden aufgebracht hatte. Über ein Jahr lang hatten sich die juristischen Auseinandersetzungen um die Auslieferung Altuns gezogen. Zwar war Altun, der sich in der Türkei in linken Organisationen engagiert hatte, als Asylberechtigter anerkannt worden, jedoch stand aufgrund von Strafbefehlen weiterhin seine Auslieferung an die türkische Militärdiktatur im Raum.108 Seine Situation wurde über das Jahr 1983 hinweg medial intensiv begleitet, auch in der evangelischen Publizistik.109 Sein Suizid im Gebäude des Berliner Verwaltungsgerichts wurde zum Symbol für die deutsche Abschiebepolitik stilisiert und führte zu einer neuen Aktivität der im Bereich der Asylhilfe engagierten Gruppen.110 Der Tod des jungen Asylbewerbers erzeugte neue mediale Aufmerksamkeit für die Situation von Flüchtlingen und stieß eine Protestwelle in Gestalt von Demonstrationen und 103 Schreiben des Flüchtlingsrats Berlin an Sozialsenator Ulf Fink, Betreff: Geplante Sammelunterkünfte für Asylbewerber, 27. 1. 1982 (ELAB Berlin 36/2211). 104 Hannover: Kirchlicher Protest gegen Abschiebung jünger Türkin. In: epd-ZA Nr. 175, 12. 9. 1983, 4 f.; Berlin soll kein „Exempel an einem schutzlosen Kind statuieren“. In: epd-ZA Nr. 190, 3. 10. 1983, 3. 105 Bonn, die Türken und das Grundgesetz: Menschenwürde ist unteilbar. In: Sonntagsblatt, 31. 7. 1983, 1. 106 Bundesregierung lieferte Türken aus. In: epd-ZA Nr. 156, 16. 8. 1983, 5 f. 107 Ebd. 108 Vgl. Seibert, Vergessene Proteste, 183 f. 109 Der Fall des Türken Altun schwebt zwischen Asylverfahren und Auslieferungsantrag: Hoffnung und Skepsis. In: Sonntagsblatt, 34. 7. 1983, 2. 110 Vgl. Kleinschmidt, Streit, 241; Templin, Kopf, 201; Seibert, Vergessene Proteste, 187.

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Gedenkveranstaltungen an.111 Auch protestantische Gruppen schlossen sich dem Protest an.112 Die Heilig-Kreuz-Gemeinde in Berlin-Neukölln gewährte wenige Wochen später, am 13. Oktober 1983, einer von Abschiebung bedrohten Gruppe von Palästinensern Kirchenasyl in ihrem Gemeindehaus und begründete dies mit der bedrohlichen Situation im Libanon.113 Das Gemeindehaus war in den Monaten zuvor bereits Ort von Protestaktionen gewesen, wie etwa einem Hungerstreik von Aktivisten gegen Altuns Auslieferung.114 Auch wenn das Kirchenasyl von Berlin-Kreuzberg später zum Ausgangspunkt einer neuen Bewegung erklärt wurde, handelte es sich um eine spontane Aktion, die aufgrund der Kontakte der Gemeinde in die West-Berliner Unterstützerszene zustande gekommen war.115 Die Heilig-Kreuz-Gemeinde forderte die anderen West-Berliner Gemeinden dazu auf, ihrem Beispiel zu folgen und sich ebenfalls schutzbedürftiger Palästinenser anzunehmen.116 In der Stadt entwickelte sich in der Folge ein Netzwerk von Kirchengemeinden, die sich dazu bereit erklärten, Flüchtlinge aufzunehmen. Die Kirchenleitung in Berlin unterstütze dies. Prominente Förderer waren Helmut Gollwitzer und der ehemalige EKDRatsvorsitzende und Berliner Altbischof Kurt Scharf.117 Auch aus der Berliner Pfarrerschaft gab es vermehrt Unterstützung: Der Superintendent von Kreuzberg erbat als Konsequenz aus dem Tod Altuns mit einem breiten Bündnis aus Berliner Gruppen vom Regierenden Bürgermeister einen Abschiebestopp und appellierte dabei an die christliche Verortung der CDU.118 Diese Entwicklung, die sich im Austausch mit der lokalen Protestszene entwickelt hatte, wurde jedoch auch misstrauisch beäugt. Die West-Berliner Helferszene jenseits der Kirchen galt in bürgerlich-konservativen Kreisen als tendenziell radikal. Das Auftreten evangelischer Amtsträger in diesem Umfeld blieb daher nicht ohne Kritik.119 Der Berliner „Tagesspiegel“ beschrieb den Kreuzberger Superintendenten daher in einer Kolumne als einen Mann, der mit zweifelhaften Verbündeten und überzogenen Ansprüchen agiere und mit seinen scharfen Attacken gegen den die harte Asylpolitik personifizierenden 111 Vgl. Kleinschmidt, Streit, 240 f. 112 Schreiben des ESG-Dachverbandes an den Rat der EKD und das EKD-Kirchenamt, Betreff: Auslieferung von Asylbewerbern, 4. 10. 1983 (EZA Berlin 87/2292). 113 Berliner Kirchengemeinden sollen Asylbewerber unterbringen. In: epd-ZA Nr. 202, 19. 10. 1983, 5. 114 Vgl. Just, Konflikt, 111. Für Verweise auf ähnliche Aktionen nach Altuns Tod siehe: Seibert, Vergessene Proteste, 189. 115 Vgl. Gessler, Gespräch, 36. 116 Berliner Kirchengemeinden sollen Asylbewerber unterbringen. In: epd-ZA Nr. 202, 19. 10. 1983, 5. Zur Bedeutung der Gemeinde für die West-Berliner Flüchtlingshilfeszene vgl. aus Zeitzeugenperspektive: Passoth, Fremder, 74. 117 Vgl. Just, Kirchenasylbewegung, 143. 118 Schreiben von Superintendent Roth an den Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen, 18. 6. 1984 (EZA Berlin 686/8532). 119 Vgl. Kleinschmidt, Streit, 243 f.

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Innensenator Lummer jeden Dialog unmöglich mache.120 Der Kolumnist machte sich sogar über die bei den Asylprotesten gemeinsam mit radikalen Gruppen auftretenden Protestanten lustig: „Ist Lummer für Linke ein Mensch zweiter Klasse? Wer seinen Nächsten liebt wie sich selbst, darf ihn sich nicht aussuchen. Müssen wir nicht gerade davon noch viele überzeugen, die nur ein linkes oder rechtes Auge haben? […] Es gibt Leute, denen ein Asylbewerber viel lieber ist als ein CDU-Mitglied. Und umgekehrt. Gott behüte, kann ich da als evangelischer Kirchensteuerzahler nur sagen. Denn Politiker und Priester allein werden es nicht schaffen.“121

Jenseits des besonderen Kontextes der evangelischen Gemeinden im geteilten Berlin muss die Entwicklung der Kirchenasylbewegung als transnationales Phänomen wahrgenommen werden, das sich in Westdeutschland mit einer gewissen Verzögerung entwickelte. Als Vorreiter und Vorbilder galten vor allem die Gruppen des „sanctuary movement“ in den USA122 sowie christliche Initiativen in der Schweiz123 und den Niederlanden124, deren Ideen und Praktiken von einem Asyl in kirchlichen Räumen auch in der Bundesrepublik zunehmend rezipiert wurden.125 Unter teilweise vergleichbaren Bedingungen hatten sich dort Diskussionen um die Rolle der Kirchen beim Schutz von bedrohten Migrantengruppen sowie eine Wiederbelebung der antiken und mittelalterlichen Idee vom Sakralort als Schutzraum vor staatlichem Zugriff entwickelt.126 In der Bundesrepublik war der Begriff Kirchenasyl anfangs noch diffus geblieben. Zwar war er im Kontext von Diskussionen der frühen 1980er Jahre um zivilen Ungehorsam, Protest und Gewissensnotstand immer wieder aufgekommen, jedoch meist ohne unmittelbaren Bezug zur Flüchtlingspolitik. Im Jahr 1981 hatte beispielsweise eine Dortmunder Kirchengemeinde einen Studenten aufgenommen, dessen Kriegsdienstverweigerung trotz Bereitschaft zur Ableistung des Zivildienstes mehrfach nicht anerkannt worden war und der sich so vor der drohenden Einberufung zur Bundeswehr schützen woll-

120 Beide Augen auf. In: Der Tagesspiegel, 22. 6. 1984. 121 Ebd. 122 Die Bewegung in den USA erlebte ab den späten 1970ern mit dem verstärkten Zustrom von Flüchtlingen aus Zentral- und Lateinamerika einen ersten Aufschwung, als sich vermehrt Kirchengemeinden zu sicheren Orten der Zuflucht erklärten. Vgl. Stukenborg, Kirchenasyl, 23–26. 123 Zur Asylhilfebewegung in der Schweiz und der Position kirchlicher Gruppen in diesem Kontext vgl. Holenstein et. al., Schweizer Migrationsgeschichte, 335–338. Zur Wiederbelebung des Kirchenasyls innerhalb der Schweizer Asylbewegung vgl. Pärli, Ungehorsam, 34; Nagel, Flüchtlinge, 23. 124 In den Niederlanden gelten ebenfalls die späten 19070er Jahre als Ausgangszeitraum. Als Ausgangskontext für die Entwicklung des dortigen „kerkasiel“ gilt die Situation christlicher Gruppen aus der Türkei. Vgl. Walaardt, Geruisloos inwilligen, 195–198. 125 Vgl. Dethloff, Sanctuary Movement, 164–166; Geisler, Asyl, 125; Huber, Rechtswohltat, 84. 126 Siehe weiterführend im Abschnitt „Das Verhältnis zum Rechtsstaat in der Diskussion“.

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te.127 In anderen Asyl genannten Fällen hatte es sich hingegen um Besetzungen gegen den Willen der betroffenen Gemeinden gehandelt.128 In den „Evangelischen Kommentaren“ hatte es noch Mitte 1980 eine Debatte über dieses Thema gegeben: In einem Artikel zur Besetzung von Berliner Kirchen wurde betont, dass die Gotteshäuser kein rechtsfreier und vor polizeilichem Zugriff geschützter Raum seien und kein eigenes Asyl gewähren könnten.129 In einem daran anschließenden Leserbrief wurde diese Haltung kritisiert und vor den Erfahrungen staatlicher Repressionen im Kontext von Umwelt- und Friedensprotesten als naiv bezeichnet: „Ob es in den Kirchen ein Asylrecht gibt oder nicht, darf nicht den Regelungen des staatlichen Rechts überlassen werden. […] Der Verzicht auf ein Asylrecht geht wohl von dem Irrtum aus, in einer parlamentarischen Demokratie könne es keine Fehlentscheidung mehr geben, vor denen Menschen fliehen müßten. Ist aber nicht dennoch damit zu rechnen und sind nicht Konflikte denkbar, die dazu führen, daß Menschen in der Kirche Schutz suchen – nicht nur Schutz vor knüppelschwingenden Polizisten, sondern auch mit der Bitte um Hilfe?“130

Mehrheitsfähig war diese Position zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht. Anfang 1981 bekräftigten mehrere EKD-Gliedkirchen im Kontext der Auseinandersetzung um Hausbesetzungen, dass es in Kirchen kein Asylrecht gebe und diese Vorstellung vielmehr auf Missverständnissen und altertümlichen Vorstellungen beruhe.131 Die Wiederbelebung der Kirchenasyltradition innerhalb des westdeutschen Protestantismus im Kontext der verschärften Abschiebepolitik des Jahres 1983 war daher eine Entwicklung, die sich in erster Linie aus den involvierten Basisgruppen speiste. Im weiter gefassten Kontext waren die Kirchenasylaktionen daher auch ein Resultat der steigenden Bedeutung von sozialen Bewegungen, mit denen der Protestantismus in vielfältiger Hinsicht verbunden war.132 Wenngleich die Bewegungen, die sich der Unterstützung von Migranten widmeten, zahlenmäßig weitaus kleiner als die sich gegen die Nachrüstung richtende Friedensbewegung waren, thematisierten sie auch die Fragen der Legitimität des zivilgesellschaftlichen Widerstands gegen aus ihrer Perspektive nicht haltbare staatliche Entscheidungen.133 Die sich in der Folgezeit entwickelnde umfangreiche theologischtheoretische Auseinandersetzung mit der Kirchenasylpraxis setzte erst retrospektiv ein, um die bereits etablierte Praxis der Hilfsarbeit zu reflektieren

Asyl für Wehrdienstverweigerer in der Gemeinde-Kapelle. In: epd-ZA Nr. 190, 5. 10. 1981, 6. Vgl. Morgenstern, Kirchenasyl, 118 FN 3. Polizei in der Kirche? Erfahrungen in Berlin. In: EvKo 5/80, 284–286. Asyl in der Kirche. In: EvKo 10/80, 605. „Es gibt kein Asylrecht in Kirchen“. In: epd-ZA Nr. 56, 20. 3. 1981, 2. Das Handbuch soziale Bewegungen erwähnt das Kirchenasyl beispielsweise im Kapitel zu „Mobilisierung von und für Migranten“. Vgl. hierzu Rucht / Heitmeyer, Mobilisierung, 591. 133 Vgl. Morgenstern, Kirchenasyl, 120. 127 128 129 130 131 132

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und durch Traditionskonstruktion zu legitimieren.134 Bis zur Änderung des Grundgesetzes 1993 wird daher zutreffend von der Frühphase der deutschen Kirchenasylbewegung gesprochen.135 Der medialen Rezeption von Einzelfällen sowie einer innerprotestantischen Debatte über ihre Legitimität tat das jedoch keinen Abbruch. Das galt besonders für einen Fall in Hamburg im Herbst 1984, der im Gegensatz zum West-Berliner Initialfall erfolglos blieb. Dort holte die Polizei eine im Kirchenasyl untergebrachte philippinische Familie gegen Widerstände aus der Kirche heraus.136 Das große mediale Echo stand nicht in Relation zur tatsächlichen Stärke und Verbreitung des Kirchenasyls. Bei der Bewegung handelte es sich bis in die 1990er um ein lokal begrenztes und zahlenmäßig kleines Phänomen. Das Kirchenasyl entwickelte sich zwar, weil es sich um eine explizit in religiösen Kontexten verhaftete Praxis handelte, zum Alleinstellungsmerkmal der christlichen Flüchtlingshelferszene.137 In der Beurteilung, dass es sich bis dahin zumeist um „eine Ansammlung spontaner Aktionen, die eher in Insiderkreisen und vor Ort Aufsehen erregten“138 handelte, sind sich aber sowohl die Forschungsliteratur wie auch die Zeitzeugen in selbsthistorisierenden Darstellungen einig.139 Wenngleich sie ihren Ursprung vor allem in protestantisch geprägten Ländern hatte und ihren Anfang in Deutschland in evangelischen Kirchengemeinden West-Berlins nahm, wurde aus den Kirchenasylgruppen in kurzer Zeit eine sich dezidiert als ökumenisch definierende Bewegung. Besonders deutlich wurde diese Entwicklung an der von verschiedenen europäischen Kirchenasylgruppen im Jahr 1987 in den Niederlanden verabschiedeten „Charta von Groningen“.140 4.1.3 Neuformierung und Protest (1983 bis 1986) Im Jahr 1983 sank die Zahl der Asylbewerber im Vergleich zu den beiden Vorjahren deutlich.141 Die Statistiken hatten jedoch kaum Einfluss auf die Entwicklung der Migrationspolitik oder das Debattenklima. Die Hoffnung, dass der Zenit der ausländerfeindlichen Stimmung überschritten sein könnte, hielt sich nur kurz. Bei einer Tagung der Evangelischen Akademie Baden zu Jahresbeginn 1984 hatte sich die in EKD-Gremien engagierte FDP-Politikerin und Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Liselotte Funcke, noch entVgl. hierzu die Selbsteinschätzungen Jürgen Quandts: Gessler, Gespräch, 36 f. Vgl. Just, Kirchenasylbewegung, 144 und 148. Vgl. Morgenstern, Kirchenasyl, 118. Vgl. ebd., 305. Morgenstern, Kirchenasyl, 121. Vgl. Büttner, Umkehr, 32 f. Darstellung aus Zeitzeugenperspektive: Just, Kirchenasylbewegung, 142–145. 140 Vgl. Just, Kirchenasylbewegung, 145–147. Zur Charta vgl. Morgenstern, Kirchenasyl, 94. 141 Vgl. Dickel, Einwanderungs- und Asylpolitik, 287 f.

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sprechend optimistisch geäußert.142 Ihre Hoffnung wurde enttäuscht. Im Jahresverlauf stieg die Zahl der Asylanträge erneut an, woraufhin Innenpolitiker der CDU/CSU zum Jahresende eine politische Kampagne zur Eindämmung des angeblichen „Asylmissbrauch“ starteten.143 Dabei wurde die vollständige Begrenzung der Zuwanderung verlangt sowie eine erste breitenwirksame Forderung nach einer Grundgesetzänderung vorgebracht.144 Diese Forderung war zwar auf kommunaler oder landespolitischer Ebene schon häufiger geäußert worden, die neue Qualität bestand jedoch in der „Enttabuisierung“145 dieser Haltung auf Bundesebene. Auf EKD-Ebene wurde in dieser Zeit die Notwendigkeit nach einer umfassenderen Erklärung und breiteren thematischen Auseinandersetzung mit den Themen der Asylpolitik jenseits kurzer Entschließungstexte deutlich. Im November 1984 beschloss die Synode einen Antrag zur Lage von Asylsuchenden, der Verbesserungen bei der Unterbringung und der eingeschränkten Freizügigkeit anmahnte sowie die Forderung nach einer weitgehenden Aufhebung des Arbeitsverbots für Asylbewerber enthielt.146 Der Text klammerte die parallele Debatte um die Neufassung des Ausländergesetzes aus. Bewusst sollten die asylpolitischen Forderungen von den allgemeinen Themen der Ausländerpolitik getrennt werden.147 Die Genese des relativ kurzen Synodenbeschlusses verdeutlicht, dass die bisherige Haltung der EKD-Gremien zur asylpolitischen Positionierung zunehmend zur Diskussion gestellt wurde. Anders als noch als bei der Entschließung vier Jahre zuvor in Osnabrück diskutierte das Kirchenparlament dieses Mal über verschiedene Änderungsanträge. Die Aufnahme einer Passage, die eine Belastungsgrenze des Asylrechts sowie die Notwendigkeit der Unterscheidung von „wirklich Verfolgten“ bejahte, wurde von der Mehrheit der Synodalen abgelehnt.148 Der Vorschlag zur Abänderung des Antragstextes war mit der Begründung angeregt worden, dass man als evangelische Kirche nicht „den Politikern aus Gesinnungsethik heraus einen Vorschlag machen könne“149 ohne die praktischen Fragen mitzudenken. Die Ablehnung des Änderungsantrags, den ein CDU-naher Synodaler eingebracht hatte, wurde von der Synodenmehrheit mit der Notwendigkeit einer klaren protestantischen Positionierung begründet. Dabei wurden in der Diskussion auf der Synode auch die gängigen Topoi der historischen Lehre und des Schutzes der Menschwürde angeführt: 142 Funcke sieht Höhepunkt der ausländerfeindlichen Stimmung überwunden. In: epd-ZA Nr. 11, 16. 1. 1984, 6. 143 Vgl. Wolken, Grundrecht, 105 f.; Münch, Asylpolitik, 104 f. 144 Vgl. Dickel, Einwanderungs- und Asylpolitik, 288–291. 145 Wolken, Grundrecht, 78. 146 Evangelische Kirche fordert Arbeitserlaubnis für Asylbewerber. In: epd-ZA Nr. 219, 9. 9. 1984, 6. 147 Vgl. Kirchenamt, Lübeck-Travemünde 1984, 463. 148 Vgl. ebd., 463 f. 149 Vgl. ebd., 460.

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„Hier geht es darum, daß […] Menschen so leben können, wie es Menschen gebührt, jedenfalls wenn sie unter dem Gesichtspunkt gesehen werden, daß auch sie Kinder Gottes sind. Es gibt sicher noch eine andere Sicht, aber uns steht sie für mein Empfinden nicht zu. Wir sollten stolz sein auf unser Asylrecht, was Erkenntnisse aus der Vergangenheit zur Ursache hat. Wir sollten es auf jeden Fall so festhalten, und wir sollten es so halten, daß gegen die Menschenwürde nicht verstoßen wird.“150

Der Beschluss wurde anschließend zwar unverändert und ohne Gegenstimmen, aber mit mehr als einem Dutzend Enthaltungen angenommen.151 Ähnliche Unstimmigkeiten gab es nach einem Interview des neuen DiakoniePräsidenten Karl-Heinz Neukamm im Mai 1985.152 Neukamm sprach sich darin zwar klar gegen eine Änderung des Asylartikels im Grundgesetz aus und unterstrich die theologische Verpflichtung zur Hilfeleistung für Notleidende und Fremde. Mit der Mahnung zu einer sachlicheren Betrachtung der Ausgangslage sowie der Warnung vor einem Glaubwürdigkeitsverlust der Kirche durch überzogene Forderungen an die Politik löste er jedoch einen Proteststurm aus.153 In Zuschriften an Neukamms Büro äußerten Engagierte ihre Verärgerung über das Interview und die Furcht, dass sie jetzt mit Kirche und Diakonie ihren einzigen Partner von Gewicht verlieren würden, der bedingungslos als „Lobby für Flüchtlinge“154 auftrete. Die Aufregung um das Interview des 1984 neu ins Amt gekommenen Präsidenten des Diakonischen Werks war das Symptom einer zunehmenden Sorge vor einer Revision der protestantischen Position zur Asylpolitik. Ein Vikariatskurs unterstellte Neukamm etwa in einem Brief, mit seinen Äußerungen alle bisher geltenden Grundsätze der diakonischen Arbeit mit Ausländern und Asylbewerbern in Frage zu stellen.155 Jenseits der offiziellen Ebene entwickelte sich die Protestbewegung innerhalb der Kirche fort, wobei West-Berlin das Zentrum blieb.156 Bei einer Veranstaltung unter dem Titel „Asyl in der Kirche?“ wurde dort angesichts der erwarteten Verschärfungen des Ausländerrechts bei einer Veranstaltung proklamiert, dass Christen zur Verhinderung von Unrecht gegen geltende Gesetze verstoßen müssten. Die Teilnehmenden betonten, dass es nicht ausreiche, einzelne Asylbewerber zu unterstützen, sondern dass es auch politischen Drucks auf die Gesetzgebung bedürfe.157 Neue Protestaktionen gegen die staatlichen Maßnahmen folgten. Einzelne Kirchengemeinden beteiligten 150 151 152 153 154 155

Ebd., 463. Vgl. ebd., 465. Ausführlicher siehe im Teilabschnitt „Die gehemmte Diakonie“. Diakonie-Präsident: Asyl-Problem nüchtern einordnen. In: epd-ZA Nr. 98, 24. 5. 1985, 9. Schreiben des Frankfurter Flüchtlingsbeirats an Neukamm, 5. 7. 1985 (ADW Berlin PB 975). Schreiben des Vikarskurs Herborn 1/84 in Hessen-Nassau an Neukamm, 20. 6. 1985 (ADW Berlin PB 975). 156 Vgl. Morgenstern, Kirchenasyl, 215. Aus Zeitzeugenperspektive vgl. Passoth, Fremder. 157 Hilfe für Asylsuchende: Notfalls auch Verstoß gegen Gesetze. In: epd-ZA Nr. 65, 30. 4. 1984, 3.

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sich an Umtauschaktionen, bei denen Asylbewerber ihre Wertgutscheine für Sachleistungen in Bargeld umwandeln konnten.158 Dabei blieb es nicht immer nur bei derart subversiv-kreativen Aktionen oder Unterschriftensammlungen. Im Falle von Blockade-Aktionen gegen Abschiebungen vor dem Flughafen wurden sogar Strafverfahren gegen einzelne Gemeindemitglieder eingeleitet.159 Den öffentlichkeitswirksamen Prozess vor dem Amtsgericht nutzte der Kreuzberger Pfarrer Jürgen Quandt für eine Anklage gegen die Asylpolitik.160 Im weiteren Sinne legitimierend wurde im Berliner Umfeld zudem der 50. Jahrestag der Barmer Theologischen Erklärung gewertet. Das Jubiläum der Bekenntnisschrift von 1934 wurde auf die gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen hin interpretiert.161 Helmut Gollwitzer sprach bei einer der Jubiläumsveranstaltungen davon, dass eine Kirche in der Barmer Tradition arm und herrschaftskritisch sein und daher auch ihre Räume für Asylbewerber öffnen müsse.162 Neben der besonderen nationalen Komponente zogen auch die globalen Aspekte immer stärker in den protestantischen Binnendiskurs ein. Wie bereits anhand des transnationalen Charakters der Kirchenasylbewegung und den Erklärungen der ÖRK-Gremien verdeutlicht, gewann die internationale Komponente für die Flüchtlingsarbeit im deutschen Protestantismus weiter an Bedeutung. Die Diakonie veranstalte für den Austausch mit den deutschsprachigen Nachbarn ein Drei-Länder-Symposion, auf dem sich deutsche, österreichische und schweizerische Diakonievertreter über Probleme der Flüchtlingsarbeit austauschten.163 Zentrales Thema der Veranstaltung war die Situation von abgelehnten Asylbewerbern. Aus der trinationalen Beratung ging ein Thesenpapier hervor, das die Entwicklungen im mitteleuropäischen Raum zusammenzufasste.164 Trotz der zunehmenden Vernetzung und dem Austausch über Ländergrenzen hinweg wurden die jeweiligen nationalen Unterschiede deutlich, wenn es um die offizielle Positionierung gegenüber dem Staat ging. In der Schweiz veröffentlichten 1985 drei Landeskirchen ein gemeinsames Memorandum unter dem Titel „Auf der Seite der Flüchtlinge“, in dem sie sich klar als Teil einer solidarischen Bewegung zur Wahrung der humanitären Tradition des Landes verorteten und einem

158 „Wertgutscheine für Asylbewerber nicht angemessen“. Berliner evangelische Kirche legt ihren Standpunkt dar. In: epd-ZA Nr. 101, 24. 5. 1984, 6. 159 Einladung zur Sitzung des AK „Asyl in der Kirche“ der Kirchengemeinde zum Heiligen Kreuz, 30. 11. 1985 (ELAB Berlin 36/2911). 160 Prozess wegen Blockade eines Busses mit Libanon-Flüchtlingen eröffnet. In: epd-ZA Nr. 69, 10. 4. 1986, 7. 161 Vgl. zur Rezeption der Barmer Erklärung in diesem Zeitraum: Schneider, Barmen, 79–88. 162 Kirche nach Barmen. Kritisch gegenüber Herrschaftsstrukturen. In: epd-ZA Nr. 105, 30. 5. 1984, 3. 163 „Aufnahme von Flüchtlingen für aktive Friedenspolitik unerlässlich“. Drei-Länder-Symposion fordert Lösungen für Flüchtlinge ohne Asylberechtigung. In: epd-ZA Nr. 232, 1. 12. 1983, 2. 164 Broschüre: „Leitsätze und Empfehlungen zur Integrations- und Asylpolitik in Mitteleuropa“, 1984 (ADW Berlin PB 974).

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Wahlaufruf „gegen Fremdenfeindlichkeit und für solidarische Asylpraxis“ anschlossen.165 Derart parteiergreifende Positionspapiere waren in der Bundesrepublik selbst für entsprechend klar verortete Gliedkirchen der EKD keine Option. Die evangelische Kirche Berlin-Brandenburg in West-Berlin legte im selben Jahr ein längeres Papier mit dem Titel „Asyl in unserem Land. Fragen, Informationen, Argumente“ vor.166 Die Veröffentlichung wurde mit dem rhetorischen Gestus der Versachlichung und Faktentreue präsentiert. Bei der Vorstellung des Textes im Rahmen der von der evangelischen Ausländerarbeit initiierten „Woche des ausländischen Mitbürgers“ wurde die Politik der Abschottung zwar deutlich kritisiert und den Befürwortern der restriktiven Asylpolitik Fehlannahmen bei der Beurteilung der Aufnahmefähigkeit der Bundesrepublik vorgeworfen.167 Der Text von „Asyl in unserem Land“ enthielt neben der Aufführung der gängigen theologischen Topoi der Flüchtlingshilfe sowie einem Aufruf der Kirchenleitung an die Gemeinden aber vor allem einen ausführlichen Abschnitt, der sich der Überwindung von Vorurteilen durch Zahlen und Fakten widmete. Im umfangreichsten Teil der Broschüre wurden gängige Ansichten über den Missbrauch des Asylrechts, die Wirkung von Abschreckungsmaßnahmen sowie die Kriminalität von Flüchtlingen aufgeführt, um sie anschließend zu widerlegen.168 Eng beteiligt an der Erstellung waren Kooperationspartner wie die Beratungsstellen und Flüchtlingsorganisationen.169 Ein Besuch des Bischofs in der Abschiebehaftanstalt während der Vorweihnachtszeit sollte die Veröffentlichung der Broschüre symbolisch ergänzen.170 Auch jenseits von Berlin gab es vergleichbare Publikationen, wenngleich mit anderem Schwerpunkt. Eine fast zeitgleich erschienene Handreichung der württembergischen Diakonie fokussierte sich stärker auf die Auslegung der entsprechenden Bibelstellen. Zwar definierte auch dieser Text die Gewährung von Asyl als Verwirklichung des Grundgesetzartikels, allerdings widmete er sich aber fast ausschließlich der theologisch-biblischen Begründung des christlichen Engagements.171 165 Broschüre „Auf der Seite der Flüchtlinge. Memorandum der drei Landeskirchen zu Asyl- und Flüchtlingsfragen“, 9. 5. 1985 (ADW Berlin PB 974). Zur Rezeption des Memorandums innerhalb des Schweizer Protestantismus vgl. Walter, Wegmarken. 166 Broschüre „Asyl in unserem Land. Fragen, Informationen, Argumente“ der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, 1985 (ELAB Berlin 36/2911). 167 Evangelische Kirche warnt vor „Abschottung“ gegen Asylbewerber, In: Der Tagesspiegel, 28. 9. 1985. 168 Broschüre „Asyl in unserem Land. Fragen, Informationen, Argumente“ der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, 1985 (ELAB Berlin 36/2911). 169 Kirchen rufen zur deutsch-ausländischen Nachbarschaft auf. In: epd-ZA Nr. 186, 27. 9. 1985, 8. 170 Aktenvermerk: Besuch des Bischofs in der Abschiebehaftanstalt, 26. 11. 1985 (ELAB Berlin 36/2911). 171 „Ausländische Flüchtlinge in unserem Land – sie brauchen uns!“ Eine Handreichung des Diakonischen Werks der evangelischen Kirche in Württemberg, Oktober 1985 (ELAB Berlin 36/2911).

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4.1.4 Die EKD-Studie „Flüchtlinge und Asylsuchende in unserem Land“ (1986) Auch auf EKD-Ebene und innerhalb des Diakonischen Werks wurde die Notwendigkeit einer umfassenden Veröffentlichung gesehen. In einem Aktenvermerk für den Diakonie-Präsidenten notierte ein Mitarbeiter Anfang 1985, es sei an der Zeit sich „endlich einmal grundlegend mit kirchlicher Asylarbeit“172 zu befassen. Die Kommission der EKD für Ausländerfragen und ethnische Minderheiten bildete im Sommer 1985 eine zusätzliche „ad-hocArbeitsgruppe zu Asylfragen“ unter der Geschäftsführung des zuständigen Referenten Michael Mildenberger, die sich dem Verfassen einer längeren Handreichung widmete und zu diesem Zweck verschiedene Experten und Praktiker zusammenbringen wollte.173 Federführend dabei agierte der Theologe Mildenberger, der die Nachfolge von Jürgen Micksch als Ausländerreferent im Kirchenamt der EKD angetreten hatte. Wie sein Vorgänger hatte Mildenberger intensiv an den Themen der Ökumene und des interkulturellen und interreligiösen Dialogs gearbeitet.174 Asylpolitik war aufgrund der generellen Zuständigkeit für die bisher von der Arbeitsmigration dominierten Ausländerarbeit in Mildenbergers Aufgabenfeld gekommen und hatte mit der Zeit immer mehr Umfang eingenommen. Dabei orientierte sich Mildenberger häufig an den Veröffentlichungen des ÖRK und verortete die Flüchtlingsarbeit innerhalb der ökumenischen und interkulturellen Arbeit.175 Damit ging auch eine pädagogische Komponente einher: Mildenberger interpretierte Flüchtlingsaufnahme und den Umgang mit Flüchtlingen primär als eine Frage der interkulturellen und interreligiösen Begegnung.176 Aufgrund seiner dienstlichen Position und seiner Kontakte war er in der Mitte der 1980er Jahre der zentrale Kommunikator zwischen den verschiedenen Beteiligten der evangelischen Flüchtlingsarbeit. Immer wieder trat er öffentlich als prominente kirchliche Stimme auf. Im Januar 1986 traf Mildenberger mit West-Berlins Innensenator Lummer bei einer Podiumsveranstaltung zusammen und verteidigte gegen scharfe Angriffe die Position, die Kirche müsse in der Anwaltsrolle für Minderheiten agieren und sich deswegen von einer bedingungslosen Zusammenarbeit mit dem Staat distanzieren.177 Aktenvermerk von Jörg Lang für Präsident Neukamm, 26. 2. 1985 (ADW Berlin PB 974). Vgl. Kirchenamt, Flüchtlinge, 1. Vgl. Mildenberger, Denkpause, 9–24. Vgl. ebd. In den späten 1980er Jahren verortete Mildenberger die Flüchtlingshilfe im Rückgriff auf die Stuttgarter Erklärung der ACK als Teil des konziliaren Prozesses, einem vom ÖRK angestoßenen Lernweg der Kirchen hin zu Gerechtigkeit, Frieden und Schöpfungsbewahrung. (Vgl. Mildenberger, Asyl, 213.) 176 Vgl. Mildenberger, Asyl, 216. 177 Lummer spricht von „Schmarotzermentalität“ bei Asylanten. In: epd-ZA Nr. 17, 24. 1. 1986, 1 f.

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Eine erste weitergehende gemeinsame Stellungnahme von EKD und Diakonie entstand für eine parlamentarischen Anhörung im Bundestag. Anlässlich einer Initiative von unionsregierten Bundesländern im Bundesrat wurde eine Expertenanhörung im Bundestagsinnenausschuss durchgeführt. Bei der öffentlichen Anhörung im März 1986 waren neben dem Bevollmächtigten der EKD auch jeweils ein Vertreter des Kommissariats der Bischöfe, der Caritas und des deutschen UNHCR-Büros geladen.178 EKD und Diakonie erarbeiteten für die Sitzung eine gemeinsame Stellungnahme, die sich an den Fragen des Innenausschusses orientierte. Der Text nahm bereits einige Punkte der später folgenden EKD-Studie vorweg. Er begann selbstkritisch mit dem Eingeständnis, dass man trotz des großen Einsatzes für Flüchtlinge auch innerhalb der Kirche mit Widerständen und Abwehrrhetorik zu tun habe. Der Protestantismus wurde in dem Text als gemeinwohlorientiert und interessiert an einem gutem und friedlichem Zusammenleben vorgestellt.179 Ausgehend von der vorangestellten Selbstkritik, der Betonung der Gemeinwohlorientierung und dem Verweis auf die aus den Praxiserfahrungen gewonnen Kompetenzen im Feld der Flüchtlingshilfe wurde anschließend Kritik an den Angaben des Innenministeriums und an Aussagen über die Aufnahmefähigkeit der Bundesrepublik geübt.180 Die Akteure der evangelischen Flüchtlingshilfe sahen sich vom Verlauf der Anhörung bestätigt und maßen dabei der breiten ablehnenden Front von Kirchen, UNHCR und Wohlfahrtsverbänden eine besonders wichtige Bedeutung zu.181 Mit diesem Optimismus begann die Arbeitsgruppe um Mildenberger im Herbst 1985 ihre Arbeit an der geplanten Stellungnahme. Den Vorstellungen der Kommission für Ausländerfragen zufolge sollte das Gremium klein sein und schnell agieren, da man befürchtete, bei einer größeren Arbeitsgruppe aus Rücksicht auf die kirchlichen Strukturen Verzögerungen in Kauf nehmen zu müssen.182 Neben den etablierten Mitarbeitern aus der EKD, der Diakonie sowie einigen landeskirchlichen Beauftragten wurden ergänzend Persönlichkeiten aus der Praxis, wie der Pfarrer der kirchenasylgewährenden Berliner Heilig-Kreuz-Gemeinde, Jürgen Quandt, mit in den Arbeitskreis aufgenommen.183 Mildenberger entschied sich für eine Doppelstruktur: Zwei mit ent178 Stenografisches Protokoll über die 106. Sitzung des Innenausschusses am 17. März 1986 (BT PA Berlin 3114 [ohne Signatur]). 179 Stellungnahme des Kirchenamts der EKD und der Hauptgeschäftsstelle des Diakonischen Werks der EKD zu einem Fragenkatalog (Ausschuss-Drucksache 10/129) (BT PA Berlin 3114 [ohne Signatur]). 180 Zahlenangaben des Bundesinnenministeriums zurückgewiesen. In: epd-ZA Nr. 54, 18. 3. 1986, 1. 181 Aktennotiz zur öffentlichen Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am 17. März 1986, 19. 3. 1986 (EZA Berlin 87/2286). 182 Ergebnisprotokoll der 12. Sitzung der Kommission für Ausländerfragen und ethnische Minderheiten der EKD am 3. Juli 1985 im Kirchenamt der EKD, Frankfurt, 12. 7. 1985 (EZA Berlin 87/1779). 183 Überblicksliste „ad-hoc-Arbeitsgruppe zu Asylfragen“, o. D. (ADW Berlin PB 974).

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sprechender Expertise versehene Fachgruppen, jeweils eine mit theologischsozialem und die andere mit juristischem Schwerpunkt, sollten die Ausarbeitung der Textabschnitte in kleinem Kreis schnell voranbringen und einer Kernredaktion zuarbeiten.184 Auf der ersten gemeinsamen Sitzung der Arbeitsgruppe wurden die Erwartungen artikuliert. Dabei waren sich die Beteiligten einig, dass angesichts der Ermangelung eines grundlegenden Votums zum Thema Asyl nun endlich ein „grundsätzliches, richtungsweisendes Wort der EKD“185 zu verfassen sei. Die in das entstehende Papier gesteckten Hoffnungen hätten kaum größer sein können: Weitergehender und umfassender als die Verlautbarungen aller bisherigen kirchlichen Initiativgruppen sollte der Text werden, zudem die protestantische Position klären, zur Selbstvergewisserung beitragen und noch dazu eine breite gesellschaftliche Aufnahme durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit finden.186 Die Struktur des Textes war schnell geklärt. Auf eine Gegenwartsbeschreibung sollte jeweils ein Abschnitt zur theologisch-biblischen Reflexion sowie ein Teil zu historischen, juristischen und politischen Rahmenbedingungen der Asylgewährung folgen. Der abschließende Teil sollte Folgerungen für Kirche und Öffentlichkeit bündeln.187 Während des Entstehungsprozesses kam es rasch zu Unstimmigkeiten zwischen den beiden Fachgruppen. Anlass dafür waren die unterschiedlichen Perspektiven von Rechtswissenschaft und Theologie. In der juristischen Gruppe beteiligten sich neben den Referenten der Diakonie und den Anwälten des Rechtsberaternetzwerks auch eine Richterin und ein Richter.188 Sie übten während des Arbeitsprozesses inhaltliche Kritik an den Ideen und Entwürfen der theologischen Fachgruppe. Strittig blieb vor allem die christliche Haltung zum Nationalstaat. Schon beim ersten Treffen wurde diskutiert, ob das nationalstaatliche Prinzip nicht eines der zentralen Probleme darstelle, die man in der Studie benennen müsse, da nationale Maßnahmen gegen Schutzsuchende den Menschenrechten entgegenstehen könnten.189 Die theologische Gruppe diskutierte hingegen zu Beginn der gemeinsamen Arbeit die Grundlegung ihres Beitrags. Der Einfluss der Ökumene war von Anfang an prägend. Bereits in einem seiner ersten Exposees notierte Mildenberger den konziliaren Prozess des ÖRK als zentrale Referenz für die theologische Herleitung.190 Im 184 Rundbrief Michael Mildenbergers an potentielle Mitglieder der Arbeitsgruppe, Betreff: Arbeitsgruppe zu Asylfragen, 10. 7. 1985 (EZA Berlin 87/2295). 185 Protokoll der 1. Sitzung der ad-hoc-Arbeitsgruppe der EKD zu Asylfragen am 10. 9. 1985 (EZA Berlin 87/2295). 186 Ebd. 187 Protokoll der 2. Sitzung der juristischen Fachgruppe am 28. 10. 1985 (EZA Berlin 87/2295). 188 Überblicksliste „ad-hoc-Arbeitsgruppe zu Asylfragen“, o. D. (ADW Berlin PB 974). 189 Protokoll der 1. Sitzung der juristischen Fachgruppe der EKD am 16. 9. 1985 (EZA Berlin 87/ 2295). 190 Michael Mildenberger: Expos für eine Ausarbeitung zum Thema „Asyl und Flüchtlinge“, 11. 9. 1985 (EZA Berlin 2/8661).

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Gegensatz zur akademischen Theologie der deutschen Universitätsfakultäten hatten sich die Konsultationen der ökumenischen Bewegung bereits ausführlich mit den biblisch-theologischen Grundlagen der Flüchtlingshilfe beschäftigt. Zuerst wurde anhand eines Textes des katholischen Ausländerpfarrers Herbert Leuninger191 über einen Bezug zu den alttestamentlichen Exodus-Texten diskutiert. Auf einen Vorschlag von Jürgen Quandt hin entschied sich die Gruppe jedoch dafür, ihrem Text eine durch den Theologen Karl Barth192 inspirierte schöpfungstheologische Begründung voranzustellen.193 Der zentrale Gedankengang sollte lauten: Da alle Menschen gleich geschaffen seien und Anteil an den Schöpfungsgütern besäßen, müsse die Ambivalenz und Problematik von Begriffen wie Identität, Volk und Nation am Beginn des Nachdenkens über die Flüchtlingsfrage stehen.194 In einer geschichtstheologischen Deutung sollten die Flüchtlinge als Herausforderung bestehender Kategorien und Denkweisen dargestellt werden. Ein zweiter theologischer Gedankenstrang argumentierte stärker ekklesiologisch und christologisch mit der Idee, dass die Gemeinschaft der Christen mit Jesus eine Utopie der Aufhebung von Grenzziehungen beinhalte, die eine anhaltende Praxis der Überwindung von Kategorien wie Nation und Rasse verlange. Diesen Textabschnitt hatte maßgeblich der hessische Pfarrer Paul Löffler, ebenfalls ein profilierter Ökumene-Theologe, skizziert.195 Die mit Juristen besetzte Co-Arbeitsgruppe äußerte Bedenken gegen diese Herleitung: Selbst wenn der theologische Gedanke konsequent zu Ende geführt werden könne, wäre es für ein auf Konsens angewiesenes Asylpapier eine Belastung, den Nationalstaat in Frage zu stellen.196 Die theologische Gruppe verbat sich jedoch Änderungen ihres schöpfungstheologischen Textabschnitts und erklärte ihn für grundlegend.197 Als Zugeständnis sollten die theologischen Gedanken zu den Themen Nation, Staat und Grenzen stärker in einem reflektierenden Stil und mit Blick auf mögliche Ambivalenzen dargestellt werden.198 In der 191 Herbert Leuninger: „The theological basis for the churches’ work with refugees” (ELAB Berlin 36/2919). Bei Leuningers Text handelte es um einen Vortrag auf der Konsultation des ÖRK über Asylsuchende in Europa. Später wurde der Text überarbeitet in der Zeitschrift für Praktische Theologie abgedruckt: Leuninger, Basis. 192 Der Textabschnitt mit dem Titel „Die Nahen und die Fernen“ stammt aus dem schöpfungstheologischen Teil von Barths Kirchlicher Dogmatik. Er enthält unter anderem Überlegungen zum Verhältnis des Menschen zur Nation, zum Volksbegriff und zur Menschheit als Ganze. Siehe: Barth, Lehre, 320–366. 193 Protokoll der 1. Sitzung der theologisch/sozialen Fachgruppe am 26. September 1985 im Kirchenamt der EKD, 1. 10. 1985 (ELAB Berlin 36/2919). 194 Protokoll der 2. Sitzung der juristischen Fachgruppe am 28. 10. 1985 (EZA Berlin 87/2295). 195 Ausarbeitung zum Thema „Asyl und Flüchtlinge“. Skizze zur biblisch-theologischen Begründung, 23. 10. 1985 (EZA Berlin 87/2295). 196 Ebd. 197 Protokoll der 2. Sitzung der theologisch-sozialen Fachgruppe am 30. 10. 1985 (EZA Berlin 2/ 8661). 198 Ebd.

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Schlussversion wurde die Passage199 schließlich als rhetorische Frage formuliert, blieb aber ansonsten in ihrer inhaltlichen Ausrichtung erhalten: „Manche Christen und Kirchengemeinden erfahren heute ihre Begegnung mit Asylbewerbern und Flüchtlingen, in der sie Gottes Gebot vernehmen und seiner Forderung nach Heil und Wohl für alle Menschen nachzukommen versuchen, als eine solche Umkehrung der Beziehung von Nahen und Fernen. Diese Erfahrung hat weitreichende Konsequenzen: sie relativiert die selbstverständliche Auffassung, daß das Interesse der eigenen Gruppe und Nation die Priorität habe vor der Verantwortung für fernerstehende Menschen und Regionen. Könnte es sein, dass Gott durch die asylsuchenden Ausländer, die bei uns anklopfen, unsere nationalen Egoismen, Vorurteile und Beschränkungen herausfordert und uns – letztlich zu unserem eigenen Wohl und Heil – in eine ökumenische und weltweite Verantwortung führt? Könnte es sein, daß in diesem Sinne die fremden Bittsteller Boten und Lehrmeister Gottes sind, durch die wir etwas von der Weite seiner Schöpfung erfahren und Anteil bekommen an der Universalität seines Reiches, auf das wir hoffen?“200

Ähnlich wenig beachtete die theologische Fachgruppe kritische Töne aus der Präsidialabteilung des Diakonischen Werks, obwohl die Einwände von dort auch theologischer und konfessioneller Natur waren. Das Präsidialbüro störte sich an der Stilisierung von Flüchtlingen zu göttlichen Boten, weil damit die problembehaftete und überwundene Idee von einer Offenbarung Gottes durch die Geschichte wiederbelebt werden würde.201 Auch der im theologischen Abschnitt des Textes skizzierten Idee einer neuen christlichen Gemeinschaft wurde vorgeworfen, die entsprechende Bibelstelle aus dem Galaterbrief falsch auszulegen. Intern beklagte man in der Präsidialabteilung der Diakonie einen zu großen Einfluss barthianischer Theologie sowie eine Missachtung lutherischer Traditionen wie die der Zwei-Reiche-Lehre.202 Diese Einwände gegen die theologische Herleitung blieben jedoch ebenfalls ohne Konsequenzen. Auch in der Diskussion um den Abschnitt zum Kirchenasyl war der transnational-ökumenische Einfluss maßgeblich. Ein umfangreiches Dossier zur Vorbereitung des Textes referierte auf die Vorbilder der Sanctuary-Bewegung, der Aktionsgruppen in der Schweiz sowie die Erfahrungen in West-Berlin.203 Der Entwurf definierte das Kirchenasyl als Glaubens- und Gewissensfrage in Notsituationen. Auch in dieser Frage blieb die Stoßrichtung des ersten Entwurfs erhalten, wenngleich die Absage an radikale Kirchenasylkonzepte in der finalen Version noch deutlicher hervorgehoben wurde. Der veröffentlichte 199 Vgl. Kirchenamt, Flüchtlinge, 9–12. 200 Kirchenamt, Flüchtlinge, 10. 201 Aktenvermerk für Präsident Neukamm, Betreff: EKD-Texte „Flüchtlinge und Asylsuchende in unserem Land“ – Entwurf der ad-hoc-Arbeitsgruppe der EKD zu Asylfragen, 18. 6. 1986 (ADW Berlin PB 976). 202 Ebd. 203 Expos „Asyl in der Kirche“, o. D. (EZA Berlin 87/2295).

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Text bezog sich zwar auf die alttestamentlichen und mittelalterlichen Ideen sowie die weltweiten Vorbilder, betonte jedoch deutlicher mit der Teilüberschrift „Kirchen sind keine rechtsfreien Räume“, dass es sich bei Kirchenasylen um individuelle Gewissensentscheidungen handeln solle, die keinen prinzipiellen Widerstand gegen die rechtsstaatliche Ordnung darstellten.204 Auch in dieser Frage war es zu Differenzen zwischen juristischer und theologischer Arbeitsgruppe gekommen. Erstere kritisierte die historische Herleitung des Kirchenasyls aus antiken und mittelalterlichen Vorbildern als unterkomplex.205 Die Referenz auf die historischen Ursprünge wurde im endgültigen Text daraufhin nur noch abgeschwächt als „Erinnerung“ erwähnt, die nicht unmittelbar in einen modernen Rechtsstaat übertragbar sei.206 Beeinflusst wurden die Debatte innerhalb der ad-hoc-Arbeitsgruppe auch von der erst wenige Monate vorher veröffentlichten Demokratie-Denkschrift der EKD.207 Am Rande diskutierten die Kommissionsmitglieder auch den Demokratiebegriff und das Verhältnis von Demokratie und Menschenrechten. Zu Beginn der Beratungen wurde diskutiert, wie eine hypothetische ZweiDrittel-Mehrheit im Bundestag zur Abschaffung des Asylartikels im Grundgesetz zu bewerten wäre.208 Besonders die Ausführungen der Denkschrift zum Widerstandrecht und zu Gewissensentscheidungen209 prägten die Erarbeitung der Passage der Studie zum Kirchenasyl. Ein Abschnitt der Demokratiedenkschrift, der Widerstandshandlungen gegen als ethisch illegitim empfundene rechtsstaatliche Entscheidungen als Gewissensäußerung und Anfrage an die staatliche Praxis interpretierte, wurde von der ad-hoc-Kommission für die Beurteilung der Asylgewährung in kirchlichen Räumen aufgegriffen und im endgültigen Text direkt zitiert.210 Die Behandlung des Kirchenasyls im entstehenden Text war in der Redaktionsgruppe anfangs aufgrund der vielen damit verbundenen Fragen noch umstritten.211 Mit dem Verweis auf die Demokratie-Denkschrift ließ sich die Frage nach einer offiziellen Haltung der EKD zum Kirchenasyl jedoch vorerst auflösen. Einerseits wurde klargestellt, dass die evangelische Kirche keine rechtsfreien Räume beanspruche, gleichzeitig wurden aber die Motive der Kirchenasylgruppen gewürdigt und zu symbolischen Anfragen an die staatliche Asylpraxis erklärt.212 Die Entstehung der Studie förderte jedoch immer wieder Unstimmigkeiten bei der Frage nach der Haltung des Protestantismus zum Nationalstaat zu Vgl. Kirchenamt, Flüchtlinge, 34 f. Protokoll der 2. Sitzung der juristischen Fachgruppe am 28. 10. 1985 (EZA Berlin 87/2295). Kirchenamt, Flüchtlinge, 34. Zur Entstehung der Demokratiedenkschrift vgl. Heinig, Entstehung. Protokoll der 1. Sitzung der juristischen Fachgruppe am 16. 9. 1985 (EZA Berlin 87/2295). Vgl. Heinig, Entstehung, 72–76. Vgl. Kirchenamt, Flüchtlinge, 35. Protokoll der 2. Sitzung der Kerngruppe im Kirchenamt der EKD am 21. 11. 1985 (ELAB Berlin 36/2919). 212 Ausführlich hierzu siehe im Abschnitt „Das Verhältnis zum Rechtsstaat in der Diskussion“.

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Tage, die jedoch nur selten offen ausgetragen wurden. Die Frage, ob die aufgeladene Diskussion um die Bezeichnung der Bundesrepublik als Einwanderungsland nicht ausgespart bleiben könne, wurde von der Mehrheit der Kernredaktion unter Verweis auf die Internationalisierung und die Unmöglichkeit der Schließung von Grenzen verneint.213 Während für die in der ökumenischen Arbeit verwurzelten Akteure die Orientierung an der weltweiten christlichen Gemeinschaft sowie die Dekonstruktion und Überwindung nationalstaatlicher Kategorien in der Flüchtlingsarbeit prägend war, verwiesen moderatere Stimmen auf die politischen Realitäten. Der endgültige Text stellte daher einen Kompromiss dar. Michael Mildenberger bezeichnete den Prozess der Ausarbeitung entsprechend als einen nicht immer bequemen und von vielen Lernprozessen geprägten Weg.214 Gerahmt von abwägenden Formulierungen und ausgleichenden Positionen zur Kirchenasylfrage enthielt der Text weiterhin viele der Kerngedanken der die kirchliche Flüchtlingsarbeit bisher prägenden Akteure. Jenseits der theologischen Grundlegung gab es nur wenige Einwände gegen den Text. Auch der Rat der EKD, der auf einer Sitzung über die fortschreitenden Arbeiten an dem Text in Kenntnis gesetzt wurde, akzeptierte die Stoßrichtung des Textentwurfs. Jedoch verzichtete der vornehmlich auf Ausgleich bedachte Rat nicht darauf, der federführenden Autorengruppe um Mildenberger einen moderateren Tonfall nahezulegen. Im Protokoll wurde der Hinweis vermerkt, der Text solle in einem sachlichen Stil verfasst werden und Verständnis für die praktischen Probleme enthalten: „Innerhalb der Kirche gebe es nicht nur engagierte Gruppen, die sich für Asylanten einsetzten, sondern vielerorts sei es auch sehr schwierig, Kirchengemeinden zum Bereitstellen von Unterkünften zu motivieren. Auf dem Hintergrund solcher von verschiedener Seite berichteter Erfahrungen sollte eine kirchliche Stellungnahme im Ton bescheiden bleiben, wenngleich klar in der Aussage. Insbesondere sollte man auch die betroffenen Beamten und Sozialarbeiter im Blick haben, die Asylantengruppen unterzubringen und zu betreuen hätten. Die Argumentation dürfte nicht tendenziös sein, sondern habe sich um die nötige Differenzierung zu bemühen. Andererseits habe die Kirche die Möglichkeit, manches deutlicher zu sagen, als Politiker das mit Rücksicht auf die Wählerstimmen könnten.“215

Auch Diakonie-Präsident Neukamm hatte Mildenberger gebeten, nicht nur die Regierungen auf Landes- und Bundesebene, sondern besonders die Kir-

213 Protokoll der 2. Sitzung der Kerngruppe im Kirchenamt der EKD am 21. 11. 1985 (ELAB Berlin 36/2919). 214 Schreiben von Mildenberger an die Mitglieder der ad-hoc-Arbeitsgruppe zu Asylfragen der EKD, Betreff: EKD-Texte Nr. 16 „Flüchtlinge und Asylsuchende in unserem Land“, 1. 9. 1986 (EZA Berlin 87/2292). 215 Auszug aus der Niederschrift über die 3. Sitzung des Rates der EKD am 23./24. 1. 1986 (EZA Berlin 87/2286).

