Feuerzeichen: Warum Menschen sich anzünden 9783666462245, 3525462247, 9783525462249


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Feuerzeichen: Warum Menschen sich anzünden
 9783666462245, 3525462247, 9783525462249

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Christian Braune

Feuerzeichen Warum Menschen sich anzünden

Mit 2 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Informationen Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar. ISBN 3-525-46224-7 © 2005, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Schrift: Minion Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

1. Prolog ______________________________________ 7 Erste Eindrücke, Reaktionen und Fragen . . . . . . . . . . . . . . . 7 Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Selbstmord – Freitod – Suizid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Mensch – Person – Patient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2. Forschungsüberblick ___________________________ Ein Blick auf die Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstverbrennung als Thema der Suizidforschung . . . . . . Selbsttötung als komplexes Geschehen . . . . . . . . . . . . . . . . Basisdaten über die Selbstverbrennung . . . . . . . . . . . . . . . . Ein kritischer Rückblick auf die Forschungsergebnisse . . .

18 18 21 22 25 30

3. Selbstverbrennung in der klinischen Praxis _________ Ergebnisse einer eigenen Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Falldarstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Der Leitaffekt der Scham und die Psychodynamik der Selbstverbrennung _________________________ Herkunft und Sinn der Scham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Scham-Affekt in der kulturanthropologischen Kontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Scham, Selbst und Selbstwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Selbst und die Haut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gefährdung und Verletzung des Selbstwertgefühls . . . . . . . Reife Kompensationsformen der Selbstwerterschütterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Zusammenbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die homöopathische Logik von Scham und Feuertod . . . . Die Bedeutung des Ortes für die Selbstverbrennung . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53 53 59 65 67 69 73 74 77 78 79

5

5. Die Welt brennt – Apokalyptik als religionsphänomenologische Interpretationshilfe für das Verständnis des Feuertodes _____________________ 80 Grundsätzliches zur Apokalyptik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Feuer, Gericht und Weltende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 6. Himmel und Hölle – Zwischenzustand und Feuerjenseits in der christlichen Tradition __________ 100 7. Menschen, die brennen ________________________ Die Fackel von Zeitz: Oskar Brüsewitz . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Flammenengel von Falkenstein: Rolf Günther . . . . . . Feuer der Vernichtung: Hexenverbrennungen . . . . . . . . . . 8. Warum sich Menschen anzünden – die Besonderheit der Selbstverbrennung ___________ Feuer als Symbol für Bestrafung: die Grundstrebung der Aggression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Feuer als Symbol für Buße und Läuterung: die Grundstrebung der Autoaggression . . . . . . . . . . . . . . . . Feuer als Symbol für Lebensenergie: die Grundstrebung von Appell und Suche nach Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . Feuer als Symbol für Wandlung und Transzendenz: die Grundstrebung von Flucht und Erlösung . . . . . . . . . . . 9. Die Therapie _________________________________ Die Gegenwart der Scham und die therapeutische Haltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Modell einer sinnorientierten Psychotherapie . . . . . . . Wann beginnen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der zeitliche Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Therapieverläufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

106 106 112 115

124 125 126 127 128 131 131 137 143 144 144

10. Schluss _____________________________________ 154 Dank _________________________________________ 155 Literatur ______________________________________ 156 6

1. Prolog

Erste Eindrücke, Reaktionen und Fragen Es ist 19:00 Uhr. Über die Notrufzentrale der Feuerwehr wird ein Patient auf der Intensivstation des Brandverletzten-Zentrums angekündigt: Ein 30-jähriger Mann hat sich – vermutlich »in suizidaler Absicht«, wie es in solchen Fällen knapp heißt – mit Benzin übergossen und angezündet. Eine Stunde später ist Daniel Vogt1 narkotisiert und beatmet da. Er wirkt relativ klein und schmächtig. Nur noch sein Kopf mit dem Tubus im Mund schaut unter der Spezialdecke heraus. Der Notarzt, der ihn zuerst versorgt hat, begleitet ihn in den Schockraum. Dort wird er vom Brandverletzten-Team übernommen. Das, was einmal seine Kleidung war, hängt ihm zusammen mit Hautfetzen vom Leib. Die Kopfhaare sind verschmort und rußig. Das Gesicht ist wie ein Ballon aufgedunsen, die Augen zu Schlitzen zugeschwollen. Die Haut auf Brust, Bauch und den Oberschenkeln ist durch die Gluthitze zu einer einzigen großen Wunde verbrannt. An manchen Stellen ist das Fettgewebe verkocht. Es schimmert weißlich. Die Endglieder der linken Hand sehen wie Vogelkrallen aus, starr und schwarz. Im Spezialbad wird Daniel Vogt unter sterilen Bedingungen untersucht. Die Wunden werden gereinigt, das Ausmaß und die Tiefe der Verbrennung eingeschätzt. Um zu verhindern, dass die Durchblutung der Unterarme, die zirkulär verbrannt sind, durch die massive Schwellung unterbrochen wird, setzt der Chirurg Entlastungsschnitte. Es riecht süßlich nach verbranntem Fleisch. Eineinhalb Stunden später wird Daniel Vogt in Box 1 in einem Spezialbett gelagert. Wenn er diese Nacht überlebt, wird er morgen das erste Mal operiert. 1 Alle Namen und biographischen Details wurden verändert, um einen Rückschluss auf die tatsächlichen Personen auszuschließen.

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In der Wartezone vor der Station treffe ich eine junge Frau. Sie stellt sich vor. »Ich bin Melanie, seine Freundin«, sagt sie und erzählt, dass beide zusammen mit mehreren Freunden in einem Wohnwagen auf einem Bauwagenplatz am Stadtrand leben. Melanie wollte Daniel nach einem Streit, den er betrunken angefangen hatte, verlassen und zu ihren Eltern zurückkehren. »Da ist er einfach aufgestanden und rausgegangen. Ich habe gar nicht gecheckt, was passiert. Ich bin ihm nach und da brannte er schon«. Sie stockt. »Wie eine Feuersäule stand er da … es hat eine Ewigkeit gedauert, bis Hilfe kam!« Der Anästhesist kommt und setzt sich zu uns. Er gibt eine Einschätzung der Situation ab: Daniel ist jung. Sein Zustand ist stabil. Trotz der mehr als 50 %-igen Verletzung hat er eine gute Chance zu überleben. Ich gehe zurück auf die Station. Eine Krankenschwester kommt mir entgegen. Sie sieht mich an. »Schon wieder so ein Wahnsinniger! Die sind doch krank, die sowas tun!« Was hat Daniel Vogt erlebt, dass er sich auf eine so dramatischschmerzhafte Weise töten wollte? Jeder weiß, wie höllisch weh eine Verbrennung tut. Jedes Wesen, ob Mensch oder Tier, flieht in panischem Entsetzen vor dem Feuer. Und dann sich selbst anzünden? James Hillman hat Recht, wenn er schreibt: »Der Selbstmord ist das beunruhigendste Lebensproblem … Er trägt das Gesicht unwiderruflicher Zerstörung und lässt Schuld und Scham und hoffnungsloses Nichtverstehen zurück« (Hillmann 1984, S. 4). Menschen zünden sich auch nicht im Verborgenen an, sondern im Garten, auf dem Marktplatz und vor der Tankstelle, neben dem Supermarkt, in unserer Nähe, in Räumen und an Orten, die auch wir nutzen, an denen wir leben – so wie Daniel Vogt. Löst ein Selbsttötungsversuch darum generell schon ausgesprochen zwiespältige Gefühle bei den Behandelnden im Team aus, wird eine versuchte Selbstverbrennung fast immer mit fassungslosem Kopfschütteln und abwehrender Aggressivität quittiert. Die Patienten gelten als äußerst schwierig. Die Chancen einer seelischen Heilung und einer späteren erfolgreichen 8

Rehabilitation werden als nicht sehr aussichtsreich eingeschätzt (Stoddard 1993, S. 480). Nur manchmal gibt es auch eine andere Reaktion: »Was muss ein Mensch erlebt haben, und wie sehr müssen ihm die Probleme auf den Nägeln gebrannt haben, dass er keinen anderen Ausweg mehr sah?« Die Annäherung an solch ein Schicksal ist schwer. Dann sagt jemand: »Mir tut der Patient Leid!«. Das kann auch heißen: »Dieser Mensch tut mir, dem Mitarbeiter des BrandverletztenZentrums, ein Leid an. Er tut mir weh.« Mit seinem Feuersuizidversuch durchstößt er alle professionellen Schutzschilde. In diesen zwiespältigen Gefühlen drückt sich die archaische Angst vor und die urtümliche Faszination durch das Feuer aus. Davon werden auch die erfasst, die einem Menschen nach einem Selbstverbrennungsversuch begegnen – als Pflegende, Ärzte, Psychologen und Seelsorger. Um diese erschreckende Handlung zu verstehen und ihr therapeutisch angemessen begegnen zu können, frage ich nicht nur nach der auslösenden Situation unmittelbar vor dem Selbsttötungsversuch und nach der entsprechenden Dynamik, sondern auch nach den mit Märchen, Mythen und religiösen Symbolen verbundenen anthropologischen Wurzeln der Selbstverbrennung. Es bleibt die bedrückende Frage: Wenn schon von eigener Hand sterben – warum dann mit, im und durch das Feuer?

Zugänge Am Anfang steht das Erschrecken. Es bleibt erhalten, auch wenn ich auf dem Weg der Erkundung Themen entfalte, die zunächst nicht unmittelbar etwas mit dem Feuertod zu tun haben. Menschen, die sich mit einer brennbaren Flüssigkeit angezündet haben, bleiben ihr Leben lang durch ihre schweren Brandmale gezeichnet. Narben, Spalthautareale und Amputationen erinnern unübersehbar an den Augenblick größter Verzweiflung. Die Folgen eines Suizidversuchs mit Feuer brennen sich in die Haut ein. 9

Das Erschrecken wird zur Frage: Warum gerade mit Feuer? Warum nicht auf eine andere, weniger schmerzhafte Weise? Immer wieder habe ich Patienten danach gefragt. Sie wussten keine Antwort. Aber niemals war ihnen der Zusammenhang von Suizidversuch und Feuer egal. Im Gegenteil: Aus ihrem Mund klingt die Frage noch drängender und verzweifelter: »Warum nur habe ich das getan und dann noch so!?« Wilhelm Dilthey hat darauf hingewiesen, dass es ein Mindestmaß an Nachvollziehbarkeit geben muss, um fremde Lebensäußerungen zu verstehen, egal, ob es sich um einen literarischen Text oder um die Lebensgeschichte eines Menschen handelt. »Die Auslegung wäre unmöglich, wenn die Lebensäußerungen ganz fremd wären. Sie wäre unnötig, wenn in ihnen nichts fremd wäre. Zwischen diesen beiden äußersten Gegensätzen liegt sie also. Sie wird überall erfordert, wo etwas fremd ist, was die Kunst des Verstehens zu eigen machen soll« (Dilthey 1958, S. 225). Auf den Suizid mit Feuer angewendet bedeutet das: Nur weil es in diesem erschreckend abstoßenden Geschehen, das sich einer Deutung zuerst einmal verschließt, Aspekte eines nachvollziehenden Verstehens gibt, ist eine Interpretation überhaupt denkbar. Von Menschen in Krisen sagt man: Sie haben ein brennendes Problem, oder: Ihnen brennt es auf den Nägeln. Es besteht eine inhaltliche Beziehung von Suizid und Suizidmittel. Das ist meine Arbeitshypothese. Diese Relation ist nicht willkürlich. Es ist nicht egal, ob sich jemand erschießt, erhängt, ins Wasser oder mit Schlaftabletten in den Wald geht. Die Methode des Selbsttötungsversuchs sagt etwas über den Sinn aus, den jemand mit seinem Suizid verbindet. Methode meint hier mehr als nur die technische Art und Weise der Durchführung des Suizids. Als Lehnwort aus dem Griechischen bedeutet methodos: Weg zu etwas hin. Der Aspekt der Intentionalität ist mitgedacht. Wer eine Methode bewusst oder unbewusst wählt, will irgendwo hin. Ich werde darum nach der Bedeutung des Feuers als Methode der Selbsttötung im Zusammenhang mit der suizidalen Dynamik fragen. Die Erwartung ist, dass die Entdeckung eines 10

Sinns im Selbstverbrennungsgeschehen die Frage beantwortet, welche therapeutische Hilfe angemessen ist, um dem Patienten zu helfen, in sein Leben zurückzukehren. Dass es überhaupt einen verborgenen Sinn zu entdecken gibt, ist dabei nicht selbstverständlich. Es liegt der Verdacht nahe, einem eigentlich sinnlosen Akt solle nachträglich eine Bedeutung untergeschoben werden, um die Folgen erträglicher zu machen. Dagegen bleibt festzuhalten, dass jedes Wissen dialektisch ist. Erkenntnis kann nur haben, wer fragt. Fragen kann nur der, der eine ungefähre Vorstellung vom Gegenstand hat, um den es geht. Diesen »hermeneutischen Zirkel« aus Frage und vorläufiger Antwort, der in der Auseinandersetzung mit dem Material in Versuch und Irrtum weiterentwickelt wird, liegt, mit den Worten Hans Georg Gadamers, ein »ontologisch positiver Sinn« voraus. »Wer einen Text [hier: Lebensgeschichte] verstehen will«, schreibt er, »vollzieht immer ein Entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was da steht« (Gadamer 1960, S. 251). Nach einem solchen im Prozess von Frage und vorläufiger Antwort aufscheinenden Sinn der Selbstverbrennung frage ich auf drei Wegen. Nach der Klärung wichtiger Begriffe und einem Blick auf die Statistik stelle ich die suizidale Psychodynamik mit dem Erklärungsmodell der klassischen Psychoanalyse (S. Freud) und der aus ihr entwickelten Selbst-Psychologie (H. Kohut) und Narzissmus-Theorie (H. Henseler) dar. Zusammen mit Ergebnissen der neueren Säuglingsforschung (D. Stern), Einsichten über die Bedeutung der Haut für die Entwicklung des Selbst (D. Anzieu) und der Scham (R. Benedict, M. Jakoby, M. Hilgers) beschreibe ich den seelischen Prozess, der in die Selbstverbrennung führt. Die Kontroverse zwischen S. Freud und M. Scheler macht deutlich, dass vor allem die Scham der Leitaffekt ist, der in den Feuersuizid führt. 11

Anhand von Fallvignetten aus meiner klinischen Praxis erzähle ich von lebensgeschichtlichen und situativen Bedingungen, die für diese besondere Form des Suizids charakteristisch sind. Nach einer knappen Vorstellung kommen Patienten in Gesprächsausschnitten zu Wort. Die individuelle Symptomatik und der persönliche Konflikt werden deutlich. Anschließend stelle ich Motive heraus und deute sie. Schließlich geht es dabei nicht nur um die spezielle Psychodynamik und den Selbstbezug in Lebensgeschichte und auslösender Akutsituation, sondern auch um den transindividuellen und transpersonalen Sinn-Horizont. Ich befrage darum die religiösen Traditionen, in denen Elementarwissen über die Bedeutung des Feuers als Lebens- und Todesmittel aufgehoben ist, nach ihrem Beitrag zum Verständnis der Selbstverbrennung. Besonders die Ergebnisse der vergleichenden Religionswissenschaft legen die Annahme nahe, dass es gemeinsame Grundsymbole gibt, die jenseits von historischer Differenzierung und individueller Ausprägung den archaisch-kollektiven HinterGrund menschlichen Fühlens, Denkens und Handelns bilden. Ich beziehe mich dabei auf C. G. Jungs Hypothese eines kollektiven Unbewussten. »Im Unterschied zur persönlichen Natur der bewussten Psyche gibt es ein zweites psychisches System, von kollektivem, nicht-persönlichem Charakter … Das kollektive Unbewußte entwickelt sich nicht individuell, sondern wird ererbt. Es besteht aus prä-existenten Formen, Archetypen, die erst sekundär bewusst werden können und den Inhalten des Bewusstseins fest umrissene Form verleihen« (Jung 1983a, S. 56). Mit anderen Worten: Das kollektive Unbewusste ist »… in allen Menschen sich selbst identisch und bildet damit eine in jedermann vorhandene, allgemeine seelische Grundlage überpersönlicher Natur. … Die Inhalte des kollektiven Unbewußten … sind die sogenannten Archetypen« (Jung 1983b, S. 13f.). Das Feuer mit seinen vielfältigen Bedeutungen verstehe ich als solch ein gemeinmenschliches Grundsymbol, mit dem sich die Motive Vernichtung, Reinigung, Wandlung und Erneuerung verbinden. In den Sagen und Märchen der Völker taucht es ebenso auf wie in den Träumen und Phantasien Einzelner. 12

Gerade in Krisen, also in Umbruchs- und Bedrohungssituationen, in denen die Affektkontrolle gemindert ist, bricht das archaische Feuersymbol in das Bewusstsein des Einzelnen ein und wird einer Deutung in der individuellen Lebenssituation zugänglich. Die auf diese drei Frageweisen erworbenen Einsichten werden am Ende keine zwingende Systematik ergeben. Im Einzelfall wird es aber zu Evidenzen kommen, wenn die unterschiedlichen Aspekte zu einleuchtenden Deutungshilfen zusammen finden. Darum schließt dieses Buch mit Hinweisen zum therapeutischen Vorgehen ab und entwickelt Gedanken zu einem angemessenen Umgang mit Patienten nach einem Selbstverbrennungsversuch. »So schrecklich das Ergebnis auch sein mag, haben wir ihn (den Menschen nach einem Suizidversuch – Anm. C. B.) im inneren Recht seines Handelns, zu dem er im Augenblick der Tat keine bessere Alternative wusste, aufzusuchen, wenn wir ihm gerecht werden wollen« (Dörner u. Plog 1992, S. 328). Nur wenn man bereit ist, den Selbstverbrennungsversuch eines Menschen als »vielschichtige Beendigung eines konkreten Lebens« (Lenzen 1987, S. 225) mit seinen vielfältigen Gründen und Abgründen zu verstehen, wird man etwas von der brennenden Not und der verzweifelten Hoffnung ahnen, die ein Mensch in diesem Geschehen ausdrückt. Er braucht Hilfe, mehr noch: Achtung. Achtung meint das Bewusstsein für die Würde eines Menschen, die dieser durch nichts, auch nicht durch einen Suizidversuch, verliert. Es sind Menschen mit einer besonderen Geschichte, die sich unter speziellen Umständen anzünden, um zu sterben – aber eben: Es sind Menschen. Jeder kann »brennen« und tut es manchmal auch.

Selbstmord – Freitod – Suizid Wie soll man von dem sprechen, was »das beunruhigendste Lebensproblem« (Hillman 1984, S. 4) überhaupt ist und das denjenigen, der sich ihm aussetzt, mit Gewalt und Zerstörung, 13

Verzweiflung, Schuld und Scham konfrontiert. Alle Worte und Begriffe, die mit zwei oder drei Silben das Geschehen der »Entleibung« einzufangen versuchen, sind ein Kompromiss zwischen der Bezeichnung, die das Sagbare und Kommunizierbare ausspricht, und der Verhüllung, die auf das Erschütternd-Unsagbare und den Widerstand gegenüber dem als dunkel und bedrohlich empfundenen Geschehen der Selbstauslöschung hinweist. Immer schwingt die Frage nach moralischen Erlaubtheit mit. Die Selbsttötung steht grundsätzlich in der Spannung zwischen der Achtung der Freiheit des Menschen, auch wenn sie sich als »Freiheit zum Tode« äußert, und der Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft und dem transzendenten Grund menschlicher Existenz. »Selbstmord« ist der gebräuchlichste Begriff. Er weist auf den (Auto-)Aggressionscharakter der Selbsttötung hin. In Anlehnung an Augustinus, der sich als erster christlicher Theologe systematisch mit der Selbsttötungsproblematik auseinander gesetzt hat, erhält der Begriff »Selbstmord« allerdings gerade darum eine negative Bedeutung. Er ist »Untat« und »Vergehen«. Denn es »ist, wenn es nicht einmal gestattet ist, aus eigener Vollmacht einen Übeltäter zu töten, es sei denn, daß ein Gesetz die Befugnis gibt, ihn zu töten, natürlich auch der Selbstmörder ein Mörder und er lädt durch den Selbstmord um so größere Schuld auf sich, je weniger er schuld ist an der Ursache, die ihn zum Selbstmord treibt. Denn wenn wir schon die Tat des Judas mit Recht verabscheuen und die Wahrheit über ihn urteilt, daß er durch seinen Tod am Stricke das Verbrechen des frevelhaften Verrates eher gesteigert als gesühnt hat, weil er an der Barmherzigkeit Gottes verzweifelnd, sich einer unheilvollen Reue überließ und sich so die Möglichkeit einer heilsamen Reue versperrte, um wieviel mehr muß man sich vor dem Selbstmord hüten, wenn man keinen Anlaß hat, irgendetwas durch eine solche selbst vollzogene Strafe zu sühnen« (Augustinus 1911, S. 51f.). Augustinus formuliert, von Platon beeinflusst, was für die abendländische Geistesgeschichte meinungsbildend wurde: Wer sich selbst tötet, missachtet den göttlichen Souverän, der allein Vollmacht hat, Leben zu schaffen und zu nehmen. Er misstraut 14

Gottes Barmherzigkeit, indem er ein eigenes Urteil über sich vollstreckt, anstatt auf das göttliche Gericht vertrauensvoll zu warten. Das Gebot »Du sollst nicht töten« gilt auch und gerade in Bezug auf das eigene Leben. Selbstmord ist darum Ausdruck von Hybris und Unglaube. Diese Argumentation wird allerdings problematisch, wenn man sich vor Augen hält, dass Mord »die heimliche vorbedachte Tötung« bedeutet, der Begriff »Selbstmord« also »Heimtücke« gegen sich selbst unterstellt, was nur schwer vorstellbar ist (J. u. W. Grimm 1885, Sp. 2530). Deshalb wird dieser Begriff weder dem juristischen Tatbestand einer vorsätzlichen Tötung aus niedrigen Beweggründen noch der Psychodynamik, die zum Suizid führt, gerecht. Die konträre Bezeichnung »Freitod« verbindet sich mit der »Vorstellung eines frei gewählten Aktes, in den ein Mensch aufrecht hineingeht« (Jörns 1998, S. 33). Dass ein Suizid auch unter dem Aspekt der Wahrung eines letzten Restes von Autonomie zu verstehen ist, gibt dem Begriff ein gewisses Recht. In diesem Sinn hat Jean Améry darauf bestanden, dass die Selbsttötung als »Freitod« faktisch Aktivität des selbstbestimmt handelnden Menschen ist. »Das Zum-Tode-hin-Leben und der autonome Akt des Freitods sind so ohne weiteres nicht vergleichbar, mag immerhin das Resultat in beiden Fällen dasselbe sein. Wer sterben muß, der ist im Zustande des Antwortens auf ein Geschick, und seine Gegenrede besteht in Furcht oder Tapferkeit. Der Suizident … aber redet selber. Er spricht das erste Wort … und es ist der Tod, der die unverständliche, die unvernehmbare Antwort erteilt. Das macht: Der Suizident steht gleichsam auf aus der Matratzengruft, in die er gebettet war und schlägt zu … ›Man muß schließlich leben‹, sagen die Leute, alles Miserable, das sie anstellten, entschuldigend. Noch ehe er gefragt wurde, schreit der den Freitod Suchende gellend: Nein! Oder er sagt dumpf: Man muß vielleicht, aber ich will nicht und beuge mich nicht einem Zwange, der sich von außen als Gesetz der Gesellschaft und von innen als eine lex naturae drangvoll spürbar macht, die ich aber nicht länger anerkennen will« (Améry 1993, S. 24f.). 15

Obwohl nicht zu übersehen ist, dass die Tendenz zur Regression im Dienst der Wahrung einer letzten Selbstbestimmung ein Aspekt der suizidalen Psychodynamik ist, wird der Begriff Freitod mit seiner Herausstellung einer vorausgesetzten Willens- und Entscheidungsfreiheit dem suizidalen Gesamtgeschehen nicht gerecht. Im Gegenteil: Menschen in einer akuten suizidalen Krise sind auf eine besondere Weise in ihrem Denken, Fühlen und ihren Handlungen eingeengt und gerade deshalb nicht frei und in der Lage zu wählen. Das Wort Suizid, abgeleitet vom neulateinischen »sui caedere« mit der Grundbedeutung »sich selbst zu Fall bringen«, und sein deutsches Pendant »Selbsttötung« haben den Vorzug einer weltanschaulich-moralischen Neutralität. Sie beschreiben, was geschieht, und sind damit neutrale Begriffe. Ich benutze sie in der Regel dann, wenn ich allgemein über die suizidale Psychodynamik oder über Selbsttötungsmittel spreche. Geht es um die Behandlung des eigentlichen Feuertods, verwende ich die Begriffe Selbstverbrennung und Feuersuizid.

Mensch – Person – Patient Diese Untersuchung ist im Zusammenhang mit meiner Arbeit im Brandverletzten-Zentrum einer berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik entstanden. Im klinischen Bereich ist der Mensch ein »Patient«. Die Fülle seiner Eigenschaften, Fähigkeiten, Bedeutungen und Rollen wird auf den Status des »Leidenden« reduziert. Wer »Patient« sagt, nimmt den Menschen als »Kranken« und »Hilfsbedürftigen« in den Blick. Damit erfährt sein besonderes Schicksal die ihm zukommende Aufmerksamkeit. Ich verwende diesen Begriff als Terminus technicus dann, wenn ich die besondere Situation suizidaler Menschen unter dem Aspekt der Hilfs- beziehungsweise Behandlungsbedürftigkeit darstelle. Patienten bleiben aber auch unter den Bedingungen ihres stationären Aufenthalts und im Wirkungsraum klinischer Deutungsmacht individuelle Menschen. Den Begriff »Mensch« verwende ich, wenn ich die mit der Selbstverbrennung verbun16

denen Themen in einen weiteren, allgemeinen Horizont jenseits von Krankheitsbeschreibungen stelle. Mit »Person« meine ich schließlich die dem Patienten innewohnende dynamische Fähigkeit, Konflikte zu lösen und eigene seelische Entwicklungsmöglichkeiten zu entfalten.

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2. Forschungsüberblick

Ein Blick auf die Zahlen Suizide werden in Deutschland seit langem statistisch dokumentiert. Auf die Tatsache, dass die Zahlen für Selbsttötungen ausgesprochen unsicher sind, ist immer wieder hingewiesen worden. Die Dunkelziffer ist groß. Längst nicht alle Suizide werden als solche erkannt und dokumentiert. Es gibt nach wie vor die Tendenz, Selbsttötungen als Unfälle zu deklarieren. Die Statistik kann darum nur die ungefähre Größenordnung dieses Phänomens darstellen. Sie dient der Orientierung, indem die Suizidrate mit der Zahl der Verkehrstoten in Beziehung gesetzt wird und damit das »Viel« und »Wenig« dieser Todesart etwas deutlicher wird. Sinn und Bedeutung der Selbsttötung entziehen sich aber der numerischen Darstellung. 1980 nahmen sich in der DDR und BRD zusammen 18.451 Menschen das Leben, davon waren 6.662 Frauen und knapp doppelt so viele, nämlich 11.789, Männer. Im Jahr 2000 waren es in demselben Gebiet 11.157, 3.077 Frauen und 8.080 Männer. Im Vergleich starben 1980 in Gesamtdeutschland 15.207 Menschen durch Unfälle im Straßenverkehr, im Jahr 2000 waren es 7.503. In beiden Bereichen gibt es einen deutlichen und kontinuierlichen Rückgang. Die Rate für vollendete Suizide liegt Jahr für Jahr um 3.500 bis 4.000 höher als die der Verkehrstoten (Statistisches Jahrbuch 2001). Damit nimmt Deutschland im europäischen Bereich einen mittleren Platz ein. Finnland und Österreich weisen bei Männern, Luxemburg und Portugal bei Frauen die höchsten Werte auf. Die niedrigsten Raten haben Griechenland und Italien bei Männern und Großbritannien und die Niederlande bei Frauen. Die Gründe für den Rückgang der Suizidraten lassen sich schwer greifen und werden vielfältig sein. Die Notfallmedizin mit ihren Möglichkeiten, schneller und effektiver intensiv-medizinische Maßnahmen schon vor Ort einzusetzen, rettet vie18

len Suizidalen das Leben. Hinzu kommt der gesellschaftlichkulturelle Wandel in der Einstellung zur Selbsttötung. Suizidgefährdete werden als Menschen in einer existentiellen Krise begriffen, die Hilfe und Unterstützung, nicht aber moralische beziehungsweise religiöse Be- und Verurteilung brauchen. Entsprechend wurden Einrichtungen zur Soforthilfe (Suizid-Ambulanzen, Tageskliniken, Kriseninterventionszentren und eine flächendeckende Telefonseelsorge) ausgebaut. Sie ermöglichen zunehmend eine rechtzeitige Behandlung lebensmüder und verzweifelter Menschen. Nach den verfügbaren epidemiologischen Erhebungen gelten für folgende Gruppen erhöhte Suizidrisiken (Gesundheitsbericht 1998, S. 224): – Depressive – sie weisen das höchste Suizidrisiko auf (14– 15 % bei stationär behandelten Patienten); – Patienten mit Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis (ca. 13 % der im stationären Bereich erfassten Patienten); – Alkoholkranke; – Drogen- und Medikamentenabhängige. Ihre Suizidgefährdung wird auf 5- bis 50-mal höher geschätzt als die der Gesamtbevölkerung; – alte und einsame Menschen – mit zunehmendem Alter nimmt die Selbsttötungshäufigkeit, vor allem bei Männern, deutlich zu; – Chronisch Kranke mit geringer Aussicht auf Heilung (z. B. HIV-Infizierte und Aids-Erkrankte, Dialyse- und Krebspatienten); – Menschen in Haft, insbesondere in Untersuchungshaftanstalten; – wer einen Suizid ankündigt und wer schon einmal einen Suizidversuch unternommen hat. Zusätzlich zu diesen Risikogruppen ist die Suizidgefährdung nach sexuellem Missbrauch groß (Gesundheitsbericht 1998, S. 225). Die Zahl der Suizidversuche zu erfassen ist kaum möglich, denn es gibt in Deutschland keine Meldepflicht. Mehr noch als 19

bei den vollendeten Suiziden, die zu einem nicht näher zu fassenden Prozentsatz als Unfälle deklariert und damit getarnt werden, gilt bei Selbsttötungsversuchen, dass die Dunkelziffer hoch ist. Allgemein geht man davon aus, dass auf einen vollendeten Suizid etwa 5 bis 15 Suizidversuche kommen (Henseler 1990, S. 23). Doppelt so viele Frauen wie Männer unternehmen einen Selbsttötungsversuch. Bei den vollendeten Suiziden ist es umgekehrt. Im Gegensatz zu den vollendeten Suiziden, bei denen die »harten« Arten der Selbsttötung häufiger vorkommen (Erhängen, Erschießen, Springen), überwiegen bei den Suizidversuchen die »weichen« Methoden (Vergiftungen mit Medikamenten, häufig auch eine Kombination von Alkohol und Pharmaka). Erst im Jahr 2001 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Selbsttötung und Suizidprävention als Themen in den World Health Report aufgenommen und trägt damit der Tatsache Rechnung, dass die Selbsttötung ein führender Grund für den Tod junger Erwachsener ist. »It is among the top three causes of death in the population aged 15 to 34 years. This represents a massive loss to societies of young persons in their productive years of life« (WHO 2001, S. 38). Es ist bemerkenswert, dass die Zahl der in den deutschen Brandverletzten-Zentren2 behandelten Suizidpatienten in den letzten Jahren konstant zwischen 71 und 95 liegt (Multicenterstudie 1997–2001). Nachteil dieser Statistik ist der Umstand, dass die Datenerhebung und -weiterleitung freiwillig ist und manche Zentren ihr Zahlenmaterial nicht rechtzeitig zur Verfügung stellen.

2 Die in der Deutschen Gesellschaft für Verbrennungsmedizin vernetzten Zentren befinden sich in Aachen, Berlin, Bochum, Dortmund, Duisburg, Gelsenkirchen, Halle, Hannover, Hamburg, Koblenz, Köln, Ludwigshafen, Lübeck, München, Murnau, Nürnberg und Stuttgart. Träger sind in den meisten Fällen die Berufsgenossenschaften, die in ihren Schwerpunktkrankenhäusern über langjährige Erfahrungen mit der Behandlung von Patienten nach einem Selbsttötungsversuch verfügen.

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Mit dieser Einschränkung wurden in Deutschland im Jahr 1997 71 Patienten nach einem Selbstverbrennungsversuch behandelt, 1998 93 und in den Jahren 1999 und 2000 jeweils 95. Rechnet man als Dunkelziffer die Patienten hinzu, die in einem nicht spezialisierten und damit von der Deutschen Gesellschaft für Verbrennungsmedizin nicht erfassten Haus behandelt wurden, kann man davon ausgehen, dass sich jährlich ungefähr 100 Menschen in Deutschland das Leben mit Feuer zu nehmen versuchen. Etwa 30 % von ihnen sterben an ihren schweren Verletzungen. Die Statistik der Multicenterstudie erfasst weder die Geschlechterdifferenz noch die Letalität. Ich nehme an, dass die von mir für das Schwerbrandverletzten-Zentrum des Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhauses Hamburg-Boberg erhobenen Daten nicht grundsätzlich von denen anderer Zentren abweichen.