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chengemeinden und den einzelnen Christen zu adressieren.216 Nach seiner Fertigstellung wurde der Text dem Rat der EKD im Juni 1986 vorgelegt. In der Ratssitzung kam eine erneute Diskussion über das Papier auf. Obwohl Mildenberger bei der Präsentation auf die Dringlichkeit der Publikation verwies, verlangten mehrere Ratsmitglieder Nachbesserungen im theologischen Teil sowie eine stärkere Betonung der zu bewältigenden Probleme, etwa des Umgangs mit „Wirtschaftsflüchtlingen“, sowie einen nüchterneren Tonfall.217 Andere Stimmen im Rat hielten den Text hingegen für zu gemäßigt. Am Ende stand daher der Beschluss, den Text in seinem bisherigen Charakter zu belassen, ihn jedoch an einigen Stellen erneut zu überarbeiten.218 Auf der einen Monat darauffolgenden Sitzung nahm der Rat die Studie formal zur Kenntnis und gab sie damit zur Veröffentlichung durch das Kirchenamt frei.219 Auch die Geschäftsführung der Diakonie billigte den Entwurf.220 In den Text fand schließlich die bereits in anderen öffentlichen Verlautbarungen der EKD etablierte selbstkritische Formel Eingang, nach der auch die evangelische Kirche bisher kein über die bestehenden Initiativen hinausreichendes „Bewußtsein christlicher Verantwortung und Solidarität“221 habe wecken können und daher keine überhöhten moralischen Forderungen erheben sollte.222 Auch wurden im Eingangsteil der Studie die politische Polarisierung sowie gesellschaftliche Ängste und soziale Herausforderungen durch Zuwanderung anerkannt.223 Der Text verortete sich dabei selbst im Spannungsfeld von unterschiedlichen Anforderungen und Zielen, wenngleich er der Übernahme der Anwaltsfunktion für Flüchtlinge die höhere Priorität und eine fundamentale Bedeutung für die Grundlagen von Kirche und Diakonie zuwies.224 Flankierend zur formalen Annahme der Studie veröffentlichte der Rat eine eigene kurz gehaltene Stellungnahme zur Aufnahme von Asylsuchenden, die noch vor der Publikation der Studie öffentlich gemacht wurde.225 Der Ratsbeschluss stützte zwar in weiten Teilen die Aussagen der Studie und unterstrich die Ablehnung einer Grundgesetzänderung sowie die Forderung nach europäischen Lösungen. Zugleich bildete er aber in einem Detail den Einfluss kritischer Stimmen ab: Der Beschluss enthielt eine Passage, 216 Schreiben von Diakonie-Präsident Neukamm an Michael Mildenberger, 8. 10. 1985 (ADW Berlin PB 974). 217 Niederschrift über die 8. Sitzung des Rates der EKD am 27./28. Juni in Bonn (EZA Berlin 2/ 8492). 218 Ebd. 219 Vgl. Kirchenamt, Flüchtlinge, 40. 220 Niederschrift über die 9. Sitzung des Rates der EKD am 25./26. Juli in Berlin (EZA Berlin 2/ 8492). 221 Kirchenamt, Flüchtlinge, 6. 222 Michael Mildenberger verwies in einer späteren Publikation auf die selbstkritische Rhetorik der Einleitung der EKD-Studie. Vgl. Mildenberger, Asyl, 213. 223 Kirchenamt, Flüchtlinge, 5 und 18. 224 Vgl. Kirchenamt, Flüchtlinge, 30. 225 Ebd.

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die die Verhinderung der „Einschleusung“ von Menschen in die Bundesrepublik unter Wahrung humanitärer Grundsätze guthieß und sich die Unterscheidung von „asylfremden Gründen“ und politischen Fluchtgründen zu eigen machte.226 In der Rezeption wurden die abwägenden Zwischentöne sowie die Differenzierung zwischen Ratsbeschluss und Studie jedoch kaum zur Kenntnis genommen. Teilweise waren die innerkirchlichen Strukturen selbst dafür verantwortlich. Die Feinheiten der protestantischen Positionierung wurden nicht einmal von hauptamtlichen Mitarbeitenden der kirchlichen Werke konsequent beachtet. Mehrfach wurde die Studie in internen Vermerken des Diakonischen Werks etwa fälschlicherweise als Denkschrift bezeichnet.227 Spätestens, als die EKD-Synode die Studie und die Stellungnahme des Rates wenige Wochen später bei ihrer Tagung im November mit einem offiziellen Beschluss bekräftige, war für Außenstehende kein Unterschied mehr zwischen den unterschiedlichen protestantischen Stimmen gegeben.228 Die Studie, die vom Kirchenamt in der Reihe EKD-Texte veröffentlicht wurde, blieb während der 1980er Jahre die umfangreichste protestantische Äußerung zu Fragen der Asyl- und Flüchtlingspolitik. Dabei wurden ihre Aussagen keineswegs allumfänglich von den Gliedkirchen der EKD begrüßt. Der persönliche Referent des bayerischen Landesbischofs antwortete beispielsweise auf den Beschwerdebrief eines Kirchenmitglieds, bei der besagten Studie handele es sich um keine Denkschrift oder verbindliche kirchliche Äußerung, sondern nur um die Position „einer kleinen Gruppe von Mitarbeitern in der EKD“229. Der Versuch, den Text zu einem Diskussionsbeitrag der kleinen Gemeinschaft evangelischer Asylexperten zu erklären und damit in seiner Aussagekraft zu relativieren, hatte jedoch keine breite Außenwirkung. Die Veröffentlichung der Studie im September 1986 fiel in eine neue Hochphase der öffentlichen Debatte im Vorfeld der anstehenden Bundestagswahl im Januar 1987, in der aufgrund einer Kampagne von CDU/CSU die Infragestellung des Asylrechts die Schlagzeilen bestimmte.230 Michael Mildenberger bezeichnete den Text daher als erschreckend aktuell.231 Der Herbst 1986 wurde damit auch zum vorläufigen Höhepunkt kirchlicher Stellungnahmen zu asylpolitischen Fragen. Fast zeitgleich gab die Deutsche Bischofskonferenz eine Erklärung mit dem Titel „Unsere Verantwortung für Flüchtlinge“ ab, in der sie ähnlich wie die EKD konstatierte, dass die vielbe226 Vgl. ebd., Flüchtlinge, 40. 227 Aktenvermerk für Präsident Neukamm, Betreff: EKD-Texte „Flüchtlinge und Asylsuchende in unserem Land“, 4. 12. 1986 (ADW Berlin PB 976). 228 Vgl. Kirchenamt, Bad Salzuflen 1986, 385–388 (Antragsberatung) und 685 (Beschlusstext). 229 Schreiben von Pfarrer Dieter Kuller an Fritz L., 3. 11. 1986 (LAELKB Nürnberg LB 798). 230 Vgl. Wolken, Grundrecht, 80–96. 231 Schreiben von Mildenberger an die Mitglieder der ad-hoc-Arbeitsgruppe zu Asylfragen der EKD, Betreff: EKD-Texte Nr. 16 „Flüchtlinge und Asylsuchende in unserem Land“, 1. 9. 1986 (EZA Berlin 87/2292).

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schworene Belastungsgrenze angesichts des weltweiten Flüchtlingselends und dem Wohlstand der Bundesrepublik bei Weitem nicht erreicht sei.232 Mildenberger und der Anwalt Victor Pfaff aus dem Rechtsberaternetzwerk stellten als Vertreter der ad-hoc-Arbeitsgruppe die EKD-Studie der Öffentlichkeit bei einem offiziellen Termin vor. Auf der Veranstaltung übten sie Kritik an den in der öffentlichen Debatte verwendeten Zahlen und betonten, dass die Bundesrepublik noch lange nicht die Grenzen der Aufnahmefähigkeit erreicht habe.233 Nach der offiziellen Vorstellung folgten über mehrere Wochen verteilt verschiedene Reaktionen auf die Veröffentlichung. Die Breitenwirkung des Textes zeigte sich schon allein daran, dass der Sprecher der Bundesregierung die Kritik der EKD an der Asylpolitik bereits umgehend am Tag der offiziellen Vorstellung der Studie als unverständlich zurückwies. Die Bundesregierung, so der Sprecher, tue sehr viel für internationale Lösungen und mehr Zusammenarbeit in der Flüchtlingshilfe.234 Um die Kritik positiv zu wenden, betonte der Regierungssprecher die Einigkeit von Bundesregierung und evangelischer Kirche bei der Frage der Hilfe für Flüchtlingen vor Ort in deren Heimat. Aus der SPD äußerten sich die Spitzen der Bundestagsfraktion und der Partei wohlwollend über das Papier und lobten es als einen Beitrag zur Versachlichung und Aufklärung. Dabei ließen die Sozialdemokraten es nicht aus, die Unionsparteien anzugreifen und das EKD-Papier als kritische Anfrage an die sich christlich nennenden Parteien darzustellen.235 Der SPD-Fraktionsvorsitzende Hans-Jochen Vogel schrieb in einem Brief an den EKD-Ratsvorsitzenden, die Studie und die Beschlusslage des SPD-Bundesparteitags zur Asylpolitik stimmten inhaltlich weit überein.236 Aus der CDU waren nur wenige Äußerungen zu vernehmen. Der West-Berliner Landesvorsitzende lobte zumindest den sachlichen Tonfall des Textes, ohne sich aber auf inhaltliche Aspekte zu beziehen.237 Anders verhielt es sich mit der bayerischen Schwesterpartei. Im „Bayernkurier“ rechnete der Münchner Kreisverwaltungsreferent Peter Gauweiler, selbst Protestant, mit der Studie ab und zielte als einer der wenigen Rezipienten auf die Differenzen zwischen der Studie und der Verlautbarung des Rates der EKD ab: „Schlagzeilenträchtige Einseitigkeiten, wie vor wenigen Tagen von einer ,Ad-hocArbeitsgruppe‘ des Kirchenamtes der EKD zum Asylrecht vorgelegt, entwerten diesen kirchlichen Auftrag [die Mittlerposition zu übernehmen, JS]. Mit dieser Broschüre, die den Stab über alle diejenigen bricht, die einer Angleichung unseres 232 Vgl. Grefen, Kirchenasyl, 116. 233 EKD besorgt über Auswirkungen der Diskussion über Asylbewerber. In: epd-ZA Nr. 168, 3. 9. 1986, 1. 234 Bundesregierung bezeichnet EKD-Kritik als „nicht verständlich“. In: epd-ZA Nr. 168, 3. 9. 1986, 1 f. 235 SPD-Fraktion begrüßt Asyl-Grundsätze der EKD. In: epd-ZA Nr. 168, 5. 9. 1986, 6. 236 Schreiben von Hans-Jochen Vogel MdB an den EKD-Ratsvorsitzenden, 2. 9. 1986 (EZA Berlin 87/2292). 237 Große Parteien begrüßen EKD-Stellungnahme zum Asylrecht. In: epd-ZA Nr. 168, 3. 9. 1986, 2.

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Grundgesetzes an die Asylvorschriften der westlichen Nachbarländer anstreben, hat der ,Rat der Evangelischen Kirchen in Deutschland‘ einen weiteren Beitrag zur Entfremdung vieler evangelischer Christen von der Führung ihrer Amtskirche geliefert. Man fragt nach der Berechtigung, mit der hier auf diejenigen, die anderer Meinung sind, mit Steinen geworfen wird, obwohl die EKD selbst vor vier Wochen festgestellt hat, daß ,dem Mißbrauch des Asyls gewehrt werden muss‘. Die verbal ,asylfreundlichen‘ Erklärungen des EKD Textes […] stehen überdies in einem ärgerlichen Gegensatz zum tatsächlichen Verhalten der Kirchenhierarchie bei der Unterbringung von Asylsuchenden durch kirchliche Stellen […].“238

Gauweilers Kritik stellte den Text nicht nur als einseitig dar, sondern auch als das Produkt einer kleinen Gruppe innerhalb des den Alltagsproblemen der Flüchtlingsunterbringung enthobenen EKD-Kirchenamtes. Innerhalb der kirchlichen Verbände stieß die Veröffentlichung hingegen auf Zustimmung. Das Präsidium der Evangelischen Frauenarbeit sowie die Bundes-ESG begrüßten die EKD-Studie einhellig und werteten sie als Affirmation ihrer bisherigen Position.239 Auch im weiteren Umfeld der Asylhilfebewegung wurde der Text positiv aufgenommen. Unter anderem wurde ein Ausschnitt im Sammelband „Kein Asyl bei den Deutschen“ abgedruckt, der von verschiedenen Hilfsorganisationen herausgegeben wurde.240 In den Medien wurde die EKD-Studie ebenfalls aufgegriffen, jedoch zumeist unzureichend kontextualisiert. Beispielsweise rahmte die Redaktion des „Spiegel“ den Abdruck eines Textabschnitts der Studie mit einem einleitenden Text, der ihn der gesamten EKD zuschrieb und ihn aufgrund seiner Ablehnung einer Grundgesetzänderung als Aufhänger für eine mögliche Eskalation des Konflikts zwischen EKD und Unionsparteien darstellte.241 Auch die „Süddeutsche Zeitung“ nahm die Studie zum Anlass, um die EKD in einem Kommentar als bedingungslose Verteidigerin des Asylrechts zu präsentieren.242 Die Reaktionen auf die Positionierung des Rates sowie die Veröffentlichung der Studie brachten den Ratsvorsitzenden der EKD, Martin Kruse, dazu, die Stellungnahmen gegen den Vorwurf der unerlaubten Einmischung und der Unausgewogenheit in Schutz zu nehmen.243 Kruse versuchte in seiner Rede vor der Synode erneut einen Brückenschlag zwischen den verschiedenen Positionen, indem er auf der einen Seite die Notwendigkeit der Positionierung gegen Fremdenfeindlichkeit unterstrich, auf der anderen Seite aber auch indirekt kirchlichen Kritikern der Bundesregierung rhetorische Mäßigung nahelegte.244 238 239 240 241 242 243 244

Asyl und Grundgesetz: Klarheit schaffen! In: Bayernkurier, 13. 9. 1986, 1 f. Asylsuchende. In: EvKo 11/86, 675. Vgl. Kauffmann, Kein Asyl, 212–216. „Flüchtlinge – Bereicherung für das Land“. In: Der Spiegel 37/1986, 106–109. Kirchen und christliche Parteien im Asylkonflikt. In: SZ, 4. 9. 1986. Vgl. Kirchenamt, Bad Salzuflen 1986, 58 f. Vgl. ebd.

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Intern bewertete man die Außenwirkung des Textes als ambivalent. Auf der einen Seite stand eine Vielzahl von aggressiven Briefen an das EKD-Kirchenamt, auf der anderen eine große Nachfrage nach dem gedruckten Text.245 Noch vor Jahresende 1986 wurden über 40.000 Exemplare der Studie an kirchliche Stellen und Interessierte verschickt.246 Bis 1988 wurden drei Auflagen des Textes nachgedruckt.247 Zugleich wurde eine steigende Anzahl von Schmähbriefen an kirchliche Stellen und Persönlichkeiten registriert. Derlei Schreiben hatten kirchliche Einrichtungen zu asylpolitischen Themen zwar schon seit Jahren erhalten. Bereits seit den späten 1970er Jahren hatten sich Briefeschreiber in einer Mischung aus Rassismus, Xenophobie und Antiklerikalismus gegenüber kirchlichen Einrichtungen und Spitzenpersonen artikuliert. Ein Schreiber äußerte in einem Brief im Jahr 1980, die EKD stelle sich gegen die Interessen des deutschen Volkes und sei aufgrund ihrer Positionen mitschuldig an einem bald ausbrechenden Gewaltexzess zwischen Deutschen und Ausländern.248 Immer wieder wurde mit Kirchenaustritt gedroht oder dieser als Protestakt gegen aktuelle protestantische Äußerungen in den Medien angekündigt.249 Eine Beamtin schrieb, es sei „steuerzahlerfeindlich und kirchensteuerzahlerfeindlich“250, dass die Kirche dazu beitrage, große Zahlen von angeblich arbeitsscheuen Flüchtlingen ins Land zu holen. Der Einsatz der evangelischen Kirche für die Asylbewerber sei quasi eine Werbekampagne für den Kirchenaustritt, so ein Mann in seinem Schreiben an die bayerische Diakonie.251 Im Verlauf der 1980er Jahre bildete sich im Kontext der Asyldebatte ein Fundus an antiklerikalen Diffamierungen heraus. Nachvollziehen lässt sich dies etwa anhand der zahlreichen Zuschriften an das Bundesinnenministerium zu den Themen Asyl- und Ausländerpolitik. In einigen der Briefe an den Innenminister wurden die Kirchen als Teil eines multikulturellen Kartells dargestellt, das Deutschland mithilfe moralischen Drucks zur Aufnahme von Flüchtlingen zwingen wolle. Die Verfasser schrieben, die Kirchen seien mit ihren Positionen zur Asyl- und Ausländerpolitik in der Minderheit und würden gegen die einhellige Meinung des Volks agieren.252 Neben dem Vorwurf, die Kirchen agierten undemokratisch, stand bisweilen die Bezeichnung als „Moralisten“ und „Berufsbüßer“253. Ein Schreiber verlangte, die Kirchen sollten zusammen mit Asylanten und Gewerkschaften nach Anatolien 245 Angst vor Fremden. Reaktionen auf die EKD-Flüchtlingsstudie. In: EvKo 2/87, 84–86. 246 Aktenvermerk für Präsident Neukamm, Betreff: EKD-Texte „Flüchtlinge und Asylsuchende in unserem Land“, 4. 12. 1986 (ADW Berlin PB 976). 247 Vorwort zu dritten Auflage. In: epd-Dok 24–25/93, 7. 6. 1993, 85. 248 Schreiben von Werner P. an die EKD-Kirchenkanzlei, 17. 9. 1980 (EZA Berlin 2/20200). 249 Schreiben von Werner I. an die EKD-Kirchenkanzlei, 16. 9. 1980 (EZA Berlin 2/20200). 250 Schreiben von E. K. an Landesbischof Hanselmann, 26. 4. 1977 (EZA Berlin 2/20199). 251 Schreiben von F. L. an Diakoniepräsident Miederer, 11. 9. 1985 (LAELKB Nürnberg DW 2725). 252 Schreiben von W. F. an den Bundesinnenminister, 6. 1. 1983 (BArch Koblenz B106/77600). 253 Schreiben von S. K. an den Bundesinnenminister, 3. 1. 1983 (BArch Koblenz B106/77602).

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verschwinden.254 Vor diesem breiteren Hintergrund sind auch die Zuschriften nach der Publikation der EKD-Studie im Herbst 1986 einzuordnen. Die Reaktionen auf die Veröffentlichung der Studie übertrafen die bisherigen Erfahrungen deutlich. Das Kirchenamt und landeskirchliche Stellen erhielten im Herbst 1986 ähnlich wie nach der kontroversen Vertriebenenund Ostdenkschrift in den 1960er Jahren Hunderte diffamierende Zuschriften.255 Dabei blieb es nur selten bei zugespitzten Schreiben, in denen sich Kirchenmitglieder eine stärkere Wahrnehmung der Probleme von Zuwanderung in den Stellungnahmen der EKD wünschten.256 Vermehrt äußerten sich auch unschwer dem rechtsnationalen Spektrum zuordenbare Personen. Ein Absender warf der EKD vor, die Erhaltung des deutschen Volkes zu zerstören und einer islamischen Bedrohung die Tür zu öffnen.257 Eine Briefschreiberin schickte dem bayerischen Landesbischof in Reaktion auf die Berichterstattung über die Studie die Kopie ihrer Kirchenaustrittsbescheinigung, um damit ihren Unmut über die evangelische Position auszudrücken: Die Kirche fordere in den Medien auf unerträgliche Weise Asylrecht für alle und zünde somit eine gesellschaftliche Zeitbombe.258 Unbewusst benannte diese Schreiberin einen zentralen Aspekt der Rezeption der Studie: Die Medien. Die heftigen Reaktionen waren in fast allen Fällen auf die mediale Berichterstattung über die Veröffentlichung zurückzuführen. Zumeist bezogen sich die Briefe auf Presseberichte oder Fernsehauftritte von Kirchen- oder Diakonievertretern, wie beispielsweise auf ein ZDF-Interview mit Diakonie-Präsident Neukamm.259 Nur die wenigsten Absender hatten den eigentlichen Text gelesen und unterstellten pauschal, die evangelische Kirche vertrete radikale Forderungen. Die zur Differenzierung notwendigen Kontexte sowie die pragmatischen Bemerkungen der Studie und des Ratsbeschlusses fehlten dabei vollständig. Mildenberger und seine Mitarbeiter versuchten mit einigen der Briefeschreiber in den Dialog zu treten. Mildenberger schrieb etwa eine ausführliche Erwiderung an einen sich als Christen bezeichnenden Absender, wobei er in empathischem Ton dessen Vorwürfe zu widerlegen versuchte und eine intensive Lektüre des Textes der Studie und deren biblisch-theologischer Begründung empfahl: „Ich denke, wir Christen sollten den Mut haben, in einer solchen Lage dem Vorbild und Auftrag unseres Herrn nachzufolgen […] Sollten wir die Augen zumachen und in den Menschen, die unsere Hilfe suchen, nicht mehr Seine Brüder sehen? Ich 254 Schreiben von W. H. an den Bundesinnenminister, 14. 12. 1982 (BArch Koblenz B106/77601). 255 Die Zuschriften zur EKD-Studie sind im Evangelischen Zentralarchiv in folgenden Akten gesammelt: EZA Berlin 2/17559 bis 2/17562. 256 Schreiben von B. J. an die EKD-Kirchenkanzlei, Betreff: Bericht in FAZ, 23. 9. 1981 (EZA Berlin 2/17640). 257 Schreiben von A. K. an Theo Waigel und das EKD-Kirchenamt, 5. 9. 1986 (EZA Berlin 87/ 2292). 258 Schreiben von L. W. an Landesbischof Hanselmann, 17. 9. 1986 (LAELKB Nürnberg LB 798). 259 Schreiben von K. W. an das EKD-Kirchenamt, 3. 9. 1986 (EZA Berlin 2/17560).

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nehme Ihre Sorge […] sehr ernst, bitte Sie aber, auch auf mich zu hören und meine Sorge ebenso ernst zu nehmen!“260

Angesichts der gänzlich unterschiedlichen Prämissen scheiterten diese Gesprächsversuche jedoch in den allermeisten Fällen und endeten in weiteren Vorwürfen. Die Absender sahen in den Antwortschreiben aus dem Kirchenamt zumeist nur eine weitere Provokation. Ein ehemaliger Kirchenvorsteher schrieb zurück, er wolle sich angesichts der Bedrohung der Bundesrepublik durch Islam und Marxismus nicht mit wahllos herausgegriffenen Bibelstellen abspeisen lassen.261 Die Briefe aus Mildenbergers Referat machten deutlich, dass die Akteure der evangelischen Flüchtlingshilfe sich von den Reaktionen nicht beeinflussen lassen wollten. Mildenbergers Kollege Herwig Sander antwortete einem der Schreiber auf die Frage, wie die EKD angesichts der gesellschaftlichen Spaltung derart agieren könne, mit einem Verweis auf das kirchliche Wächteramt: „Sie fragen, für wen die EKD spricht. Die Evangelische Kirche ist demokratisch strukturiert. Trotzdem ist es nicht die Aufgabe der Kirche, immer das zu vertreten, was die Mehrheit der Mitglieder für richtig hält. Sie muß in erster Linie Gottes Wort verkündigen und auch die manchmal unbequemen Folgerungen dieses Wortes den Menschen sagen.“262

Die Flut der Schmähbriefe wurde von den Akteuren als Beleg für den moralischen Missstand der Aufnahmegesellschaft interpretiert. In einem Artikel in den „Evangelischen Kommentaren“ stellte Sander in einem Resümee der Reaktionen auf die Studie resignierend die Frage, ob mit den Absendern noch überhaupt ein Austausch möglich sei und ob angesichts der verfestigten Vorurteile die Überwindung gesellschaftlicher Ängste überhaupt noch gelingen könne.263 4.1.5 Die Gründung von „Pro Asyl“ im Geist der evangelischen Akademien (1986) Das Jahr 1986 markierte nicht nur für die professionelle Flüchtlingsarbeit und die Gremien auf der EKD-Ebene einen Höhepunkt der bisherigen Entwicklung. Der gegen Jahresende geführte bayerische Landtagswahlkampf sowie der sich anschließende Bundestagswahlkampf waren geprägt von einer Rhetorik, die maßgeblich auf angeblichen „Asylbetrug“ und „Asylmissbrauch“ gerichtet war.264 Neben dem Missbrauchsvorwurf beschworen Politiker der Unions260 261 262 263 264

Schreiben von Michael Mildenberger an W. W., 23. 9. 1986 (EZA Berlin 2/17559). Schreiben von A. Z. an das EKD-Kirchenamt, 20. 9. 1986 (EZA Berlin 2/17559). Schreiben von Herwig Sander an K. H., 20. 11. 1986 (EZA Berlin 2/17560). Angst vor Fremden. Reaktionen auf die EKD-Flüchtlingsstudie. In: EvKo 2/87, 84–86. Vgl. Herbert, Geschichte Deutschlands, 995.

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parteien angesichts der wieder steigenden Asylbewerberzahlen besonders die Überlastung des Aufnahmelandes Bundesrepublik.265 Die Wahlkämpfe wurde zudem von neuen asylrechtlichen Verschärfungen begleitet. Im Oktober beschloss die Innenministerkonferenz Erleichterungen von Abschiebungen in Krisengebiete.266 Zudem wurden mit der Einführung der Transitvisumspflicht für Staatsangehörige bestimmter Länder sowie einer Übereinkunft mit der DDR die Möglichkeiten zur Einreise in die Bundesrepublik weiter beschränkt.267 Als Reaktion auf die als dramatisch wahrgenommenen Einschnitte bildeten sich neue Bündnisse, die die bereits bestehenden Vernetzungen und losen Zusammenschlüsse innerhalb der Asylhilfebewegung in neue Kooperationen überführten. Die Heterogenität der Asylhelferbewegung hatte seit den 1970er Jahren bereits verschiedene organisatorische Konzepte hervorgebracht. Werner Lottje hielt die etablierten Strukturen der Bewegung, die sich zumeist nur um einzelne Gruppen wie die Chilenen gekümmert hatten, angesichts der zunehmend diverser und größer werdenden Flüchtlingsgruppen in der Bundesrepublik für veraltetet. In einem Arbeitspapier skizzierte er 1982 Ideen für neue Strukturen in der kirchlichen und verbändeübergreifenden Flüchtlingsarbeit.268 Als Ideal schwebte Lottje eine breite und umfassende Kooperation verschiedener Gruppen vor, die über unterschiedliche gesellschaftliche Felder hinweg reichen würde und in der jede der beteiligten Organisationen ihre Alleinstellungsmerkmale einbringen könnte.269 Die Differenzierung zwischen ehrenamtlichen Helfern und der wachsenden Zahl der professionellen Mitarbeiter der Wohlfahrtsverbände und Menschenrechtsorganisationen schlug sich zunehmend in den Strukturen nieder. Während Lottje für Ehrenamtliche die Organisationsform des Freundeskreises als Ort für persönliches Engagement und lokale Aktivitäten vorsah, sollten Flüchtlingsräte der Sammlung von professionell arbeitenden Personen sowie der Diskussion übergreifender Fragen dienen. Als Vorbilder dienten Lottje dabei bereits existierende Modelle von Amnesty International sowie die Strukturen des Berliner Flüchtlingsrats und vergleichbarer Arbeitskreise in der Bundesrepublik.270 Kirchliche Mitarbeiter und christliche Gruppen waren zwar nur ein Teil der entstandenen Bündnisstrukturen. Da Pfarrer oder andere kirchliche Mitarbeiter aber zumeist über ein umfassendes lokales Netzwerk verfügten und auf besondere Ressourcen wie Räumlichkeiten oder professionelle Kommunikationskanäle zurückgreifen konnten, waren sie in vielen Fällen für die ÜberVgl. Poutrus, Umkämpftes Asyl, 98. Vgl. Passoth, Fremder, 66. Vgl. Wolken, Grundrecht, 80–85. Arbeitspapier zur lokalen Organisation von Flüchtlingsarbeit, 4. 9. 1982 (EZA Berlin 87/ 2283). 269 Ebd. 270 Ebd.

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nahme von Sprecherpositionen oder für anderweitige Koordinationsaufgaben prädestiniert. Ein prominentes Beispiel für diese Entwicklung war der bundesrepublikweit als Vorbild geltende Berliner Flüchtlingsrat, der sich maßgeblich aus einer Arbeitsgruppe innerhalb des Berliner Missionswerks entwickelt hatte.271 Die anfangs nur halboffiziell agierenden Zusammenschlüsse wollten Flüchtlingen vor Ort helfen, sich austauschen und eine gemeinsame Interessenvertretung organisieren. Zumeist verschrieben sich die Gruppen dem für alle weltanschaulichen Ausrichtungen zugänglichen Ziel des Menschenrechtsschutzes oder der Solidarität mit Verfolgten und betonten ihre Überparteilichkeit.272 Der Frankfurter Flüchtlingsbeirat wurde von einem beteiligten evangelischen Pfarrer beispielsweise als ein ausschließlich der Humanität verschriebener Zusammenschluss ohne organisatorische Strukturen beworben. Der Flüchtlingsbeirat sei „keine neue Institution, […] sondern der bescheidene Versuch, eine Große Koalition der Menschlichkeit für Flüchtlinge zu bilden“273. Der Frankfurter Zusammenschluss selbst war ein typisches Beispiel für die sich entwickelnden Strukturen. Gegründet nach dem Berliner Vorbild, traf er sich zumeist in den Räumlichkeiten der örtlichen ESG und erweiterte seinen Mitgliederkreis mit der Zeit auf andere engagierte Gruppen in seinem örtlichen Umfeld.274 In den ersten Jahren diskutierte er regelmäßig sein Selbstverständnis und seine Organisationsform.275 Ähnliche Entwicklungen in diesem Zeitraum gab es bei anderen Zusammenschlüssen von Asylhelfern in der Bundesrepublik.276 Als Forum für die internen Diskussionen und die Vernetzung der Gruppen fungierten häufig die Akademien. Prominent für diese Verbindung stand die Evangelische Akademie Tutzing und ihr stellvertretender Direktor Jürgen Micksch. Micksch, evangelischer Pfarrer und Soziologe, war eine der entscheidenden Personen bei der Gründung der Flüchtlingsschutzorganisation „Pro Asyl“. Der Theologe war schon während der 1970er Jahre die prägende Figur der evangelischen Ausländerarbeit gewesen. Als Vorgänger Michael Mildenbergers in der Funktion als Ausländerreferent der EKD hatte er unter anderem die „Woche des ausländischen Mitbürgers“277 initiiert und maßgeblichen Einfluss auf die Positionen zur Arbeitsmigration und dem interreligiösen Dialog genommen. Eines der zentralen Konzepte in Mickschs Tätig271 Flüchtlingsinitiativen stellen sich vor: Flüchtlingsrat Berlin. In: epd-Dok 14/87, 23. 3. 1987, 29. 272 Exemplarisch hierfür das Statut des Frankfurter Flüchtlingsbeirats: Flüchtlingsinitiativen stellen sich vor: Frankfurter Flüchtlingsbeirat. In: epd-Dok 14/87, 23. 3. 1987, 34. 273 Weihnachtsrundbrief von Pfarrer G. Hoffmann, Dezember 1982 (EZA Berlin 2/17641). 274 Flüchtlingsinitiativen stellen sich vor: Frankfurter Flüchtlingsbeirat. In: epd-Dok 14/87, 23. 3. 1987, 33. 275 Ebd., 34. 276 Vgl. für weitere Beispiele: Flüchtlingsinitiativen stellen sich vor. In: epd-Dok 14/87, 23. 3. 1987, 37–47. 277 Die „Woche des ausländischen Mitbürgers“ wurde 1991 zur „Interkulturellen Woche“ umbenannt.

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keit war der Begriff der multikulturellen Gesellschaft, um den es Anfang der 1980er Jahre Kontroversen gegeben hatte.278 Bereits als EKD-Ausländerreferent war Micksch mit Asylthemen befasst gewesen, wenngleich diese Arbeit in den 1970er Jahren nur ein Unterpunkt der breiter gefassten Ausländerarbeit war. Eine stärkere Eigenständigkeit des Feldes entwickelte sich erst langsam heraus. Zudem war die Zuständigkeit für die Aufgabenfelder Menschenrechtsarbeit und Asylrecht zwischen der Kirchenkanzlei, dem Kirchlichen Außenamt279 und dem Diakonischen Werk nicht eindeutig geklärt und bedurfte wiederholt aufwendiger Koordinierung.280 Der im Jahr 1941 geborene Micksch hatte nach dem Theologiestudium und der Ordination noch ergänzend Soziologie studiert und in dem Fach promoviert.281 Die sozialwissenschaftliche Zusatzqualifikation prägte auch den Zugang des Theologen zu den Themen Migration und Integration. Viele seiner Texte enthielten einen soziologischen Blick auf die Benachteiligung von Migranten oder die Konstruktion von nationalen Identitäten.282 Im Jahr 1984 war Micksch aus seiner Stelle im Kirchenamt der EKD an die Evangelische Akademie Tutzing gewechselt. Als stellvertretender Direktor baute er dort das Thema Flüchtlingsarbeit im Tagungsprogramm aus.283 Micksch initiierte eine Vielzahl von Veranstaltungen in Kooperation mit Initiativgruppen und Partnerorganisationen. Die Tagungen rezipierten dabei die antirassistischen Programme der Ökumene und verstanden sich als Beitrag zur Überwindung von Xenophobie.284 Micksch führte damit viele seiner bisherigen Konzepte aus der Arbeit als Ausländerreferent fort, allein der Schwerpunkt verschob sich mit dem wechselnden öffentlichen Fokus stärker von der Arbeits- zur Fluchtmigration.285 Bei der Tätigkeit in Tutzing konnte er auf seine Netzwerke und Kontakte innerhalb wie außerhalb der evangelischen Kirche zurückgreifen, wie beispielsweise zu Amnesty oder anderen Akteuren aus der interkulturellen und antirassistischen Arbeit.286 Immer wieder gelang es ihm dabei, sich innerhalb der amtskirchlichen Strukturen eigene Handlungsspielräume zu erschließen. 278 Vgl. Micksch, Deutsch sein, 5 f. 279 Kirchenkanzlei und Kirchliches Außenamt wurden 1984 im Kirchenamt der EKD zusammengelegt. 280 Schreiben des Präsidenten des Kirchlichen Außenamts Held an den Präsidenten der Kirchenkanzlei Hammer, 16. 6. 1978 (EZA Berlin 2/20199). 281 Micksch, Jugend. 282 Exemplarisch hierfür vgl. Micksch, Deutsch sein; Ders., Interkulturelle Politik. 283 Umfangreicher analysiert wurden bisher die Tagungen der kirchlichen Akademien ab den 1970er Jahren zum Thema Islam, die den weiteren Kontext der Asyltagungen bildeten. Auch die Positionen von Micksch und Mildenberger haben dabei Erwähnung gefunden. Vgl. Mittmann, Akademien, 153–171, hier: 169. 284 Ebd. 285 Exemplarisch ein Beitrag von Micksch in den „Evangelischen Kommentaren“ über die das Konzept der multikulturellen Gesellschaft: Micksch, Jürgen: Auch Jesus war ein Fremder. Die Kirchen in der Ausländerpolitik. In: EvKo 9/84, 506–509. 286 Zu Mickschs Kontakten zu Lottje und Frenz vgl. das Unterkapitel „Protestantische Reaktionen auf die asylpolitischen Tendenzen der späten 1970er Jahre“.

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In den kirchenbehördlichen Abläufen rief Micksch mit seinem Hang zu eigenständigem Agieren wiederholt Unmut hervor. So wurde ihm etwa vorgeworfen, bei einer der Pressekonferenzen zu ausländerpolitischen Themen über die Beschlüsse der EKD-Gremien hinausgehende Forderungen zu vertreten.287 Viele evangelische Akademien setzten seit Beginn der 1980er Jahre vergleichbare Tagungsformate auf. Bad Boll konnte dabei beispielsweise auf Vorbilder aus der Kooperation mit der Chile-Solidarität zurückgreifen. Primär dienten die Veranstaltungen dazu, engagierten Gruppen ein Forum zur Vernetzung und Reflexion zu bieten. Häufig stand dabei der Austausch mit Experten aus Wissenschaft und Praxis, aber auch Vertretern der Politik im Mittelpunkt. Theologische Reflexionen und Andachten, die sich zumeist mit der christlich-biblischen Perspektive auf Flucht und Asyl beschäftigten, rahmten das Programm und markierten die Veranstaltungen als evangelisch. Micksch war zwar darum bemüht, in Tutzing bisweilen auch Anhänger der restriktiven Position zur Diskussion zu bitten. Diese Dialogversuche trugen jedoch wenig zu einer Verständigung bei und legten in erster Linie die grundlegenden Differenzen zwischen der Flüchtlingshilfeszene und den Vertretern einer restriktiven Asylpraxis offen. Im November 1985 diskutierten beispielsweise bei einer Veranstaltung in Tutzing der evangelische CSUBundestagsabgeordnete Peter Höffkes und der Diakonie-Rechtsexperte Victor Pfaff auf dem Podium. Während der CSU-Politiker seiner eigenen Kirche vorwarf, mit der Reduzierung einer politischen Sachfrage auf ethisch-moralische Aspekte sämtliche Neuregelungen des Asylrechts ohne Rücksicht auf die Eigeninteressen des Staates zu verhindern, berief sich der Anwalt Pfaff auf den Grundsatz, das Asylrecht müsse als historische Lehre aus dem Nationalsozialismus unbedingt beibehalten werden.288 Bei einem anderen Format, das als Konsultation zur Asylpolitik des Freistaats Bayern angelegt war, stand hingegen explizit der Dialog von Staatsregierung, Kirchenvertretern und Flüchtlingshelfern im Mittelpunkt, verbunden mit der Hoffnung, durch persönliche Gespräche Verbesserungen erreichen zu können.289 Die Tagungen wollten zudem den Blick auf die globalen Zusammenhänge schärfen und Bewusstsein für neue Migrationsphänomene schaffen. Im März 1987 fand in Tutzing beispielsweise eine Veranstaltung zu „Umweltflüchtlingen“ in Kooperation mit Umweltorganisationen statt, die sich mit Natur- und Dürrekatastrophen als Fluchtgründen in Ländern der „Dritten Welt“ befasste.290 Die Konferenz versuchte nicht nur einen Brückenschlag zwischen Umwelt-, 287 Auszug aus der Niederschrift der 3. Sitzung des Kollegiums des EKD-Kirchenamtes vom 7./ 8. 3. 1983 (EZA Berlin 2/17641). 288 CSU-Abgeordneter: Kirchen blockieren Neuordnung des Asylrechts. In: epd-ZA Nr. 226, 25. 11. 1985, 5. 289 Schreiben von Jürgen Micksch an Präsident Neukamm, 2. 3. 1988 (ADW Berlin PB 974). 290 Prognose: Eine Milliarde Menschen werden zur „Umweltflüchtlingen“. In: epd-ZA Nr. 56, 20. 3. 1987, 6.

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Dritte-Welt- und Asylhilfebewegung, sondern verstand sich auch als Plädoyer zur Ausweitung des Flüchtlingsschutzes auf Gruppen, die nicht unter den Begriff der politischen Verfolgung fielen. Die Veranstaltungen in den Akademien bildeten den Nährboden für die Gründung weiterer Zusammenschlüsse.291 Die Entstehung von „Pro Asyl“, die Micksch retrospektiv als eine Gegenreaktion auf die Anti-Asyl-Kampagnen des Jahres 1986 bezeichnete,292 war hierfür das prominenteste Beispiel. Micksch verfügte auch dank der Akademiekooperationen über Kontakte zum deutschen UNHCR-Repräsentanten, der die Gründung in den Folgejahren beratend unterstütze und förderte.293 Erste Konzeptionen und Ideen wurden im Rahmen einer Tagung diskutiert: Das Nebeneinander unterschiedlicher Akteure und lokal versprengter Flüchtlingsräte sollte durch eine stärkere Zusammenarbeit und Koordination überwunden werden.294 Die Idee, einen bundesweiten Flüchtlingsrat zu gründen, hatten die Initiatoren jedoch aufgrund von Unstimmigkeiten mit den Wohlfahrtsverbänden verworfen. Der neue Zusammenschluss „Pro Asyl“ sollte sich vor allem der Öffentlichkeitsarbeit für die Belange von Flüchtlingen widmen, das Asylrecht politisch verteidigen und Helfer- und Initiativgruppen zuarbeiten.295 Der Anspruch der Ursprungskonzeption, bundesweit über die lokalen Kontexte hinaus zu wirken, blieb jedoch erhalten. Im September 1986 wurde „Pro Asyl“ in Frankfurt mit dem Anspruch gegründet, Vertreter aus allen drei christlichen Konfessionen sowie Organisationen wie Amnesty International, die Wohlfahrtsverbände, regionale Flüchtlingsräte und die Betroffenen selbst zusammenzubringen.296 Anfangs hoffte man auch noch auf eine breitere Zusammenarbeit mit Gruppen der Friedens-, Frauen- und Ökologiebewegung.297 Micksch übernahm den Vorsitz, als Sprecher fungierten ein Vertreter von Amnesty und der katholische Priester Herbert Leuninger. Auch Victor Pfaff aus dem Diakonie-Beraternetzwerk gehörte zu dem Gründerkreis.298 Die Geschäftsführung übernahm Günter Burkhardt vom Ökumenischen Vorbereitungsausschuss zur „Woche des ausländischen Mitbürgers“, den Micksch über Jahre selbst mitgeprägt hatte.299 Innerhalb dieser von den christlichen Kirchen mitinitiierten Aktionswoche wurde ein neuer „Tag des Flüchtlings“ etabliert, dessen inhaltliche Ausgestaltung maßgeblich von „Pro Asyl“ übernommen 291 292 293 294 295 296 297 298 299

Meditation, Flüchtlinge und der konziliare Prozeß. In: Tutzinger Blätter 3/87, 24 f. Vgl. Micksch, PRO ASYL, 97. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Protokoll der Klausurtagung des Arbeitskreises „Hilfen für Flüchtlinge“ vom 25. bis 28. 11. 1986 (ADW Berlin PB 976). Bundesweite Initiative „Pro Asyl“ gegründet. In: epd-ZA Nr. 173, 10. 9. 1986, 3. Zur Einführung: Was will Pro Asyl? In: epd-Dok 14/87, 23. 3. 1987, 1 f. Hintergrundbericht von Victor Pfaff, PRO ASYL, für Pressegespräche zum Tag des Flüchtlings, 1. 10. 1987 (ELAB Berlin G1/1742). Ergebnisprotokoll der Sitzung der Arbeitsgemeinschaft PRO ASYL vom 2. 12. 1987 (ELAB Berlin G1/1742).

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wurde. Beim „Tag des Flüchtlings“ im Rahmen der Aktionswoche im Oktober 1986 trat die neue Organisation erstmals sichtbar in Erscheinung. In diesem Rahmen wurden unter anderem Veranstaltungen, Feste, Besuche in Flüchtlingsunterkünften, Straßenaktionen und Gottesdienste an unterschiedlichen Orten durchgeführt.300 Die Planung und Ausgestaltung des Aktionstages mit Informationsmaterialien, Texten, Bildern, Dia-Präsentationen und Filmen nahm in den Anfangsjahren von „Pro Asyl“ großen Raum ein.301 Herbert Leuninger und Victor Pfaff werteten den ersten Flüchtlingstag auf einem Pressetermin als Erfolg und kritisierten dabei erneut die Asylpolitik der Bundesregierung.302 Die zweite größere Aktion von „Pro Asyl“ war eine breit angelegte Tagung für lokale Flüchtlingsinitiativen in der Akademie Tutzing im darauffolgenden Dezember.303 Auf der Veranstaltung wurde über Asylinitiativen der West-Berliner Kirchengemeinden sowie die Situation in der Schweiz und den Niederlanden diskutiert.304 Auch diese Tagung brachte wiederum einen neuen Zusammenschluss hervor, denn in der Nachbereitung der Veranstaltung bildete sich der Bayerische Flüchtlingsrat.305 Die kirchlichen Akademien blieben aufgrund der personellen Verflechtungen auch in den Folgejahren wichtige Kooperationspartner der neuen Organisation.306 Ende 1987 wurde ein Förderverein gegründet, der die Arbeitsgemeinschaft „Pro Asyl“ finanziell tragen sollte.307 In den folgenden Jahren baute die neue Organisation ihre Reichweite und ihre Kontakte erheblich aus und konnte sich rasch als bekannter Akteur in der Debatte etablieren.308 Der Start verlief dabei aber keineswegs reibungslos und wurde nicht von allen Akteuren der westdeutschen Flüchtlingsarbeit begrüßt. Besonders von Seiten der Wohlfahrtsverbände wurde die Organisation aufgrund ihres Anspruchs, bundesweit zu wirken, skeptisch beäugt.309 Dabei prallten die unterschiedlichen Erwartungen und Strukturen etablierter Großinstitutionen und der sich als Teil einer sozialen Bewegung verstehenden Organisation aufeinander. Micksch, der stets emsig um Unterstützung warb, lieferte sich sogar eine Auseinandersetzung mit dem evangelischen Wohlfahrtsverband, dessen Arbeit im Bereich Asyl er indirekt eine falsche Ausrichtung vorhielt.310 300 301 302 303 304 305 306 307 308 309 310

Pro Asyl: Regierung höhlt Grundrecht aus. In: epd-ZA Nr. 190, 3. 10. 1986, 1 f. Überblicksliste „Materialien zum Tag des Flüchtlings“, o. D. (ELAB Berlin G1/1742). Pro Asyl: Regierung höhlt Grundrecht aus. In: epd-ZA Nr. 190, 3. 10. 1986, 1 f. Bundesweite Initiative „Pro Asyl“ gegründet. In: epd-ZA Nr. 173, 10. 9. 1986, 3. Asyl im Gotteshaus. In: Tutzinger Blätter 1/87, 15 f. Vgl. den dazugehörigen Tagungsbericht: Asyl im Gotteshaus. In: Tutzinger Blätter 1/87, 15 f. sowie Micksch, PRO ASYL, 99 f. Ergebnisprotokoll der Sitzung der Arbeitsgemeinschaft PRO ASYL vom 3. 11. 1988 in Frankfurt (ELAB Berlin G1/1741). Protokoll der Gründungsversammlung des Vereins „Förderverein PRO ASYL – Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge“ am 2. 12. 1987 in Frankfurt (ELAB Berlin G1/1742). Vgl. Micksch, PRO ASYL, 98 f. Vgl. ebd., 97. Schreiben von Jürgen Micksch an Direktor Winter, 17. 7. 1987 (ADW Berlin PB 977).

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Die Diakonie-Hauptgeschäftsstelle zeigte sich wiederum verärgert über das Agieren von „Pro Asyl“ in der Öffentlichkeit, da fälschlicherweise der Eindruck erweckt worden sei, die Wohlfahrtsverbände seien an der Gründung beteiligt gewesen.311 Auch innerhalb der evangelischen Flüchtlingsarbeit wurde die Neugründung unterschiedlich beurteilt. Die zentralen Vertreter der kirchlichen Flüchtlingsarbeit konnten sich bei ihrem Treffen Anfang 1987 auf keine einheitliche Haltung verständigen.312 Immer wieder stand die Frage im Raum, ob die wachsende Vielstimmigkeit der Flüchtlingsunterstützer sich nicht zunehmend zu einem Problem bei der Öffentlichkeitsarbeit und Interessenvertretung entwickeln könnte. Innerhalb von „Pro Asyl“ wurde wiederum die Sorge geäußert, den etablierten Großinstitutionen wie Kirchen oder Menschenrechtsorganisationen eine Ausrede für verringerten Einsatz zu liefern.313 Nach außen stellte sich „Pro Asyl“ als „Flüchtlingsorganisation, in der Experten aus Kirchen, Gewerkschaften, Wohlfahrts- und Menschenrechtsorganisationen zusammengeschlossen sind“314 vor, die sich am Asylartikel des Grundgesetzes und der Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen als Grundlage orientiere.315 Wenngleich sich die Organisation nicht als konfessionell definierte, war die kirchliche Herkunft ihrer Führungsspitze deutlich erkennbar. Der Evangelische Pressedienst verwendete etwa die Bezeichnung „von kirchlichen Mitarbeitern mitgetragene Arbeitsgemeinschaft“316 in einer seiner Meldungen. Sichtbar wurde der Zusammenhang allein schon an Nebensächlichkeiten wie der Kontoverbindung bei einer evangelischen Bank.317 Im Gründungsjahr veröffentlichte „Pro Asyl“ zudem einen eigenen Weihnachtsaufruf, mit dem Vorschlag, Flüchtlinge einzuladen, da „Weihnachtsstimmung […] Stimmung für Flüchtlinge und nicht gegen sie sein“318 müsse. Im Folgejahr trat die Organisation zudem auf dem Evangelischen Kirchentag in Frankfurt in Erscheinung. Der Kirchentag, neben den Akademien der zentrale Ort, an dem der deutsche Protestantismus und soziale Bewegungen zueinanderkamen, veranstaltete zum wiederholten Mal den sogenannten Fremdentag, der nun offiziell „Forum Flüchtlinge und Einwanderer“ hieß. Federführend an der Forumsleitung beteiligt waren Micksch, Leuninger und Mildenberger in Zusammenarbeit mit Vertreterinnen und Vertretern von 311 Schreiben von Direktor Winter an Jürgen Micksch, Betreff: Arbeitsgemeinschaft PRO ASYL, 14. 8. 1987 (ADW Berlin PB 977). 312 Protokoll der Sitzung Arbeitskreis „Hilfen für Flüchtlinge “, am 17./18. 3. 1987 (ADW Berlin PB 977). 313 Vgl. Micksch, PRO ASYL, 98 f. 314 Presseerklärung von Pro Asyl zum UN-Antirassismustag, 17. 3. 1988 (ELAB Berlin G1/1741). 315 Presseerklärung: Deutschtümelei Zimmermanns gefährdet Flüchtlinge. Tag des Flüchtlings contra Ausländergesetz, 29. 9. 1988 (ELAB Berlin G1/1741). 316 Libanese Ali Kemal Ayoub mit Lufthansa abgeschoben. In: epd-ZA Nr. 132, 15. 7. 1987, 2. 317 Anzeige mit Aufruf von PRO ASYL vom 24. 9. 1987 (ELAB Berlin G1/1742). 318 „Zum Weihnachtsfest den Kontakt mit Flüchtlingen suchen“. In: epd-ZA Nr. 244, 19. 12. 1986, 1.

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Migrantenorganisationen.319 Der finale Titel der im Laufe der Vorbereitung immer wieder konzeptionell abgeänderten Veranstaltung auf dem Frankfurter Kirchentag lautete „PRO ASYL – Flüchtlinge aufnehmen statt abschrecken“320 und markierte damit unverkennbar die organisatorische Zugehörigkeit der Projektleitung. Der Programmablauf mit Referaten und Berichten enthielt eine Gesamtschau vieler der den Diskurs der Flüchtlingshilfebewegung prägenden Topoi und stellte zugleich die weitläufigen innerprotestantischen wie auch zivilgesellschaftlichen Kontakte der Podiumsleitung zur Schau. Die ökumenische Selbstdefinition sowie den Einfluss transnationaler Vorbilder markierte das gemeinsame Singen eines Liedes der Sanctuary-Bewegung zu Beginn der Veranstaltung sowie vorgetragene Erfahrungsberichte von Schweizer Asylhelfergruppen und ein Beitrag des westdeutschen UNHCRVertreters.321 Flüchtlinge aus Sri Lanka, dem Iran und Eritrea schilderten ihre Erlebnisse und sollten dem Kirchentagspublikum so ihre Anliegen näherbringen. Den Deutungsrahmen steckten Referate der Theologinnen Bärbel Wartenberg-Potter und Luise Schottroff zur Dritte-Welt-Thematik und zur biblisch-theologischen Grundierung der Flüchtlingsarbeit ab.322 Victor Pfaff trug wiederum zur politisch-rechtlichen Dimension vor.323 Besonderen Augenmerk bei der Vorbereitung hatte das Programmelement zur historischen Herleitung der gegenwärtigen Asylhilfe erhalten. Als Referent zur historischen Dimension des Themas sollte anfangs der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel für ein Referat über „Flüchtlinge im Dritten Reich“ gewonnen werden.324 Der Holocaust-Überlebende war in den Vorjahren auch bei Tagungen der evangelischen Akademien und der christlich-jüdischen Verständigung aufgetreten und hatte dabei die moralische Verpflichtung zur Asylgewährung beschworen.325 Als Zeitzeuge personifizierte Wiesel die historische Legitimation für eine offene Asylpraxis. Nach einer Absage Wiesels gewann die Projektleitung den aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflohenen Professor Ossip Kurt Flechtheim für den Zeitzeugenbericht.326

319 Mitgliederliste der Forumsleitung „Fremdentag“, o. D. [1986] (EZA Berlin 71/3948). 320 Programm der Veranstaltung „PRO ASYL – Flüchtlinge aufnehmen statt abschrecken“ am 18. 6. 1987, o. D. (EZA Berlin 71/3948). 321 Ebd. 322 Dokumentation der Referate der Podiumsveranstaltung bei: Bonin, Kirchentag 1987, 560–575. 323 Vgl. ebd., 565–569. 324 Schreiben von Elie Wiesel an die Geschäftsstelle des Kirchentags, 30. 1. 1987 (EZA Berlin 71/ 3948). 325 Ein Gesetz, das kein Problem löst. In: Sonntagsblatt, 6. 7. 1986, 1. 326 Programm der Veranstaltung „PRO ASYL – Flüchtlinge aufnehmen statt abschrecken“ am 18. 6. 1987 (EZA Berlin 71/3948).

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4.1.6 Eine „Ökumenische Herausforderung“327 – Konfessionsübergreifende und europäische Stellungnahmen (1986 bis 1988) Bei einem Auftritt in Nürnberg in einem evangelischen Gottesdienst im Mai 1987 sprach „Pro-Asyl“-Sprecher Leuninger über seine Erfahrungen in der Flüchtlingshilfe. In seiner Ansprache unter dem Titel „Bedrohte Asylbewerber zwischen christlichem Gewissen und staatlichem Handeln“ forderte der katholische Priester von seinem protestantischen Publikum, auf das Gewissen zu hören und die Flüchtlingsarbeit als eine umfassende „ökumenische Herausforderung“ für Christen beider Konfessionen wahrzunehmen.328 Nur gemeinsam könne es gelingen, „das Grundgesetz nach Buchstabe und Geist zu verteidigen“ und „eine realistische und daher weitgefaßte Vorstellung vom heutigen Flüchtling“329 in der Öffentlichkeit durchzusetzen. Als weiteren Beleg für die Dringlichkeit seines Anliegens nannte Leuninger, der selbst schon seit Jahren eng mit Akteuren der evangelischen Flüchtlingsarbeit kooperierte, Beispiele aus der überkonfessionellen Zusammenarbeit beim Protest gegen Abschiebungen. Leuningers Ansprache spiegelte die Hoffnungen vieler Engagierter auf eine breite Zusammenarbeit wider. Auch der Berliner Pfarrer Jürgen Quandt hatte während der Erstellung der EKD-Studie in einem seiner Thesenpapiere ähnlich formuliert: „Nur eine ökumenische Kirche kann eine sinnvolle Flüchtlingsarbeit machen.“330 Die Gruppen der Flüchtlingshilfe hatten 1986 als erneutes „schwarzes Jahr für Flüchtlinge“ und „Tiefpunkt politischer Kultur“331 gesehen.332 An der Notwendigkeit für eine breiter aufgestellte Kooperation gab es keine Zweifel mehr. Sowohl innerhalb der Basisgruppen als auch in der Zusammenarbeit der Wohlfahrtsverbände hatte die konfessionelle Abgrenzung kaum noch eine Rolle gespielt. Im politischen Betrieb der Bundeshauptstadt Bonn hatte das katholische Vertretungsbüro bereits seit den frühen 1980er Jahren die Sammelfunktion für inoffizielle Gespräche der Unterstützer einer liberalen Asylpolitik übernommen.333 Diese Entwicklung schlug sich nun auch in vermehrter Zusammenarbeit von evangelischen und katholischen Stellen nieder. Zwar gab es weiterhin keine umfangreichen gemeinsamen Erklärungen, jedoch öfters gemeinsame 327 Redemanuskript „Wenn sie abgeschoben werden…Bedrohte Asylbewerber zwischen christlichem Gewissen und staatlichem Handeln“ für den Gottesdienst mit Diskussion am 17. 5. 1987 in St. Lorenz, Nürnberg (ELAB Berlin G1/1742). 328 Ebd. 329 Ebd. 330 Jürgen Quandt: „Das Handeln der Kirche an den Flüchtlingen“, o. D. (EZA Berlin 2/8661). 331 „Pro Asyl“: 1986 schwarzes Jahr für Flüchtlinge In: epd-ZA Nr. 1, 2. 1. 1987, 3. 332 Vgl. auch die Einschätzung des Theologen Wolfgang Huber: Huber, Rechtswohltat, 85. 333 Im Katholischen Büro, der Vertretung der Bischofskonferenz bei Bundestag und Bundesregierung, existierte seit den frühen 1980er Jahren ein inoffizieller Gesprächskreis für Akteure der Asylpolitik. Vgl. exemplarisch: Protokoll der Sitzung ad-hoc Asyl am 18. 1. 1988 im Katholischen Büro Bonn (ADW Berlin PB 977).