Selbstverbrennung als Thema der Suizidforschung Seit der umfassenden soziologischen Studie von Emile Durkheim »Le suicide« (1897) und der Arbeit Sigmund Freuds über »Trauer und Melancholie« aus dem Jahr 1916 hat sich die medizinische, psychologische, theologische und kulturanthropologische Wissenschaft in einer Flut von Untersuchungen und Publikationen mit dem Thema der Selbsttötung auseinander gesetzt. Bislang sucht man allerdings nach einer Monographie zum Thema Selbstverbrennung vergebens. Im deutschen Sprachraum findet sich keine Untersuchung, die der Frage nach dem Feuersuizid nachgeht. Die US-amerikanischen Psychiater N. C. Andreasen und R. Noyes waren die Ersten, die die besondere Psychodynamik dieser Suizidart untersuchten und über den Zusammenhang von Selbsttötung, Selbsttötungsversuch und Feuer nachdachten (Andreasen u. Noyes 1975, S. 554). In ihrem Gefolge gibt es eine – allerdings auf den angloamerikanischen Bereich beschränkte – Forschung, die die Basis für meine Untersuchung darstellt. 21

Selbsttötung als komplexes Geschehen Der Suizid, die absichtliche Herbeiführung des eigenen Todes, ist in seinen Motiven so vielfältig begründet wie es die Lebensgeschichten und Schicksale der Einzelnen sind. Auch hier gilt: Jeder stirbt seinen eigenen Tod. Trotzdem lassen sich vier Aspekte unterscheiden, die in der Regel zusammenkommen, wenn ein Mensch von eigener Hand stirbt: – bestimmte Ereignisse, meist Kränkungen und seelische Verletzungen durch nahe stehende Menschen als Auslöser, – bestimmte Motive, meist der Wunsch nach existentieller Akzeptanz, als Ursache, – bestimmte Mittel, meist nicht zufällig gewählt, als Ausdrucksmittel des Todeswunsches, – bestimmte Orte, meist bewusst aufgesucht, als Räume von Abschied und Neubeginn. Die Selbsttötung hat also einen Sinn für den suizidalen Menschen. Sie ist der letztmögliche und verzweifelte Versuch der Krisenbewältigung, wenn andere Möglichkeiten nicht mehr zur Verfügung stehen. Ziel des Suizids ist es, einen Menschen zu finden und vor allem an sich zu binden, der »das Gefühl der Existenzberechtigung verleiht, ohne das Leben nicht möglich ist« (Kind 1992, S. 22). Als Mittel der Änderung des für den Suizidalen existentiell wichtigen anderen Menschen dient die Suizidalität als Druck- und Erpressungsmittel. »Ich bringe mich um, wenn du gehst!« Die meisten Suizidenten wollen eigentlich nicht sterben, sondern ihre Lebenssituation, vor allem ihre Beziehungssituation so ändern, dass sie leben können. Suizidalität lässt sich darum als tragisch scheiternden Kommunikationsversuch verstehen – tragisch, weil der Suizidale mit der Geiselnahme des ihm so wichtigen Anderen genau das zerstört und schließlich unmöglich macht, was er so dringlich wünscht und worauf er so sehr angewiesen ist: Die freie Zuwendung des Anderen, die ihm sagt, dass er eine Daseinsberechtigung hat. Der suizidgefährdete Mensch will sich auf diese Weise seelisch wieder in die Balance bringen. Deshalb ist auch die vollendete Selbsttötung ein cry for help, 22

ein Hilfeschrei, und damit der Versuch, sich bei anderen Gehör zu verschaffen. In den ersten 50 Jahren der modernen Suizidforschung galt, dass dem Suizidversuch und dem vollendeten Suizid die gleiche Psychodynamik zugrunde liegt und sich Versuch und Vollendung nur durch die verschieden starke Tendenz zur Selbstzerstörung voneinander unterscheiden. Dagegen formulierte Erwin Stengel: »Der Selbstmordversuch ist wohl ein unvollständiger, misslungener, abortiver Selbstmord, aber er ist noch vieles andere, was der Selbstmord nicht ist« (Stengel 1961, S. 51). Er strich vor allem den Appellcharakter des Selbstmordversuchs im Unterschied zum Suizid heraus, bei dem die Autoaggression überwiege. Wilhelm Feuerlein nahm diese Unterscheidung von Autoaggression und Appell im Zusammenhang mit dem Suizidversuch auf und fügte als drittes Motiv den Wunsch des Suizidalen nach einer Zäsur hinzu. »Diese Zäsur meint eine vorübergehende Unterbrechung bzw. einen endgültigen Abbruch des Lebensweges, der durch eine momentane Krisensituation kompliziert ist. Im Extremfall der vorübergehenden Unterbrechung sucht der Patient in dieser Tendenz nicht den unmittelbaren Tod …, sondern … den vertieften und verlängerten Schlaf. Aus ihm hofft er, wie der Phönix aus der Asche, wieder gestärkt und unbeschwert von den momentanen Konflikten zu erstehen … Im Gegensatz zu einer Fluchttendenz aus dem Leben, besteht hier letztlich eine Tendenz zur Fortsetzung des Lebens. Der Tiefschlaf soll eine Entwirrung der Konflikte und gleichzeitig das temporäre Vergessen der belastenden Erlebnisse bringen« (Feuerlein 1971, S. 128). Die Unterscheidung von Suizid und Suizidversuch unter den Aspekten von Autoaggression, Appell und Zäsur erweist sich allerdings bei näherem Hinsehen als wenig hilfreich, denn auch beim Suizid geht es, wie noch gezeigt wird, um unterschiedlich motivierte gegensätzliche Strebungen. E. Stengel resümiert: »Die meisten Menschen, die Selbstmordhandlungen begehen, wollen nicht entweder sterben oder leben. Sie wollen beides gleichzeitig, gewöhnlich das eine mehr … als das ande23

re« (Stengel 1969, S. 74). Darum lautet sein Fazit: »Die den Selbstmordversuchen zugrunde liegenden Motive und Ursachen sind im wesentlichen die gleichen, wie beim Selbstmord« (Stengel 1969, S. 102). Darum muss jeder Selbsttötungsversuch »als ein Stück vollendeten Suizides ernst« genommen werden. »Und jeder vollendete Suizid ist auch ein Stück Versuch, sich in der Verzweiflung zur Sprache zu bringen, um gehört zu werden« (Dörner u. Plog 1992, S. 327). Die Übereinstimmung der Motivstruktur von Suizidversuch und Suizid trifft insbesondere bei der Selbstverbrennung zu. Das Feuer als Mittel der Selbsttötung lässt kaum eine »Dosierung« zu. Es ist nicht möglich, nur »ein bisschen«, etwa mit einer appelativ-demonstrativen Tendenz, oder »wirklich«, um zu sterben, zu brennen. Tatsächlich brennt, wer sich anzündet, immer als ganzer Mensch in körperlich-seelischer Einheit. Jeder Selbstverbrennungsversuch ist als »Spiel mit dem Feuer« lebensbedrohlich. Ich unterscheide darum nicht zwischen Selbstverbrennung und Selbstverbrennungsversuch, sondern fasse beides unter dem Begriff der Selbsttötung beziehungsweise der Suizidhandlung zusammen. Schon S. Freud hatte in »Trauer und Melancholie« darauf hingewiesen, dass es in jeder Suizidhandlung mindestens zwei gegensätzliche Strebungen gibt: die aggressive, auf andere Personen zielende, und die autoaggressive, gegen die eigene Person gerichtete Tendenz zur Auslöschung. Nimmt man das Motiv des Appells hinzu, das von E. Stengel als »Hilferuf«, also als Versuch der Kontaktaufnahme mit durchaus erpresserischen Impulsen und aggressiven Bestrafungstendenzen verstanden wird, und kombiniert es mit dem gegensätzlichen Motiv der Zäsur beziehungsweise der Flucht (W. Feuerlein), erhält man ein Modell (Abb. 1), das aus zwei Gegensatzpaaren besteht. Es ergibt sich also »für die typische Suizidhandlung eine zweifach polare Motivstruktur: Jeweils aggressive und libidinöse Strebungen richten sich einerseits gegen die eigene Person, andererseits an nahe stehende Personen« (Henseler 1990, S. 67). Fremdzerstörung und Selbstzerstörung, Kontaktaufnahme 24

Abbildung 1: Modell nach Henseler 1990, S. 67

und Flucht sind als Motive in jedem Suizidgeschehen, also auch im Selbstverbrennungsversuch, wenn auch in verschiedener Intensität, anwesend. Die Frage ist: Finden die vier Motive durch das Feuerelement als Suizidmittel eine spezifische Bedeutung, so dass am Ende die Frage beantwortet werden kann: Warum töten sich Menschen gerade mit Feuer?

Basisdaten über die Selbstverbrennung Im angloamerikanischen Raum haben sich zahlreiche Studien mit dem psychischen Hintergrund, der Methode, dem Ort, der Geschlechterverteilung und mit der Therapie von Selbstverbrennungen beschäftigt.

Psychischer Hintergrund Alle Untersuchungen bestätigen, dass psychische Erkrankungen, also vorbestehende Depressionen, hirnorganische Störungen, manisch-depressive oder schizophrene Psychosen, zusammen mit Substanzmissbrauch, Menschen in den Feuersuizid 25

führen können. Auslöser ist in der Regel ein als traumatisch erlebter (Beziehungs-)Konflikt, der mit einem Trennungs- beziehungsweise Verlusterlebnis einhergeht. V. Z. Erzurum und J. Varcelotti (1999, S. 22) bescheinigen den Patienten »an abnormal psychological profile«. N. C. Andreasen und R. Noyes (1975, S. 554) führen als einzige Autoren in ihrer grundlegenden Studie »religious preoccupations« als psychopathologischen Aspekt auf. Innerhalb dieses Verstehensrahmens wird über die unterschiedliche Gewichtung verschiedener Krankheitsbilder diskutiert. Squyers et al. (1993, S. 476) berichten in ihrer Studie, dass der Anteil der Patienten mit einer hirnorganischen Störung mit 59 % erstaunlich hoch sei, gefolgt von 24 % der Patienten mit einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis und 12 % mit einer endogenen Depression (major depression). V. Z. Erzurum und J. Varcelotti stellen in ihrer Untersuchung fest, dass 54,5 % der von ihnen untersuchten Patienten an einer endogenen Depression, 27,2 % an einer Schizophrenie und 9,1 % an einer Persönlichkeitsstörung litten. Cave Bondi et al. (2001, S. 229) unterstellen für 45- bis 60jährige Frauen einen Zusammenhang von Menopause, depressiver Verstimmung und erhöhter Suizidneigung. Für Männer im Alter von 40 bis 45 Jahren nimmt die Studie eine »Krise der mittleren Jahre« (Midlife-Crisis) mit einer Bewertung des vor allem im Beruf Erreichten an. Zusätzlich verweisen sie auf den möglichen Nachahmungssog, der von spektakulären Selbsttötungen ausgehen kann. Sie schreiben: »As in all suicides, one must not underestimate the dynamics of the unitation of similar episodes, which are perhaps circulated by the mass media. For example, in April 1973 two suicides by means of burns took place in Rome: the first on the 11 April with considerable emphasis in the press; the second, on the 23 April was exactly the same.« Nur N. C. Andreasen und R. Noyes (1975) wie auch D. O. Topp (1973) erwägen religiöse Vorstellungen, insbesondere den Aspekt der Reinigung beziehungsweise der Wandlung, als Motive der Selbstverbrennung, ohne ihnen aber weitere Aufmerksamkeit zu widmen. 26

Vergegenwärtigt man sich, dass sich alle Untersuchungen auf kleine Probandengruppen stützen, kann man annehmen, dass die Verteilung der verschiedenen Krankheitsbilder relativ zufällig ist. V. Z. Erzurum und J. Varcelotti (1999, S. 23) formulieren darum knapp den aktuellen Stand der Übereinstimmung in der Forschung und das Problem, wenn sie schreiben: »The exact explanation for the wide variety and frequencies of psychiatric disorders is not entirely clear.« Dass sie den Rahmen für die Selbstverbrennung bilden, steht allerdings außer Frage.

Die Methode In den weitaus meisten Fällen verwenden die Suizidenten leicht entflammbare Flüssigkeiten (Benzin, Kerosin, Alkohol und Ähnliches), überschütten sich und zünden sich mit einem Feuerzeug selbst an. Dann folgen mit deutlichem Abstand in der Häufigkeit: Stromverletzungen, Verätzungen mit chemischen Substanzen, Entzünden der Kleidung, die Selbstverbrennungsversuche mit brennendem Laub oder das Anzünden des eigenen Hauses. O. Hadjiiski und P. Todorow (1996, S. 383) versuchen in der Zusammenfassung ihrer Untersuchung die Verwendung des Feuers als Selbsttötungsmittel mit der vom Suizidenten erwarteten Effektivität in Bezug auf den tödlichen Ausgang zu erklären. Die Selbstverbrennung scheint relativ einfach möglich zu sein, weil leicht entflammbare Flüssigkeiten, vor allen Dingen Benzin, Petroleum und Vergleichbares, nahezu überall zugänglich und deshalb leicht zu erwerben sind. Sie wird angewandt, weil sie angeblich eine sichere Sterbemethode ist. Auch H. F. Brettel (1969, S. 114ff.) nimmt folgende Kriterien bei der Wahl eines Suizidmittels an: – die Erhältlichkeit und Greifbarkeit des Suizidmittels, – die vom Suizidenten erwarteten beziehungsweise beabsichtigten Folgen für den Körper, – die Erfolgschancen im Hinblick auf das angestrebte Ziel. 27

Diese Erwartung steht in tragischem Gegensatz zur Statistik, nach der nur etwa ein Drittel aller Patienten, die sich selbst angezündet haben, sterben.

Der Ort Als Orte der Selbstverbrennung werden öffentliche, halböffentliche und private Räume genannt, ohne dass die mögliche Bedeutung dieser Lokalitäten näher untersucht wird.

Zur Geschlechterverteilung Die Ergebnisse der Untersuchungen zur Geschlechterverteilung sind uneinheitlich. Squyers et al. (1993, S. 478) berichten von einem Verhältnis von 1,43 : 1 zwischen Frauen (59 %) und Männern (41 %), während K. L. Wallace und S. P. Pegg von 32 % weiblichen Patienten in ihrer Studie über Selbstverbrennungen berichten. Sie dokumentieren die Ergebnisse von N. C. Andreasen und R. Noyes (71 % weibliche Suizidentinnen) und Hammond et al. (60 % Frauen) und kommen zu dem Schluss: »No conclusions were drawn that might explain the higher representation of women in these self-inflicted burn injury studies« (Wallace u. Pegg 1999, S. 192).

Zur Therapie Welche Therapie brauchen Menschen, die sich selbst anzünden? Die einzelnen Studien variieren ein strukturell klares Therapiekonzept. Es lässt sich mit den Stichworten »psychiatrisch« und »familien-« oder »sozialtherapeutisch« beschreiben. Alle Autoren halten eine bifokale Therapie, die sowohl individuelle auf den Patienten als auch auf sein familiäres und soziales Umfeld bezogen ist, für indiziert und Erfolg versprechend. Wenn es stimmt, dass 3 von 10 Patienten mit Selbstverbrennungen später einen erneuten Suizidversuch unternehmen und 28

dass das Übersehen der fortbestehenden Suizidalität der häufigste Behandlungsfehler ist, muss Basis einer adäquaten Therapie eine psychiatrische Betreuung sein, die sich in der Dynamik von psychotischer Krankheit, Substanzmissbrauch und belastenden Beziehungsproblemen auskennt. Anzustreben ist mindestens eine poststationäre psychiatrische Weiterbehandlung. Sind diese Bedingungen gegeben, ist die Prognose nach Auskunft der Untersuchungen durchaus positiv. Dabei weisen alle Untersuchungen auf das Dilemma hin, dass Reha-Kliniken häufig mit suizidalen Patienten überfordert sind und psychiatrische Einrichtungen kaum über Erfahrungen mit brandverletzten Patienten verfügen. »Somewhat surprising is the outcome information we have«, schreiben die Autoren Antonowicz et al. (1997, S. 54). »Of the five patients for whom follow-up was available, all had returned to their residence and were in psychiatric treatment. Two were working. Dispite disfiguring burns, none became suicidal upon leaving the burn unit. This burn center (gemeint ist das Lehigh Valley Hospital, Allentown, Pennsylvania, USA – Anm. C. B.) has had a policy and practice of involving psychiatry from admission … Self-immolation patients do not necessarily have a dismal prognosis if psychiatric and burn care are well integrated.« N. K. Seremet (1984, S. 44) beschreibt unter dem Kürzel »CALM« die Bedürfnisse der Patienten: »C« steht für »cry for help«, »A« steht für »access«, »L« steht für »listen carefully«, »M« steht für »mobilite all available resources«. Es ist bezeichnend, dass eine engagierte Krankenschwester die Bedeutung von Aufmerksamkeit, Zuhören und damit von Kontakt in den Vordergrund einer für den Patienten hilfreichen therapeutischen Beziehung stellt.

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Ein kritischer Rückblick auf die Forschungsergebnisse Alle vorgestellten Studien sind in der Erhebung und Aufarbeitung der ihnen zugänglichen Patientendaten sorgfältig und genau. Wichtige Fragen bleiben allerdings offen: – Hat die Wahl des Feuers als Suizidmittel einen spezifischen Sinn? – Welche besondere Psychodynamik verbirgt sich hinter den oben summarisch beschriebenen Gründen für den Selbstverbrennungsversuch? Gibt es im Zusammenspiel der verschiedenen seelischen Faktoren, die zum Selbsttötungsversuch mit Feuer führen, eine spezifische psychische Dynamik, die nachvollziehen lässt, warum Menschen gerade so, durch die Selbstverbrennung, ihrem Leben ein Ende machen wollen? Die Hinweise auf familiäre Konflikte, belastende Lebensereignisse und akute Suizid auslösende Faktoren sind zu allgemein, um dieses spezifische Suizidgeschehen zu begründen. – Welche Bedeutung hat der »Ort« der Selbstverbrennung für das Selbstverbrennungsgeschehen? Ebenso wie die Frage nach dem Warum, der Wahl gerade dieses Suizidmittels, und dem Wie der spezifischen Psychodynamik ist auch die Frage nach dem Wo nicht zufällig und für das Gesamtgeschehen keineswegs belanglos. Es erscheint mir darum unumgänglich, den bisherigen Forschungsansatz durch diese drei Fragestellungen zu erweitern, um die Frage nach dem Spezifikum des Feuersuizids beantworten zu können. Es wird sich zeigen, dass erst die Deutung des Feuersymbols in religionswissenschaftlicher Sicht die Wahl des Suizidmittels und damit die Bedeutung der Selbstverbrennung verständlich macht.

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3. Selbstverbrennung in der klinischen Praxis

Ergebnisse einer eigenen Studie In den Jahren 1997 bis 2001 wurden im Brandverletzten-Zentrum des Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhauses Hamburg-Boberg 53 Patienten nach einem Selbstverbrennungsversuch behandelt, davon waren 15 Frauen und 38 Männer. Dies entspricht etwas 10 % aller in diesem Zeitraum im Brandverletzten-Zentrum behandelten Patienten. Die jüngste Patientin war 20 Jahre, der älteste Patient 79 Jahre alt. Der Altersschwerpunkt lag bei der Altersgruppe der 30- bis 50-Jährigen. 10 Patienten starben (8 Männer und 2 Frauen). Das Ausmaß der Verbrennungen II. und III. Grades reichte von 3 % bis zu 98 % der gesamten Körperoberfläche. Bei 36 der 43 überlebenden Patienten konnte eine psychiatrische Vorgeschichte erhoben werden. Es überwogen die schizoaffektiven Mischpsychosen bei 19 Patienten, gefolgt von 10 Patienten mit einer endogenen Depression (major depression) und 7 Patienten mit einer paranoid-halluzinatorischen Psychose. Alkoholabusus war in 17 Fällen, Drogenabusus zusätzlich in 6 Fällen Begleiterkrankung. Bis auf einen Patienten, der sich in einen brennenden Laubhaufen setzte, 2 Patienten, die Gasflaschen zur Explosion brachten, und 2 Patienten, die sich in die Oberleitung der Bundesbahn warfen (Lichtbogenverletzung), übergossen sich alle übrigen Suizidenten mit Benzin oder Spiritus und zündeten sich selbst an. 3 Patienten taten dies in ihrem PKW und fuhren brennend gegen eine Mauer, einen Baum und in eine Holzscheune. Als Gründe für den Selbsttötungsversuch gaben die 43 überlebenden Patienten tiefgreifende und anhaltende Konflikte mit ihnen nahe stehenden Menschen an. 9 von ihnen fühlten sich von der Familie im Stich gelassen 31

und gaben Vereinsamung als Hauptursache für den Selbsttötungsversuch an, 26 Patienten berichteten von Konflikten und Auseinandersetzungen mit Freundinnen / Freunden, Ehepartnern, den eigenen Eltern. 2 Patienten zündeten sich nach Streitigkeiten mit unmittelbaren Vorgesetzten an. In diesen Fällen war das zentrale Motiv eine Trennung oder ein Beziehungsabbruch. 5 Männer gaben Angst vor beziehunsgweise Scham wegen einer Haftstrafe an. Ein afrikanischer Jugendlicher zündete sich aus Protest gegen seine Abschiebung an. Der für die Selbstverbrennung gewählte Ort war in 24 von 43 Fällen ein öffentlich zugänglicher Raum. 22 Patienten zündeten sich auf einem öffentlichen Platz an (Einkaufspassage, Bahnhofsvorplatz, Freifläche vor dem psychiatrischen Krankenhaus, Hotel, Kneipe, Jahrmarktwiese, öffentlicher Park, Platz neben einer Tankstelle, Großparkplatz). Einer verbrannte sich im Vorgarten seiner Ex-Freundin und ein Patient zündete sich im Treppenflur vor der Wohnung seiner Lebensgefährtin in einem Mehrfamilienhaus an. 7 Patienten wählten ihre Zelle in der JVA als halböffentlichen Raum und einer sein Zimmer im Asylantenheim. Nur 14 Patienten verübten ihren Selbsttötungsversuch in ihrer eigenen Wohnung oder in ihrem Garten, also in ihrem privaten Bereich. Meine eigene Untersuchung ergibt eine weitgehende Übereinstimmung mit den vorgestellten Studien im Hinblick auf den mehrheitlich vorhandenen psychopathologischen Hintergrund und die Wahl von leicht entzündlichen Flüssigkeiten (Benzin und Spiritus) als vorrangigem Suizidmittel. Bei der Geschlechterverteilung decken sich meine Ergebnisse mit denen von K. L. Wallace und S. P. Pegg (1999, S. 192): Es zündeten sich rund 30 % Frauen an. Auffallend und bemerkenswert ist allerdings der Kontrast von persönlich-intimem Anlass und der Wahl eines zumindest halböffentlichen Raumes für die Selbstverbrennung, die an sich schon nicht verborgen bleiben kann, so aber unübersehbar wird.

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Falldarstellungen Im Folgenden gebe ich Auszüge aus den Erstinterviews mit Patienten nach deren Verlegung von der Brandverletzten-Intensivstation auf die Anschlussstation wieder. Waren in der Intensivstation Haube, Mundschutz, Handschuhe und Kittel aus hygienischen Gründen Pflicht und erschwerten den Kontakt, sitze ich den Patienten später »unvermummt« in meinem Zimmer gegenüber. War es vorher kaum möglich, 10 Minuten ohne Unterbrechung durch einen Pflegenden oder eine Ärztin miteinander zu sprechen, garantiert die neue Umgebung eine störungsfreie Atmosphäre. Zudem hat sich die »Bedrohungslage« deutlich verändert. Signalisierten die Dauerbetreuung mit entsprechender Narkotisierung und Relaxierung, die häufigen Verbandswechsel unter Schmerzmittel-Abdeckung und die hohe Frequenz von plastisch-chirurgischen Eingriffen akute Lebensbedrohung, erlebt der Patient seine Verlegung aus der Isolations-Box in ein normales Zwei-Bett-Zimmer nicht nur als Zeichen seines physischen Überlebens, sondern als Rückkehr in alltägliche Lebenszusammenhänge. Zum ersten Mal nach Wochen beginnt der Alltag. Der Tag-Nacht-Rhythmus stellt sich langsam wieder ein. Gerüche und Geräusche regen die Sinne an. Die Cafeteria des Krankenhauses und der Park locken zu einem kleinen Ausflug. Als ich mit einer Patientin zum ersten Mal vor die Tür trat, schloss sie die Augen, atmete tief ein und sagte: »Ich wusste gar nicht, wie gut Herbstluft schmeckt.« Gleichzeitig weckt die größere Freiheit alte Befürchtungen und Ängste. Manche Patienten erleben darum die Verlegung von der »sicheren« Intensivstation auf die Nachsorgestation als Verlust von Sicherheit und Geborgenheit. Stand bis dahin die Lebensrettung im Vordergrund vor der psychischen Situation (»Die Seele folgt dem Körper«), wird in der 2. Phase der Behandlung die seelische Befindlichkeit zunehmend deutlicher und wichtiger (»Der Körper folgt der Seele«). Der Patient kann wieder sprechen. Nichts Äußerliches hindert ihn. Längst nicht alle können und wollen es. Aber auch bei denen, mit denen ich zuerst und manchmal für lange Zeit schweigend zusammen ge33

sessen habe, scheint in den Tagen und Wochen der Intensivbehandlungszeit das innere Gespräch nicht abgerissen zu sein. Als ob sich vieles aufgestaut hat, das endlich heraus muss, beginnen Patienten auf meine allgemeine Frage: »Mögen Sie erzählen, wie es Ihnen jetzt geht?« zu sprechen. Oft ist es wie ein Selbstgespräch, bei dem ich ein stiller Zuhörer bin, der nur das Aussprechen ermutigt und unterstützt. Die ersten Worte kommen häufig zögernd und tastend. Meine Formulierung lässt ein Ausweichen in Probleme des Stationsalltags zu. Aber der Wunsch zu sprechen, überwiegt Angst und Scham. Meine Gesprächseröffnung wird als Einladung verstanden, auf den Grund des Aufenthalts im Brandverletztenzentrum zu sprechen zu kommen. Darum sind diese Gesprächsausschnitte beides: beginnende Mitteilungen als Kontaktaufnahme zu sich selbst und mir und erste Versuche, sprechend und sich selbst zuhörend zu verstehen, was im Augenblick noch so unverständlich ist.

Herr Mucius3 Ein 44-jähriger, aufgrund anhaltender depressiver Verstimmungen frühpensionierter Postbeamter, alleinstehend und bis vor etwa zwei Jahren engagiertes Mitglied der Neuapostolischen Kirche, wird nach einem Selbstverbrennungsversuch auf dem Kirchenvorplatz, den er während einer Alkoholhalluzinose mit Rasenmäherbenzin verübt hat, mit 33 % Verbrennungen III. Grades stationär aufgenommen. Er erzählt: »Also das ist ganz fürchterlich, ich meine, alle haben Familie, alle haben Kinder, bestimmt drei oder vier … die sind ja für uns (Für die Mitglieder der Neuapostolischen Kirche – Anm. C. B.) ein Gottesgeschenk … Die leben so und du kannst nichts dazu sagen … du kannst einfach nichts erzählen. Ehrlich, man kommt sich da richtig blöde vor … ich meine nicht richtig blöde … Irgendwie ist man gar kein Mensch, also kein vollwertiger Mensch … Und ich schäme mich total. Da hat 3 Die Namen der Patienten wurden aus Gründen des Personenschutzes geändert.

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nämlich jemand gesagt … ich weiß nicht, ob Sie das verstehen, also der hat gesagt: Du bist wohl eine taube Nuss – und da ist bei mir die Sicherung durchgebrannt.« Der Wunsch, nicht allein, sondern mit einer Familie zu leben und eigene Kinder zu haben, ist für viele Menschen (immer noch) selbstverständlich im Sinne eines »normalen« Lebensentwurfs. In manchen religiösen Gruppierungen, wie auch in der Neuapostolischen Kirche, wird diese Vorstellung eines sinnvollen Lebens gesteigert zu der Anschauung, verheiratet zu sein und Kinder zu haben entspreche nicht nur den natürlichen Anlagen und Bedürfnissen erwachsener Menschen, sondern sei im religiösen Sinne »Gott wohlgefällig«. Kinder, so sagt der Patient »sind ja für uns ein Gottesgeschenk«. Ohne sie ist man kein vollwertiger Mensch und fällt auch sozial aus dem Rahmen. Man steht wie »blöde« da und »weiß nichts zu erzählen«. Der Patient erlebt seine Lebenssituation als Mangel und darum als Makel, als ein »nicht richtiges Leben«. Die Kehrseite des Beschenktwerdens ist die Verweigerung. Wenn Kinder Geschenke Gottes sind, dann bedeutet Kinderlosigkeit, »verworfen« anstatt »erwählt« zu sein. Das isoliert den Patienten und macht ihn in gewisser Weise in den Augen anderer verdächtig. Als er dann noch in ziemlich grober Manier von einem anderen Mann auf seine mögliche sexuelle Inaktivität oder gar Impotenz angesprochen wird, fühlt er sich bloßgestellt und beschämt. »… da ist bei mir die Sicherung durchgebrannt«.

Herr Scholz Ein 46-jähriger Schachtmeister, der in einer Vorgesetztenposition bei einem großen Tiefbau-Unternehmen arbeitet, seit etwa drei Jahren von seiner Ehefrau getrennt ist und mit einer Lebensgefährtin zusammenlebt, übergießt sich an einem Frühsommer-Nachmittag im Treppenhaus vor der Wohnung dieser Freundin mit Benzin, nachdem sie die Beziehung abrupt und für den Patienten völlig überraschend am Vortag ohne Nennung von Gründen beendet hatte. Er wird mit circa 29 % Verbrennungen III. Grades im Brandverletzten-Zentrum aufgenommen. 35

Er erzählt: »Erst haben sie (Die Betriebsleitung des Tiefbauunternehmens – Anm. C. B.) meinen Stundenlohn um 2,00 DM runtergestuft. Das war total gegen die Abmachung. Eigentlich sollte ich Meister werden … Die Arbeit habe ich gemacht, aber das Geld kam nicht. Und dann haben sie mich ein paar Wochen später noch mal gedrückt auf unter 30,00 DM die Stunde und dabei habe ich geschuftet wie ein Wahnsinniger, ehrlich … Und alle meine Erfindungen, ich meine, was ich so an Verbesserungsvorschlägen gemacht habe, die hat sich der Ingenieur an die Brust geheftet … der hat einfach gesagt, das wäre auf seinem Mist gewachsen … Wenn die angerufen haben, bin ich immer gefahren … mit dir können sie es ja machen, habe ich gedacht, immer runter, immer rein in den Dreck … Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll, warum das so passierte. Und dann hat meine Freundin mit mir Schluss gemacht, so einfach von jetzt auf gleich, ohne eine Erklärung. Sie hat mich einfach stehen lassen. Da bin ich explodiert … Sie sollte sehen, wie sehr sie mir wehgetan hat … das sollten alle sehen … es war absolut blöde, ich habe mir nur selbst wehgetan.« Zwei Zurückstufungen, die eine im Betrieb vom Vorarbeiter und (Fast-)Meister zum einfachen Arbeiter, die andere vom Geliebten zum Nicht-mehr-Freund, werden zur tödlichen Kränkung. In beiden Fällen empfindet der Patient das Verhalten der anderen als ungerecht, aber auch als so mächtig, dass er sich dagegen nicht wehren kann. »Mit dir können sie es ja machen.« Ohnmächtige Wut, tiefe Kränkung und Beschämung werden zum explosiven emotionalen Gemisch. Die Selbstanzündung ist auch ein Versuch der Bestrafung: »Sie sollte sehen, wie sehr sie mir wehgetan hat.«

Barbara Eine 29-jährige Referendarin fällt wider aller Erwartung durch das Zweite Staatsexamen und wird nicht in den Schuldienst übernommen. Von einer Wiederholung des Examens wird ihr mit dem Hinweis abgeraten, zur Lehrerin sei sie sowieso nicht geeignet. 36

Nachdem sie vermehrt Suizidgedanken äußert und sich immer mehr isoliert, wird sie nach einem ersten Selbsttötungsversuch mit einer geringen Dosis eines frei käuflichen Schlafmittels in die geschlossene Abteilung eines Landeskrankenhauses eingeliefert und mit ihrem Einverständnis dort mehrere Monate medikamentös und psychotherapeutisch behandelt. Das Abklingen der Suizidproblematik ermöglicht eine Verlegung der Patientin auf eine halboffene Station. Bei ihrem ersten, mit dem behandelnden Arzt abgesprochenen etwa zweistündigen Ausgang kauft sie unmittelbar nach dem Verlassen der Klinik an einer nahe gelegenen Tankstelle einen Kanister Benzin, übergießt sich auf einem Rasenstück neben der Tankstelle und zündet sich an. Sie wird von Passanten gelöscht und mit 48 % Verbrennungen III. Grades aufgenommen. »Ich war immer sehr gut, das liegt so in unserer Familie. Klar, meine Eltern hatten immer hohe Ansprüche, aber ich selber auch … Es hat mir einfach Spaß gemacht, ›top‹ zu sein … Das darf man ja heute gar nicht laut sagen. Ich habe auch immer gute Examensnoten gehabt, solange ich denken kann. Und ich habe mich irrsinnig in der Schule engagiert für Schüler, meine ich, gerade für Benachteiligte … Irgendwie stand auch immer viel auf dem Spiel … Ich habe dann immer gleich meine Mutter angerufen und die Erfolgsmeldung durchgegeben … Na ja, die letzte Prüfung, was da los war, das weiß ich auch nicht. Ich hatte alles drauf, aber bei dem letzten Prüfer hatte ich einfach keine Chance – ich habe das gleich gemerkt. Der mochte mich nicht … Der wollte mich fertig machen … Mir ist heiß und kalt geworden, ich habe mich in Grund und Boden geschämt … Ich war ein Nichts, ein Häufchen Asche … nur Scheiße«. Was für andere eine schwere berufliche Krise ist, für die es aber Bewältigungsmöglichkeiten gibt, wird für die Patientin zum Urteil nicht nur über ihre berufliche Karriere als Lehrerin, sondern über sie selbst als Person. »Nicht bestanden« heißt für sie, die »immer sehr gut« war und der es Spaß gemacht hat, »top« zu sein, ins Nichts zu stürzen und zur »Un-Person« zu werden. Mit dem Bestehen oder Nicht-Bestehen steht für sie ihr ganzes Leben auf dem Spiel. 37

Wenn sie nicht alles gewinnt, wird sie buchstäblich zum »letzten Dreck«. Dazwischen gibt es nichts. Dass dieses verheerende Urteil in einer Prüfungssituation gefällt wird, in der sie sich als Person abgelehnt fühlt, als hätte sie einen Makel, obwohl sie intellektuell »alles drauf« hat, weitet die Kränkung zur totalen Beschämung aus. Sie, die sonst immer der Mutter die Erfolgsmeldung durchgegeben hat, zündet sich an und sendet auf diese Weise ihre verzweifelte Botschaft: Seht her, ich bin ein Haufen Asche.

Hannes Ein 21-jähriger junger Mann kauft an einer Tankstelle einen Reservekanister mit Benzin, klettert in der Nähe des Hauptbahnhofs auf den Mast der Oberleitung, überschüttet sich, zündet sich an und springt hinunter in der Absicht, sich von einem herannahenden Zug überrollen zu lassen. Er landet allerdings auf dem Dach des ersten Waggons und bleibt dort brennend liegen, bis Passanten ihn nach dem Halten des Zuges vom Dach holen. Er zieht sich Verbrennungen II. und III. Grades auf 38 % seiner Körperoberfläche zu. »Sie wollten auf Nummer sicher gehen …?« »Nee … ich hab ja gar nicht lange überlegt …, aber klar, ich wollte weg.« »Wie weg?« »Na, weg …, ich wollte nicht, dass irgendjemand mich findet. Da war ja nicht mehr viel von mir übrig geblieben. Verstehen Sie?« »Nein.« »Ich war ein Jahr da unten (Er nennt den Namen einer Klinik für Drogentherapie in Süddeutschland – Anm. C. B.). Das hat alles super geklappt. Ich habe ’ne Freundin, ’ne echt nette Maus … Keinen Stoff mehr, keinen Alk …, ich hätte eine Lehre machen können, dass haben die mir da alles angeboten … Das sollte jetzt alles losgehen, verstehen Sie? Und ich mache alles kaputt. Ich habe denen gesagt: Okay, ich fahre nur noch mal nach Hamburg und hole ein paar Sachen und dann komme ich wieder.« 38

Er hat Tränen in den Augen. Ich sehe ihn an. Er sagt: »So eine Scheiße, so eine gottverdammte Scheiße. Ich treffe einen aus der alten Clique und der hat was dabei … und der lacht auch noch, verstehen Sie, der grinst und sagt: ›Na los, Mann, einmal zum Wiedersehen und einmal zum Abschied‹, und ich Arsch nehme den Scheiß und alles ist kaputt – die ganze Therapie, das Jahr in der Klinik und die Lehre – alles«. Er weint jetzt. Nach einer langen Pause fährt er fort: »Ich habe sie alle enttäuscht, total. Ich war Stricher, ich hab’s überall gemacht und ich war völlig fertig. Die erste Zeit in der Klinik war absolut hart und ich wollte weg. Aber dann ging’s und in der letzten Zeit war ich richtig gut drauf, total ohne Droge, verstehen Sie? Ich hatte einen klaren Kopf, ich konnte denken. Ich hatte zum ersten Mal keine Angst mehr.« »Keine Angst wovor?« »Dass ich es nicht schaffe, dass ich wie ein Stück Scheiße ende.« Er weint wieder. »Und jetzt bin ich ein Stück Scheiße.« »Sie haben nicht Nein gesagt?« »Ich hab den Shit genommen und das war’s … Die mögen mich da. Ich war so was wie ein Vorzeigepatient, verstehen Sie? Einer, der von ganz unten kommt und es schafft«. »Und jetzt gibt es keine Rückkehr mehr, ich meine, Sie können da nicht wieder hin in die Klinik?« »Völlig ausgeschlossen! Die haben mich gehen lassen und ich hab ihnen mein Ehrenwort gegeben, und ich habe gesagt: Macht euch keine Sorgen, ich komme ja wieder, ich bin okay … Aber Sie sehen ja, was ich bin.« »Sie sind völlig verzweifelt und Sie schämen sich?« »Die werden mir das nie verzeihen, die haben soviel in mich investiert. Die gucken mich mit dem Arsch an, wenn ich da wieder vor der Tür stehe.« »Sie meinen: Die haben sie abgeschrieben. Für die sind Sie gestorben?« »Ja, die streichen mich von der Liste … Ich kann da nicht wieder ankommen, als wäre nichts passiert. Dann schon lieber tot … Dabei hat alles so total gut geklappt.« »Hätte Sie irgendetwas abhalten können?« 39

»Ich weiß nicht – ich wollte alles so gut machen. Vielleicht wenn einer da gewesen wäre und mich gesehen hätte, wie ich da oben hockte, und der mich in den Arm genommen hätte … Aber da war ja niemand.« Das Gespräch mit diesem jungen Mann hat mich sehr gerührt. Andere glauben an ihn, bauen ihn wieder auf, ermöglichen ihm die Rückkehr in ein Leben mit Ausbildung, Wohnung und Freundeskreis. Sie halten ihn für stark genug, um auch im alten Milieu sich nicht wieder verführen zu lassen. Aber schon bei der ersten Gelegenheit erliegt er der Versuchung. In seinen Augen macht er nicht einfach einen Fehler, der zwar schwerwiegend ist, der aber doch korrigiert werden kann, sondern hat sich als Mensch und als Hoffnungsträger der Klinik diskreditiert. Er hat alle enttäuscht. Alle haben sich in ihm getäuscht. Wer dachte, er könne ihm vertrauen, ist eines Besseren belehrt worden. Die Scham, ein Versager zu sein, überschwemmt ihn und treibt ihn in den Versuch, aus dem Leben zu gehen, ohne dass auch nur irgendetwas von ihm übrig bleibt oder an ihn erinnert. Zu Asche zu verbrennen, überfahren und zermalmt zu werden – deutlicher können sich Verzweiflung, Scham und (Auto-)Aggression nicht zeigen. Trotzdem ist auch auf dem Höhepunkt der Verzweiflung, oben auf dem Mast der Oberleitung, der Wunsch da, gesehen zu werden, vielleicht sogar den erlösenden Satz zu hören: Komm runter, du kannst wieder zu uns kommen. Du bekommst eine zweite Chance. Der Totalität der Scham und der mit ihr verbundenen Selbstverurteilung entspricht die Größe des Wunsches, noch einmal neu anfangen zu dürfen. Die regressive Tendenz drückt sich in der Sehnsucht aus, wie ein Kind in den Arm und wieder aufgenommen zu werden. Wie auf einer Lafette oder Bahre fährt er brennend in den Bahnhof ein – eine öffentliche Demonstration seiner Ohnmacht und seiner brennenden Scham. Dass der Patient sich nicht vorstellen kann, dass ein Rückfall nicht zwangsläufig als Desaster gewertet werden muss, weist auf die enorm rigide innere Bewertungs- und Verurteilungsinstanz hin. Selbstbewusstsein kann sich so nur schwer entwickeln. 40

Thomas Der Mann ist 28 Jahre alt, als er nach dem Versuch, sich selbst im eigenen Auto im Holzschuppen des elterlichen Hauses mit Benzin anzuzünden, mit Verbrennungen II. und III. Grades bei insgesamt 20 % der Körperoberfläche im Brandverletztenzentrum aufgenommen wird. Anamnestisch ist bekannt, dass seine Mutter seit ungefähr zwanzig Jahren stationär und ambulant wegen schwerer Depressionen behandelt wird. Der Patient selbst musste sich vor circa zwei Jahren in stationäre psychiatrische Behandlung begeben, nachdem er einen psychotischen Schub mit wahnhaften Episoden erlebt hatte. Er war nach sechsmonatiger Behandlung mit der Diagnose einer schizoaffektiven Mischpsychose in die ambulante psychiatrische Therapie entlassen worden. Er begann wieder in seinem kaufmännischen Beruf zu arbeiten und lebte zu Hause bei seinen Eltern. Eine verheiratete, ältere Schwester mit ihrem Mann und einer vierjährigen Tochter wohnt in der Nähe. In einem ersten Gespräch erzählt der Patient, dass sich seine Freundin ein Dreivierteljahr vor dem Selbstverbrennungsversuch von ihm getrennt habe. Das habe ihn tief verstört. Er habe sich nicht nur einsam, sondern auch missachtet gefühlt. Gleichzeitig quälte ihn der Zweifel, vielleicht niemals »eine Frau wirklich glücklich machen zu können«. Einen Tag vor dem Selbstverbrennungsversuch kommt es zu einer erregten Auseinandersetzung mit seiner Schwester, die ihn im Beisein ihres Mannes zur Rede stellt. Ich bitte den Patienten, mir etwas von seinen Gedanken und Gefühlen vor dem Suizidversuch zu erzählen. Er wirkt reglos und distanziert. Ich spreche ihn an: »Es muss eine völlig ausweglose Situation für Sie gewesen sein?« Der Patient schweigt und sieht mit starrem Blick aus dem Fenster. Sein Körper ist angespannt. Nach einer Weile sage ich: »Manchmal möchte man das alles am liebsten vergessen …« Der Patient wendet sich mir abrupt zu und sieht mich durchdringend an. »Wie soll man das vergessen? Das wird nie vergessen!« 41

»Heißt: nie vergessen auch: nie verziehen?« »Das war Sünde. Dafür muss man büßen.« Ich sehe ihn fragend an. »Was ist Sünde?« Der Patient sieht wieder aus dem Fenster, seine Züge verhärten sich. Schließlich sagt er wie abweisend: »Hat meine Schwester Ihnen nichts erzählt?« »Nein.« »Sie denken, ich hätte meine kleine Nichte angefasst.« »Ihre Schwester und ihr Schwager denken das?« »Sie denken, ich hätte mit dem Mädchen was gemacht.« Nach einer Pause fährt er fort: »Ich weiß nicht, was passiert ist, ich kann mich nicht mehr erinnern … es hätte nicht passieren dürfen!« »Und Ihre Schwester hat Sie zur Rede gestellt?« »Ja, sie hat gesagt, wenn irgendeine Schweinerei passiert, dann zeigt sie mich an.« »Haben Sie mit irgend jemandem reden können?« »Ich habe mit niemandem geredet. Das kann keiner verstehen. Ich verstehe das ja auch nicht.« »Dann haben Sie sich angezündet?« »Ich wollte es wissen: Geht es nach oben oder geht es nach unten?« »Was ist oben und was ist unten?« »Ich wollte wissen, ob mich Gott oder der Teufel nimmt … ich musste das einfach wissen.« »Wie ist es für Sie ausgegangen?« »Ich habe noch Zeit bekommen.« Brennende Scham über die zwar nicht geklärte, aber mögliche sexuelle Manipulation an seiner vierjährigen Nichte treibt den Patienten in den Suizidversuch. Im Sinne eines Ordals, eines Gottesurteils, versucht er, eine Entscheidung über sein Schicksal herbeizuzwingen: Geht es nach »unten«, zum Teufel in die Feuerhölle, oder nach »oben«, durch das Feuer hindurch zu Gott? Wer oder was den Ausschlag zur einen oder zur anderen Seite gibt, ist nicht klar. Jedenfalls ist es für den Patienten in seiner dramatischen Scham-Angst nicht auszuhalten, kein Ur42

teil zu empfangen, sondern mit der Spannung in einem »schwebenden« Verfahren weiterleben zu müssen. Es scheint so, als wäre eine Klärung selbst um den Preis der Höllenfahrt leichter zu ertragen, als mit der Last brennender Scham leben zu müssen und auf das unausweichliche Urteil zu warten. Der Selbstverbrennungsversuch hat für den Patienten darum nicht nur den Charakter der Selbstbestrafung und der Buße für eine unerhörte Handlung, sondern ist auch ein Ventil für die unerträgliche innerseelische Spannung zwischen Selbstverurteilung und Selbstrechtfertigung: Was habe ich nur getan – ich kann mich gar nicht mehr erinnern. Der Patient versucht, sich angesichts seiner drohenden Auslieferung im Gericht einen Rest von Autonomie und Einflussmöglichkeit auf sein Schicksal zu bewahren. Er scheint zu denken: Wenn ich schon sterben muss, dann will ich jedenfalls von eigener Hand sterben. Ich will das Schicksal zwingen, sich zu bekennen, für oder gegen mich. Das »In-das-Feuer-Gehen«, das manchmal den Charakter eines Appells oder eines Hilferufs hat, bekommt hier einen religiösen Appellcharakter. Die richtende und gleichzeitig entlastend-helfende Instanz wird als Gott und Teufel gedacht. Einer von beiden soll sich zeigen.

Dari Eine 29-jährige Frau, die mit ihrem Mann und ihren 6 und 8 Jahre alten Kindern vor fünf Jahren aus Nordindien nach Deutschland gekommen ist, zündet sich im Innenhof ihres Wohnblocks mit Rasenmäherbenzin an und erleidet circa 55 % Verbrennungen, davon sind die meisten III. Grades. Der Bruder ihres Mannes berichtet, dass der Ehemann der Patientin vor etwa einem Dreivierteljahr an einer Meningitis gestorben ist und sie nach dem Tod ihres Mannes heftige und vielfältige Ängste entwickelt habe. Sie habe befürchtet, selbst an Hirnhautentzündung zu erkranken, die Erziehung der Kinder nicht zu schaffen und aus Deutschland ausgewiesen zu werden. Trotz der Versicherung des Schwagers, ihr in allen Belangen beizustehen, sei ein kurzer Aufenthalt in einem psychiatrischen Krankenhaus nötig gewesen. Nach ihrer Rückkehr in 43

die Wohnung habe sie äußerlich gefasster gewirkt, habe sich aber immer mehr zurückgezogen, sei nicht mehr ausgegangen aus Angst vor – wie sie sagte – ausländerfeindlichen Attacken und habe sich auch nicht mehr getraut, in der Wohnung laut aufzutreten, aus Sorge, die Nachbarn würden sich über sie beschweren. Schließlich sei sie drei Tage vor dem Suizidversuch bei dem Versuch, in einer Boutique eine billige Modeschmuckkette in die Tasche zu stecken, als Ladendiebin angezeigt worden. Die Großfamilie gehört zu den Sikhs, einer Religionsgemeinschaft, die im 15. Jahrhundert im Pandschab (Nordindien und Pakistan) aus einem Zusammenschluss von Hindus und Muslimen entstanden ist. Meine Frage, ob im Rahmen seiner Religionsgemeinschaft Selbstverbrennungen und Witwenverbrennungen möglich seien, verneint der Schwager entschieden. Die Patientin hat rund zehn Wochen auf der Intensivstation für Schwerbrandverletzte in einer Einzelbox ohne Tageslicht und mit eingeschränkten Besuchsmöglichkeiten verbracht. Als sie auf die Anschluss-Station verlegt wird, kommt es zu folgendem Gespräch. Ich treffe die Patientin im Rollstuhl auf dem Flur und spreche sie an: »Wie schön, dass Sie jetzt hier sind.« »Schmerz ist groß, aber jetzt besser.« »Langsam lassen die Schmerzen nach und Sie können sich besser bewegen?« »Ja, Schmerz groß, aber jetz’ nicht so schlimm.« Nach einer Pause fährt sie fort: »Kinder kommen, heute Kinder kommen.« »Ach, das ist ja schön, endlich ist es soweit!« Die Patientin sieht mich an. »Warum ich das gemacht?« – Pause – »Ich weiß nicht, warum ich das gemacht.« »Ich glaube, Sie hatten große Angst und Ihr Herz war voller Schmerz«. »Ja, ich viel Schmerz. Mein Mann tot. Ich ganz durcheinander, ganz verrückt, ganz falsch.« »Sie wussten gar nicht, was Sie taten?« »Ich Sie nicht verstehen.« 44

»Wenn man Angst hat, tut man Dinge, die man sonst nicht macht.« »Ja, ich ganz verrückt und falsche Dinge getan.« »Der Schmerz ist jetzt kleiner, ja?« Sie nickt. »Wie ist es mit der Angst?« »Angst ist gut. Nicht so viel Angst. Kinder kommen heute«. Die Ängste nach dem Tod des Mannes, der für sie den Verlust ihrer Lebensbasis in Deutschland bedeutete, das Erlebnis ihres Verwirrtheitszustands, der auf eine spezifische Vulnerabilität hindeutet und auf eine mögliche seelische Erkrankungsbereitschaft schließen lässt, die zunehmende Einsamkeit und schließlich die Scham über das Ertapptwerden beim Diebstahl der Kette, das alles führt die Patientin in die Ausweglosigkeit, aus der sie sich nur durch einen Suizid befreien zu können glaubt. Deutlich ist, dass die Angst die treibende Kraft ist, und zwar eine Angst, die aus dem Gefühl, von innen und von außen bedroht zu werden, resultiert. Die Scham, als Ladendiebin dazustehen, ist in diesem Zusammenhang eher das auslösende Moment und verstärkt als besondere Form der Furcht die schon bestehende Grundangst, von der Familie abgelehnt und aus Deutschland ausgewiesen zu werden. Was Scham in der Kultur der nordindischen Sikhs bedeutet und wie weitreichend die Folgen von Beschämung sind, erzählte mir der Vater dieser Patientin auf meine Bitte hin am Beispiel einer Begebenheit, die sich vor ein paar Jahren in einem Dorf im Pandjab abgespielt hat: Ein Dorfältester hatte zu einem großen Festessen die Honoratioren der Gegend in sein Haus geladen. Während des Essens musste sein Sohn kräftig furzen. Alle Gäste erhoben sich und waren im Begriff, das Haus zu verlassen, als der Gastgeber, der kurz vor die Tür gegangen war, wieder hereinkam und die Gesellschaft nach dem Grund ihres abrupten Aufbruchs fragte. Nach langem Zögern wurde ihm von dem peinlichen Zwischenfall seines Sohnes berichtet. Daraufhin sagte der Vater: »Er ist von jetzt an nicht mehr mein Sohn!« Vier Tage später starb der junge Mann – an tödlicher Scham. In der Folgezeit war es mir möglich, über die verschiedenen 45

Ängste mit der Patientin ausführlich zu sprechen und nach Wegen der Angstbewältigung und Angstberuhigung zu suchen. Umsichtige Unterstützung des Schwagers und des später einreisenden Vaters waren von großer Hilfe und es gelang, der Patientin wieder zu vermitteln, dass sie weder von ihrer Familie noch von der Ausländerbehörde abgeschoben werden würde. Über den fraglichen Ladendiebstahl haben wir nur in vagen Andeutungen gesprochen. Es blieb bei so offenen Formulierungen wie »falsche Dinge getan«, bei denen mir nie ganz klar war, ob mit ihnen auch die Modeschmuck-Episode gemeint war. Über ihre Angst konnte sie eher sprechen als über ihre Scham, denn sie berührte das sensible Gebiet von Selbstbild, Selbstwert und Selbstachtung, von Ansehen und Akzeptanz durch andere. Sie hatte sich bei ihrem Suizidversuch das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Ihr inneres Gesicht und ihre innere Integrität wollte sie wahren. Über die Irritationen in diesem Zusammenhang konnte und wollte die Patientin mit mir nicht sprechen.

Herr Waechter Ein 49 Jahre alter Gastwirt übergießt sich im Schankraum seiner Gaststätte mit Abbeiz-Tinktur und zündet sich an. Mit 48 % Verbrennungen III. Grades wird er im Brandverletztenzentrum aufgenommen. In einem ersten Gespräch berichtet er, dass er etwa 15 Jahre lang in einem bekannten Hamburger Ausflugslokal Kellner war. Er gehörte im Lauf der Zeit zur Familie und viele Stammkunden kamen nur seinetwegen in das Restaurant. Als die alt gewordenen Besitzer das Lokal einer jüngeren Pächterin übergab, kam es zunehmend zu Auseinandersetzungen. Als Grund für die Streitigkeiten vermutet der Patient die Konkurrenz zwischen ihm, dem erfahrenen und beliebten »Altkellner«, und der jungen, noch relativ unerfahrenen Pächterin. Schließlich kündigte sie ihm mit der Bemerkung »für zwei Kapitäne ist kein Platz an Bord«. In der sich anschließenden Zeit der Arbeitslosigkeit trennte sich seine Frau von ihm, weil sie seine Aggressivität und seine zunehmende Trunkenheit nicht mehr 46

ertragen konnte. Als er trotz vielfacher Bemühungen keine Anstellung in der Gastronomie fand, entschloss er sich, einen Jugendtraum wahr zu machen und eine eigene Kneipe zu eröffnen. Zwei Wochen nach den Erstgespräch kommt es zu folgender Gesprächssequenz: »Wie fühlen Sie sich?« »Och, man schlägt sich so durch … man muss ja!« »Sich durchschlagen, das haben Sie oft gemusst …?« »Stimmt! Wenn ich was will, dann will ich das!« »Und die eigene Kneipe wollten Sie?« »Klar, und außerdem hatte ich gar keine andere Chance. Wer nimmt denn schon so’n Opa wie mich? (lacht). Nee, ich hab gedacht: Jetzt oder nie, das ist’n Wink mit der Zaunhandlung!«. »Also noch mal was zu machen, was Sie immer schon machen wollten?« »Ich wollte einen neuen Anfang machen. Der Job war weg, verstehen Sie … ich war da wer, die Gäste kamen immer zu mir, wenn was war, gingen nicht zur Chefin! Klaus regelt das … Naja, der Job war weg und meine Frau war auch weg. Wir hatten schon lange Probleme. Ich hab gesoffen wie ein Loch … und dann die Schichtarbeit und jedes zweite Wochenende arbeiten und abends immer weg … und immer müde« (lacht wieder). »Wenn man es positiv dreht, waren Sie in diesem Moment frei!« »Genau, ich wollte noch mal richtig reinhauen und es allen zeigen. Ich habe wie ein Wahnsinniger den Schuppen renoviert, Tag und Nacht, drei Wochen lang.« »Ganz alleine?« »Klar, alleine, das war ja meine Sache. Ich wollte da keinen anderen ranlassen. Außerdem hatte ich ja wahnsinnige Schulden … ich hatte gar kein Geld, um jemanden zu bezahlen. Als ich dann im Frühsommer aufgemacht habe, war ich schon total fertig …« »Wie lief es?« »Naja, am Anfang ging’s noch, aber dann ging alles schief. Die Glatzen hab ich noch locker weggedrückt. 47

Das ist alles Quatsch, was in der Zeitung steht. Aber der Bierverlag hat mich im Stich gelassen, der hat mich total hängen lassen … Der Sommer war ja heiß und nach drei Wochen ging die Kühlanlage kaputt. Und die kamen nicht rüber mit einer neuen … ich konnte nur noch lauwarmes Bier verkaufen. Können Sie sich vorstellen, was das heißt: ›Bei Waechter kannst du die Biergläser nicht anfassen, sonst verbrennst du dir die Pfoten!‹ – Ich war die Lachnummer der Saison!« »Wie hält man das aus?« »Ich hätte die alle umbringen können, ehrlich. Ich hab zum Teil 14, 16 Stunden den Laden aufgehabt, aber es ging nicht. Ich habe nicht mehr geschlafen, nur noch malocht und gesoffen. Die haben mich einfach hängen lassen … Ich war total fertig!« »Fertig und Schluss?!« »Naja, nicht ganz. Ich war total verzweifelt, das kann man sich gar nicht vorstellen. Ich hatte überhaupt keine Peilung mehr, ich konnte das auch nicht alles aufgeben, verstehen Sie, man hängt ja an so etwas, ich bin ja wochenlang mit dem Pinsel rumgekrochen …« »Gab es jemanden, mit dem Sie geredet haben?« »Nee …« lange Pause. »Mit wem sollte ich reden?« »Und dann haben Sie sich in der Gaststube angezündet«. »Ja …«. Pause. »Klingt vielleicht verrückt, aber ich wollte nicht so sang- und klanglos abhauen!« »Das verstehe ich nicht!« »Ich auch nicht.« »Ein Signal geben, wie ein Leuchtturm in der Nacht?« »Vielleicht … Ich weiß es nicht … Ich war absolut am Ende!« Wenn man von einer Suizidhandlung sagen kann, sie sei Ausdruck einer tragisch scheiternden Kommunikation, dann von dem Selbstverbrennungsversuch dieses Patienten. Das peinigende Gefühl, mit seinem Lebensprojekt vor aller Augen gescheitert zu sein, die Scham, als Versager, der noch nicht einmal ordentliches Bier ausschenken kann, öffentlich vorgeführt zu werden, und die dramatisch zunehmende Vereinsamung 48

und Erschöpfung, das alles legt sich wie eine Schlinge um seinen Hals. Hinzu kommt die Kränkung durch zwei Frauen: Die junge neue Chefin entlässt ihn und missachtet damit seine jahrelangen Verdienste um die Stammkundschaft des Restaurants. Und seine Frau verlässt ihn in einem Augenblick, in dem er sie lebensnotwendig gebraucht hätte. Scham über sein öffentliches Versagen, Selbstzweifel an seinen Fähigkeiten, ohnmächtige Wut auf die, die ihn hängen ließen, und die Angst vor dem Bankrott als Wirt und Mensch werden zu einem explosiven Gemisch. Er kann weder so weiter leben, denn die Kneipe hängt ihm wie ein Mühlstein aus Schulden und Versagen am Hals, noch kann er aus dem Leben gehen, denn er hängt an der Kneipe, die er als seinen neuen Lebensort eingerichtet und der Öffentlichkeit vorgestellt hat. Die Selbstverbrennung in ihrer doppelten Zwiespältigkeit aus Aggression und Autoaggression, aus Flucht und Appell, wird zum Leuchtfeuer in Nacht. Er, der nach eigenem Eingeständnis »keine Peilung« mehr hatte, gibt mit dem wortlosflammenden Signal allen im Stadtteil seine »Position« bekannt – Hilferuf und Anklage in einem. Eine Bemerkung zum Umgang der Presse mit öffentlichen Suizidversuchen: Am 28. 7. 2001 berichtete eine Hamburger Boulevard-Zeitung unter der Überschrift »Kneipe explodiert – Wirt in Lebensgefahr« über diesen Selbstverbrennungsversuch. Sie zeigte ein Photo des Patienten, nannte seinen vollen Namen und veröffentlichte intime Details seiner Lebensgeschichte. Wer die Journalisten mit dieser Information versorgt hat, ließ sich nicht klären. Im letzten Satz spekulierten die beiden Verfasser: »Wie es wirklich war, könnte nur [Anm.: Name des Suizidenten] erzählen. Doch er wird die Brandnacht vermutlich nicht überleben.« Der Patient hat glücklicherweise überlebt. Die Gaststätte ist nicht explodiert und ließ sich mit einem relativ geringen Aufwand renovieren. Der Schaden, den dieser Artikel angerichtet hat, war allerdings beträchtlich. Eigentlich muss der Suizidale vor seiner Selbstveröffentlichungstendenz geschützt werden. Tatsächlich wird er durch diesen Artikel noch einmal ans Licht gezerrt und den Blicken eines sensationslüsternen Publikums 49

preisgegeben. Es gibt für ihn keinen Personenschutz. Die Medienlogik behauptet: Wer sich auf diese Weise öffentlich in Szene setzt, darf sich nicht wundern, wenn er als »Darsteller« verbraucht wird. Der Patient erfuhr noch während der Behandlung auf der Intensivstation von diesem Artikel, der die Scham und entsprechende Rückzugstendenzen verstärkte. Erst als er erlebte, dass die Mitarbeiter im Brandverletztenzentrum ihre Schweigepflicht ernst nahmen und er darauf vertrauen konnte, nicht an die Presse verraten zu werden, begann er sich langsam zu öffnen. Das Resümee des Patienten stimmt nachdenklich. Er sagte: »Auch mit solchen Artikeln kann man Leute in den Selbstmord treiben!«

Ergebnisse 1. Es besteht eine Beziehung zwischen der spezifischen Psychodynamik des Selbstverbrennungsgeschehens und der weitgehend unbewussten Wahl des Tötungsmittels. Diese Wahl ist nicht beliebig oder nicht nur von den Zufälligkeiten und Gelegenheiten des Ortes und der Umstände abhängig. Sie entspricht der mit der Selbsttötungsabsicht verbundenen Intention des Suizidenten. Es geht nicht nur um ein »alles vorbei« und ein »alles egal«, sondern um ein »wohin«. In noch genauer zu klärender Weise erhoffen sich die Suizidenten eine Wandlung ihrer unerträglichen Lebenssituation. Sie wollen nicht einfach nur sterben, sondern anders, erträglicher leben. Darum beinhaltet der Suizid auch den Impuls einer Katharsis. K.-P. Jörns drückt diesen Sachverhalt aus, wenn er schreibt: »Die psychoanalytische Suizidforschung weiß davon zu berichten, dass die für den Suizid gewählte Todesart nicht beliebig ist, sondern genau zu der seelisch schwächsten Stelle der verzweifelten Menschen passt« (Jörns 1998, S. 42f.). Der innerlich »brennenden Scham« scheint das äußerlich »verzehrende Feuer« auf noch zu klärende Weise zu entsprechen. 50

2. Fast immer wird ein öffentlicher oder mindestens halböffentlicher Ort gewählt, als ob die Selbstverbrennung einen Raum braucht, in dem sich die besondere Selbsttötungsform vor den Augen der anderen inszenieren lässt. Was bei anderen Methoden der Selbsttötung vermieden wird, nämlich beobachtet zu werden, wird bei der Selbstverbrennung geradezu herausgefordert. Über die Beweggründe wird später noch zu sprechen sein. 3. In den meisten Fällen lässt sich eine psychische Erkrankung aus dem psychotischen Formenkreis feststellen. Darin deckt sich das Ergebnis meiner Erhebung mit dem der meisten Untersuchungen. Dennoch erweist sich der Blick auf das Krankhafte in der Entwicklung suizidaler Menschen als zu eng. Wie später ausgeführt wird, ist nicht jeder Suizidale manisch oder depressiv erkrankt. Umgekehrt wird nicht jeder Manisch-Depressive oder Schizophrene suizidal. Im klinischen Alltag begegnen einem auch Patienten, deren Selbsttötung nicht auf einer psychopathologischen Grundlage zustande kommt. 4. In den dargestellten Fällen geht es für die Patienten auf verschiedene Weise um Schuld, die gesühnt werden muss, oder um ein Vergehen, für das Strafe erwartet wird. Häufig sind es zum einen Beziehungsabbrüche (Patienten Herr Muscius, Herr Scholz, Thomas) mit entsprechenden Enttäuschungen und Verunsicherungen des Selbstwertes. Zum anderen können es herabsetzende Erlebnisse im beruflichen Umfeld (Patienten Herr Scholz, Barbara, Herr Waechter) sein. Oder aber es sind Verstöße gegen ein eigenes Ideal (Patient Hannes) oder ein Gebot der Moral (Patienten Thomas, Dari), auf die der Suizidgefährdete mit dem Gefühl brennender Scham und einem tiefen Schuldgefühl reagiert. Alle Patienten haben nicht nur ein brennendes Problem, sie sind es als Person für sich selbst. Ihre Sprache gibt davon Auskunft: Da ist bei dem ersten Patienten »die Sicherung durchgebrannt« und der zweite ist »explodiert«. Der Referendarin ist »heiß und kalt« geworden und sie spricht aus, was das Grundgefühl der Scham ist: Sie möchte im Boden versinken. Als hätte sie im Gefühl die Selbstverbrennung 51

schon vorweggenommen, empfindet sie sich wie einen Haufen Asche. Im Hintergrund des Schuldgefühls und der mit ihm verbundenen Angst vor Bestrafung steht eine die ganze Person betreffende Kränkung, die als Schande erlebt wird und auf welche die Patienten mit dem Gefühl brennender Scham reagieren. Immer ist sie mit der Überzeugung, nichts wert zu sein, also mit einem fragilen und schwach ausgebildeten Selbstwertgefühl assoziiert. Entsprechend wird der Blick der anderen als begutachtend, vernichtend und entlarvend empfunden. Der Scham vor den anderen entspricht die Scham über sich selbst. Ausgelöst wird die Scham in der Regel durch kränkende, den Patienten in den eigenen Augen herabsetzende, entwertende Erfahrungen. Sie ist darum der Leiteffekt in der Psychodynamik der Selbstverbrennung.