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Auftritte von hochrangigen Vertretern der beiden christlichen Konfessionen. Der EKD-Ratsvorsitzende Martin Kruse hatte nach den öffentlichen Diskussionen über die kirchlichen Stellungnahmen im Herbst 1986 gesagt, er sei froh „über die Einmütigkeit mit der römisch-katholischen Schwesterkirche“334 in der Frage der Positionierung zum Umgang mit Flüchtlingen. Kruse schloss mit der selbstkritischen Bemerkung, dass die beiden Kirchen diese Gemeinsamkeiten bereits früher hätten präsentieren können.335 Zum „Tag des Flüchtlings“ 1987 gab es daraufhin erstmals einen gemeinsamen Aufruf von Vertretern der EKD, der katholischen Bischofskonferenz und einer orthodoxen Kirche.336 Zudem referierte das Motto des Tages „Flüchtlinge annehmen – ein Beitrag zum Frieden“337 auf eines der drei Großthemen des konziliaren Prozesses. Im Folgejahr führte der Rat der EKD gemeinsam mit der Deutschen Bischofskonferenz ein Gespräch mit Innenminister Zimmermann, bei dem die Anliegen der beiden christlichen Großkirchen gemeinsam vorgetragen wurden.338 Besonders deutlich schlug sich die Tendenz, die Flüchtlingsarbeit als Angelegenheit der Ökumene zu betrachten, auf der Ebene der internationalen kirchlichen Zusammenschlüsse nieder. Neben dem ÖRK beschäftigten sich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre die konfessionellen Weltbünde, der Reformierte und der Lutherische Weltbund, in eigenen Konsultationsprozessen mit den Themen Asyl und Flucht.339 Auf europäischer Ebene übernahm zudem die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) eine wichtige Forenfunktion. Seit 1986 war innerhalb der KEK verstärkt über einen eigenen europäischen Beitrag zum konziliaren Prozess des ÖRK nachgedacht worden.340 In der ökumenischen Bewegung wurde das Thema Migration und Asyl wiederholt als kritische Anfrage an die westlichen Kirchen formuliert. Der Generalsekretär der KEK äußerte daher, dass es besonders den Kirchen obliege, der Welt ein anderes Gesicht des christlichen Europas präsentieren, da es aufgrund der Abschottungspolitik aktuell sehr negativ sei.341 Im Laufe des Jahres 1987 gab es vermehrte Bestrebungen zur Einrichtung einer Sachverständigengruppe der KEK zum Thema Asyl und Flüchtlinge, die eine stärkere Koordination und Vernetzung der Mitgliedskirchen anstoßen sollte.342 Die EKD, zu deren argumentativen Repertoire die Forderung nach einer stärkeren Einbeziehung der europäischen Perspektive zu diesem Zeitpunkt bereits gehörte, begrüßte 334 335 336 337 338 339 340 341 342

Kirchenamt, Bad Salzuflen 1986, 59. Vgl. ebd. Gemeinsamer Aufruf der Kirchen zum Flüchtlingstag. In: epd-ZA Nr. 105, 3. 6. 1987, 1. Plakat zum Tag des Flüchtlings 1987 (EZA Berlin 513/323). Vgl. Kirchenamt, Bad Wildungen 1988, 55. Vgl. Fehle, Asyl- und Flüchtlingsfragen, 150 f. Vgl. Kunter, Hoffnungen, 48 f. Kirchen über europäische Flüchtlingspolitik besorgt. In: epd-ZA Nr. 190, 27. 3. 1987, 4. Vorschlag zur Errichtung einer Arbeitsgruppe der europäischen Kirchen über Asyl und Flüchtlinge, 1. 7. 1987 (EZA Berlin 87/2287).

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diesen Vorstoß.343 Im Juni 1987 führten ÖRK und KEK eine gemeinsame Konsultation zu Flüchtlingen und Asylsuchenden in Europa durch.344 Ziel der verstärkten Fokussierung der Europapolitik war die Prägung eines europäischen Wertekonsens zum Flüchtlingsschutz.345 Dabei schwangen Befürchtungen mit, der Kontinent könnte sich als „Festung Europa“ abschotten.346 Verstärkt wurde daher auch der Austausch mit europäischen Partnerkirchen gesucht. Beispielsweise pflegten Mitarbeitende von EKD und Diakonie den Austausch mit der griechisch-orthodoxen Kirche, da sich Griechenland zu einem wichtigen Transitland für Flüchtlinge entwickelt hatte.347 Anfang 1989 gab es zudem eine gemeinsame Erklärung von Vertretern der evangelischen Kirchen in Frankreich und der Bundesrepublik zum Schutz des Asylrechts.348 Endgültig Eingang in den Deutungsrahmen des konziliaren Prozesses fand die Flüchtlingsarbeit im Folgejahr. Ein Treffen hunderter ökumenischer Basisgruppen in Assisi im Sommer 1988 endete mit einem Appell für großzügige Asylgewährung durch die Staaten Europas.349 Die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen (ACK), die neben der katholischen und der orthodoxen Kirche verschiedene Freikirchen umfasste, hatte die Trägerfunktion für den dazugehörigen Austauschprozess in der Bundesrepublik übernommen.350 Das Ziel war die Ausarbeitung eines gemeinsamen Dokuments der christlichen Kirchen zu den Themen des konziliaren Prozesses: Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Auf einem Forum der ACK für Westdeutschland im Herbst 1988, das in Stuttgart durchgeführt wurde, verabschiedeten Vertreter der verschiedenen christlichen Mitgliedskirchen, darunter Mitglieder von Basisgruppen wie auch der Kirchenleitungen, ein gemeinsames Abschlussdokument. Die „Erklärung von Stuttgart“ behandelte in einem Dreischritt die drei Themenfelder des konziliaren Prozesses und fasste den inhaltlichen Konsens der Beteiligten in Thesenform zusammen.351 Das Dokument war thematisch breit gefasst und behandelte eine Vielzahl von gesellschaftspolitischen Komplexen.352 Im Abschnitt zum Thema Gerechtig343 Rundschreiben des Kirchenamts der EKD, Betreff: Vorschlag zur Errichtung einer AG der europäischen Kirchen über Asyl und Flüchtlinge, 18. 8. 1987 (EZA Berlin 87/2287). 344 Grußbotschaft des United Nations High Commissioner for Refugees an die Consultation on Refugees and Asylum-Seekers in Europe des ÖRK und der KEK am 4./5. Juni 1987 (ADW Berlin PB 977). 345 Vgl. Mildenberger, Asyl, 214 f. 346 Vgl. ebd. 347 Protokoll der Sitzung Arbeitskreis „Hilfen für Flüchtlinge“ am 29./30. 6. 1987 (ADW Berlin PB 977). 348 Für humanes Asylrecht. In: EvKo 3/89, 2. 349 Für großzügige Asyl-Gewährung plädiert. Europäisches Ökumenetreffen in Assisi beendet. In: epd-ZA Nr. 155, 15. 8. 1988, 7. 350 Vgl. Kunter, Hoffnungen, 110 f. 351 Forum „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“: Gottes Gaben – unsere Aufgabe. Die Erklärung von Stuttgart 1988. In: epd-Dok 46/88, 7. 11. 1988, 2 und 57. 352 Vgl. Kunter, Hoffnungen, 112.

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keit fixierte die Erklärung auch Aussagen zur Migrations- und Flüchtlingspolitik als einen Konsens der christlichen Kirchen. Programmatisch vorangestellt wurden eine Absage an die ausschließliche Orientierung an den Interessen des eigenen Volkes, die Berufung auf das Bewusstsein für das gemeinschaftliche Zusammenleben weltweit sowie die Inanspruchnahme einer Verantwortung für das Gemeinwohl, in das Flüchtlinge explizit miteinbezogen wurden.353 Im Abschnitt zu Asyl wurde die Flüchtlingsarbeit als Bestandteil des konziliaren Prozesses interpretiert: „Die Flüchtlinge bei uns gehören zu den Opfern der andauernden Ungerechtigkeit und Unterdrückung in allen Teilen der Welt. Sie sind ständige, ja schmerzvolle Ermahnung und gleichzeitig auch Antrieb für uns, unseren Beitrag zum Abbau von Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu leisten. […] Die Kirchen in der Bundesrepublik sehen die Anwesenheit von Flüchtlingen, Asylsuchenden und ausländischen Mitbürgern/-innen auch als Chance und Bereicherung innerhalb als auch außerhalb der Gemeinden.“354

Die Passage der Stuttgarter Erklärung wurde von den Akteuren der protestantischen Flüchtlingsarbeit entsprechend rezipiert.355 Die Tendenz zur Relativierung und Dekonstruktion der Kriterien eines nationalstaatlichen Asylregimes und die Betonung der europäischen, ökumenisch-globalen oder postkolonialen Dimension der Fluchtmigration setzten sich weiter fort: Bei der Jahrestagung von „Pro Asyl“ 1987 stand der Vortrag eines Europaparlamentariers der SPD im Mittelpunkt, der die europäische Verpflichtung zur Flüchtlingshilfe aus der Kolonialgeschichte ableitete.356 Die internationale Selbstverortung sowie die Idee einer länderübergreifenden Bewegung der Flüchtlingshilfe wurde im Sommer 1988 mit einer Vortragsreise von Vertretern der Sanctuary-Bewegung durch die Bundesrepublik unterstrichen. Die Aktion wurde in Zusammenarbeit mit Kirchengemeinden, theologischen Fakultäten und der Diakonie organisiert und hatte sich dem Ziel verschrieben, deutsche Städte und Gemeinden dafür zu gewinnen, sich wie US-amerikanische Vorbilder zu Zufluchtsstätten zu erklären.357 Zugleich zeichneten sich auch die Grenzen dieser Entwicklung ab. Zwar wichen die offiziellen Stellungnahmen der EKD nicht von den bisherigen Forderungen ab, sie vermieden jedoch im Gegensatz zu den Aktionsgruppen oder den Verlautbarungen der KEK und des ÖRK eine zu starke Betonung des advokatorischen Rollenmodells. Deutlich wurden diese Unstimmigkeiten 353 Forum „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“: Gottes Gaben – unsere Aufgabe. Die Erklärung von Stuttgart 1988. In: epd-Dok 46/88, 7. 11. 1988, 15. 354 Ebd., 17. 355 Unter anderem griff Mildenberger die Passage in einem seiner Texte auf: Mildenberger, Asyl, 213. 356 Vetter erinnert an Verantwortung Europas für Flüchtlinge. In: epd-ZA Nr. 180, 21. 9. 1987, 11. 357 In der Bundesrepublik sollen „Freie Flüchtlingsstädte“ entstehen. In: epd-ZA Nr. 114, 16. 6. 1988, 5.

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etwa in der Vorbereitung eines Papiers im Jahr 1987, das die EKD-Studie von 1986 fortschreiben sollte. Die Kommission für Ausländerfragen unter der Geschäftsführung von Mildenberger hatte sich zum Ziel gesetzt, mit einem weiteren Text auf die neuesten administrativen und rechtlichen Verschärfungen zu reagieren und somit die kirchlichen Positionierungen aus dem Vorjahr zu aktualisieren. Zentrales Anliegen sollte sein, den Helfergruppen den Rücken zu stärken und besonders auf deren Sorgen einzugehen. Der Textentwurf erhielt den Titel „Auf der Seite der Flüchtlinge“, der bereits als Überschrift eines Memorandums von Schweizer Kirchen gedient hatte, und sollte die protestantische Haltung gegenüber Versuchen zur Abschaffung und Unterminierung des Asylrechts unmissverständlich verdeutlichen.358 Der Entwurfstext fokussierte sich auf die internationale Dimension des Themas und übte zudem deutliche Kritik an der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte.359 Der später vom Rat der EKD und der Synode übernommene und gekürzte Antragstext erhielt allerdings den weniger parteiergreifenden Titel „Offen bleiben für Flüchtlinge“ und benannte primär die schlechte Lebenssituation von Asylbewerbern.360 Die Kritik an der Justiz aus dem Ursprungsentwurf fehlte hingegen. Während der Erstentwurf der Kommission noch eine Neubestimmung des Flüchtlingsbegriffs gefordert hatte, blieb am Ende der pragmatische Verweis auf die in West-Berlin getroffene Regelung für den Rechtsstatus von „de-facto-Flüchtlingen“, den geduldeten, aber abgelehnten Asylbewerbern.361 Der Synodenbeschluss sah in der Berliner Regelung ein mögliches Modell für andere Bundesländer und forderte die EKD-Gliedkirchen dazu auf, sich vor Ort ebenfalls um Lösungen für diese in prekärer Situation lebende Gruppe zu bemühen.362 Der Antrag wurde auf der Synode erneut länger diskutiert. Ein Synodaler hielt den im Vergleich zu den vorherigen Entwürfen bereits abgeschwächten Antragstext weiterhin für zu einseitig in seiner Kritik an der Regierungspolitik und stellte resignierend fest, die Haltung der Bevölkerung sei weiterhin mehrheitlich ablehnend, weshalb die Überschrift provozierende Wirkung haben könnte.363 Im Anschluss an die Debatte wurde der Antrag daraufhin mit einigen Gegenstimmen angenommen.364 Auf der Synode im Folgejahr wurde die symbolische Unterstützung 358 Vorlage für die 18. Sitzung des Rates der EKD am 15./16. Mai 1987 in Hannover, Betreff: Ausarbeitung „Auf der Seite der Flüchtlinge“, 6. 5. 1987 (ADW Berlin PB 977). 359 Entwurf „Auf der Seite der Flüchtlinge“, Stand: 27. 4. 1987 (ADW Berlin PB 977). 360 Entwurf „Offen bleiben für Flüchtlinge. Gesichtspunkte des Rates der EKD zu aktuellen Fragen des Asylrechts und der Asylpraxis, Stand 29. 6. 1987“ (ADW Berlin PB 977). 361 Die Berliner Regelung, bisweilen auch als „kleines Asyl“ bezeichnet, bestand darin, abgelehnten Asylbewerbern, die nicht abgeschoben werden durften, nachträglich einen legalen Aufenthaltsstatus zuzugestehen. Ausführlich zur Entstehung der Regelung für „de-factoFlüchtlinge“ und unter anderem dem Beitrag kirchlicher Gruppen dazu vgl. Kleinschmidt, Streit. 362 Vgl. Kirchenamt, Berlin-Spandau 1987, 798. 363 Vgl. ebd., 337 f. 364 Vgl. ebd., 342.

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der Engagierten in den lokalen Helfergruppen noch einmal bekräftigt. Der Rat der EKD dankte in seinem Bericht allen Menschen, die helfen „und sich durch die oft zermürbenden Erfahrungen nicht haben irremachen lassen“365. Die offensive Ablehnung nationalistischer Orientierungen wurde 1988 unterstrichen, als ein vorzeitig an die Öffentlichkeit gelangter Arbeitsentwurf des Bundesinnenministeriums zur Novelle des Ausländergesetzes in der Öffentlichkeit diskutiert wurde.366 In der evangelischen Publizistik367 und bei Akademietagungen368 wurde einhellig die nationalstaatliche Orientierung der geplanten Neuregelungen als zentrales Problem ausgemacht. Der Ökumenische Vorbereitungsausschuss der „Woche des ausländischen Mitbürgers“, der Gewerkschaftsbund und „Pro Asyl“ richteten sich gemeinsam gegen den Entwurf.369 In Tutzing formierte sich bei einer Tagung ein Bündnis, dem sich noch weitere Verbände anschlossen.370 „Pro Asyl“ rechnete in seinen Erklärungen zum Gesetzesentwurf mit „Deutschtümelei“371 ab und sah darin „eine Gefahr für Flüchtlinge“372 in der Bundesrepublik verwirklicht. Der Flüchtlingstag 1988 im Rahmen der mit der Organisation personell verflochtenen „Woche des ausländischen Mitbürgers“ wurde entsprechend für den Protest gegen das Gesetz und dessen „nationalistisches Weltbild“373 genutzt. Die Tendenz zu einer Relativierung und Dekonstruktion nationaler Kriterien wurde von manchen Akteuren aber auch als Hindernis für den Dialog mit der Politik und den Behörden angesehen. Die zunehmende Zahl von Aussiedlern aus der Sowjetunion, Polen und Rumänien machte in der Praxis umso mehr deutlich, dass das Migrationsregime der Bundesrepublik weiterhin auf den Kriterien nationaler und ethnischer Zugehörigkeit beruhte.374 Manchen Akteuren aus der Diakonie erschienen die utopisch anmutenden Diskussionen über Nationalstaatskritik als den praktischen Herausforderungen und gesellschaftlichen Mehrheiten entrückt. Mildenberger, der als Exponent für die Position einer offenen Asyl- und Ausländerpolitik galt, zog entsprechend Kritik auf sich. Anlass dafür war ein geplantes Gespräch mit dem neuen 365 Kirchenamt, Bad Wildungen 1988, 55. 366 Zur Diskussion um das Ausländergesetz sowie dessen geschichtswissenschaftlicher Einordnung vgl. Kleinschmidt, Streit, 251 f. 367 Exemplarisch ein Beitrag aus den Evangelischen Kommentaren: Ungastliche Republik? In: EvKo 8/88, 430 f. 368 Vgl. einen Bericht zu einer Tagung in der Evangelischen Akademie Mühlheim/Ruhr: Ausländerrecht. In: EvKo 8/88, 485. 369 Pro Asyl: Zimmermann zum Kreuzzug gegen Kinder angetreten. In: epd-ZA Nr. 64, 31. 3. 1988, 1. 370 Vgl. Herbert / Hunn, Beschäftigung, 647. 371 Presseerklärung: Deutschtümelei Zimmermanns gefährdet Flüchtlinge. Tag des Flüchtlings contra Ausländergesetz, 29. 9. 1988 (ELAB Berlin G1/1741). 372 Gesichtspunkte der Arbeitsgemeinschaft PRO ASYL zum Entwurf aus dem Bundesinnenministerium für ein neues Ausländergesetz, 29. 9. 1988 (ELAB Berlin G1/1741). 373 Woche ausländischer Mitbürger. In: EvKo 11/88, 676. 374 Vgl. Herbert / Hunn, Beschäftigung, 645 f.

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Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, der Friedrich Zimmermann im Jahr 1989 abgelöst hatte.375 Mildenberger schlug in der gemeinsamen Vorbereitung von EKD und Diakonie vor, mit dem Minister eine Grundsatzdebatte über Migration in die Bundesrepublik zu führen.376 Im Präsidialstab der Diakonie wurde dazu vermerkt, Mildenberger habe zwar in vielen seiner Positionen recht, es sei aber nicht sinnvoll, mit dem deutschen Innenminister über die Sinnhaftigkeit des Nationalstaates diskutieren zu wollen.377

4.2 Zwischen christlicher Ethik und deutscher Verfassungsidentität. Asylpolitische Argumentations- und Deutungsmuster in den 1980er Jahren Nachdem mit dem neuen Geschichtsbewusstsein, der Ökumene sowie der Formierung der Protestbewegungen zentrale Faktoren der Entwicklung in den 1980er Jahren in chronologischer Reihenfolge dargestellt wurden, widmet sich der folgende Abschnitt der Analyse von Argumentations- und Deutungsmustern. Dabei wird anhand von drei Schwerpunkten vorgegangen. Zuerst werden explizit religiöse Bezüge und die theologische Deutung untersucht. Der zweite Abschnitt betrachtet die Kategorie nationale Identität und die damit verbundenen historischen Rekurse, der dritte politische und (menschen-)rechtliche Argumente. 4.2.1 Ein biblischer Befehl? Theologisch-biblische Begründungsmuster und Motive Die theologische Fundierung der Flüchtlingsaufnahme und des Umgangs mit Asylbewerbern wurde in den 1980er Jahren erstmals umfassend im Protestantismus diskutiert. Zumeist handelte es sich um die retrospektive Reflexion und Legitimation der bereits etablierten Hilfspraxis. Wie bereits verdeutlicht, waren ökumenische Theologieentwürfe der wichtigste Impulsgeber. Diskutiert und vorgestellt wurden die theologischen Fragen zumeist im Rahmen von Akademietagungen oder auf den Kirchentagen. Der Großteil der westdeutschen Universitätstheologie griff das Thema hingegen erst mit Verspätung

375 Vgl. hierzu Kleinschmidt, Streit, 252 f. 376 Schreiben von Mildenberger an den Diakonie-Präsidenten Neukamm und den EKD-Bevollmächtigten Binder, Betreff: Gespräch mit Bundesminister Schäuble am 30. 10. 1989, 25. 10. 1989 (ADW Berlin PB 978). 377 Aktenvermerk für Präsident Neukamm, Betreff: Gespräch mit Bundesminister Schäuble am 30. 10. 1989, 26. 10. 1989 (ADW Berlin PB 978).

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auf.378 Im Jahr 1989 erschien eine eigene Themenausgabe der Fachzeitschrift „Praktische Theologie“ zur Flüchtlingsarbeit. Der darin enthaltene Artikel zur theologischen Grundlegung ging auf einen Vortrag Leuningers auf einer Konsultation des ÖRK zurück.379 Die theologischen Argumente hatten dabei in erster Linie Bedeutung im protestantischen Binnendiskurs. Sie begründeten die Notwendigkeit der Positionierung in der Debatte und dienten der eigenen Rollenzuschreibung. In Stellungnahmen, die sich an die Gesamtgesellschaft oder politische Akteure richteten, waren unmittelbare religiöse Bezüge hingegen nur selten zu finden. Religiös-moralische Argumente bedienten sich besonders biblischer Appelle. Die einschlägigen Bibelstellen, die bereits im Kontext der Flüchtlingsdebatten der 1950er Jahre herangezogen worden waren, besaßen weiterhin großen Stellenwert. Dazu gehörten einerseits eine Stelle aus dem alttestamentlichen Buch Levitikus über die Pflicht zur Gastfreundschaft für Fremde380 sowie das Gleichnis vom Weltgericht aus dem Matthäusevangelium, dessen Kernsatz „Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen“381 einen hohen symbolischen Wert für den christlichen Flüchtlingsdiskurs besitzt.382 Die Bibelstellen waren aufgrund ihrer semantischen Offenheit für unterschiedlichste Migrationsphänomene anwendbar. Sie wurden auch in der EKD-Studie als Referenzen zitiert.383 Die Zitate bedurften keiner ausgefeilten hermeneutischen Vermittlung oder einer aufwendigen Textexegese. Als unmittelbare Anweisungen besaßen sie gegenüber christlichen Rezipienten eine für sich stehende rhetorische Kraft. Ein Mitglied der hannoverschen Landessynode sprach bei der Beratung eines Antrags zur Flüchtlingshilfe sogar davon, „die Bibel befehle buchstäblich die Fürsorge für Fremdlinge“384. In einem Berliner Themengottesdienst bat die Gemeinde in den Fürbitten darum, zum Werkzeug Gottes bei der Flüchtlingshilfe zu werden.385 Die Protagonisten der biblischen Erzählungen mit ihren Flucht- und Wanderungsgeschichten boten sich zudem als Identifikationsfiguren an, etwa das Volk Israel auf seiner Reise durch die Wüste oder der Wanderprediger Jesus selbst. Der Topos von Jesus als Flüchtling wurde regelmäßig an Weihnachten hervorgehoben, wenn die Erzählung von der Flucht der Heiligen Familie nach 378 Vgl. zur allgemeinen Einschätzung der Behandlung des Themas in der evangelischen Theologie: Just, Zuwanderungspolitik, 126 FN 21. Im Jahr 1988 veröffentlichte der Theologe Wolfgang Huber einen kurzen Beitrag in der „Zeitschrift für evangelische Ethik“: Huber, Rechtswohltat. 379 Vgl. Leuninger, Basis. 380 Lev. 19, 33 f.: „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland.“ 381 Mt. 25, 35. 382 Vgl. zu den biblischen Referenzen Rethmann, Stellungnahmen, 191 f. sowie Claussen, Buch. 383 Vgl. Kirchenamt, Flüchtlinge, 8. 384 Kirchengemeinden sollen sich für Asylsuchende einsetzen. In: epd-ZA Nr. 105, 3. 6. 1988, 6. 385 Fürbittengebet, o. D. (ELAB Berlin G1/1741).

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Ägypten386 im Mittelpunkt von Gottesdiensten und Andachten stand. Bei der Weihnachtsfeier in einer Aufnahmeeinrichtung setzte etwa der badische Landesbischof Klaus Engelhardt die Situation der Asylbewerber mit der Geburt Jesu im Stall gleich.387 Ausgehend von den biblischen Texten ließen sich zudem unterschiedliche theologische Argumentationsstränge entwickeln. Prominent platzierte nicht nur die EKD-Studie die Schöpfungstheologie und das Sprechen von der Geschöpflichkeit des Menschen. Daraus folgerten die Akteure der christlichen Flüchtlingshilfe die Ideen der Menschenwürde und der Gleichheit und konnten so begrifflich an andere Gruppen anknüpfen. Besonders der Großbegriff Menschenwürde mit seiner Verwendungsvielfalt in verfassungsrechtlicher, politischer, menschenrechtlicher wie auch religiös konnotierter Weise war das entscheidende Scharnier. Der von den Diskussionen des ÖRK geprägte Horst Oberkampf, Studienleiter und Pfarrer der Akademie Bad Boll, setzte bereits in einem als theologische Meditation überschriebenen Tagungsbeitrag Anfang der 1980er Jahre auf diese Verbindung, indem er die Gleichheit aller Menschen als Geschöpfe Gottes unmittelbar neben den Menschenwürdebegriff des Grundgesetzes stellte. Aus der Geschöpflichkeit des Menschen folgerte Oberkampf unmittelbar, dass Flüchtlinge nicht kategorisiert und ungleich behandelt werden dürften.388 Ähnlich formulierte sein badischer Kollege Wolfgang Weber diesen Zusammenhang: Für Gott gebe es „keine Deutschen und Asylanten, sondern nur geliebte Geschöpfe“389. Zugespitzt wurde dieser theologische Gedanke auch auf einem Gottesdienst am von „Pro Asyl“ organisierten Flüchtlingstag formuliert: „Für Christen gibt es keine Ausländer.“390 Der katholische Priester Leuninger, dessen Texte in protestantischen Kreisen intensiv bei der Vorbereitung der EKD-Studie rezipiert wurden, schrieb von einem doppelten Anspruch aus christlicher und menschenrechtlicher Perspektive, der es verlange, Flüchtlinge in ihrer Personenwürde zu sehen und zu behandeln.391 Leuninger differenzierte dabei durchaus zwischen menschenrechtlicher und religiöser Herleitung, setzte aber das Ergebnis der Überlegungen gleich. Ähnlich formulierte es die EKD-Studie: „Jeder Mensch ist Gottes Geschöpf und trägt sein Bild in sich. Jeder einzelne Flüchtling hat deshalb seine eigene Würde ebenso wie er Träger individueller Menschenrechte ist.“392 Die schöpfungstheologische Herleitung des Menschenwürdebegriffs als 386 Mt. 2, 13–15. 387 Engelhardt: „Asylbewerber stehen nicht am Rande“: Kirchliche Weihnachtsfeier für Asylsuchende in Karlsruhe. In: epd-ZA Nr. 246, 23. 12. 1981, 5. 388 Vgl. Evangelische Akademie Bad Boll, Asylsuchende, 6. 389 Evangelische Akademie Bad Boll, Asylfrage, 75. 390 Predigt am Tag des Flüchtlings in der Dorfkirche Mariendorf, 1. 10. 1987 (ELAB Berlin G1/ 1741). 391 Vgl. Leuninger, Basis, 126. 392 Kirchenamt, Flüchtlinge, 29.

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zentrale christliche Norm besaß eine Schlüsselfunktion für die theologischen Begründungsmuster.393 Sie garantierte die Anschlussfähigkeit des Protestantismus an den Diskurs über die Identität der Bundesrepublik als liberalen Verfassungsstaat sowie über die Menschenrechte.394 Menschenwürde ließ sich so als identisches Resultat einer religiösen wie auch säkularen Herleitung verstehen. Bereits die Entschließung der EKD-Synode 1980 hatte diese Doppelstruktur integriert: „Wie staatliche Behörden und Christen im Alltag gerade mit diesen besonders verletzbaren Menschen und ihrer Leiderfahrung umgehen, wie sie deren Menschenwürde achten […], ist Prüfstein für unsere freiheitliche Demokratie und unser Christsein.“395

Aufgrund der Begründungs- und Interpretationsoffenheit des Menschenwürdebegriffs ließ sich sowohl an die christliche Identität wie auch an die staatsbürgerlichen Grundwerte des Grundgesetzes appellieren. Damit verbunden waren zudem Konzepte von der gesellschaftlichen Rolle der Kirche. Viele der prägenden Akteure definierten die Flüchtlingsarbeit im Kontext der ökumenischen Ekklesiologie. Mit Rückgriffen auf biblische und altkirchliche Vorbilder konstruierten sie ein Rollenmodell, das für die Gegenwart Orientierung bieten sollte. Die Theologin Luise Schottroff, Rednerin auf dem Kirchentagspodium, die ihre Bibelauslegung als sozialgeschichtliche Interpretation überschrieb, verwies auf die Geschichte des frühen Christentums: Urchristliche Gemeinden seien offen für alle Menschen gewesen und hätten Fremde und Flüchtlinge bedingungslos beherbergt.396 Horst Oberkampf folgerte ähnlich wie Schottroff397 aus den biblischen Texten, dass die Kirche sich in der Rückbesinnung auf die Exoduserfahrung des Volkes Israel im Alten Testament als „Heimat der Heimatlosen, Abbild des wandernden Gottesvolkes“398 verstehen müsse. In dieser Traditionskonstruktion sollte sich die Kirche in Rückbesinnung auf ihre Wurzeln als globale und geistige Gemeinschaft verstehen. Die christliche Nächstenliebe wurde dabei global gedacht. Die EKD-Studie hatte sich unter Rückgriff auf die Schöpfungslehre Karl Barths die Dekonstruktion nationaler Kriterien auf die Fahnen geschrieben. 393 Auch die kurz zuvor erschienene Demokratiedenkschrift widmete sich ausführlich dem Menschwürdebegriff auf evangelisch-theologischer Perspektive. Vgl. Scheliha, Religionspolitik, 30. Die EKD-Studie zitierte zum Menschenwürdebegriff ebenfalls direkt aus der Denkschrift (Kirchenamt, Flüchtlinge, 28 f.). 394 Dieser Zusammenhang wird auch in der Theologie diskutiert. Der Theologe Peter Kirchschläger bezeichnet die Menschenwürde prägnant als „Schlüssel zur Adaption der Menschenrechte durch Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften“ (Kirchschläger, Menschenrechte, 189). 395 Kirchenkanzlei, Osnabrück 1980, 392. 396 Vgl. Schottroff, Christen und Asyl, 111. 397 Die Exoduserzählung wird ebenfalls hervorgehoben bei: Schottroff, Christen und Asyl, 110 f. 398 Evangelische Akademie Bad Boll, Asylsuchende, 7.

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„Dabei sind die Unterschiede ebenso wie das gegenüber von Nahen und Fernen immer nur relativ. Sie sind veränderbar, umkehrbar, ja müssen aufhebbar sein, wenn sie Gottes Gebot widersprechen. So kann der ferne Mitmensch zu einem Nahen und Nächsten werden, für den wir unmittelbar Verantwortung tragen und demgegenüber die Unterschiede von Rasse, Volk und Geschichte nicht mehr wie bisher gelten.“399

Damit einher ging auch die Utopie einer Überwindung von nationalen Grenzen und menschengemachten Gegensätzen. Was in der EKD-Studie als rhetorische Frage formuliert war, wurde bei Oberkampf in Bad Boll zur klaren Aussage: „Flüchtlinge und Asylsuchende sind gleichsam Abgesandte aus dieser weltweiten Ökumene und zugleich Teilhaber an dieser weltweiten Ökumene.“400 Dieses utopische Moment ließ sich nicht nur religiös deuten, sondern auch mit einem politischen Anspruch verstehen. Luise Schottroff und Herbert Leuninger interpretierten ihre Rollenmodelle unter Rückgriff auf die Prophetenerzählungen explizit als parteiergreifend und staatskritisch.401 Die Kirche sollte als „Anwalt der Schwachen“ und „Stimme der Stimmlosen“402 im Widerstreit mit den Mächtigen liegen und sich eindeutig für die Belange geflüchteter Menschen positionieren. Auch dieser aus der Theologie der Befreiung stammende Topos zirkulierte innerhalb der Diskussionen des ÖRK. Auf einer der Konsultationen des Kirchenbundes im Jahr 1986 erklärte etwa Emilio Castro, der aus Uruguay stammende Generalsekretär des ÖRK, dass die christliche Nächstenliebe über allen gesetzlichen Definitionen des Flüchtlingsstatus stehe und etwaige Konfrontationen mit den Staaten für die christliche Gemeinschaft daher nur schwer vermeidbar seien.403 Kritiker, zumeist aus dem konservativen Spektrum des Protestantismus, lehnten diese exegetische Herleitung hingegen ab. Landesbischof Heubach, der in seinen Stellungnahmen keine umfassende theologische Reflexion über das Thema Migration entwickelte, erhob implizit den Vorwurf, seine Gegenspieler würden es sich bei der Bibelauslegung zu einfach machen. In seiner Rede vor niedersächsischen Landespolitikern berief er sich auf eine zurückhaltend-pragmatische Position. Bibelstellen, so Heubach, könnten nicht zum Maßstab politischen Handelns und Entscheidens gemacht werden: „Demgegenüber gilt es, an die lutherische Nüchternheit in politischen Fragen zu erinnern […]. Als Lutheraner wissen wir, daß wir uns vor Schwärmereien zu hüten haben und die Gebote der Bergpredigt nicht zum Maßstab unseres politischen Handelns machen können. In der Politik gilt es vielmehr, nüchtern Chancen und Gefahren der verschiedenen möglichen Maßnahmen abzuwägen und nach der Vernunft und in Verantwortung für unsere Gesellschaft nur das anzustreben, 399 400 401 402 403

Kirchenamt, Flüchtlinge, 10. Evangelische Akademie Bad Boll, Asylsuchende, 8. Vgl. Schottroff, Christen und Asyl, 114; Leuninger, Basis, 127. Leuninger, Basis, 127. Kirchen sollen dem Staat in Asylfragen widersprechen. In: epd-ZA Nr. 84, 2. 5. 1986, 2.

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was einigermaßen erreichbar erscheint, auch in Ansehung der Bedingtheit menschlicher Wesensart, die durch den Sündenfall gekennzeichnet ist.“404

Die Bibelstellen besaßen jedoch weniger unmittelbaren argumentativen Wert, als Heubach in seiner Ansprache suggerierte. Kein protestantischer Akteur der Flüchtlingshilfe hatte die Forderung erhoben, dass sich Politik und Staat unmittelbar an biblische Vorschriften halten sollten. Entscheidend war die theologische Diskussion für die Grundorientierung und die Klärung von Motiven, Rollenzuschreibungen und handlungsleitende Prinzipien des Protestantismus. Bisweilen kam es dabei aber zu Vermengungen. Die These, bei Migration handele es sich um eine Grundeigenschaft des Menschen, konnte einerseits normativ als Argument in die öffentliche Diskussion eingebracht werden, andererseits auch religiös gedeutet werden und als Handlungsmotiv dienen. Mildenberger hatte in einem seiner frühen Exposees für die EKDStudie die Überlegung skizziert, Wanderschaft und „Unbehaustsein“ des Menschen als anthropologische Grundkonstante mit in den Text aufzunehmen.405 Der theologische Abschnitt der endgültigen Fassung enthielt eine entsprechende Passage: „In der frühen Christenheit war dieses Wissen, ,Fremdlinge und Pilger‘ (1. Petr. 2,11) in dieser Welt zu sein, eine lebendige Realität. Es wäre vielleicht für unsere Kirchengemeinden, die sich so fest etabliert haben, wichtig, sich darauf neu zu besinnen – nicht um der Welt zu entfliehen, sondern um sich wieder den Blick schärfen zu lassen für den neuen Himmel und die neue Erde, wo Gott alles in allem sein wird und Menschen aus allen Nationen in Gerechtigkeit und Frieden beisammen wohnen werden.“406

Die Autorengruppe der Studie bewegte sich damit in der bis in die Nachkriegszeit zurückreichenden Traditionslinie des protestantischen Migrationsdiskurses. Bereits Karl Ahme hatte diese antimaterialistische Deutungsfigur verwendet und zur Legitimation seines volksmissionarischen Ansatzes genutzt. Die Konstruktion des Gegensatzes zwischen bürgerlichem Leben und unbehauster christlicher Existenz hatte sich zudem im Vertriebenendiskurs einer gewissen Beliebtheit erfreut.407 Die Vorstellung, bürgerlich-etablierte Kirchengemeinden mit Hilfe der Flüchtlingsarbeit aus ihren Routinen herauszuholen und so geistig zu erneuern, war auch in den 1980er Jahren präsent, wenngleich unter veränderten Vorzeichen. Die Kritik an der materialistisch orientierten Konsumwelt der westdeutschen Aufnahmegesellschaft verortete sich nun im Kontext des Dritte-Welt-Diskurses. Umfassend wurde der Zu404 Stellungnahme von Landesbischof Heubach bei der Begegnung mit der Landesregierung am 9. 12. 1980 zum Thema „Ausländer und Asylanten“ (EZA Berlin 2/17640). 405 Michael Mildenberger: Expos für eine Ausarbeitung zum Thema „Asyl und Flüchtlinge“, 11. 9. 1985 (EZA Berlin 2/8661). 406 Vgl. Kirchenamt, Flüchtlinge, 12. 407 Vgl. Teuchert, Gemeinschaft, 79–81.

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sammenhang auf den Konsultationen des ÖRK diskutiert, wo man den Materialismus der westlichen Gesellschaften mitverantwortlich für die Gleichgültigkeit gegenüber den die Armen der Welt symbolisierenden Flüchtlinge machte.408 Dennoch schimmerte in diesem theologischen Deutungsmuster weiterhin ein an die volksmissionarischen Konzepte der Nachkriegszeit erinnernder Ansatz durch. Besonders deutlich hob der badische Pfarrer und Ausländerbeauftragte Wolfgang Weber diesen Zusammenhang in seinem Vortrag unter dem Titel „Die Asylfrage in biblisch-theologischer und kirchlicher Sicht“ auf einer Tagung in Bad Boll hervor: „Ich glaube, für die Kirche kann die Anwesenheit von Flüchtlingen letztendlich eine Chance zum Glauben sein, denn wir können in den Flüchtlingen wiederentdecken, wie Kirche sich eigentlich selbst verstehen sollte, wie das Wesen des Christenmenschen in dieser Welt ist, nämlich (1. Korinther): ,Wir sind, Herr, Gäste und Fremdlinge vor dir wie unsere Väter alle.‘ Dieser Satz ist sehr spitz und kritisch in die eigenen Reihen gesagt. Daß wir uns innerhalb der Kirche gegen alles Besitzstandsdenken, auch des ekklesiologischen und theologischen Besitzstandsdenkens, zu erinnern haben, daß unsere geistliche Herkunft im Exodus und der Emigration liegt und daß wir berufen sind zu neuer Heimat bei Gott […]. Dazwischen ist der Weg, den wir in der Solidarität mit den Flüchtlingen gemeinsam gehen. Ich denke, daß diese ins Spirituelle reichende Solidarität mit dem Flüchtling […] angstlösend wirken kann und mit dem Flüchtling das Gefühl gegenseitiger Nähe und Schicksalsgemeinschaft stärkt.“409

Die theologische Deutung der Flüchtlingsarbeit als Bewährungsprobe für die christliche Gemeinschaft prägte den protestantischen Binnendiskurs entscheidend. Eine Plakatkampagne des ÖRK warb unter anderem mit dem Slogan „Flüchtlinge sind eine Herausforderung an die Kirchen“410 für die Beteiligung an der Hilfsarbeit. Mildenberger schrieb in einem seiner Texte, gerade in der Asylarbeit sei die Glaubwürdigkeit christlicher Identität herausgefordert.411 4.2.2 Historische Rekurse und bundesrepublikanische Identität Nicht allein in ihrer Identität als evangelische Christen sahen sich die Akteure herausgefordert, sondern auch als Staatsbürger. Entscheidend hierfür war die gestiegene Relevanz des Diskursfeldes nationalsozialistische Vergangenheit. Historische Rekurse und Vergleiche beeinflussten auch andere Protestbewe408 Kirchen legen eigene Kriterien für die Anerkennung von Flüchtlingen fest. In: epd-ZA Nr. 85, 5. 5. 1986, 1. 409 Evangelische Akademie Bad Boll, Asylfrage, 75. 410 ÖRK-Plakat „Flüchtlinge sind eine Herausforderung an die Kirchen“ (EZA Berlin 513/567). 411 Vgl. Mildenberger, Asyl, 215.

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gungen der 1980er Jahre. Die Anti-Atom-Proteste waren ebenfalls von einem neuen Geschichtsbewusstsein geprägt.412 In eskalativen Zusammenhängen rückten Protestgruppen ihre Gegner in der Diskussion um die Nutzung der Kernenergie etwa in die Nähe des Nationalsozialismus und beriefen sich selbst auf die Tradition christlicher Widerständler.413 Diskursgeschichtliche Arbeiten haben den gestiegenen Stellenwert des Geschichts-Topos in den 1980er Jahren bei der Argumentation für eine großzügige Asylpraxis bereits herausgearbeitet.414 Zwei unterschiedliche Formen sind dabei zu unterscheiden. Zum einen direkte Bezüge auf die Verbrechen des Nationalsozialismus und zum anderen die damit verbundene Motivation des Parlamentarischen Rats, das Asylgrundrecht ins Grundgesetz zu schreiben.415 Beide Varianten waren zentrale Stützpfeiler einer Argumentation für ein liberales Asylrecht als historische Verpflichtung der Bundesrepublik.416 Anders als bei den Anti-Atom-Protesten kam im Fall der Asyldebatte hinzu, dass der zentrale Gegenstand der Auseinandersetzung, das im Grundgesetz garantierte Asylrecht, als Verfassungselement eine hervorgehobene Stellung besaß. Für die heterogene Flüchtlingshilfebewegung bildete die Annahme, dass eine offene Asylpolitik den Garanten „für die grundsätzliche Abkehr der Bundesrepublik von einer rassistisch geprägten Vergangenheit, insbesondere vom Nationalsozialismus“417 darstelle, den zentralen gemeinsamen inhaltlichen Fixpunkt.418 Der Grundgesetzartikel war elementarer „Bestandteil der positiven Eigendefinition der Bundesrepublik“419 und wichtiger juristischpolitischer sowie moralischer Referenzpunkt. Wenngleich Ursula Büttner zurecht darauf verweist, dass die offiziellen Stellungnahmen der EKD kaum explizite Bezüge auf die nationalsozialistische Vergangenheit enthielten,420 waren diese im protestantischen Umfeld überaus präsent. Wie bereits dargestellt, bezogen sich die Akteure verstärkt auf den Topos der Vergangenheitsbewältigung. Dieser war präsent in Gottesdiensten, auf Akademietagungen oder in persönlichen Briefen, wo Vergleiche mit der Situation der Verfolgten im Dritten Reich gezogen wurden. Die evangelische Filmarbeit verlieh etwa einem Spielfilm über die Auslieferung jüdischer Flüchtlinge an das nationalsozialistische Deutschland im Dezember 1981 eine Auszeichnung mit der 412 Vgl. am Beispiel von Protesten innerhalb der evangelischen Kirche: Schüring, Bekennen, 89–112. 413 Vgl. ebd., 93 f. 414 Vgl. Wengeler, Topos, 473 f. 415 Vgl. ebd., 474. 416 Vgl. Bresselau, Diskurs, 120. 417 Poutrus, Zuflucht, 893. 418 Als weitere Merkmale der Asylhilfebewegung lassen sich der neueren sozialwissenschaftlichen Bewegungsforschung zufolge noch die Bürokratiekritik und ein sich aus „utopischem Überschuss“ speisendes Potential zur gesellschaftlichen Veränderung bezeichnen (Huke, Teilhabe, 398). 419 Wolken, Grundrecht, 116. 420 Vgl. Büttner, Umkehr, 44 f.

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Begründung, dieser sei von herausragender Aktualität für die bundesdeutsche Gegenwart.421 Quellen aus dem Umfeld der Helferkreise belegen ebenfalls den hohen Stellenwert der Erinnerung an die deutsche Vergangenheit. Engagierte bezogen sich in ihren Briefen etwa auf die Erinnerung an das Schicksal jüdischer Kinder422 oder verglichen die Unterbringung von Flüchtlingen in Massenunterkünften mit den Ghettos.423 Eine besondere Schnittmenge aus der Identität als evangelische Christen und deutsche Staatsbürger ergab sich bei der Erinnerung an die Rolle des Protestantismus in der Zeit des Nationalsozialismus. Wahlweise ließ sich entweder positiv der Widerstand Einzelner als Vorbild beschwören oder die passive Rolle der evangelischen Kirche beim Schutz von Verfolgten als Negativbeispiel benennen. Der ehemalige Berliner Bischof Kurt Scharf sprach 1983 bei einer Veranstaltung zum Erbe der Bekennenden Kirche und dessen Bedeutung in der Gegenwart und prangerte das geltende Asylrecht als untragbaren und rechtswidrigen Zustand an.424 Dabei zog er Parallelen zwischen dem Versagen der Kirche im Dritten Reich und den gegenwärtigen Missständen. Ein bayerischer Helferkreis berief sich in einem Schreiben an seinen Landesbischof auf Dietrich Bonhoeffer und warnte davor, dass evangelische Christen wieder mitschuldig an der Unterdrückung von Minderheiten werden könnten.425 In ihren öffentlichen Stellungnahmen bezogen sich protestantische Akteure in erster Linie auf das Grundgesetz. Die Berufung auf die Verfassung und die Ursprungsintention des Parlamentarischen Rats war entscheidend für die Selbstlegitimation der westdeutschen Asylhilfebewegung. Auch die Studie „Flüchtlinge und Asylbewerber in unserem Land“ widmete sich dem Asylgrundrecht und dessen Ursprüngen. Mithilfe von Zitaten aus den Protokollen des Parlamentarischen Rats deutete sie es als direkte Konsequenz aus der deutschen Vergangenheit und der Erfahrung der Exilanten.426 Daraus wurde die rechtliche und moralische Verpflichtung des Staates zum Flüchtlingsschutz abgeleitet.427 Das Grundrecht auf Asyl sei Garant für das historische Erbe und den humanen Anspruch der Bundesrepublik Deutschland.428 Identisch argumentierten Stellungnahmen des Diakonischen Werks, die zudem explizit auf die Massenverfolgungen des Nationalsozialismus verwiesen.429 421 Film des Monats: „Das Boot ist voll“. In: epd-ZA Nr. 247, 28. 12. 1981, 6. 422 Weihnachtsrundbrief von Pfarrer G. Hoffmann, Dezember 1982 (EZA Berlin 2/17641). 423 Schreiben der Kontaktgruppe Asylheim am Grünberg an Landesbischof Hanselmann, 8. 5. 1986 (LAELKB Nürnberg LB 798). 424 Bischof Scharf: Rechtsordnung der Bundesrepublik hat versagt. In: epd-ZA Nr. 104, 31. 5. 1983, 2. 425 Schreiben der Kontaktgruppe Asylheim am Grünberg an Landesbischof Hanselmann, 8. 5. 1986 (LAELKB Nürnberg LB 798). 426 Vgl. Kirchenamt, Flüchtlinge, 14. 427 Vgl. ebd., 22 und 24. 428 Ebd., 18. 429 Asylrecht. Diakonisches Werk gegen Ansicht des Bundeskanzlers. In: epd-ZA Nr. 107, 9. 6. 1986, 3.

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Eine Veröffentlichung der Diakonie aus dem Jahr 1981 verwarf Vorschläge zur Einschränkung des Grundgesetzartikels etwa mit dem historischen Gedankenspiel, dass solche Vorschriften in der Vergangenheit verfolgte Juden nicht hätten schützen können.430 Was in der EKD-Studie oder von der Diakonie zumeist nur angedeutet wurde, war in den Helfergruppen wichtige Selbstlegitimation für Protestaktionen: „Pro Asyl“ erhob für sich den Anspruch, das Grundgesetz zu verteidigen, da der Staat es mit seiner Asylpolitik verletze und aushöhle.431 Die historischen Verweise hatten eine Doppelfunktion. Argumentativ sollten sie die Realitäten der deutschen Asylpraxis vor den aus der Aufarbeitung der Geschichte abgeleiteten normativen Ansprüchen als unhaltbar darstellen.432 Zum anderen waren sie ein Identifikationsangebot. Die Rekurse auf die Intentionen des Parlamentarischen Rats dienten der Beschwörung eines Konsenses der deutschen Gesellschaft, hinter dem sich alle Parteien versammeln sollten.433 Die tabuisierende Wirkung des Rekurses auf die historischmoralische Identität der Bundesrepublik klang in der Mitte der 1980er Jahre jedoch weiter ab.434 Dafür verantwortlich war nicht allein, wie etwa Simone Wolken schreibt, der von Unionspolitikern oder rechtsradikalen Parteien wie den „Republikanern“ proklamierte Wandel im Umgang mit der deutschen NSVergangenheit.435 Diese Engführung übersieht die grundsätzliche Problematik des auf die Aspekte Humanität und Identität eingeschränkten Asyldiskurses, wie sie etwa der Soziologe Serhat Karakayali beschreibt: Durch die Fokussierung auf die ursprüngliche Intention des Parlamentarischen Rates hatten es sich die Flüchtlingsunterstützergruppen von vorneherein unmöglich gemacht, wirtschaftliche Fluchtgründe als legitim darzustellen.436 Zudem ließ sich die Wirkung der historischen Herleitung auch umkehren. Die Referenzen auf die nationalsozialistische Vergangenheit besaßen einerseits großen Stellenwert für Identitätsstiftung und Motivation der Flüchtlingshilfebewegung, andererseits konnten sie im Falle von Übertreibungen und überzogenen Gleichsetzungen aber auch rasch an Überzeugungsfähigkeit verlieren und unangemessen wirken.437 Berlins Innensenator Lummer wetterte etwa gegen den aus der Historie hergeleiteten Selbstanspruch der Verfechter einer offenen Asylpolitik.438 Indem diese aus dem beengten Deutschland eine „Arche

430 431 432 433 434 435 436 437 438

Ausländerpolitik aus kirchlich-diakonischer Sicht. In: epd-Dok 12/84, 7. 6. 1984, 19. Pro Asyl: Asylpolitik verletzt Grundgesetz. In: epd-ZA Nr. 167, 31. 8. 1988, 5. Vgl. Wolken, Grundrecht, 111. Vgl. ebd., 100–111. Vgl. ebd., 117 f. Vgl. ebd. Vgl. Karakayali, Gespenster, 174 f. Vgl. Schrover / Moloney, Conclusion, 260. Pressemitteilung des Senators für Inneres. Innensenator Lummer: In der Asylpolitik ist es fünf vor zwölf, 9. 2. 1985 (ADW Berlin PB 974).

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Noah“439 für die von Krisen geschüttelte Welt machen wollten, missbrauchten sie das Andenken an den Holocaust für die moralische Überhöhung ihrer eigenen Anliegen: „Das großzügige Asylrecht unseres Staates ist die Konsequenz der Väter des Grundgesetzes aus der verbrecherischen Verfolgung von Millionen Menschen während des Dritten Reichs […]. D i e s ist die historische Dimension, an der zu bemessen ist, welche Verpflichtungen unserem Land aufgrund seiner Geschichte obliegen und welche nicht. Eine Argumentation, die unter Berufung auf die deutsche Geschichte Maßnahmen zu verhindern sucht, die gegen die Einschleusung von Wirtschaftsflüchtlingen und Straftätern aus der ganzen Welt gerichtet sind, verkennt, daß gerade der geschichtliche Hintergrund es gebietet, diesem empörenden Mißbrauch ein Ende zu bereiten und zu verhindern, daß die Millionen von Nazi-Opfern geschmackloserweise in einem Atemzug mit jenen genannt werden, die ,Asyl‘ sagen, und ,Geld‘ meinen.“440

Mit der Absage an einen historischen Vergleich konnte Lummer wiederum seine politischen Gegner aus den Protestbewegungen moralisch diskreditieren und den Vorwurf, die deutsche Verfassungsidentität zu missachten, von sich weisen.441 Im protestantischen Kontext waren die historischen Rekurse doppelt aufgeladen. Dabei ging es nicht nur um die Identitätsfrage, sondern auch um die Darstellung nach außen. Im Protestantismus bezog sich der Image-Topos, der auf die Außenwirkung der Asylpolitik abzielte, sowohl auf den ökumenischen Kontext als auch auf die Wahrnehmung der Bundesrepublik.442 Was sollte die globale Christenheit angesichts der restriktiven Politik über die europäischen Kirchen denken? Wie das Ausland über die Bundesrepublik? Auch die EKDStudie bediente diese Argumentation. Das Gemeinwohlargument, nach dem die Politik bei der Gestaltung der Zuwanderung die Kapazitäten der Aufnahmegesellschaft im Blick behalten müsse, wurde dort als vorgeschoben dargestellt. Die Studie wies es zwar nicht explizit zurück, erklärte aber, die etwaige Belastungsgrenze sei objektiv nicht bestimmbar und entzog sich damit der Auseinandersetzung.443 Das Überlastungsargument wurde an die Politik und die Bevölkerung der Aufnahmegesellschaft zurückgespielt. Für die Wahrnehmung der Flüchtlinge einerseits und der Bundesrepublik andererseits seien Politik und Bevölkerung selbst verantwortlich, so der Text der Studie.444

439 Ebd. 440 Ebd. Hervorhebung im Original. 441 Zum Geschichts-Topos im Kontext von asylpolitischen Bundestagsdebatten der 1980er Jahre vgl. Steiner, Arguing, 84. 442 Zum Image-Topos vgl. Wengeler, Topos, 327 f. 443 Vgl. Kirchenamt, Flüchtlinge, 20 f. 444 Vgl. ebd., 21 f.

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4.2.3 Gesellschaftspolitische und (menschen-)rechtliche Forderungen Jenseits der biblisch-theologischen Argumente und des Aspekts der moralisch-historischen Identität war die Asyldebatte bestimmt von politischen, ökonomischen und rechtlichen Fragen. Je nach Adressatenkreis und Akteur variierten die Argumente, die protestantische Flüchtlingsunterstützer vorbrachten, um für Änderungen in der Asylpraxis und bei der Kategorisierung von Fluchtgründen zu werben. Das Diakonische Werk verlegte sich bei Stellungnahmen zu Gesetzesentwürfen ausschließlich darauf, innerhalb des juristischen und sozialpolitischen Fachdiskurses zu argumentieren. Teilweise machten es die professionellen Anforderungen notwendig, die Betonung des eigenen protestantischen Profils zurückzustellen. Über die Sachfragen hinausgehende moralische Appelle dienten nur gelegentlich der Rahmung der rechtlich-administrativen Forderungen und Kommentare, wie etwa in einer Stellungnahme für den Innenausschuss des Bundestags im Jahr 1986.445 Die Forderung nach einer europäischen Lösung in der Flüchtlingspolitik wurde dort mit dem Verweis auf die entsprechenden Konsultationen des ÖRK ergänzt oder der eigene Standpunkt mit den in Kirchengemeinden gemachten praktischen Erfahrungen untermauert.446 Bei anderen Gesetzesentwürfen beschränkte sich die Diakonie hingegen auf eine von ihren Experten verfasste juristische Kommentierung, ohne ihr protestantisches Selbstverständnis zu markieren.447 Nicht alle Akteure erachteten diese Form der Auseinandersetzung als sinnvoll. Engagierte wie der badische Pfarrer und Ausländerbeauftragte Wolfang Weber plädierten für ein Primat der Moralpolitik448 und der ethischen Grundsatzdiskussion, bei der Statistiken und ausländerrechtliche Fachargumente zweitrangig seien sollten. Auf einer Tagung in der Akademie Bad Boll prallten diese Standpunkte aufeinander, als Weber forderte, die Asyldiskussion in erster Linie als „eine scharfe Auseinandersetzung um Werte“449 zu führen. Der dortige Akademiedirektor bat hingegen darum, die Diskussion 445 Stenografisches Protokoll über die 106. Sitzung des Innenausschusses am 17. März 1986 (BT PA Berlin 3114 [ohne Signatur]). 446 Stellungnahme des Kirchenamts der EKD und der HGSt des Diakonischen Werks der EKD zu einem Fragenkatalog, o. D. [1986] (BT PA Berlin 3114 [ohne Signatur]). 447 Stenografisches Protokoll über die 128. Sitzung des Innenausschusses am 22. Oktober 1986 (BT PA Berlin 3114 [ohne Signatur]). 448 Moralpolitik soll hier in Anlehnung an Jan Eckel als analytische Bezeichnung einer Diskursstrategie verstanden werden. Eckel definiert Moralisierung als eine „unpolitische Politik“ (Eckel, Neugeburt, 64 f.), die zwar politische Forderungen und Handlungen implizieren kann, sich aber durch dem politisch-ideologischen Streit entzogene Begriffe wie Humanität definiert. Moralisierung lässt sich demnach als eine diskursive Strategie definieren, die darauf abzielt, „moralische Fragen […] als notwendigen Gegenstand in die politische Entscheidungsbildung“ (Eckel, Ambivalenz, 415) einzubeziehen. 449 Evangelische Akademie Bad Boll, Asylfrage, 74.