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4. Der Leitaffekt der Scham und die Psychodynamik der Selbstverbrennung

Herkunft und Sinn der Scham Gefühle der Scham und der Peinlichkeit begleiten den Menschen von frühester Kindheit bis in das hohe Alter. Es gibt Zeiten, in denen man sich intensiver schämt, wie zum Beispiel in der Pubertät, in der sich das Verhältnis zum Leib und zur Sexualität ändert, aber keine Lebensphase ist ohne Scham. Als Affekt im Lebenszyklus ist die Scham darum zunächst nicht pathologisch. Im Gegenteil: Sie ist »ein wichtiger Regulationsmechanismus des Selbst wie auch der Beziehungen zwischen dem Selbst und den anderen« (Hilgers 1997, S. 11). Sie regt zu Selbstkritik und fruchtbaren, die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit fördernden Selbstzweifeln an und stört eine allzu selbstverständliche Selbstzufriedenheit. Wer sich nicht schämen kann und schamlos lebt, ist kaum gegen die Versuchung eines kritikresistenten Größenselbst gefeit und in der Regel ein unausstehlicher Zeitgenosse. Scham ist das körpernächste Gefühl. Es drückt sich in einer Vielzahl von »sprechenden« Körpersymptomen aus, vor allem im schamhaften Erröten, dem unwillkürlichen, nicht zu beeinflussenden Erglühen in einer beschämenden Situation. Die Scham geht mit dem Gefühl einher, im Boden versinken oder in einem Mauseloch verschwinden zu wollen. Das Herz rast. Schweiß bricht aus. Die Knie werden weich. So sichtbar der, der sich schämt, mit seiner Körperreaktion ist, so unsichtbar möchte er sich machen. Deshalb führt Scham in die Einsamkeit. Denn wer sich schämt und die dazu passenden Symptome im Angesicht und am Körper entwickelt, fühlt sich entblößt, zur Schau gestellt und den Blicken anderer preisgegeben. Der französische Psychoanalytiker P. Janet veröffentlichte 1903 in seiner Studie »Les obsessions et la psychasthénie« Gedanken zum Gefühl der Scham. Als erster der frühen Tiefenpsychologen stellte er eine Verbindung zwischen der Scham 53

und dem Gefühl des Selbstwertes beziehungsweise Selbstunwertes her. Scham und Schuld sind darum eng miteinander verbundene Gefühle. Sie treten häufig miteinander auf, bedeuten aber nicht dasselbe. Beide sind mit einer je eigenen Form der Angst verbunden. Einsichten in die Phänomene von Scham und Schuld verdanken wir vor allem den modernen Anthropologen. In den vierziger Jahren beschrieb Ruth Benedict in ihrer Studie über die Differenzen zwischen der US-amerikanischen und japanischen Gesellschaft zwei grundsätzlich verschiedene Kulturformen: die Schuldkultur und die Schamkultur. »In anthropological studies of different cultures the distinction between those which rely heavily on shame and those that rely heavily on guilt is an important one. A society that inculcates absolute standards for morality and relies on men’s developing a conscience is a guilt culture by definition, but a man in such a society may, as in the United States, suffer in addition from shame when he accuses himself of gaucheries which are in no way sins. He may be exceedingly chagrined about not dressing appropriately for the occasion or about a slip of the tongue« (Benedict 1947, S. 222). Die Schuldkultur setzt voraus, dass der Einzelne ein Gewissen mit ethischen Maßstäben entwickelt, das ihm sagt, was richtig und was falsch ist und was er tun soll. Das Verb »sollen« leitet sich von dem althochdeutschen Verb »sculan« her und bedeutet »schuldig sein«, »müssen«. Ich bleibe also einem »Soll« gegenüber etwas schuldig, wobei das Erfüllen dieses Solls allgemein als »gut« angesehen wird. Das Schuldgefühl sagt: »Ich habe ein Gesetz verletzt, ich habe ein Unrecht begangen« und es fühlt Gewissensbisse bei der Entdeckung des Vergehens. Darum gehören in den Umkreis der Schuldkultur Begriffe wie Schuld und Sühne, Strafe und Vergebung, Heil und Verdammnis, Himmel und Hölle. In gesellschaftlicher Hinsicht bedeutet das: Der Schuldige wird seiner Schuld überführt und nach den Gesetzen der Gemeinschaft bestraft. »Auch wenn er zum Tode verurteilt wird, ist er immer noch den Gesetzen der Gesellschaft unterworfen und bleibt damit deren Mitglied mit einer sozialen Identität, wenn auch als Verbrecher« (Huldberg 1987, S. 92). 54

Denn es gibt das Institut der Begnadigung und die Möglichkeit der Wiedergutmachung. Indem der Verurteilte die Strafe und die mit ihr gegebenen Verluste und Schmerzen annimmt, gibt er, was er schuldig geblieben ist, ersatzweise her beziehungsweise der Gemeinschaft zurück. Schuld kann in diesem Sinn abgearbeitet und abgegolten werden. Irgendwann – so die im Hintergrund wirkende Vorstellung der Schuldkultur – ist die Schuld gesühnt worden und der ehemals Schuldige erhält die Chance eines neuen Anfangs. Er wird wieder in die Gemeinschaft aufgenommen. So schützt das Gefühl für Schuld die Unversehrtheit der Anderen und begrenzt die eigene Macht. »A man who has sinned can get relief by unburdening himself. The device of confession is used in our secular therapy and by many religious groups which have otherwise little in common« (Benedict 1947, S. 223). In der Schamkultur ist nicht ein gutes Gewissen und entsprechend die Unschuld der höchste Wert, sondern das Ansehen und der gute Ruf. Das Gesicht zu wahren ist von zentraler Wichtigkeit. Es geht um die Polaritäten von Ehre und Schande, Ruhm und Verachtung, Respekt und Lächerlichkeit. »Where shame is the major sanction, a man does not experience relief when he makes his fault public even to a confessor. So long as his bad behavior does not ›get out into the world‹ he need not be troubled and confession appears to him merely a way of courting trouble. Shame cultures therefore do not provide for confessions, even to the gods. They have ceremonies for good luck rather than for expiation« (Benedict 1947, S. 223). Das Wort »Scham« lässt sich von dem indogermanischen Wortstamm kam beziehungsweise kem herleiten und bedeutet soviel wie »zudecken«, »verschleiern«. Wer sich schämt, will sich verbergen und möchte »so« nicht gesehen werden. Das Gefühl der Scham ist unmittelbar mit dem »Ansehen« verbunden, das der Einzelne in den Augen der Gemeinschaft genießt oder nicht (mehr) genießt. »Scham bezieht sich also weitgehend darauf, wie meine Person in ihrem gesamten Dasein bewertet oder – genauer – entwertet wird, und zwar nicht nur von anderen, sondern auch von mir selbst« (Jacoby 1993, S. 15). 55

Scham entsteht, wenn der Einzelne merkt, dass sein wirkliches Selbst nicht seinem idealen Selbst entspricht und dieser Mangel für ihn und andere als Makel, als Defizit und Versagen sichtbar wird. Das Gefühl der Schuld kann man als Reaktion auf eine Handlung, das Gefühl der Scham als Reaktion auf eine Daseinsweise verstehen. Philip Roth beschreibt die Totalität der Scham eindrucksvoll: »Unreinheit, Grausamkeit, Mißbrauch, Irrtum, Ausscheidung, Samen – der Makel ist untrennbar mit dem Dasein verbunden. Er hat nichts mit Ungehorsam zu tun. Er hat nichts mit Gnade oder Rettung oder Erlösung zu tun. Er ist in jedem. Eingeboren. Verwurzelt. Bestimmend. Der Makel, der schon da ist, bevor irgend eine Spur davon zu erkennen ist. Es ist nichts zu sehen, und doch ist er da. Der Makel, der so wesenseigen ist, daß er kein Zeichen braucht … Darum sind all diese Reinigungen ein Witz. Noch dazu ein barbarischer« (Roth 2000, S. 271f.). Aber gerade weil der beschämende Makel dem Dasein so unentrinnbar anhaftet, sehnt sich der Beschämte nach Reinigung und Säuberung. Wir werden sehen, dass Menschen bis zum äußersten gehen, um makellos und rein zu werden. Unter kulturell-gesellschaftlichem Aspekt entwickelt sich Scham, wenn der Einzelne ideelle, oft ungeschriebene Normen des Anstands, der gesellschaftlichen Umgangsformen und Sitten verletzt. Die Übertretung ungeschriebener Regeln, also dessen, was man zu tun und zu lassen hat, ruft eine viel existentiellere Angst hervor als die vor Bestrafung und Verurteilung: Es ist die Angst, aus dem Beziehungsgeflecht der Gemeinschaft ausgestoßen zu werden und den sozialen Tod sterben zu müssen. »Scham bedeutet Angst vor totaler Verlassenheit, nicht vor physischem Tod, sondern vor psychischer Vernichtung … Von den Kulturtypen her gesehen, kann man sagen, daß eine Schuldkultur auf Unterwerfung unter die Gesetze beruht, eine Schamkultur auf Anpassung an soziale Normen« (Huldberg 1987, S. 92). Vergegenwärtigt man sich die Psychodynamik des Schuldgefühls, dann entsteht die Schuld-Angst, wenn das ethische Nor56

men setzende Über-Ich das Ich im Fall eines Vergehens mit Strafe bedroht. Schuld-Angst ist ihrem Wesen nach die Angst vor Strafe. Scham hingegen ist auf das Gefühl von Ohnmacht und Ausgeliefertsein bezogen. Man fühlt sich schwach und mangelhaft und schämt sich deshalb vor anderen, aber auch vor sich selbst. Schuld hat also mit Macht und Stärke, Scham hingegen mit Schwäche und Ohnmacht zu tun. Die Scham-Angst beruht wie die Schuld-Angst auf verinnerlichten Eltern-Figuren, bei der Scham sind diese aber eher »positive oder auf jeden Fall unbewusst idealisierte Figuren; sie werden bedrohlich, wenn das Ich nicht so ist, wie es sein sollte, und sie reagieren mit Verlassen, Ausstoßen oder emotionaler Aushungerung, was soweit gehen kann, dass die seelische Kohärenz in Gefahr gerät und die Psyche somit von Desintegration bedroht wird« (Huldberg 1987, S. 92f.). Eine extreme Form, sich vor der Überschwemmung mit Scham zu schützen und die eigene Ehre zu retten beziehungsweise sein Gesicht zu wahren, ist das in der japanischen Kultur als Harakiri bezeichnete Seppuku. Ursprünglich wurde es in der Kriegerkaste der Samurai geübt als der letzte Akt eines besiegten Kriegers, der damit seine Hingabe an seinen Herrn und die Meisterschaft über sich selbst demonstrierte. Sich durch den Suizid aus einer entwürdigenden Lage, in der man möglicherweise der Lächerlichkeit preisgegeben ist, zu befreien, ist in Japan nach wie vor kulturell und gesellschaftlich akzeptiert. Wer sich in diesem Sinn schämt, zeigt, dass er sich bewusst ist, die Gemeinschaft verletzt zu haben. Mit dem Verlust der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft verliert er seine Lebensmöglichkeit und seinen Lebenssinn. Er stirbt den seelischen Tod der Beziehungslosigkeit. Häufig wird darum die Scham im Vergleich zur Schuld als das existentiellere, tiefer gehende und totalere Gefühl empfunden. Das Gefühl der Scham ist also vielfältig und häufig mit Gefühlen von Schuld und Trauer verquickt. Trotzdem lassen sich zwei Formen von Scham unterscheiden: – Die eine Form dient der sozialen Anpassung. Ihr Auftauchen signalisiert: Du verletzt einen sozialen Konsens und verhältst dich der Sitte und Moral gegenüber falsch. In die57

sem Sinn wirkt sie gemeinschaftsstabilisierend und integrativ. – Die andere Form beschützt das Selbst des Individuums. Sie wacht über die menschliche Würde (Wurmser 1986, S. 18). Ihr Auftauchen signalisiert: Jemand überschreitet deine Grenze und dringt – ungefragt – ein, schütze dich also! In diesem Sinn fördert das Schamgefühl die Fähigkeit, sich abzugrenzen. Es vermittelt das Gefühl der Individualität und der Integrität. Die Diskussion dieser beiden Grundfunktionen der Scham und ihres anthropologischen Hintergrundes zieht sich durch die neuere kulturtheoretische, philosophische und psychoanalytische Diskussion. Die Grundfragen lauten: Woher kommt Scham und wozu dient sie? Ist sie dem Menschen angeboren, ist er also von Grund auf ein schamhaftes Wesen, oder ist Scham ein erworbener Affekt auf dem Weg vom Natur- zum Kulturwesen? Und wie ist sie dann zu beurteilen? Steht sie für einen archaischen Rest im ansonsten entwickelten Menschen oder ist sie im Gegenteil Ausdruck seiner Entfremdung vom Naturzustand und Hinweis auf die Deformation seiner natürlichen Regungen und auf seine Verklemmtheit, vor allem im Umgang mit seiner Sexualität? Darf Scham also sein, soll sie sogar geschützt werden, oder muss sie zugunsten einer größeren Freiheit und eines natürlichen Umgangs mit dem eigenen Körper, mit Nacktheit und Sexualität, überwunden werden? In der Kontroverse zwischen Sigmund Freund und Max Scheler um das Wesen der Scham und damit um die Frage nach dem Wesen des Menschen und seinem Auftrag im kulturellen Evolutionsprozess lässt sich diese Auseinandersetzung beispielhaft nachvollziehen.

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Der Scham-Affekt in der kulturanthropologischen Kontroverse Sigmund Freud: Scham als Kulturphänomen Scham lässt sich nach Sigmund Freud (1856–1939) nur als Phänomen in der Spannung zwischen Natur und Kultur des Menschen verstehen. Kultur hat eine nach außen gerichtete Schutzfunktion und eine nach innen gerichtete Organisationsfunktion. Sie umfasst »einerseits all das Wissen und Können, das die Menschen erworben haben, um die Kräfte der Natur zu beherrschen und ihr Güter zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse abzugewinnen« (Freud 1927, S. 110). Sie schützt sowohl vor der äußeren Natur wie vor der inneren Triebnatur. Im Hinblick auf ihre Organisationsfunktion spricht S. Freud davon, dass sie andererseits »alle die Einrichtungen, die notwendig sind, um die Beziehungen der Menschen zueinander, und besonders die Verteilung der erreichbaren Güter zu regeln«, umfasst. In dieser doppelten Hinsicht ist Kultur für den Menschen notwendig und für sein individuelles und gesellschaftliches Überleben unabdingbar. Um ihre Doppelaufgabe erfüllen zu können, mutet sie dem Menschen allerdings das Opfer des Verzichts zu und übt Zwang aus. Kultur, die für die Sicherung der Grundbedürfnisse aller in der Gemeinschaft steht, muss gegen die zerstörerischen, egoistischen Tendenzen Einzelner zum Wohle der Gesamtheit verteidigt werden. »So bekommt man den Eindruck, dass die Kultur etwas ist, was einer widerstrebenden Mehrheit von einer Minderzahl auferlegt wurde« (Freud 1927, S. 110). Sie ist Teil eines notwendigen Herrschaftsgefüges, denn die Vorstellung, dass die Interessen des Einzelnen sich mit denen der Gemeinschaft decken, ist illusionär. Realistischerweise muss man, so S. Freud, sagen, »daß sich jede Kultur auf Zwang- und Triebverzicht aufbauen muß … Man hat, meine ich, mit der Tatsache zu rechnen, daß bei allen Menschen destruktive, also antisoziale und antikulturelle Tendenzen vorhanden sind« (Freud 1927, S. 111). Der die mensch59

liche Triebnatur bezähmende Charakter der Kultur, also ihre Schutzfunktion vor der chaotisch-destruktiven Natur des Einzelnen, wird deutlich, wenn er schreibt: So »ist uns der Sinn der Kulturentwicklung nicht mehr dunkel. Sie muß uns den Kampf zwischen Eros und Tod, Lebenstrieb und Destruktionstrieb zeigen, wie er sich an der Menschenart vollzieht. Dieser Kampf ist der wesentliche Inhalt des Lebens überhaupt, und darum ist die Kulturentwicklung kurzweg zu bezeichnen als der Lebenskampf der Menschheit« (Freud 1930, S. 85f.). Der grundsätzliche und letztlich nicht lösbare Widerspruch von Kultur und Triebnatur ist die zentrale Annahme im Freud’schen Kulturverständnis: Einerseits können wir nicht ohne Kultur leben und leiden andererseits doch unter ihren Zwängen und Einschränkungen. Darum gibt es einen unausrottbaren »Kern der Kulturfeindseligkeit«, einen Widerstand gegen die Zumutungen und Forderungen der Kulturinstitutionen, weil »der Preis für den Kulturfortschritt in der Glückseinbusse durch die Erhöhung des Schuldgefühls bezahlt wird« (Freud 1930, S. 97). Das mit der kulturellen Entwicklung mitgegebene Schuldgefühl entwickelt S. Freud aus dem eher ungeschichtlich-mythischen als kulturhistorisch-exakten Bild von der Ermordung des Ur-Vaters durch seine Söhne. »Eines Tages taten sich die ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende.« Aber weil die Söhne ihrem Vater gegenüber zwiespältige Gefühle hegten, ihn hassten, weil er sie zurücksetzte, und ihn wegen seiner Stärke bewunderten, zahlten sie für das Ausleben ihres Hasses und ihrer Aggression mit eben jenem Schuldgefühl, das die Scham und die Reue in sich birgt. So beginnt mit dem Tabubruch und dem mit ihm einhergehenden Gefühl für die eigene Schuld – darin der biblischen Sündenfallsgeschichte nicht unähnlich – die menschliche Kultur. Das Schuldbewusstsein fällt mit Reue und Scham zusammen. Das am Ur-Vater begangene Unrecht muss gesühnt, die Tat gebüßt und der Mordimpuls sublimiert werden. So entste60

hen »aus dem Schuldbewusstsein des Sohnes« (Freud 1912/ 1913, S. 196ff.) die beiden fundamentalen Tabus einer archaisch-totemistischen Religion: die Verbote von Mord und Inzest. Entlastung von Schuld, Versöhnung mit dem ermordeten Vater und Dämpfung der brennenden Scham über das eigene moralische Versagen sind nach S. Freud die Wesensmerkmale aller Religionen. Gegen die Ideale der Gemeinschaftskultur zu stehen und dem sexuell-libidinösen und aggressiv-destruktiven Trieben zu folgen, bezahlt der Einzelne mit der Angst, bestraft zu werden, entweder durch die Kultur-Institutionen selbst oder durch die innerseelische Instanz des Über-Ich, welche die Ge- und Verbote der Kultur innerpsychisch aufnimmt und als Zensur an die Triebregungen weitergibt. Gefordert wird die Umwandlung von Triebimpulsen in Kulturleistung und die Sublimierung von Destruktionstendenzen. Trotzdem bleibt der Triebdruck bestehen. So kommt es zur Scham, angesichts der als notwendig, richtig und gut empfundenen Kulturnormen zu versagen, weil man habgierig, roh und promiskuitiv ist. Es bleibt bei dem Konflikt zwischen den individuellen und intimen Wünschen an die Lebensgestaltung, vor allem an die Gestaltung der Sexualität, und den allgemeinen zivilisatorischen Normen und Idealen. Dabei unterstellt S. Freud, dass das Schamgefühl einerseits im Einzelnen selbst entsteht als Einsicht in das eigene moralische Versagen, andererseits aber von der herrschenden Kultur als Disziplinierungsmittel eingesetzt wird. Scham ist, so kann gefolgert werden, für S. Freud ein Affekt, der die Spannung zwischen Kultur und Triebnatur ausdrückt. Man schämt sich, dass man nicht zivilisiert genug ist, um bestimmte, meist sexuell getönte Wünsche wirklich zu verbannen, und man schämt sich, dass man nicht stark genug ist, gegen die herrschende Kulturmeinung auf dem eigenen Lebensentwurf zu bestehen. Weil dieser Widerspruch unauflöslich ist, entrinnt niemand dem Gefühl der Scham. Aufgabe und Ziel von Erziehung und gesellschaftlicher Organisation ist es darum, »die Last der den Menschen auferlegten Triebopfer zu verringern, sie mit den notwendig verblei61

benden zu versöhnen und dafür zu entschädigen« (Freud 1927, S. 111). So wird Scham zwar nicht aufgehoben, wohl aber erträglich.

Max Scheler: Scham als Naturphänomen Der Philosoph Max Scheler (1874–1928), Zeitgenosse von Sigmund Freud, setzte sich in seiner philosophischen Anthropologie ausdrücklich mit dem psychoanalytischen Verständnis der Scham und dem mit ihr zusammenhängenden Kultur- und Menschenverständnis auseinander. Der Mensch, so M. Scheler, nimmt im Gesamtplan der Welt eine einzigartige Stellung ein, denn er ist als »Zwischenwesen« die Brücke zwischen dem Göttlichen und dem Tierischen, zwischen dem Geistigen und dem Leiblichen. An beidem hat er Anteil, beidem gehört er aber nicht ganz zu. Scham entsteht aus dieser dem Menschen unentrinnbar mitgegebenen Zwiespältigkeit, denn nur er kann sich »zurückwendend« selbst betrachten und begreift etwas vom geistigen Anspruch an seine Existenz und von seiner gleichzeitigen existentiellen Bindung an den »stets dunkel mitgegebenen Leib«, der »eine räumlich und zeitlich eng begrenzte, tierartige Existenz mit der ganzen Menge ihrer Bedürftigkeiten …« ist (Scheler 1957, S. 68). Scham taucht auf, weil der Mensch als einziges Wesen von seiner Berufung zu einer geistigen Existenz und gleichzeitig von seinem Versagen weiß. In diesem Konflikt hat die Scham ihren Ort. »Etwas wie eine Unausgeglichenheit und eine Disharmonie des Menschen zwischen dem Sinn und dem Anspruch seiner geistigen Person und seiner leiblichen Bedürftigkeit gehört also zur Grundbedingung des Ursprungs dieses Gefühls. Nur weil zum Wesen des Menschen ein Leib gehört, kann er in die Lage kommen, sich schämen zu müssen; und nur weil er sein geistiges Person-Sein als wesens-unabhängig von einem solchen ›Leibe‹ erlebt und von allem, was aus diesem Leibe zu kommen vermag, ist es möglich, daß er in die Lage kommt, sich schämen zu können … Darum berühren sich in der Scham auf 62

merkwürdige und dunkle Weise ›Geist‹ und ›Fleisch‹, Ewigkeit und Zeitlichkeit, Wesen und Existenz« (Scheler 1957, S. 69). »Rückwendung« setzt Selbstbewusstsein und Individualität voraus, für M. Scheler Basiseigenschaften des Menschen im Gegensatz zum Tier. Scham eignet nur dem Menschen. Sie ist ein Existential des Humanum, »das natürliche Seelenkleid unserer gesamten Geschlechtlichkeit« (Scheler 1957, S. 80) und darum nicht anerzogen und nicht im Lauf des Zivilisationsprozesses entstanden, sondern ursprünglich. Gegen S. Freud formuliert M. Scheler: »Weit entfernt also, daß die Scham erst durch die Bekleidung entstanden sei, die ihrerseits auf Schutzbedürfnisse zurückginge …, stammt die primitivste Form der Bekleidung vielmehr aus der Scham …« (Scheler 1957, S. 74–75). Die psychoanalytische Deutung, nach der das Auftauchen des Schamgefühls Ausdruck für die Verdrängung der Libido sei, ist für ihn irrig. Im Gegenteil: Indem die natürliche Scham die Kräfte des »sinnlichen Empfindungslebens«, also der Libido, verdunkelt und vom Bewusstsein fernhält, schafft sie dem Bewusstsein Freiheit. Sie verhindert damit die Überflutung des Geistes durch die Triebenergie. »Die Scham ist also keine Form der Selbsttäuschung, sondern gerade eine Kraft ihrer Aufhebung: sie ist die Wegbahnerin zu ›uns selbst‹. … Sie erspart Verdrängung« (Scheler 1957, S. 115). Durchaus kulturkritisch fügt M. Scheler hinzu, dass die Abnahme des Schamgefühls gerade nicht Ausdruck eines zivilisatorischen Fortschritts im Sinne einer fortschreitenden Befreiung des Einzelnen von primitiven Tabus sei, sondern eher ein Zeichen der Degeneration. Scham ist nicht Ausdruck der Entfremdung des Menschen von seinem Wesen, sondern Grundbedingung seiner Freiheit. Sie engt nicht ein, sondern eröffnet Spielräume. Sie muss nicht überwunden oder aberzogen, sondern soll geachtet werden. Mensch ist, wer sich schämen kann.

Ergebnis Die Kontroverse zwischen S. Freud und M. Scheler erhellt die vielfältigen Facetten der Scham. Sie lässt sich schlagwortartig auf die Formel bringen: S. Freud will die Befreiung des Men63

schen von übermäßiger Scham, M. Scheler propagiert die Befreiung des Menschen zur Scham. Der zum Kulturbürger gereifte Mensch schämt sich nach S. Freud seiner Triebnatur, die ja doch Quelle seiner Kraft und Lebendigkeit ist und die verlockend und bedrohlich zugleich immer gegenwärtig bleibt. Scham ist darum für S. Freud vor allem ein Affekt im Zusammenhang mit Kontrolle und Zensur. Sie ist Ausdruck der herrschenden Moral und verweist auf den unauflöslichen Widerspruch zwischen notwendiger Sublimierung und dem Preis, den der Einzelne für diese Kulturleistung zu zahlen hat. Wo sie zum vorherrschenden Gefühl einer Kultur gegenüber dem Körperlichen und insbesondere der Sexualität wird, droht die neurotische Deformation. Die Seele wird krank. Für M. Scheler dagegen ist Kultur überhaupt nur möglich, weil das Gefühl der Scham von Anfang der menschlichen Entwicklung an triebhemmend wirkt und darum Freiräume für geistige Existenz öffnet. Die Abnahme des Schamgefühls in einer Gesellschaft und in einer Epoche ist darum für ihn gerade nicht Ausdruck für Befreiung und moralischen Fortschritt. Die Kontroverse weist auf den ambivalenten Charakter der Scham hin. Die Position S. Freuds lässt sich als Entfaltung des Gemeinschaft stabilisierenden Aspekts verstehen: Wer die ungeschriebenen triebregulierenden Gesetze und Normen des Kollektivs verletzt, wird mit Ausstoßung und Ächtung durch die Kulturgemeinschaft bestraft. Vor dieser Tabuverletzung bewahrt ihn das Schamgefühl. Es entsteht als kulturell notwendiger Affekt im Prozess der Zivilisation. M. Scheler vertritt dem gegenüber den Aspekt der Scham als Wächterin der Würde und Integrität des individuellen Menschen. Sie gehört zum Wesen des Menschen und ist Voraussetzung und Bedingung für Kulturentwicklung, Zivilisation und Individuation (vgl. auch die Patienten Herr Scholz und Hannes). Was in den kulturanthropologischen Diskursen als Widerspruch erscheint, lässt sich im Rahmen eines entwicklungspsychologischen Verständnisses als zwei komplementäre Aspekte des einen komplexen Schamaffekts verstehen. Es erweist sich 64

damit als der Leitaffekt, der die Dynamik der Selbstverbrennung bestimmt. Im Folgenden stelle ich dies mit den Stichworten Scham, Selbst und Selbstwert dar.

Scham, Selbst und Selbstwert Das Gefühl der Scham ist »der narzisstische Affekt par excellence« (Wurmser 1987, S. 169). Es steht in unmittelbarer Beziehung zum Selbstwertgefühl. Der Begriff »Wert« ist etymologisch mit dem Begriff »Würde« verwandt. »Würde« war ursprünglich verknüpft mit der Stellung, die jemand in der Gesellschaft einnahm. Mit dem Einfluss der Aufklärung wandelte sich der Begriff der Würde. »Würde« bedeutete nun das Gefühl des Selbstwertes und der Selbstachtung. Sie war mit dem Bewusstsein für das assoziiert, was man sich »schuldig« ist, was man tun muss oder nicht tun darf, wenn man seinen Wert als geachtete Person nicht einbüßen will. So wie sich der Einzelne selbst unwürdig oder »unter seiner Würde« verhalten kann, so wird er auch von anderen als Person herabgesetzt und in seiner Würde beschädigt. In beiden Fällen reagiert er mit dem Gefühl der Scham, das unmittelbar sein Selbst, den Kern seiner Gesamtpersönlichkeit berührt. Selbstwahrnehmung und Selbstbewertung sind möglich, weil schon sehr früh ein rudimentäres, noch nicht entwickeltes, aber vitales Selbst als Zentrum der Persönlichkeit im Säugling entsteht. Jedenfalls reagiert die Umwelt, Eltern und Geschwister, so auf das Baby, »als hätte es bereits sein Selbst … In dem Augenblick, in dem eine Mutter ihr Baby zum ersten Mal sieht und auch mit ihm in Kontakt ist (durch taktile, olfaktorische und propriozeptive Kanäle, wenn sie es füttert, trägt und badet), findet der eigentliche Beginn eines Prozesses statt, der das Selbst einer Person bildet« (Kohut 1999, S. 95). Das Selbst, der Kern der Person wächst und entwickelt sich, wenn die unmittelbaren Bezugspersonen auf zwei Grundbedürfnisse des Kindes reagieren: Es möchte bewundert werden und es will bewundern können und auch dürfen. Bewundert zu werden meint, ein liebevolles, ermutigendes, 65

das eigene Dasein und die persönlichen Stärken und Fähigkeiten bestätigendes Echo zu erleben. »Die wichtigsten Interaktionen zwischen Mutter und Kind liegen gewöhnlich im visuellen Bereich: Das Kind bietet seinen Körper der Mutter dar und sie reagiert darauf mit einem Aufglänzen ihres Auges« (Kohut 1973, S. 142). Bewundern zu wollen bedeutet, dass der Säugling die Eltern idealisieren darf, um sich in ihrer Größe zu spiegeln und sich selbst als groß, ja als großartig zu empfinden: »Vater ist wunderbar stark und mächtig und ich bin sein wunderbares Kind!« Beide Grundstrebungen dienen der Entwicklung eines gesunden, belastbaren Personenkerns, indem sie eine grundsätzliche Selbstakzeptanz (»primärer Narzissmus«) ermöglichen. »Unter günstigen Umständen erkennt das Kind allmählich die realistischen Begrenzungen des idealisierten Selbst-Objektes, gibt die Idealisierungen auf und vollzieht schrittweise übereinstimmend die umwandelnden Wiederverinnerlichungen« (Kohut 1973, S. 129). Mit dem Erkennen der realen Dimensionen der Eltern nimmt das Kind die auf sie projizierten Phantasien in sich zurück und erlebt sie zunehmend als Aspekte seiner eigenen Person. So werden gesunder Stolz und vitale Selbstbehauptung, das Eintreten für eigene Werte und Wünsche möglich. Entwicklungsfördernd ist dabei weder eine exzessive Bemutterung (»Lass mal, ich mach das schon für dich – streng dich nicht so an!«) noch die uneinfühlsame Frustrierung (»Das musst du schon allein hinkriegen – Leben heißt: sich durchzubeißen!«), sondern die »optimale Versagung« (Kohut 1999, S. 78). Gemeint ist eine auf das Kind gerichtete Achtsamkeit, die sich in einer Balance aus angemessener Unterstützung kindlicher Initiativen und der Begrenzung kindlicher Wünsche ausdrückt. »Ja« und »Nein« erlebt der Säugling dann als unterschiedliche Formen eines hilfreichen Kontakts, der der Orientierung und Sicherheit dient. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sich Eltern und Kind nach dem Muster des »reziproken Feedbacks« (Stern 1996, S. 182) gefühlsmäßig aufeinander einstimmen können. Als Ergebnis dieser Entwicklung, in der durch komplexe Prozesse von selektiver Aufnahme 66

und selektiver Ausgrenzung das Kernselbst gebildet wird, entsteht das »Gefühl, daß wir ein unabhängiger Mittelpunkt von Antrieb und Wahrnehmung sind, ein Gefühl, das mit unseren zentralsten Strebungen und Idealen und unserer Erfahrung integriert ist, daß unser Körper und Geist eine Einheit im Raum und ein Kontinuum in der Zeit darstellen« (Kohut 1999, S. 155). Damit geht die Überzeugung einher, berechtigt zu sein, und die Fähigkeit, sich selbst wohlwollend und liebevoll zu begegnen.

Das Selbst und die Haut Die Haut als Rundum-Organ spielt für die Entwicklung des Selbst-Gefühls eine zentrale Rolle. Umgangssprachlich steht sie für den ganzen Menschen. »Er ist eine ehrliche Haut«, sagen wir und meinen, dass jemand aufrichtig und verlässlich ist. Abgemagerte Menschen sind nur noch »Haut und Knochen«. Wer einer Gefahr knapp entronnen ist, hat seine »Haut gerettet«. Im Zorn fährt man »aus der Haut«. Manchmal gehen einem allerdings Dinge »unter die Haut« und berühren einen persönlich, vielleicht, weil man »dünnhäutig« ist. Und verlieben tut man sich mit »Haut und Haar«. Ausgehend von den vielfältigen Wahrnehmungen und Erfahrungen der Körperoberfläche entwickelt das Kleinkind eine Vorstellung für sich selbst als Person. Die Haut als größtes menschliches Organ umkleidet dieses sich langsam herausbildende Ich wie eine Hülle. Sie ist das primäre Sinnesorgan. Mit den Rezeptoren für Kälte und Wärme, Schmerz und Wohlbefinden vermittelt sie nicht nur erste körperliche Eindrücke der Welt, sondern auch seelische Empfindungen, die mit den körperlichen unmittelbar zusammenhängen. »Die Geburt«, schreibt D. Anzieu (1991, S. 86), »verschafft dem Kind, während es zur Welt kommt, die Erfahrung einer Massage des ganzen Körpers und Reibung der gesamten Haut, hervorgerufen durch die Wehen und die Austreibung aus der vaginalen Hülle … Die Entwicklung sensorischer Aktivitäten und später der Kommunikation durch Hören, Sehen, Riechen 67

und Schmecken wird wiederum dadurch begünstigt, wie die Personen seiner Umwelt das Kind tragen, beruhigen, seinen Körper an den ihren drücken, seinen Kopf oder seinen Rücken halten.« Berührt das Kind sich selbst und wird es berührt, macht es zwei einander ergänzende Erfahrungen: »Es ist die Haut, die berührt, und gleichzeitig die Haut, die berührt wird. Nach diesem Modell der reflexiven Berührung bilden sich weitere reflexive Empfindungen … bis hin zum reflexiven Denken« (Anzieu 1991, S. 87). Die Wahrnehmungen, die das Kind mit, durch und über die Haut macht, sagen ihm, dass es von seiner Umwelt unterschieden ist. Es ist das Bewusstsein, in einer eigenen Haut zu stekken, das synonym für Individualität wird. Gleichzeitig erlebt es, dass die Haut ausdrückt, was an seelischen Befindlichkeiten in ihm ist: Freudenschauer, Angstschweiß und Schamröte überziehen seine Haut. Sie ist ein »Seelenspiegel« (Maguire 1993, S. 265). Beide Wahrnehmungsmodi beruhen auf vier biologischen Grundfunktionen der Haut. Zuerst lässt sich die Haut als Hülle verstehen, die das Ich umgibt und in ihrem Inneren alles Lebendige festhält gegen die Angst, »auszulaufen« und sich zu verlieren. Sie stützt das Ich, hält es zusammen und gibt damit eine Grundsicherheit. In ihrer zweiten Funktion ist die Haut die Grenzfläche zwischen dem Individuum und seiner Umwelt. Sie schützt es vor dem Eindringen äußerer Einflüsse. Sie markiert die Grenze sowohl des Körpers als auch der Person. Die psychische Qualität der Haut als Grenzfläche und Barriere ermöglicht einen Rückzug in sich selbst und ein »aus der Haut fahren«, also ein Spiel mit Nähe und Distanz. In ihrer dritten Bedeutung ist die Haut Mittel und Ort des Austausches und des Kontakts mit anderen. Wichtige Beziehungen und Kontakte zwischen dem Säugling und seiner Mutter entstehen über Berührung und Streicheln, Tragen und Körperpflege. Schließlich ist die Haut die Außensicht des Menschen. In einer Kultur, die zunehmend auf optische Reize reagiert und ein 68

makelloses Äußeres mit einem wertvollen Inneren assoziiert, bedeutet ein gepflegtes Aussehen ein hohes soziales Ansehen. Prestige, erotische Attraktivität und Wertschätzung hängen an der ästhetischen Güte der »Hülle«. Zugehörig ist, wer einem bestimmten Schönheitsideal entspricht. Scham bringt unsere Haut zum Glühen. Sie ist das Organ, dass den Ausdruck unserer Verlegenheit, unserer Selbstunsicherheit am intensivsten und am öffentlichsten zur Darstellung bringt.

Gefährdung und Verletzung des Selbstwertgefühls Die Irritation des vertrauten Austausches zwischen Eltern und Kind und des mit ihm für den Säugling gegebenen sicheren Lebensgefühls ist selbst unter optimalen Bedingungen mit zunehmendem Alter und fortschreitender Entwicklung des Kindes unumgänglich. Wirklich bedroht wird der Personenkern vor allem durch eine zu große elterliche Ferne und eine entsprechende Unterstimulierung. Sie ist Ausdruck einer Störung des elterlichen Selbst. Eltern mit einer eigenen »Selbst-Pathologie« brauchen das Kind als Krücke zur Stützung, »sie wollen die Verschmelzung und Verstrickung mit dem Kind nicht aufgeben, das sie, nicht phasengerecht, wegen des defekten Zustandes ihres eigenen Selbst noch immer als Teil ihres eigenen Selbst brauchen und festhalten wollen« (Kohut 1999, S. 271). Sie können auf die Wünsche des Kindes, bewundert zu werden und die Eltern bewundern zu dürfen, nicht angemessen eingehen. Die Konsequenz ist eine zunehmende Enttäuschung des Kindes. Nicht gesehen zu werden, also nicht beachtet und geachtet und in seinem Wesen nicht verstanden zu werden, weckt schmerzhafte Gefühle von Ärger und Angst. Der Affekt der Scham hat aber vor allem mit dem Gesehenwerden von anderen und vom eigenen inneren Auge zu tun. In alltäglichen Redewendungen wie »sein Gesicht verlieren/wahren«, »sich eine Blöße geben« und einem anderen nicht »unter die Augen treten« können, drückt sich der enge Zusammenhang von Scham, 69

Gesichtssinn und Selbstwertgefühl aus. »Ebenso wie Stolz entsteht, wenn jener Glanz, jene Bewunderung im anderen ausgelöst werden kann, wird Scham gefühlt, wenn andere ihre Blicke abwenden oder Missfallen signalisieren« (Hilgers 1997, S. 17). Wer nicht angesehen wird, empfindet sich als unansehnlich. Wer nicht beachtet wird, kommt zu dem Schluss, ihm hafte ein Makel an – und schämt sich seiner selbst. Das Kleinkind hat noch nicht die Möglichkeit, sich vor diesen Unlust-Erfahrungen zu schützen, sie abzuwehren oder sich ihnen zu entziehen. Weil es aber auch der aufmerksamsten Mutter und dem liebevollsten Vater nicht gelingen kann, diese frustrierenden Erfahrungen auf ein erträgliches Maß zu reduzieren, werden Ärger und Angst immer wieder das Kleinkind überfluten und seinen Reizschutz durchbrechen. Es macht dabei unausweichlich die Erfahrungen von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Ausgeliefertsein. Weil das mit der Geburt auftauchende und sich in den ersten fünfzehn bis achtzehn Monaten konstituierende Selbstverhältnis und Selbstwertgefühl des Kindes wesenhaft in der Beziehung und Interaktion mit den unmittelbaren Kontaktpersonen reift, ist es auch durch Störungen dieses Kontakts leicht irritierbar und verletzbar. Grobe Formen von Vernachlässigung, ein Mangel an verlässlicher Zuwendung und an Geborgenheit der Eltern, frühe Trennungs-, Gewalt- und Verlusterfahrungen führen über die normale Irritation im Individuationsprozess hinaus zu einer tiefen Ich-Verunsicherung und zur Verletzung des Personenkerns. Sie ist für E. Ringel das Leitsymptom des von ihm so genannten »präsuizidalen Syndroms« (Ringel 1999, S. 104– 144). Die Selbst-Psychologie, die diese entwicklungspsychologisch frühe Störung beschreibt, begreift das Entstehen von Scham also als Reaktion auf den ausbleibenden liebevoll-unterstützenden Blick der Eltern. Sie ist die gefühlsmäßige Reaktion auf die frustrierende Erfahrung, dass der erwartete bestätigende Blick ausbleibt. Diese Tendenz zur Selbstentwertung, die aus frühkindlichen traumatisierenden Beziehungserfahrungen herrührt, wird auf schmerzliche Weise aktualisiert, wenn nahe stehende Men70

schen, Ehepartner, Freunde und Kollegen an die Wunde rühren. In ihrem Selbst gestörte Menschen sind in besonderer Weise auf Anerkennung und positive Verstärkung, oft sogar auf Bewunderung angewiesen, um die narzisstische Wunde erträglich zumachen. Sie sind darum für jede auch noch so kleine Form von Kränkung und vermeintlicher Abwendung äußerst anfällig. Darum wählen sie sich in der Regel Partner / Partnerinnen, von denen sie unbewusst, im Sinne eines »Hilfs-Ich«, eine Stärkung ihres Selbstwertgefühls erwarten. Der Partner soll den Defekt im Selbst auffüllen. Zieht er sich zurück, wird der Traumatisierte von Gefühlen der Ohnmacht und der Wertlosigkeit überschwemmt. Dagegen versucht er sich durch Mechanismen der Realitätsverleugnung (»Dass du mich verlässt, ist ein Missverständnis – alles wird sich aufklären!«) und der Idealisierung (»Unsere Liebe ist ohne Ende!«) zu schützen. Wenn diese Abwehrmechanismen versagen, greift der Traumatisierte auf Phantasien vom Rückzug auf einen als harmonisch, konfliktfrei und friedlich vorgestellten Zustand zurück. Er trägt die Züge inniger Geborgenheit, wie sie vom Säugling in den ersten Wochen seines Lebens in den Armen und an der Brust der Mutter erlebt wurde, einem Zustand ohne den kritischen, abschätzenden Blick auf die eigene Person, der die Scham über sich selbst wachruft. Angesichts seiner Ohnmacht erlangt der Suizident eine letzte Kontrolle über sein Geschick. Im Modell einer Psychologie des verletzten Selbst lässt sich die Selbsttötung als Ausführen dieser Phantasien verstehen: Durch den aktiv vollzogenen Rückzug wird ein letzter Rest von Selbstwertgefühl im Sinne von Autonomie wiederhergestellt. Der Suizident verzichtet auf das individuelle, beschämte Leben. Dafür gewinnt er eine ihm in seiner Vorstellung nicht mehr zu nehmende Sicherheit vor Kränkung und Verletzung. Auch im Verstehensrahmen des Autoagressionsmodells, wie es die klassische Psychoanalyse entwirft, wird die suizidale Krise durch einen Beziehungskonflikt mit einem zentral wichtigen Menschen ausgelöst. Anders als in der Selbst-Psychologie, die eine frühe Verletzung des Personenkerns annimmt, rechnet das Autoaggressionsmodell mit einer schon etablierten psychischen Struktur, 71

die S. Freud als einen »Apparat« mit den drei Instanzen Es, Ich und Über-Ich beschreibt. Fest installiert ist diese Struktur nach psychoanalytischer Vorstellung mit fünf bis sechs Jahren in der ödipalen Phase. Es und Über-Ich sind dabei Antagonisten. Das Es ist als triebhafter Bereich darauf aus, seine mitgebrachten Bedürfnisse zu befriedigen. Das Über-Ich, in dem die gesellschaftlichen und kulturellen Normen und Ideale als Geund Verbote repräsentiert sind, hat die Aufgabe, die Triebstrebungen des Einzelnen so zu beschränken, dass Sozialität, also Kultur im weitesten Sinn, möglich wird. »Eine Handlung des Ichs ist dann korrekt, wenn sie gleichzeitig den Anforderungen des Es, des Über-Ich und der Realität genügt, also deren Ansprüche miteinander zu versöhnen weiß« (Freud 1938, S. 10). S. Freud nimmt zwei Grundenergien an, die sich in allen drei Instanzen auswirken: Eros, den Lebens- und Liebestrieb, dessen Ziel es ist, Beziehungen herzustellen, Einheiten zu bilden und Bindungen zu stabilisieren, und den Destruktionstrieb, der im Gegensatz dazu Beziehungen zerstört und Zusammenhänge auflöst. »Das Mit- und Gegeneinanderwirken dieser beiden Grundtriebe ergibt die ganze Buntheit der Lebenserscheinungen« (Freud 1938, S. 12). Mit zunehmender Entwicklung des Über-Ich mit seinem zentralen Verbot der ungehemmten Aggressionsabfuhr werden große Teile der aggressiven Energie im Ich und durch das Ich gebunden und gehemmt, ohne dadurch aufgehoben oder neutralisiert zu sein. Anders als im Modell der Selbst-Psychologie, bei der die Erfahrung von Kränkung durch mangelhafte Zuwendung und Abwertung zum Zentralgefühl der beschämenden Wertlosigkeit führt, wecken ähnliche Erlebnisse im Verständnis des Strukturmodells vor allem Wut gegenüber nahen Bezugspersonen, von denen sie ausgehen. »Was hast du mir angetan?« ist dann der Vorwurf mit dem Wunsch, den anderen zu bestrafen, zum Beispiel sich von ihm zu trennen oder gar ihn zu töten. Autonomiewünsche rufen allerdings die Angst vor Alleinsein und Hilflosigkeit wach. Die Phantasie, den beschämenden Anderen zu vernichten, wird vom rigiden ÜberIch unterdrückt. Aggression, die keine Kompensationsmög72

lichkeit findet, staut sich in immer unerträglicherer Weise, bis sie in Autoaggression umschlägt. »Den Übergang von verhinderter Aggression in Selbstzerstörung durch Wendung der Aggression gegen die eigene Person demonstriert oft eine Person im Wutanfall, wenn sie sich die Haare rauft, mit den Fäusten ihr Gesicht bearbeitet, wobei sie offenbar diese Behandlung lieber einem anderen zugedacht hätte« (Freud 1938, S. 13). Brennende Scham resultiert dann aus dem Gefühl, nicht in der Lage gewesen zu sein, den eigenen Destruktionstrieb gemäß der verinnerlichten moralischen Norm kontrollieren zu können und mit diesem Tabubruch öffentlich dazustehen.

Reife Kompensationsformen der Selbstwerterschütterung Ein Leben mit der Angst, durch den Rückzug eines nahe stehenden Menschen im Innersten zerstört zu werden (selbstpathologischer Modus) ist genauso unerträglich wie ein Leben in der Spannung zwischen der Sehnsucht nach Beziehung und der Scham über die sich in diesem Wunsch ausdrückende Unterlegenheit und Schwäche (autoaggressiver Modus). Jeder Menschen entwickelt eine Reihe unterschiedlicher Verhaltensweisen, um sich vor Beschämung zu schützen. Dies zu können ist Ausdruck innerer Unabhängigkeit vom beurteilenden Blick anderer. Die Elementarform der Abwehr ist die Verhüllung der eigenen Blöße und damit die Wahrung der persönlichen Integrität. »Nicht jeder darf ungefragt in mein Inneres schauen. Ich entscheide, wem ich mich öffne!« Es ist wichtig, die Fähigkeit zu entwickeln, sich »bedeckt« halten zu können. Menschen mit einem intakten, kohärenten Kernselbst und einem ausreichend großen Maß an Selbstbewusstsein und Selbstachtung werden Haltungen entwickeln, die darauf hinauslaufen, zwischen den Ansprüchen an die eigene Person und dem eigenen Wesen zu unterscheiden. Dies mildert die schamhaft empfundene Diskrepanz zwischen dem (Ich-)Ideal und der Wirklichkeit. 73

Mit dem Nachlassen des »Sollens« wächst für Menschen mit einem stabilen Selbstwertgefühl der Raum der Gestaltungsfreiheit für das eigene Können und Dürfen. Wenn sie einen Fehler machen, werden sie in der Lage sein, die Wichtigkeit und den Stellenwert richtig einzuschätzen und sich selbst gegenüber nachsichtig sein. Möglicherweise werden sie ihre Vorstellungen über sich und ihre Ansprüche an sich überdenken und anpassen. Und schließlich werden sie sich gegen ungerechtfertigte Vorwürfe zur Wehr setzen. Das betrifft auch ihre Partnerschaften und die in ihr auftauchenden widerstreitenden Gefühle von Zuneigung und Kränkung, Liebe und Hass.

Der Zusammenbruch Selbstunsichere Menschen werden allerdings Abwehrformen entwickeln, die den Wut-Scham-Zirkel nicht unterbrechen, sondern ihn in selbstschädigender Weise geradezu intensivieren. Léon Wurmser nennt als »Maske verborgener Scham« die Verkehrung der Scham-Haltung in ihr Gegenteil. »Statt dass ich mich selbst verachte, richte ich kalten Hohn und Spott gegen andere« (Wurmser 1981, S. 24f.). Wenn allerdings die Stärkung des Ich und die Erweiterung seines Spielraums nicht gelingen oder nicht möglich sind, wenn die antagonistischen Gewissensforderungen ungehindert fortbestehen und wenn dann der für die innerseelische Balance so wichtige Partner sich trennt und die beschriebenen Gefühle von Ohnmacht und tödlicher Wut aufbrechen, dann steht der Zusammenbruch des Selbstwertgefühls und das Überschwemmt werden mit brennender Scham unmittelbar bevor. Lässt sich die Wut-SchamSpannung nicht innerseelisch lösen, muss sich der Mensch in letzter Konsequenz von ihr (er-)lösen. Der Suizid scheint dann der letzte Ausweg zu sein. In ihm nimmt der Suizident aktiv die als unabwendbar auf ihn zukommende Katastrophe seines seelischen Zusammenbruches vorweg. Er wehrt mit diesem radikalen Schritt aus dem Leben die unerträgliche Erfahrung ab, Beschämungen ohnmächtig leidend hinnehmen zu müssen. Im Verlassen seines Lebens erweist er sich subjektiv ein letztes 74

Mal als Herr über seine Existenz. Die sich zuspitzende suizidale Krise erfährt er als Überschwemmung seiner inneren Welt mit Angst, Scham, Wut, Ohnmacht und Verzweiflung. Letzter Schutz vor der lebensbedrohlichen Beschämung und gleichzeitiger Rettungsversuch des Personenkerns ist die Fähigkeit zur Dissoziation. Sie wird beschrieben als »Prozess, durch den bestimmte Gedanken, Einstellungen oder andere psychologische Aktivitäten ihre normale Relation zu anderen bzw. zur übrigen Persönlichkeit verlieren, sich abspalten und mehr oder minder unabhängig funktionieren. So können logisch unvereinbare Gedanken, Gefühle und Einstellungen nebeneinander beibehalten und doch ein Konflikt zwischen diesen vermieden werden« (Arnold et al. 1980, S. 383). Die Dissoziation ist der Versuch einer Rettung des Selbst mittels der Spaltung von Ich und Nicht-Ich. Der Körper wird zum abgespalteten Nicht-Ich, zur bloßen Hülle. Er hat mit der eigenen Person nichts mehr zu tun. Auf ihn können die abgespaltenen Gefühle projiziert werden. Die Dissoziation entlastet das Selbst auf zwei Weisen: Zum einen werden die bedrängenden Gefühle nach außen auf die Körperhülle abgeleitet. So ist es möglich, über die Haut als Nicht-Ich die Scham zu verbrennen und auf diese Weise loszuwerden. Das Ich, so die Vorstellung, rettet sich durch dieses Opfer durch das Feuer hindurch (Sachsse 1996, S. 51f.). Zum anderen ist seelischer Schmerz häufig unerträglicher als körperlicher. Wer sich selbst anzündet, fügt sich einen brennenden Hautschmerz zu und betäubt so den »eigentlichen«, den Schmerz der inneren brennenden Scham. Damit ist der Feuersuizid beides: Er ist im Verständnis der Selbst-Psychologie Ausdruck eines verzweifelten Kampfes um einen letzten Rest von Selbstbestimmung, Würde und Integrität. Der in seinem Selbstwert früh Traumatisierte kommt der »narzißtischen Katastrophe, dem völligen Zusammenbruch des narzißtischen Gleichgewichts« zuvor, indem er »sein Selbstgefühl rettet, auf seine Identität als Individuum aber verzichtet, was gleichbedeutend ist mit einer Regression auf den harmonischen Primärzustand« (Henseler 1990, S. 84). Mit dem Körper verbrennt auch die auf ihn projizierte Scham. 75

Im Deutungshorizont des Aggression-Autoaggressions-Modells lässt sich der Suizid verstehen als die Tötung des ihm innerseelisch gegenwärtigen Partners, der ihm »das alles« angetan hat und ihn über die Maßen beschämt hat. Für diesen Tötungsimpuls des internalisierten Partners gibt es – wie der Traum zeigt – keine moralischen Hemmungen. Aber »aufgrund einer bei Suizidalen besonders ausgeprägten Über-IchBindung verlangt diese intra-psychisch verlaufende Tötung als Blutschuld eine Sühne, und diese Sühne leistet der Suizidale im Suizid durch seinen eigenen Tod« (Jörns 1986, S. 40). Die Rolle der Scham als Leitaffekt im Suizidgeschehen ist damit umrissen. Das Wohin dieses Prozesses ist noch unklar und wird im weiteren Verlauf der Untersuchung deutlicher werden. Hier kann die Vermutung geäußert werden, dass das Ziel der Selbsttötung für den Lebensmüden das Gegenteil zu seinem als unerträglich empfundenen Jetzt-Zustand ist: Ruhe und Frieden ohne überfordernde und demütigende Ansprüche, ohne Schmerz, Schuld, Versagen und Scham. Es müsste ein Zustand sein, der entwicklungsgeschichtlich dem frühkindlichen Verschmolzensein mit der Wärme und Geborgenheit schenkenden Mutter entspricht und religiös mit den Bildern vom Paradies verbunden ist. Im Modell des entwicklungspsychologischen Denkens ist dieser harmonische Primärzustand auf dem Weg einer radikalen Regression nur unter Aufgabe der im bisherigen Leben entwickelten und erworbenen Individualität zu erreichen. Zu sprechen, zu fragen, Hilfe zu erbitten, sich anzuvertrauen – all das, was den Menschen im eigentlichen Sinn zum Menschen macht und ihn im Leben hält, ist jetzt nicht mehr möglich. Nicht mehr zu kommunizieren, sich nicht mehr mitzuteilen heißt aber, den Tod der Beziehungslosigkeit zu sterben, bevor der leibliche Tod vollzogen wird. Es wird nicht mehr geredet, sondern verzweifelt gehandelt. »Die Bibel«, fasst Klaus-Peter Jörns zusammen, »lehrt menschliches Leben zu verstehen als das Sein des Einzelnen in Beziehung zu anderen Menschen und Dingen, aber auch zu Gott. Tod ist in der Bibel ein Stadium, in dem es keine Beziehungen mehr gibt, die den Menschen im Leben halten … 76

Wachsende Suizidalität lässt sich also begreifen als prozesshaft scheiterndes Kommunizieren« (Jörns 1986, S. 26). Auch der Kontakt zu Sinn und Ziel des Lebens ist verloren gegangen. Gott als Inbegriff dessen, was Leben schafft und leben lässt, ist im Suizidenten untergegangen. Es ist Nacht um ihn – ohne rettende Gegenwart eines Anderen. Die Entscheidung ist gefallen. Mit der Selbstanzündung wird er zu einer Fackel in der Nacht.

Die homöopathische Logik von Scham und Feuertod Scham als Leitaffekt der suizidalen Dynamik hat mit dem Feuer als Suizidmittel in unmittelbarer Weise zu tun. Ich schlage für das Verständnis dieses Zusammenhangs den Begriff der »homöopathischen Logik« vor, den ich Klaus-Peter Jörns (1998, S. 26) verdanke. Mit »homöopathisch« ist ursprünglich eine Therapiemethode gemeint, die nach dem Ähnlichkeitsprinzip (similia similibus curentur) Beschwerden mit kleinen Dosierungen des Mittels behandelt, das in großen Mengen die Symptome provozieren würde, die der Krankheit ähnlich sind. Homöopathische Logik bedeutet auf seelische Prozesse bezogen, dass psychische Affekte mit den ihnen symbolisch entsprechenden äußeren Mitteln durch Veröffentlichung im Sinn eines Selbstheilungsversuchs geheilt werden sollen. Vom homöopathischen Ähnlichkeitsprinzip her ist die Beziehung von »brennender Scham« zum Feuer als Suizidmittel verständlich. Die als unerträglich empfundene »innere Hitze« der Scham soll – ähnlich dem Erröten! – gesteigert und in der »äußeren Hitze« des Feuers verbrannt werden. Sie muss dazu dissoziativ nach außen gebracht und in die Körperhülle überführt werden. Die Haut drückt noch einmal aus, was die Seele erlebt und erlitten hat. Indem es auf diese Weise zu einer inneren Spaltung zwischen der externalisierten Scham und dem Personenkern mit Hilfe der Dissoziation kommt, kann unbewusst das Personenzentrum durch das Feuer hindurch gerettet werden. Mit der Körperhülle verbrennt »nur« die skandalöse 77

Scham. Was mit dem Kern der Person geschieht, wird verständlich, wenn die Feuersymbolik gedeutet wird.

Die Bedeutung des Ortes für die Selbstverbrennung Das Drama der Selbstverbrennung kann notwendigerweise nicht im Verborgenen geschehen. Es sprengt in der Mehrzahl der Fälle den privaten Raum und drängt in die Öffentlichkeit. Die latente Hoffnung, doch noch gefunden zu werden, spielt dabei sicherlich eine Rolle. Hält man aber die Wahl des Ortes für den Suizid ebenso wenig für zufällig und bedeutungslos wie die des Suizidmittels, dann wird man annehmen können, dass die besondere Dynamik des Selbstverbrennungsgeschehens einen Ort braucht, an dem sich der Konflikt von Sich-Zeigen und Gesehen-Werden bei gleichzeitigem Rückzug in die Unsichtbarkeit und Un(an)greifbarkeit öffentlich inszenieren lässt. Die brennende Scham drängt den Suizidenten zur Veröffentlichung seiner Krise. Selbstverbrennung ist öffentliche Selbstdarstellung eines Menschen, dessen Wesen es ist, sich schamhaft zu verbergen: »Seht her, ich zeige mich euch, bevor ich vergehe! Strahlend hell, heiß, kraftvoll bin ich – wie die Sonne!« Sie ist öffentliche Anklage dessen, der nie wagte, für sich etwas einzufordern: »Seht her, so brennend ist meine Not, und ihr habt mich nicht gesehen!« Wer sich selbst verbrennt, will, wenn auch oft unbewusst, bemerkt werden, denn er hat eine Botschaft. Diese Botschaft braucht die Öffentlichkeit. Eine brennende Fackel verliert ihren Sinn, wenn sie nicht gesehen wird. Der öffentliche Raum ist darum für den Suizidenten der Ort einer letzten Provokation – im buchstäblichen Sinn: Der Herausforderung einer Reaktion der Umstehenden, die unfreiwillig zu Anteilnehmenden an seinem Sterben werden. Wer zusehen muss, wie einer sich anzündet, ist starr vor Schreck. Er bleibt im Schock stehen und ist für Momente Gefangener dieses Geschehens und dessen, der es in Gang gesetzt hat. Der, der seine Selbstverbrennung inszeniert, zwingt die Passanten, alles Eigene hinten anzustellen und sich ihm in ab78

soluter Aufmerksamkeit zuzuwenden. Alles, was sonst noch an diesem Ort geschieht, verblasst gegenüber dem feurigen Geschehen. Es stellt alles in den Schatten. Für alle – den Suizidenten und die Umstehenden – gibt es in diesem Moment nichts Wichtigeres, Größeres und Erschreckenderes. Darum betritt nicht nur der Selbstdarsteller und Ankläger im Suizidenten die öffentliche Bühne, sondern auch der in seiner Ohnmacht und Ausweglosigkeit für einen Moment Machtvolle und Grandiose. Er glüht auf und verglüht gleichzeitig. Er zeigt sich »unverschämt« leuchtend wie die Sonne und verbirgt sich im selben Augenblick, ist nicht zu fassen, ist zu Asche verbrannt. Das Feuer tut beides: Es erschafft ein letztes Mal für einen kurzen Augenblick das neue strahlende Leben und es zerstört alles Unansehnliche.

Ergebnisse Die Abwehr der Scham kann auf zwei verschiedene Weisen im Suizid geschehen: Der beschämende »Andere« kann als »inneres Objekt« symbolisch getötet werden. Die Sühne für diesen »Mord« ist die Selbsttötung. Oder man entgeht der Scham, indem man sie auf die Körperhülle projiziert, sich dann selbst von dieser trennt und sie mit der unerträglichen Scham zusammen verbrennt. Der Preis für diese Spaltung und die Regression in einen Zustand vorgeburtlichen Einsseins mit einem versorgenden Objekt ist das Opfer des eigenen Körpers im Suizid. In beiden Fällen lässt sich die Selbstverbrennung als Auslöschen der Schamquellen im Selbst verstehen. Dabei wird die brennende Scham »im Akt des Suizids in einem letzten grandiosen Triumph über die eigene Schwäche verwandelt und stellt in der Phantasie vieler Patienten damit einen Akt der Stärke dar …« (Hilgers 1997, S. 36). Die mit der Scham über sich selbst verbundenen Gefühle der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins und der Wut werden im Augenblick des selbstgewählten Feuertodes durch das Gefühl, wieder Herr über (das eigene) Leben und (den eigenen) Tod zu sein, kompensiert. 79

5. Die Welt brennt – Apokalyptik als religionsphänomenologische Interpretationshilfe für das Verständnis des Feuertodes Sucht man einen Rahmen, in dem die Motive Scham, Bestrafung, Reinigung und Erlösung mit den Motiven Feuer und (Ver-)Brennen in Beziehung gebracht werden können, stößt man auf den Bereich der apokalyptischen Vorstellungen in den Religionen. In vielfältiger Weise wird der Weg des einzelnen Menschen und des ganzen Kosmos als ein Weg durch das reinigende und vernichtende, darin aber auch befreiende und erneuernde apokalyptische Feuer verstanden.