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nicht auf einen Gut-Böse-Dualismus zu verengen.450 Mischformen waren etwa bei der EKD-Studie zu beobachten, die moralische und politische Argumente miteinander verknüpfte. Der Text verwies darauf, dass eine auf Abwehr ausgerichtete Asylpolitik sowohl unrealistisch als auch unmoralisch sei.451 Auch die Ablehnung des Arbeitsverbots für Asylbewerber wurde sowohl prinzipiell als auch pragmatisch begründet.452 Auf der alltagspolitischen Ebene wurden die von der Gegenseite vorgebrachten Probleme wie die Belastungsgrenze der Bundesrepublik oder der „Asylmissbrauch“ relativiert. Dabei nahm der Text für sich implizit in Anspruch, im Gegensatz zu anderen Debattenbeiträgen auf „eine sachliche und sachgemäße Behandlung“453 der Asylpolitik abzuzielen. Weder entspräche das beschworene Ausmaß der Missstände der Realität, noch könne die Situation in Deutschland im Hinblick auf die weltweite Flüchtlingssituation dramatisiert werden.454 Der Politik empfahl die Studie daher eine Neuausrichtung auf langfristige Lösungsansätze und eine Anerkennung der die globalen Fluchtbewegungen bedingenden Faktoren.455 Dabei sah man auch das internationale Recht hinter sich. Die Forderung nach einer Einschränkung der Zuwanderung wurde zudem mit dem Hinweis zurückgewiesen, die Bundesrepublik könne als Unterzeichnerstaat der Genfer Flüchtlingskonvention und der europäischen Menschenrechtskonvention auch unabhängig vom umstrittenen Grundgesetzartikel keine Politik der geschlossenen Grenzen umsetzen.456 Mit den rechtlichen und politischen Detailfragen verbunden waren die Bezüge auf menschenrechtliche Begründungsmuster.457 Explizite Verweise auf die Menschenrechtscharta wurden im Kontext des westdeutschen Protestantismus nur selten vorgebracht. Dafür können mehrere Faktoren als ursächlich gelten. Einerseits erschienen Bezüge auf die Menschenrechte bereits durch die omnipräsenten Referenzen auf den Grundgesetzartikel und die religiöse Aufladung des Menschenwürdebegriffs als gesetzt. Andererseits war der Flüchtlingsdiskurs auch weiterhin durch eine humanitäre Komponente geprägt, die stärker als auf die Idee individueller Rechte vor allem auf Empathie abzielte.458 Durch die Fokussierung der Debatte auf das deutsche Asylrecht wurden darüberhinausgehende Forderungen nach einem Menschenrecht auf Mobilität oder Einwanderung kaum zur Sprache gebracht, wohl auch, weil 450 451 452 453 454 455 456 457

Vgl. ebd., 2. Vgl. Kirchenamt, Flüchtlinge, 24. Vgl. ebd., 39. Ebd., 27. Vgl. ebd., 18–22. Vgl. ebd., 22–24. Vgl. ebd., 18 und 24. Judith Könemann spricht beim Rekurs auf die Menschenrechte in Anlehnung an die theologische Teildisziplin von sozialethischen Argumenten. Vgl. Könemann et. al., Interessenvertretung, 197. 458 Vgl. zur Differenzierung von Humanitarismus- und Menschenrechtsdiskurs Moyn, Last Utopia, 21.

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diese in der deutschen Debatte mehrheitlich auf Ablehnung gestoßen wären. Einzig im ökumenischen Kontext wurde offen die Forderung nach einer menschenrechtlichen Begründung erhoben, die die humanitär-moralische Komponente weiterentwickelte. Für den Protestantismus war dieses von der katholischen Ekklesiologie beeinflusste Konzept jedoch nicht nahtlos adaptierbar. Die Idee, dass Flüchtlinge nach christlicher Vorstellung nicht nur einen humanitären, sondern auch einen rechtlich verankerten Anspruch auf Aufnahme und Zuflucht haben sollten, wurde prominent von „Pro-Asyl“Sprecher Leuninger vertreten, der dies aus der katholischen Lehre von der Universalität der Kirche folgerte. Leuninger postulierte dabei die Einheit von theologischem Denken und politisch-rechtlichen Forderungen. Da Menschen auf der Flucht der christlichen Tradition nach „Mitglieder der Menschheitsfamilie und Bürger einer universalen Gesellschaft und der Gemeinschaft aller Menschen“459 seien, sei die Kirche dazu veranlasst, diese Auffassung nicht nur als Glaubensüberzeugung zu pflegen, sondern auch zu einem Rechtstitel zu erheben. Leuninger begründete so die kirchliche Verpflichtung, sich für eine Verankerung der Menschenrechte von Flüchtlingen in internationalen Abkommen einzusetzen.460 Im Protestantismus wurden derart weitgehende Forderungen nicht offen aufgegriffen.461 Zwar erwähnte die EKD-Studie unbestimmt die Notwendigkeit weiterer juristischer Überlegungen zur Ausweitung des Flüchtlingsschutzes angesichts der Grenzen der bisherigen Rechtslage, diese wurden jedoch nicht konkretisiert.462

4.3 Protestantische (De-)Konstruktionen von Flüchtlingsfiguren Angesichts der großen Bedeutung der medialen Berichterstattung räumten viele Akteure der gezielten Öffentlichkeitsarbeit für die Angelegenheiten der Flüchtlinge von Anfang an einen hohen Stellenwert ein. Dahinter stand die Hoffnung, damit die gleichgültige oder ablehnende Bevölkerungsmehrheit erreichen und umstimmen zu können. Angesichts der vorherrschenden Zerrbilder, die die Flüchtlinge zu „Medienmonstern“463 gemacht hätten, sollte die bundesdeutsche Aufnahmegesellschaft mit Gegendarstellungen erreicht werden. Der Präsident der bayerischen Diakonie schrieb etwa an einen Asylhelferkreis, angesichts der kleinen Zahl der Unterstützungsgruppen und der erschwerten Rahmenbedingungen müsse das Hauptziel sein, die Öffent459 Leuninger, Basis, 125. 460 Vgl. ebd. 461 Eine stark menschenrechtlich beeinflusste ethische Grundlegung legte der evangelische Theologe Wolf-Dieter Just in den 1990er und 2000er Jahren vor. Vgl. Just, Zuwanderungspolitik. 462 Vgl. Kirchenamt, Flüchtlinge, 16 und 20. 463 Sind Flüchtlinge nur „Medienmonster“? In: epd-ZA Nr. 58, 24. 3. 1987, 1.

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lichkeit zu überzeugen und auf einen Meinungswandel hinzuwirken.464 Die Kommunikationsstrategie war anfangs deutlich von pädagogischen Ideen geprägt. Der massenmedialen Vermittlung wurde eine geradezu sozialtechnologische Macht über die öffentliche Stimmung zugesprochen. Immer wieder beschwerten sich Engagierte beim Bevollmächtigten der EKD oder ihren Kirchenleitungen über negative Darstellungen in Fernsehsendungen und drangen auf kirchenoffizielle Beschwerden bei den Rundfunkanstalten.465 Ein Pfarrer bezeichnete eine Sendung des Bayerischen Rundfunks über die Asylpolitik in seinem Brief an das Büro des Bevollmächtigten als „Brunnenvergiftung“ und „Dreckschleuder“ und bat um offizielle Intervention der Kirche bei der Intendanz.466 Mithilfe von Gegendarstellungen sollten wiederum Einsehen und Empathie geweckt und Vorurteile sachlich widerlegt werden.467 Ein württembergischer Vikar skizzierte die Strategie des von ihm organisierten Freundeskreises so: „Eine ausführliche Pressearbeit soll die gleichgültige deutsche Öffentlichkeit für das Flüchtlingsproblem interessieren. Die Aufklärung über die Fluchtgründe soll Präjudizierungen unserer Freunde als ,Schein- und Wirtschaftsasylanten‘ abbauen und Verständnis wecken.“468

Auch „Pro Asyl“ konzipierte nach seiner Gründung in kürzester Zeit eine professionelle Öffentlichkeitsstrategie. Die Organisation veranstalte eigene Seminare zum Thema Pressearbeit, in denen die Grundregeln und Arbeitsweisen im Umgang mit den Medien vermittelt wurden.469 Erwähnungen in der Presse und Auftritte der Sprecher wurden intern detailliert dokumentiert.470 Die mediale Rezeption der eigenen Pressemitteilungen und Aktionen wurde auf den Sitzungen ausführlich nachbesprochen.471 Das verbindende Element bildete die Hoffnung, durch eine Kombination von aufklärerischen Fakten und emphatischen Darstellungen die Einstellungen und Haltungen gegenüber den Flüchtlingen zu verändern. Dafür bemühten sie sich einerseits um eine Dekonstruktion der kursierenden Negativstereotypen, andererseits produzierten sie dabei teilweise auch positive Gegenfiguren. 464 Schreiben von Diakoniepräsident Miederer an den Asyl-Arbeitskreis der Osterkirche in Nürnberg 2. 6. 1986 (LAELKB Nürnberg DW 2726). 465 Schreiben von Pfarrer Martin B. an Landesbischof Hanselmann, 1. 3. 1989 (LAELKB Nürnberg LB 798). 466 Schreiben von Pfarrer Helmut S. an den EKD-Bevollmächtigten Binder, 15. 1. 1982 (EZA Berlin 87/2283). 467 Vgl. Diakonisches Werk, Jahrbuch 88/89, 242. 468 Evangelische Akademie Bad Boll, Asylsuchende, 21. 469 Entwurf: Seminar Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am 18./19. April 1989 (ELAB Berlin G1/ 1741). 470 Auflistung „Pro Asyl – Medienkontakte in der Zeit von Juni bis November 1988“ (ELAB Berlin G1/1741). 471 Ergebnisprotokoll der Sitzung der Arbeitsgemeinschaft PRO ASYL vom 23. 3. 1988 in Frankfurt (ELAB Berlin G1/1741).

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4.3.1 Dekonstruktion des „Wirtschaftsflüchtlings“ Die vorherrschenden negativen Flüchtlingsstereotypen der 1980er Jahre waren die des „Scheinasylanten“, „Asylbetrügers“ und allgemein der „Wirtschaftsflüchtlinge“.472 Die Konzeptualisierung von „Fremden“ in der Bundesrepublik hatte sich im Vergleich zu den vorherigen Phasen maßgeblich verändert. Im Mittelpunkt standen nun anstelle der Arbeitsmigranten Asylsuchende, mehrheitlich aus Ländern der sogenannten Dritten Welt.473 Verschiedene Forschungsarbeiten haben auf die zentrale Funktion der Medien als den entscheidenden Wissensproduzenten für die Kategorisierung von „illegaler“ Migration und deren öffentlicher Präsentation in diesem Kontext hingewiesen.474 Die zwei gegenläufigen Tendenzen in der Darstellung von Flüchtlingen während der 1980er Jahre waren Kriminalisierung und Viktimisierung, die jeweils Betrüger- und Opferfiguren etablierten.475 Protestantische Akteure bemühten sich zumeist, die Negativbilder zu dekonstruieren. Ihre Stellungnahmen wandten sich wiederholt gegen die grundsätzliche Verdächtigung von Asylsuchenden als „Wirtschaftsflüchtlinge“ und versuchten die damit einhergehende Missbrauchsrhetorik zu relativieren und zu widerlegen. Zwei Strategien wurden dabei verfolgt. Entweder wurde die Differenzierung zwischen politischen und ökonomischen Gründen durch das deutsche Asylregime anerkannt, um zugleich für eine bessere Berücksichtigung von Motiven wie Armut und Hunger zu werben. Einige Veröffentlichungen des Diakonischen Werkes machten sich die Unterscheidung zwischen „echten Flüchtlingen“ und „Wirtschaftsflüchtlingen“ durchaus zu eigen, wenngleich sie daraus andere Konsequenzen als die Vertreter eines restriktiven Kurses zogen und sich gegen eine Diffamierung ökonomischer Fluchtmotive verwahrten.476 Eine weitergehende Strategie bestand darin, die Unterscheidung selbst moralisch-psychologisch zu problematisieren und als Produkt einer westlichen Abwehrhaltung zu entlarven. Hierbei taten sich vor allem Akteure aus der Flüchtlingshilfebewegung hervor. Mit dieser Vorgehensweise ging zumeist ein weit gefasster Begriff des Politischen einher. Zwei häufig gemeinsam angewandte Dekonstruktionsstrategien stellten die Psychologisierung und die Relativierung des Negativstereotyps dar. Protestantische Akteure bezeichneten die westdeutsche Flüchtlingsdebatte häufig als national verengt und interpretierten die kursierenden Darstellungen und geäußerten Sorgen als Produkte eines Verdrängungsprozesses der Aufnahmegesellschaft. In den „Lutherischen Monatsheften“ warnte ein Artikel davor, 472 473 474 475 476

Vgl. Bade, Europa, 373. Vgl. Cooper, Immigration, 153. Vgl. Friedrichs, Milieus, 31. Vgl. ebd., 38. Ausländerpolitik aus kirchlich-diakonischer Sicht. In: epd-Dok 12/84, 7. 6. 1984, 19.

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die Flüchtlinge zum Sündenbock für die schwächelnde Wirtschaftslage zu machen.477 Als Ursache für die Ablehnung der Schutzsuchenden machte der Autor einen psychologischen Abwehrmechanismus aus: Hinter der Ablehnung verberge sich die Verdrängung der Schuld des Westens gegenüber Lateinamerika und den Ländern der „Dritten Welt“ sowie der historischen Schuld Deutschlands.478 Auch Luise Schottroff betonte in ihrer theologischen Ausarbeitung zur Flüchtlingshilfe „unsere Mitwirkung an der Ausbeutung der Zweidrittelwelt“479 als entscheidendes Motiv der Verdrängung. Das psychologische Deutungsmuster ließ sich im protestantischen Kontext zudem mit Elementen christlicher Konsum- und Materialismuskritik verbinden.480 Auf einer Konsultation des ÖRK zur Flüchtlingsarbeit wurde der Materialismus der westlichen Gesellschaften als eine der Ursachen der Fremdenfeindlichkeit ausgemacht. Die Reaktion der christlichen Kirchen darauf sollten der Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit sowie das Einwirken auf das Gewissen von Aufnahmegesellschaften und Politikern sein.481 Protestantische Akteure übten zudem Sprachkritik, um die diffamierende Wirkung der in der Asyldebatte kursierenden Begriffe offenzulegen. Die Weihnachtsausgabe des „Sonntagsblatts“ 1983 erklärte unter Verweis auf die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten den Begriff „Wirtschaftsflüchtling“ zu einem ausgrenzenden und unpräzisen Unwort: „Ist es nicht einfach, Scheinasylanten von echten Flüchtlingen zu trennen? Beispiele von Flüchtlingsschicksalen zeigen, daß die der Definition zugrunde liegenden klaren Abgrenzungen in der Praxis kaum zu finden sind. […] Doch wer will bestreiten, daß wirtschaftlicher Druck auch Auswirkung von Verfolgung aus politischen, religiösen oder rassistischen Gründen sein kann? Letztlich bleibt jede Ausgrenzung von ,Wirtschaftsflüchtlingen und Scheinasylanten‘ willkürlich, zeugt auch von intellektueller Arroganz derjenigen, denen es relativ gut geht.“482

Neben der biblisch-theologischen Kritik existierte eine historisch-sprachkritische Variante, die sich an der Analyse der Sprache des Nationalsozialismus orientierte. Der Ausländerbeauftragte der Kirche von BerlinBrandenburg versuchte, den Begriff durch einen Verweis auf seine Verwendungsgeschichte in einem Beitrag für die „Junge Kirche“ zu tabuisieren: Bereits die Nazis hätten die verfolgten Juden als „Wirtschaftsemigranten“ bezeichnet, daher verbiete sich die Verwendung dieses wie Gift auf die

Asylanten als Sündenbock? In: Lutherische Monatshefte 7/82, 315 f. Ebd. Schottroff, Christen und Asyl, 113 f. Zur Entwicklung protestantischer Konsum- und Materialismuskritik und dem Einfluss der Ökumenebewegung darauf vgl. Oelke, Grenzenlos konsumieren, 138–145. 481 Kirchen legen eigene Kriterien für die Anerkennung von Flüchtlingen fest. In: epd-ZA Nr. 85, 5. 5. 1986, 1. 482 „Wirtschaftsflüchtlinge“ – Ein Begriff zum Mißbrauch. In: Sonntagsblatt, 25. 12. 1983, 9.

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öffentliche Meinung wirkenden Begriffs.483 Die evangelische Publizistik präsentierte regelmäßig Beiträge, die sich in dieser Form an den Kategorien des staatlichen Asylregimes abarbeiteten. Im „Sonntagsblatt“ wurde eine Vielzahl von Karikaturen veröffentlicht, die sich kritisch mit der deutschen Asylpolitik und Ausländerfeindlichkeit befassten.484 Die Darstellungen versuchten, die herrschenden Zustände mittels einer zugespitzten visuellen Präsentation von Situationen aus der Asylbürokratie als unmenschlich und offensichtlich absurd darzustellen. Eine Karikatur, die wenige Wochen nach dem Suizid Kemal Altuns erschien, zeigte etwa einen türkischen Asylbewerber, der durch einen Uniformierten von der Zugangsbrücke eines Flugzeugs in ein aufgestecktes Bajonett gestürzt wird.485 Eine weitere Karikatur zeigte einen Asylbewerber während seiner Anhörung, mit dem eigenen abgetrennten Kopf auf dem Schoß und einem Messer im Rücken. Die Unterschrift legte dem abwinkenden Verwaltungsmitarbeiter das Zitat „Politisch verfolgt? Du liebe Güte, das behaupten alle. Was wir brauchen, sind glaubhafte Beweise“486 in den Mund. Während die publizistischen Beiträge eindeutig Partei ergriffen, zuspitzten und teilweise gegen die Vertreter restriktiver Asylpolitik polemisierten, setzte das Diakonische Werk bei seinen Veröffentlichungen auf einen sachlichen Stil. Eine in den frühen 1980er Jahren herausgegebenen Argumentationshilfe bediente sich einer an die formale Logik angelehnten Struktur. Der Reihe nach wurden geläufige Vorurteile zu Ausländer- und Asylpolitik mit der Eingangsformel „Es wird gesagt“ vorgestellt, denen jeweils eine Widerlegung, Relativierung oder anderweitige Entgegnung gegenübergestellt wurde.487 Andere Dokumentationen setzten auf eine Klarstellung kursierender Gerüchte. Eine Dokumentation der Diakonie aus dem Jahr 1986 widmete sich etwa der Widerlegung des Stereotypen vom faulen und ausschließlich von Sozialhilfe lebenden Flüchtling, indem diesem im Collagestil Zitate aus Verwaltungsvorschriften, ministerialen Rundschreiben und Gerichtsgutachten zum Arbeitsverbot für Asylbewerber gegenübergestellt wurden.488 Die Dekonstruktion der Stereotype sollte den Raum für neue Kategorien schaffen. Mittelfristig hofften die Engagierten der Flüchtlingshilfebewegung auf eine Überwindung des Klischees vom „Wirtschaftsflüchtling“ durch eine weitergefasste Flüchtlingsdefinition. Dabei vertraten sie zumeist einen ubiquitären Begriff des Politischen. Entsprechende Diskussionen wurden vor

Vgl. Thomä-Venske, Worte. Sonntagsblatt, 31. 7. 1983, 1; Sonntagsblatt, 22. 11. 1983, 12; Sonntagsblatt, 25. 12. 1983, 9. Sonntagsblatt, 25. 12. 1983, 9. Die aus dem Sonntagsblatt stammende Karikatur wurde zusammen mit einem Ausschnitt aus der EKD-Studie im „Spiegel“ abgedruckt: „Flüchtlinge – Bereicherung für das Land“. In: Der Spiegel 37/1986, 109. 487 Ausländerpolitik aus kirchlich-diakonischer Sicht. In: epd-Dok 12/84, 7. 6. 1984, 16–19. 488 Sie suchen Asyl in der Bundesrepublik. Einzelschicksale von Bewerbern. Heft 1. In: epd-Dok 10/86, 24. 2. 1986, 31 f.

483 484 485 486

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allem auf den Konsultationen des ÖRK geführt.489 Die Gleichstellung von politisch Verfolgten und Bürgerkriegsflüchtlingen mit Umwelt- und Armutsflüchtlingen war zudem Thema einer der von Micksch organisierten Veranstaltungen in der Akademie Tutzing.490 Auch der Theologieprofessor und Kirchentagspräsident Wolfgang Huber plädierte dafür, wie im Falle der Ostblockflüchtlinge ökonomische Gründe als Folgen der politischen Umstände aufzufassen.491 Herbert Leuninger verlangte, wirtschaftliche Fluchtgründe nach dem Maßstab zu beurteilen, inwiefern sie menschenwürdiges Leben verunmöglichen würden.492 4.3.2 Positive Gegendarstellungen zwischen Empowerment und Idealisierung Mit der Präsentation von positiven Gegendarstellungen493 versuchte die Flüchtlingshilfebewegung gegen die kursierenden Stereotypen anzugehen. Bisher erschienene Forschungsarbeiten zu den Asyldebatten in diesem Zeitraum haben die Viktimisierung als die entscheidende neuartige Strategie der Inszenierung von Flüchtlingsfiguren beschrieben.494 Wenngleich dieser Beschreibung mit Blick auf den Untersuchungszeitraum zuzustimmen ist, handelte es sich dabei um keine Innovation im Flüchtlingsdiskurs der westlichen Staaten. Diese These baut zu stark auf der Annahme auf, dass bis dahin Heldenfiguren die Wahrnehmung bestimmt hätten und übersieht, dass auch die Flüchtlinge des Kalten Krieges in den Darstellungen bereits häufig viktimisiert wurden. Vielmehr stand die Fokussierung auf Opferstatus und subjektives Leiden in einer Kontinuität zu den Flüchtlingsdiskursen der vorhergehenden Jahrzehnte. Wie bereits gezeigt, koexistierten Helden- und Opferfiguren bereits seit den 1950er Jahren. Die als neue Entwicklung wahrgenommene Dominanz der Opferfiguren war eine Folge des Umstands, dass es sich beim Großteil der Asylbewerber der 1980er Jahre um Bürgerkriegsflüchtlinge handelte. Deren Gründe und Erfahrungen ließen sich nur eingeschränkt unter den Begriff der politischen Verfolgung fassen. Entsprechend besaß die Präsentation von Fluchtumständen, individuellen Erfahrungen und der Lebenssituation im Herkunftsland große Bedeutung. Die humanitäre Argumentation für Flüchtlingsaufnahme ging dabei zumeist einher mit der Vermittlung des 489 Kirchen legen eigene Kriterien für die Anerkennung von Flüchtlingen fest. In: epd-ZA Nr. 85, 5. 5. 1986, 1. 490 Vgl. Micksch, Interkulturelle Politik, 13 f. 491 Vgl. Huber, Rechtswohltat, 85. 492 Vgl. Leuninger, Basis, 126. 493 Der Begriff wird im Englischen passenderweise mit „counter-stereotype“ bezeichnet. (Pupavac, Refugee Advocacy, 285.) 494 Die Studien stützen sich dabei auf Fälle aus unterschiedlichen westeuropäischen Staaten. Vgl. Walaardt, Heroes, 1214 f. (Niederlande); Friedrichs, Milieus, 38 (Bundesrepublik); Schrover / Moloney, Conclusion, 260 (allgemein).

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Opferstereotyps. Als entscheidendes Element der Viktimisierung von Flüchtlingen gilt die Fokussierung auf psychische Traumata.495 Vanessa Pupavac erkennt eine Doppelfunktion der Traumata- und Leidensdiagnosen. Diese seien einerseits Garant für die Glaubwürdigkeit von Flüchtlingen und deren Authentizität, andererseits die grundlegende Legitimation der Interessenvertretung von Helfergruppen und Wohlfahrtsorganisationen.496 Protestantische Akteure und Institutionen hoben diesen Aspekt ebenfalls hervor. Betont wurden in der Außendarstellung erlittenes Leid und Hilflosigkeit der Betroffenen.497 Damit zusammen hing auch die Veränderung der Betreuungsarbeit durch die gestiegene Bedeutung der Psychologie. Die Diakonie richtete etwa eine eigenständige psychosoziale Betreuung ein, um auf die neuen praktischen Erfordernisse in der Arbeit mit Flüchtlingen zu reagieren.498 Besonderes Augenmerk erhielt die Situation der als gefährdet geltenden Familien.499 Diese Perspektive prägte aber nicht nur die Wahrnehmung der professionellen Mitarbeitenden des Wohlfahrtsverbandes. Auch Mildenberger und die EKD-Studie verwiesen auf die Traumatisierungen der Betroffenen, um deren Hilfsbedürftigkeit zu betonen.500 Ein Leitprinzip der Darstellung von Flüchtlingen blieb die Fokussierung auf Einzelpersonen. Während der Staat auf die rechtlichen Kategorien abzielte, wollte sich die christliche Flüchtlingshilfe ihrem Anspruch gemäß dem einzelnen Menschen in seiner Geschöpflichkeit zuwenden. Die Flüchtlinge sollten nicht als anonyme und bedrohliche Masse erscheinen, sondern als Individuen mit persönlichen Geschichten. Publikationen der evangelischen Flüchtlingsarbeit setzten gezielt auf narrative Elemente, um die Rezipienten emotional zu erreichen und Vorurteile durch die Präsentation von glaubwürdigen Persönlichkeiten als unbegründet erscheinen zu lassen. Der Evangelische Pressedienst veröffentlichte 1986 von der Diakonie erstellte Dokumentationshefte. Unter dem Titel „Sie suchen Asyl in der Bundesrepublik“ wurden Personen und ihre Lebens- und Fluchtgeschichte mit dem Ziel vorgestellt, die Einzelschicksale greifbar zu machen sowie Schikanen durch den Bundesgrenzschutz und die Polizei offenzulegen.501 Die Publikationen bemühten sich intensiv, die Authentizität der Darstellung nachzuweisen. Die Echtheit der jeweiligen Schilderungen wurde durch Quellverweise zu den Rechtsvorschriften und der Lebenssituation in den Herkunftsländern belegt.502 Auch ein Themenheft der 495 496 497 498 499

Vgl. Pupavac, Refugee Advocacy, 277; Walaardt, Heroes, 1215. Vgl. Pupavac, Refugee Advocacy, 278–281. Vgl. Diakonisches Werk, Jahrbuch 88/89, 243. Vgl. Diakonisches Werk, Psychosoziale Arbeit. Sie suchen Asyl in der Bundesrepublik. Einzelschicksale von Bewerbern. Heft 1. In: epd-Dok 10/86, 24. 2. 1986, 2. 500 Vgl. Mildenberger, Asyl, 216; Kirchenamt, Flüchtlinge, 5. 501 Flüchtling in Deutschland: „Ich habe mittlerweile Angst, verrückt zu werden“. Dokumentation über Einzelschicksale von Asylbewerbern. In: epd-ZA Nr. 37, 21. 2. 1986, 7. 502 Vgl. Walaardt, Heroes, 1209 f.

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Akademie Bad Boll zur Flüchtlingsarbeit setzte die Fokussierung auf die Einzelperson visuell um. Das Heft präsentierte professionelle Porträtfotos, auf denen Flüchtlinge den Leser direkt anblickten, im Kontrast zu einem Foto von in Schränken gestapelten Akten.503 Einzelfiguren ließen sich sowohl als handlungsmächtige und aktive Personen, als auch als leiderfüllte Menschen in Szene setzen. Diese Form der Darstellung war ambivalent. Die Akteure betonten nicht nur den Objekt-, sondern auch den Subjektstatus der Betroffenen, durch Hervorhebung ihrer Aktivität und Selbstbestimmung. Die Problematik der Inszenierung von Opferfiguren wurde nicht erst von den kritischen Sozialund Kulturwissenschaften Jahre später artikuliert, sondern bereits zeitgenössisch thematisiert. In der Flüchtlingshilfebewegung war die Forderung, dass die Flüchtlinge selbst handlungs- und sprechfähig werden müssten, durchaus präsent. Die Probleme und Defizite viktimisierender Darstellungen wurden offen diskutiert. Werner Lottje beschrieb die Stilisierung von Flüchtlingen zu Opferfiguren als Problem, das vor allem die Arbeit der lokal agierenden Helfergruppen betreffe.504 Auf Tagungen in Bad Boll wurde diskutiert, wie die Betroffenen selbst zu Wort kommen konnten.505 Dieser Anspruch prägte auch die Veranstaltungen und Publikationen, an denen die Flüchtlinge selbst beteiligt waren. Die Dokumentationshefte der Diakonie setzten bei der Darstellung beispielsweise nicht auf dramatisierende Erzählungen, sondern waren von einem dokumentarisch anmutenden Stil geprägt, der die Aussagen der Flüchtlinge rahmen sollte. In einer Montage von Textausschnitten berichteten die Betroffenen selbst von ihrer Geschichte, beklagten die Verletzung ihrer Rechte und brachten ihre Forderungen nach besseren Lebensbedingungen vor.506 Ambivalent blieb auch die Stilisierung von Flüchtlingen zu Objekten des kulturellen Lernens der Aufnahmegesellschaft. Am deutlichsten zeigte sich dieses Verhältnis bei den Protagonisten der evangelischen Ausländerarbeit, Micksch und Mildenberger. Beide hatten die Themen interreligiöser Dialog und interkulturelles Lernen innerhalb des Protestantismus bereits seit den 1970er Jahren geprägt und inhaltlich entwickelt. Mildenberger verstand die Begegnung mit den Flüchtlingen und ihren Geschichten als eine Frage des interkulturellen Lernens: „Solange über Asyl und Flüchtlinge abstrakt und allgemein, in Zahlen und politischen oder juristischen Problemstellungen, gesprochen wird, dominieren in der Bevölkerung Gleichgültigkeit und Abwehrhaltungen. Das ändert sich erfahrungsgemäß in dem Augenblick, wo jemand Flüchtlingen selbst begegnet und sie von Mensch zu Mensch erlebt. Das lebendige Gesicht einer eritreischen Frau, eines 503 504 505 506

Evangelische Akademie Bad Boll, Asylsuchende, 1 und 16. Vgl. Lottje, Menschlichkeit, 199. Vgl. Evangelische Akademie Bad Boll, Asylfrage, 79. Sie suchen Asyl in der Bundesrepublik. Einzelschicksale von Bewerbern. Heft 1. In: epd-Dok 10/86, 24. 2. 1986.

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kurdischen Kindes oder eines jungen Tamilen ist am ehesten fähig, Klischees aufzubrechen und Offenheit zu wecken. Die Flüchtlinge sind selbst die besten Botschafter für ihre Sache. Die Begegnung mit Asylbewerbern und Flüchtlingen ist ein anspruchsvolles Feld interkultureller und interreligiöser Begegnung. […] Umso mehr gilt: die Begegnung mit Flüchtlingen ist eine hohe Schule der Erziehung zum Frieden und zur Toleranz.“507

Der Textausschnitt enthält in komprimierter Form die erwähnten wesentlichen Merkmale der Prägung protestantischer Flüchtlingsfiguren: Die Ablehnung des administrativen Blicks auf die Betroffenen, die mitverantwortlich für die Ablehnung der Flüchtlinge durch die Aufnahmegesellschaft gemacht wurde. Die Betonung, dass Flüchtlinge „selbst die besten Botschafter“ für ihre Angelegenheiten seien. Den Blick in das „lebendige Gesicht“ als Gegenmittel zu Fremdenhass, wie ihn auch das Bad Boller Heft mit den Fotographien umgesetzt hatte. Für Mildenberger ging damit eine Stilisierung von Flüchtlingen zum Lernobjekt für die Aufnahmegesellschaft einher. Die Auseinandersetzung mit der als fremd markierten Kultur wurde als Bereicherung dargestellt, als „hohe Schule“ für die Aufnahmegesellschaft, zu der die persönliche Begegnung den Schlüssel darstellte. Die Vorstellung, Vorurteile würden verschwinden, wenn die Bevölkerung die Kultur und Alltagsgewohnheiten der Flüchtlinge kennen lernen würde, war ein beliebter Topos der evangelischen Flüchtlingsarbeit.508 In den „Lutherischen Monatsheften“ wurde in einem Beitrag die Hoffnung geäußert, die Asylbewerber böten die Chance, „ein Stück entwicklungsbezogene Bewußtseinsbildung in unserer Gesellschaft“509 zu bewirken. Auch diese Idee wurde in der Praxis erprobt. Von den Veranstaltungen, bei denen einerseits die Begegnung mit fremder Kultur und andererseits ein Erkennen der menschlichen Gemeinsamkeiten im Mittelpunkt standen, erhoffte man sich die Eindämmung und Prävention von Fremdenhass. Diakonieeinrichtungen veranstalten beispielsweise Kulturtage für Flüchtlinge, bei denen diese sich mit ihrer eigenen Kunst, mit Musik und Essen vorstellen sollten.510 Ähnlich setzte „Pro Asyl“ auf Begegnungsveranstaltungen, Fußgängerzonenaktionen und Kampagnen anlässlich des alljährlich seit 1986 durchgeführten „Tag des Flüchtlings“, um solche interkulturellen Begegnungen zu ermöglichen.511 Angesichts der sich in den Migrationsdebatten entfaltenden rassistischen und xenophoben Bedrohungsnarrative512 erschien es den Akteuren folgerichtig, die Flüchtlinge auch als Mittel zur Aufklärung der westdeutschen 507 508 509 510

Mildenberger, Asyl, 216 f. Vgl. Diakonisches Werk, Jahrbuch 88/89, 242. Asylanten als Sündenbock? In: Lutherische Monatshefte 7/82, 316. Kunst und Kulinarisches als Beitrag gegen die Fremdenangst. In: epd-ZA Nr. 211, 31. 10. 1980, 8. 511 Pressespiegel zu den Aktionen zum „Tag des Flüchtlings“, Oktober 1988 (ELAB Berlin G1/ 1741). 512 Vgl. hierzu Herbert, Geschichte Deutschlands, 993.

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Gesellschaft zu sehen. Mildenberger plädierte dafür, die Begegnung mit Flüchtlingen als Impuls für die Aufnahmegesellschaft zu begreifen, der Offenheit und Toleranz fördern könne. Politisch könne dieser Austausch Lehren über die Situation in anderen Teilen der Welt bieten, theologisch stehe er für die Vielfalt und den Reichtum der Schöpfung Gottes.513 Der Kulturbegriff wurde dabei nicht hinterfragt. Die Fremdheitszuschreibungen auf andere Kulturen wurden als gegeben angesehen, dafür erhoffte man sich gegenseitige Annäherung durch die Erkenntnis der menschlichen Gemeinsamkeiten in Sinne des Universalismus. Das Fremde wurde als etwas dargestellt, das es nicht zu überwinden oder zu hinterfragen galt. Fremdes sollte in eine Beziehung zum Eigenen der Aufnahmegesellschaft treten.514 Die Möglichkeit, dass die Betroffenen kein Interesse an einem solchen interkulturellen Austausch haben könnten oder ihr eigene Situation nicht mit theologischen Kategorien beschreiben würden, fand dabei keine Erwähnung. Die Flüchtlingsfiguren waren somit auch eine Projektionsfläche, in der sich die Ideale der Unterstützerbewegung spiegelten.515 Für christliche Gruppen galt das in doppelter Hinsicht. Flüchtlingsfiguren fungierten bei ihnen nicht nur als Medium der Kritik westlicher Aufnahmegesellschaften, sondern als auch als Medium der Gotteserfahrung. 4.3.3 Die Figur des verfolgten Christen Besonders deutlich zeigten sich im Protestantismus Unterschiede in der Frage nach dem Umgang mit christlichen Flüchtlingen. Auf EKD-Ebene war das spezielle Eintreten für diese und für einen universellen Flüchtlingsschutz als untrennbare Einheit definiert worden. In der Adressierung besonderer Anliegen religiös Verfolgter und einem gleichzeitigten Eintreten für die Anliegen aller Asylbewerber in der Bundesrepublik wurde kein Widerspruch gesehen. Die Erklärungen von kirchenoffizieller und diakonischer Seite wiesen eine Bevorzugung von Flüchtlingen der eigenen Religionszugehörigkeit dezidiert zurück.516 Auch die EKD-Studie enthielt eine Absage an eine Eingrenzung der Flüchtlingsarbeit auf Christen mit der Begründung, das biblische Liebesgebot gelte für alle bedürftigen Menschen und kenne keinerlei Beschränkungen.517 Gleichzeitig nahmen protestantische Akteure häufig auf deren Schicksale Bezug. Manche nannten den Einsatz für ihre Glaubensgeschwister auch als Motiv für ihr eigenes Engagement. Ein Beispiel dafür war der Bad Boller 513 Vgl. Mildenberger, Asyl, 217. 514 Vgl. Drost, Xenophilie, 5 f. Diskutiert wird dieser Zusammenhang in der nur in Ansätzen vorhandenen kulturwissenschaftlichen Xenophilieforschung, die jedoch bisher über keine einheitliche Definition des klärungsbedürftigen Begriffs „Xenophilie“ verfügt. 515 Vgl. hierzu die Überlegungen von Heidrun Friese: Friese, Flüchtlinge, 70 f. 516 Vgl. exemplarisch Diakonisches Werk, Jahrbuch 88/89, 242. 517 Vgl. Kirchenamt, Flüchtlinge, 12.

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Studienleiter Oberkampf. Er begründete zum einen theologisch, warum Flüchtlinge nicht kategorisiert werden dürften: „Jeder ist ein Mensch, ein Mensch wie Sie und ich, ausgestattet mit einem ungeheuren Lebenswillen. Jeder Asylsuchende ist Geschöpf Gottes, Jeder hat deshalb ein Recht zum Leben und ein Recht auf Leben. Auf diesem Geschöpfsein resultiert für mich eine Gleichbehandlung aller Flüchtlinge, ich darf keine Auswahl treffen: Ich darf die einen nicht vor den anderen bevorzugen und die, die keine politische Lobby haben, benachteiligten. Ich darf auch nicht nach der politischen Parteizugehörigkeit schielen.“518

Zum anderen war Oberkampf selbst fasziniert von den syrischen Christen, die in seinen Augen eine Begegnung mit den Ursprüngen der eigenen Religion ermöglichten. Diese hätten für ihre Jahrhunderte alten Glaubenstraditionen Verfolgung in Kauf genommen und sprächen zudem dieselbe alte Sprache, die einst Jesus gesprochen habe.519 Damit bediente er einen gängigen Topos des Diskurses über die christlichen Flüchtlinge. Durch den Verweis auf die weit zurückreichenden Wurzeln der Christen aus dem Nahen Osten und deren Verfolgungsgeschichte wurden diese für die Aufnahmegesellschaft als authentisch dargestellt.520 Die viktimisierende Darstellung dieser Flüchtlinge konnte zusätzlich im eigenen religiösen Horizont als Märtyrertum gelesen werden. Zudem versprach die Begegnung mit diesen Christen für die Gemeinden in der Bundesrepublik eine Konfrontation mit ihren eigenen Ursprüngen. Oberkampf vereinte in seiner Position gleichzeitig eine universalistisch-menschenrechtliche Agenda und die Identifikation mit den Flüchtlingen der eigenen Religionszugehörigkeit. Mit seiner Haltung war er eines der wenigen Bindeglieder zwischen diesen unterschiedlichen Ausrichtungen der protestantischen Flüchtlingsarbeit. Denn andere Akteure proklamierten offen die Bevorzugung von Christen. Zumeist handelte es sich dabei um Parallelphänomene zu den amtskirchlichen und diakonischen Strukturen, die sich nur gelegentlich überschnitten. An der Basis bildeten sich Anfang der 1980er Jahre Arbeitskreise zur Hilfe für türkische Christen armenischer oder syrischer Konfession, die als unterdrückt von der muslimischen Mehrheitsgesellschaft galten.521 Bei dieser Frage spielte ein anderer Einfluss hinein, als er sich im Umfeld der EKD in der Zusammenarbeit mit dem UNHCR oder alternativen Gruppen manifestierte. Christliche Flüchtlingsgruppen verfügten mit internationalen Hilfswerken, zumeist aus dem evangelikalen Kontext, über eigene Fürsprecher. Organisationen wie „Open Doors“ oder „Christian Solidarity International“ übten selbst Druck auf die Kirchenleitungen aus und veröffentlichten Broschüren und Informationsbriefe zur Lebenssituation 518 519 520 521

Evangelische Akademie Bad Boll, Asylsuchende, 6. Vgl. ebd., 24. Vgl. Walaardt, Heroes, 1210 f. Arbeitskreis bittet um Asyl für türkische Christen. In: epd-ZA Nr. 157, 18. 8. 1980, 2.

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christlicher Minderheiten in den Staaten des Nahen Ostens.522 Unabhängig von der EKD-Ebene legten einzelne Gliedkirchen bei Gesprächen mit der Politik großen Wert darauf, die Situation christlicher Flüchtlinge zu betonen. Schaumburg-Lippes Landesbischof Heubach nutzte etwa einen Empfang für Landespolitiker, um die „besondere Anteilnahme“ der Protestanten am Schicksal der christlichen Minderheiten zu betonen: „Ein besonderes Wort sei abschließend zugunsten derjenigen gesagt, die sich als Christen in ihren Heimatländern unterdrückt und behindert fühlen und deshalb zu uns kommen. […] Es liegt uns fern, von unserem Staat zu fordern, dass er seine Grenzen für Christen aus ferner Ländern [sic!] schlechthin öffnet. Aber die Kirche wäre dankbar, wenn sie den Staat je und dann auf die Nöte einzelner christlicher Gruppen ansprechen dürfte. […] Daß wir als Christen um das Asylrecht verfolgter Mitchristen bitten, werden Sie sicher verstehen.“523

Der für dieses Arbeitsfeld eigens beauftragte Pfarrer Jürgen Diestelmann in der Landeskirche Braunschweig verfasste einen Rundbrief an Bundestagsabgeordnete, in dem er darum bat, die verfolgten Christen Syriens nicht zu den „Wirtschaftsasylanten“ zu rechnen und von diesen zu unterscheiden.524 Mehrfach wurde in Einzelfällen bei staatlichen Stellen interveniert, teilweise sogar mit Erfolg. Häufig ging es dabei um in Deutschland im lokalen Kontext bereits verankerte Familien, die sich gegenüber den Behörden positiv darstellen ließen.525 Im Jahr 1986 wurde für einige abgelehnte christlich-türkische Asylbewerber in Ausnahmefällen eine Bleibeerlaubnis erteilt.526 Zuvor hatte unter anderem Diakonie-Präsident Neukamm mit persönlichen Interventionen im Bundesinnenministerium versucht, einen Abschiebestopp für christliche Flüchtlinge und Jesiden zu erwirken.527 Der bayerische Landesbischof Johannes Hanselmann forderte in den späten 1980er Jahren ein generelles Asylrecht für geflüchtete türkische Christen.528 Die Bevorzugung von Christen entgegen der Rhetorik eines universellen Flüchtlingsschutzes wurde dabei offenkundig. Beflissentlich sah sich das Bischofsbüro daraufhin dazu veranlasst, gegenüber erregten Schmähbriefschreibern klarzustellen, dass der 522 Schreiben von „Christian Solidarity International“ an Landesbischof Hanselmann, 9. 5. 1989 (LAELKB Nürnberg LB 798). 523 Stellungnahme von Landesbischof Heubach bei der Begegnung mit der Landesregierung am 9. 12. 1980 zum Thema „Ausländer und Asylanten“ (EZA Berlin 2/17640). Unterstreichung im Original. 524 Rundbrief der Gemeinde St. Ulrici in Braunschweig an die Abgeordneten des Deutschen Bundestags, 16. 5. 1980 (BArch Koblenz B106/90346). 525 Schreiben des Pfarramts Dombühl an Landesbischof Hanselmann, Betreff: Abschiebungsandrohung einer armenisch-christlichen Familie, 23. 6. 1989 (LAELKB Nürnberg LB 798). 526 Erfolglose christliche Asylsuchende dürfen ausnahmsweise bleiben. In: epd-ZA Nr. 7, 10. 1. 1986, 2. 527 Schreiben des Präsidenten der Diakonie an das Bundesministerium des Innern, Betreff: Christliche Minderheiten aus der Türkei, 5. 2. 1985 (ADW Berlin PB 974). 528 Asylrecht für christliche Türken gefordert. In: EvKo 6/89, 59.

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Landesbischof doch nur Asyl für verfolgte syrisch-orthodoxe Christen und nicht für Muslime gefordert habe.529 Hanselmann führte darüber Gespräche mit dem CSU-geführten bayerischen Innenministerium. Häufig reagierte das Ministerium abwiegelnd und verwies auf die eine Verfolgung verneinende Einschätzung des Auswärtigen Amtes, wenngleich dem von beiden christlichen Kirchen vorgebrachten Anliegen Respekt entgegengebracht wurde.530 Die Figur der verfolgten Christenfamilie aus den Nahen Osten war dabei aber in ihrer Wirkungsmacht nicht zu unterschätzen. Sogar Vertreter des restriktiven Kurses der CSU gerieten angesichts dieses Stereotyps in Rechtfertigungszwang. Der bayerische Innenminister Edmund Stoiber führte etwa mehrere Seiten an formalen Argumenten auf, um dem Landesbischof die versagte Unterstützung zu erklären und zugleich sein Verständnis und Gesprächsbereitschaft in dieser Angelegenheit zum Ausdruck zu bringen.531 Insgesamt blieb die Figur des verfolgten Christen ein Sonderfall. Einzelne Aktionsgruppen versuchten zwar entgegen der Entwicklung auf der professionellen Ebene von Diakonie und EKD die christlichen Flüchtlinge aus der Türkei und Armenien zum Idealbild des Flüchtlings zu erklären. Hierbei gab es nur wenige Verbindungen zum restlichen protestantischen Flüchtlingsdiskurs und den entsprechenden kirchlichen Experten. Die Fokussierung auf christliche Flüchtlinge stellte daher eine eigene Entwicklungsvariante dar. Die Entnationalisierung der Flüchtlingshilfe vollzog sich in diesem Kontext ausschließlich entlang der Kategorie der religiösen Zugehörigkeit. Zwar wurde Solidarität mit Christen unabhängig von deren Herkunft eingefordert, darüber hinaus aber keine fundamentale Kritik an den Kriterien und der Anerkennungspraxis des staatlichen Asylregimes geübt. Teilweise wurde, wie im Braunschweiger Fall, die Abwertung von „Wirtschaftsflüchtlingen“ affirmiert oder die Abgrenzung zum Islam betont, um die religiöse Verfolgung stärker hervorzuheben und in den Begriff der politischen Fluchtgründe einzuschreiben. Benachteiligung oder Verfolgung aus religiösen Gründen wurde in diesem Kontext besonders betont und so zum idealen Definitionsmerkmal für einen „echten“ Fluchtgrund erklärt. Wenngleich der Betonung der religiösen Verfolgung auch ein heroisierendes Element innewohnte, wurden die christlichen Flüchtlinge in erster Linie als unschuldige Opfer wahrgenommen und dementsprechend der Aufnahmegesellschaft präsentiert. Die dahinterstehenden Gruppen standen nur sporadisch im Austausch mit den Stimmführern der evangelischen Flüchtlingshilfe. Während Akteure wie Mildenberger und Micksch seit den Anfängen der kirchlichen Ausländerarbeit den interreligiösen Dialog mit dem Islam geprägt hatten,532 verkörperten evangelikale oder 529 Schreiben von Pfarrer Dieter Kuller an Adolf Z., 5. 5. 1989 (LAELKB Nürnberg LB 798). 530 Schreiben von Innenminister Edmund Stoiber an Landesbischof Hanselmann, 28. 3. 1989 (LAELKB Nürnberg LB 798). 531 Schreiben von Innenminister Edmund Stoiber an Landesbischof Hanselmann, 6. 7. 1989 (LAELKB Nürnberg LB 798). 532 Vgl. Mittmann, Akademien, 169.

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anderweitige theologisch konservative Strömungen die gegenläufige Entwicklung. Die Konstruktion antiislamischer Feindbilder war eine tragende Voraussetzung für das Stereotyp des verfolgten Christen. In den Informationsbriefen der Braunschweiger Aktionsgruppe wurde der Islam in der Türkei für die Verfolgung verantwortlich gemacht und zugleich das Klischee von fanatischen Arabern bedient, zugleich aber der Wunsch nach einem friedlichen Zusammenleben mit den in Deutschland lebenden Muslimen betont.533 In anderen Punkten argumentierten diese Gruppen ähnlich wie die etablierten Institutionen, etwa hinsichtlich der Bürokratiekritik und der historischen Verantwortung Deutschlands. In einer Erklärung der theologisch konservativen „Kirchlichen Sammlung um Bibel und Bekenntnis“ in der braunschweigischen Landeskirche hieß es etwa, die deutsche Verantwortung für die Mitschuld an den Gräueln des Ersten Weltkriegs müsse bei der Asylgewährung mitbedacht werden: „Die Christen haben – im Gegensatz zu ihren Landesleuten – keine Möglichkeit mehr, in ihre Heimat zurückzukehren. Um so unverständlicher ist es, daß Politiker und Behörden der Bundesrepublik noch zögern, ihnen hier Asylrecht zu gewähren […]. Angesichts der deutschen Mitschuld an dem Völkermord an über einer Million Armeniern […] kann uns das Schicksal dieser Menschen nicht gleichgültig sein. Es liegt und vielmehr eine besondere politische Verantwortung auf. Besonders haben aber alle Christen in der Bundesrepublik gegenüber den verfolgten Brüdern und Schwestern, die in unser Land gekommen sind, die besondere Verpflichtung, ihnen zu helfen, daß sie bei uns heimisch werden können.“534

Trotz der Parallelen in der historischen Herleitung bestand der Unterschied in der Zielsetzung. Während die Flüchtlingsarbeit auf EKD-Ebene auf eine allgemeine Ausweitung des Begriffs der „politischen Verfolgung“ abzielte, ging es bei der Prägung des Stereotyps des verfolgten Christen vor allem darum, religiöse Verfolgung miteinzubeziehen.

4.4 Anwaltschaft oder Moderation? Protestantismus zwischen Staatsnähe und Protestbewegung Die Frage nach dem Selbstverständnis des Protestantismus und seinem Agieren im politischen Feld wurde in den 1980er Jahren durchgehend verhandelt. Nicht nur in der Auseinandersetzung um die Flüchtlingspolitik, sondern auch über Friedens- und Umweltpolitik kam es zu erheblichen Verwerfungen mit Parteien und staatlichen Behörden. Das Jahrzehnt war geprägt von einer Neudefinition des Verhältnisses des Protestantismus zum Staat und 533 Aufruf „Verfolgte Christen unter uns“, 2. 2. 1980 (BArch Koblenz B106/90346). 534 Ebd.

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zur Demokratie, die in der 1985 veröffentlichten Demokratiedenkschrift ihren Höhepunkt erreichte.535 Die Asylpolitik war für Akteure, die sich an der Seite der sozialen Bewegungen verorteten, neben dem Streit um die Nachrüstung und die Nutzung der Atomenergie Anlass für eine theologische Staatskritik. Luise Schottroff berief sich etwa zur Legitimation ihrer asylpolitischen Position auf eine Lesart der Bibel, die ihrer Ansicht nach der Perspektive des autoritären Staates diametral widerspreche.536 Ebenfalls in Abgrenzung zu einer staatsnahen Ausrichtung des Protestantismus warnte der Theologieprofessor Wolfgang Huber in einem Fachaufsatz davor, staatliche Lösungen im Bereich der Asylpolitik mit kirchlichem Segen zu legitimieren: „Man mag die Politik eine Kunst des Kompromisses nennen; doch auch beim Kompromiß hängt alles davon ab, von welcher Priorität er gesteuert ist. Der gegenwärtige Konflikt zwischen Staat und Kirche über das Asylrecht erklärt sich daraus, daß die politisch wirksamen Prioritätensetzungen ethisch äußert fragwürdig sind.“537

Huber definierte die Aufgabe des Protestantismus als moralische Reflexion der staatlichen Prioritätensetzung. Den Tonfall der evangelischen Kirche bezeichnete er als „bemerkenswert moderat“538 angesichts der ethisch fragwürdigen Praxis des Staates. Neben der Grundsatzfrage nach dem Selbstverständnis des Protestantismus und seinem Verhältnis zum Staat veränderten sich die Rahmenbedingungen der politischen Interessenvertretung. Eine erste Zäsur war der Regierungswechsel im Jahr 1982, der das Verhältnis zu Teilen der Bundesregierung trübte. Besonders betroffen waren die Kontakte in das nun CSUgeführte Bundesinnenministerium. Innerhalb des Ministeriums wurden die Stellungnahmen aus der evangelischen Kirche in den Dossiers der Ministerialbeamten oft als überzogen und unsachlich eingestuft.539 Erst unter Wolfgang Schäuble ab 1989 wurde das Verhältnis des Ministeriums zu den zivilgesellschaftlichen Organisationen und den Wohlfahrtsverbänden wieder spürbar besser.540 Schäuble wünschte sich die Unterstützung von Kirchen und Wohlfahrtsverbänden in der Ausländerpolitik und betonte stärker die Notwendigkeit eines Interessenausgleichs als sein Amtsvorgänger.541 Bei der Vertretung politischer Interessen artikulierten sich unterschiedliche protestantische Stimmen. Die in der Flüchtlingsarbeit engagierten Basisgruppen brachten ihre Anliegen mit Protestaktionen, Pressemitteilungen und per Brief 535 536 537 538 539

Zur Demokratiedenkschrift vgl. Heinig, Entstehung. Vgl. Schottroff, Christen und Asyl, 113. Huber, Rechtswohltat, 87. Ebd., 85. Referentenvorlage für den Bundesinnenminister zur Stellungnahme der EKD zur Ausländerpolitik, 24. 6. 1985 (BArch Koblenz B106/117556). 540 Vgl. Kleinschmidt, Streit, 252 f. 541 Umstrittene Ausländerpolitik. In: EvKo 11/89, 2.

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vor. Ihre Aktionsräume waren die Akademien und der Kirchentag. Als Foren für den Dialog mit den sozialen Bewegungen dienten die dortigen Veranstaltungen der Vernetzung unterschiedlicher Initiativen und Aktionsgruppen über den Protestantismus hinaus. Das galt nicht nur für die im Kontext der Gründung von „Pro Asyl“ erwähnten Tagungen der evangelischen Akademien, die sich als Freiraum für zivilgesellschaftliche Gruppen definierten.542 Auch auf dem „Markt der Möglichkeiten“ des Kirchentags, einem umfangreichen Messeprogramm für Vereine und Initiativen, präsentierten sich Asylgruppen den Kirchentagsgästen.543 Asylpolitik entwickelte sich zwar im Gegensatz zu den Themen der zeitgleich in Erscheinung tretenden Friedens- und Umweltbewegung bei den Kirchentagen der 1980er Jahre nicht zum prägenden Themenschwerpunkt des protestantischen Laientreffens. Dennoch wurde auch auf den Podien in der Fortführung der kirchlichen Arbeit für ausländische Arbeitnehmer an etablierte Formate und Netzwerke angeknüpft. Gelegentlich nutzten Protestgruppen den Kirchentag als Bühne. Für einen Eklat sorgte das von einer Aktionsgruppe organisierte „antirassistische Jugendgerichtstribunal“, bei dem Unionspolitiker symbolisch für ihre Äußerungen angeklagt wurden.544 Kirchentagssekretariat und Kirchenleitungen sahen sich gezwungen, gegenüber aufgebrachten Abgeordneten klarzustellen, dass es sich dabei um keine offizielle Kirchentagsveranstaltung handele.545 Zunehmend wurde versucht, den Kirchentag für Flüchtlinge selbst zu öffnen. Vermehrt hatten sich Kirchentagsgäste und beteiligte Institutionen gewünscht, den Betroffenen selbst die Teilnahme zu ermöglichen und dafür Ausnahmen von der geltenden Residenzpflicht gefordert.546 Beim Kirchentag 1983 verweigerten die zuständigen Behörden entsprechende Zustimmungen.547 In den Folgejahren versuchten die Organisatoren der Großveranstaltung, Sondererlaubnisse zu ermöglichen und wurden dafür bei den Landesministerien vorstellig. Diese Bestrebungen waren teilweise erfolgreich. Die Geschäftsstelle des Kirchentags konnte mit einigen Innenministerien der Bundesländer Ausnahmeregelungen für die Teilnahme von Asylbewerbern aushandeln.548 Zudem gab es Versuche, die Anliegen der Asylhilfebewegung per Resolution zum Anliegen der Großveranstaltung zu machen. Auf dem Kirchentag 1989 in West-Berlin sammelte der Berliner Flüchtlingsrat Unterstützerunterschriften für eine von Flücht542 Schreiben von Akademiedirektor Röpke an den Landeskirchenrat, 2. 5. 1985 (LAELKB Nürnberg III/26–3). 543 Schreiben des Diakonischen Werks Duisburg an die Geschäftsstelle des Kirchentags, 12. 3. 1985 (EZA Berlin 71/4275). 544 Einladungsschreiben „Internationales Jugendgerichtstribunal gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus“, 11. 2. 1987 (LAELKB Nürnberg LB 798). 545 Schreiben des Generalsekretärs des Kirchentags an Karl Hillermeier MdL, 26. 5. 1987 (LAELKB Nürnberg LB 798). 546 Schreiben des Diakonischen Werks Duisburg an die Geschäftsstelle des Kirchentags, 12. 3. 1985 (EZA Berlin 71/4275). 547 Asylbewerbern Fahrt zum Kirchentag verweigert. In: epd-ZA Nr. 109, 9. 6. 1983, 3. 548 Rundschreiben der Organisationsleitung des Kirchentags, 3. 5. 1985 (EZA Berlin 71/4275).

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lingen selbst verfasste Resolution mit der Forderung nach mehr Rechten und offenen Grenzen für Verfolgte.549 Jenseits des Aufstiegs der neuen Beteiligungs- und Protestformen agierten EKD und Diakonisches Werk weiterhin über die Kanäle der professionellen Interessenvertretung. Im politischen Bonn arbeitete der Bevollmächtigte der EKD verstärkt in Kooperation mit seinem katholischen Pendant. Im Verlauf der 1980er Jahre intensivierte sich die Zusammenarbeit bis hin zu den gemeinsamen Stellungnahmen beider Kirchen am Ende des Jahrzehnts. Das katholische Büro besaß eine Schlüsselrolle für die Abstimmung von Kirchen, Parteipolitikern und Verbänden in asylpolitischen Fragen. In seinen Räumen trafen sich verschiedene Experten und Funktionsträger zur informellen Besprechung aktueller politischer Fragen und Strategien.550 Der Bevollmächtigte vertrat gegenüber dem Bonner Politikbetrieb die Positionen des Rates der EKD und koordinierte die offiziellen Stellungnahmen von EKD und Diakonischem Werk für Anhörungen im Deutschen Bundestag. Darüber hinaus meldeten sich die Gliedkirchen häufig selbst und ohne Koordination zu Wort. Joachim Heubach lobte etwa die Asylpolitik der CDU-geführten Landesregierung Niedersachsens.551 Der bayerische Landesbischof Hanselmann setzte sich bei der Staatsregierung Bayerns besonders für christliche Flüchtlinge ein.552 In West-Berlin trug der Druck von kirchlicher Seite wiederum mit dazu bei, beim Senat kleinere Verbesserungen für „de-facto-Flüchtlinge“ zu erreichen.553 Das folgende Teilkapitel zeichnet verschiedene Entwicklungen der protestantischen Interessenvertretung im Bereich Asylpolitik anhand von vier unterschiedlichen Teilaspekten nach. Im ersten Abschnitt werden protestantische Interventionen zu Wahlkämpfen dargestellt, im zweiten wird die Situation der Diakonie skizziert. Der dritte Abschnitt widmet sich anhand der Kirchenasyldebatte der Grundsatzfrage des Verhältnisses von christlichem Gewissen und Rechtsstaat. Zuletzt folgt eine Beschreibung des Verhältnisses von Protestantismus und politischen Parteien in der Asyldebatte der 1980er Jahre.

549 Resolution der „Flüchtlinge in Berlin“ zum 23. evangelischen Kirchentag 1989 (ELAB Berlin G1/1741). 550 Protokoll der Sitzung ad-hoc Asyl im Katholischen Büro Bonn, 18. 1. 1988 (ADW Berlin PB 977). 551 Albrecht: „Mißbrauch des Asylrechts verhindern“. In: epd-ZA Nr. 239, 11. 12. 1980, 1. 552 Asylrecht für christliche Türken gefordert. In: EvKo 6/89, 59. 553 Vgl. Kleinschmidt, Streit, 257.

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4.4.1 Wie politisch soll es sein? Mahnungen im Vorfeld des Wahlkampfs Die Wahlen zum Deutschen Bundestag sowie einzelne Landtagswahlkämpfe während der 1980er Jahre wirkten als Beschleuniger der Asyldebatte.554 Protestantische Stellungnahmen im Vorfeld der Wahlkampagnen versuchten wiederholt, einen geregelten Rahmen für die politische Auseinandersetzung zu setzen. Bereits im Vorfeld der Bundestagswahl 1980 appellierte DiakoniePräsident Schober, die menschlichen Probleme der Betroffenen und nicht die parteipolitische Wahltaktik nach vorne zu stellen.555 Aus kirchlicher Perspektive erschien dies konsequent. Die Hoffnung, mit kirchlichen Interventionen die Schärfe aus dem polarisierten Wahlkampf zwischen Franz-Josef Strauß und Helmut Schmidt zu nehmen, war zu diesem Zeitpunkt sehr präsent. Mit dem ehemaligen EKD-Bevollmächtigten Hermann Kunst hatte sogar ein evangelischer Altbischof die Rolle des Sprechers der Wahlkampfschiedsstelle zwischen den Parteien übernommen, deren Bedeutung allerdings symbolischer Natur blieb.556 Im Jahr 1980 verhallten die Appelle jedoch.557 Der Jahresbericht der Diakonie machte den polarisierend geführten Bundestagswahlkampf für die aufgeheizte Stimmung und den problematischen Umgang mit Ausländern in Westdeutschland verantwortlich.558 Wie bereits in den 1950er Jahren war die Frage nach der Politisierung des Themenkomplexes Flucht und Asyl das Kernproblem der kirchlichen Stellungnahmen. Sollte die evangelische Kirche dafür plädieren, das Thema entgegen der polarisierten Stimmung dem Wahlkampfstreit und somit der politischen Auseinandersetzung zu entziehen? Oder sich vielmehr selbst im Konflikt positionieren? Die Strategie, mithilfe kirchenoffizieller Stellungnahmen einen Minimalkonsens zum Flüchtlingsschutz definieren und das Thema so dem Parteienstreit entziehen zu können, blieb erfolglos. Vor der vorgezogenen Bundestagswahl im Frühjahr 1983 forderte Jürgen Micksch, damals noch in der Funktion als EKD-Ausländerreferent, die gesamte Ausländerpolitik aus dem Wahlkampf herauszuhalten.559 Spätere Versuche gingen zudem in der Vielstimmigkeit des Protestantismus unter. Zumeist versuchten protestantische Akteure auf bisweilen paradox anmutende Art und Weise, einen neutralen und gleichzeitig einen parteiischen Standpunkt einzunehmen. Den vorerst letzten Höhepunkt der von CDU/CSU betriebenen Asylkampagnen markierte die

554 Vgl. zur Thematisierung der Asylpolitik in Wahlkämpfen: Wirsching, Abschied, 303–306. 555 Schober gegen parteipolitische Zuspitzung in der Flüchtlingsfrage. In: epd-ZA Nr. 175, 11. 9. 1980, 2. 556 Vgl. Mergel, Propaganda, 303. 557 Zur neuen Bedeutung der Asylpolitik im Wahlkampf von 1980 vgl. Bade, Karriere, 4. 558 Vgl. Diakonisches Werk, Jahrbuch 80/81, 139. 559 EKD-Ausländerreferent: Ausländerpolitik kein Wahlkampfthema. In: epd-ZA Nr. 40, 25. 2. 1983, 4.

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Phase des Vorwahlkampfes ab Herbst 1986.560 Vor der Bundestagswahl im Januar 1987 gab es neben der Veröffentlichung der erwähnten EKD-Studie eine Vielzahl kirchlicher Stellungnahmen zum Wahlkampfgeschehen. In einer ökumenischen Stellungnahme wurden die Parteien davor gewarnt, die Flüchtlinge zum Thema zu machen.561 Noch deutlicher lehnte der Vorbereitungsausschuss für die „Woche des ausländischen Mitbürgers“, die zu diesem Zeitpunkt erstmals mit dem „Tag des Flüchtlings“ stattfand, eine Instrumentalisierung des Flüchtlingsthemas in der Wahlkampfauseinandersetzung ab.562 Der bayerische Landesbischof Hanselmann forderte zudem auf einer von Micksch organisierten Akademietagung zu sprachlicher Mäßigung und Versachlichung auf.563 Diesen Aufrufen war gemein, dass sie formal an alle Parteien gerichtet waren. Wenngleich unschwer zu erkennen war, dass sich die Kritik vor allem an die Kampagnenführung der Unionsparteien richtete, sollten die Aufrufe keine kirchliche Wahlempfehlung darstellen. Aufsehen erregte daher eine evangelische Stimme, die sich explizit für einen bestimmten Kanzlerkandidaten aussprach. Wolfgang Huber warb in einer Anzeige wenige Wochen vor dem Urnengang dafür, den sozialdemokratischen Kandidaten Johannes Rau zu wählen und löste damit eine Kontroverse aus.564 Auch wenn die Affinität vieler protestantischer Intellektueller zur SPD als offenkundig galt, besaß eine derart deutliche Empfehlung für die Partei kurz vor dem Wahlsonntag eine neue Qualität. Einer der Gründe, den Huber in seiner Anzeige neben der Friedens- und Arbeitslosenpolitik nannte, war der in seinen Augen notwendige Protest gegen die „Beschwörung von Vorurteilen, mit deren Hilfe Ausländer und Asylsuchende Opfer von Stimmungsmache und kalter Abweisung“565 gemacht würden. Die sonstigen Stellungnahmen zu den Wahlkämpfen waren vom Selbstanspruch der Äquidistanz zu den politischen Akteuren geprägt und sollten einen in der Gesellschaft augenscheinlich nicht oder nicht mehr vorhandenen humanitären Konsens definieren. Die Forderung nach einer Entpolitisierung der Ausländer- und Asylpolitik ging jedoch an den politischen Entwicklungen vorbei. Thomas Mergel konstatiert in seiner Forschung zur Kulturgeschichte des Wahlkampfs in der Bundesrepublik einen Wechsel der Funktion konfessioneller Bezüge in den 1980er Jahren. Hatten diese in der frühen Bundesrepublik noch dazu gedient, einen gesellschaftlichen Konsens zu definieren und den Westen vom Kommunismus abzugrenzen, wurden sie nun vermehrt als Mittel zur Parteien- und Politikkritik genutzt.566 Entsprechend standen Ver560 561 562 563 564 565

Vgl. Wirsching, Abschied, 305. Kirchen warnen vor Wahlkampfthema Asyl. In: epd-ZA Nr. 178, 17. 9. 1986, 6. Kirchenausschuß: Flüchtlinge kein Wahlkampfthema. In: epd-ZA Nr. 150, 8. 8. 1986, 1 f. Fremde annehmen. In: Tutzinger Blätter 1/86, 10–12. Vgl. zur innerprotestantischen Reaktion auf Hubers Anzeige: KJ 1988, 148 f. Anzeige Prof. Dr. Wolfgang Huber „Am 25. Januar stimme ich für Johannes Rau“. In: Sonntagsblatt, 11. 1. 1987, 11. 566 Vgl. Mergel, Propaganda, 332.

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suche, gesellschaftliche Streitthemen mithilfe offizieller Stellungnahmen von hochrangigen Kirchenvertretern zu versachlichen, als überholt da. Akteure der Flüchtlingshilfe hielten dennoch an ihrer Forderung nach einer Ausklammerung des Themas aus Wahlkämpfen fest, da sie die von den Unionsparteien propagierte Strategie, dem zunehmenden Aufkommen von Parteien am rechten Rand wie den „Republikanern“ mithilfe scharfer Asylkampagnen zu begegnen, für aussichtslos und moralisch illegitim hielten. Ein Sprecher von „Pro Asyl“ wurde mit dem Satz zitiert, der Wahlkampf gegen Asylbewerber sei schlimmer als der Einzug der NPD in Kommunalvertretungen.567 4.4.2 Die gehemmte Diakonie Auch innerhalb des evangelischen Wohlfahrtsverbandes, der für die Hilfsarbeit und die politische Interessenvertretung von zentraler Bedeutung war, wurde intensiv über die protestantische Haltung zur Aufnahme und Anerkennung von Flüchtlingen diskutiert. Anfang der 1980er war das Diakonische Werk unter seinem Präsidenten Theodor Schober noch klar für ein advokatorisches Modell und eine stringent internationale Perspektive auf Fluchtphänomene eingetreten. Schober hatte die Forderungen der kirchlichen Ausländerarbeit mitgeprägt und sich öffentlich entsprechend exponiert. Als Diakonie-Präsident kritisierte er die Bundesregierung sowie den Stil der Asyldebatte.568 Während Schobers Amtsführung prägte das Diakonische Werk maßgeblich die länderübergreifende Zusammenarbeit im Rahmen ökumenischer Kooperationen. Auf einem von der Diakonie veranstalteten Symposium zum Thema Flüchtlingsschutz forderten die internationalen Teilnehmenden eine Ausweitung des rechtlichen Schutzes auf größere Kreise als bisher.569 Bei der prominent besetzten Veranstaltung – unter anderem wurde ein Grußwort des UN-Flüchtlingskommissars verlesen – wurde ein umfangreiches Thesenpapier erarbeitet, das eine großzügigere Aufnahme, mehr internationale Zusammenarbeit und rechtliche Reformen forderte.570 Schober eröffnete die Veranstaltung mit der Hoffnung, die positiven Erfahrungen bei der Aufnahme der Vietnam-Flüchtlinge auf andere Gruppen auf der Flucht vor Bürgerkriegen, Hungerkatastrophen oder Armut ausweiten zu können.571 Die Flüchtlingsarbeit der Diakonie verfügte unter anderem dank der 567 Vgl. Bade, Politisch Verfolgte, 414. 568 Diakonisches Werk, Hauptgeschäftsstelle: „Die Ausländerpolitik aus diakonischer Sicht. Neue Anfragen und Antworten.“ (Verantwortlich: Präsident Dr. Schober), 15. 2. 1984 (EZA Berlin 87/1779). 569 Experten fordern mehr Solidarität für Flüchtlinge. In: epd-ZA Nr. 232, 2. 12. 1980, 3. 570 Dokumentation zum Symposion des Diakonischen Werks über „Grundsätze der internationalen Solidarität bei der Aufnahme und Integration von ausländischen Flüchtlingen“ vom 25. bis 28. 11. 1980 in Stuttgart (BT PA Berlin IX/79 B2). 571 Ebd.

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Menschenrechtsstelle unter Werner Lottje über vielfältige Kontakte zu internationalen Partnern wie auch sozialen Bewegungen. Deutlich wurde dieser Zusammenhang in der Personalbesetzung. Nachfolger Lottjes wurde Anfang der 1980er Jahre der Jurist Jörg Lang. Die Personalie war insofern besonders, da es sich bei Lang um einen der ehemaligen Strafverteidiger der ersten RAFGeneration der handelte.572 Lang, der seine Arbeit bei der Diakonie-Hauptgeschäftsstelle im Jahr 1982 unter medialer Beobachtung aufgenommen hatte, konnte sich durch seine Beschäftigung bei der Diakonie rehabilitieren und auch seine entzogene Zulassung als Rechtsanwalt wiedererlangen.573 Der Jurist war für ein umfangreiches Arbeitsfeld verantwortlich: Koordinierungsaufgaben zwischen den Landeskirchen, Akademien, Missionswerken, Basisgruppen und internationalen Partnern.574 Das zweite Referat mit dem Schwerpunkt Kontingentflüchtlinge unter Peter von Bethlenfalvy war vor allem für den Ausbau psychosozialer Betreuungs- und Unterstützungsangebote bei der Integration zuständig.575 Lang verantwortete zudem das Rechtsberaternetzwerk der Diakonie.576 Die meisten Wohlfahrtsverbände unterhielten vergleichbare lose Zusammenschlüsse von Anwälten. Mit dem Netzwerk, das in erster Linie Rechtsanwälte zusammenbrachte und dem Erfahrungsaustausch über asylrechtliche Fragen diente, konnte die Diakonie rechtliche Expertise an sich binden und Kontakte weit über kirchliche Kreise hinaus pflegen. Über das Rechtsberaternetzwerk wurden beispielsweise Personen wie Victor Pfaff in die evangelische Flüchtlingsarbeit eingebunden. Auch Pfaff, der oft bei Veranstaltungen als Mitglied des Netzwerks und damit quasi als inoffizieller Vertreter der Diakonie auftrat, kam wie Lang aus der Studentenbewegung. Der auf Tagungen der Akademien und Veranstaltungen des Kirchentags präsente Anwalt stammte aus dem Umfeld der studentischen K-Gruppen der 1970er Jahre und gehörte später zum Gründungskreis von „Pro Asyl“.577 Pfaff prägte auch die Diskussion um die rechtspolitische Bewertung der Asyldebatte innerhalb der evangelischen Akademien, bei denen das Rechtsberaternetzwerk als Kooperationspartner auftrat.578 Die Anbindung der frei agierenden Gruppen an den Wohlfahrtsverband geriet jedoch an ihre Grenzen. Das Diakonische Werk verlor zunehmend an 572 Anwälte: Reise mit Kurven. In: Der Spiegel 26/1982, 78. 573 Rechtsanwälte: Immer Terrorist. In: Der Spiegel 28/1987, 80. 574 Bericht über die Arbeit des Referats „Schutz von Asylbewerbern“ in der Abteilung Ökumenische Diakonie der HGSt des Diakonischen Werks, Berichtszeitraum April 84 bis März 85, 2. 4. 1985 (ADW Berlin PB 974). 575 Vgl. Diakonisches Werk, Psychosoziale Arbeit. 576 Bericht über die Arbeit des Referats „Schutz von Asylbewerbern“ in der Abteilung Ökumenische Diakonie der HGSt des Diakonischen Werks, Berichtszeitraum April 84 bis März 85, 2. 4. 1985 (ADW Berlin PB 974). 577 Zu Pfaffs Aktivität für die dem Kommunistischen Bund Westdeutschlands nahestehende juristische Zeitschrift „Rote Robe“ in den 1970er Jahren vgl. Anders, Gegenöffentlichkeit, 13 und 14 FN 7. 578 Vgl. Spanos / Hakemann, Protestantismus, 27 f.

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Einfluss und entfremdete sich von der Basis der Flüchtlingshilfegruppen. In einem internen Vermerk 1985 beklagte Lang, dass der Kontakt mit den örtlichen Helfergruppen schwierig geworden sei.579 Ursächlich dafür waren neben der sich weiter vollziehenden Ausdifferenzierung von professioneller und ehrenamtlicher Arbeit auch interne Konflikte und personelle Veränderungen. Im Jahr 1984 wechselte der Präsident des Diakonischen Werkes. KarlHeinz Neukamm schlug einen anderen Ton als sein in dem Themenfeld exponierter Vorgänger an. Kurz nach seinem Amtsantritt sorgte Neukamm mit einem Interview für Aufregung, in dem er sich für einen sachlicheren Umgang mit dem Asylthema aussprach und dabei von Kirche und Diakonie realistischere Forderungen verlangte. Neukamm stellte sich dabei als einen pragmatischen Sozialverbandsvertreter dar. Das Interview bot jeder Seite Reibungsfläche. Einerseits sparte Neukamm nicht mit Kritik an den schlechten Lebensbedingungen der Asylbewerber, andererseits warnte er vor unrealistischen Ansprüchen und überzogener Rhetorik gegenüber Politik und Gesellschaft: Es sei nicht realistisch, von einer entsolidarisierten Gesellschaft, die keinen Respekt für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger zeige, offene Arme für Asylbewerber zu erwarten und zugleich Politikern vorzuwerfen, dass sie über die Begrenzung von Zuwanderung nachdächten.580 Das Interview zog weite Kreise innerhalb des Protestantismus. In Zuschriften wurde der Vorwurf erhoben, der Diakonie-Präsident falle den christlichen Helfergruppen mit seinen Äußerungen in den Rücken.581 Neukamm selbst zeigte sich erschrocken über die harschen Reaktionen und verwahrte sich gegen die Anschuldigungen.582 In den folgenden Jahren fand sich der Diakonie-Präsident immer wieder in ähnlichen Situationen wieder. Der aus der lutherischen Landeskirche Bayern stammende Theologe vertrat eine von den Stimmführern der Flüchtlingsarbeit abweichende Strategie im Umgang mit der Politik. Im Vorwort einer Publikation der Diakonie zur Flüchtlingsarbeit umriss er sein Modell der Interessenvertretung so: Die Diakonie müsse die soziale Wirklichkeit und die praktischen Probleme beschreiben und wahrnehmen können und sich weniger in akademischen Exkursen oder ausschweifenden politischen Erklärungen verlieren.583 In einem Interview mit den „Evangelischen Kommentaren“ grenzte Neukamm sich zudem vom advokatorischen Modell ab und wies der Kirche die Vermittlerrolle im gesellschaftlichen Konflikt um die Asyl- und Ausländerpolitik zu, idealerweise an einem runden Tisch der gesellschaftlichen Kräfte.584 Zudem hegte Neukamm Zweifel an einer der bis 579 Bericht über die Arbeit des Referats „Schutz von Asylbewerbern“ in der Abteilung Ökumenische Diakonie der HGSt des Diakonischen Werks, Berichtszeitraum April 84 bis März 85, 2. 4. 1985 (ADW Berlin PB 974). 580 Diakonie-Präsident: Asyl-Problem nüchtern einordnen. In: epd-ZA Nr. 98, 24. 5. 1985, 9. 581 Schreiben von Werner P. an Präsident Neukamm, 10. 6. 1985 (ADW Berlin PB 975). 582 Schreiben von Jörg Lang an Helmut R., 24. 7. 1985 (ADW Berlin PB 975). 583 Vgl. Diakonisches Werk, Psychosoziale Arbeit, I. 584 Ausländerpolitik. In: EvKo 4/89, 2.

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dahin zentralen Forderungen der evangelischen Ausländerarbeit, der Ausweitung des Kommunalwahlrechts auf Ausländer.585 Neugründungen mit einem konfrontativen politischen Anspruch wie „Pro Asyl“ wurden von der Diakonie-Spitze misstrauisch beäugt. Sympathien hegte das Präsidium mehr für jene Helferkreise, die sich auf soziale Unterstützung und individuelle Hilfe vor Ort als politische Kampagnen konzentrierten.586 In der medialen Öffentlichkeit wurden diese abweichenden Töne aus dem protestantischen Wohlfahrtsverband kaum zur Kenntnis genommen, da Neukamm seine Kritik zumeist intern äußerte und sich bei öffentlichen Auftritten in der Beurteilung der Lebensbedingungen von Asylbewerbern nicht von anderen protestantischen Akteursgruppen unterschied. In der Öffentlichkeit übte er zudem wiederholt Kritik an der deutschen Asylpraxis und der Verdächtigung von Flüchtlingen. So bezeichnete Neukamm die Politik von Bundesinnenminister Zimmermann unter Verweis auf deren Auswirkungen auf Familien als unmenschlich.587 Mehrfach forderte er außerdem die Aufhebung des Arbeitsverbots für Asylbewerber.588 Wie die Mitarbeiter des EKDKirchenamts wurde auch der Diakonie-Präsident für seine öffentlichen Stellungnahmen mit Schmähbriefen bedacht. Besonders ein Interview im ZDF zur EKD-Studie machten ihn zeitweise zum Gesicht der protestantischen Flüchtlingsarbeit. Briefeschreiber beschimpften ihn aufgrund des Fernsehauftrittes als moralistisch und warfen ausgerechnet dem auf einen moderaten und selbstkritischen Ton bedachten Neukamm die Verbreitung irreführender Fakten und Lügen vor.589 Der nachlassende Einfluss der Diakonie auf die protestantische Positionierung in der Flüchtlingspolitik hatte aber nicht nur mit der Zurückhaltung der Führungsspitze und der verstärkten Abgrenzung von Teilen der Asylbewegung gegen die Wohlfahrtsverbände zu tun. Verstärkend traten organisatorische Probleme hinzu. In der Hauptgeschäftsstelle des Diakonischen Werkes herrschte seit Anfang der 1980er Jahre ein interner Kampf um die Zuständigkeiten für Asyl- und Migrationspolitik zwischen den verschiedenen Referaten. Seit Ende der 1970er Jahre hatte die Diakonie-Hauptgeschäftsstelle die rechtliche Kategorisierung von Fluchtmigration in der Bundesrepublik in ihren Arbeitsstrukturen gespiegelt. Parallel zueinander existierten jeweils ein Referat für Asylbewerber und eines für Kontingentflüchtlinge.590 Zunehmend erwies sich die durch die Migrationsrealität der Bundesrepublik überholt erscheinende Aufteilung als dysfunktional. Zwischen den beiden Abteilungen 585 Aktenvermerk für Präsident Neukamm, Betreff: Woche der ausländischen Mitbürger, 12. 4. 1988 (ADW Berlin PB 977). 586 Aktenvermerk für Präsident Neukamm, 15. 12. 1987 (ADW Berlin PB 977). 587 Diakoniepräsident nennt Asylpraxis „unmenschlich“. In: epd-ZA Nr. 84, 2. 5. 1988, 4. 588 Neukamm gegen Ausgrenzung von Langzeitarbeitslosen. In: epd-ZA Nr. 215, 6. 11. 1989, 7. 589 Schreiben von Kurt W. an das EKD-Kirchenamt, 3. 9. 1986 (EZA Berlin 2/17560); Schreiben von Adolf Z. an Präsident Neukamm, 3. 9. 1986 (ADW Berlin PB 976). 590 Aktenvermerk für Präsident Neukamm, 7. 3. 1985 (ADW Berlin PB 973).

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wurde durchgehend ein Konkurrenzkampf geführt. Die Mitarbeitenden verweigerten sich gegenseitig Zugriff auf Akten und stritten über die Zuständigkeit für Fachfragen und internationale Konsultationen.591 Auch anderen Hilfsverbänden und Akteuren der Flüchtlingsarbeit blieb der kräftezehrende Hausstreit im Diakonischen Werk nicht verborgen.592 An der formalen Trennung der Flüchtlingsarbeit entlang der rechtlichen Kategorien des bundesdeutschen Migrationsregimes wurde jedoch festgehalten. Trotz mehrerer Eskalationen des Konflikts in Form von Disziplinarmaßnahmen behielt die Diakonie die Ressortaufteilung das gesamte Jahrzehnt über aufrecht.593 4.4.3 Das Verhältnis zum Rechtsstaat in der Diskussion Lässt sich rechtswidriges Handeln aus Gewissensgründen rechtfertigen? Diese grundlegende Frage über das Verhältnis zum demokratischen Staat wurde im Protestantismus in den 1980er Jahren breit diskutiert. Die Kirchenasylbewegung und Protestaktionen gegen Abschiebungen brachten das Thema auf die Tagesordnung. Parallel wurde das Thema in anderen Varianten im Rahmen der Friedensbewegung und der Anti-Atomkraft-Proteste aufgegriffen. Was sich in den späten 1970er Jahren bei Einzelfällen wie der Abschiebung der Shivangulalas noch in Empörung über ein einzelnes Gericht entladen hatte, summierte sich für die Akteure der Flüchtlingshilfe zunehmend zu einer kollektiven Erschütterung des Vertrauens in Justiz und Rechtspolitik. Den Kulminationspunkt bildete der Fall von Kemal Altun, dessen Suizid in einem West-Berliner Justizgebäude für die Asylbewegung der frühen 1980er Jahre paradigmatisch für den Zustand der Rechtsprechung und der Regierungspolitik stand. Auch Jürgen Quandt beschrieb den Fall Altun als entscheidend für seinen Vertrauensverlust in die Justiz und die Entstehung der Kirchenasylbewegung: „Nicht, daß ich bis zu diesem Zeitpunkt so naiv und weltfremd gewesen wäre, um nicht zu wissen, daß auch Gerichte irren können und Gesetze schlecht sein können. Aber hier war die Logik, die Vernünftigkeit und damit auch die moralische Grundlage unseres Rechtssystems auf den Kopf gestellt. […] Hier jedoch ging es im direkten Sinne um Leben und Tod eines Menschen. Seither bin ich mißtrauisch gegenüber dem Argument, daß etwas, das auf gesetzlicher Grundlage geschehen sei, hinzunehmen sei, weil es eben gesetzlich ist. Die Grundlage unseres Staatswesens – davon bin ich überzeugt – sind die Menschenrechte und die Unver-

591 Ebd. 592 Aktenvermerk von Peter von Bethlenfalvy für Präsident Neukamm, Betreff: Sitzung des AK „Hilfen für Flüchtlinge“, 30. 6. 1989 (ADW Berlin PB 973). 593 Ebd.

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letzlichkeit der Würde des Einzelnen. Gesetz und Ordnung sind Mittel zu diesem Zweck und kein Zeck an sich.“594

Quandt setzte diese Überlegungen in praktisches Handeln um. Seine Aktivitäten für Flüchtlinge brachten den Pfarrer aus Berlin-Kreuzberg auch vor Gericht. Im Frühjahr 1986 wurde er wegen der Beteiligung an einer Busblockade zur Verhinderung einer Abschiebung angeklagt. Bei der Prozesseröffnung rechtfertigte Quandt sein Handeln mit seiner doppelten Verpflichtung als Pfarrer und Staatsbürger: „Der christliche Staatsbürger steht gegenüber dem Anspruch des Staates auf gesetzlichen Gehorsam seiner Bürger nicht nur unter dem Vorbehalt der Wahrung von Menschenwürde und Menschenrechten, sondern vor allem unter dem Vorbehalt, daß er Gott mehr als den Menschen gehorchen soll.“595

Quandts Aussage fasst das für den Protestantismus entscheidende Spannungsverhältnis zwischen dem christlich-staatsbürgerlichen Gewissen und einem blind erscheinenden Legalismus zusammen. Die Berufung auf die Menschenwürde und die Menschenrechte, die einer restriktiven Asylpraxis entgegenstünden, prägte weiterhin den Debattenverlauf. Zwar gab es Bemühungen, einen Dialog zwischen Helfergruppen, Wohlfahrtsverbänden und Verwaltungsrichtern zu ermöglichen. In den Akademien gab es Versuche, die Asylhilfebewegung mit Verwaltungsrichtern an einen Tisch zu bringen. Besonders deren Rechtsprechung zur Asylrelevanz von Folter sorgte vielfach für Unverständnis. Mehrere Gerichte hatten drohende Folter im Herkunftsland nicht als politische Verfolgung eingestuft.596 In der Wahrnehmung vieler Engagierter stellten diese Urteile einen Skandal dar, der den mangelnden Menschenrechtsschutz in der Bundesrepublik offenlegte. Dialogversuche in Form von Fachgesprächen an den Akademien scheiterten daher oft an den grundlegend unterschiedlichen Prämissen der Beteiligten.597 Das zunehmende Misstrauen gegenüber Behörden und Gerichten traf mit einem transnationalen Austausch christlicher Gruppen über zivilen Ungehorsam und das Widerstandsrecht zusammen. Zuerst wurden im transatlantischen Dialog Ideen aus den USA rezipiert. Akademietagungen und Zeitschriften boten das entsprechende Forum für den Austausch und die Vernetzung mit der Sanctuary-Bewegung. Die US-amerikanische Professorin und Bonhoeffer-Expertin Nancy Lukens hielt 1984 einen Vortrag in der Evangelischen Akademie von West-Berlin, der wichtigsten Stadt der deutschen Kirchasylbewegung. Darin schlug sie im Rückgriff auf die Geschichte 594 Jürgen Quandt: Kirchliches Engagement in der Asylpolitik (Einige Erfahrungen und Erwägungen aus der Arbeit der Heilig-Kreuz-Gemeinde), 25. 8. 1985 (ELAB Berlin 36/2919). 595 Zit. n. dem epd-Bericht: Prozess wegen Blockade eines Busses mit Libanon-Flüchtlingen eröffnet. In: epd-ZA Nr. 69, 10. 4. 1986, 7. 596 Ausführlich hierzu vgl. Spanos / Hakemann, Protestantismus, 14 f. 597 Vgl. ebd.

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des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus und besonders seiner christlich motivierten Protagonisten einen direkten Bogen zur aktuellen Arbeit der Sanctuary-Bewegung in den USA.598 Der Vortrag wurde zusammen mit einem ins Deutsche übersetzten Interview mit Mitgliedern der Bewegung in der Zeitschrift „Junge Kirche“ abgedruckt.599 Die Bewegung in den Vereinigten Staaten bezog sich auf die Tradition des Asyls in religiösen Stätten und die schwarze Bürgerrechtsbewegung. Gern zitiert wurden Martin Luther King und der für die Diskussion um den zivilen Ungehorsam prägende Schriftsteller Henry David Thoreau.600 Ein als radikal geltender Zweig der Sanctuary-Bewegung verstand seine Praxis als Herausforderung der Macht des Staates über Migranten, da durch die Aktionen die rechtliche Kategorisierung grundlegend in Frage gestellt werde.601 Dieser Interpretationsstrang wurde wiederum in der Schweiz rezipiert. Hauptorgan dieser Deutung im Schweizer Protestantismus war die religiössozialistische Zeitschrift „Neue Wege“, in der Debatten der Schweizer Asylhilfeszene ausgetragen wurden.602 Anders als die evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik definierten sich die Schweizer Kirchen in der Asylfrage deutlich in Distanz zum Staat.603 Mit einem Memorandum hatten sich mehrere eidgenössische Landeskirchen parteiergreifend auf der Seite der Flüchtlinge verortet, ein Schritt, der als klare Positionierung in der politischen Arena wahrgenommen wurde.604 Höhepunkt war eine Publikation des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes im Jahr 1988, die sich eigens der Reflexion der Themenfelder Widerstand, Kirchenasyl und Gewissensentscheidung widmete und sogar eine eigene „Checkliste für Widerstandswillige“ enthielt.605 Bereits 1981 hatte die Theologische Fakultät der Universität Zürich eine Stellungnahme zur Kirchenasyldebatte ausgearbeitet. Als Reformierte lehnten die Zürcher Theologen die Vorstellung, dass Kirchen abgelöste sakrale Räume seien, ab. In der Gewährung von Asyl sahen sie jedoch die Möglichkeit, den Staat an die Grenzen seiner Macht zu erinnern.606 Damit war bereits ein entscheidender Gedanke der Schweizer Kirchenasylbewegung gesetzt, der das Rechtsstaatsargument auf den Kopf stellte: Nicht die Kirche stelle hierbei den Rechtsstaat in Frage, sondern der Staat selbst. Das Kirchenasyl wurde als 598 599 600 601 602 603 604 605 606

Vgl. Lukens, Widerstand. Vgl. O. V., Öffentliche Verschwörung. Vgl. Nagel, Flüchtlinge, 25–27. Vgl. Coutin, Culture of Protest, 228. Die Zeitschrift war bereits als Verfechterin der Aufnahme chilenischer Flüchtlinge in der Schweiz aufgetreten, hierzu vgl. Holenstein et. al., Schweizer Migrationsgeschichte, 336; Bolzmann, Chilean Refugees, 280. Allgemein zur Kirchenasylbewegung in der Schweiz vgl. Morgenstern, Kirchenasyl, 110–112. Vgl. Walter, Wegmarken, 251 f. Vgl. Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund, Widerstand, 92 f. Teilabdruck der Stellungnahme der Fakultät in den „Evangelischen Kommentaren“: Asyl in der Kirche? In: EvKo 5/81, 281.

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Mittel zur Offenlegung rechtsstaatswidriger Praktiken des Schweizer Asylregimes interpretiert und so als Beitrag zum Schutz der Rechtsordnung verstanden.607 Noch weitergehendere Konzepte wurden etwa in der Schweizer religiös-sozialistischen Zeitschrift „Neue Wege“ diskutiert.608 Die Praxis des Kirchenasyls sollte als die eigentliche Verteidigung des Rechtsstaates und der Grundrechte gegen den Staat verstanden werden. Auch der Reformierte Weltbund machte sich diese Position auf Grundlage der Schweizer Diskussion im Rahmen seines Konsultationsprozesses zu Asylfragen zu eigen und verlautete, es sei die „besondere weltliche Asylverpflichtung der Reformationskirchen“609, das kirchliche Wächteramt und damit auch ein christliches Widerstandsrecht wahrzunehmen. Diese mächtige Figur der Selbstlegitimierung wurde auch in der Bundesrepublik rezipiert, war jedoch in den Kirchenleitungen nicht konsensfähig.610 Zwar kursierte die Idee von der Kirche als Wächterin über die Rechtsentwicklung auch unter deutschen Akteuren.611 Diese verstanden sich als Verteidiger der Grundrechte und der Ursprungsintention des Grundgesetzes. Für die sich an ökumenischen Vorbildern orientierende Bewegung und ihre Protagonisten spielte zudem die binnenkonfessionelle Differenzierung zwischen Reformierten und Lutheranern anders als für die Kirchenleitungen keine bedeutende Rolle mehr. Für die EKD war eine Positionierung im reformiert-schweizerischen Stil jedoch allein schon aufgrund ihrer heterogenen konfessionellen Struktur nicht akzeptabel. In der Bundesrepublik setzte die vertiefte theologische Diskussion über den Status des Kirchenasyls im Vergleich zum Ausland zudem erst mit einer gewissen Verzögerung ein.612 Deutlich machten das die Reaktionen auf die ersten prominenten Fälle. Nach dem aufsehenerregenden Fall eines von der Polizei geräumtem Kirchenasyls 1984 in Hamburg hatte der zuständige Bischof sich trotz scharfer Kritik an den Innenbehörden auf keine juristische oder theologische Argumentation eingelassen, sondern in einem Pressestatement ausschließlich auf das Gewohnheitsrecht und die in „der Bevölkerung verankerte und bisher immer respektierte Achtung vor Kirchenräumen“613 referiert. Die Studie „Flüchtlinge und Asylsuchende in unserem Land“ erteilte radikalen Kirchenasylkonzepten zwei Jahre später zudem eine klare Absage. Mit dem Rückgriff auf die Aus607 Vgl. Pärli, Ungehorsam, 34 f. 608 Vgl. hierfür einen Artikel aus den „Neuen Wegen“ über die Diskussion zum Papier der Zürcher Fakultät: Schletti, Kirche. 609 Fehle, Asyl- und Flüchtlingsfragen, 153. 610 Im Nachlass von Helmut Gollwitzer im EZA finden sich Artikel aus den „Neuen Wegen“, die die Rezeption der Artikel in der Berliner Asylhilfeszene belegen (EZA Berlin 686/8532). 611 Vgl. eine Tagung in Bad Boll, bei der dieser Gedanke in einem Vortrag entwickelt wurde: Evangelische Akademie Bad Boll, Asylfrage, 77. 612 Vgl. Morgenstern, Kirchenasyl, 112 f. 613 „Mißachtung der Kirche als Zufluchtsort durch Polizei einmalig“. Proteste gegen Abschiebung philippinischer Familie aus Hamburg. In: epd-ZA Nr. 225, 19. 11. 1984, 2.

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führungen der Demokratiedenkschrift wurden Kirchenasylaktionen zu symbolischen Anfragen Einzelner an demokratische Entscheidungen und staatliches Handeln definiert.614 Der kurze Abschnitt wurde grundlegend für die im folgenden Jahrzehnt von der EKD vertretene „individualistische Position“615 zum Kirchenasyl. Dabei folgten die Kirchenasylgruppen nicht zwangsläufig der offiziellen Auffassung. Deutlich wurde das Auseinanderklaffen von Asylhilfegruppen und Kirchenleitungen an den Auseinandersetzungen in West-Berlin, wo der zuständige Bischof Martin Kruse im Umgang mit den engagierten Kirchengemeinden eine Gratwanderung beschreiten musste.616 Kruse verteidigte zwar im Namen der Kirchenleitung den in der Demokratiedenkschrift getroffenen Konsens über das Widerstandsrecht, gestand aber ein, dass der Diskussionsprozess für viele Beteiligte noch nicht abgeschlossen sei.617 Seine Strategie bestand darin, auf der einen Seite den engagierten Gemeinden mit Wertschätzung und Verständnis zu begegnen, andererseits eine rote Linie zu eindeutig illegalen Handlungen zu ziehen, wie etwa dem Verstecken von Menschen vor dem staatlichen Zugriff.618 Während die EKD-Studie für die Individualisierung der Deutung des Kirchenasyls eintrat, zirkulierten in der Kirchenasylbewegung weiterhin unterschiedliche Legitimationsmuster. Michael Mildenberger konstatierte, die deutsche Diskussion über rechtswidriges Handeln aus Gewissensgründen sei im Vergleich zu den USA, der Schweiz und den Niederlanden defensiv und nur auf Ausnahmefälle fokussiert, in denen das staatliche Recht versage: „Es geht mehr um den Umgang mit den Regeln und Möglichkeiten einer Demokratie, die in ihrer rechtsstaatlichen Gestalt von niemandem angezweifelt wird. Die demokratischen Einfluß- und Handlungsmöglichkeiten sollen im Dienste des Schutzes bedrohter Menschen bis zum äußerten ausgereizt, der Staat durch demonstratives Handeln an die Grundrechte erinnert werden, denen er verpflichtet ist und die er selbst trotz formaler Legitimität zu verletzen droht.“619

Auch Jürgen Micksch, der ebenfalls die Sanctuary-Bewegung rezipiert hatte, erklärte im Rahmen von Aktionen für „Pro Asyl“, dass eine Verurteilung oder Geldstrafe im Vergleich zu den Konsequenzen für die Betroffenen, denen bei einer Abschiebung Folter oder Tod drohen würden, kein echtes Opfer seien.620 Micksch verstand Kirchenasyl ebenfalls als eine individuelle religiöse Gewissensentscheidung, die aber zugleich symbolisch die Grenzen des staatlichen Handelns aufzeigen sollte: Vgl. Kirchenamt, Flüchtlinge, 35. Grefen, Kirchenasyl, 155. Vgl. Morgenstern, Kirchenasyl, 215. Schreiben von Bischof Kruse an die Gemeindekirchenräte der Landeskirche Berlin-Brandenburg, 30. 3. 1987 (EZA Berlin 87/2287). 618 Ebd. 619 Vgl. Mildenberger, Asyl, 215. 620 Asyl im Gotteshaus. In: Tutzinger Blätter 1/87, 15.

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„Nur in äußersten Fällen werden Einzelne oder Kirchengemeinden solche Schritte durchführen. Das Kirchenasyl tritt dann neben bestehendes Recht, ohne es außer Kraft zu setzen. Für Christen ist daher das Asylrecht nicht zuerst eine Rechtsfrage, sondern eine Frage an den Glaubensgehorsam gegenüber dem Gott, der in der Bibel ein Schutzherr der Fremden und Flüchtlinge ist.“621

Damit lagen die Positionen innerhalb des bundesdeutschen Protestantismus trotz unterschiedlicher rhetorischer Schwerpunktsetzungen augenscheinlich nah beieinander. Gemeinsamer Anknüpfungspunkt blieb die Betonung der individuellen Gewissens- und Glaubensentscheidung. Auch darin liegt einer der Gründe, warum die individualistische Position der EKD in den 1980er Jahren keinen Grundsatzkonflikt mit den Aktionsgruppen in den Kirchengemeinden auslöste. Anders als in den späteren Phasen, in denen das Kirchenasyl größere Bedeutung erlangen sollte, blieben die Passagen der EKDStudie zu diesem Thema weitgehend unbeachtet.622 Die wenigen Stimmen jenseits christlicher Kontexte boten für radikalere Ansätze zudem keine legitimierenden Anknüpfungspunkte. Als die Kirchenasylpraxis 1988 auch in rechtswissenschaftlichen Zeitschriften diskutiert wurde, kam der Jurist Gerhard Robbers nach Diskussion staats- und kirchenrechtlicher Argumente zu dem Ergebnis, dass das Kirchenasyl im freiheitlichen Rechtsstaat überholt sei und vor allem für innerchristliche Rechtfertigungsprozesse Bedeutung habe.623 Die politische Deutung ihrer Aktionen wollte sich die Bewegung jedoch nicht nehmen lassen. Sie fasste den Legitimitätsbegriff weit und hielt auch Gesetzesverstöße unter bestimmten Bedingungen für vertretbar.624 Anders als die Kirchenleitungen legte sie Wert darauf, ihre Handlungen über die individuelle Gewissensentscheidung hinaus als Anfrage an den Staat oder als Ausdruck der Ausübung eines kirchlichen Wächteramtes zu verstehen. Dafür war der anhaltende Austausch der Bewegung über nationale und konfessionelle Grenzen entscheidend. Diese Entwicklung erreichte mit der „Charta von Groningen“ im Jahr 1987, der gemeinsamen Erklärung christlicher Gruppen zu Kirchenasyl und Flüchtlingsschutz, ihren vorläufigen Höhepunkt.625 Auf ihren Treffen im Rahmen von Akademieveranstaltungen betonten die Akteure weiterhin ihre Kritik an einem schlichten Legalismus und nahmen für sich in Anspruch, den eigentlichen menschenrechtlichen Wertekonsens zu schützen. 621 Jürgen Micksch: „Christen und Asyl“, o. D. (ELAB Berlin G1/1742). 622 Die 1994 vom Rat der EKD veröffentlichten „10 Thesen zum Kirchenasyl“, die inhaltlich an die EKD-Studie von 1986 anknüpften, lösten hingegen erhebliche innerprotestantische Kontroversen aus. Matthias Morgenstern erklärt diese Entwicklung mit den sich wandelnden Kontexten sowie einer weitergehenden Auseinanderentwicklung zwischen kirchlicher Basisbewegung und Teilen der Kirchenleitung. Vgl. Morgenstern, Kirchenasyl, 214 f. 623 Vgl. Robbers, Kirchliches Asylrecht, 51. Für einen weiteren Beitrag eines Verwaltungsjuristen zur Kirchenasylpraxis aus demselben Jahr siehe: Huber, Sanctuary. 624 Vgl. Morgenstern, Kirchenasyl, 277. 625 Vgl. Just, Kirchenasylbewegung, 145–147.

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Der Berliner Altbischof Kurt Scharf sprach davon, man müsse Flüchtlingen notfalls auch gegen „den Buchstaben des Gesetzes“626 helfen. Scharf, der als Zeitzeuge des Kirchenkampfes über besondere moralische Autorität verfügte, forderte, dass Christen im Widerstand gegen staatliche Stellen auch illegal handeln müssten, um ihren Pflichten gegenüber geflüchteten Menschen nachzukommen.627 Im Widerspruch zu den abwägenden Stellungnahmen der West-Berliner Kirchenleitung und der EKD bejahte Scharf die Option, Flüchtlinge im Ernstfall auch vor dem staatlichen Zugriff zu verstecken.628 Die Beurteilung des Kirchenasyls entzog sich zudem in kurzer Zeit der alleinigen Deutungshoheit des Protestantismus und wurde Gegenstand eines ökumenischen Dialogs. Bei einer Tagung in Tutzing im Dezember 1987 trafen evangelische und katholische Theologen zusammen und bekräftigten über die Konfessionsgrenzen hinweg die bisher diskutierten Legitimationsmuster.629 Der weitgefasste Legitimationsbegriff, mit dem sich die Bewegung weiterhin innerhalb des rechtsstaatlichen Rahmens verortete, war neben der binnenkonfessionellen Struktur des deutschen Protestantismus der wohl entscheidende Grund, warum die Widerstandsrhetorik der schweizerischen oder USamerikanischen Vorbilder im Protestantismus der Bundesrepublik keinen großen Widerhall fand.630 Die individualistische Deutung der EKD-Studie verweigerte sich in Abgrenzung zur transnationalen Debatte einer dezidiert politischen Deutung des Kirchenasyls als Widerstandshandlung. Die Betonung des individuellen christlichen Gewissens und des Ausnahmefalls bot zugleich Ansätze für weitergehende Positionen. 4.4.4 Konflikt und Kooperation mit den politischen Parteien Im Verhältnis zu den Parteien setzten sich die bestehenden Tendenzen und Konfliktlinien fort. Während die Beziehungen zwischen Unionsparteien und Protestantismus in der Frage der Aufnahme und Anerkennung von Flüchtlingen von Spannungen geprägt war, suchten die seit 1982 wieder die Opposition stellenden Sozialdemokraten vielfach den Schulterschluss mit den Kirchen. Im Detail gestaltete sich der Austauschprozess jedoch komplexer. Die Unionsparteien bildeten in der Auseinandersetzung keinen geschlossenen Block, auch wenn Innenpolitiker wie Lummer und Zimmermann als Personifizierungen des harten asylpolitischen Kurses das Außenbild maßgeblich prägten. Die Christdemokratie musste sich in der Asyldebatte immer wieder Scharf: Flüchtlinge auch gegen Buchstaben des Gesetzes helfen. In: epd-ZA Nr. 43, 2. 3. 1987, 3. Vgl. Just, Kirchenasylbewegung, 143. Vgl. Passoth, Fremder, 67 f. Theologen: Ziviler Ungehorsam gegen unmenschliche Asylpolitik. In: epd-ZA Nr. 237, 10. 12. 1987, 3 f. 630 Zur Diskussion um die Begriffe „Widerstand“ und „ziviler Ungehorsam“ im Kontext der Kirchenasyldebatten vgl. umfassend Morgenstern, Kirchenasyl, 280–296. 626 627 628 629

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der Frage nach ihrem Verständnis von christlicher Politik stellen. Kritiker nutzten Anspielungen auf das „C“ im Parteinamen, um die Glaubwürdigkeit von CDU und CSU zu erschüttern. Auch parteiintern wurde diese Frage verhandelt, beispielweise im Rahmen des Evangelischen Arbeitskreises (EAK) der Unionsparteien. Dagegen stellten wiederum einzelne Politiker das öffentliche Agieren des Protestantismus in Frage. Bundeskanzler Helmut Kohl galt bei der Forderung nach einer Abschaffung des Asylrechts als zurückhaltend, während vor allem die bayerische Schwesterpartei in dieser Frage politischen Druck ausübte.631 Das galt auch für den Umgang mit den öffentlichen Stellungnahmen. Bei einem offiziellen Gespräch mit dem EKD-Ratsvorsitzenden Kruse kurz nach Veröffentlichung der EKDStudie gab sich der Kanzler gemäßigter als sein Innenminister und ließ durch seinen Sprecher die Bedeutung des Dialogs von Regierung und Kirche in der Asylpolitik betonen.632 Angesichts mitunter scharf geführter Auseinandersetzungen zwischen protestantischen Akteuren und Unionspolitikern in der Asylfrage waren unbefangene Gespräche zwischen hochrangigen CDU- und EKD-Vertretern keine Selbstverständlichkeit mehr. Unionspolitiker reagierten auf Kritik engagierter kirchlicher Gruppen häufig mit Gegenangriffen oder Relativierungen. Der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth wies Kritik beispielsweise mit dem Satz ab, dass die lautstarken „Resolutions-Christen“ doch selbst für die Unterbringung von Flüchtlingen aufkommen sollten, ehe sie den Staat für christliches Handeln in die Pflicht nähmen.633 Schlagabtäusche zwischen Unionspolitikern und kirchlichen Gruppen wiederholten sich und wurden von den Medien als Zeichen der Entfremdung zwischen CDU/CSU und Protestantismus gedeutet. Umgekehrt waren protestantische Akteure daran interessiert, abweichende asylpolitische Stimmen aus dem Unionslager zu stärken. Ein kurzes Gelegenheitsfenster dafür schien sich nach der Bundestagswahl 1987 zu öffnen, als der asylpolitische Kurs und Kampagnenstil auch von einer Gruppe von CDU-Abgeordneten in Frage gestellt wurde.634 Eine besondere Rolle dabei besaß der Arbeitnehmerflügel der CDU, die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA), die innerparteilich für einen moderateren Kurs plädierte.635 Im Januar 1987 wurde ein Positionspapier aus den Reihen der CDA mit dem Titel „Christlich-soziale Positionen für eine rationale und ethisch verantwortbare Asylpolitik“ vorgestellt, das unter Berufung auf die christlichen Wurzeln der Christdemokratie einen von den Innenpolitikern der Partei abweichende Position skizzierte: 631 632 633 634 635

An die Grenzen. In: Der Spiegel 36/1986, 98 f. Kohl spricht mit EKD über das Asylrecht. In: SZ, 12. 9. 1986. Späth kritisiert „unehrliche“ Asylrechtsdiskussion. In: epd-ZA Nr. 237, 8. 12. 1988, 4. Vgl. Bade, Politisch Verfolgte, 414. Zur unionsinternen Rolle der CDA in der asylpolitischen Diskussion vgl. Wirsching, Abschied, 301 f.

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„Es muß ganz besonders Aufgabe der Unionsparteien mit ihrer Bindung an das christliche Verständnis vom Menschen sein, durch eine solche offensive, rationale und ethisch verantwortbare Flüchtlingspolitik die in den vergangenen Jahren aufgetretenen scheinbaren Widersprüche zwischen ethischen Grundsätzen und christlicher Nächstenliebe einerseits sowie praktisch-politischen Erfordernissen andererseits zu überwinden.“636

Das Positionspapier gab der anhaltenden Debatte über die Frage, was christliche Politik sein sollte, neuen Aufwind. Berlins Innensenator Lummer sah in einem möglichen Schulterschluss der CDA mit Kirchen und Oppositionsparteien eine Gefährdung des etablierten asylpolitischen Kurses der Union.637 Vielen protestantischen Akteuren bot es die Gelegenheit, sich angesichts des angespannten Verhältnisses zu den Unionsparteien um einen neuen Dialog zu bemühen. Die Stellungnahmen des CDU-Sozialflügels wurden von protestantischer Seite in Kommentaren herangezogen, um auf den augenscheinlichen Klärungsprozess innerhalb der Unionsparteien über den Begriff der christlichen Politik zu verweisen und den Kurs des Bundesinnenministeriums zu kritisieren.638 Das Diakonische Werk begrüßte das Positionspapier der CDA und bedankte sich schriftlich bei den dahinterstehenden Bundestagsabgeordneten.639 Sogar „Pro Asyl“ versuchte, die Position des CDA positiv zu würdigen.640 Einer der federführenden Abgeordneten hinter dem Positionspapier, der sich kritisch gegen den asylpolitischen Kurs seiner Partei positioniert hatte, wurde zu einer Akademietagung zum Austausch mit Michael Mildenberger eingeladen.641 Anders als die Vertreter des Sozialflügels beanspruchten vor allem CSUPolitiker, eine den christlichen Ansprüchen bereits entsprechende Asylpolitik zu vertreten. Wiederholt versuchten sie, die Diskussion um den Begriff der christlichen Politik in ihrem eigenen Sinne zu prägen. Der CSU-Generalsekretär bezeichnete die Haltung der Kirchen in der Asylfrage in einem Interview als wirklichkeitsfern. Seiner Meinung nach sollte sich die Kirche an der Realität orientieren, dies müsse eigentlich der christliche Standpunkt sein: Es entspräche nicht dem christlichen Gewissen, Flüchtlingen falsche Hoffnungen zu machen.642 Der Vorwurf, die evangelische Kirche würde mit ihrem öffentlichen Agieren ihren eigentlichen Auftrag verfehlen, wurde in der CSU besonders von Peter Gauweiler, dem Münchner Kreisverwaltungsreferenten, 636 Positionspapier „Christlich-soziale Positionen für eine rationale und ethisch verantwortbare Asylpolitik“, Januar 1987 (ADW Berlin PB 976). 637 Vgl. Lummer, Asyl, 35. 638 Ungastliche Republik? In: EvKo 8/88, 430. 639 Schreiben der Diakonie an MdB Alfons Müller und MdB Werner Schreiber, Betreff: Positionspapier, 10. 3. 1987 (ADW Berlin PB 976). 640 Vetter beurteilt Vorschläge der Sozialausschüsse negativ. In: epd-ZA Nr. 44, 3. 3. 1988, 3. 641 CDU-Abgeordneter von Waldburg-Zeil setzt sich für Asylanten ein. In: epd-ZA Nr. 121, 30. 6. 1987, 2. 642 SPD-Abgeordnete weist CSU-Kritik an den Kirchen zurück. In: epd-ZA Nr. 234, 5. 12. 1986, 1.