Grundsätzliches zur Apokalyptik »Apokalypsis«, wörtlich »Aufdeckung«, »Enthüllung« meint eine Mitteilung geheimen Offenbarungswissens an auserwählte Menschen, die in der Lage sind, diese verschlüsselten Botschaften aufzunehmen, zu verstehen und weiterzugeben. Die mitgeteilten Geheimnisse sind im Verständnis der apokalyptischen Tradition der verborgene jenseitige Hintergrund der Wirklichkeit. Das biblische Buch der Offenbarung des Johannes hat diesem Motivkreis den Namen gegeben. Apokalypsen kommen in den indogermanischen, griechisch-römischen, mesopotamischen, ägyptischen, jüdisch-christlichen und gnostischen sowie isländisch-germanischen Mythen vor. Es gibt eine Fülle von Offenbarungsweisen: Träume, Himmelsreisen und Ekstasen mit Visionen und Auditionen. Mittler des geheimen Wissens können Engel oder göttliche Wesen sein. Sie weihen den besonders ausgezeichneten menschlichen Empfänger in den Gang der Geschichte mit dem endzeitlichen Kampf zwischen Gut und Böse ein. Sie vertrauen ihm das geheime Wissen über den Weltuntergang und die Welterneuerung mit der Auferstehung der Toten und der Rettung der Gerechten an. Begleitet werden die apokalyptischen Wehen von 80

naturhaften Ereignissen wie Überflutungen, Seuchen, Erdbeben und Weltenbränden. Ziel der apokalyptischen Mitteilung ist die Einweihung in den als unabänderlich und als nicht korrigierbar verstandenen Weltenlauf, also die Aufdeckung der vorausbestimmten endzeitlichen Krise des Einzelnen und des Kosmos und die Ankündigung des Anbrechens der als radikal jenseitig erwarteten neuen Welt. Weil für die Apokalyptik der Untergang dieser Welt feststeht, ist buchstäblich »nichts mehr zu machen«. Jede Ermahnung, die auf einen Einstellungswandel zielt und damit rechnet, dass sich der drohende Untergang noch abwenden lässt, ist deshalb sinnlos. Es geht nicht (mehr) um den Versuch zu verbessern und zu retten, sondern (nur noch) um die Berechnung des unabwendbaren Weltvernichtungsprozesses. Erlösung geschieht durch den Zusammenbruch hindurch. Sie ist kein Resultat von Entwicklung und Reifung, sondern von Zusammenbruch und Neubeginn. Sie braucht geradezu die Katastrophe, um an ihr Ziel zu kommen. Angesichts des immer mehr anwachsenden Leids und der sich auftürmenden Masse an Schuld kann die Apokalyptik eine Rettung nur noch als einen Akt der Neuschöpfung nach dem Zugrundegehen der alten Welt denken. Darum ist die apokalyptische Weltsicht notwendig dualistisch. Nur so, in der Gegenüberstellung von Alt und Neu, Sterben und Neuwerden, kann sie überhaupt an Zukunft glauben. Nur so ist auch die Frage »Wie kann Gott das zulassen?« zu lösen. Sie ist der eigentliche Beweggrund der Apokalyptik. Ihre Literatur entstand in bedrängten Minderheitengemeinschaften, die Verfolgung und Vernichtung am eigenen Leib erfuhren und deren Existenz von überindividuellen und übermächtigen Großkollektiven bedroht wurde. Die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes angesichts einer dem Untergang in Anarchie und Gewalt entgegentaumelnden Welt ist der tiefere Grund für die radikale Hoffnung auf das Vergehen dieses Äons und das Anbrechen des zukünftigen. Gott ist nicht Teil des »Stirb und Werde«, jedenfalls nicht in der jüdisch-christlichen Tradition der Apokalyptik. Gott geht nicht im Chaos unter und wird nicht neu geboren. Dass diese Welt vergeht, Gott aber bleibt, ist 81

Bedingung für die Hoffnung. Denn das lässt darauf vertrauen, dass die dämonischen Herren dieses Äon doch noch ihr gerechtes Urteil und ihre verdiente Strafe bekommen. Diese Überzeugung gibt den Verfolgten die Kraft auszuhalten. Die Vorstellung, niemand entgehe seiner Strafe, das Jüngste Gericht stelle den Täter und konfrontiere ihn mit seiner Tat, ist unmittelbare Folge der Hoffnung, am Ende siege die Gerechtigkeit über die Willkür, das Gute über das Böse. Damit wird der klassische Tun-Ergehens-Zusammenhang über die Geschichte hinaus auf die Zeit nach dem Untergang ausgedehnt. Nur so ist dieses religiös-existentielle Modell unter völlig veränderten politisch-kulturellen Bedingungen zu retten. Es verdankt seine Evidenz ursprünglich dem Leben in überschaubaren Familien- und Stammesgemeinschaften. Der bösen Tat, der Verletzung und Schädigung eines anderen und der Gemeinschaft, folgte die Sanktion unmittelbar auf dem Fuß: Wer andere verletzt, der wird selbst verletzt, wer andere schädigt, hat am Ende selbst den Schaden: »Auge um Auge, Zahn um Zahn«. Strafe, die im äußersten Fall die Verstoßung aus der Gemeinschaft bedeuten konnte, war Fluch. Die Wiederaufnahme nach dem Verbüßen der Strafe war Segen. Die individuelle Biographie verifizierte den Tun-Ergehens-Zusammenhang als Ausdruck eines tiefen Lebenssinns: Gutes wird mit Gutem, Böses mit Bösen vergolten. Es waltet eine weise Gerechtigkeit in der Welt, die den potentiellen Straftäter warnt: Böses lohnt sich nicht. Ohne Besonderheiten einzuebnen beschreibt K. Koch den gemeinsamen Kern des Tun-Ergehen-Zusammenhangs: »Die Überzeugung, daß Guttat und Heil, Frevel und Unheil für den Täter identisch sind, scheint allen primitiven Völkern gemeinsam zu sein. Bekanntlich ist es die althellenische Anschauung, daß der sittlichen guten Tat notwendig die Glückseligkeit folgt, der Lohngedanke taucht wie im Alten Testament nur gelegentlich und ohne grundsätzliche Bedeutung auf. Dem alttestamentlichen Tatbestand noch näher kommt die babylonische religiöse Vorstellung, die sich u. a. darin äußert, daß manche Wörter für ›Sünde‹ auch in der Bedeutung ›Seuche‹, ›Siechtum‹ vorkommen« (Koch 1991, S. 101). 82

Vor allem in den Sprüchen der altisraelitischen Weisheit taucht diese gemeinorientalische Vorstellung einer schicksalswirkenden Beziehung von Tun und Ergehen auf. Sie ist vergleichbar mit der Notwendigkeit eines Naturgesetzes. In Sprüche 26, 27 heißt es: »Wer eine Grube (für andere) macht, der wird (selbst) hineinfallen; und wer einen Stein wälzt, auf den wird er zurückkommen.« Und ein Sprichwort aufgreifend beschreibt Hosea das Schicksal der Götzendiener: »Denn sie säen Wind und werden Sturm ernten« (Hos. 8, 7). Wenn aber die Sippengemeinschaften mit ihren unmittelbaren und überschaubaren Beziehungen zerbrechen und von Großverbänden, Vielvölkerstaaten und Imperien mit anonymen Machtinstanzen verdrängt werden, zerbricht auch der ursprüngliche Tun-Ergehens-Zusammenhang. Unvorstellbar Böses geschieht und der Fluch, die Strafe folgen nicht mehr auf dem Fuß und auch das Gute wird nicht unmittelbar belohnt und gesegnet. Im Gegenteil: Böses beansprucht für sich, Recht zu sein und scheint sich auszuzahlen, und Gutes wird einfach übersehen, kann verachtet und marginalisiert werden. Die individuelle Biographie wird zur Falsifizierung des Tun-ErgehenZusammenhangs. Ausweg ist die geradezu notwendige Vorstellung eines »Jüngsten Gerichts«: Niemand entgeht seiner Strafe, sagt diese Vorstellung. Wer meint, sich ihr in diesem Leben durch eigene Macht und Brutalität entziehen zu können, läuft dem ewigen Richter direkt in die Arme. »Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richtstuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, es sei gut oder böse« (2. Kor. 5, 10). Diese Ordnung ist Drohung und Trost zugleich. Es scheint als eine anthropologische Konstante das Bedürfnis nach Strafe und Sühne für begangenes und erlittenes Unrecht zu geben. »Vergeltung … postuliert einen Sinnzusammenhang«, schreibt W. Burkert und sagt weiter: »Ein System von Ursache und Folge wird so entworfen; es vollzieht sich ein grundlegender Akt von Sinn-Konstitution: Im Aspekt der ›Strafe‹ wird ein Zusammenhang hergestellt, der den Ablauf der Welt begreiflich macht.« (Burkert 1994, S. 42). Der Apokalyptiker tröstet die Verzweifelten mit einer positiven, angstbe83

ruhigenden Utopie: Es wird einen »neuen Himmel und eine neue Erde« (Apk. 21, 1) geben. Die Katastrophe wird für die Guten und Erwählten zum reinigenden Durchgang in eine bessere Welt. Die Vorstellung eines universalen, die Zeiten übergreifenden Ausgleichs unterstellt, es gäbe eine letzte Gerechtigkeit, wenn nicht auf Erden, so doch später. Trotzdem ist apokalyptische Weltdeutung in der Gefahr, die sinnhafte Beziehung von Kosmos und Gott unter dem Druck der Leidenserfahrung zu lokkern. Wer in den brutalen Verfolgungen nicht mehr an einen innerweltlich wirksamen und liebenden Gott glauben kann, dem wird der Kosmos zu einem Gefängnis, in dem ein höhnischer Dämon die zum jenseitigen Heil bestimmten Menschen quält. Dieser Schöpfergott kann nicht der Erlöser-Gott sein. Erlösung als Befreiung von körperlicher Tortur und leibhaftiger Qual ist darum nicht mehr im Kosmos denkbar, sondern nur als Ausstieg aus dieser Welt. Der Leib als stoffliches Gefängnis der göttlichen Seele wird in der Welt zurückgelassen und findet zurück in die Lichtfülle der transzendenten Wirklichkeit – das ist die Botschaft der vielfältigen gnostischen Strömungen, die von einem Leib-Seele-Dualismus her denken. »Der Mensch erfährt sich in der Spannung zwischen seinem Leben im irdischen, zeitlichen Sinn und der Fülle des zeitlosen, vollkommenen Seins, auf das sich sein suchendes Fragen begehrend richtet« (Voegelin 1997, S. 109f.). Wer nicht in dieser schmerzhaften Spannung bleiben kann, weil er an eine allmähliche, fortschreitende Wandlung glaubt, muss sie auflösen. Bleiben bedeutet zu leiden und zu warten, bis von Gott her die böse Welt gerichtet und die neue errichtet wird. Nicht bleiben und den Schmerz nicht aushalten zu können, drängt zu einer Auflösung der Spannung in Richtung einer Erlösung im Sinne eines Ausstiegs jetzt. Die Ent-Leibung wird zum Befreiungsakt. Anstatt ohnmächtig das Leiden hinzunehmen, verlässt der Glaubende den Ort der Qual und der Scham beziehungsweise der Beschämung und lässt nur den Körper, sein irdisches Kleid, zurück. Hier erscheint als eine religiöse Rettungsvorstellung die Dissoziation, die ich als Abwehrmechanismus beschrieben habe. 84

Im Kern ist es die bis in existentielle Panik gesteigerte Angst vor der absoluten Kontingenz des Daseins und vor der Auflösung jeder Vorstellung göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit, die sich in den Bildern der Apokalyptik ihren dramatischen Ausdruck schafft. Im mythischen Denken werden innere, seelische Vorgänge häufig verobjektiviert, und äußere, objektive Ereignisse werden als innerer Prozess ausgedrückt. Programmatisch hat Carl Gustav Jung diese Einsicht formuliert: »Neben den offensichtlichen persönlichen Quellen verfügt die schöpferische Phantasie auch über den vergessenen und längst überwucherten primitiven Geist mit seinen eigentümlichen Bildern, die sich in den Mythologien von allen Zeiten und Völkern offenbaren. Die Gesamtheit dieser Bilder formuliert das kollektive Unbewußte, welches in Potentia jedem Individuum durch Vererbung mitgegeben ist … In dieser Tatsache liegt der Grund, warum die mythologischen Bilder spontan und unter sich übereinstimmend nicht nur in allen Winkeln der weiten Erde, sondern auch zu allen Zeiten immer wieder auf ’s neue entstehen können. Sie sind eben immer und überall vorhanden« (Jung 1924, S. 18). Diese Angst bedroht das Ich in seiner Konsistenz. Das psychotische, mindestens psychosenahe Erleben vieler Suizidaler, die sich anzünden, hat eine auffallende Ähnlichkeit mit der Grundbefindlichkeit des Apokalyptikers. Beide kennen das Gefühl, nicht mehr zu wissen, wer sie sind und woher die Stimmen und Gestalten kommen, die so bedrängend sind. »Das Gefühl der Ohnmacht in allen eigenen Belangen sowie der prinzipiellen Einsamkeit in allen wichtigen Gefühlsbereichen kennzeichnen die Erfahrungswelt dieses Erlebens und wenn es unter solchen Umständen möglich sein soll, sich anderen mitzuteilen, dann allenfalls in einer verhüllten, geheimen, symbolischen Sprache, die, wenn überhaupt, nur wenigen Eingeweihten zugänglich sein wird« (Drewermann 1987, S. 480). Die Welt vieler Suizidaler geht unter, wenn ein Mensch geht, stirbt oder sich trennt, dessen Nähe und Verlässlichkeit, dessen kontinuierliche narzisstische Zufuhr notwendig für die Stabilität des angegriffenen Ich ist. Darum kann man die apokalypti85

schen Bilder von der Rettung durch den Untergang hindurch, von der Belohnung im Gericht und von der Bestrafung der Bösen als einen spontanen Versuch der Selbstheilung und der Restitution des Selbstwertgefühls verstehen. Beide, der Apokalyptiker wie der Suizidale, lösen den Konflikt der Angst, indem sie der äußeren bedrohlichen Welt die kommende (in diesem Sinn der Apokalyptiker) beziehungsweise die innerlich phantasierte (so der Suizidale) entgegensetzen und in ihr eigentlich zu Hause sind. Dort erfahren sie das Maß an Sicherheit, dass sie für ihr Leben brauchen. Der Gedanke, erwählt zu sein, kompensiert die narzisstischen Kränkungen. Die lustvolle Phantasie von der Zerstörung der Welt ist Ausdruck der aggressiven Vorstellung, sich mit einem Schlag aus einem unerträglichen Zustand befreien zu können und die kränkenden anderen zu bestrafen. Sowohl der Apokalyptiker als auch der Suizidale erlebt die Welt und sein eigenes Leben als so unerträglich und gleichzeitig als so unabänderlich, dass beide nicht mehr an ihre Entwicklungsfähigkeit glauben können. Auch der Suizident kompensiert die narzisstischen Kränkungen mit der Vorstellung, durch Feuer und Tod hindurch zu einem neuen Leben zu gelangen, in dem es keine Zurücksetzung und Entwertung mehr gibt. Neben den Aspekten der Selbstbestrafung als Buße und der Flucht als Weg woanders hin wird das Motiv der Bestrafung derer, die den Suizidenten tatsächlich oder vermeintlich gekränkt haben, deutlich: Seinen Flammentod werden sie niemals vergessen, er wird ihnen als Strafe buchstäblich immer vor Augen bleiben.

Feuer, Gericht und Weltende Das Feuer als Leben schaffendes und Leben tötendes Element Weltende, Gericht und Jenseits sind religions- und kulturgeschichtlich eng mit dem Feuer als zerstörender und Leben spendender Kraft verbunden. 86

»Das Feuer ist zutiefst innerlich, es ist universal. Es lebt in unseren Herzen. Es leuchtet am Himmel … Unter allen Phänomenen ist das Feuer wahrhaft das einzige, dem sich mit der gleichen Bestimmtheit die beiden entgegengesetzten Werte zusprechen lassen: das Gute und das Böse. Es erstrahlt im Paradies. Es brennt in der Hölle. Es ist Labsal und Qual. Es ist das Feuer des Herdes und der Apokalypse« (Bachelard 1990, S. 13). Etymologisch ist das Griechische Wort für Feuer pªr mit der indogermanischen Wurzel pen verwandt, die »reinigen«, »läutern«, aber auch »vernichten« meint. Das lateinische Wort purus, sauber, rein, gehört in dieses Begriffsfeld. In der Geschichte von der Zähmung und Kultivierung des Feuers spiegelt sich die menschliche Zivilisationsgeschichte von den Anfängen der Menschwerdung bis hin zum Atomzeitalter. Die Ursprünge der Feuerkultivierung und die Menschwerdung des Menschen sind eng miteinander verbunden. »Vor etwa 25 Millionen Jahren begann in Afrika die Entwicklung zu Hominidentypen mit kräftigerem und größerem Skelett und massiverem Knochenbau des Schädels, den typischen Merkmalen des Homo erectus. Diese Frühmenschen breiteten sich von Afrika bis nach Asien und Europa aus … Die frühesten Hinweise auf den kontrollierten Gebrauch von Feuer stammen aus Koobi Fora in Ost-Turkana vor etwa 1,5 Millionen Jahren. Direkte Nachweise gelangen in Swartkraus in Südafrika, wo rund 1 Million Jahre alte Verbrennungsspuren an Knochen gefunden wurden« (Schrenk 2001, S. 90f.). Die Kultivierung des Feuers war nicht nur ein technisches Problem, sondern auch eine Herausforderung für die menschliche Gemeinschaft. Das Wissen, wie ein Feuer entfacht und am »Leben« erhalten wird, wie man es transportiert und für die unterschiedlichen Aufgaben nutzt, setzt die Tradierung von Feuer-Erfahrungen in einer Gruppe voraus, die in ihrem Zusammenleben konstant und stabil genug ist, damit die Jungen von den Alten lernen können. Die Nutzung des Feuers veränderte zunehmend den Lebensrhythmus und die Lebensgewohnheiten des Homo erectus. Durch die Entdeckung, dass das Fleisch erlegter Tiere durch Braten und Kochen haltbar gemacht werden kann, entstand ei87

ne erste Form der Arbeitsteilung: Die Männer gingen zur Jagd, die Frauen zerlegten und konservierten das Fleisch. Eine Vorratshaltung wurde möglich. Das Leben »von der Hand in den Mund« mit der Notwendigkeit, dem flüchtigen Wild folgen zu müssen, machte einer halbnomadischen Existenz mit zeitweiligen Heimatorten und vorübergehender Sesshaftigkeit Platz. Aus der Handhabung des Feuers entwickelten sich die Handwerke des Feuers, das Brennen von Ton zur Herstellung von Gefäßen und Baustoffen, das Schmelzen von Metallen und die Rodung von Wald zur Gewinnung neuen Kulturlandes. Damit begann der technische Fortschritt. Immer entschiedener emanzipierte sich der Frühmensch von der ihn umgebenden Natur und schuf seine eigene Kultur. »Nachdem die Primatenforschung uns mit immer neuen Einsichten in die Komplexität des Sozialverhaltens von ›Menschaffen‹, in ihren teilweise entwickelten Gebrauch von Werkzeugen oder ihre kommunikative Kompetenz versorgt hat, scheint sich das Verhältnis zum Feuer immer deutlicher als ein wichtiges Unterscheidungskriterium aufzudrängen. Affen reagieren, wie fast alle Tiere, zunächst mit Fluchtverhalten auf Feuer – und sie sind, ebenso wie auch die frühen Entwicklungsstufen des Menschen, nicht dazu in der Lage, das Feuer zu beherrschen … Feuer wird gerade im Übergang von seiner ›opportunistischen‹ zur aktiven Nutzung als eine primäre Kulturtechnik erkennbar, die in der Entwicklung der Hominiden in Afrika aufgetaucht ist und zu der dann andere Formen des Handwerkszeugs und auch der Waffen hinzugetreten sind« (Busch 2001, S. 68). Noch vor der Sprachentwicklung war die Fähigkeit, Feuer zu gebrauchen und Feuer zu machen, Ausdruck des eigentlich Menschlichen. Das Feuer wird einerseits als eine von außen, im Blitzstrahl von Himmel kommende, dämonisch-göttliche und zerstörerische Macht, andererseits als menschliche Kulturleistung verstanden und erfahren. Die Mythen vieler Völker erzählen von diesem zweifachen Ursprung. Claude Lévi-Strauss entdeckte darin ein gemeinsames Schema, das die sonst sehr verschiedenen Traditionen des alten Chi88

na, der indianischen Völker Amerikas und der europäischen Kulturen verbindet. Es besteht ein verbundener Gegensatz »zwischen dem himmlischen, heiligen und destruktiven Feuer und dem irdischen, profanen und konstruktiven Feuer, denn es ist das des häuslichen Herds« (Lévi-Strauss 1976, S. 448). Unser Denken, Fühlen und Handeln drücken sich umgangssprachlich auch heute noch auf vielfältige Weise in der Feuersymbolik aus: Wenn wir uns verlieben, haben wir »Feuer gefangen« und sind »Feuer und Flamme«. Manchmal gehen wir mit »Feuereifer« an eine Aufgabe heran oder sind »ausgebrannt« (Burn-out-Syndrom). Jedenfalls können wir uns für etwas »erwärmen«, vielleicht »entbrennen« wir sogar für ein Projekt. Andere können wir »anfeuern« und manchmal müssen wir für sie die »Kastanien aus dem Feuer holen«. Sind sie vertrauenswürdig, »legen wir die Hand für sie ins Feuer«, wenn nicht, möchten wir sie »feuern«. Probleme »brennen uns unter den Nägeln« und »voll glühender Erwartung« sitzen wir auf »glühenden Kohlen«. Vor Scham kann uns »siedend heiß« werden und es ist uns, als ob man »glühende Kohlen auf unser Haupt lädt«. In Konflikten geraten wir »zwischen zwei Feuer« und »verbrennen uns dabei die Finger oder die Zunge«. Im griechischen Mythos raubt der Titanen-Sohn Prometheus, Fürsprecher der Menschen, das himmlische Feuer und bringt es auf die Erde. Ursprünglich gehört es allein den Göttern. Phaeton führt es in seinem Wagen als Sonnenscheibe über den Horizont. Der Gott des handwerklichen Feuers und der Schmiedekunst, Hephaistos (römisch: Vulcanus), nutzt und verwaltet es. Zeus verweigert den Menschen das Feuer, um sich an ihnen für den Betrug des Prometheus zu rächen und um sie nicht zu mächtig werden zu lassen. Er »versagte seinen Lieblingen, den sterblichen Menschen, die letzte Gabe, deren sie zur Gesittung bedurften, das Feuer. Doch auch dafür wußte der schlaue Sohn des Japetos Rat: Er nahm den langen Stengel des Riesenfenchels, näherte sich mit ihm dem vorüberfahrenden Sonnenwagen und setzte den Schaft in glosenden Brand. Mit seinem Zunder kam er zur Erde, und bald loderte der erste Holzstoß gen Himmel« (Schwab o. J., S. 23). 89

Die Inbesitznahme des himmlischen Feuers bringt die Kultur- und Kultgeschichte der Menschen in Gang. Als göttlich-irdisches, Leben spendendes, Leben bedrohendes Element wird es vom Menschen seitdem benutzt. Es wärmt und schützt ihn vor wilden Tieren, es härtet den Töpferton und konserviert Nahrungsmittel, es läutert und reinigt Metall und macht es zum Schmelzen geschmeidig. Das Feuer dient als Signal und als Waffe. Es ist umfassendes »Lebensmittel«. Das Herdfeuer wird zum Mittelpunkt des häuslichen Lebens, zum Focus, um den sich die Sippe versammelt. Sein Entfachen wird als Geburt empfunden, die Werkzeuge, mit denen die nötige Hitze erzeugt wird, ähneln oft menschlichen Geschlechtsorganen. Seine Unterhaltung ist eine verantwortungsvolle Aufgabe, ein Dienst an der ganzen Gemeinschaft und wird oft von eigens dafür geweihten Mitgliedern versehen. In deutlichem Gegensatz zum Leben spendenden und Leben erhaltenden Charakter des Feuers steht seine vernichtende Macht. Es »frisst« wie ein wildes Tier alles, was sich ihm in den Weg stellt. Mit seinen »Zungen« »leckt« es an den menschlichen Behausungen. Als Feuersturm und Feuerwalze bringt es Tod und Verderben. Tiere und Menschen fliehen darum in wilder Panik, wenn dieses Urelement, etwa bei einem Vulkanausbruch, einem Steppen- oder Waldbrand oder bei Blitzeinschlag entfesselt wird. Es wird darum immer ambivalent erlebt und bleibt faszinosum und tremendum zugleich. Seit wann es eine religiöse Funktion und Bedeutung hat, ist unklar. Anzunehmen ist aber, dass das Herdfeuer der Ursprung des Opferfeuers (vgl. Hestia-Vesta und ihre Bedeutung im öffentlichen Kult des antiken Rom) und damit des religiösen Kultus überhaupt ist. Darum ist es selbst heilig. Priester hüten, unterhalten und pflegen es auf Altären und in Tempeln. Dabei ist es nicht selbst Objekt von Anbetung und Verehrung, sondern immer Repräsentanz und Medium des Göttlichen. Was Mircea Eliade über die Schmiede und Alchemisten schreibt, gilt für den religiösen Umgang und die mythische Bedeutung des Feuers überhaupt. Das Feuer ist »die Manifestation einer magisch-religiösen Kraft, welche die Welt verwandeln 90

konnte und infolgedessen nicht dieser Welt angehörte. Das ist der Grund, weshalb schon die archaischen Kulturen den Repräsentanten des Sakralen … für einen ›Meister des Feuers‹ halten« (Eliade 1980, S. 83). Wenn die Sonne oder das Feuer angebetet werden, verehrt man ganz unmittelbar die universale göttliche Kraft, die Urenergie des Kosmos. Der antike vorderasiatische Kulturraum kannte eine Sonnenverehrung im Bild des (im Winter) untergehenden und (im Frühjahr) wieder auferstehenden Gottes Osiris, Atis-Adonis, Mithras, Tammuz und Re. Die reinste Verehrung der Sonne als göttlichem Wesen findet sich im Ägypten der 18. Dynastie. Amenophis (Amenhotep) IV., genannt Echnaton, zentrierte die vielfältigen Gottesvorstellungen auf die große Sonnenscheibe als der einen zentralen Gottheit. Sie birgt und garantiert allen Lebewesen das Leben. Diese neue monotheistische Sonnentheologie zeichnet sich vor allem durch einen strikten »Heliomorphismus« des Gottesbegriffs aus. »Alle Aussagen über den Gott dieser Theologie sind von der Sonnengestalt abgeleitet. Der Gott ist nichts als die Sonne, und sein Wirken besteht in Licht und Bewegung … Die Entmythisierung des Sonnenlaufs führt zu der Vorstellung eines einsamen einzigen Gottes« (Assmann 1984, S. 242). Nicht zuletzt wird Christus als die sol invictus von der jungen Kirche verehrt und trägt, ähnlich wie die Heiligen und Märtyrer, einen Licht- beziehungsweise Strahlenkranz um sein Haupt. Sich mit der Sonne und dem Feuer zu identifizieren, bedeutet also, sich mit dem Göttlichen, seiner Größe, seiner Energie und Zeugungskraft zu verbinden. In der mystischen Erfahrung ist darum das innerlich geschaute Göttliche häufig reines Licht, große Helligkeit und fließende Energie. Hildegard von Bingen (1100–1178) erzählt: »Das Licht aber, das ich schaue, ist nicht örtlich, sondern weit und weit heller als die Wolke, die die Sonne trägt … Dieses Lichtes Gestalt vermag ich in keiner Weise zu erkennen, wie ich das Kreisrund der Sonne nicht vollkommen anblicken kann. In diesem Lichte aber sehe ich zuweilen und nicht häufig 91

ein anderes Licht, das mir das lebendige Licht genannt wird … Und da ich es schaue, wird mir alle Traurigkeit und alle Not entrafft, also, daß ich alsdann die Sitten eines einfältigen Mägdleins, und nicht einer alten Frau habe« (Buber 1909, S. 51). Die Identifikation des Einzelnen mit dem Feuer hat eine enorme Aufwertung seiner individuellen Bedeutung zur Folge. Sie kann als Kompensation eines bedrohlichen, immer und überall lauernden Gefühls der Nichtigkeit verstanden werden. Der Ekstatiker setzt sich in seiner mystischen Erfahrung den Gestirnen gleich und nennt, wie Franz von Assisi es ausdrückt, die Sonne Bruder und den Mond Schwester. Das kleine, schmächtige, von Zerfall bedrohte Leben weitet sich, nimmt kosmische Größe an, erhält überirdischen Glanz und erfährt göttliche Kraft. Aber nicht nur der Gottheit, sondern auch der menschlichen Seele wurden Feuerenergie und Feuersubstanz zugeschrieben. Das Pneuma, göttlicher Geist und Lebensatem, konnte feurig gedacht werden. Mikro- und Makrokosmos entsprechen einander. Die Seele begegnet im göttlichen Feuer darum etwas ihr wesenhaft Verwandtem. Das Feuer zu meistern, über brennende Kohlen zu gehen und glühendes Eisen zu berühren, weist den Priester, Schamanen und Medizinmann als Medium des Überirdisch-Göttlichen aus. Wer mit dieser Macht in Kontakt kommt, wird innerlich erhitzt und entflammt. Häufig gehört der Genuss von alkoholischen, berauschenden Getränken zur Vorbereitung und Durchführung der Riten. »Feuerwasser« zu trinken verändert das Bewusstsein und senkt die Angst- und Hemmschwelle. So facht es die innere Hitze noch weiter an und treibt das »innere Feuer« auf den Höhepunkt – ein Aspekt des häufig im Zusammenhang mit der Selbstverbrennung vorkommender Alkoholabusus, der oft nicht beachtet wird. So wie das Feuer des Töpfers auf wundersame Weise die brüchige Tonerde in ein haltbares Gefäß wandelt, so versetzt das innere göttliche Feuer den Menschen in eine höhere Seinsform und schafft sein wahres Wesen. Darum gehören Feuer92

proben und die Entwicklung ekstatischer glühender Zustände als Ausdruck der »inneren Hitze« häufig zur Initiation und zu Wandlungsfeiern. Die Einweihungsriten »verfolgen, obwohl auf grundverschiedenen Wegen, dasselbe Ziel: den Neophyten der menschlichen Verfassung absterben zu lassen und ihn zu einer neuen, übermenschlichen Existenz wieder zu erwecken … Die Erlangung der ›magischen Hitze‹ beweist deutlich, daß man nunmehr einer nicht menschlichen Welt angehört« (Eliade 1988, S. 165). Im Feuer stirbt die alte Existenz und aus der Vermählung mit der flammenden Energie entsteht die neue. »Schmelzen« meint darum in den archaischen Riten »sich vereinigen«, »verschmelzen« und »Neues schaffen.« Nicht zufällig beschreiben die traditionellen Schmiede Afrikas das Schmelzen des Metalls als »Heilige Hochzeit«. Vereinigung, Wandlung und Neuschöpfung bedürfen aber des Opfers. »Das Motiv eines Opfers oder eines Selbstopfers anlässlich des Schmelzens, ein mythisch-rituelles Motiv, das mehr oder weniger in Beziehung zur Vorstellung von der mystischen Hochzeit eines menschlichen Wesens (oder eines Paares) mit den Metallen steht, ist von besonderer Bedeutung … Um das Schmelzen, die ›Hochzeit der Metalle‹, zu gewährleisten, muß ein lebendes Wesen die Prozedur ›beleben‹, und der beste Weg bleibt das Opfer, die Übertragung eines Lebens« (Eliade 1980, S. 68). Oft geschieht dies als symbolisches Selbst-Opfer, indem die Geräte, die zum Feuer machen und zum Metallgießen gebraucht werden, vom Schmied mit seinem eigenen Blut benetzt werden. Der Mensch muss – symbolisch pars pro toto – sein altes Leben opfern, um den Wandlungsprozess zu initiieren. Durch den symbolischen Opfertod hindurch entsteht das neue Leben. Das Feuer ist das Wandlungsmedium in der Heiligen Hochzeit. »Die Seele des Opfers wechselt ihre fleischliche Hülle, sie tauscht ihren irdischen Leib gegen einen neuen ›Leib‹ ein« (Eliade 1980, S. 68). Die Feuer- und Höllenfahrt, die Zerstückelung des Körpers und seine Wiederzusammenfügung sind seelische Bilder für 93

das Mysterium des Sterbens des alten, in den Initiationsmythen als kindlich vorgestellten Menschen, und der Auferstehung einer neuen, gereinigten und erwachsenen Persönlichkeit. Der Weg zum Selbst führt in den archaischen Riten und Mythen häufig über den Akt der Selbstauflösung und der Selbstverstümmelung. In der Sage vom Vogel Phoenix wird dies beschrieben: Der im alten Assur und Ägypten heilige Vogel fliegt alle 500 Jahre in die heilige Stadt Heliopolis, baut dort ein Nest und entzündet sich selbst. Aus seiner Asche erhebt sich, verjüngt, ein neuer Vogel, der wieder 500 Jahre lang lebt, bis er nach Heliopolis zurückkehrt – per ignem ad vitam. Das Feuer ist aber nicht nur das Element der Wandlung, symbolisch: der Erreichung einer höheren Stufe des Seins, sondern auch Beschleuniger der Transformation. Was die natürliche Wärme, etwa die der Sonne beim Trocknen der Töpferware unter freiem Himmel, nur in einem langen Prozess schafft, vollbringt das Feuer in kürzester Zeit: Wandlung sofort. Feuer ist ein Prozessbeschleuniger in der Hand des eingeweihten Menschen. Wegen dieser umfassenden religiös-kulturellen Bedeutung ist das Feuer in vielen Kulturen mit Weltschöpfung und Weltuntergang verbunden. Aus dem Feuer kommt die Welt und im Weltenbrand kehrt sie zum Urzustand zurück. Die kosmologische Dimension wird deutlich, wenn die Mythologie der Azteken das Verlöschen des Feuers als Tod und Weltuntergang versteht. Am Ende eines 52-Jahr-Zyklus wird das kultische Feuer gelöscht und man feiert das Entzünden des neuen Feuers als Neuschöpfung. Ähnliches erzählt Walter Burkert (Burkert 1990, S. 60) in der eindrücklichen Schilderung eines antiken griechischen Feuerrituals auf der Insel Lemnos, der Insel des Schmiede-Gottes Hepheistos. Das Feuer, das für die täglichen Verrichtungen in den Haushalten und in den Werkstätten benutzt und damit auch beschmutzt wird, muss wie die Gemeinschaft der Inselbewohner, die vom Feuer elementar abhängt, von Zeit zu Zeit gereinigt werden. Neun Tage lang brennt nirgendwo auf der Insel ein Feuer, 94

keine Lampe wird angezündet. Das Leben steht still. Es gibt keine warme Mahlzeit, Kultus und Arbeit ruhen. Die Frauen ziehen sich von den Männern zurück. Die Götter werden angerufen. Schließlich bringt ein Schiff von der Nachbarinsel Delos »neues Feuer«, nachdem die Sühne- und Reinigungsriten auf Lemnos abgeschlossen sind. Mit diesem Augenblick beginnt ein neues Leben. Der Kosmos und die menschliche Gemeinschaft erstehen neu. W. Burkert hält es bei kritischer Sichtung des Mythos für wahrscheinlich, dass die Bewohner von Lemnos in früherer Zeit ihr »neues Feuer« nicht von Delos holten, sondern rituell mit Hilfe eines Bronzespiegels aus der Sonne gewannen, also vom Himmel holten. Zu denken ist auch an die Sage von Phaeton, eines Sohnes des Sonnengottes Helios, der in schrecklicher Hybris seinen Vater bittet, einmal einen Tag lang den geflügelten Sonnenwagen über das Firmament lenken zu dürfen. Die Pferde gehen dem Ungeübten durch und er stürzt mit dem feurigen Wagen auf die Erde. »Der Boden glomm vor Hitze und spaltete auf. Und weil plötzlich alle Säfte austrockneten, fing er zu brennen an; das Heidegras wurde weißgelb und welkte hinweg, das Laub der Waldbäume flog lohend auf. Bald war die Glut der Ebene so nahe, ganze Städte loderten in Flammen auf. Länder mit all ihrem Volk wurden versengt, rings schwelten die Hügel, Wälder und Berge« (Schwab o. J., S. 31). Die Vorstellung von der reinigenden und wandelnden Kraft des Feuers erhält im antiken Griechenland im Zusammenhang mit der Brandbestattung eine eschatologische Dimension: Das Feuer wird zum Tor in die Unterwelt. Der Fluss Pyriphlegethon umgibt in den homerischen Epen das Jenseits und muss durchschritten werden, um Unsterblichkeit zu erlangen. »Feuer in Form einer ›Feuertaufe‹ bot die Möglichkeit, schon zu Lebzeiten in höhere Sphären zu gelangen … Die Vorstellung, irdisches Dasein könne durch Feuer überwunden werden, geht auf dessen reinigende Kraft zurück …, denn die Beseitigung bzw. Überwindung des Körpers ließ Hoffnung auf ein unkörperliches Dasein aufkommen« (Furley 1998, S. 499f.). 95