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vorgebracht. Im „Bayernkurier“ erschien ein Beitrag Gauweilers, in dem er eine tiefgehende Spaltung zwischen amtskirchlicher Führung und einer skeptischen Basis in den Kirchengemeinden diagnostizierte. Als Beleg dienten ihm die angeblich große Zahl zerstrittener Kirchenvorstände. Die EKD-Studie machte Gauweiler dafür verantwortlich, die Spaltung der Gemeinden zu forcieren. Der zentrale Vorwurf lautete, damit werde der öffentliche Auftrag des Protestantismus in der Tradition des Luthertums verfehlt: „Der spezifische Beitrag der Kirche muß sein, den nationalen Konsens in der Asylfrage zu verdeutlichen und an die Fähigkeit der Parteien zur Zusammenarbeit zu appellieren. Einseitige Verdammungsurteile gegen alle, die einer rechtsstaatlich korrekten Unterbindung erkannter Mißstände – auch auf dem Wege einer Grundgesetzänderung – das Wort reden, sind nicht nur ungerecht, sie sind mit dem kirchlichen Auftrag, der Stadt Bestes zu suchen, nicht vereinbar.“643

Ähnlich äußerte Gauweiler sich bei einer thematischen Veranstaltung des EAK der CSU.644 Bei dem Treffen kritisierten die evangelischen Christsozialen die Haltung ihrer Kirche deutlich. Gauweiler beklagte, dass kritischen Stimmen zur Asylpolitik gar abgesprochen werde, überhaupt noch evangelische Christen zu sein.645 Damit wurde der innerprotestantische Rechtfertigungskomplex umgekehrt: Nicht sollten die christsozialen Protestanten ihre Haltung erklären müssen. Vielmehr sei die Gegenseite diskursunfähig, da sie ihrem Gegenüber die Zugehörigkeit zum Christentum abspreche. Mit der Inanspruchnahme der lutherischen Tradition von der Eigengesetzlichkeit der Politik und dem Modell von der Kirche als ausgleichender Moderatorin gesellschaftlicher Konflikte standen zwei protestantische Deutungsmuster zur Legitimation der politischen Linie der CSU zur Verfügung. Eine weitere inhaltliche Auseinandersetzung blieb jedoch aus, da die begleitenden Polemiken den Debattenverlauf dominierten. Ein Vertreter der bayerischen Landeskirche wies Gauweilers Äußerungen als nicht hilfreiche „Anpöbelungen“ zurück.646 Im Frühjahr 1989 wurde das Verhältnis von CSU und Kirchen Inhalt einer Plenardebatte des Deutschen Bundestags. Ein öffentlich gewordener Brief des Parlamentarischen Staatssekretärs im Innenministerium, Carl-Dieter Spranger, hatte für einen Eklat gesorgt.647 Der CSU-Politiker war bereits seit den frühen 1980er Jahre wiederholt im Konflikt mit Vertretern der Kirchen ge-

643 Asyl und Grundgesetz: Klarheit schaffen! In: Bayernkurier, 13. 9. 1986, 1 f. 644 Evangelischer Arbeitskreis: Zwischen Recht und Politik. Diskussion des Asylproblems. In: Bayernkurier, 27. 9. 1986, 4. 645 Ebd. 646 „Anpöbelungen helfen nicht“. Evangelische Kirche betont Sympathie für Asylbewerber. In: SZ, 12. 9. 1986. 647 Zu weiteren migrationspolitischen Positionierungen Sprangers vgl. Herbert, Ausländerpolitik, 277; Wagner, Heidelberger Manifest, 308; Bade, Politisch Verfolgte, 414 f.

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standen.648 In dem Schreiben hatte Spranger die Gegner der vom Innenministerium betriebenen Asylpolitik angegriffen und diesen unter anderem mangelnde Faktentreue, ein zweifelhaftes Rechtsstaatsverständnis und den Missbrauch ihrer gesellschaftlichen Stellung für dubiose Zwecke vorgeworfen. Der Stein des Anstoßes war eine Veranstaltung zur Asylpolitik unter maßgeblicher Beteiligung der Kirchen gewesen. Zu den Adressaten von Sprangers Attacke gehörten neben dem Bevollmächtigten der EKD und dem katholischen Büro auch die Wohlfahrtsverbände und der Sozialflügel der eigenen Schwesterpartei.649 Nachdem das Schreiben öffentlich geworden war, beantragte die Fraktion der Sozialdemokraten eine offizielle Missbilligung von Sprangers Äußerungen durch den Bundestag.650 Für die SPD-Fraktion bot die Parlamentsdebatte die Gelegenheit, sich als politischer Partner der Kirchen und Wohlfahrtsverbände in der Asylpolitik zu profilieren. Umgehend versicherten die sozialdemokratischen Fraktionsspitzen Diakonie-Präsident Neukamm ihren Beistand gegen Sprangers Anschuldigungen.651 Die Rolle der Kirchen in der Asylpolitik wurde damit zum Thema einer Sitzung des Bundestags. Die Plenardebatte zum Missbilligungsantrag uferte in eine Grundsatzdiskussion über die Definition des Christlichen in der Asylpolitik aus. Ein Abgeordneter der Grünen warf Spranger vor, er verstehe die Kirche als eine staatsabhängige Einrichtung und verkenne ihre „christliche Definition als eine Kirche der Armen, der Hilflosen und der Ausgestoßenen“652 vollständig. Die zur Verteidigung Sprangers sprechenden Unionsabgeordneten lobten hingegen den Einsatz der Kirchen bei der Flüchtlingsbetreuung und attackierten im Gegenzug einen nur diffus benannten Personenkreis, der seine eigene Position durch Kirchnähe moralisch überhöhen würde.653 Der EKDPräses Jürgen Schmude, der als SPD-Bundestagsabgeordneter an der Debatte teilnahm, versuchte die Darstellung der Unionsparlamentarier mit einer Zwischenfrage zu den Umständen des Spranger-Briefes in Zweifel zu ziehen.654 Sowohl SPD als auch Unionsparteien versuchten sich in der Debatte als Freunde der kirchlichen Flüchtlingsarbeit in Szene zu setzen. Die Causa Spranger verdeutlicht zudem die komplizierte Situation der kirchlichen Interessenvertretung im politischen Bonn in Asylfragen. Die Absprache zwischen den beiden Kirchen und ihren Wohlfahrtsverbänden über die angemessene gemeinsame Reaktion auf das Schreiben Sprangers gestaltete sich als 648 Schreiben von Rechtsanwalt Becher an MdB Carl-Dieter Spranger, 8. 7. 1981 (EZA Berlin 87/ 2282). 649 Schreiben von PStS Spranger an den Bevollmächtigten der EKD, 7. 3. 1989 (ADW Berlin PB 978). 650 BT-Drucksache 11/4204. 651 Schreiben von Herta Däubler-Gmelin an Präsident Neukamm, 22. 3. 1989 (ADW Berlin PB 978). 652 Sten. Ber. BT 11/137 vom 20. 4. 1989, 10093. 653 Ebd., 10092. 654 Ebd., 10091.

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schwierig.655 Die gemeinsame Stellungnahme blieb betont sachlich und hob den Respekt der Kirchen für die politische Verantwortung der Regierenden hervor.656 Im Schriftwechsel mit dem Diakonie-Präsidenten versuchte der Parlamentarische Staatssekretär seinen skandalisierten Brief als Versuch, die Kirchen vor der Vereinnahmung durch radikale Gruppen zu schützen, zu entschuldigen: „Worum es mir geht, ist, auf jene Funktionäre humanitärer oder kirchlicher Organisationen sowie ihnen nahestehende Politiker hinzuweisen, die ihre Ämter und ihre Nähe zu den Kirchen dazu benutzen, um ihren angreifbaren Thesen zur Asylpolitik den Anschein höherer Moral und Autorität zu verleihen. […] Sie haben weder ein politisches Mandat noch können sie die Einmischung in Fragen der Tagespolitik unter Berufung auf höhere Moral rechtfertigen.“657

Dabei unterließ er es wie sein Parteifreund Gauweiler nicht, auf die fehlende Geschlossenheit des Protestantismus zu verweisen. Spranger sah sich bei seinem Vorgehen durch eine schweigende Mehrheit der Kirchenmitglieder gestützt, die sich ihm gegenüber wiederholt durch eine größere Anzahl von Zuschriften an sein Abgeordnetenbüro artikulieren würde.658 Angesichts der immer wieder aufbrechenden Konfliktlinie zwischen den Unionsparteien und den Kirchen suchten protestantische Akteure vor allem den Kontakt zu den anderen Bundestagsparteien. Die Sozialdemokraten vollzogen weiterhin den in asylpolitischen Auseinandersetzungen seit den 1970er Jahren erprobten Schulterschluss mit dem Protestantismus. Das Themenfeld Asylpolitik war prädestiniert dafür, die Union aufgrund ihrer Konflikte mit den Kirchen vorzuführen. Herta Däubler-Gmelin, die stellvertretende Fraktionsvorsitzende, sagte, es sei maßgeblich dem Engagement der Kirchen zu verdanken, dass die Unionsparteien das Asylrecht noch nicht aus dem Grundgesetz gestrichen hätten.659 Wiederholt stellte die Partei das Selbstverständnis von CDU und CSU als christliche Parteien in Frage und verwies selbstbewusst darauf, dass die SPD die politische Heimat vieler Protestanten sei.660 Auch zu den sich in den 1980er Jahren in den Parlamenten etablierenden Grünen boten sich Annäherungsmöglichkeiten. Viele Forderungen der evangelischen Flüchtlingsarbeit wiesen Schnittmengen mit dem im Bereich Ausländer- und Asylpolitik progressiven Programm der Grünen auf. Zudem verstanden sich die Grünen als parlamentarischer Arm der sozialen Bewegungen und versuchten, die Forderungen der Helfergruppen aufzugreifen. Zwar galt die junge Partei nicht als kirchenfreundlich, in Fragen 655 Aktenvermerk für Präsident Neukamm, Betreff: Brief des PStS Spranger, 6. 4. 1989 (ADW Berlin PB 978). 656 Entwurf eines Antwortschreibens an PStS Spranger, 30. 3. 1989 (ADW Berlin PB 978). 657 Schreiben von PStS Spranger an Präsident Neukamm, 23. 3. 1989 (ADW Berlin PB 978). 658 Ebd. 659 SPD-Abgeordnete weist CSU-Kritik an den Kirchen zurück. In: epd-ZA Nr. 234, 5. 12. 1986, 1. 660 SPD nennt Konzept der „C-Parteien“ überholt. In: epd-ZA Nr. 211, 3. 11. 1986, 12.

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der Ausländer- und Asylpolitik zeigte sie sich aber offen für kirchliche Interventionen. Für Mitarbeiter des Diakonischen Werks führte das zu der skurrilen Situation, dass kirchlich unerfahrene Partei- und Fraktionsmitarbeiter mit Staunen auf die Reichweite und inhaltliche Ausrichtung der kirchlichen Arbeit reagierten. Jörg Lang notierte, die Mitarbeiter der GrünenFraktion seien bei einem inoffiziellen Gesprächstermin sehr interessiert am Austausch gewesen, hätten aber keinerlei Kenntnis von den protestantischen Positionen und der geleisteten praktischen Arbeit innerhalb der Kirche gehabt.661 Der Bundestagabgeordnete Hans-Christian Ströbele stellte nach Erscheinen der EKD-Studie erfreut fest, dass viele der evangelischen Positionen mit denen seiner Partei identisch seien.662 Entsprechend verteidigten auch Abgeordnete der Grünen die Kirchen in der Bundestagsdebatte über die Äußerungen des CSU-Staatssekretärs Spranger.663 Freundlich blieb zudem der Dialog mit der FDP, die sich als Koalitionspartner der regierenden Union in einer komplizierten Ausgangslage befand. Die Liberalen versicherten bei Treffen mit EKD-Vertretern, sich für Verbesserungen der Lebenssituation von Asylbewerbern und gegen eine Änderung des Asylrechtsartikels einzusetzen.664 Die ehemalige Bundestagsvizepräsidentin und Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Liselotte Funcke, war die bedeutendste Politikerin der FDP, die im Austausch mit der evangelischen Kirche über Fragen der Ausländer- und Asylpolitik stand. Funcke, die Mitglied verschiedener EKD-Gremien war, forderte ihre Kirche wiederholt dazu auf, die ausländische Bevölkerung in der Bundesrepublik mit einer öffentlichen Erklärung in Schutz zu nehmen.665 Zumeist ging es ihr dabei aber um allgemeine ausländerpolitische Themen und nicht explizit um Asylfragen. Mehrfach ging Funcke auf Konfrontation mit den Ministern des Koalitionspartners. In einem Interview mit den „Lutherischen Monatsheften“ erläuterte sie, dass sie in ihrem Amt als Ausländerbeauftragte nicht allein die dominierende Linie von Partei und Regierung vertreten wolle.666 Die Kirchen waren für die protestantische FPD-Politikerin erwünschte Partner bei ihren Versuchen, für Veränderungen in der restriktiven Ausländerpolitik des jeweiligen Koalitionspartners zu werben. Intern verlangte Funcke zudem wiederholt Stellungnahmen der EKD-Spitzen zur wachsenden Ausländerfeindlichkeit.667 An ihrer 661 Aktenvermerk von Jörg Lang für Präsident Neukamm, 16. 12. 1986 (ADW Berlin PB 975). 662 Protokoll der Sitzung des Arbeitskreises „Hilfen für Flüchtlinge“ am 24./25. 11. 1986 (ADW Berlin PB 976). 663 Sten. Ber. BT 11/137 vom 20. 4. 1989, 10093. 664 FDP gegen Arbeitsverbot für Asylbewerber. In: epd-ZA Nr. 66, 5. 4. 1989, 4. 665 Funcke: Kirche soll Ausländer in Schutz nehmen. In: epd-ZA Nr. 212, 2. 11. 1983, 4. Ähnliches äußerte Funcke in einem Interview mit den „Evangelischen Kommentaren“: Bleibe im Lande. Gespräch mit Liselotte Funcke. In: EvKo 1/84, 27–30. 666 Für die Integration der Ausländer. Gespräch mit der FDP-Politikerin Liselotte Funcke. In: Lutherische Monatshefte 8/81, 444–447. 667 Schreiben von Liselotte Funcke an Kirchenpräsident Hild, 6. 4. 1982 (EZA Berlin 2/17640).

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isolierten Stellung innerhalb des Bundeskabinettes vermochten diese Kontakte jedoch nichts zu ändern.668 In den sich anhand von Asylfragen entwickelnden Konflikten und Kooperationen zwischen dem Protestantismus und den politischen Parteien in den 1980er Jahren überschnitten sich zwei auf den ersten Blick gegensätzliche Entwicklungen. Auf der einen Seite vollzog sich die von Thomas Mergel beschriebene Entwicklung konfessioneller Bezüge zu einem Mittel der Parteienund Politikkritik.669 Im Gegensatz dazu rangen die Parteien um die Deutung des Begriffs „christlicher“ Politik, bis hin zu dem Umstand, dass konservative Politiker der evangelischen Kirche die Interpretationshoheit über diesen Begriff absprachen. CSU-Politiker wie Spranger und Gauweiler warfen den christlich motivierten Flüchtlingsunterstützern vor, mit der Inanspruchnahme religiös-moralischer Argumente die Grundregeln des demokratischen Streits zu missachten und somit diskursunfähig zu sein. Gleichzeitig versuchten sich Unionspolitiker mit der Behauptung, die EKD und ihre Gremien würden den Protestantismus nicht mehr adäquat repräsentieren, selbst als Stimme einer kritischen Mehrheit der evangelischen Kirchenmitglieder in Szene zu setzen. Umgekehrt versuchten die Sozialdemokraten ebenfalls den Begriff „christlicher“ Politik zu besetzen und sich als Partner der Kirchen zu präsentieren. Teilweise führte diese Gemengelage zu paradox anmutenden Konstellationen. Ursprünglich laizistisch geprägte Parteien wie die FDP und die neu im Bundestag vertretenen Grünen traten als Verteidiger einer politischen Einflussnahme der Kirchen auf und warben für deren öffentliche Intervention. In der Spranger-Debatte berief sich ein Sozialdemokrat sogar auf das zum Kernbestand der christdemokratischen Programmatik gehörige Subsidiaritätsprinzip, um die kirchliche Beteiligung an der Asylpolitik zu legitimieren.670 Christdemokratische Politiker plädierten hingegen dafür, religiöse Argumente und kirchliche Autorität in der politischen Debatte einzuhegen.

4.5 Im Ringen um Solidaritätskonkurrenzen (1988 bis 1990) Zum Ende des Jahrzehnts traten die strukturellen Probleme der westdeutschen Migrationspolitik durch die Überschneidung verschiedener Zuwanderergruppen offen zu Tage.671 Zum einen nahm die Zahl von deutschstämmigen Aussiedlern aus den Staaten Osteuropas zu, zum anderen stieg die Zahl der DDR-Flüchtlinge deutlich an. Im Gegensatz zu den Asylbewerbern waren 668 669 670 671

Union rührte keine Hand für die Ausländerbeauftragte. In: epd-ZA Nr. 135, 18. 7. 1988, 4. Vgl. Mergel, Propaganda, 303. Sten. Ber. BT 11/137 vom 20. 4. 1989, 10088. Vgl. Conze, Suche, 610 und 671.

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sowohl Aussiedler als auch die DDR-Botschaftsflüchtlinge des Jahres 1989 juristisch privilegiert und besaßen ein Anrecht auf die bundesrepublikanische Staatsangehörigkeit.672 Die neu aufflammenden Diskussionen über die Versorgung und Unterbringung der deutschstämmigen Migranten überlagerten teilweise die bisherige Asyldebatte. Für den Protestantismus stellte sich die Frage nach möglichen Hierarchien zwischen den Zuwanderergruppen und der Solidarität. Die Positionen unterschieden sich dabei deutlich. Während die Asylhilfebewegung versuchte, die Asylbewerber mit den Aussiedlern und DDR-Flüchtlingen gleichzusetzen, akzeptierte das Diakonische Werk die bestehende Kategorisierung. Die offiziellen Stellungnahmen der EKD bewegten sich dazwischen und bemühten sich darum, die Konstruktion von Konkurrenzsituationen zu verhindern. Die steigende Zahl der Aussiedler war trotz deren Privilegierung durch das deutsche Staatangehörigkeitsrecht für viele Bundesbürger ein Anlass zur Beunruhigung. Die fehlenden Sprachkenntnisse vieler Aussiedler sowie eine angespannte Situation auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt wurden vielfach als zusätzliches migrationspolitisches Problem wahrgenommen.673 Beide christlichen Kirchen nahmen die Aussiedlerarbeit rasch als neues Aufgabenfeld an. Ihre Stellungnahmen betonten die Notwendigkeit der Fürsorge für die Aussiedler und hoben die landsmannschaftliche Verbundenheit hervor.674 Die EKD-Synode diskutierte die Situation auf ihrer Tagung im November 1988. Ein Bericht des Rates hatte die Richtlinie für die offizielle Position vorgegeben.675 Die besondere Verbindung mit den Aussiedlern wurde affirmiert, während gleichzeitig die bleibende Verpflichtung zur Hilfe für Asylbewerber betont und die Konstruktion einer Konkurrenzsituation für unmoralisch erklärt wurden. Bewusst wurde auf der Synode die Entscheidung getroffen, die Themen Aussiedler und Flüchtlinge aufgrund der Gemeinsamkeiten bei der Integrationsthematik im selben Antrag abzuhandeln.676 Der verabschiedete Beschluss der Synode war das Ergebnis dieser Überlegungen: „Die Synode unterstreicht die besonderen menschlichen, geschichtlichen und rechtlichen Verpflichtungen, die wir gegenüber den Aussiedlern haben. Darunter dürfen jedoch die menschlichen und rechtlichen Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen und Ausländern nicht leiden. Unter ihnen wächst die Furcht, daß die neu auftauchenden Probleme auf ihrem Rücken gelöst werden könnten. Deshalb setzt sich die Synode dafür ein, daß Asylsuchende, Flüchtlinge und Ausländer, die ein Bleiberecht in unserem Land haben, nicht wegen der Aufnahme von Aussiedlern benachteiligt werden.“677 672 673 674 675 676 677

Vgl. Herbert / Hunn, Beschäftigung, 639. Vgl. ebd., 644–646. Vgl. Gatrell, Unsettling, 292. Kirchenamt, Bad Wildungen 1988, 55. Vgl. Kirchenamt, Bad Wildungen 1988, 272. Kirchenamt, Bad Wildungen 1988, 636.

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Die Position der EKD wurde auch von den Leitungen einiger Gliedkirchen vertreten. Einzelne Landesbischöfe gebrauchten vergleichbare Formulierungen, um den Kirchengemeinden und der Pfarrerschaft die Hilfsverpflichtung gegenüber beiden Gruppen in Erinnerung zu rufen.678 Von Seiten der Politik wurde die Erwartung an die Kirchen herangetragen, das Aufflammen möglicher Konkurrenzkämpfe und Neiddebatten mit ihrer moralischen Autorität zu ersticken. Beispielhaft dafür war Gerhard Schröder, der Fraktionsvorsitzende der SPD im niedersächsischen Landtag. Schröder äußerte, dass vor allem die Kirchen die zunehmende Aufspaltung zwischen Aussiedlern und Asylbewerbern verhindern könnten.679 Die kirchenoffizielle Position übernahmen jedoch nicht alle protestantischen Akteure. Das Diakonische Werk eignete sich die Nebeneinanderstellung von Flüchtlingen und Aussiedlern nicht an und adressierte die Solidaritätskonkurrenzen bis auf geringfügige Ausnahmen in seinen Veröffentlichungen nicht. Auf Tagungen der Diakonie wurde die Aussiedlerarbeit als eine für sich alleinstehende neue Aufgabe begrüßt. Zwischen den bisher existierenden Arbeitsfeldern der Flüchtlingshilfe und der neuen Aussiedlerfürsorge wurde eine unverkennbare sprachliche und organisatorische Trennung gezogen. Dafür ausschlaggebend war nicht nur die rechtliche und sozialpolitische Ausgangslage, die eine Zusammenlegung beider Arbeitsfelder nur schwer ermöglichte. Diakonie-Präsident Neukamm bezog sich auch explizit auf die eigene institutionelle Tradition der Hilfe für DDR-Flüchtlinge und Vertriebene in der Vergangenheit und deklarierte die Aussiedlerhilfe zu einer Wiederbelebung dieser.680 Mit Selbstverständlichkeit wurde auf internen Konferenzen betont, dass es sich bei den Aussiedlern um Angehörige der eigenen Nation und Konfession handele, die in besonderer Weise vom „Gesamtschicksal der Deutschen“681 getroffen worden seien. Auf einer Fachtagung wurde nur abstrakt vor dem Schüren von Konkurrenzsituationen und sozialpolitischen Einschnitten gewarnt, ohne speziell andere Migrantengruppen zu benennen.682 Während das Diakonische Werk als professioneller Wohlfahrtsverband die rechtliche Kategorisierung akzeptierte und nicht in Frage stellte, sah die Asylhilfebewegung in der zunehmenden Aufmerksamkeit für die Situation der Aussiedler einen weiteren Beleg dafür, dass die Kategorien des bundesdeutschen Migrationsregimes überholt seien. Die nationale Komponente wurde dabei ausgeblendet und die Bevorzugung deutschstämmiger Aussiedler im Vergleich zu den Asylbewerbern als unlogisch und unmoralisch abgelehnt. Die zunehmende ökumenische Orientierung christlicher Asylhelfer in diesem Zeitraum begleitete eine postnationale Rhetorik. Luise Schottroff äußerte 678 679 680 681 682

Bischof Stoll: Aussiedlern und Asylbewerbern helfen. In: epd-ZA Nr. 223, 18. 11. 1988, 2. Schröder hofft auf „Druck aus beiden Kirchen“. In: epd-ZA Nr. 237, 8. 12. 1988, 6. Vgl. Diakonisches Werk, Protokoll Fachtagung, 7 f. Vgl. Diakonisches Werk Westfalen, Hilfen, 2. Vgl. ebd., 4.

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beispielsweise in ihrem Referat auf der „Pro Asyl“-Veranstaltung auf dem Kirchentag 1987, dass Christen weltweit orientiert seien und somit nationalwie obrigkeitsstaatliche Orientierungen abstreifen müssten.683 Die faktische Rückkehr der Kategorien Nation und Volkszugehörigkeit in der Auseinandersetzung um die Aufnahme von Migranten lief diesem normativen Anspruch diametral entgegen. Die Asylhilfebewegung reagierte darauf mit dem Drängen auf Gleichbehandlung aller Betroffenen. Am deutlichsten formulierte „Pro Asyl“ dies mit der 1988 erhobenen Forderung, die politisch Verantwortlichen müssten die sich bereits in Deutschland befindlichen Flüchtlinge genau wie die Aussiedler behandeln.684 Die Konfliktlinien, die sich im Kontext der Aussiedlerpolitik bereits im Verlauf des Jahres 1988 abgezeichnet hatten, traten 1989 durch die zunehmende Zahl von DDR-Flüchtlingen685 noch deutlicher hervor. Mit der Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze im Sommer 1989 erhielt die deutschdeutsche Migration eine neue Dynamik.686 Mehrere zehntausend DDR-Bürger machten sich auf den Weg in die Bundesrepublik.687 Besondere Aufmerksamkeit erhielt das Schicksal der sogenannten Botschaftsflüchtlinge in osteuropäischen Hauptstädten ab Mitte des Jahres.688 Der Blick der westdeutschen Medien auf die neuen DDR-Flüchtlinge war ambivalent. Vermehrt mischten sich unter die positiven Berichte über die Botschaftsflüchtlinge negative Wahrnehmungen ob der wachsenden Anzahl. In Presseberichten wurde vermehrt Sorgen vor einer verschärften Konkurrenz zwischen Neuankömmlingen und alteingesessenen Bundesbürgern sowie möglichen Verteilungskämpfen geäußert.689 Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ titelte im September des Jahres mit dem Aufmacher „Wohin mit den Flüchtlingen? Die neue Wohnungsnot“ und verknüpfte somit die neue DDR-Fluchtbewegung mit der verschärften Situation des Wohnungsmarktes in den westdeutschen Kommunen.690 Die Rückkehr des Themenkomplexes DDR-Flucht bedeutete für den westdeutschen Protestantismus eine erneute Gratwanderung. Viele Akteure äußerten Sorgen um die Zukunft der ostdeutschen Kirchen sowie der sozialen Versorgung in der DDR und problematisierten zunehmend die Fluchtbewe-

683 Vgl. Schottroff, Christen und Asyl, 113 f. 684 Gleiche Solidarität für Aussiedler und Flüchtlinge gefordert. In: epd-ZA Nr. 175, 12. 9. 1988, 8. 685 Terminologisch wurde in den 1980er Jahren nur im Falle illegaler Abwanderung aus der DDR von Flucht oder Flüchtlingen gesprochen, legale Auswanderer wurden als Übersiedler und Ausreisende bezeichnet. Vgl. Bispinck, Flucht- und Ausreisebewegung, 146. 686 Vgl. Vodicˇka, Botschaftsflüchtlinge, 39 f.; Roesler, Wanderungsbewegung, 32. 687 Vgl. Kimmel, Brüder, 39. 688 Vgl. Bispinck, Flucht- und Ausreisebewegung, 152 f. 689 Vgl. Kimmel, Brüder, 52 und 55 f. 690 Mieten: Urängste werden wach. In: Der Spiegel 38/89, 34–53. Zur Titelseite der Ausgabe vgl. Kimmel, Brüder, 52.

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gung.691 Unüberhörbar war zudem die ablehnende Haltung von Vertretern des ostdeutschen Protestantismus. Die Spitzen der DDR-Kirchen reagierten in erster Linie mit „Trauer und Zorn“692 auf die anhaltende Abwanderungsbewegung. Der Rat der EKD musste bei seiner Stellungnahme zur Aufnahme der DDR-Botschaftsflüchtlinge aus Ungarn den Aufruf zur Hilfe für die Betroffenen mit einer gleichzeitigen Versicherung der Verbundenheit mit den evangelischen Kirchen in der DDR verknüpfen.693 Das veröffentlichte Kommuniqu des Rates stellte beide Aspekte unter Betonung des Verständnisses für die Situation der ostdeutschen Kirchen nebeneinander.694 Die neue Fluchtbewegung wurde einerseits als weitere Bewährungsprobe in der praktischen Hilfsarbeit gesehen. Andererseits wurden vermehrt kritische protestantische Stimmen über die zunehmende Anzahl der DDR-Flüchtlinge laut. DiakoniePräsident Neukamm erklärte, man wolle denjenigen helfen, die sich nach einer Gewissensprüfung zum Verlassen der DDR entschieden hätten, darüber hinaus sei die Fluchtbewegung jedoch schädlich für die Kirchen in der DDR.695 In seinen Stellungnahmen erkannte Neukamm zudem unumwunden die Konkurrenz- und Knappheitssituation an und adaptierte die entsprechende Rhetorik. So sprach er angesichts der Zahlen etwa von einer „Katastrophensituation“, in der die Gesellschaft erst wieder lernen müsse, zu teilen.696 Im Februar 1989 unterstrich der Rat der EKD unter dem Eindruck der ökumenischen Konsultationen die Positionierung der Synode, indem er in einem Pressestatement die Politik zu einer sprachlichen Mäßigung in der Diskussion um die Asylzuwanderung ermahnte und eine Argumentationshilfe zur Situation von „de-facto-Flüchtlingen“ veröffentlichen ließ.697 Am Standpunkt, dass die verschiedenen Migrantengruppen nicht gegeneinander ausgespielt und aufgerechnet werden dürften, wurde festgehalten. Zugleich betonte die Veröffentlichung, es ginge nicht darum, weitere Asylsuchende nach Deutschland zu holen, sondern die in Deutschland lebenden Menschen besser zu versorgen.698 Die EKD-Spitzen waren aber zunehmend ernüchtert über ihren fehlenden Einfluss auf die öffentliche Meinung. Kirchenamtspräsident Otto von Campenhausen antwortete in einem Interview auf die Frage, ob die evangelische Kirche wie im Vorjahr nicht erneut vor dem Schüren von Neidgefühlen und dem Gegeneinanderausspielen der verschiedenen Gruppen 691 „Bedrückend, daß immer mehr Menschen die DDR verlassen“. In: epd-ZA Nr. 215, 6. 11. 1989, 2. 692 DDR-Kirchenbundsprecher begrüßt Regierungsrücktritt. In: epd-ZA Nr. 218, 9. 11. 1989, 3. Zur Ausreisediskussion innerhalb der DDR-Kirchen vgl. Dippel, Menschenrechte. 693 EKD bittet Bevölkerung um Hilfe für DDR-Flüchtlinge. In: epd-ZA Nr. 177, 13. 9. 1989, 1. 694 Kommuniqu des Rates der EKD: Ausreisen aus der DDR, 16. 9. 1989. In: KJ 1989, 147. 695 Diakoniepräsident: Fluchtwelle schwächt DDR-Kirchen. In: epd-ZA Nr. 195, 9. 10. 1989, 9. 696 Neukamm: Wir brauchen jedes Bett für Übersiedler. In: epd-ZA Nr. 220, 13. 11. 1989, 4. 697 Informationsschreiben der EKD zur Sitzung im Februar 1989 (LAELKB Nürnberg LB 798). Der Text der Argumentationshilfe ist abgedruckt in Kirchenamt, Denkschriften, 259–267. Vgl. hierzu auch Büttner, Umkehr, 36 f. 698 Vgl. Kirchenamt, Denkschriften, 262.

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warnen müsste, indem er ausweichend auf die Verantwortung der Politik verwies: „Das ist vor allem eine Anfrage an die Bevölkerung und die Parteien. Kirche geht von der Geschichte des Samariters aus. Sie kümmert sich um den, der unter die Räuber gefallen ist. Insofern darf man in der Tat keine Unterschiede machen, jeder Mensch ist ein Geschöpf Gottes. Die andere Frage ist, wie man mit den aufkommenden Neidgefühlen in der Bevölkerung umgeht.“699

Der große Anstieg der Flüchtlingszahlen aus der DDR im Herbst 1989 sowie der Fall der Berliner Mauer dominierten in den folgenden Monaten die Agenda. Nur vereinzelt kam es zu öffentlich ausgetragenen Konflikten, etwa als die Bremische Kirche einen christlichen Gewerkschaftsverband zurechtwies. Dieser hatte mit der Behauptung, ausgewanderte DDR-Bürger würden in der Hansestadt im Vergleich zu Asylbewerbern benachteiligt, für Aufsehen gesorgt.700 Der protestantische Blick auf die in diesen Monaten eintreffenden DDR-Bürger stand in einer Kontinuität zu den Wahrnehmungsmustern der 1950er Jahre.701 Das Stereotyp des verführbaren und moralisch deformierten Jugendlichen spiegelte sich etwa in Meldungen des Evangelischen Pressedienstes wider, denen zufolge die jungen Ostdeutschen in Pornoläden und Glücksspielhallen verführt würden.702 Auch das mangelnde religiöse Wissen der Kinder wurde beklagt.703 Für einen kurzen Zeitraum flammten bei einigen Spitzenvertretern der westdeutschen Landeskirchen wie Joachim Heubach wieder volksmissionarische Träume von einer Rechristianisierung der in den Westen verzogenen DDR-Bürger auf.704 Diese Deutungsmuster konnten sich jedoch angesichts der realen Erfahrungen nicht halten und wichen nur wenige Wochen später der Enttäuschung über die geringe Zahl von Taufen unter den DDR-Übersiedlern.705 Im Oktober 1990, wenige Wochen nach der Umsetzung der deutschen Einheit, veröffentlichte der Rat der EKD eine weitere Stellungnahme zur Aufnahme von Asylsuchenden, die sich die anhaltende Diskussion um Kapazitätsgrenzen zum Anlass nahm.706 Die Stellungnahme unterstrich unter dem Eindruck der gesellschaftlichen Verunsicherung die christliche Hilfspflicht und das Festhalten am Asylgrundrecht, betonte aber auch die Notwendigkeit politischer Abwägungen und Lösungsmöglichkeiten: 699 „DDR-Flüchtlinge und Aussiedler nicht gegen Asylbewerber ausspielen“. In: epd-ZA Nr. 183, 19. 9. 1989, 13. 700 Bremische Kirche kritisiert christliche Gewerkschafter. In: epd-ZA Nr. 48, 8. 3. 1990, 11. 701 Zum Ost-Diskurs in Westdeutschland 1989/90 vgl. Ahbe, Ost-Diskurse, 108–110. 702 Pornoschuppen ködern DDR-Jugendliche. In: epd-ZA Nr. 246, 20. 12. 1989, 3. 703 Über Karfreitag noch nie etwas gehört. In: epd-ZA Nr. 52, 14. 3. 1990, 3. 704 CVJM will Kontakt zu Aussiedlern und Asylbewerbern. In: epd-ZA Nr. 206, 24. 10. 1989, 12; Hilfe für Kirchen in der DDR. In: epd-ZA Nr. 234, 4. 12. 1989, 11 f. 705 Nur wenige DDR-Übersiedler lassen sich taufen. In: epd-ZA Nr. 141, 25. 7. 1990, 5. 706 Abdruck des Textes bei Kirchenamt, Denkschriften, 268–270.

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„Hier können nicht alle aufgenommen werden. Der Rat bittet die Verantwortlichen in Regierung und Parteien, politische und rechtliche Wege zu suchen, die das Asylverfahren entlasten und andere Möglichkeiten für eine kontrollierte und flexible Wanderungspolitik in Deutschland […] öffnen. […] Nahezu eine Million Menschen sind im letzten Jahr als Übersiedler oder als Aussiedler und Flüchtlinge in den westlichen Teil Deutschlands gekommen. […] Sie aufzunehmen bedeutet eine große Anstrengung. Die Verantwortlichen in den Kommunen stehen vor fast unlösbaren Aufgaben. Die Probleme auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt sind erheblich und führen zu Spannungen in der Bevölkerung, die sich leicht in Aggressionen gegen alle ,Fremden‘ entladen. Ausländischen Menschen, auch den Flüchtlingen, darf jedoch nicht eine Situation angelastet werden, für die sie nicht verantwortlich sind.“707

Direkte moralische Appelle an die Aufnahmegesellschaft enthielt die Stellungnahme des Rates nicht, wenngleich sie das öffentliche Meinungsklima und die Verunsicherung der Bevölkerung als Problem beschrieb. Auch in der Asylhilfebewegung wurden angesichts der dreifachen Überschneidung von Asylbewerbern, Aussiedlern und DDR-Flüchtlingen Sorgen artikuliert. Jürgen Micksch sprach sich als Vertreter von „Pro Asyl“ für eine Steuerung der Zuwanderung aus und betonte, dass die Kirchen nun in der besonderen Verpflichtung seien, der Bevölkerung die christliche Ethik des Teilens zu vermitteln.708 „Pro Asyl“ nutzte den Flüchtlingstag im Oktober 1989, um eine Gleichbehandlung von DDR-Flüchtlingen und Asylbewerbern zu verlangen und die Widersprüchlichkeit der Überlastungsrhetorik der deutschen Politik anzuprangern. Die Stellungnahme der Organisation stellte die Ungleichbehandlung der beiden Gruppen als unhaltbaren logischen Widerspruch dar.709 Herbert Leuninger sah in den DDR-Flüchtlingen indirekt eine Konkurrenz für die ohnehin schon in einer prekären Situation lebenden Asylsuchenden.710 Vergleichbar äußerten sich auch andere Helfergruppen. Der Asylhelferkreis einer evangelischen Kirchengemeinde kritisierte etwa den baden-württembergischen CDU-Innenminister mit dem Argument, dass wer tausende DDR-Übersiedler aufnehmen könne, auch Asylbewerber menschenwürdig unterbringen müsse.711 Auf der Tagung der bayerischen Landessynode kam es zu einer inhaltlich ähnlichen Flugblattaktion Jugendlicher während des Grußworts des Ministerpräsidenten.712 Einzelne Akteure mahnten zudem vor dem Erstarken nationa707 Kirchenamt, Denkschriften, 269. 708 Pro-Asyl-Vorsitzender für „geordnete Zuwanderungspolitik“. In: epd-ZA Nr. 190, 2. 10. 1989, 9. 709 Pro Asyl: Großzügige Aufnahme von DDR-Flüchtlingen als Maßstab. In: epd-ZA Nr. 190, 2. 10. 1989, 6. 710 „Begrüßungsgeld“ auch für Asylsuchende. In: epd-ZA Nr. 225, 20. 11. 1989, 4. 711 Innenminister Schlee Panikmache bei Asylfrage vorgeworfen. In: epd-ZA Nr. 20, 29. 1. 1990, 12. 712 Hilfe für die DDR und Schuldbekenntnis gegenüber Sowjetunion. In: epd-ZA Nr. 234, 4. 12. 1989, 5.

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listischer Töne und brachten ihre Sorge über den Umgang mit den Flüchtlingen zum Ausdruck. Der württembergische Landesbischof warnte in seiner Erklärung zur „Woche des ausländischen Mitbürgers“ vor einer neuen Überbetonung von Volk und Nation und betonte die Pflicht zum Schutz von Fremden.713 Derart deutliche protestantische Stellungnahmen blieben im Herbst 1989 jedoch eine Minderheit. Die Flüchtlingshilfebewegung reagierte mit Zurückhaltung und Skepsis auf die euphorischen Reaktionen nach dem Mauerfall. Dem allgemeinen Freudentaumel wurde der Wunsch nach einer über die nationale Zugehörigkeit hinausgehenden Solidarität entgegengestellt. Symbolisch deutlich wurde dies bei einer von „Pro Asyl“ und einer christlichen Basisgemeinde organisierten Begrüßungsgeldaktion für neu eintreffende Asylbewerber am Frankfurter Flughafen.714 In Anlehnung an die Bilder vom Mauerfall präsentierten die Engagierten der Frankfurter Aktionsgruppe Willkommensschilder, Luftballons und Blumen und schenkten den eintreffenden Flüchtlingen jeweils einen Hundertmarkschein als Begrüßungsgeld.715 Nur für einen kurzen Zeitraum keimten im Verlauf des Jahres 1990 Hoffnungen auf, die Umbruchssituation der Wiedervereinigung im eigenen Sinne etwa bei der Schaffung einer gemeinsamen neuen Verfassung positiv mitgestalten zu können.716 „Pro-Asyl“Geschäftsführer Günter Burkhardt stellte auf einer Bad Boller Tagung 1990 im Rückgriff auf Positivbeispiele aus der DDR-Ausländerpolitik Überlegungen darüber an, wie Minderheiten- und Flüchtlingsschutz sowie Multikulturalismus in Abgrenzung von den Traditionen der Bundesrepublik Platz in der neu zu schaffenden deutschen Rechtsordnung finden könnten.717 Zwar war die Position, dass Aussiedler, Asylbewerber und DDR-Flüchtlinge nicht gegeneinander ausgespielt werden dürften, nominell Konsens im Protestantismus. Jedoch unterschieden sich die jeweiligen Akteursgruppen entscheidend in ihrer Fokussierung und liefen mitunter auch dem selbst gestellten Anspruch der Gleichbehandlung zuwider. Die Solidaritätskonkurrenzen ließen sich nicht auflösen, da die vom bundesrepublikanischen Migrationsregime vorgegebenen Hierarchien zwischen den Migrantengruppen für eine Mehrheit der protestantischen Akteure nicht zur Diskussion standen. Für das Diakonische Werk erschien es folgerichtig, die Kategorisierungen unter Rückgriff auf die identitätsstiftende eigene institutionelle Tradition der Flüchtlingshilfe der Nachkriegsjahrzehnte wiederaufzunehmen. Die Asylhilfebewegung stilisierte die Konkurrenz- und Umbruchssituation zur grund713 Flüchtlinge: Bischof warnt vor „Überhöhung des Volkstums“. In: epd-ZA Nr. 178, 14. 9. 1989, 2 f. 714 Vorgelegtes Weihnachten: „Begrüßungsgeld“ für Asylsuchende. In: epd-ZA Nr. 225, 20. 11. 1989, 5. 715 Ebd. 716 Vgl. Kowalczuk, Übernahme, 75 f. 717 Referat Günter Burkhardt, Bad Boll 19. 5. 1990. In: epd-Dok 32/90, 6. 8. 1990, 32–34, hier: 34. Burkhardt bezog sich dabei auf das kommunale Ausländerwahlrecht sowie den Schutz nationaler Minderheiten in der DDR.

Zwischenfazit

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legenden Identitätsfrage „Nationalstaat oder offene Republik?“718 und sah in deutschen Flüchtlingen und Aussiedlern eine weitere Belastung für ihre Arbeit. Ihre Strategie, die Privilegierung der Aussiedler und DDR-Flüchtlinge als logisch unhaltbar und unmoralisch darzustellen, war über ihre eigenen Kreise hinaus nicht anschlussfähig und stand im Gegensatz zur diskursiven Aufwertung der Kategorie Nation in den späten 1980er Jahren. Die Stellungnahmen der EKD stellten die geäußerten Belastungsszenarien hingegen nicht in Frage und fokussierten sich verstärkt darauf, die Verantwortung an die Politik zu verweisen. Die Veröffentlichungen des weiterhin auf Ausgleich bedachten Rates bejahten nun in einer neuen Deutlichkeit die Notwendigkeit der Steuerung und Kategorisierung der Zuwanderung, um gleichzeitig den Schutz von bereits in Deutschland lebenden Asylbewerbern zu rechtfertigen.

4.6 Zwischenfazit In den 1980er Jahren spannte sich ein weites Spektrum an protestantischen Haltungen zur Asylgewährung und zum Umgang mit Flüchtlingen in der Bundesrepublik auf. Die konfessionelle Differenzierung verlor zunehmend an Bedeutung. Viele der in der Flüchtlingshilfe engagierten kirchlichen Gruppen definierten sich als ökumenisch. Auf Grundlage der bereits bestehenden Strukturen der kirchlichen Ausländer- und Menschenrechtsarbeit sowie einer Vielzahl von Basisgruppen entwickelte sich eine lose organisierte Ansammlung von Helfer- und Aktionsgruppen, die sich angesichts der sukzessiven asylpolitischen Verschärfungen teilweise zu einer Protestbewegung entwickelten und mit anderen gesellschaftlichen Gruppierungen in der breiter aufgestellten Asylhilfebewegung wiederfanden. Der Beginn der Kirchenasylbewegung in West-Berlin im Jahr 1983 war diesbezüglich eine der bedeutendsten Entwicklungen. Zugleich bot der Protestantismus ein Forum für die Asylbewegung. Protestantische Institutionen wie die evangelischen Akademien und der Kirchentag versammelten die diverse Hilfeszene und boten ihr den Raum zur Standortbestimmung und zur Entwicklung von Strukturen. Prominente Beispiele dafür, wie der Protestantismus als Nährboden für die Asylhilfebewegung fungierte, waren der Frankfurter und Berliner Flüchtlingsrat oder die von dem ökumenischen Tandem Micksch und Leuninger mitbetriebene Gründung von „Pro Asyl“ als bundesweite Organisation im Jahr 1986. Die mit der theologischen und sozialwissenschaftlichen Expertise ausgestatteten Wortführer dieser Bewegung prägten über ihre Funktionen maßgeblich die protestantische Positionierung zur Asylpolitik mit und trugen dazu bei, dass die evangelische Kirche neben der katholischen Kirche und Teilen der 718 Titel eines von „Pro-Asyl“-Sprecher Herbert Leuninger und dem Migrationsforscher Klause Bade im Jahr 1990 herausgegebenen Tagungsbandes (Bade/Leuninger, Nationalstaat).

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Gewerkschaften als eine der wortmächtigsten Großinstitutionen für eine liberale Flüchtlingspolitik und die Garantie des Asylrechts im Grundgesetz auftreten konnte. Dieser Kurs wurde weitestgehend von Synode, Rat und Diakonischem Werk gestützt, wenngleich Einzelstimmen wie Joachim Heubach einen restriktiveren Kurs verlangten. In den Zwischentönen legten der Rat der EKD und der neue Diakonie-Präsident jedoch zunehmend Wert darauf, dass die offiziellen Positionierungen keine zu staatskritische Richtung einschlugen, stärker auf einen gesellschaftlichen Konsens abzielten und auch die Existenz von „Asylmissbrauch“ anerkannten. In der Außenwahrnehmung waren es jedoch nicht mehr der Rat oder die Synode der EKD, die für den deutschen Protestantismus sprachen. In den Rezeptionslogiken der Medien fand keine Unterscheidung statt. Die Wahrnehmung fokussierte sich stark auf die Vertreter einer offenen Flüchtlingspolitik, davon abweichende Zwischentöne und innerprotestantische Auseinandersetzungen wurden hingegen kaum erwähnt. Zum vorläufigen Höhepunkt der Asyldebatte in der zweiten Jahreshälfte 1986 wurde dieses Muster besonders an der Rezeption der EKD-Studie „Flüchtlinge und Asylsuchende in unserem Land“ deutlich. Die Studie war die umfassendste protestantische Stellungnahme zur Asylpolitik. Sie war zum einen eine Fortschreibung der in den Vorjahren durch Synodenbeschlüsse etablierten Positionen und kondensierte andererseits die theologischen Grundlagen und Deutungsmuster der protestantischen Flüchtlingshilfe. Der starke Einfluss reformierter Theologie, etwa hinsichtlich der Schöpfungslehre und der Idee vom Wächteramt der Kirche, wurde jedoch nicht tiefergehend ausdiskutiert. Zum anderen gab die Studie mit ihrer Betonung der globalen Dimension des Phänomens Flucht den prägenden Einfluss der ökumenischen Theologie wieder. Die Argumentation für eine Verbesserung der Lebenssituation der in Deutschland lebenden Flüchtlinge stützte sich sowohl auf menschenrechtliche wie auch auf humanitäre Argumente. Protestantische Akteure referierten auf die Universalität der Menschenrechte und auf die Menschenwürde als Kernbegriff des Grundgesetzes. Die Anschlussfähigkeit an religiöse Begründungsmuster wurde dabei vorausgesetzt. Die schöpfungstheologische Herleitung der EKD-Studie berief sich auf die Äquivalenz von Gottesebenbildlichkeit und Menschenwürde, daraus wiederum wurde der Bezug auf die Menschenrechte abgeleitet. Damit wurden die Begriffe und ihre normative Herleitung nicht für identisch, aber für gleichwertig erklärt. Bei der Argumentation für den Schutz abgelehnter Asylbewerber und die Aufnahme von weiteren Flüchtlingen wurde hingegen verstärkt auf die humanitäre Lage der Betroffenen verwiesen. Nur in Ausnahmefällen wurden in der ökumenischen Debatte darüberhinausgehende explizit menschenrechtliche Forderungen im Sinne eines Rechts auf Einwanderung erhoben. Protestantische Akteure bemühten sich zudem kontinuierlich um eine Verbesserung der öffentlichen Wahrnehmung von Geflüchteten. Sie wollten um Verständnis für die Betroffenen werben und Empathie bei der Aufnah-

Zwischenfazit

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megesellschaft wecken. Einerseits trieben sie auf unterschiedliche Weise eine Dekonstruktion des diskursbeherrschenden Stereotyps des „Wirtschaftsflüchtlings“ mit voran. Andererseits konstruierten Vertreter der evangelischen Flüchtlingsarbeit neue Figuren. Zwar wurde die Problematik viktimisierender Darstellungen in Ansätzen problematisiert und verstärkt Wert auf eine die Handlungsmacht der Betroffenen berücksichtigende Perspektive gelegt. Zugleich wurden Flüchtlinge auch in diesem Diskurs als Medium der interkulturellen Begegnung und der christlichen Gotteserfahrung gesehen. Damit wurden sie trotz positiver Intentionen der Unterstützergruppen nicht zu Subjekten gemacht, sondern zu Objekten, die die Bedürfnisse der Aufnahmegesellschaft erfüllen sollten. Ein gesonderter Fall blieben die christlichen Flüchtlinge aus der Türkei und Syrien. Sie waren einerseits für Teile des Protestantismus überhaupt erst der Anlass, sich dem Thema Flüchtlingshilfe zuzuwenden. In den Stellungnahmen der EKD und in der Interessenvertretung durch den Bevollmächtigten und das Diakonische Werk wurde ihre Situation prominent hervorgehoben, wenngleich es für die Mehrheit der Akteure unstrittig blieb, keine Sonderbehandlung für diese Gruppe zu fordern. Für die konservativen Bekenntnisbewegungen innerhalb der Landeskirchen wie auch die Evangelikalen war der christliche Flüchtling hingegen Sinnbild des „echten“ Flüchtlings, dem die institutionelle Aufmerksamkeit zu gelten habe. Diese Gruppierungen betonten besonders die Authentizität der Fluchtgründe ihrer Glaubensgeschwister und grenzten diese von anderen Flüchtlingsgruppen ab. Ihre Ausdehnung des Begriffs der politischen Flucht erstreckte sich ausschließlich auf religiöse Diskriminierung. In den Auseinandersetzungen um die Flüchtlingspolitik kam es innerhalb des Protestantismus zudem zur konträren Weiterentwicklung zweier Rollenmodelle. Der Konflikt zwischen dem advokatorischen Modell der Anwaltschaft für Flüchtlinge und konsensorientierten Konzepten trat immer wieder deutlich hervor. Beide Positionen waren kompatibel mit einem Bekenntnis zur praktischen Flüchtlingsarbeit, verfolgten aber unvereinbare Strategien im Umgang mit staatlichen Stellen und der Politik. Die theologische Legitimierung beider Modelle war von den konfessionellen Traditionen bestimmt. Während die Befürworter einer klaren Parteinahme für Flüchtlinge vor allem von den ökumenischen Konsultationen und der reformierten Theologie beeinflusst waren und mit dem christlichen Engagement in den USA, der Schweiz und den Niederlanden über internationale Vorbilder verfügten, berief sich die Gegenseite auf die Auslegung der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre. Die Konsequenzen für die Selbstverortung waren folgenreich. Während Luise Schottroff die asylpolitische Haltung des Protestantismus in der Konfrontation mit dem Obrigkeitsstaat definierte, sah Peter Gauweiler die Aufgabe in der Wahrung eines nationalen und überparteilichen Konsenses. In der Kirchenasylfrage wurde eine Konfrontation vorerst vermieden, indem die Frage nach der Legitimität des Widerstands gegen rechtsstaatliche Entscheidungen zu einer individuellen Gewissensfrage in Ausnahmesituationen erklärt wurde.

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Die 1980er Jahre stehen damit auch für eine Fortsetzung des Machtverlusts der amtskirchlichen Strukturen über die Definitionshoheit. Auch das Diakonische Werk verlor aufgrund seiner internen Schwierigkeiten im Vergleich zu den 1970er Jahren an Einfluss. Unterschiedlichste Akteure in den Bewegungen oder Parteien versuchten ihre Position mit Referenzen auf das Christentum zu legitimieren. Einzelne Engagierte verwirklichten ihr Verständnis vom christlichen Handeln in den sozialen Bewegungen. Politiker der SPD oder der Grünen nutzten verstärkt Bezüge auf christliches Engagement und kirchliche Positionen. Einige Unionspolitiker beanspruchten hingegen, die tatsächliche und konträr zur kirchlichen Leitungsebene stehende Haltung der evangelischen Kirchenmitglieder zu repräsentieren. Die bundesrepublikanische Identitätsfrage stand dabei über den verhandelten Sachthemen. Für die protestantischen Befürworter einer offenen Asylpolitik war die Verpflichtung zur Flüchtlingshilfe an die historische Verantwortung Deutschlands gebunden. Die neue öffentliche Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit bildete dafür den Rahmen. Der VergangenheitsTopos war dabei in unterschiedlichen Variationen relevant. Neben den Rekursen auf die deutschen Verbrechen und die Intentionen des Parlamentarischen Rats bei der Erarbeitung des Grundgesetzes konnten sich protestantische Akteure auf historische Vorbilder wie den christlichen Widerstand oder negativ auf das moralische Versagen der Kirche beziehen. Die besondere Betonung der historischen Verpflichtung limitierte zugleich den Spielraum für die politischen Forderungen der Flüchtlingshilfebewegung. Überzogene Vergleiche machten sie für ihre Gegner angreifbar. Die Betonung der Ursprungsintentionen des Parlamentarischen Rats waren zwar im Kontext der zunehmenden Forderungen nach einer Änderung des Grundgesetzes verständlich, erschwerten es aber, Fluchtgründe außerhalb der gängigen Definitionen des Politischen als legitim zu vertreten. Die Gleichzeitigkeit der Diskussion über den Umgang mit Asylbewerbern aus den Ländern der „Dritten Welt“ sowie DDR-Botschaftsflüchtlingen, Übersiedlern und Aussiedlern in den späten 1980er Jahren stellte den Protestantismus vor eine weitere Herausforderung. Selbstanspruch und Erwartungen der Politik verlangten eine Positionierung gegen Konkurrenz- und Neiddiskussionen. Angesichts der Realitäten des bundesrepublikanischen Staatsangehörigkeitsrechts gestaltete sich dieses Vorhaben jedoch als nur schwer umsetzbar. Während die Asylhilfebewegung die Orientierung an der Kategorie Nation überwinden wollte und die deutschstämmigen Migranten aufgrund der Privilegierung mit Misstrauen beäugte, affirmierten EKD und Diakonisches Werk diese wiederum, um die Situation der Aussiedler in der Aufnahmegesellschaft zu stärken. Die divergierenden Vorstellungen über die nationale Identität konnten innerprotestantisch nicht aufgelöst werden. Die Folgen dieses ungeklärten Spannungsverhältnisses zu Beginn der 1990er Jahre werden im folgenden Kapitel skizziert.

5. Ausblick: Der Protestantismus und der „Asylkompromiss“ von 1993 Am 25. Mai 1993 debattierte der Deutsche Bundestag unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit die geplante Änderung des Grundgesetzes. Kern des zur Abstimmung stehenden Antrags war die Einführung der sogenannten sicheren Drittstaatenregelung, die den Kreis der Asylantragsberechtigten nach Artikel 16 reduzieren sollte.1 Zwar sollte der ursprüngliche Wortlaut „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ erhalten bleiben, seine Geltung jedoch durch vier ergänzende Absätze eingeschränkt werden.2 Damit fand eine seit den 1980er Jahren andauernde Kontroverse ihr vorläufiges Ende. Die vielbeachtete Plenardebatte zog sich über Stunden und wurde von Protestveranstaltungen und Demonstrationen rund um das Bonner Parlamentsgebäude begleitet. Etwa zehntausend Menschen blockierten das Regierungsviertel, weshalb die Bundestagsabgeordneten größtenteils mit einem Schiff über den Rhein und Hubschraubern zur Sitzung gebracht werden mussten.3 Die Demonstrierenden skandierten in Anspielung auf die rassistischen Gewalttaten des Vorjahres „Wo wart ihr in Rostock?“ und hielten Schilder mit Aufschriften wie „Ja zum Asyl – Nein zum Hass“ oder „Bürger schützen die Verfassung vor Politikern“ hoch.4 In evangelischen Kreisen hatte Tage zuvor ein geplanter Gottesdienst für Aufregung gesorgt. Eine Aktionsgruppe mit dem Namen „Christen pro Asyl“ hatte sich durch mehrere Verwaltungsgerichtsinstanzen geklagt, um in unmittelbarer Nähe der Bannmeile des Parlaments einen „Mahngottesdienst“ abhalten zu können.5 Wolfgang Schäuble, zu diesem Zeitpunkt Fraktionschef der CDU/CSU, kritisierte die geplante Veranstaltung als „Gotteslästerung“6. Der Bevollmächtigte der EKD sah sich zusammen mit seinem katholischen Kollegen dazu veranlasst, in einem Schreiben an den Parlamentarischen Geschäftsführer der Unionsfraktion klarzustellen, dass sie die Instrumentalisierung eigentlich der Versöhnung dienender Gottesdienste für Protestzwecke missbilligten.7 Auf der umstrittenen Gottesdienstfeier, an der nach Presse1 Vgl. zur Parlamentsdebatte und der Vorgeschichte der Grundgesetzänderung Bresselau, Diskurse, 115 f. und 120 f. 2 Art. 16a GG. 3 Demonstranten blockieren Bonner Regierungsviertel. In: SZ, 27. 5. 1993. 4 Exemplarisch zu den Demonstrationen vor dem Parlamentsgebäude: „Nimm deinen Karenztag“. Die Festung Bonn am Tag der Asylabstimmung. In: Der Spiegel 22/1993, 29. 5 Kirchen gehen auf Distanz zu pauschaler Kritik am Asylkompromiß. In: epd-ZA Nr. 98, 24. 5. 1993, 2; Gottesdienst in der „heiligen Bannmeile“. In: epd-ZA Nr. 101, 27. 5. 1993, 4. 6 Ebd. 7 Ebd.

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angaben zwischen 500 und 800 Menschen teilnahmen, wurden die SPD und die beiden Kirchen teils harsch für ihre Haltung zur Grundgesetzänderung und ihren fehlenden Mut kritisiert.8 Nicht nur vor, sondern auch innerhalb des Parlaments war die christliche Haltung zur Asylpolitik ein Thema. Keinesfalls konnte die Rede davon sein, dass das Parlament im Sinne der wortwörtlichen Trennung von Staat und Religion ein strikt säkularer Raum wäre.9 Die Plenardebatte behandelte in mehreren Reden und Zwischenrufen auch wieder die Frage nach der Position der Kirchen und der Bibel im Kontext der Asylkontroverse. Schäuble zitierte in seiner Rede zu Beginn der Aussprache ein gemeinsames Papier der beiden christlichen Kirchen zum Asylrecht und wertete sie als Bestätigung seiner Ausführungen.10 Der Fraktionsvorsitzende von CDU/CSU rief die jüngste gemeinsame Stellungnahme des Rates der EKD und der Bischofskonferenz als verantwortungsethischen Kronzeugen an. Wenn sogar die sonst so flüchtlingsfreundlichen Kirchen eine Gefährdung des gesellschaftlichen Friedens diagnostizierten, wer sollte dann noch den notwendigen Maßnahmen dagegen widersprechen können? Der Bundestagsabgeordnete Jürgen Schmude verkörperte in seiner Doppelfunktion als Präses der EKD-Synode und SPD-Parlamentarier für die Presseberichterstattung das hinter Schäubles Bemerkung stehende Dilemma.11 Sowohl Sozialdemokraten als auch Kirchen, die in den 1980er Jahren Änderungen des Asylrechtsartikels noch strikt abgelehnt hatten, argumentierten nun in dieser Frage abwägend. Schmude vermied es in seiner Rede jedoch gänzlich, auf die Position seiner Kirche zu sprechen zu kommen und rückte rechtspolitische Fragen sowie die Versäumnisse der Union in den Mittelpunkt, um zum Ende jedoch seine Zustimmung zum Antrag zu signalisieren.12 Hingegen uferten andere rhetorische Schlagabtäusche regelrecht in innerkirchliche oder theologische Kontroversen aus. Der PDS-Abgeordnete Gregor Gysi warf den beiden Unionsparteien lautstark Verrat an ihren christlichen Wurzeln vor13 und zitierte hierzu unter erbosten Zwischenrufen aus den Reihen der Unionsabgeordneten die einschlägigen Bibelstellen.14 Von Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth angesichts der Unruhe im Sitzungssaal 8 Demonstranten blockieren Bonner Regierungsviertel. In: SZ, 27. 5. 1993; Gottesdienst gegen Asylkompromiß in Bonner Bannmeile. In: epd-ZA Nr. 101, 27. 5. 1993, 3. 9 Ausführlich zur Rolle von Religion in Bundestagsdebatten vgl. Barbato, Parlament. 10 Sten. Ber. BT 12/160 vom 26. 5. 1993, 13506. 11 Der Konvent der Belagerten. In: SZ, 27. 5. 1993. 12 Sten. Ber. BT 12/160 vom 26. 5. 1993, 13525 f. 13 Hierbei handelt es sich um einen gängigen Topos der parteipolitischen Diskussion über die Asylpolitik in der Bundesrepublik. Parteien mit einem christlichen Anspruch wie CDU und CSU stehen vor der Herausforderung, auf augenscheinliche Widersprüche zu einem christlichen Anspruch hingewiesen zu werden und sich dazu strategisch verhalten zu müssen. Vgl. hierzu Steiner, Arguing, 137 (am Beispiel von historischen Parlamentsdebatten); Goebel, Talkshows, 250–252 (am Beispiel politischer TV-Talkshows). 14 Sten. Ber. BT 12/160 vom 26. 5. 1993, 13515 f.

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ermahnt, konterte Gysi mit dem Satz: „Es ist mir neu, Frau Präsidentin, daß die Bibel im Deutschen Bundestag eine Zumutung ist.“15 Pfarrer Wolfgang Ullmann, Abgeordneter des mit den Grünen fusionierten ostdeutschen Bündnis 90 und einer der einstigen Wortführer der DDR-Bürgerrechtsbewegung, musste auf mehrere Zwischenfragen und Zwischenrufe von CDU und SPD reagieren, die seine Ausführungen ins Lächerliche ziehen sollten. Ob die Bibel nicht eigentlich vorsehe, dass man Flüchtlinge mit Naturalien anstelle von Geld ausstatten solle?16 Ob man als Christ nicht viel eher für Barmherzigkeit als für einklagbare Rechte plädieren müsste?17 Und wieso er nicht die Kirchensteuer für die Bekämpfung von Flüchtlingskriminalität einsetzen wolle, wenn ihm die Bedingungen in den ostdeutschen Gefängnissen nicht passten?18 Als einziger Abgeordneter hatte Ullmann zuvor versucht, an dem umstrittenen Gottesdienst vor dem Parlament teilzunehmen, um so den Schulterschluss seiner Partei mit den Straßenprotesten zum Ausdruck zu bringen.19 Der Theologe bezog sich in seinem Redebeitrag auf die Menschenrechte und die christliche Ethik, nannte Wolfang Schäuble aufgrund seiner Kritik an den christlichen Demonstranten einen „Amateurtheologen“ und verwies darauf, dass der anstehende Kirchentag in München die menschenrechtsfeindliche Asylgesetzgebung thematisieren müsse.20 Bei FDP-Abgeordneten lösten die religiös gefärbten Protestformen hingegen Unbehagen aus. Bundestagsvizepräsident Dieter-Julius Cronenberg verurteilte den Gottesdienst der Demonstranten als übergriffig.21 Wenn diese meinten, „den Herrgott für sich und ihre Meinung gepachtet zu haben“22, disqualifizierten sie sich als Teilnehmer der demokratischen Auseinandersetzung. Einer seiner Parteikollegen ging noch weiter und äußerte unter Verweis auf die laizistische Tradition der Liberalen, die organisierten Proteste gegen die Grundgesetzänderung führten ihm wieder klar vor Augen, dass die Kirchensteuer abgeschafft gehöre.23 Wie unter einem Brennglas bündelte die Plenardebatte im Mai 1993 noch einmal die Streitfragen, die den Protestantismus in den Jahren zuvor beschäftigt hatten. Die Akteurskonstellationen hatten sich jedoch verschoben. In Folge der sozioökonomischen Auswirkungen der Wiedervereinigung und der Eskalation rassistischer Gewalt war die zuvor nur von Konservativen geforderte Änderung des Asylgrundrechts zu einer realen politischen Option geworden. Ulrich Herbert bringt diese Entwicklung mit der Kurzformel von

15 16 17 18 19 20 21 22 23

Ebd., 13516. Ebd., 13557. Ebd. Ebd., 13556. Gottesdienst in der „heiligen Bannmeile“. In: epd-ZA Nr. 101, 27. 5. 1993, 4. Sten. Ber. BT 12/160 vom 26. 5. 1993, 13556. Ebd., 13554. Ebd. Ebd., 13537.

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einer „Asylpolitik im Rauch der Brandsätze“24 auf den Punkt. Die Bundestagswahl 1990 war zudem von einer erneuten Kampagne der Unionsparteien begleitet worden.25 In der Umbruchssituation der frühen 1990er Jahre entfaltete das medial befeuerte Bedrohungsszenario einer von Migration und Wiedervereinigung überlasteten Bundesrepublik besondere Wirkung.26 Warum aber konnten in der Bundestagsdebatte sowohl Befürworter als auch Gegner des „Asylkompromisses“ das Christentum für sich beanspruchen? Viele protestantische Akteure engagierten sich weiterhin für eine offene Asylpolitik. In Reaktion auf die rassistischen Morde von Solingen oder Rostock-Lichtenhagen erlebte die Flüchtlingshilfebewegung eine neue Mobilisierung. Ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis vereinte sich in Lichterketten und bei Demonstrationen.27 An prominenter Stelle erwähnte der „Spiegel“ in einem Artikel über die sich formierende Bewegung „Kirchenjugendliche“ und deren Protestaktionen mit dem Slogan „Jesus war Asylant“28 als Beispiele für die Aktivitäten einer antirassistischen Allianz der Zivilgesellschaft. Anders als die Parolen kirchlicher Jugendverbände waren jedoch die Botschaften, die von der Spitze der EKD zur Asylpolitik geäußert wurden. Ende 1992 hatte der Rat der EKD zusammen mit der katholischen Bischofskonferenz eine in der zeitgenössischen Wahrnehmung von der bisherigen protestantischen Position abweichende Haltung zur Zukunft des Artikels 16 bezogen. Etwa zeitgleich hatten sich die Unionsparteien nach einem langen innenpolitischen Ringen mit den bisher ablehnenden Frei- und Sozialdemokraten auf ein migrationspolitisches Kompromisspaket geeinigt.29 Damit war der Weg für die Änderung des Grundgesetzes frei. Der augenscheinliche Umschwung in der Haltung der EKD ist in den bisher veröffentlichten Forschungsarbeiten zur Asylpolitik der 1990er nur am Rande zur Kenntnis genommen worden.30 Ausgehend von nur wenigen Quellen wurden dabei in den Details divergierende Beobachtungen präsentiert. Matthias Morgenstern zufolge hatte die EKD die Änderung des Grundgesetzes durch „Stillhalten geduldet“ und dabei vor allem Unsicherheit über ihre Rolle im wiedervereinigten Deutschland gezeigt.31 Judith Könemann spricht hingegen nicht von einer Duldung, sondern von einer Zustimmung.32 Ursula Büttner schreibt deutlich von einem „Zurückweichen vor den Gegnern des

24 25 26 27 28 29 30

Herbert, Asylpolitik. Vgl. Bresselau, Diskurse, 115. Vgl. Herbert, Ausländerpolitik, 308; Conze, Suche, 784 f. Vgl. Gatrell, Unsettling, 297. „Jeder streichelt seinen Bimbo“. In: Der Spiegel 1/1992, 56. Vgl. hierzu Herbert, Ausländerpolitik, 315–319. Vgl. Schwarze, Arenen-Verhandlungsmodell, 208 f.; Morgenstern, Kirchenasyl, 212; Könemann et. al., Interessenvertretung, 71 und 149. 31 Vgl. Morgenstern, Kirchenasyl, 212. 32 Vgl. Könemann et. al., Interessenvertretung, 149.

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Grundrechts auf Asyl“33 und sieht darin einen Bruch in der etablierten Entwicklung der protestantischen Positionierung für Flüchtlinge. Ein vertiefter Blick auf die Veröffentlichungen des Rats der EKD zeigt, dass alle diese Beobachtungen Anknüpfungspunkte finden können, die dahinterstehende Entwicklung jedoch nur selektiv und verkürzt beschreiben. Über die genaueren Hintergründe und internen Debatten des Rates der EKD kann zwar in Ermangelung eines Zugangs zu den archivalischen Quellen keine belastbare Aussage getroffen werden, jedoch lassen sich anhand der öffentlich zugänglichen Publikationen und Zeitungsberichte Thesen entwickeln. Eine Schlüsselfigur war der badische Landesbischof Klaus Engelhardt, seit 1991 Ratsvorsitzender. Engelhardt entwickelte in seinen offiziellen Erklärungen eine Position, die stärker auf die Wahrung des gesellschaftlichen Friedens abzielte. Der advokatorische Anspruch, sich für Flüchtlinge einzusetzen, fand zwar weiterhin Erwähnung, wurde jedoch gleichberechtigt neben anderen Gesichtspunkten verhandelt. Die Erklärung des Ratsvorsitzenden der EKD zu den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen versuchte etwa, eine Vielzahl unterschiedlicher Gesichtspunkte zusammenzufügen. Auf der einen Seite stand die Verurteilung rechter Gewalt und eine Kritik an der aggressiven Rhetorik der Debatte um das Asylrecht.34 Die rassistischen Morde von Mölln bezeichnete Engelhardt als „Verbrechen gegen Gott und die Menschen“35, zudem äußerte er sich besorgt über den Fremdenhass in Deutschland. Zugleich betonte der Ratsvorsitzende aber die Notwendigkeit einer politischen Auseinandersetzung über die asylpolitischen Regelungen und eignete sich dabei die verbreitete Diagnose einer durch die Migrationsfrage gespaltenen Gesellschaft an. In der Pressemitteilung der EKD zu Rostock-Lichtenhagen wurde die Asyldebatte beispielsweise als „notwendig“ bezeichnet und eine Spaltung sowie ein Werteverlust der Gesellschaft diagnostiziert, der sich die Politik stellen müsse.36 Auch Engelhardts Weihnachtsbotschaft 1992 nahm Bezug auf die Lichterkettenaktionen in deutschen Städten und die asylpolitische Diskussion. Man dürfe nicht vor rechtsradikalen Gewalttaten zurückweichen, müsse aber bei der Bewältigung der Herausforderungen durch die Zuwanderung auch die Perspektive des Staates mitdenken: „Wir dürfen nicht beiseite stehen, wenn unser Staat das Asylproblem zu bewältigen hat. Jetzt gilt es, das in Gang gekommene Gesetzgebungsverfahren nicht nur mit wachen Augen zu begleiten, sondern auch mit menschlicher Zuwendung

33 Büttner, Umkehr, 37. 34 Erklärung des Ratsvorsitzenden der EKD zu den Ausschreitungen in Rostock, 27. 8. 1992 (EZA Berlin 3/9). 35 Evangelische Kirche: Morde von Mölln ein Verbrechen gegen Gott. In: epd-ZA Nr. 229, 26. 11. 1992, 3. 36 Erklärung des Ratsvorsitzenden der EKD zu den Ausschreitungen in Rostock, 27. 8. 1992 (EZA Berlin 3/9).

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denjenigen Leben mit uns zu ermöglichen, die aus unvorstellbarer Not gekommen sind.“37

Diese Dualität der Betonung von Flüchtlingsschutz einerseits und der Notwendigkeit einer pragmatischen Klärung des asylpolitischen Konflikts andererseits zog sich durch die inhaltlichen Vorstöße des neuen Ratsvorsitzenden. Anders als in den Jahren zuvor wurde nun von protestantischer Seite eine Gleichrangigkeit der Ziele Flüchtlingsschutz und Zuwanderungskontrolle postuliert und der staatliche Blick auf die Flüchtlingspolitik legitimiert.38 Engelhardt vertrat etwa in seinem Bericht auf der EKD-Synode in Suhl, die ansonsten vor allem von der Bewältigung der Wiedervereinigungsfolgen bestimmt war, die Position, dass eine Änderung des Grundgesetzartikels zur Angleichung an europäische Standards bei der Sicherstellung humanitärer und menschenrechtlicher Standards sowie des Individualrechts diskutabel sei.39 Im November 1992 veröffentlichten der Rat der EKD und die katholische Deutsche Bischofskonferenz eine gemeinsame Erklärung, die gezielt vor den Klausurtagungen der drei den Kompromiss tragenden Parteien veröffentlicht wurde.40 Darin unterstrichen die beiden Kirchen die biblische Verpflichtung zum Schutz von Fremden, die Universalität der Menschenwürde und die Forderung nach der Beibehaltung eines Individualrechts auf Asyl. Die politisch Verantwortlichen wurden direkt adressiert: Sie sollten einerseits das Asylrecht für politisch Verfolgte schützen, andererseits Zuwanderung steuern und die „quälende Asyldiskussion“41 beenden. Zugleich äußerte die Erklärung, dass der Verweis auf die Ursprünge des Asylgrundrechts nicht die allgemeine Migrationspolitik bestimmen dürfe, und distanzierte sich somit von dem für die Asylhilfebewegung zentralen historischen Argument.42 Wenige Wochen später bestätigte die SPD auf einem Sonderparteitag ihre Zustimmung zum „Asylkompromiss“.43 Wolfgang Schäuble zitierte wenige Monate später eine Passage zur wachsenden Fremdenfeindlichkeit aus dem kirchlichen Text in seiner Plenarrede bei der entscheidenden Bundestagssitzung. Mitglieder des Rates der EKD äußerten sich positiv über die gemeinsame Erklärung mit der Bischofskonferenz, während beispielsweise die nordelbische Landeskirche, die sich per Synodenbeschluss gegen Änderungen des Artikels 16 ausgesprochen hatte, Kritik übte.44 Harsche Ablehnung äußerte zudem der Reformierte Bund, der den „Asylkompromiss“ als unannehmbar 37 Weihnachtsbotschaft des EKD-Ratsvorsitzenden Klaus Engelhardt, 23. 12. 1992 (EZA Berlin 3 9). 38 Vgl. Just, Zuwanderungspolitik, 124. 39 Kirchenamt, Suhl 1992, 50 f. 40 Kirchen gegen Preisgabe des Individualrechts auf Asyl. In: epd-ZA Nr. 229, 26. 11. 1992, 2. 41 Zit. n. ebd. 42 Ebd. 43 Vgl. Büttner, Umkehr, 29. 44 „Gezänk ist zu Ende“. Reaktionen auf den Asylkompromiss. In: Sonntagsblatt, 11. 12. 1992, 20.

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bezeichnete und großen Schaden für die Kirchen befürchtete.45 Auch aus der Kirche von Berlin-Brandenburg kamen kritische Stimmen, die vor einer Enttäuschung der bisherigen Bündnispartner aus der Flüchtlingshilfe und einem damit verbundenen Ansehensverlust warnten.46 Einige Kommentare gingen zu diesem Zeitpunkt auch noch selbstbewusst davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht eine Änderung des Artikels kippen und der Kompromiss keinen Bestand haben würde.47 Im Februar 1993 veröffentlichte der Rat der EKD eine ergänzende Stellungnahme, die Gedankenstränge der gemeinsamen Erklärung weiterführte. Das in vier Abschnitte untergliederte Positionspapier hinterfragte ebenfalls die Fokussierung auf die historische Begründung: Man müsse zur Kenntnis nehmen, dass die Situation des Jahres 1993 gänzlich anders sei als die 1949 und daraus die entsprechenden Konsequenzen ziehen.48 Zudem betonte die Erklärung die Dilemmasituation für die Politik und erkannte damit explizit die Eigengesetzlichkeit der Politik an: „Maßnahmen zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung haben die unausweichliche Folge, daß Menschen in Not zurückgewiesen werden. Dies ist eine Belastung des Gewissens – und zwar unmittelbarer und massiver als durch die Tatsache, daß die Bevölkerung der Herkunftsländer weiterhin und seit langem in Not lebt. Aber wir befinden uns in einem Dilemma, dem sich niemand entziehen kann: Wer keine wirksamen Maßnahmen zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung ergreift, der setzt den sozialen, inneren Frieden einer starken Belastung und zunehmend einer Gefährdung aus. Verantwortliche Politik muß vorausschauend handeln und einer erkennbaren Gefährdung rechtzeitig begegnen. Gerade der politische und moralische Wille, die Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen und Zuwanderern zu erhalten und stärken, erfordert es, diese Überlegungen anzustellen. In dem beschriebenen Dilemma gibt es keine Möglichkeit, reine Hände zu behalten. Die Auseinandersetzung kann sich nur darauf beziehen, was der relativ bessere Weg und somit das kleinere Übel ist.“49

Der Rat der EKD verteidigte damit einerseits die Befürworter der Grundgesetzänderung, um ihnen andererseits weitere außen- und entwicklungspolitische Verpflichtungen aufzuerlegen: „Die Umsetzung wirksamer Maßnahmen zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung wird moralisch umso erträglicher, je stärker die Politik gleichzeitig in kurz-, mittel- und langfristigen Schritten daran arbeitet, die Flucht- und Migrationsursachen zu beseitigen und in den Herkunftsländern eine menschenwürdige Zukunft zu ermöglichen. Die Verantwortung für Menschen, die zurückgewiesen werden, hört an der Grenze nicht auf. […] Und dennoch – auf dem 45 46 47 48 49

Reformierter Bund kritisiert Asylkompromiß als unannehmbar. In: epd-ZA Nr. 8, 13. 1. 1993, 2. Vgl. hierfür die Beispielquellen bei Könemann et. al., Interessenvertretung, 149 f. Notoperation Asyl. In: Sonntagsblatt, 11. 12. 1992, 1. Erklärung zur Neuregelung des Asylrechts des Rats der EKD, 26./27. 2. 1993 (EZA Berlin 3/9). Ebd.

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außenpolitischen, wirtschaftspolitischen und entwicklungspolitischen Feld ist eine neue, große Anstrengung nötig, dem Ausbruch von Gewalt und Krieg zu wehren, die Menschenrechte in stärkerem Maße durchzusetzen und gerechtere, ökologisch verträglichere wirtschaftliche Verhältnisse zu schaffen. Eine Politik, die wohl den ,Asylkompromiß‘ umsetzt, aber bei der Bekämpfung der Fluchtursachen säumig bleibt, muß den Widerspruch der Kirchen und Christen herausfordern.“50

In der Rezeption gingen die Forderungen zur Außen- und Entwicklungspolitik unter. Kritiker bezogen sich ausschließlich auf die Betonung der Dilemmasituation und das geäußerte Verständnis für die verantwortlichen Politiker. In ihrer Wahrnehmung hatte sich die EKD das Argument der Unionsparteien angeeignet, dass das liberale Asylrecht mitverantwortlich für die Zunahme der Ausländerfeindlichkeit sei.51 Mehrere Gliedkirchen distanzierten sich von der Veröffentlichung. Das Leitungsgremium der bremischen Kirche forderte den Rat der EKD indirekt zur Rücknahme der Stellungnahme auf.52 Auch die Landessynoden von Hessen-Nassau und Berlin-Brandenburg wiesen den „Asylkompromiss“ zurück und forderten die Bundestagsabgeordneten und den Bundesrat dazu auf, ihn abzulehnen.53 Eine Initiative von Pfarrern warf dem Rat Anbiederung an die Mächtigen vor und sprach ihm sogar die Legitimation ab, sich im Namen der evangelischen Kirche zu dem Thema zu äußern.54 In der „Jungen Kirche“ hieß es, der Rat hätte besser geschwiegen oder sich auf das Wächteramt der Kirche besonnen, anstelle die phrasenhaften Schlagwörter der Politiker zu übernehmen.55 Nach der entscheidenden Abstimmung des Bundestags über die Grundgesetzänderung Ende Mai 1993 bezeichnete die EKD den „Asylkompromiss“ dennoch weiterhin als notwendig.56 Der Pressesprecher der EKD äußerte sich zudem zur innerkirchlichen Diskussion und stellte die beiden protestantischen Positionen nebeneinander: „Eine lange und quälende Diskussion um das Asylrecht ist endlich zu einem parlamentarischen Abschluss gekommen. Das Gesetz ist ein Kompromiß. Kompromisse lösen keine Begeisterung aus, aber sie sind politisch notwendig. Die Resonanz in der evangelischen Kirche auf diese Entscheidung wird zwiespältig sein. Weiterhin werden die einen den Kompromiß kritisieren und darauf hinweisen, daß Deutschland nun gegen Asylsuchende abgeschottet sei. Die anderen tragen den Kompromiß mit in der Erwägung, daß immer auch die Folgen des Handelns für das Gemeinwesen mitbedacht sein müssen. […] Die evangelische

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Ebd. Vgl. zu Argumentation von CDU/CSU in diesem Kontext: Bresselau, Diskurs, 122. „Einseitige Einmischung in die Tagespolitik“. In: Junge Kirche 4/1993, 231. „Asylkompromiß verletzt christliches Gewissen“. In: Junge Kirche 5/1993, 297 f. Von der Haltung der EKD zum Asylkompromiß distanziert. In: Junge Kirche 7/1993, 372. Endlich ist Deutschland europafähig. In: Junge Kirche 4/1993, 202. Asylentscheidung: „Keine Begeisterung“ in den Kirchen. In: epd-ZA Nr. 102, 28. 5. 1993, 3.

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Kirche sieht das Dilemma der Abwägung zwischen dem individuellen Grundrecht auf Asyl und der Bewahrung des sozialen inneren Friedens.“57

Während in den 1980er Jahren der Umgang mit den Asylbewerbern als Gewissensfrage galt, betonten die Stellungnahmen der EKD nun die Verantwortung der Politik für das Gemeinwohl. Zwischen den Gliedkirchen verlief nach der Verabschiedung der Grundgesetzänderung ein Riss. Einige, sowohl west- als auch ostdeutsche, stützten die Linie der EKD, andere bezeichneten die Grundgesetzänderung als Blamage.58 Strikt ablehnend äußerte sich die Konferenz Europäischer Kirchen.59 Auch in der evangelischen Publizistik wurde die Position der EKD überwiegend negativ bewertet. Das „Sonntagsblatt“ kritisierte die Änderung des Grundgesetzes als falsche Symbolpolitik.60 In einem Leitartikel wurde resignierend bilanziert, die evangelische Kirche habe in der Asyldebatte parallel mit der SPD „scheibchenweise Grundsatzpositionen einem scheinbaren Pragmatismus preisgegeben“61 und sich damit von ihren alten Idealen verabschiedet. Emotionale Reaktionen kamen von den Gruppen der Asylhilfebewegung, die im Umschwenken ihrer einstigen engen Verbündeten ein unverzeihliches Umfallen sahen.62 Viele christliche Basisgruppen sahen in der Grundgesetzänderung eine dramatische Niederlage.63 „Pro Asyl“-Sprecher Leuninger attackierte beide Kirchen für ihre geänderte Haltung und warf ihnen vor, mit ihren abwägenden Positionen Mitschuld an der Schleifung des Asylrechts zu haben: „In der bisherigen Art der Arbeit stand dabei trotz aller Schwierigkeiten im Vordergrund, daß die Kirche Stimme der Stimmlosen ist, sein muß, Stimme der Menschen, die in dieser Gesellschaft nicht angemessen vertreten werden. Doch die gemeinsame Erklärung der katholischen und der evangelischen Kirche vom 26. November 1992 rückt von diesem Prinzip ab und ersetzt die Loyalität gegenüber den Menschen, den Flüchtlingen, durch weitgehende Loyalität gegenüber den großen Parteien. Die Kirchen haben die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl abgesegnet.“64

Auch der „Tag des Flüchtlings“ im Herbst 1993 stand noch unter dem Eindruck der Ereignisse der vergangenen Monate. Das Motto „Dem Unrecht

57 Stellungnahme des Pressesprechers der EKD zum Asylkompromiß, 27. 5. 1993 (EZA Berlin 3/ 9). 58 Asylentscheidung: „Keine Begeisterung“ in den Kirchen. In: epd-ZA Nr. 102, 28. 5. 1993, 3 f. 59 Ebd. 60 Der Streit um ein Symbol ist zu Ende. In: Sonntagsblatt, 28. 5. 1993, 1. 61 Immer mittendrin. In: Sonntagsblatt, 11. 6. 1993, 1. 62 Vgl. Büttner, Umkehr, 39; Rethmann, Stellungnahmen, 198. 63 Zwischenruf. In: Junge Kirche 7/1993, 329. 64 Weiter so, bis ein sympathischer Diktator kommt? Interview mit Herbert Leuninger. In: PublikForum Nr. 12, 25. 6. 1993, 10.

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widerstehen – Flüchtlinge schützen“ war unzweifelhaft als Kritik an der Grundgesetzänderung zu verstehen.65 Wenngleich die historische Erforschung der Entwicklungen der frühen 1990er Jahre noch in den Anfängen steckt, zeichnen sich bei der Bewertung der Ursachen der rassistischen Gewalt in den Jahren nach der Einheit klare Tendenzen ab.66 Die Wiederkehr der nationalen Frage grenzte Ausländer von der deutschen Identitätssuche aus.67 Der sich aus dem Zusammenwirken von unterschiedlichen west- und ostdeutschen Faktoren entwickelnde „Vereinigungsrassismus“68 traf besonders die Asylbewerber. Die nicht aufgelöste Asyldebatte der alten Bundesrepublik wurde in einer neuen Dynamik fortgeführt.69 Die Verteidiger des Asylrechts waren jedoch nicht ausreichend dazu in der Lage, auf die gewandelte Situation zu reagieren und entscheidend Einfluss auf die gesellschaftliche Stimmung und die politische Entscheidungsfindung zu nehmen. Die Politikwissenschaftlerin Susan Schwarze spricht hierbei von einer Spaltung der „Interessenskoalition“ aus Menschenrechtsorganisationen, Kirchen, UNHCR und Protestgruppen infolge des zunehmenden politischen Drucks der frühen 1990er Jahre.70 Aufgrund des gestiegenen Einflusses der auf Änderungen drängenden Kommunen seien diese bei den politischen Parteien nicht mehr durchgedrungen.71 Die bisher veröffentlichten zeithistorischen Untersuchungen sehen zudem eine Ursache darin, dass viele Protagonisten der Flüchtlingshilfebewegung mit ihren Argumenten und politischen Strategien an den Entwicklungen vorbeisteuerten. Am Beispiel der westdeutschen Grünen werden dabei etwa die fast ausschließliche Fokussierung auf moralische Forderungen sowie die mangelnde Thematisierung und teilweise Tabuisierung von realen sozial- und integrationspolitischen Problemen benannt.72 Vor dem Hintergrund dieser Ausgangslage ließen sich nationalstaatliche Interessen argumentativ leichter gegen universelle Legitimationsmuster vorbringen. Wenngleich der Rat der EKD nicht von nationalstaatlichen Interessen sprach, reflektierte er diese Aspekte unter der Überschrift „gesellschaftlicher Frieden und Zusammenhalt“ und betonte im Vergleich zu den Erklärungen der 1980er Jahre stärker die Differenzierung zwischen der Eigengesetzlichkeit der Politik und dem Anspruch der christlichen Ethik. Insbesondere eignete er sich die bis dahin im protestantischen Asyldiskurs kaum verbreiteten Gefahren-Topoi an, die etwa

65 66 67 68 69 70 71 72

Plakat zum Tag des Flüchtlings 1993 (EZA Berlin 513/377). Vgl. zur Einschätzung des aktuellen Forschungsstandes: Frei et. al., Zur rechten Zeit, 163 f. Vgl. Möhring, Mobilität, 396. Frei et. al., Zur rechten Zeit, 173. Ergänzend zu dieser Entwicklung vgl. die Überlegungen von Kowalczuk, Übernahme, 220 f. und 233. Vgl. ebd., 165 f. Vgl. Schwarze, Arenen-Verhandlungsmodell, 225 f. Vgl. ebd. Vgl. Bresselau, Diskurse, 126; Wirsching, Abschied, 306; Herbert, Ausländerpolitik, 312.

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die Bedrohung der gesellschaftlichen Stabilität in den Mittelpunkt rückten.73 Auch der eng mit dem Asylgrundrecht verbundene bundesdeutsche Identitätsdiskurs hatte sich verschoben und musste nun unter veränderten Bedingungen geführt werden. Seine historische Grundlegung, die schon zuvor auf keinen gesellschaftlichen Konsens hatte bauen können, war nicht nahtlos auf die neue Situation übertragbar.74 Der Versuch, die unterschiedlichen Ansprüche an die Asylpolitik sowie die Erwartungshaltungen gegenüber der evangelischen Kirche in Gestalt abwägender Äußerungen zusammenzubringen, scheiterten an der Rezeptionslogik: Die rahmenden Forderungen nach einer neuen Außen- und Entwicklungspolitik wurden nicht zur Kenntnis genommen. Die zeitgenössischen Reaktionen täuschen darüber hinweg, dass die Positionierung des Rates keine neuartige Abweichung darstellte, sondern in der etablierten Tradition der beiden zentralen Stränge des protestantischen Asylpolitikdiskurses stand. Das ungeklärte Nebeneinander des advokatorischen und des ausgleichend-moderierenden Modells hatte sich unter den veränderten Rahmenbedingungen zugespitzt. Durch die deutsche Einheit und deren vielfältige wirtschaftliche und gesellschaftliche Herausforderungen erlangte der Aspekt des nationalen Interesses wieder an Präsenz und an neuer argumentativer Bedeutung. Für den Protestantismus stellte die Situation nach 1990 eine mehrfache Herausforderung dar. Die Rufe nach einer mehr auf Abwägung bedachten, gegenüber der Regierungspolitik dialogbereiteren Position waren in den 1980er Jahren in unterschiedlichsten Formen wie kurzen Einwürfen auf der Synode, den Kontroversen um die Interviewäußerungen des Diakonie-Präsidenten oder Bischof Heubachs Zwischenrufen schon präsent gewesen. Besonders der Rat der EKD hatte in den 1980er Jahren bereits in den Details der Formulierungen eine asylpolitische Position bezogen, die anders als etwa die Verfasser der Studie den „Asylmissbrauch“ als ein nicht relativierbares Problem beschrieben. Die innerprotestantischen Abweichungen, die in der Rezeption der Studie im Jahr 1986 keine Beachtung gefunden hatten, erlangten unter den veränderten Konstellationen der frühen 1990er Jahre neue Relevanz. Nun beanspruchte der Rat die Deutungshoheit und überließ die inhaltliche Ausarbeitung der protestantischen Position nicht mehr den eigenen Experten für Flüchtlingsarbeit. Die Wiedervereinigung führte zudem zu einer neuen Betonung der auf den Nationalstaat bezogenen Topoi Dilemma und gesellschaftlicher Frieden. Der entscheidende Wechsel fand dabei im protestantischen Selbstverständnis statt. Die ungeklärten Fragen nach der Haltung des Protestantismus zum Spannungsverhältnis zwischen dem exkludierenden Nationalstaat und der globalen Ökumene standen 73 Wengeler rechnet darunter den Topos der inneren Stabilität, den Ausländerfeindlichkeits-Topos und den Extremisten-Topos. (Wengeler, Topos, 327 und 331). 74 Zur Problematik des NS-Rekurses im Kontext der Argumentation von Asylhilfebewegungen vgl. Schrover / Moloney, Conclusion, 260.

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dabei weiterhin im Raum. Für den Rat der EKD lag die Perspektive der Politiker des wiedervereinigten Landes näher als die bisher beanspruchte Anwaltsrolle.75 Der Wunsch nach einer Wiederherstellung der deutschen Einheit hatte zwar im Protestantismus an Einfluss verloren, war aber nie verschwunden. Die Nachricht vom Mauerfall überraschte die Synodalen während ihrer Tagung im November 1989. Freude und Staunen prägten die Wortmeldungen im Plenum der Synode nach der Nacht der Grenzöffnung.76 Wenige Tage zuvor hatte erst der Chef des Bundeskanzleramts den Synodalen in seinem Grußwort im Namen der Bundesregierung dafür gedankt, die Verbundenheit der evangelischen Christen in West- und Ostdeutschland hochgehalten zu haben.77 Auch Präses Jürgen Schmude unterstrich trotz Skepsis gegenüber Forderungen nach einer schnellen Wiedervereinigung den Stellenwert des Protestantismus für die Verbundenheit zwischen Ost- und Westdeutschland.78 Stolz wurde in den Wochen nach dem Mauerfall und der friedlichen Revolution etwa vom Präses der rheinischen Kirche der Selbstanspruch erhoben, die „wirksamste Klammer zwischen den beiden deutschen Staaten“79 gewesen zu sein. Im Jahr 1990 setzte im Kontext der Einheitsfrage im Protestantismus eine neue Diskussion um die Haltung zur Nation ein.80 Die Positionen reichten von Warnungen vor einer Wiederauferstehung des diskreditierten Nationalprotestantismus bis hin zur Forderung, die vernachlässigten Kategorien Volk und Nation einer neuen theologischen Reflexion zu unterziehen.81 Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die staatsaffirmierende Haltung der Erklärungen des Rates 1992 und 1993 verorten. Auf der anderen Seite hatten sich viele protestantische Gruppen aus dem Umfeld der sozialen Bewegungen in den 1980er Jahren dezidiert postnational aufgestellt. Viele Westdeutsche hatten eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten in der näheren Zukunft für unrealistisch gehalten.82 Für postnational orientierte Akteure, die sich einer Utopie der Überwindung nationaler Grenzziehungen im Geist der Ökumene verschrieben hatten, bedeutete die neue Entwicklung eine enorme Herausforderung.83 Die Schwierigkeiten beim Austarieren der Solidarität mit den verschiedenen Flüchtlingsgruppen des Jahres 1989 hatten diese Tendenzen bereits angedeutet. Die Kategorie Natio75 76 77 78 79 80 81 82 83

Vgl. Just, Zuwanderungspolitik, 125. Vgl. Kirchenamt, Bad Krozingen 1989, 409 f. Vgl. ebd., 38. Zweimal Deutschland. Gespräch mit Präses Jürgen Schmude. In: EvKo 12/89, 30 f. „Kirche ist Klammer zwischen beiden deutschen Staaten“. In: epd-ZA Nr. 222, 15. 11. 1989, 1. Für einen Überblick zu den Diskussionen in diesem Zeitabschnitt vgl. Lepp, Tabu, 935–937. Vgl. Hanke, Deutschlandpolitik, 446–449. Vgl. Hacke, Bundesrepublik, 45; Conze, Suche, 621 f.; Kowalczuk, Übernahme 91 f. Katharina Kunter spricht hierbei von einer „Störung“ des konziliaren Prozesses durch die Wiedervereinigung und einem vorläufigen Ende der mit ihm verbundenen Utopien. Siehe: Kunter, Hoffnungen, 205 f.

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nalstaat, über deren Sinnhaftigkeit Michael Mildenberger Anfang 1989 noch mit dem Bundesinnenminister hatte diskutieren wollen, besaß nun wieder den zentralen Stellenwert und bestimmte den bundesrepublikanischen Identitätsdiskurs. Mit Argumentationsfiguren, die auf postnationalen Ideen aufbauten, war die ohnehin in einer schwierigen Ausgangssituation stehende Asylhilfebewegung nicht dazu in der Lage, den herrschenden gesellschaftlichen Diskurs in ihrem Sinne zu prägen. Am deutlichsten hatte der Sturz der gegenüber der deutschen Einheit skeptischen Grünen unter die Fünf-ProzentHürde diese Entwicklung bei der Bundestagswahl 1990 deutlich gemacht.84 Das nationalkonservative Spektrum sah sich hingegen bestätigt und erklärte die multikulturelle Bewegung für gescheitert. Asylpolitische „Hardliner“ wie Heinrich Lummer sahen sich im Aufwind und in der Wiedervereinigung den endgültigen Beleg dafür, dass die linken Intellektuellen und Befürworter eines bunten Deutschlands sich mit ihrem „Nationalmasochismus“85 nicht hätten durchsetzen können. Diese Entwicklung fand in der Grundgesetzänderung von 1993 ihren vorläufigen Höhepunkt. Innerhalb des Protestantismus war die Diskussion um die Positionierung des Rates aber bereits beendet, als sich die Synode zum Jahresende wieder zum advokatorischen Rollenmodell bekannte und die kirchliche Pflicht zum Eintreten für Flüchtlinge betonte.86 Damit begann eine neue Phase, die angesichts der veränderten Rechtslage nun vor allem von der Kirchenasylfrage bestimmt wurde.87

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„Jetzt geht es erst richtig los“. In: Der Spiegel 49/1990, 15. Vgl. Lummer, Asyl, 33 f. Vgl. Büttner, Umkehr, 39 f. Die kirchlichen Positionen zur Asylpolitik ab 1993 und der neu ansetzenden Kirchenasylbewegung sind im Kirchlichen Jahrbuch 1994 dokumentiert. Siehe KJ 1994, 84–123.

6. Schlussbetrachtung Ziel der Arbeit war, die Positionierung des Protestantismus im gesellschaftlichen Konfliktfeld Flüchtlingsaufnahme und Asylgewährung zu rekonstruieren und seine Argumentations- und Aktionsformen sowie die von ihm reproduzierten Flüchtlingsfiguren zu untersuchen. Zum Schluss muss daher die Frage beantwortet werden, welche Faktoren und welche diskursiven Kontinuitäten und Brüche die Beteiligung des Protestantismus an den öffentlichen Debatten geprägt haben. Welche Verbindungen lassen sich zwischen Personen wie Karl Ahme und Michael Mildenberger oder Gremien wie dem Flüchtlingsbeirat der späten 1950er Jahre und der „ad-hoc-Kommission“ der EKDStudie von 1986 ziehen? Gibt es Kontinuitäten zwischen der Ungarn-Hilfe des Evangelischen Hilfswerks, den Chile-Solidaritätsaktionen der Studentengemeinden und den Aktionsgottesdiensten vor dem Bonner Parlament im Mai 1993? Für den untersuchten Zeitraum lassen sich trotz der abweichenden Rahmenbedingungen der jeweiligen historischen Ereignisse und der Heterogenität des Protestantismus mehrere übergreifende Beobachtungen festhalten. Diese Befunde werden nach folgenden Schwerpunkten vorgestellt: Entwicklungstendenzen und Akteurskonstellationen, Argumentationsformen und Deutungsmuster, Flüchtlingsfiguren sowie Selbstverständnis und politische Einflussnahme. Daran anschließend werden Forschungsdesiderata benannt. Entwicklungstendenzen und Akteurskonstellationen Treibende Kräfte der flüchtlingspolitischen Positionierung waren durchgehend die Praktiker der kirchlichen Hilfsarbeit und die juristischen und theologischen Experten aus diesem Umfeld. Entsprechend ähneln sich die hier untersuchten Akteurskonstellationen. Die bestimmenden Akteure fanden sich in politischen Auseinandersetzungen wieder, in denen sie sich zur Übernahme einer Fürsprecherrolle motiviert und legitimiert sahen. Einzelpersonen wie Karl Ahme, Helmut Frenz oder Jürgen Micksch sicherten sich ihre eigenen Handlungsspielräume innerhalb der offiziellen kirchlichen Strukturen und prägten als Experten mit ihrem religiösen und später verstärkt auch sozialwissenschaftlichen Wissen die protestantische Positionierung. Als Praktiker der Hilfs- und Begegnungsarbeit konnten sie sich selbst legitimieren und einen Gestaltungsanspruch erheben. Mithilfe von Sondergremien wie dem Flüchtlingsbeirat und Institutionen wie der Menschenrechtsstelle des Diakonischen Werks konnten diese Akteursgruppen die Hoheit über die

Schlussbetrachtung

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flüchtlingspolitische Positionierung beanspruchen und als protestantische Stimmführer auftreten. Sie nutzten ihren so gewonnenen Einfluss für Protest gegen die protektionistische Ausrichtung der Aufnahme- und Asylpolitik der Bundesregierung. Bei Unstimmigkeiten mit den amtskirchlichen Strukturen aktivierten sie ihre eigenen überkonfessionellen Netzwerke und vertrauten auch auf unkonventionelle Beteiligungsformen wie die sozialen Bewegungen. Im Gegensatz dazu stand zumeist der auf innerprotestantischen Ausgleich bedachte Rat der EKD und damit auch der ihm nachgeordnete Bevollmächtigte der EKD in Bonn. Die Stellungnahmen des Rats integrierten Topoi aus den Feldern Verantwortung und Realismus. Ergänzend dazu beriefen sich einige Akteure auf die Tradition der lutherischen Theologie, nach der die Kirche die Eigengesetzlichkeit der Politik zu akzeptieren habe. Kontinuierlich stand diese Ausrichtung in einem Spannungsverhältnis zu den freier agierenden Akteuren. In den 1950er Jahren war die Verantwortung für den ostdeutschen Protestantismus für den Rat der EKD der ausschlaggebende Gesichtspunkt, um sich im Gegensatz zu Flüchtlingsseelsorge und Hilfswerk nicht offen für die rechtliche Gleichstellung der DDR-Flüchtlinge zu positionieren. In den 1980er Jahren stützte er die von den Akteuren der Flüchtlingsarbeit geprägte offene Haltung, wobei er allerdings wiederholt eine mäßigende Rhetorik anmahnte und auch kritische Stimmen miteinbeziehen wollte. Vor dem Hintergrund der uneinheitlichen Äußerungen aus den Gliedkirchen war diese zurückhaltende Position konsequent. Während etwa die evangelischen Kirchen im Rheinland und in West-Berlin den offenen flüchtlingspolitischen Kurs stützen, forderten Landesbischöfe wie Heubach in Schaumburg-Lippe einen restriktiveren Kurs oder wie Hanselmann in Bayern eine Fokussierung auf christliche Flüchtlinge. Die unterschiedlichen Reaktionen auf die Veröffentlichung der EKD-Studie 1986 verdeutlichten die Schwierigkeit dieser protestantischen Polyphonie. In diesem durch die Akteurskonstellation gegebenen Spannungsverhältnis ist auch eine der Ursachen für die Situation nach der Wiedervereinigung zu sehen. Die Verdrängung der bisherigen protestantischen Experten aus der Stimmführerschaft und der verlorene Kampf der Asylhilfebewegung um den Artikel 16 GG fanden Ausdruck in der vorbehaltlichen Zustimmung des Rats der EKD zur Grundgesetzänderung. Wenngleich diese Konstellation ein Produkt der Umbruchssituation der frühen 1990er Jahre war und vor allem die diskursive Aufwertung der Kategorien Staat und Nation widerspiegelte, stand sie in einer Kontinuität zu den Ratsbeschlüssen der Vorjahre. Sie war, anders als etwa die Darstellung von Ursula Büttner suggeriert, keine Ausnahme innerhalb eines linearen Entwicklungsprozesses.1 Vielmehr griffen die Veröffentlichungen des Rates der EKD zum „Asylkompromiss“ 1992/93 mit der Betonung des gefährdeten gesellschaftlichen Friedens und der Notwendigkeit 1 Vgl. Büttner, Umkehr, 37 f.

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Schlussbetrachtung

eines Kompromisses in einer gesteigerten Form die Topoi auf, die bereits in den Stellungnahmen des Rates in den Vorjahren Platz gefunden hatten. Differenziert ist der transnationale Einfluss zu betrachten. Der ÖRK und die konfessionellen Weltbünde waren bereits seit den 1950er Jahren entscheidende Impulsgeber für die Akteure der protestantischen Flüchtlingsarbeit in der Bundesrepublik. Sie stellten relevante Deutungsmuster sowie ein über Deutschland und später auch den Westen hinausweisendes Identitätsangebot als globale Christenheit zur Verfügung. Die ökumenische Perspektive schuf Bewusstsein für internationale Zusammenhänge und stellte ab den 1970er Jahren zunehmend auch den Eurozentrismus in Frage. Durch die Konsultationen des ÖRK und transnationale protestantische Kontakte begann auch die Rezeption von Vorbildern wie der Sanctuary-Bewegung aus den USA oder der Schweizer Kirchenasylbewegung. Den Höhepunkt des ökumenischen Einflusses bildeten die 1980er Jahre, in denen die konfessionellen Abgrenzungen für die christlichen Engagierten an Bedeutung verloren und die Flüchtlingsarbeit in den konziliaren Prozess integriert wurde. Zudem boten die Foren der Ökumenebewegung der theologischen Reflexion der Flüchtlingsarbeit weit vor der akademischen Theologie in Deutschland einen Raum. Dennoch wäre es verfehlt, die Auseinandersetzung mit der Flüchtlingshilfe in eine Reihe mit den linkspolitischen Themen der Ökumene ab den 1970er Jahren zu stellen.2 Der Anspruch, Flüchtlingshilfe universell und ohne Ansehen der nationalen Zugehörigkeit oder Konfession zu betreiben, wurde auf internationaler Ebene bereits unter noch antikommunistischen Vorzeichen für das Weltflüchtlingsjahr 1958 formuliert. Argumentationsformen und Deutungsmuster Die Auseinandersetzung mit der Flüchtlingsaufnahme im Kontext des Kalten Krieges wurde von einer Verbindung aus humanitärem Anspruch, christlichem Personalismus, Paternalismus und Antikommunismus bestimmt. Sie ermöglichte es dem westdeutschen Protestantismus, sich seiner Verortung in der Nachkriegsgesellschaft zu versichern. Bereits in den 1950er Jahren weitete sich der Solidaritätsbezug von der deutschen Nationalgesellschaft und der eigenen Konfession auf die ökumenisch-westliche Gemeinschaft aus. Die Aufnahme von Ungarn-Flüchtlingen 1956 und die Auseinandersetzung mit der Situation der Flüchtlinge in Hongkong während des Weltflüchtlingsjahres 1958 bildeten dabei zwei wichtige Wegmarken für die Ablösung der nationalen Orientierung. Der Anspruch einer universellen Flüchtlingshilfe ohne Berücksichtigung religiöser oder nationaler Zugehörigkeit blieb bis in die 1970er Jahre faktisch auf Personen aus dem kommunistischen Machtbereich beschränkt. Unter dem Einfluss der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse 2 Exemplarisch für diese Deutungsrichtung: Richter, Protestantismus.

Schlussbetrachtung

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wurde dies in den 1970er Jahren mit der Aufnahme der Chile-Flüchtlinge auf die Probe gestellt. Helmut Frenz warb sowohl mit christlichen als auch humanitären und menschenrechtlichen Begründungsmustern für die Aufnahme verfolgter Chilenen und berief sich dabei ebenfalls auf das Ideal einer universellen Flüchtlingshilfe. Konservative protestantische Gruppen leisteten Widerstand gegen die Ablösung dieser antikommunistischen Komponente und stießen eine erneute Kontroverse um die Auslegung des Begriffs der politischen Flucht an. In der innerprotestantischen Auseinandersetzung um die vietnamesischen „boat people“ zum Ende des Jahrzehnts setzte sich der Anspruch einer universell-humanitären Flüchtlingshilfe wiederum gegen eine linkspolitische Deutung durch. In den 1980er Jahren etablierten sich auf dieser Grundlage zwei relevante Diskursstränge innerhalb des Protestantismus heraus. Die christliche Flüchtlingshilfebewegung und ihre Stimmführer verorteten sich als Teil einer globalen Gemeinschaft und verteidigten unter Berufung auf die Universalität von Menschenwürde und Menschenrechten den Flüchtlingsschutz als Bestandteil der bundesrepublikanischen Verfassungsidentität. Diese Strömung behielt bis in die späten 1980er Jahre die Deutungshoheit über die protestantische Positionierung zur Asylpolitik. Ab diesem Zeitpunkt erlangte angesichts der Überschneidung deutscher und ausländischer Flüchtlingsgruppen die Betonung der Kategorie Nation neue Geltung, die vor allem in Bezugnahmen auf die Wahrung des gesellschaftlichen Friedens, den Ausgleich gesellschaftlicher Interessen und den Realismus-Topos sichtbar wurde. Ein Parallelphänomen mit nur losen Verbindungen zum restlichen protestantischen Flüchtlingsdiskurs blieben die Stimmen, die für eine Privilegierung von Christen eintraten. Bei der Argumentation für die Aufnahme und Anerkennung von Flüchtlingen verwiesen protestantische Akteure auf unterschiedliche Werthaltungen. Die eigenen christlichen Überzeugungen waren dabei in erster Linie, wie es 1986 die EKD-Studie formulierte, „Ermutigung und Anleitung zum Tätigwerden“3 für die Gemeinden und einzelne Kirchenmitglieder. In der öffentlichen Debatte setzten protestantische Akteure bereits in den 1950er Jahren nur selten auf explizite religiöse Begründungsmuster und passten sich je nach situativem Kontext den Diskursregeln der Öffentlichkeit an. Diese Anpassung wurde durch die sich verändernden Rahmenbedingungen weiter notwendig. Andere Debattenakteure, die sich an den Äußerungen protestantischer Akteure störten, reagierten kritisch auf direkt religiös konnotierte Argumente. Besonders christlich motivierte Protestgruppen in den 1980er Jahren mussten sich etwa dem von Unionspolitikern geäußerten Vorwurf stellen, sie würden mittels religiöser Überhöhung ihres Anliegens die Grundregeln der demokratischen Auseinandersetzung missachten. Häufig 3 Kirchenamt, Flüchtlinge, 8.

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Schlussbetrachtung

wurden Debattenbeiträge hingegen durch religiöse Marker4 gerahmt. Auf diese Weise konnten sich etwa die juristischen und sozialpolitischen Experten der diakonischen Einrichtungen am fachlichen Spezialdiskurs beteiligen, zugleich aber den Anspruch ihrer Institution verdeutlichen. Derartige Rahmungen genügten in der medialen Rezeption bereits, um eine Stellungnahme als protestantisch zu markieren. Wenn etwa Helmut Frenz eine sachbezogene Kritik an der Beteiligung des Verfassungsschutzes bei der Flüchtlingsaufnahme äußerte, wurde dies in der Presseüberschrift zu einer kirchlichen Stellungnahme. Protestantische Akteure erhoben zumeist kontextbezogene sozialpolitische und rechtliche Forderungen, die wiederum mit normativen Überlegungen, etwa zur christlichen Überzeugung oder nationalen Identität der Bundesrepublik, gestützt wurden. Zwar verlangten immer wieder einzelne Akteure, die Asyldebatte ausschließlich als eine Auseinandersetzung über Moral und Werte zu führen. Diese Haltung fand etwa im Vorfeld von Wahlkämpfen Ausdruck, wenn gefordert wurde, die Flüchtlingspolitik durch eine kirchenoffizielle Stellungnahme dem parteipolitischen Streit zu entziehen und einen humanitären Konsens zu schaffen. Dem entgegen standen aber die praktischen Erfordernisse vieler anderer Akteure und Institutionen. Zumeist verließen sich die Vertreter protestantischer Einrichtungen daher nicht auf eine Argumentation im Sinne der „Politik des Unpolitischen“5. Werte- und Identitätsargumente wurden häufig mit pragmatischen und realpolitischen Aspekten gekoppelt. Dabei kam den Akteuren ihre Sprechposition zugute. Sie äußerten sich nicht nur als Vertreter des Protestantismus, sondern auch unter Rückgriff auf ihre professionelle Expertise aus der Praxis der Versorgung und Integration von Flüchtlingen. In der EKD-Studie wurden Abschottungsmaßnahmen, Einschränkungen des Asylgrundrechts oder Unterbringung in Sammellagern nicht nur als unmoralisch oder rechtswidrig dargestellt. Ergänzend dazu benannte der Text auch die fehlende praktische Durchsetzbarkeit, problematische Außenwirkungen und negative Effekte der restriktiven Asylpolitik. Protestantische Definitionen des Politischen sowie die Bewertung von Fluchtmotiven wandelten sich unter gesamtgesellschaftlichen Einflüssen. Die Tendenz zu einer Ausweitung des Begriffs des Politischen und des Flüchtlingsschutzes auf Personengruppen jenseits aktiver Oppositioneller in autoritären Staaten hatte ihre Wurzeln jedoch bereits in der Nachkriegsphase. In den frühen 1950er Jahren wurde der Begriff des Politischen unter Verweis auf den Antitotalitarismus ausgedehnt. Angesichts der Ubiquität des Politischen im sozialistischen Staat sollten auch ökonomische, religiöse und private Aspekte Eingang in die Flüchtlingsdefinition finden. Mit der Berufung auf den Gewissensbegriff forderte etwa der Flüchtlingsbeirat der EKD eine Ausweitung der Flüchtlingsdefinition auf Personen jenseits des activist. Mit der Be4 Vgl. Könemann et. al., Interessenvertretung, 198. 5 Eckel, Ambivalenz, 415.