Auch in weniger dramatischen Zusammenhängen findet sich das Feuer als Leben schaffendes und Leben vernichtendes Element. Im ganzen europäischen Kulturraum zündete die ländliche Bevölkerung schon in vorchristlicher Zeit kultische Feuer an. Viele dieser Brände mit ihren Bräuchen sind von der kirchlichen Tradition aufgenommen worden und haben sich bis heute erhalten. Sie verteilen sich über das ganze Jahr und haben bei aller Variation zwei Grundbedeutungen: Sie sind einerseits Teil von Fruchtbarkeitsriten und dienen andererseits der Abwehr von Schäden, insbesondere von Krankheiten und Seuchen durch die symbolische Vernichtung bedrohlicher Mächte in einem umfassenden Reinigungs- und Läuterungsprozess. Auch hier ist das Feuer Leben schaffendes und vernichtendes Element. Die Feuer in der Fastenzeit, die gewöhnlich am Sonntag Invocavit angezündet wurden, sicherten die Fruchtbarkeit der Felder und der Obstgärten und garantierten eine gute Ernte. Die Quelle allen Wachstums und aller Fruchtbarkeit, die Sonne, wird im Feuer symbolisch auf die Erde geholt. In manchen Gegenden ließ man brennende Räder die Berghänge herunterlaufen. Je mehr Sonnenräder die Dunkelheit erhellten – so der Glaube –, desto reicher würde die Ernte im kommenden Jahr sein. Gleichzeitig wird das Böse, der Fluch der Geister, die Krankheit und Seuchen über Mensch und Tier bringen, abgehalten und gebannt. Vieh wird darum durch glühende Asche getrieben, Strohpuppen als Verkörperung von Hexen werden im Feuer verbrannt. Das Feuer in der Fastenzeit ist das Element eines Großreinemachens, einer Säuberung im äußerlichen und inneren Sinn zu Beginn der Vegetationsperiode. Die Osterfeuer werden zu Beginn der Osternacht, also am Sonnabend vor Ostern, angezündet. An diesem Tag, liturgisch der Erinnerung der Höllenfahrt Christi gewidmet, werden alle Kerzen in den Kirchen, auch das ewige Licht, gelöscht. In der Osternacht wird ein »neues Feuer«, das Feuer der neuen Schöpfung entzündet. Sein Licht wird in die dunkle Kirche getragen unter dem dreimaligen Ruf: »Christus, Licht der Welt!« Mit ihm wird der Sieg der »unbesiegbaren Sonne«, Christus, 96

über die Mächte des Todes gefeiert. Die Asche des Osterfeuers wird mit der Asche der geweihten Palmenzweige und dem Samen der Frühjahrssaat in der Überzeugung gemischt, dass das Korn auf diese Weise kräftiger wachsen werde und es vor Schädlingen geschützt sei. Etwas von dem geweihten Osterfeuer mit nach Hause zu nehmen, schützt vor Feuersbrünsten und Blitzschlag. Asche im Trinkwasser hilft, Menschen und Tiere gesund zu erhalten. Die meisten Feuer werden in Europa zur Johannisnacht am 23. Juni und zum Mittsommertag am 24. Juni angezündet. »Die Sommersonnenwende … ist der große Wendepunkt in dem Lauf der Sonne, da sie ihre Schritte am Himmelswege abwärts zu lenken beginnt, nachdem sie vorher Tag für Tag immer höher hinaufgestiegen war. Ein solcher Augenblick konnte von dem Primitiven nur mit Besorgnis betrachtet werden … Da er nun aber seine eigene Machtlosigkeit angesichts der weiten, zyklischen Veränderungen der Natur noch nicht erkennen gelernt hatte, mochte er sich eingebildet haben, er könne der Sonne in ihrem scheinbaren Dahinschwinden helfen – vermöchte ihre schwankenden Schritte zu stützen und die sinkende Flamme des roten Lichts mit seiner schwachen Hand neu zu entzünden« (Frazer 1994, S. 903). Die Bedeutung, die die Menschen dem Zentralgestirn unseres Sonnensystems gegeben haben, wird aus den unzähligen Fruchtbarkeits- und Schutzbräuchen rund um den Johannistag und die Mittsommernacht deutlich. In Griechenland ist es bis heute üblich, dass Feuer angezündet werden und Frauen mit den Worten: »Ich lasse meine Sünden hinter mir« um das Feuer herum tanzen und darüber springen. Die reinigende und erneuernde Kraft der Sonne, des großen Himmelsfeuers, wird für den eigenen Lebensvollzug in Anspruch genommen – Purgatorium im Tanz. Der andere dramatische Wendepunkt der Sonne im Jahreslauf ist die Wintersonnenwende. Auch sie wird mit Feuerfesten begangen. Der Brauch, an den Adventssonntagen jeweils eine Kerze mehr anzuzünden, bis am Heiligen Abend ein Lichterbaum in den Häusern brennt, ist ein Hinweis auf die sicher ältere Überzeugung, gerade in der dunkelsten Jahreszeit im Sinn 97

einer imitativen Magie ein Feuer anzünden zu sollen, um nicht ohne das lebenswichtige Element zu bleiben. So holen sich Menschen im kleinen Feuer die große Sonne ins Haus. Das sogenannte Julholz ist dabei möglicherweise die Entsprechung zum Johannisfeuer. Ihm werden ähnlich segensreiche, Wunder wirkende Eigenschaften zugeschrieben wie der Asche der Sonnenwendfeuer. Neben diesen im Jahreslauf wiederkehrenden Feuerfesten haben Menschen seit Urzeiten spontan in Feuerritualen Hilfe und Unterstützung gesucht, wenn sie in Not waren. Dass es in schwierigen, bedrohlichen, vielleicht sogar ausweglosen Situationen hilft, ein Feuer anzuzünden, ist möglicherweise der Nachhall der archaischen Bedrohung durch Dunkelheit, Kälte, Hunger und wilde Tiere. Das Entzünden des Notfeuers ist ein aufwendiges Ritual. Meistens geschieht es durch das Aneinanderreiben zweier Holzstücke, also ohne Zuhilfenahme eines fremden und technischen Mittels, wie im Akt einer Zeugung. Das Notfeuer wird darum oft »neues Feuer« oder »wildes Feuer« genannt und wird als besonders rein empfunden. Es ist häufig zur Abwehr von Viehseuchen eingesetzt worden, also im Kampf um die Lebensgrundlage einer agrarischen Gesellschaft. Anders als bei den von einer Gemeinschaft getragenen und gestalteten zyklischen Feuerfesten kann auch ein Einzelner ein Notfeuer anzünden und sich seiner Wirkung anvertrauen.

Weltbrandvorstellungen Es ist erstaunlich, wie weit verbreitet die Vorstellung eines Weltenendes mit Feuer in den verschiedenen Kulturen ist und welche unterschiedlichen Motive sich mit ihr verbinden. Die Weltbrandlehre gehört in den Zusammenhang der Vorstellung von den verschiedenen Weltzeiten, die im Vorderen Orient seit frühester Zeit in unterschiedlicher Ausprägung anzutreffen ist: »Diese Aeonen-Lehre, wie sie zuerst von den Sumerern ausgebildet wurde, betrachtet das Weltjahr als die kosmische Entsprechung des kalendarischen Jahres mit seinen zwei Sonnen98

wendepunkten und seinem ewigen Wechsel von Werden und Vergehen in der Natur. Die ursprüngliche Zweiteilung des kosmischen Jahres ist dann später durch die Einbeziehung der Äquinoktialpunkte zu einer Vierteilung erweitert worden. Diese Lehre von den vier Weltzeitaltern hat vom Raum des Vorderen Orients aus weit nach Westen wie auch nach Osten ausgestrahlt. In Griechenland steht im Zusammenhang mit ihr die von Hesiod vorgetragene nach vier Metallen charakterisierte Weltzeitalterlehre, die mit einer fortschreitenden Verschlechterung des Weltzustands rechnet, bis nach einer hier allerdings nicht mehr deutlich geschilderten Katastrophe ein neuer Aeon beginnt. In Indien finden wir ebenfalls eine Lehre von vier Weltzeitaltern … Auch hier steht am Beginn ein goldenes Zeitalter …, das aber über zwei durch eine fortlaufende Abnahme des Rechts charakterisierte Zeitalter zum vierten … mit völliger Entartung der Menschheit und Hereinbrechen schrecklicher Plagen führt, bis schließlich nach dem Eintritt der Katastrophe durch Wiederkehr des goldenen Zeitalters der Kreislauf der Aeonen auf ’s neue beginnt« (Mayer 1956, S. 67). Das Feuer ist Mittel der Prüfung und Reinigung und zugleich Strafmittel. Am Ende besiegt das Gute im endzeitlichen Kampf seine Feinde, säubert den Strafort mit seinem Feuer und erneuert die Erde, die rein und ohne Unebenheiten sein wird. Das Feuer ist darum auch die Quelle der guten, göttlichen Lebensordnung und das Mittel, zu ihr zu gelangen.

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6. Himmel und Hölle – Zwischenzustand und Feuerjenseits in der christlichen Tradition

Vor diesem vielfältigen religiösen Hintergrund entwickelte sich im Christentum zwischen dem 3. und dem 12. Jahrhundert eine plastische Lehre vom Purgatorium (Fegefeuer), einem Strafund Reinigungsort. Tertullian (ca. 150 – ca. 225) erinnert in seiner Verteidigungsschrift des Christentums (Apologeticum) daran, dass es sowohl nach christlicher wie auch nach nichtchristlicher Vorstellung ein Feuergericht gibt. Er bezieht sich auf eine gemeinantike religiöse Vorstellung, wenn er an eine Vergeltung im Jenseits für Verfehlungen im Diesseits denkt. Nach Hippolyt von Rom (160/170–235) werden die Seelen der Verdammten in der Nähe des unterirdischen Feuersees, der Gehenna, festgehalten. Am Tag des Jüngsten Gerichts werden sie dort hineingestoßen. Hippolyt unterscheidet, anders als Tertullian, zwischen zeitlichen Strafen für geringere Verfehlungen und ewigen Strafen für unentschuldbare Sünde. Es taucht hier zum ersten Mal die für die weitere Entwicklung der kirchlichen Purgatoriums-Lehre so wichtige Vorstellung von der Möglichkeit der »Nachbesserung« eines nicht wirklich christlichen Lebens auf. Auch Cyprian von Kathargo (ca. 200–258) kennt den Leidens- und Reinigungsaspekt des Feuerjenseits. Er schreibt: »Durch lange Qualen im Feuer von seinen Sünden frei und geläutert zu sein, ist eine Sache, all seine Fehler durch den Märtyrertod auszulöschen, eine andere« (Koetzsche 1986, S. 69). Als erster christlicher Theologe entwirft Thomas von Aquin (1225/26–1274) ein systematisches Szenarium von Himmel und Hölle. Er unterscheidet das persönlich-individuelle Gericht, in das jeder Mensch gleich nach seinem Tod kommt, vom universalen Jüngsten Gericht am Ende der Zeiten. Die Differenzierung öffnet den Raum für die Vorstellung eines Purgatoriums als Ort der Nachbesserung. Die Annahme eines 100

doppelten Gerichts ist, folgt man Thomas von Aquin, angemessen, »da der Mensch sowohl ein Individuum als auch ein Teil des ganzen Menschengeschlechtes ist … Die Seelen sind sofort nach ihrer Trennung vom Körper fähig, die Glorie und die Strafe zu fassen; sofern die Seelen der Guten noch nicht gänzlich durch Buße und andere Sakramente gereinigt sind, geschieht das im Purgatorium …« (Merkel 1984, S. 488f). Der Druck auf den Einzelnen wächst durch die Überzeugung, dass die Bestrafung nicht erst im Endgericht, sondern sofort nach dem individuellen Tod beginnt. Weil sich die Lehre vom doppelten Gericht im 12. Jahrhundert nicht nur als theologisch-dogmatischer Topos, sondern auch als Bestandteil der Volksfrömmigkeit etabliert, bekommt die Vorstellung eines Fegefeuers als drittem Ort zwischen Himmel und Hölle ihre besondere Bedeutung und Dringlichkeit. Herausragendes Beispiel ist die Visio Tnugdali. Sie wurde in viele Sprachen übersetzt und fand eine weite Verbreitung. Für Jahrhunderte prägte sie die volkstümlichen Vorstellungen von der Hölle und dem Fegefeuer. Verfasst im Jahr 1148 von dem irischen Mönch Markus in Regensburg, beschreibt die Legende die Jenseitsfahrt des Ritters Tundalus beziehungsweise Tondalus (Palmer 1980, S. 47–52). Der Edelmann wird von seinem Schutzengel durch die Hölle geführt. Dis buchlin saget von einer verzuckten selen eins ritters genant Tundalus von denen dingen so sie gesehen hat. als von pin der hellen vnd des fegfures. von freude ewiger selikeit/ vnd vil anderer hubscher ding die vast nutz vnd seltzam sind zu wissen. Weil er selbst kein moralisch einwandfreies Leben geführt hat, macht er mit einigen Strafen selbst Bekanntschaft. Durch die Barmherzigkeit Gottes wird er aber immer wieder von seinem Schutzengel gerettet. In unüberbietbarer Drastik schildert die Visio alle erdenklichen Einzelheiten der verschiedenen Höllenstrafen. In unserem Zusammenhang ist bedeutsam, dass der Feuerofen in der Apokalypse (Apk. 9, 2) zu einem Talkessel wird, der mit glühenden Kohlen bis zum Rand gefüllt ist und 101

auf dessen Mündung ein eisernes Rost liegt, auf dem die Seelen der Verdammten geröstet werden, bis sie schmelzen und auf die brennenden Kohlen herunterfallen. Do kamend wir in einen iemerlichen tal/ Der tal was vol brinendes fures/ der tal het ein yserin gedeck Das gedeck-glam von hitzen vnd die lütz des deckeis was vil heisser dan vnser fuer/ Dor vff wurdent ge-worffen gar vil seien die brantent do vnd wurdent geschmeltzet als grieben in einer pfannen. Do die selen zerrunnen vnd zerschmoltzen/ wurdent sy gesigen durch den ysen deckel/ der was siben eln dick/ als wachs getruckt wurt durch einen weschbutel wan dan die selen koment durch den deckel in das füre/ so koment sie alle zu vnusprelicher nuwer pin/, do ich disen grosen iamer gesach do erstarb min arm sel/ vnd sprach zu dem engel/ Eya lieber her/ wir es din wil so sage mir/ was hant die selen gethon die [avir] dise grosse pin lident/ Do sprach der engel zu mir In di sen pinen kommend zu dem ersten todschleger Die vater vnd muter tod geschlagen hant/ vnd alle die rar oder tat dar zu gebent/ das die lut erschlagen werdent Darnach kommend sie noch in ein vil grosser pin die du noch sehen solt/ Do sprach ich lieber engel muß ich auch in diese grosse pin kommen Antwurt der engel vnd sprach Dise pin soltu nit liden/ wie wol du ist/sie verdinet hast vnd ein todschleger gewesen bist/darumb das du (wan du dinem corpel kommest) ruen vnd buß entpfahest vnd soliche grosse pin vermidest. Schließlich lodert im letzten Abgrund der Hölle eine Flammen- und Rauchsäule, in der Teufel und Sünder wie glühende Funken aufleuchten. Diese Feuersäule ist der Atem des Fürsten der Dunkelheit, der im Abgrund auf glühenden Kohlen liegt und die Seelen der Verlorenen mit tausend Händen zerreißt, bevor er sie in das Höllenfeuer bläst. Auch wenn ein gewisser gesellschafts- und kirchenkritischer Zug bemerkbar ist – vor allem reiche und ungläubige Priester werden besonders hart bestraft –, muss man doch sagen, dass die Feuerbilder der Visio 102

vor allem den Sinn haben, auf eindringliche Weise zur Buße zu führen. Die Feuerhölle ist hier ausschließlich Ort der Qual und der Folter. Gedanken an Reinigung und Läuterung finden sich nicht. Im 12. und 13. Jahrhundert werden sie wieder aufgenommen. Sie führen endgültig zur Aufsprengung des eschatologischen Dualismus und zu einer Dreiteilung des Jenseits in Himmel, Hölle und Fegefeuer. Der Mystiker Heinrich Seuse beschreibt auf eindrückliche Weise die Qualen der Seele im Fegefeuer als dem dritten Ort: »Und da erblickte ich in dem Lande der Qualen Angst und Not. Ach, Gott, ich sehe die wilden, heißen Flammen den dort Weilenden hoch über dem Haupte zusammenschlagen; sie fahren in der dunklen Flamme auf und ab wie die Funken. Sie schreien: Weh und Ach, wie groß ist unser Leid! Alle Herzen könnten die Vielfalt und die Bitterkeit unserer Drangsal nicht ausdenken. Man hört manch hilflosen Ruf: Helft, helft. O weh, wo ist die Hilfe unserer Freunde? O weh, eine Stunde im Fegfeuer ist so lange wie hundert Jahre. O, jetzt sieden, jetzt braten wir und rufen um Hilfe!« (Hofmann 1966, S. 291f.). Die Gründe für die »Geburt des Fegefeuers« im 12. und 13. Jahrhundert werden kontrovers diskutiert. Die Einrichtung eines dritten Ortes zwischen Himmel und Hölle zur Reinigung der Seelen hängt theologisch mit einer intensiveren Bußpraxis und einem differenzierteren Sündenverständnis zusammen, soziologisch mit der Entstehung eines dritten, bürgerlichen Standes zwischen Adel und Bauern. Dieser sich neu organisierende Teil der Bevölkerung mit einem größeren Selbstbewusstsein fand sich nicht mit dem Entweder-Oder der klassischen Eschatologie ab, sondern entwarf einen religiösen Raum, in dem Veränderung und Entwicklung, eben Läuterung als Chance möglich waren. Die »Divina Commedia« des Dante Alighieri (1265–1321) ist Höhepunkt und Zusammenschau der mittelalterlichen Höllenvisionen und der am Anfang des 14. Jahrhunderts etablierten Lehre vom Fegefeuer. Das »Purgatorio« ist der dichterisch-dramatische Endpunkt der langen Entstehungsgeschichte des Fegefeuers. 103

»Dante macht das Fegefeuer eindeutiger und vollkommener, als dies vor ihm je geschah, zu dem intermediären Ort des Jenseits und entzieht damit sein Purgatorio der ›Infernalisierung‹, die die Kirche im 13. Jahrhundert vornahm. Der Logik des Fegefeuers stärker verpflichtet als der Kirche, stellt er das von den beiden Polen in ungleicher Entfernung angesiedelte Zwischenreich, das zum Paradies weist, als die Stätte der Hoffnung und den Beginn der Freude, als die Stätte der fortschreitenden Annäherung ans Licht dar« (Le Goff 1984, S. 423). In einem Alptraum schildert Dante das Purgatoriumsfeuer: »Dort glaubte ich mit ihm zugleich zu brennen, Und so sehr brannte das geträumte Feuer, Das es mir meinen Schlaf zerreißen musste« Schließlich muss Dante selbst in das Feuer treten. »So wie wenn ihre ersten Strahlen zittern, … So stand die Sonne, und der Tag ging nieder, Als uns der Engel Gottes freudig nahte. Am Rande stand er außerhalb der Flamme Mit dem Gesang: ›Beati mundo Corde‹, Und einer Stimme, mächtiger als unsere. Dann sprach er: ›Ehe euch das Feuer brannte, Dürft ihr nicht weitergehen, heilige Seelen; Ihr müsst hinein und drin die Lieder hören‹. … Dann ging er vor mir her, hinein ins Feuer, Und bat, dass Statius hinter uns sollt folgen, Der erst uns eine lange Strecke trennte. Als ich darin war, hätte ich mich zur Kühlung Am liebsten in ein kochend Glas geworfen; So war der Brand darinnen ohne Maßen.« (Dante, Ausgabe 2000, S. 169; 238f.)

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Durch Buße und Reue geschieht Reinigung. Der Gang durch das Feuer des Purgatoriums ist darum »rite de passage«, Durchgangsort, auf dem Weg in den Himmel. Liturgisch-ritueller Höhepunkt der Aufnahme der Fegefeuerlehre in die kirchlich-katholische Dogmatik ist die Bestimmung des 2. November zum Tag des Totengedenkens (Allerseelentag) durch Odilo von Cluny. Es werden Messen für die Verstorbenen zur Abkürzung ihrer Zeit im Fegefeuer gelesen und Schenkungen im Sinne nachträglicher Liebesgaben getätigt. Alle Vorstellungen vom Wesen und von der Wirkung des Feuers spiegeln den grundsätzlich ambivalenten Charakter dieses Elements als Leben schaffender und Leben tötender Kraft wider: Es vernichtet und erneuert, es bestraft und es erlöst, es erschreckt und es begeistert. Darum ist es Emanation des Himmels und der Hölle. Im Gerichts- beziehunsgweise Fegefeuer verdichten sich die beiden Grundzüge dieses Elements: Schuld und Scham werden ausgebrannt und der Sünder bestraft. Der Leib wird zerstört, damit die Seele geläutert und befreit in das ewige göttliche Licht eingeht. Damit ist das Feuer in seinem Wesen das Element einer umfassenden Wandlung. Der Leib-Seele-Dualismus ist ein integrativer Bestandteil dieses Denkens. In ihm sind sowohl die Motive von Zerstörung, Reinigung, Neuschöpfung und Rettung aufgenommen als auch die Vorstellung von der göttlichen Macht als dem Ziel des Wandlungsprozesses.

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7. Menschen, die brennen

Buddhistische Nonnen und Mönche haben die Selbstverbrennung als Mittel im politischen Kampf während des Vietnamkriegs ebenso eingesetzt wie die kurdischen Aktivisten in der Auseinandersetzung mit dem türkischen Staat und Jan Palach beim Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts 1968 in Prag. Mehr als andere Formen des zivilen Ungehorsams ist der »flammende Protest« mit dem gewollten Opfer des eigenen Lebens ein dramatischer Appell und Hilfeschrei: Die Lage ist so unerträglich und so ausweglos, dass nur ein unübersehbares Fanal die Menschen noch erreicht und die Situation verändern kann. Darum wählen fast nur bedrängte Minderheiten ein »Feuerzeichen«, um »blitzartig« ein »Schlaglicht« auf »brennende Probleme« fallen zu lassen. Möglicherweise äußert sich auch im Anschlag der Selbstmordattentäter, die am 11. September 2001 zwei entführte Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers in New York lenkten und in einem Feuerball Tausende von Menschen und sich selbst verbrannten, der verhängnisvoll sprachlose Protest einer terroristischen Gruppe, die nur noch mit stummer Gewalt agieren kann.

Die Fackel von Zeitz: Oskar Brüsewitz Die Selbstverbrennung des Pfarrers O. Brüsewitz (1929– 1976) am 18. August 1976 auf dem Marktplatz von Zeitz/ Thüringen hat die evangelische Kirche in der DDR und darüber hinaus Menschen in Ost und West tief bewegt. Die Tat im Spannungsfeld von Kirche und Staat, religiöser Überzeugung und politischem Protest, prophetischen Zeichen und psychischer Erkrankung ist kontrovers, engagiert und manchmal auch verletzt-verletzend diskutiert worden. Zwei Fragen standen im Zentrum der Auseinandersetzung: Welche Botschaft drückt O. Brüsewitz mit seiner Selbstverbrennung aus? 106

Und: Ist die Selbsttötung ein politisch angemessenes und theologisch erlaubtes Mittel? In bemerkenswerter Übereinstimmung haben sich die staatlichen Stellen und die kirchenleitenden Instanzen unmittelbar nach der Selbstverbrennung auf die Sprachregelung geeinigt, dass niemand daran interessiert ist, »daß ein solches Vorkommnis benutzt werde, um die Beziehungen zwischen der Kirche und dem Staat zu belasten« (Schultze 1993, S. 108). Gemeinsam war man um »Schadensbegrenzung« bemüht. Die staatliche Seite versuchte von Anfang an, die Selbstverbrennung als Tat eines irregeleiteten Psychopathen darzustellen und O. Brüsewitz mit seinem Anliegen zu isolieren. Die Vertreter der Kirchenleitung sind ihr mindestens darin gefolgt, als sie die Tat als das Problem eines Einzelnen bezeichneten, »der die ihm angebotenen Möglichkeiten der Hilfe nicht wahrgenommen hat … Diese Tat ist nicht typisch, sondern eine Ausnahme und darf auf keinen Fall das Verhältnis Staat/Kirche belasten« (Schultze 1993, S. 149). In der innerkirchlichen Diskussion waren der Kreiskirchenrat des Kreises Zeitz in der »Zeitzer Erklärung zu O. Brüsewitz« vom 19. 8. 1976 und die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in der Kirchenprovinz Sachsen bemüht, zwar ihr Verständnis für das Anliegen ihres Pfarrers auszudrücken, aber den Suizid als Mittel des Protests entschieden abzulehnen. Im »Wort an die Gemeinden« der Kirchenleitung heißt es: »Wir wissen, daß Bruder Brüsewitz sich in seinem Dienst als Zeuge Gottes verstand, auch mit manchen ungewöhnlichen Aktionen. Selbst mit dieser Tat wollte er auf Gott als den Herrn über unsere Welt hinweisen. Er war getrieben von der Sorge, daß unsere Kirche in ihrem Zeugnis zu unentschlossen sei. Wir können der Tat unseres Bruders nicht zustimmen. In der Nachfolge Jesu Christi sollen wir bereit sein, Opfer zu bringen – aber nicht so, daß wir vorsätzlich unser Leben beenden. Wir meinen, daß unsere Aufgabe darin besteht, in unserer Gesellschaft mitzuarbeiten, um durch das Zeugnis und Bespiel unseres Lebens darin zu helfen, daß Gottes Ziele in dieser Welt verwirklicht werden. Wir dürfen unseren Bruder Oskar Brüsewitz nicht verurteilen« (Schultze 1993, S. 169). 107

Gegen diese Argumentationslinie gab es vor allem aus Kreisen der Pfarrerschaft Widerstand. In einem Thesenpapier zur innerkirchlichen Diskussion hieß es im September 1976: »Brüsewitz’ Selbstverbrennung hat die Ernsthaftigkeit christlichen Engagement erneut glaubhaft gemacht … Brüsewitz’ Tod ist eine Ermutigung für alle, die mit dem Einsatz ihrer gesamten Existenz in der Kirche für die Menschen arbeiten … Brüsewitz muß theologisch gedeutet werden« (Müller-Enbergs et al. 1999, S. 258f.). O. Brüsewitz selbst hat sich als Märtyrer der Kirche und seinen Tod nicht als Suizid, sondern als Opfertod verstanden. Klaus Motschmann sagte in einem Vortrag anlässlich des ersten Jahrestages des Todes von O. Brüsewitz: »Der Sinn einer Gedenkveranstaltung zum ersten Jahrestag des Opfertodes von Pfarrer O. Brüsewitz kann nicht darin bestehen, in den Formen eines feierlich akademischen Festvortrages dieses Todes lediglich zu gedenken. Wer über O. Brüsewitz’ Tod nur nachdenkt, tritt eine Flucht in das Reich der Gedanken an und entzieht sich der Wirklichkeit, in die uns Gott durch den Flammentod wieder hineingezwungen hat. Ihr können wir uns nicht entziehen, ihr dürfen wir uns nicht entziehen, wenn wir das Vermächtnis O. Brüsewitz’ (und vieler Blutzeugen vor ihm) nicht freventlich verunehren wollen. Ihr aller Vermächtnis gilt es zu bewahren …« (Motschmann o. J., S. 7). Mit seinem Fanal wollte er auf die bedrängte Situation der Kirche und besonders auf die vielfältigen Repressalien vor allem junger Christen aufmerksam machen. Er fühlte sich, ähnlich wie die Propheten des Alten Testaments, unmittelbar von Gott zu seiner besonderen Mission berufen. Als »Kämpfer des Herrn« versuchte er mit provokanten Aktionen und Zeichenhandlungen, die Menschen für Gott zu gewinnen. Er erlebte und deutete die gesellschaftlichen und innerkirchlichen Auseinandersetzungen als apokalyptischen Kampf, in dem jeder Stellung zu beziehen und Partei zu ergreifen habe. Es »tobt zwischen Licht und Finsternis ein mächtiger Krieg. Wahrheit und Lüge stehen nebeneinander«, schrieb er seinen Kollegen im Pfarrkonvent zum Abschied. Bitter beklagte er sich über die übervorsichtige Rücksichtnahme vieler Kollegen und 108

der Kirchenleitung gegenüber staatlicher Propaganda und Indoktrination. O. Brüsewitz verstand sich als Mahner und litt als bekennender und unbeugsamer Christ sowohl an der evangelischen Kirche als auch an seiner sozialistischen Umwelt. Seine Selbstverbrennung lässt sich als seine radikalste prophetische Zeichenhandlung, als existentiellen Aufruf und letzte flammende Predigt deuten. So verstanden ist seine Selbstverbrennung nicht ein suizidaler Akt, sondern Ausdruck seines Glaubensgehorsams. Zumindest post mortem wollte man sich nicht von ihm distanzieren und ihn verleugnen. Gemeindemitglieder bewahrten sein Andenken. Am 18. Juni 1977 wurde in Bad Oeynhausen ein »Brüsewitz-Zentrum« gegründet. Ob diese Initiative die Situation evangelischer Christen in der DDR in ihrer Vielfalt und Diffizilität wirklich erfasste und im Sinne des Namensgebers hilfreich war, lasse ich offen. Deutlich ist jedoch, dass diese Selbstverbrennung, verstanden als tragisch scheiternde Kommunikation, zu einem Diskurs anregte, den O. Brüsewitz vor seinem Suizid lebensnotwendig gebraucht hätte und zu dem er und die unmittelbar mit ihm lebenden Theologen und Gemeindemitglieder nicht in der Lage waren. Es ist darum problematisch, wenn ein Gegensatz zwischen prophetischer Zeichenhandlung und individueller Geistesgestörtheit konstruiert wird. Möglicherweise gibt es einen krankhaften Anteil im prophetischen Tun. Umgekehrt ist es denkbar, dass sich in und trotz der individuellen Psychopathologie etwas Richtiges und Notwendiges ausspricht, für das gefährdete Menschen wie O. Brüsewitz sensibler sind als viele andere. Wenn ich im Folgenden versuche, die Entwicklung von O. Brüsewitz unter dem Aspekt der suizidalen Dynamik, wie sie für viele Patienten mit einer massiven Selbstwertproblematik, großer Schamanfälligkeit und zunehmend eingeschränkter Kommunikationsfähigkeit typisch ist, wie eine Krankengeschichte zu beschreiben, muss dieser Zusammenhang in Kraft bleiben. Man kann O. Brüsewitz eben auch als eine schwer gestörte Persönlichkeit mit einer deutlichen Tendenz zu manisch-depressivem Erleben verstehen. Die Vermutung liegt nahe, dass er im Lauf der Jahre zunehmend in eine umfassende Lebenskrise 109

geriet, aus der er sich durch den Suizid befreien zu können glaubte. Die Monate vor der Selbstverbrennung weisen die Merkmale des präsuizidalen Syndroms auf: Kontaktschwierigkeiten bis hin zur sozialen Isolation, zunehmende Einengung und Verfestigung seines Denkens, Fühlens und seiner Handlungsmöglichkeiten, eine sich verstärkende Ambivalenz zwischen lebensbejahenden und lebensverneinenden Impulsen mit häufigen, allerdings sehr versteckten Andeutungen eines Suizids, die Entwicklung wahnhafter Ideen und einer zunehmenden (Auto-)Aggression. Mehr und mehr kam ihm seine Erfolglosigkeit in der Gemeindearbeit trotz eines immensen Zeit- und Kraftaufwands und trotz anfänglicher Erfolge zu Bewusstsein. Obwohl einige Gemeindemitglieder ihn wegen seiner unkonventionellen Art schätzten, blieb das Echo in der Gemeinde Rippicha und im Kirchenkreis gering. Selbstzweifel, Gefühle tiefer Verunsicherung und Gedanken über sein Versagen nahmen zu und lähmten ihn. Im Kollegenkreis wurde er eher ertragen und als Sonderling ausgehalten als wirklich verstanden und unterstützt. Als nichtakademisch ausgebildeter Theologe fühlte er sich unter den anderen als minderwertig. Die beiden Pfarrer Erich Kranz und Ehrhart Neubert schrieben: »Brüsewitz hätte kaum eine Chance gehabt, in ein kirchenleitendes Amt zu kommen. Brüsewitz gehört innerkirchlich nicht in die soziale Schicht des akademisch gebildeten Bürgertums, die alle Macht kontrolliert« (Müller-Enbergs et al. 1999, S. 257). In Kompensation dazu entwickelte er ein überzogenes aggressives Sendungsbewusstsein, das Züge eines religiösen Wahns trug. Mit einem vorkritischen, verbal-inspiratorischen Schriftverständnis immunisierte er sich gegen jede Anfrage von außen und jeden eigenen Zweifel. Das brachte ihn einerseits in eine immer größer werdende Distanz zum kirchlichen Durchschnittsmilieu und nährte andererseits sein Ideal-Selbst als einsamer »Soldat Christi«, der bis zur Erschöpfung seinem Lebensideal zu entsprechen versuchte. Er verlor die Fähigkeit, 110

Ideal-Selbst und Real-Selbst, seinen hohen Anspruch und die klägliche Wirklichkeit miteinander lebensdienlich zu vermitteln. Seine Wahrnehmung der Wirklichkeit war tief gespalten. Es gab für ihn nur noch ein Entweder-Oder. Jeden wirklichen Kontakt und jedes intensive Gespräch vermied er, denn er lebte in der für den Suizidalen typischen und tragischen Angst, dass der, der ihn in seiner Ausweglosigkeit und Krise sähe, ihn verurteilen und ablehnen würde. Um der gefürchteten Beschämung zu entgehen, stilisierte sich Oskar Brüsewitz immer mehr zum Einzelkämpfer, der am Ende auch seiner Frau seine Gedanken, seine Gefühle und Vorhaben nicht mehr verriet. Mit dem apokalyptischen Motiv vom »Kampf des Lichtes mit der Finsternis« am »Ende der Zeiten« inszenierte er den Untergang seiner eigenen Lebenswelt – er war wirklich am Ende. Wenige Monate vor seinem Suizid kam es, ausgelöst durch einen Brand mit unklarer Ursache in einer seiner Futterscheunen, zu wahnhaften Episoden. Er fühlte sich wie in einer »Kesselschlacht« (Desel 1991, S. 55) verfolgt und eingekreist. Als die Kirchenleitung unter dem Druck staatlicher Stellen O. Brüsewitz zu einem Pfarrstellenwechsel drängte und in diesem Zusammenhang eine Visitation in seiner Gemeinde ankündigte, geriet er vollends in eine für ihn ausweglose Lage. Er fürchtete die Überprüfung seiner Amtsführung aus Scham über die Veröffentlichung seiner mangelhaften Verwaltungspraxis. Die Gemeinde wechseln zu müssen hätte für ihn das öffentliche Eingeständnis des Scheiterns seiner Mission und seiner Lebensaufgabe bedeutet. Diese brennende Scham – darin ähnelt O. Brüsewitz den von mir dargestellten Patienten – stellte er in seiner Selbstverbrennung noch einmal dar und überwand sie gleichzeitig. Er musste sich öffentlich töten. Sein Tod sollte gesehen werden und eine Wirkung haben, damit er als Opfer für sein Versagen und als Wiedergutmachung gelten konnte. O. Brüsewitz musste sich verbrennen, denn als lebende Fakkel war er nicht nur ein letztes Mal der seinem Auftrag und seinem Herrn treu ergebene Zeuge, sondern erhielt auch Anteil an der kathartischen Wirkung des heiligen Feuerelements, das 111

alle Schuld ausbrennt und die Seele für die Reise in den Himmel frei macht. Der im Grunde verschämte und selbstunsichere O. Brüsewitz stellte sich ein letztes Mal »unverschämt« in aller Öffentlichkeit dar und brannte zugleich die brennende Scham über sein Versagen und seine Schuld mit dem Feuer aus. In seinem Abschiedsbrief an den Pfarrkonvent in Zeitz schrieb er: »Nach meinem Leben habe ich es nicht verdient, zu den Auserwählten zu gehören. Meine Vergangenheit ist des Ruhmes nicht wert. Um so mehr freue ich mich, daß mein Herr und König und General mich zu den geliebten Zeugen berufen hat … In wenigen Stunden will ich erfahren, soll ich erfahren, daß mein Erlöser lebt« (Schultze 1993, S. 105f.). In dieser Haltung erinnert dieser Wunsch an ein Ordal. O. Brüsewitz möchte den Erlöser herbeizwingen und sich auf diese Weise post und per mortem ins Recht setzen.