Schlussbetrachtung

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tonung der subjektiven Gewissenskategorie wurde der begrenzte Flüchtlingsbegriff der Nachkriegsordnung in Frage gestellt. In den 1970er Jahren überlagerten sich zwei Tendenzen. Zum einen wurde die Ausdehnung des Schutzes für politische Flüchtlinge auf Verfolgte aus dem linken Spektrum eingefordert. Anderseits wurde der „echte“ Flüchtling im Protestantismus verstärkt durch humanitäre Gründe definiert. Die Betonung von Not, Bedrohung und erlittenem Leid stand zusehends im Vordergrund. In den 1980er Jahren wurde in der Flüchtlingshilfebewegung die Ausdehnung des Politischen auf Hunger, Verelendung und Umweltzerstörung diskutiert. Auch die Dekonstruktion des Stereotypen vom „Wirtschaftsflüchtling“ baute auf einem breit gefassten Politikbegriff auf, der ökonomische und soziale Fluchtgründe einschloss und die Aufnahmegesellschaft aufgrund der Ausbeutung der „Dritten Welt“ für die Fluchtsituation mitverantwortlich machte. Parallel dazu gab es auch von Seiten konservativer protestantischer Strömungen Versuche, religiöse Verfolgung und Diskriminierung ins Zentrum zu rücken und damit andere Motive implizit abzuwerten. Der Wechsel zwischen einer Betonung von politischen und humanitären Fluchtgründen spiegelt sich auch in den Bezügen auf die Menschenwürde und die Menschenrechte wider. Bereits im Kontext der Aufnahme von Flüchtlingen des Kalten Krieges der Nachkriegsjahrzehnte wurden parallel zu der Dominanz des viktimisierenden Blicks auf die Betroffenen Ansätze eines Diskurses über Flüchtlingsrechte etabliert. Unter den Einflüssen der globalen Menschenrechtsbewegung in den 1970er Jahren erwiesen sich protestantische Deutungs- und Argumentationsmuster als anschlussfähig an den Menschenrechtsdiskurs. In diesem Zeitraum wurde im Protestantismus kurzzeitig die Einheit von Flüchtlingsund Menschenrechtsarbeit erprobt. Zugleich blieb das Werben für die Aufnahme von Flüchtlingen immer einer humanitären Rhetorik verhaftet. Diese Überschneidung lässt sich an einer institutionellen Innovation wie dem Menschenrechtsreferat der Diakonie oder an einer Person wie dem sich zwischen christlicher Ethik, Kapitalismuskritik und Menschenrechtsaktivismus bewegenden Helmut Frenz aufzeigen. Bei der Argumentation mit der Menschenwürde und den Menschenrechten setzten protestantische Akteure auf ein Prinzip der Äquivalenz, wobei der Menschenwürdebegriff als Bindeglied fungierte. Sie suggerierten nicht, dass die Begriffe identisch wären, setzten aber die normative Gleichwertigkeit voraus. Die ökumenische Kanzelabkündigung der Wohlfahrtsverbände zur Hilfe für die Vietnam-Flüchtlinge stellte derart etwa Nächstenliebe und Humanität nebeneinander. Und die EKDStudie von 1986 vertraute auf eine theologische Herleitung des Menschenwürdebegriffs aus der Gottesebenbildlichkeit, um davon ausgehend auf die Menschenrechte zu referieren. Diese Verwendung ermöglichte einerseits die Anschlussfähigkeit nach außen und andererseits die Integration der Menschenrechte in den protestantischen Argumentationsfundus. Ausnahmen blieben Positionen aus der ökumenischen Debatte, die aus theologischen Überlegungen unmittelbar menschenrechtliche Forderungen ableiteten.

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Schlussbetrachtung

Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Verortung innerhalb der neueren Menschenrechtsgeschichte. Samuel Moyn und Jan Eckel differenzieren mit überzeugenden Argumenten zwischen dem Humanitarismus- und dem Menschenrechtsdiskurs.6 Allerdings fügen sich Teile der untersuchten Flüchtlingsaktivisten in den 1970er und 1980er Jahren nur begrenzt in dieses Schema ein. Die Flüchtlingshilfebewegung und die an ihr beteiligten protestantischen Einzelakteure und Gruppen bedienten Elemente aus beiden Diskursen. Personen wie Helmut Frenz und Organisationen wie der Berliner Flüchtlingsrat oder „Pro Asyl“ hatten den Anspruch, marginalisierten und leidenden Personen in Not zu helfen und beriefen sich dafür auf Moral und Mitgefühl. Zugleich verfolgten sie aber ausgehend vom Menschenwürdebegriff eine Agenda zur Umsetzung sozialer und politischer Rechte für Flüchtlinge und einer neuen globalen Ordnung. Aus strategischen Überlegungen heraus wurde die politische Agenda jedoch gegenüber der Öffentlichkeit weniger offensiv vertreten als die humanitären Forderungen. Die Untersuchung belegt zudem den hohen Stellenwert historischer Topoi für den Asyldiskurs der 1980er Jahre vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Erinnerungskultur. Referenzen auf die deutsche Vergangenheit waren innerhalb der Asylhilfebewegung zentral für die Verteidigung des Asylrechts im Grundgesetz und das damit verbundene bundesrepublikanische Identitätskonzept. Sie begründeten den Status des Flüchtlingsschutzes als Bestandteil des Verfassungskonsenses. Für die Engagierten der Flüchtlingshilfebewegung waren diese Bezüge gleichzeitig Motivation zum persönlichen Handeln wie öffentlich genutztes Argument. Der Widerspruch zu den Thesen Büttners und den Ergebnissen Könemanns, die dem Bezugsfeld Geschichte einen geringeren Stellenwert einräumen, lässt sich durch deren aus öffentlichen Stellungnahmen und Presseartikeln zusammengesetzten Quellenfundus erklären.7 Für den Protestantismus waren die historischen Bezüge in doppelter Hinsicht relevant, da neben den Verweisen auf die Intentionen des Parlamentarischen Rates oder die nationalsozialistischen Verbrechen auch die Geschichte der evangelischen Kirche einen zentralen Bezugspunkt bildete. Die Legitimation des advokatorischen Modells speiste sich maßgeblich aus Referenzen auf Versäumnisse der evangelischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus, die Barmer Theologische Erklärung oder die Schriften Dietrich Bonhoeffers. Eine Zäsur für die historische Argumentation markierten die frühen 1990er Jahre. Im „Spannungsverhältnis zwischen einer auf universalen Menschenrechten basierenden Haltung und nationalstaatlichen Interessen“8 hatte sich der Protestantismus bis dahin mehrheitlich zugunsten der universellen Verpflichtung zur Hilfeleistung positioniert. Die zunehmende Zahl von Aussiedlern und DDR-Flüchtlingen gegen Ende der 1980er 6 Vgl. die ausführliche Differenzierung bei Eckel, Ambivalenz, 244–248. 7 Vgl. Büttner, Umkehr, 45; Könemann et. al., Interessenvertretung, 202. 8 Scherr / Scherschel, Flüchtling, 7.

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Jahre sowie das darauffolgende Ende der deutschen Teilung stellte die bisherigen Identitätskonzepte in Frage. Durch die sozialen Umbrüche der Wiedervereinigung und die diskursive Wiederaufwertung des Nationalstaats war die postnational orientierte Asylhilfebewegung mit ihren Identitäts- und Solidaritätsentwürfen in einer schwachen Position. Indem der Rat der EKD in seiner Stellungnahme im Februar 1993 die Herleitung des offenen Asylrechts aus den Intentionen des Parlamentarischen Rates in Frage stellte, wurde der Bedeutungsverlust des historischen Arguments offenkundig. Flüchtlingsfiguren Obwohl sich vor dem Hintergrund vielschichtiger Fallbeispiele und eines langen Untersuchungszeitraums keine allgemeine und zeitübergreifende protestantische Flüchtlingsfigur identifizieren lässt, können einige prägende Topoi identifiziert werden. Treffend erscheint die bereits zitierte Metapher vom sich drehenden „Figurenkarussell“9, um die Variationen des protestantischen Flüchtlingsbildes zu beschreiben. Über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg waren sich die Akteure der Bedeutung der medialen Repräsentation der Flüchtlinge in der Öffentlichkeit bewusst. Sie verstanden es als ihre Aufgabe, den Verlauf der Debatte durch die Präsentation von positiven Flüchtlingsfiguren zu beeinflussen und Negativstereotype zu dekonstruieren. Da die humanitäre Komponente besonderen Erfolg für diese Bemühung versprach, präsentierten protestantische Akteure häufig den entweder durch kommunistische Weltanschauung deformierten oder durch die Fluchtumstände traumatisierten Flüchtling. Im Gegensatz zu Mediendarstellungen, die Flüchtlinge zumeist als bedrohliche Masse oder als suspekte Figur eines „Asylbetrügers“ in Szene setzten, wollten sie die Person mit ihrer persönlichen Geschichte in den Mittelpunkt rücken, oftmals auch in Kontrast zur Asylbürokratie. Viele Arbeiten gehen davon aus, dass erst mit den 1970er Jahren das Ende der heroischen Flüchtlingsfigur einsetzte und die Opferfiguren den Diskurs bestimmten.10 Diese Befunde lassen sich mit Blick auf die Wahrnehmung und Darstellung der DDR- und Ungarn-Flüchtlinge nicht auf den Protestantismus übertragen.11 Indem diese als von der Ideologie des dialektischen Materialismus seelisch deformierte Personen dargestellt wurden, legitimierten evangelische Institutionen wie das Hilfswerk ihre eigene Arbeit. In den Publikationen und Kampagnen wurden Flüchtlinge in großer Mehrheit als passive Opferfiguren präsentiert. Viktimisierende Narrative waren von entscheidender Bedeutung, da diesen Darstellungen persuasive Fähigkeiten zugesprochen wurden. Viele Akteure der Flüchtlingsarbeit er9 Inhetveen, Flüchtling, 148. 10 Vgl. exemplarisch Walaardt, Heroes; Friedrichs, Milieus. 11 Damit stützt die Untersuchung die Thesen von Peter Gatrell: Gatrell, Putting Refugees, 20–22.

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Schlussbetrachtung

hofften sich, die Aufnahmegesellschaft mit Hilfe dieser Narrative emotional zu berühren und somit zwischenmenschliche Empathie zu wecken. Häufig wurde die Lebenssituation von Kindern, Jugendlichen und Familien in Aufnahmelagern skandalisiert und die Traumatisierung und Gefährdung hervorgehoben. Heroische Flüchtlingsbilder wie die JG-Mitglieder wurden hingegen fast ausschließlich als Ausnahme von der Mehrheit markiert und dienten somit der Legitimation des viktimisierenden Blicks. Auch die von den Bekenntnisgemeinschaften und Evangelikalen präsentierte Figur des verfolgten Christen zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass dieser unschuldig war und dadurch als besonders glaubwürdiger Flüchtling gelten konnte. Die Fokussierung auf Opferfiguren war aber auch den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geschuldet. Eine Betonung des politischen Aktivismus von Flüchtlingen hätte vor einem Vermittlungsproblem gegenüber der Aufnahmegesellschaft gestanden. Jenseits der politischen Linken wären beispielsweise die Angehörigen der chilenischen MIR in einer Darstellung als politische Widerstandskämpfer nicht vermittelbar gewesen. Erst in den 1980er Jahren gab es vermehrte Ansätze, Flüchtlinge als handlungsmächtige Subjekte in Szene zu setzen und die Betroffenen selbst zur Sprache kommen zu lassen. Zugleich waren die Flüchtlingsfiguren Projektionsflächen. In den protestantischen Narrativen fungierten Flüchtlinge aufgrund der religiösen Deutung oft auch als geschichtstheologisches Medium. Die EKD-Studie sprach entsprechend davon, dass die Flüchtlinge als „Boten und Lehrmeister Gottes“12 zu verstehen seien. Auch hierin liegt eine über den gesamten Untersuchungszeitraum festzustellende Kontinuität. Der Flüchtling ließ sich in den verschiedenen historischen Kontexten als göttlicher Fingerzeig darstellen, ob in den 1950er Jahren als Zeichen des Strafgerichts über die Sünden des deutschen Volkes oder in den 1980er Jahren als Botschafter der verdrängten Schuld der westlichen Industrienationen an Zuständen in den Ländern des globalen Südens. Als Medium der Gottesbegegnung und der religiösen Erfahrung sollte er die westdeutsche Konsumgesellschaft aus ihrer Lethargie wecken und somit neue geistige Weiten eröffnen. Diese Denkfigur behielt ihre antimaterialistisch-volksmissionarische Konnotation, wenngleich der Kontext sich im Vergleich zu den vorherigen Phasen in den 1980er Jahren stark verschob. Gemeinsames Merkmal blieb aber die Funktion der Flüchtlingsfigur als Mittel der Gesellschaftskritik gegen eine vermeintlich apathische Konsum- und Wohlstandsgesellschaft. Die Flüchtlinge sollten die deutsche Aufnahmegesellschaft herausfordern und bereichern. Insgesamt waren die positiven Flüchtlingsfiguren ambivalent. In den 1970er Jahren erhofften sich die Anhänger der Chile-Solidarität von den Flüchtlingen den lebenden Beweis für die Vereinbarkeit von Christentum und Sozialismus. Später stilisierte Michael Mildenberger sie zum Objekt des interkulturellen Lernens. Einerseits hatten die positiven Flüchtlingsfiguren große Bedeutung für die Motivation der 12 Kirchenamt, Flüchtlinge, 10.

Schlussbetrachtung

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Unterstützerbewegung und waren ein attraktives Gegenmodell zu den verbreiteten Negativstereotypen. Andererseits affirmierten sie die kulturellen Fremdheitszuschreibungen der Aufnahmegesellschaft, anstatt sie zu dekonstruieren. Selbstverständnis und politische Einflussnahme Die kontinuierliche Auseinandersetzung mit den Themen Flucht und Asyl bot protestantischen Akteuren und Institutionen die Möglichkeit, sich ihrer eigenen Identität innerhalb der Gesellschaft zu versichern. Für den Protestantismus stellte die von Lauren Stokes beschriebene Kontinuität der „Flüchtlingskrisen“ in der Geschichte der Bundesrepublik13 immer wieder die Frage nach der eigenen Selbstverortung in der Gesellschaft. Ausschlaggebend dafür war zum einen die über die Kategorie Nation hinausgehende Gemeinschaftskonzeption des Christentums.14 Schon in den 1950er Jahren etablierte sich mit der Dichotomie der unmenschlichen staatlichen Bürokratie auf der einen und der Kirche als Fürsprecherin der Flüchtlinge auf der anderen Seite ein identitätsstiftendes Konzept. Zum anderen existierte mit den einschlägigen theologisch-biblischen Topoi zu Flucht und Migration ein Fundus an Motiven und Deutungsmustern, der sich auf unterschiedlichste Fallkonstellationen anwenden ließ. Biblische Aussagen zur Beherbergung Fremder oder das Motiv von der Heiligen Familie auf der Flucht nach Ägypten ließen sich sowohl auf die geflohenen DDR-Bürger in Berlin-Marienfelde in den frühen 1950er Jahren als auch auf eritreische Flüchtlinge im Frankfurt der 1980er Jahre übertragen. Der Prozess der Ablösung von der Fokussierung auf die eigene Nationalgesellschaft wurde aber von verschiedenen Gegenbewegungen begleitet und vollzog sich nicht linear. Am deutlichsten ließ sich dies anhand der Spannungen zwischen den Rollenmodellen Anwaltschaft und Moderation beschreiben. Zwar verstand die Mehrheit der protestantischen Akteure es als ihre Aufgabe, die Anliegen der Flüchtlinge in der politischen Arena zu vertreten und sich gegen die restriktive Asylpolitik zu stellen. Über die angemessene Reaktion auf die grundsätzlich missbilligte Politik gab es jedoch keine Einigkeit. Während auf der einen Seite eine zunehmende Ablösung von der Kategorie Nationalstaat stattfand, wurde diese von anderen Akteuren weiterhin aufrechterhalten. Die Bandbreite protestantischer Haltungen dazu ließ sich in den 1980er Jahren nur noch mit Schwierigkeiten in einen Konsens überführen. In der Kirchenasylfrage gelang dies etwa durch die Betonung der individuellen Dimension der Entscheidung. Die einzelnen Debattenakteure beanspruchten die Deutungshoheit über die protestantische Positionierung in 13 Vgl. Stokes, Crisis. 14 Vgl. Hidalgo, Verhältnis, 35 f.

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Abgrenzung von den offiziellen kirchlichen Strukturen für sich. Konservative Politiker wie Gauweiler und Spranger sprachen der EKD die Repräsentationsfähigkeit für die Mehrheit der evangelischen Kirchenmitglieder ab. Die aktiven Mitglieder der Flüchtlingshilfebewegung wandten sich hingegen verstärkt den sozialen Bewegungen zu. Damit waren Folgen für die politische Einflussnahme verbunden. In der Flüchtlingspolitik vertrauten protestantische Akteure zunehmend auf indirekte Kommunikationskanäle und die sozialen Bewegungen zur Erreichung ihrer Ziele. Angesichts der Ablehnung ihrer Positionen in den zuständigen Ministerien waren sie durchgehend auf die Mobilisierung von Ressourcen jenseits der Bonner Interessenvertretung angewiesen. Dabei war die Offenheit für protestantische Vorstöße stark von den Parteien abhängig. Im Feld der Asylpolitik waren die Sozialdemokraten zumeist enge Partner des Protestantismus. Zeitweise forderte die SPD seine öffentliche Stellungnahme sogar ein, um ihre öffentlich umstrittenen Forderungen etwa zur Aufnahme von Chile-Flüchtlingen zu stützen. Dagegen wurden die traditionell guten Beziehungen zu den Unionsparteien auf die Probe gestellt. Die Kampagnenführung von CDU und CSU wurde immer wieder in Widerspruch zu ihrem Selbstanspruch als „christliche“ Partei gesetzt. Die Konflikte zwischen protestantischen Akteuren und Unionspolitikern hatten zur Folge, dass in den 1980er Jahren vermehrt Politiker als Kirchenkritiker und Kirchenvertreter als Parteienkritiker auftraten. Das Ende der sozialliberalen Regierung und der Amtsantritt des CSU-Innenministers Zimmermann waren zudem weitere Faktoren für die steigende Bedeutung der unkonventionellen Beteiligungsformen. Der Bevollmächtige der EKD konnte zwar als Vertreter des Rats und der Synode theoretisch das gesamte protestantische Meinungsspektrum abbilden und mit allen politischen Parteien im Gespräch bleiben. Als Sprachrohr der Protestgruppen kam er allerdings nicht in Frage. Da die Helferkreise an der kirchlichen Basis endgültig das Vertrauen in die Regierungspolitik und damit auch die klassischen Formen der Interessenvertretung verloren hatten, wandten sich Teile von ihr ab 1983 verstärkt Protestaktionen, außerparlamentarischen Bündnissen und übergreifenden Organisationen zu. Damit fand der bereits in den 1970er Jahren im Kontext der Chile-Solidarität etablierte Transferprozess zwischen Protestantismus und sozialen Bewegungen seine Weiterführung. Prädestinierte Plattformen für diesen Austausch bildeten die Akademien und der Kirchentag. Desiderata und Gegenwartsrelevanz Das Ziel der vorliegenden Arbeit war eine Verortung des Protestantismus in der Bundesrepublik im Kontext der Debatten um Flüchtlingsaufnahme und Asylgewährung. Insgesamt wurde deutlich, dass die Haltung des Protestantismus als ambivalent beschrieben werden muss. Er stellte vielfach die Kategorien des Asylregimes in Frage, zeigte mitunter aber auch staatsaffirmative

Schlussbetrachtung

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Tendenzen. Diese Konfliktlinie wird bis heute in der akademischen Theologie verhandelt.15 Auch die beschriebenen Transferprozesse zwischen Protestantismus und sozialen Bewegungen lassen sich bis in die Gegenwart beobachten, wie etwa bei der medial vielbeachteten Unterstützung der EKD für die zivilgesellschaftliche Seenotrettung auf dem Mittelmeer. Aufgrund dieser Gegenwartsrelevanz wäre eine weitere Erforschung des Agierens christlicher Akteure im Feld der Asyl- und Flüchtlingspolitik von Interesse. Als weiterführende Untersuchung wäre etwa eine transnationale Geschichte des christlichen Flüchtlingsdiskurses denkbar. Auch die Praxis der Hilfsarbeit und die Interaktion von Geflüchteten und Unterstützergruppen in Kirchengemeinden und Kirchenasylen sind bisher unerforschte Leerstellen. Weitere zeithistorische Untersuchungen der Asyldebatten können Orientierung bieten, um Entwicklungen und Akteurskonstellationen des Migrationsregimes der Gegenwart besser zu verstehen. Sie legen die Genese gesellschaftspolitischer Konflikte offen und machen die Wandlungsfähigkeit der Flüchtlingskategorie deutlich.

15 Für einen Überblick vgl. Fülling, Flüchtlingspolitik, 239 f.

Abkürzungsverzeichnis ACK ADW AI AKiZ APuZ Art. BArch BGBl BHE BStU BT BT PA BVerfGE CDA CDU CSU CVJM DEKT DKP EAK EKD ELAB epd ESG EvKo EZA FAZ FDJ FDP GG GVP HGSt HWRh JG KEK KJ

Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen Archiv des Diakonischen Werks Amnesty International Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte Aus Politik und Zeitgeschichte Artikel Bundesarchiv Bundesgesetzblatt Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen Deutscher Bundestag Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestags Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft Christlich-Demokratische Union Deutschlands Christlich-Soziale Union in Bayern Christlicher Verein Junger Männer Deutscher Evangelischer Kirchentag Deutsche Kommunistische Partei Evangelischer Arbeitskreis (CDU/CSU) Evangelische Kirche in Deutschland Evangelisches Landeskirchliches Archiv Berlin Evangelischer Pressedienst Evangelische Studentengemeinde Evangelische Kommentare Evangelisches Zentralarchiv Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Deutsche Jugend Freie Demokratische Partei Grundgesetz Gesamtdeutsche Volkspartei Hauptgeschäftsstelle des Diakonischen Werks Historisches Wörterbuch der Rhetorik Junge Gemeinde Konferenz Europäischer Kirchen Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland

Abkürzungsverzeichnis

LAELKB

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Landeskirchliches Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche Bayern LWB Lutherischer Weltbund MdB Mitglied des Bundestags MdL Mitglied des Landtags MIR Bewegung der revolutionären Linken (span. Movimiento de Izquierda Revolucionaria) MKIZ Mitteilungen zur Kirchlichen Zeitgeschichte NPD Nationaldemokratische Partei Deutschlands OKR Oberkirchenrat ÖRK Ökumenischer Rat der Kirchen PA AA Politisches Archiv des Auswärtigen Amts PDS Partei des Demokratischen Sozialismus PVS Politische Vierteljahresschrift PStS Parlamentarischer Staatssekretär RAF Rote-Armee-Fraktion RBRD Religion in der Bundesrepublik Deutschland RGG4 Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage SBZ Sowjetische Besatzungszone SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands Sten. Ber. BT Stenographischer Bericht Deutscher Bundestag (Plenarprotokoll) SZ Süddeutsche Zeitung UNHCR Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (engl. United Nations High Commissioner for Refugees) VfZ Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte ZAR Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik ZDF Zweites Deutsches Fernsehen ZEE Zeitschrift für Evangelische Ethik

Quellen- und Literaturverzeichnis Bibelstellen werden gemäß den Loccumer Richtlinien angegeben und nach der Lutherübersetzung von 2017 zitiert. Rechtsnormen wie Grundgesetzartikel und Gerichtsurteile werden nach den gebräuchlichen rechtswissenschaftlichen Angaben zitiert, vollständige Gesetze anhand ihrer Fundstelle im Bundesgesetzblatt.

Archivalische Quellen Archiv des Bundesrats Fl Flüchtlingsausschuss 3703

Archiv des Diakonischen Werks (ADW) CAW Central-Ausschuss für Innere Mission 684, 698 HGSt Hauptgeschäftsstelle des Diakonischen Werkes der EKD 6907, 6909, 6917, 6918, 6919, 9455, 9718 PB Präsidialbüro in der Hauptgeschäftsstelle 974, 975, 976, 977, 978 ZB Zentralbüro des Evangelischen Hilfswerks 918, 1175, 1200, 1203, 1209, 1210

Bundesarchiv Koblenz (BArch) B106 Bundesministerium des Innern 68983, 69037, 70770, 77600, 77601, 77602, 90346, 90347, 117556 B136 Bundeskanzleramt 6242, 6243 B137 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen 327 B138 Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft 33517 B150 Bundesministerium für Vertriebene 419

Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BArch) DO 4 Staatssekretär für Kirchenfragen 3563

Archivalische Quellen

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Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen (BStU) MfS HA XX Ministerium für Staatssicherheit, Hauptabteilung XX 26014

Evangelisches Landeskirchliches Archiv Berlin (ELAB) ELAB 1

Evangelisches Konsistorium Berlin-Brandenburg 872, 873 ELAB 15 Personalakten (Pfarrer) 27, 28, 30 ELAB 36 Evangelisches Konsistorium Berlin-Brandenburg (West) 2211, 2895, 2896, 2911, 2919 ELAB G1 Gossner Mission 1741, 1742

Evangelisches Zentralarchiv (EZA) EZA 2

Kirchenkanzlei der EKD 4169, 4251, 4272, 4273, 4291, 4292, 4293, 4294, 4300, 4305, 4307, 4308, 4312, 8492, 8661, 17640, 17641, 17559, 17560, 17561, 17562, 20195, 20196, 20199, 20200, 20201 EZA 3 Kirchenamt der EKD 9 EZA 4 Kirchenkanzlei der EKD / Berliner Stelle 80 EZA 7 Evangelischer Oberkirchenrat 4209 EZA 54 Ratsbeauftragter für Umsiedler- und Vertriebenenfragen 9, 10, 11, 12 EZA 87 Bevollmächtigter des Rats der EKD am Sitz der Bundesregierung 130, 133, 1115, 1779, 2257, 2258, 2279, 2280, 2281, 2282, 2283, 2286, 2287, 2292, 2294, 2295 EZA 71 Deutscher Evangelischer Kirchentag 3948, 4275 EZA 513 Plakatsammlung 323, 377, 552, 567 EZA 686 Nachlass Helmut Gollwitzer 8532, 8560 EZA 742 Handakten Hermann Kunst 231, 243

Landeskirchliches Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (LAELKB) LB DW

Landesbischof 798 Diakonisches Werk der ELKB 1390, 1395, 1426, 2725, 2726

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Quellen- und Literaturverzeichnis

III/26 Evangelische Akademie Tutzing 3 IV/1 Seelsorger im Lager für Sowjetzonenflüchtlinge Kempten/Allgäu 1/1, 1/3, 2

Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestags (BT PA) Ausschuss für gesamtdeutsche und Berliner Fragen A2/35, A3/4 3109 Rechtsausschuss 9. WP, 1982 [ohne Signatur] 3114 Innenausschuss 10. WP, 1986 [ohne Signatur] XI/79 Gesetzesdokumentation Asylverfahrensgesetz 1982 B2

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Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (PA AA) B33 Politische Abteilung / Referate Mittel- und Südamerika 100604, 100605, 100606

Periodika und Pressedienste Amtliche Veröffentlichungen

Bundesgesetzblatt Drucksachen Deutscher Bundestag (BT-Drucksache) Stenographischer Bericht Deutscher Bundestag (Sten. Ber. BT)

Säkulare Publizistik und Periodika

Bayernkurier Der Spiegel Der Tagesspiegel Die Zeit Deutsche Nationalzeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) Rheinischer Merkur Süddeutsche Zeitung (SZ) SPD-Informationsdienst Kirchenfragen – Evangelischer Bereich SPD-Pressedienst

Konfessionelle Publizistik und Periodika epd-Bayern epd-Berlin epd-Dokumentation (epd-Dok) epd-Zentralausgabe (epd-ZA)

Veröffentlichte Quellen und Literatur

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Evangelische Kommentare (EvKo) Junge Kirche Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland (KJ) Lutherische Monatshefte Neue Wege Publik-Forum Sonntagsblatt / Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt Tutzinger Blätter. Informationen aus der Evangelischen Akademie Tutzing

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Personenregister

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schäftsführer des Ökumenischen Vorbereitungsausschusses für die Woche des ausländischen Mitbürgers (seit 1991 Interkulturelle Woche), seit 1986 Geschäftsführer von „Pro Asyl“. Campenhausen, Otto von, Jurist, Präsident des EKD-Kirchenamts 321 geb. 7. 2. 1932 Burg Schwarzenfels 1952–1956 Studium der Rechtswissenschaften in Marburg und Kiel, Stipendiat des Evangelischen Studienwerks Villigst, 1957–1989 Jurist im Staatsdienst, u. a. als Regierungsrat und Landgerichtspräsident, 1971–1989 Mitglied der EKD-Synode, 1979–1985 Mitglied des Rats der EKD, 1989–1997 Präsident des EKD-Kirchenamts. Castro, Emilio, Dr. theol., Pastor, Generalsekretär des ÖRK 272 geb. 2. 5. 1927 Montevideo, gest. 6. 4. 2013 Montevideo Studium der Theologie in Buenos Aires und Basel, 1948 Ordination, 1970–1972 Präsident der Methodistischen Kirche von Uruguay, 1985–1992 Generalsekretär des ÖRK. Collmer, Paul, Dr. rer. pol., Sozialwissenschaftler, Hauptgeschäftsführer, Verleger 54, 58–60, 76, 79 f., 94, 102 f., 118 f., 121, 124, 127, 135–137 geb. 2. 3. 1907 Bad Cannstatt, gest. 18. 4. 1979 Stuttgart Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 52 f. Dibelius, Otto, Lic. Theol., Pfarrer, Bischof, Vorsitzender des Rats der EKD 51, 85, 90, 94, 96, 116 geb. 15. 5. 1880 Berlin, gest. 31. 1. 1967 Berlin Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 58 f. Diestelmann, Jürgen, Pfarrer 292 geb. 29. 5. 1928 Coburg, gest. 29. 12. 2014 Braunschweig 1948–1952 Studium der Theologie, 1955 Ordination, 1956–1968 Pfarrer in Salzgitter, 1968 Mitglied des Bundesvorstands der „Kirchlichen Sammlung um Bibel und Bekenntnis“, 1975–1990 Pfarrer in Braunschweig. Dietzfelbinger, Hermann, Pfarrer, Bischof, Vorsitzender des Rats der EKD 142 geb. 14. 7. 1908 Emershausen, gest. 15. 11. 1984 München 1955–1975 Landesbischof der Ev.-Luth. Kirche in Bayern, 1967–1973 Vorsitzender des Rates der EKD. Engelhardt, Klaus, Dr. theol., Pfarrer, Bischof, Vorsitzender des Rates der EKD 270, 333 f. geb. 11. 5. 1932 Schillingstadt 1960 Promotion an der Universität Heidelberg, 1962–1966 Studentenpfr. Karlsruhe, 1966–1980 Professor für Ev. Theologie/Religionspädagogik an der PH Heidelberg, 1980–1998 Landesbischof der Ev. Landeskirche in Baden, 1991–1997 Vorsitzender des Rates der EKD. Eppler, Erhard, Dr. phil., Politiker, MdB, Bundesminister, Kirchentagspräsident 186 geb. 9. 12. 1926 Ulm, gest. 19. 10. 2019 Schwäbisch Hall 1952 Eintritt in die GVP, 1956 Wechsel zur SPD, 1961–1976 MdB, 1968–1974 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, 1973–1981 Landesvorsitzender der SPD Baden-Württemberg, 1976–1982 MdL Baden-Württemberg, 1981–1983/1989–1991 Präsident des DEKT. Frenz, Helmut, Pfarrer, Menschenrechtsaktivist 22 f., 29, 45, 150 f., 154, 156–169, 172, 175–177, 179–188, 195, 213, 222, 225, 256, 342, 345–348 geb. 4. 2. 1933 Allenstein (Ostpreußen), gest. 13. 9. 2011 Hamburg

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1959–1964 Pfr. auf Fehmarn, 1965–1976 Pfr. und Probst der evangelisch-lutherischen Kirche in Chile, 1974 Nansen-Flüchtlingspreis des UNHCR, 1975 Ausweisung aus Chile, 1976–1985 Generalsekretär von Amnesty International Deutschland, 1999–2005 Beauftragter für Flüchtlings-, Asyl- und Zuwanderungsfragen beim Präsidenten des Landtags von Schleswig-Holstein, 2007 Verleihung der Ehrenbürgerschaft Chiles. Funcke, Liselotte, Politikerin, MdB 235 f., 316 geb. 20. 7. 1918 Hagen, gest. 2. 8. 2012 Hagen 1946 Eintritt in die FDP, 1950–1961 MdL Nordrhein-Westfalen, 1961–1979 MdB, 1961–1991 Mitglied der Kammer der EKD für Öffentliche Verantwortung, 1969–1979 Bundestagsvizepräsidentin, 1977–1982 Stellv. Bundesvorsitzende der FDP, 1979–1980 Ministerin für Wirtschaft, Mittelstand und Verkehr NRW, 1981–1991 Ausländerbeauftragte der Bundesregierung. Gaertner, Joachim, Jurist, Referent, OKR 194 f., 198, 229 geb. 17. 12. 1937, gest. 20. 1. 2017 1977–2003 Juristischer Referent in der Dienststelle des Bevollmächtigten der EKD bei der Bundesregierung. Gauweiler, Peter, Dr. iur., Politiker 249 f., 312 f., 315, 317, 327, 352 geb. 22. 6. 1949 München 1968 Eintritt in die CSU, 1982–1986 berufsmäßiger Stadtrat und Kreisverwaltungsreferent der Landeshauptstadt München, 1986–1990 Staatssekretär im Bayerischen Staatsministerium des Innern, 1990–2002 MdL Bayern, 2002–2015 MdB. Gerstenmaier, Eugen, Dr. theol., Theologe, Bundestagspräsident 60, 103 geb. 25. 8. 1906 Kirchheim/Teck, gest. 13. 3. 1986 Oberwinter/Rhein Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 87. Glucksmann, Andr , Philosoph, Publizist 199 geb. 19. 6. 1937 Boulogne-Billancourt, gest. 10. 11. 2015 Paris Studium der Philosophie in Lyon, 1968 Beteiligung an den Mai-Demonstrationen in Paris, 1975 Bruch mit dem Marxismus, 1979 Beteiligung an der Kampagne zur Unterstützung der vietnamesischen Bootsflüchtlinge in Frankreich. Gollwitzer, Helmut, Prof. Dr. theol., Theologe, Hochschullehrer 45, 157, 160, 168–170, 178, 187, 207–209, 211, 222, 232, 238, 307, 357 geb. 29. 12. 1908 Pappenheim/Bayern, gest. 17. 10. 1993 Berlin Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 90. Gundert, Wilhelm, Pfarrer, OKR 75, 110, 120, 124, 126, 129, 131 f., 134, 141, 164 geb. 11. 3. 1915 Stuttgart, gest. 18. 2. 2005 Hannover 1938 Vikariat in Württemberg, 1938–1950 Wehrdienst, Kriegsdienst, Kriegsgefangenschaft und Heilbehandlung, Pfarrverweser und Pfr. in Württemberg, 1950–1956 EOK Stuttgart, 1956–1980 Kirchenbeamter der EKD, 1. 1963–1980 Oberkirchenrat. Mitglied des Flüchtlingsbeirats der EKD. Gysi, Gregor, Dr. iur., Politiker, MdB 330 f. geb. 16. 1. 1948 Berlin 1989–1993 Vorsitzender der SED/PDS, 1990–1998 Vorsitzender der PDS-Bundestagsgruppe. 1990–2002/2005–heute MdB. Hahn, Hans-Otto, Theologe, Direktor von „Brot für die Welt“ 39, 156, 186, 188 f., 191 geb. 18. 2. 1936 Erbach, gest. 3. 11. 2003

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1963 Ordination, 1966–1969 Stipendienreferent in der HGSt des Diakonischen Werks, 1969–1999 Direktor des Bereichs Ökumenische Diakonie und von „Brot für die Welt“. Hanselmann, Johannes, Theologe, Bischof 251 f., 276, 282, 292 f., 297, 299, 343 geb. 9. 3. 1927 Ehingen am Ries, gest. 2. 10. 1999 Rotthalmünster 1975–1994 Landesbischof der Ev.-Luth. Kirche in Bayern, 1987–1990 Präsident des LWB. Hassel, Kai-Uwe von, Politiker, Bundesvertriebenenminister 124, 186 f. geb. 21. 4. 1913 Gare (Deutsch-Ostafrika), gest. 8. 5. 1997 Aachen. 1946 Eintritt in die CDU, 1950–1964 MdL Schleswig-Holstein, 1954–1963 Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, 1963–1966 Bundesminister der Verteidigung, 1966–1969 Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, 1969–1972 Bundestagspräsident, 1972–1976 Bundestagsvizepräsident. Heinemann, Gustav, Dr. rer. pol., Jurist, Synodalpräses, Bundespräsident 55, 160 geb. 23. 7. 1899 Schwelm/Westfalen, gest. 7. 7. 1976 Essen Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 105. Heubach, Joachim, Dr. theol., Theologe, Bischof 220, 226 f., 272 f., 292, 297, 322, 326, 339, 343 geb. 20. 11. 1925 Berlin, gest. 29. 10. 2000 Eutin 1951 Promotion an der Universität Kiel, 1961–1963 Pastor in Kiel, 1963–1970 Studiendirektor Predigerseminar Preetz (Holstein), 1970–1979 Landessuperintendent Lauenburg, 1979–1991 Landesbischof der Ev.-Luth. Landeskirche von SchaumburgLippe, 1980–1996 Beauftragter des Rates der EKD für die Seelsorge im Bundesgrenzschutz. Höffkes, Peter, Politiker, MdB 257 geb. 9. 4. 1927 Duisburg, gest. 28. 8. 2005 1966–1984 Mitglied der Landessynode der ELKB, 1976–1990 MdB für die CSU. Huber, Wolfgang, Dr. theol., Theologe, Hochschullehrer, Kirchentagspräsident 262, 269, 286, 295, 299 geb. 12. 8. 1942 Straßburg 1960–1966 Studium der Theologie, 1966 Promotion, 1972 Habilitation, 1980–1984 Professur für Sozialethik in Marburg, 1983–1985 Präsident des DEKT, 1984–1994 Professur für Systematische Theologie/Ethik in Heidelberg, 1994–2003 Bischof der Ev. Kirche Berlin-Brandenburg, 2003–2009 Vorsitzender des Rats der EKD. Kohl, Helmut, Politiker, Bundeskanzler 229, 311 geb. 3. 4. 1930 Ludwighafen, gest. 16. 6. 2017 Ludwigshafen 1982–1998 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Korspeter, Lisa, Politikerin, MdB 126 geb. 31. 1. 1900 Großörner, gest. 8. 10. 1992 Celle 1928 Eintritt in die SPD, 1949–1969 MdB, 1967–1969 Stellv. Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Angelegenheiten der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge Kruse, Martin, Dr. theol., Bischof, Vorsitzender des Rates der EKD 209, 250, 263, 308, 311 geb. 21. 4. 1929 Lauenberg 1969 Promotion an der Universität Heidelberg, 1970–1977 Landessuperintendent Stade, 1977–1994 Bischof der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg, 1985–1991 Vorsitzender des Rates der EKD.

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Kunst, Hermann, Dr. theol., Theologe, Bevollmächtigter der EKD 120, 124, 128, 131, 136, 142, 160, 188, 191, 289, 295, 298, 357 geb. 21. 1. 1907 Ottersberg, gest. 6. 11. 1999 Bonn. Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 149. Landsberg, Ludwig, Jurist, Ministerialdirigent 77, 80–82, 89, 101 f., 111 f. geb. 25. 3. 1911 Berlin, gest. 25. 8. 1978 Ebenhausen 1939–1945 Wehrdienst, 1947–1975 Referent (zuletzt Ministerialdirigent) für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen im Arbeits- und Sozialministerium Nordrhein-Westfalen, 1959 und 1965–1977 Mitglied der Leitung der Ev. Kirche im Rheinland, Vorstandsmitglied des Diakonischen Werkes im Rheinland, Mitautor der Denkschrift „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“. Leuninger, Herbert, kath. Priester 243, 258–260, 262, 269 f., 272, 281, 286, 323, 325, 337 geb. 8. 9. 1932 Köln, gest. 28. 7. 2020 Limburg 1958 Priesterweihe in Limburg, 1959–1970 Gemeindedienst, 1970–1972 Jugendpfr. im Bezirk Main-Taunus, 1972–1992 Migrationsreferent des Bischofs von Limburg, 1986–1994 Sprecher von „Pro Asyl“. Lilje, Hanns, Dr. theol., Theologe, Pfarrer, Landesbischof 108, 139 geb. 20. 8. 1899 Hannover, gest. 6. 1. 1977 Hannover Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 157 f. Löffler, Paul, Dr. theol., Pfarrer 243 geb. 29. 10. 1931 Lodz, gest. 26. 9. 2010 Lauenburg Studium der Theologie in Marburg, Zürich, und Bonn, 1959 Promotion und Ordination, 1960–1968 Mitarbeiter des Internationalen Missions-Rates und des ÖRK, 1976–1985 Studienleiter an der Missionsakademie Hamburg, ab 1985 Leiter des Amtes für Mission und Ökumene der EKHN, 1995 Ruhestand. Lorenz, Peter, Politiker 169, 262 geb. 22. 12. 1922 Berlin, gest. 6. 12. 1987 ebd. Kriegsdienst, Studium der Rechtswissenschaft, 1945 Eintritt in die CDU, 1949 Engagement in der „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“, 1954–1980 Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, 1969–1981 Landesvorsitzender der CDU Berlin, 1982–1987 PStS beim Bundeskanzler. Lottje, Werner, Jurist, Referent 191, 194–196, 198, 202, 217, 222, 227–229, 254, 256, 288, 301 geb. 1946, gest. 2004 1977 Referent für politisch Verfolgte und Flüchtlinge im Diakonischen Werk, später Menschenrechtsreferent und Leiter der Hauptabteilung „Politik/Kampagnen“, 2001–2003 Vorsitzender des Kuratoriums des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Lukens, Nancy, PhD., Hochschullehrerin 305 f. geb. 1945 Studium der Germanistik in den USA, Promotion in Chicago, 1979–1981 HumboldtStipendiatin an der FU Berlin, Publikationen zum Widerstand im Dritten Reich und Übersetzung von Schriften Dietrich Bonhoeffers, seit 1995 Professorin für Women’s Studies und Germanistik an der Universität New Hampshire. Lummer, Heinrich, Politiker, Innensenator 229 f., 233, 240, 277 f., 310, 312, 341 geb. 21. 11. 1932 Essen, gest. 15. 6. 2019 Berlin

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1953 Eintritt in die CDU, 1967–1987 Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, 1981–1986 Senator für Inneres in Berlin, 1987–1998 MdB. Micksch, Jürgen, Dr. phil., Pfarrer, OKR 29, 195 f., 240, 255–260, 286, 288, 293, 298 f., 308 f., 323, 325, 342 geb. 20. 1. 1941 Breslau 1965 Erstes Theologisches Examen, 1968 Zweites Theologisches Examen, 1971 Promotion in Soziologie, 1974–1984 Ausländerreferent und OKR im Kirchlichen Außenamt (ab 1983 Kirchenamt der EKD), 1984–1993 Stellv. Direktor der Ev. Akademie Tutzing, 1986–2012 Vorsitzender von „Pro Asyl“, 1993–2001 Interkultureller Beauftragter der Ev. Kirche in Hessen und Nassau. Mildenberger, Michael, Pfarrer, OKR 29, 240–242, 246–249, 252 f., 255 f., 260, 264–268, 273 f., 287–290, 293, 308, 312, 341 f., 350 geb. 1934, gest. 1. 9. 2020 Schönwalde-Glien 1965–1970 Gemeindepfr., 1970–1981 Pfr. in der Kirchenkanzlei der EKD / Ev. Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Arbeitsbereich Weltreligionen, 1981–1997 Pfr. und OKR in der Kirchenkanzlei der EKD (ab 1983 Kirchenamt der EKD) als Referent für interreligiöse und interkulturelle Aufgaben sowie für Fragen der Arbeitsmigration, für Asyl und Flüchtlinge. Müller, Eberhard, Theologe, Pfarrer, Akademiedirektor 155, 312 geb. 22. 8. 1906 Stuttgart, gest. 11. 1. 1989 Heidelberg Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 178. Neudeck, Rupert, Dr. phil., Journalist, Mitgründer „Cap Anamur“ 199–201, 205–207, 209 geb. 14. 5. 1939 Danzig, gest. 31. 5. 2016 Siegburg 1977–1998 Redakteur beim Deutschlandfunk, 1979 Gründung des Komitees „Ein Schiff für Vietnam“. Neukamm, Karl-Heinz, Pfarrer, Präsident des Diakonischen Werkes 202, 237, 240, 244, 246–248, 251 f., 257, 268, 292, 302–304, 314–316, 319, 321 geb. 19. 4. 1929 Pegnitz, gest. 7. 8. 2018 Nürnberg 1956–1960 Pfr. in Beerbach, 1967–1984 Rektor der Rummelsberger Anstalten in Schwarzenbruck, 1984–1994 Präsident des Diakonischen Werkes, 1994–2000 Beauftragter des Rates der EKD für Fragen der Spätaussiedler und Heimatvertriebenen. Oberkampf, Horst, Pfarrer 218, 220, 270–272, 291 geb. 1942 Vikariat und Gemeindedienst in der Ev. Landeskirche in Württemberg, 1972–1985 Studienleiter an der Ev. Akademie Bad Boll. Oberländer, Theodor, Prof. Dr. agr., Bundesvertriebenenminister 90, 124, 128–130 geb. 1. 5. 1905 Meiningen, gest. 4. 5. 1998 Bonn 1953–1960 Bundesminister für Angelegenheiten der Heimatvertriebenen (ab 1957 für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsbeschädigte). Petersmann, Werner, Dr. theol., Pfarrer, Politiker 165 geb. 2. 1. 1901 Dortmund, gest. 17. 5. 1988 Hannover während der NS-Zeit Mitglied der Deutschen Christen, nach 1945 Pfr. in Hannover mit Fokus auf Vertriebenenseelsorge, 1969 Spitzenkandidat der niedersächsischen NPD bei der Bundestagswahl. Pfaff, Victor, Jurist, Rechtsanwalt 249, 257–259, 261, 301 geb. 19. 1. 1941 Stuttgart

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1972 Zulassung als Rechtsanwalt, 1982–2014 Mitglied der Rechtsberaterkonferenz der Wohlfahrtsverbände, 1986 Mitgründer von „Pro Asyl“. Pfeil, Elisabeth, Prof. Dr. phil., Soziologin, Hochschullehrerin 44, 104, 109 geb. 9. 7. 1901 Berlin, gest. 1975 Dießen am Ammersee 1952–1956 Mitarbeiterin der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster, 1956 Mitarbeiterin der Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg, 1961 Berufung in die Kammer für soziale Ordnung der EKD, 1964–1968 Professorin Hochschule Hamburg. Pinochet, Augusto, General, Diktator Chiles 18, 146, 149 f., 182, 185, 187 geb. 25. 11. 1915 Valpara so, gest. 10. 12. 2006 Santiago de Chile 1973 Militärputsch gegen Präsident Allende, 1973–1990 Diktator Chiles. Potter, Philip, Pastor, Generalsekretär des ÖRK 154, 261 geb. 19. 8. 1921 Roseau, gest. 31. 3. 2015 Lübeck 1944–1948 Studium der Theologie in Kingston und London, 1972–1984 Generalsekretär des ÖRK. Quandt, Jürgen, Pfarrer 235, 238, 241, 243, 262, 304 f. geb. 25. 4. 1944 Guben 1963–1968 Studium der Theologie in Berlin und Marburg, später berufsbegleitendes Studium der Sozialpädagogik, ab 1980 Pfr. der Kirchengemeinde Heilig-Kreuz-Kirche Berlin-Kreuzberg, 1983 Mitinitiator des ersten Kirchenasyls in der Bundesrepublik, 1994 Mitgründer der Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“. Ranke, Hansjürg, Jurist, OKR 120, 124, 134 geb. 9. 6. 1904 Arosa/Schweiz, gest. 3. 2. 1987 Berlin Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 202. Robbers, Gerhard, Dr. iur., Jurist, Hochschullehrer 309 geb. 17. 11. 1950 Bonn 1971–1975 Studium der Rechtswissenschaften in Freiburg, 1979 Promotion, 1986 Habilitation, 1988–1989 Professur für Öffentliches Recht in Heidelberg, seit 1989 Professur für Öffentliches Recht an der Universität Trier, 2013 Präsident des DEKT. Scharf, Kurt, Theologe, Bischof 137, 155, 187, 224, 232, 276, 310 geb. 21. 10. 1902 Landsberg/Warthe, gest. 28. 3. 1990 Berlin Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 215. Schäuble, Wolfgang, Politiker, MdB, Bundesinnenminister 268, 295, 329–331, 334 geb. 18. 9. 1942 Freiburg im Breisgau seit 1972 MdB, 1984–1989 Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramts, 1989–1991 Bundesminister des Innern, 1991–2000 Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Schmidt, Helmut, Politiker, Bundeskanzler 181, 185, 298 geb. 23. 12. 1918 Hamburg, gest. 10. 11. 2015 Hamburg 1974–1982 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Schmude, Jürgen, Dr. iur., Politiker, Bundesminister, Synodalpräses 184, 186, 197, 314, 330, 340 geb. 9. 6. 1936 Insterburg (Ostpreußen) 1957 Eintritt in die SPD, 1969–1994 MdB, 1974–1976 PStS beim Bundesminister des Innern, 1978–1981 Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, 1981–1982 Bundesminister der Justiz, 1983–1985 Stellv. Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, 1985–2003 Präses der Synode der EKD.

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Schober, Theodor, Dr. theol., Pfarrer, Präsident des Diakonischen Werkes 184, 186, 190 f., 195 f., 202, 210, 220, 227 f., 298, 300 geb. 10. 8. 1918 Zirndorf, gest. 26. 7. 2010 Loßburg 1948 Promotion an der Universität Erlangen, 1955–1963 Rektor der Diakonie Neuendettelsau, 1963–1984 Präsident des Diakonischen Werkes. Schönberg, Heinrich von, Dr. iur, Jurist, Referent 29, 54, 58 f., 61, 63 f., 68 f., 73, 75 f., 79, 94, 98, 108, 117–121, 123–128, 132, 134–137, 157 geb. 1. 6. 1903, gest. 26. 12. 1967 Überlingen 1945 Flucht aus Sachsen, 1952–1964 Referent für Flüchtlinge aus Mitteldeutschland im Zentralbüro des Hilfswerks der EKD (ab 1957 Diakonisches Werk der EKD), 1954–1964 Leiter der Rechtsberatungsstelle für Flüchtlinge. Schottroff, Luise, Prof. Dr. theol., Theologin, Hochschullehrerin 261, 271 f., 284, 295, 319 f., 327 geb. 11. 4. 1934 Berlin, gest. 8. 2. 2015 Kassel 1960 Promotion an der Universität Göttingen, 1969 Habilitation, 1978–1986 Professorin für Biblische Archäologie und Neues Testament an der Universität Mainz, 1986–1999 Professorin für Neues Testament an der Universität Kassel. Seeberg, Stella, Dr. rer. soc. habil., Soziologin, Referentin 108–110, 119 geb. 14. 7. 1901 Dorpat, gest. 2. 12. 1979 Kellinghusen 1947/48–1958 Leiterin der Forschungsstelle der Ev. Akademie Hermannsburg/Loccum. Spranger, Carl-Dieter, Politiker, MdB 313–317, 352 geb. 28. 3. 1939 Leipzig 1968 Eintritt in die CSU, 1972–2002 MdB, 1982–1991 PStS beim Bundesminister des Innern, 1991–1998 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit (ab 1993 für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung). Stoiber, Edmund, Dr. iur., Politiker, Staatsminister 293 geb. 28. 9. 1941 Oberaudorf 1971 Eintritt in die CSU, 1974–2008 MdL Bayern, 1988–1993 Bayerischer Staatsminister des Innern, 1993–2007 Ministerpräsident des Freistaates Bayern. Stumpf, Karl-Ludwig, Pfarrer 114 f. geb. 21. 9. 1913, gest. 1. 5. 1987 in den 1950er/1960er Jahren Leiter des Büros Hongkong des LWB. Thadden-Trieglaff, Reinhold, Dr. jur., Jurist, Kirchentagspräsident 56 f. geb. 13. 8. 1891 Mohrungen/Ostpreußen, gest. 10. 10. 1976 Fulda Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 254 f. Tute, Friedrich, Pfarrer 162–164 geb. 27. 2. 1909 Hamburg, gest. 28. 4. 1986 Fridolfing 1938 Ordination in Hamburg, 1952–1970 Pfarrdienst in Chile, 1970–1974 Pastor in Nord-Barmbek. Ullman, Wolfgang, Dr. theol., Theologe, Politiker, MdB 331 geb. 18. 8. 1929 Gottleuba, gest. 30. 7. 2004 Adorf 1948–1954 Studium der Theologie und Philosophie in West-Berlin und Göttingen, ab 1963 Dozent für Kirchengeschichte am Katechetischen Oberseminar Naumburg, ab 1978 Dozent für Kirchengeschichte am Sprachenkonvikt Ost-Berlin, 1989 Mitbegründer von „Demokratie Jetzt“, 1990 Minister ohne Geschäftsbereich in der Regierung Modrow, 1990–1994 MdB für Bündnis 90 (ab 1993 Bündnis 90/Die Grünen).

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Weber, Wolfgang, Pfarrer, Kirchenrat 270, 274, 279 geb. 21. 2. 1947 Neckarhausen, gest. 4. 11. 2010 1982–2001 Landeskirchlicher Beauftragter für Seelsorge an Aussiedlern, Ausländern und Flüchtlingen im Ev. Oberkirchenrat Karlsruhe. Weiss, Peter, Schriftsteller 206–208 geb. 8. 11. 1916 Nowawes, gest. 10. 5. 1982 Stockholm 1936 Emigration nach Prag, 1939 Emigration nach Schweden, 1968 Uraufführung des Theaterstücks „Viet Nam-Diskurs“, 1975–1981 Veröffentlichung der Trilogie „Die Ästhetik des Widerstands“. Wester, Reinhard, Pfarrer, Bischof, Flüchtlingsbeauftragter der EKD 45, 57, 82 f., 87, 89, 94, 110, 124–130, 135 f. geb. 2. 6. 1902 Wuppertal-Elberfeld, gest. 16. 6. 1975 Eutin Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 274. Zimmermann, Friedrich, Politiker, MdB, Bundesinnenminister 223, 229, 260, 263, 267 f., 303, 310, 352 geb. 18. 7. 1925 München, gest. 16. 9. 2012 Filzmoos 1948 Eintritt in die CSU, 1957–1990 MdB, 1982–1989 Bundesminister des Innern, 1989–1991 Bundesminister für Verkehr.