Der Flammenengel von Falkenstein: Rolf Günther Zwei Jahre später fand O. Brüsewitz in seinem Kollegen Rolf Günther einen tragischen Nachahmer. Im Erzgebirge und im Vogtland gab es in den späten siebziger Jahren vehemente Auseinandersetzungen zwischen liberalen und orthodox-volksmissionarischen Pfarrern und Gemeindegliedern. Diese Bewegung propagierte einen rigorosen biblizistischen Frömmigkeitsstil. Der eher liberale Rolf Günther, der früh seine Eltern verloren hatte und für den die Kirche im sehr persönlichen Sinn familia dei war, wandte sich vehement gegen diese Tendenzen, die er als ein unevangelisches Sich-Verschließen vor der notwendigen Auseinandersetzung mit Andersdenkenden und Andersglaubenden verstand. Er wollte nicht die ohnehin schon Überzeugten betreuen, sondern kirchenferne und glaubenskritische Menschen interessieren. Seine Jugendfreizeiten und Gemeindeaktivitäten erregten Argwohn. Es begannen Listen seiner angeblichen Verfehlungen zu kursieren. Zunehmend fühlte er sich beobachtet 112

und bespitzelt. Ohne eigene Familie und ohne Freunde in Falkenstein vereinsamte er immer mehr. Um die Auseinandersetzungen zu beenden, wählte ihn der Kirchenvorstand unter der Leitung eines seiner Kollegen am 4. September als einen von drei Pfarrern ab. Am 17. September 1978 feierte er seinen Abschiedsgottesdienst. In der »Berliner Zeitung« vom 20. 1. 2001 stand zu lesen: »Die Gemeindekirche war gegen 9.30 Uhr bereits gut gefüllt, als der Pfarrer noch einmal in die Sakristei ging. Er kam mit zwei großen Milchkannen zurück. Sie waren mit Benzin gefüllt, das er auf dem Teppich vor dem Altar verschüttete. Dann ging er zum Altar zurück und breitete seine Arme über den brennenden Kerzen aus. Der Pfarrer stand sofort in Flammen, da auch sein Talar mit Benzin getränkt war. Es gelang ihm noch ein Transparent mit der Aufschrift ›Wacht endlich auf‹ zu entrollen. R. Günther wurde Tage später in kleinem Kreis beigesetzt.« Auch R. Günther fühlte sich herausgefordert, in einer für ihn existentiell wichtigen kirchenpolitischen und religiösen Frage eindeutig Stellung zu beziehen. Ähnlich wie sein Kollege verstand er sich als »Soldat Christi«, der seinen Posten nicht aufgeben darf. Obwohl es die volksmissionarische Bewegung war, die den Konflikt als apokalyptische Entscheidungssituation deutete, war Rolf Günther nicht frei von diesen Vorstellungen. Jedenfalls war in der auf den öffentlichen Suizid zulaufenden Dynamik kein Raum mehr für einen Kompromiss. Verletzt durch frühe Verlusterlebnisse und eingeengt in seinen Denkund Handlungsmöglichkeiten lief alles auf ein Entweder-Oder hinaus. Es scheint, als sei er immer mehr zu dem Entschluss gekommen, seine Gemeinde und die Kirche nicht anders wachrütteln zu können, als sich selbst im Sinn einer appellativdemonstrativen Zeichenhandlung zu verbrennen. Nur durch das holocaustum, das Brandopfer der ganzen Person, konnte er auf die seiner Meinung nach dramatische Gefährdung der evangelischen Kirche aufmerksam machen. Dass er nicht nur sich selbst nicht schonte, sondern auch den rund 300 Gottesdienstbesuchern, darunter vielen Kindern, den Anblick seines zuerst brennenden und dann verkohlten 113

Körpers zumutete, ist Ausdruck einer enormen Aggression. Noch massiver als O. Brüsewitz auf dem Marktplatz von Zeitz konfrontierte er mit seiner Selbstverbrennung die Menschen, die nichts Böses ahnend in den Abschiedsgottesdienst kamen und die sich dem Suizidgeschehen in der Kirche weder räumlich noch psychisch entziehen konnten. Es bleibt unklar, woher diese maßlose Selbst- und Fremdaggression rührte. Von einer seelischen Erkrankung ist nichts bekannt. Die Umstände lassen den Schluss zu, dass sich auch Rolf Günther zum Märtyrer berufen fühlte und sich im »heiligen Raum« zum »Licht in der Finsternis« stilisierte. Dass er sich durch die Abwahl als Pfarrer gekränkt und wegen der mangelnden Unterstützung durch die Kirchenleitung in seinem Engagement missachtet und im Stich gelassen fühlte, ist zu vermuten. Die Übereinstimmungen sind unübersehbar. Beide Pfarrer deuteten die gesellschafts- und kirchenpolitische Situation Ende der siebziger Jahre in der DDR als Vorzeichen des bevorstehenden endzeitlichen Kampfes zwischen »Licht und Finsternis«, »Wahrheit und Lüge«. Beide empfanden angesichts dieser religiös-theologischen Dimension der Auseinandersetzung die unabweisbare Verpflichtung, sich mit der eigenen Existenz und ohne Rücksicht auf das eigene Leben zu engagieren und unübersehbar öffentlich Stellung zu beziehen. Weil sie den – von außen und mit einigem Abstand betrachtet – in seiner Bedeutung begrenzten Konflikt als apokalyptische Krise deuteten, war in ihrem Selbstverständnis der Suizid im Feuer nicht nur erlaubt, sondern sogar gefordert. In beiden Fällen ist er als radikale Demonstration gemeint, um mit dem äußersten Mittel die ausweglose Situation aufzubrechen und Menschen zu bewegen. Die Intention dieser Selbstverbrennungen ist das Wachrütteln der Menschen in Kirche und Gesellschaft, das Erhellen der Situation und der prophetische Protest gegen jede Form religiöser, theologischer und politischer Verdunkelung. Darum hat sie etwas Erlösendes. Sie kann aber auch als der unbewusste Versuch verstanden werden, der inneren unerträglichen Selbstwertkrise zu entkom114

men. Beide Pfarrer wurden immer wieder öffentlich mit ihren Anliegen abgelehnt und persönlich im Stich gelassen und gekränkt. Der doppelte Aspekt des Feuers als erleuchtendes und vernichtendes Element wird hier deutlich, ähnlich wie in den Fallvignetten. Beide Suizidenten, O. Brüsewitz und Rolf Günther, möchten noch einmal mit ihrer Person gesehen werden. Sie demonstrieren die Dringlichkeit und Bedeutung ihrer Botschaft. Gleichzeitig inszenieren sie ihre Verzweiflung und erlösen sich von dem unerträglichen Schmerz im verzehrenden Feuer.

Feuer der Vernichtung: Hexenverbrennungen »Die Zauberinnen sollst du nicht leben lassen!« heißt in einem Vers des Alten Testaments (Ex. 22, 17), der zum Leitmotiv für eine der größten, nichtmilitärischen Massenermordung in der europäischen Geschichte wurde. 60.000 Menschen fanden zwischen 1430 und 1780 den Tod. Der Begriff »Zauberinnen« sagt, worum es geht: Um Zauberei und um Frauen. Später bürgerte sich das Wort »Hexe«, abgeleitet vom althochdeutschen hagazussa, ein. Es bedeutet »Zaunreiterin«. Als »hag« bezeichnete man die Gehöfteinfriedung, die Grenzlinie zwischen Kulturraum und Wildnis. Das »Zaunweib« sitzt dort, wo beide einander berühren. Sie hat darum Anteil an den Kräften und dem Wissen beider Bereiche. »Hexe« ist ursprünglich ein unsystematischer Sammelbegriff für verschiedene Feen-, Zauberinnen-, Zwerg- und Gnomgestalten in Mythen, Märchen und Sagen. Dass vor allem Frauen Trägerinnen geheimnisvoller Kräfte mit besonderer Macht über Mensch und Tier seien, ist Ausdruck der in vielen Kulturen anzutreffenden Überzeugung, dass sie in besonderer Weise Zugang zu geheimnisvollen Lebenskräften und -zyklen haben. Frauen sind vertraut mit dem Geheimnis von Geburt und Tod, sie leben in engem Kontakt mit dem Kreislauf der Natur und der Gestirne. Erst als orientalischer und germanisch-keltischer Zauberund Dämonenglaube im Spätmittelalter zusammenflossen und sich unter der Deutungsmacht der scholastischen Theologie 115

aus vielfältigen Strömungen ein einheitliches Bild formte, entstand die Vorstellung von der Hexe, die in der Bulle »Summis desiderantes« von Papst Innozenz VIII. vom 5. Dezember 1495 und im drei Jahre später erschienenen »Hexenhammer« der beiden Dominikanermönche Heinrich Institoris und Jakob Sprenger zum Leitbild der Hexenprozesse wurde. Vor dem Hintergrund einer alle Bereiche des Lebens erfassenden Umwälzung der spätmittelalterlichen Gesellschaft veränderte sich auch das Bild der Frau dramatisch: Frauen seien ohne Maß, heißt es jetzt, und voller (sexueller) Leidenschaft, unersättlich und abergläubisch und darum anfälliger für die Sünde als der Mann, wie schon die biblische Sündenfallgeschichte zeige (Gruber 1990, S. 157–172). So ist es nur folgerichtig, dass bis auf wenige Ausnahmen Frauen als Hexen angeklagt und verbrannt wurden. Der »Hexenhammer« wird zur Durchführungsbestimmung für die Hexenprozesse, die zwischen der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts und dem Ende des 18. Jahrhunderts in mehreren Wellen ganz Europa und sowohl die römisch-katholische Kirche als auch die Kirchen der Reformation erfassten. Vier Merkmale werden beschrieben: Die Hexe schließt unter ausdrücklicher Verfluchung Gottes und des Kreuzes einen Bund mit dem Teufel (Teufelspakt). Sie vollzieht zur Besiegelung ihrer intimen Beziehung den Beischlaf mit dem Teufel (Teufelsbuhlschaft) und schädigt mit ihren dämonisch-teuflischen Kräften Menschen und Tiere, verbreitet Unheil und Krankheiten und verdirbt die Ernte (Schadenszauber). Sie nimmt an ausschweifenden nächtlichen Orgien teil (Teufelstanz und Hexensabbat). »Aus den Zauberinnen von einst war eine große häretische Bewegung geworden, eine über ganz Europa verbreitete teuflische Gegenkirche, die der Christenheit die ärgsten Schäden zufügte« (Schormann 1986, S. 298). Darum wurden Hexen wie die Ketzer des 13. und 14. Jahrhunderts, Katharer und Waldenser, von der Inquisition unter Zuhilfenahme brutalster Foltermethoden verfolgt. Es war leicht, den Hexen unter der Folter ketzerisches Gedankengut als »Geständnis« abzupressen, und den Ketzern Teufelsanbetung, 116

nächtliche Orgien und das Paktieren mit dämonischen Geistern zu unterstellen. Im Zuge der konfessionellen Spannungen und gewalttätigen Auseinandersetzungen wurde die Hexe zur Personifikation der religiös-theologischen Abscheulichkeit der jeweils anderen Seite. Warum aber wurden die Frauen, die als Hexen angeklagt und verurteilt wurden, mit Feuer hingerichtet? Zwei Deutungen sind denkbar, die beide mit dem Symbolgehalt des Feuers als reinigendem und zerstörendem Element zu tun haben: Zum einen lässt sich die Hexenverbrennung als Ordal in einem Bestrafungsprozess verstehen, zum anderen als Purgatorium. Ordale waren in Gesellschaften mit noch nicht kodifiziertem Recht neben Zeugenaussagen und Eiden das häufigste Beweismittel. Wenn ein Sachverhalt sich nicht mit Hilfe von Aussagen oder Beweisen klären ließ, wurden Ordale zum Aufweis von Schuld und Unschuld hinzugezogen. Ein Ordal war darum für den Beklagten die Möglichkeit, mittels einer riskanten, häufig sogar lebensgefährlichen Probe seine Unschuld zu beweisen. Der Begriff »Ordal« stammt aus dem Fränkischen: urdela bedeutet Urteil und ist im fränkisch-germanischen Rechtssystem verankert. Hintergrund des Ordals ist die lebenspraktische Evidenz des Tun-Ergehens-Zusammenhangs für den Einzelnen und die Gruppe. Der Einzelne lebte in dem Bewusstsein, dass die Folgen seiner Tat auf ihn zurückwirken, dass Gutes zu tun also sein Leben fördert, böse Taten ihn selbst schädigen. Die Gemeinschaft existierte in der »Überzeugung, daß selbst unbeabsichtigte Verletzungen der Ordnung, sowohl für den, der sie beging, als auch für alle, die sich durch diese Ordnung gebunden wissen, nachteilige Folgen haben müssen« (Hoheisel 1998, S. 286). Um Schaden von der Gruppe abzuwenden, mussten Verstöße aufgedeckt und geahndet werden. So wurde die Lebensordnung wiederhergestellt. Den Charakter der Probe und damit des Wagnisses erhält das Ordal, weil es eine begrenzte Selbstverfluchung ist: »Mir geschehe dies oder das, wenn ich dies oder das getan habe …« oder »der Teufel soll mich holen, wenn ich …«. 117

Der Aufweis von Schuld und Unschuld ist an der Wirkung der beim Ordal verwendeten Elemente Feuer, Wasser, Gift und Speisen abzulesen. Das gründet in der Vorstellung, dass der, der die Ordnung der Gruppe verletzt, auch mit den Lebenselementen im Streit lebt und darum von ihnen verletzt wird, wenn er mit ihnen in Berührung kommt. Wer also über glühende Kohle oder durch offenes Feuer gehen konnte und wessen Hand nicht verbrannte, wenn er Dinge aus einem Topf mit kochendem Wasser holte, bewies damit seine Unschuld. Erst im Raum der christlichen Kirche »sind es nicht mehr die Elemente, sondern es ist der eine übernatürliche Gott, der zum Sieg des Rechts eingreift« (Nottarp 1958, S. 1807). Aus dem Ordal wird das Gottesurteil (Judicium Dei). Gott wird zum Richter über Schuld und Unschuld. Auch wenn die Kirche Gottesurteile als Versuchung Gottes und als Aberglaube offiziell im Jahr 1215 auf dem 4. Laterankonzil verbot, blieb es bis in das 13. Jahrhundert hinein allgemeine Überzeugung, dass das Gottesurteil die Wahrheit unzweifelhaft hervorbringe. Tragischerweise bleibt das Ordal in den Hexenprozessen bis in das späte 17. Jahrhundert hinein in Form von Hexenproben ein akzeptiertes Beweismittel für Schuld oder Unschuld der »Hexe«, allerdings in einer buchstäblich perversen Form: Ging die gefesselte Angeklagte, häufig ohne Sicherheitsstrick, im Wasser unter und ertrank, war ihre Unschuld erwiesen. Versank sie nicht, war das Beweis ihrer Schuld und musste mit dem Tod bestraft werden. Tot war sie am Ende immer, denn das Durchbrechen der Naturgesetzlichkeit, das Schwimmen auf dem Wasser, galt als Zeichen für den Pakt mit dem Teufel (Teufelspakt). Es konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Ähnliches lässt sich auch vom Verbrennen als einer »Feuerprobe« denken: Verbrennt eine Frau im Einklang mit den Naturgesetzen, ist sie ohne Schuld – der Teufel hat ihr nicht geholfen. Verbrennt sie nicht, schützt sie der Teufel. Sie ist also eine Hexe und muss darum sterben. Die Verbrennung der Hexen lässt sich auch als ein Erbe der Ketzerprozesse verstehen. Ketzer wurden verbrannt, um ihre von Gott abgefallene und mit Sünde befleckte Seele im Tod zu 118

läutern und sie auf diese Weise durch das Gericht hindurch doch noch für die Ewigkeit zu retten. In der Läuterungsvorstellung wird der Zerstörungsaspekt dem Leben schaffenden Aspekt des Feuers untergeordnet. Durch Zerstörung der körperlichen Hülle geschieht die Reinigung der Seele. Die Kirche hat sich dabei immer auf die Autorität des Apostel Paulus berufen: »Einen anderen Grund kann niemand legen außer den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus. Wenn aber jemand auf diesen Grund baut Gold, Silber, edle Steine, Holz, Heu, Stroh, so wird eines jeglichen Werk offenbar werden: der Tag wird’s klar machen. Denn mit Feuer wird er sich offenbaren; und welcherlei eines jeglichen Werk sei, wird das Feuer bewähren. Wird jemandes Werk bleiben, dass er darauf gebaut hat, so wird er nun empfangen. Wird aber jemandes Werk verbrennen, so wird er Schaden leiden; er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie durchs Feuer hindurch« (1. Kor. 3, 11-15). Zerstörung und Läuterung sind dabei keine Gegensätze. Sie werden in ein neues Verhältnis zueinander gebracht. Die Zerstörung dient der Läuterung. Hexen zu verbrennen bedeutete nicht nur die Vernichtung des »Teufelsweibes« im Sinne einer Entmachtung und eines Unschädlichmachens im Höllenfeuer, sondern beinhaltete auch einen Läuterungsimpuls, wie er bei Paulus modellhaft angesprochen und verbal praktiziert wird. Entscheidend bei dieser Vorstellung ist die Gewissheit, dass das – selbstinszenierte – Gericht den Weg in die Erlösung öffnet, weil Leib und Seele voneinander getrennt werden. Wie es bei einer Hexenverbrennung zugegangen sein mag, schildert der folgende Text: »In die Schaulustigen kam Bewegung. Zwei offene Karren, von Pferden gezogen, bahnten sich einen Weg. durch die Menge, während Amtleute die ›armen Sünder‹ die Rathaustreppe herabführten. Der Bannrichter und der Stadtunterrichter verließen die Gerichtsschranne und stiegen auf ihre Pferde. Gehilfen des Scharfrichters hatten inzwischen einen Kessel mit glühen119

der Holzkohle herbeigetragen, der vor dem Rathaus in einem von Schergen abgegrenzten Bezirk abgestellt wurde. Man führte die Verurteilten auf diesen freien Platz. Der Züchtiger prüfte die Reißzangen, große eiserne Scheren, die mit ihrem vorderen Teil in der Glut des qualmenden Kessels steckten. Dann trat er vor Anna Pappenheimerin, packte ihr Leinenkleid mit beiden Händen am Kragenausschnitt und zerriß es mit einem Ruck, indem er es über den knochigen Schultern der alten Frau bis zum Gürtel herabzog. Auch den anderen Gefangenen wurde auf ähnliche Weise der Oberkörper entblößt. Mit gesenktem Blick oder schreckgeweiteten Augen standen sie blaß zwischen ihren Bewachern. Die Menschen auf dem Platz, von denen nur die nächststehenden diesen ersten Teil der Urteilsexekution sehen konnten, reckten die Köpfe, drängten sich zum Ort des Geschehens, mußten von Berittenen zurückgehalten werden … Der Züchtiger zog die erste der glühenden Zangen aus dem Kessel und riß damit dem gräßlich aufbrüllenden Paulus Pappenheimer sechs tiefe Wunden in Arme und Oberkörper. Schon hatte er das nächste Gluteisen in den Händen und vollzog die grausame Strafe an Gumpprecht. So wurden nacheinander alle Malefikanten ›gerissen‹. Zuletzt schnitt der Scharfrichter Anna Pappenheimerin die Brüste ab … Nach den Berichten von Chronisten wurden die abgeschnittenen Brüste sowohl Anna selbst als auch ihren beiden Söhnen ›ums Maul gerieben‹. Dann packten Amtleute die geschundenen Malefikanten und stießen sie auf die bereitgestellten offenen Karren … Inzwischen hatte sich auf dem Marktplatz in einer von Zuschauern freigehaltenen Gasse ein prozessionsartiger Zug formiert. Auf das von Gehilfen des Scharfrichters gegebene Zeichen, das sich auf die Abfahrbereitschaft der Armesünderkarren bezog, setzte er sich in Marsch. Voran ging einer der Münchner Bettelrichter, ein großes Kruzifix vor sich her tragend. Dahinter ritten städtische und herzogliche Amtleute mit Seitengewehren und Ledergurten zum Zeichen ihrer Gewalt … Droben auf dem Galgenberg herrschte Gedränge und Volksfeststimmung. Amtleute und Kornmesser hatten Mühe, den Be120

reich um die sechs gewaltigen Scheiterhaufen und den ›Prechen‹ von Neugierigen freizuhalten. Längst hatte der Armesünderkarren die Höhe erreicht, aber noch immer strömten Zuschauer in dichten Scharen von München herbei, weshalb der Bannrichter mit der Eröffnung der Exekution noch wartete … Da ertönte der Ruf ›Stille? Stille?‹ über den Platz. Das Lärmen der Menge, das Rufen, Singen, Lachen und Murmeln erstarb, und alle Aufmerksamkeit der Anwesenden richtete sich auf die weithin einsehbare Kuppe des Galgenberges, wo Christoph Neuchinger sich aus der rechts von den Scheiterhaufen wartenden Gruppe Berittener löste und sein Pferd in die Mitte des Hügels lenkte. ›Ich befehle dem Züchtiger, seines Amtes zu walten‹, rief er mit weithin vernehmlicher Stimme, ›und verkünde ihm Frieden und sicheres Geleit, was immer ihm widerfahren soll?‹ … Der Scharfrichter und einer seiner Gehilfen schleppten Paulus Pappenheimer zu dem auf die Erde gezimmerten Balkengatter, legten ihn darauf, banden ihn an Händen und Füßen fest. Dann nahm der Züchtiger mit starken Armen das bereitliegende Rad, ließ es erst auf den rechten, dann auf den linken Arm des Verurteilten fallen. Mit knackendem Geräusch brachen dem Armen die Knochen, laut stöhnte er auf … So verfuhr man auch mit den anderen Malefikanten. Nur Anna blieb vom Rad verschont. Aus Gründen, die tief in der mystischen Symbolwelt liegen, durften Frauen nicht gerädert werden … Dabei hatten sie sich für Paulus Pappenheimer … sogar noch etwas Abscheulicheres ausgedacht: die Spießung. Dies war eine der widerlichsten Strafen, die sich menschliche Phantasie je ausgedacht hat, und selbst zur damaligen Zeit kaum noch gebräuchlich … Welches also geschieht, man steckt einem ein sehr spitzig Holz s.v. in den Hintern, welches mitten durch den Leib, und bisweilen durch den Kopf, auch wohl bei dem Halse wieder heraus gehet. Dieses Holz wird umgekehrt in die Erden gepflanzet, so daß die armen Leute etliche Tage in größten Schmerzen, als immer zu gedenken sein mag, lebendig bleiben, ehe sie sterben … Paulus Pappenheimer mußte sie jedoch erdulden … Der Aufschrei des Gequälten muß den Zuschauern, die in dichter Menge den Galgenberg umstanden, durch Mark und Bein gegangen sein. 121

Den gräßlich Stöhnenden, sich am Boden Windenden packten die Hände zweier kräftiger Schergen und schleppten ihn über die an den mittleren Scheiterhaufen gelehnten Holzbohlen, um ihn oben auf dem Reisigstoß gefesselt liegen zu lassen. Dann wurde Anna auf den daneben aufgebauten Haufen gezerrt und auf einen Holzstuhl gebunden, den man dort zwischen den Reisigbündeln verankert hatte … Pechfackeln wurden entzündet und rasch hintereinander in das dürre Reisig der sechs Haufen gesteckt … Unter das Prasseln des Feuers, die erregten Rufe aus der Menge, das leiser werdende Schreien und Husten der Gepeinigten mischten sich laut und monoton die Stimmen der Betenden. ›Herr Jesu, dir lebe ich? Herr Jesu, dir sterbe ich? Herr Jesu, dein bin ich, tot und lebendig?‹ betete ein Geistlicher vor, und ein Chor von Frommen wiederholte diese Worte … Dicke Qualmwolken verdunkelten den blauweißen Sommerhimmel. Krachend stürzten die Scheiterhaufen, einer nach dem anderen, in sich zusammen, endlich auch die glühenden Säulen in ihren Mitten. Dann war das Feuer so weit heruntergebrannt, daß der Scharfrichter sich wieder heranwagen konnte. Er stellte sich auf die höchste Stelle der Anhöhe und rief mit lauter Stimme über den Platz: ›Herr Bannrichter? Habe ich recht gerichtet?‹ Worauf Neuchinger zu Pferde antwortete: ›Da du gerichtet hast, wie Urteil und Recht gegeben, so laß ich es dabei bleiben?‹ Damit war die Hinrichtung beendet. Langsam löste sich die Menschenmenge auf, ging ungeordnet die Pasinger Landstraße nach München zurück. Oben auf dem Berg bei der qualmenden Glut blieben nur der Abdecker und einige Gehilfen des Scharfrichters zurück, um den Platz aufzuräumen. Bald würden hier wieder neue Scheiterhaufen stehen« (Kunze 1982, S. 378ff.). Zu trauriger Berühmtheit gelangte in reformatorischer Zeit der Arzt und Theologe Michael Servet (geb. 1511 in Spanien), der am 27. 10. 1553 auf Betreiben Calvins trotz des ihm zugesicherten freien Geleits in Genf öffentlich verbrannt wurde, weil er die Trinitätslehre leugnete und damit die Grenze des gemeinchristlichen Selbstverständnisses durchbrach. Die »Schuld« 122

Servets war der Tabubruch der Häresie. Sie sollte sichtbar ausgebrannt werden – sicherlich auch zur Abschreckung möglicher Sympathisanten.

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8. Warum sich Menschen anzünden – die Besonderheit der Selbstverbrennung

Menschen, die in ihrem Selbstwert tief verletzt sind und die in Krisen, die ihren Personenkern bedrohen, mit brennender Scham über ihre Minderwertigkeit reagieren, greifen zum Feuer als Suizidmittel, um in einem verzweifelt wortlosen Schrei sich selbst als unmöglich, inakzeptabel zu verbrennen und als neuer Mensch leben zu können. Die Kombination aus dem spezifischen Schamaffekt und dem Feuerelement als Chiffre für die vielfältigen Intentionen, die sich mit der Selbstverbrennung verbinden, ist der Schlüssel zum Verständnis dieser besonderen Form der Selbsttötung. Ausgehend vom homöopathischen Ähnlichkeitsprinzip wird deutlich, dass die als unerträglich empfundene »innere Hitze« aus Scham, Angst und Wut mit Hilfe des äußeren Feuers verbrannt und auf diese Weise gebannt und gelöscht werden soll. Die Selbstverbrennung lässt sich darum, angeregt durch die Bilder apokalyptischer Vernichtungs- und Erneuerungsvorstellungen, als individuelle Inszenierung des persönlichen Weltuntergangs und der individuellen Neuschöpfung verstehen. Beide Motivkreise sind also in ihr enthalten: Vergehen und Neuwerden, Vernichten und Wiedererstehen. Die Bedeutungsfülle des Feuers als Suizidmittel lässt sich in diesem Interpretationsrahmen in vier Symbolgehalten systematisieren. Sie entsprechen auf bemerkenswerte Weise den allgemeinen Grundstrebungen des Suizids, Aggression und Autoaggression, Appell und Flucht, erweitern sie jedoch auf eine spezifische Weise. Dadurch wird die Eigenart der Selbstverbrennung als eine besondere Form des Suizids deutlich. Aus der Kombination der suizidalen Grundstrebungen mit den spezifischen Symbolgehalten des Feuerelements ergeben sich vier große Motivkreise (Abb. 2). 1. Feuer als Symbol für Bestrafung: die Grundstrebung der Aggression

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2. Feuer als Symbol für Buße und Läuterung: die Grundstrebung der Autoagression. 3. Feuer als Symbol für Lebensenergie: die Grundstrebung von Appell und Suche nach Beziehung. 4. Feuer als Symbol für Wandlung und Transzendenz: die Grundstrebung von Flucht und Erlösung.

Abbildung 2: Vier Motivkreise

In allen Motiv-Kreisen mischen sich lebensverneinende und lebensbejahende Aspekte. Auch auf der Ebene der Symbolinterpretation lässt sich also der doppelt polare Charakter der Suizidhandlung nachvollziehen.

Feuer als Symbol für Bestrafung: die Grundstrebung der Aggression Von dem Menschen, der für die eigene seelische Stabilität unverzichtbar ist, bloßgestellt, beschämt und schließlich verlassen zu werden, weckt die aggressiv-zerstörerische Wut, dem kränkenden, internalisierten Partner das anzutun, was er einem selbst zugefügt hat: »Ich brenne vor Scham über meine Ohn125

macht und Schwäche und darum sollst du auch spüren, wie weh es tut, in Flammen zu stehen. Wenn du das vernichtende Feuer der Scham über mich ausgießt, werde ich dich mit dem Feuer meiner Wut und des apokalyptischen Gerichtes vernichten. Du entgehst deiner gerechten Strafe nicht. Im Höllenfeuer meiner maßlosen Wut gehst du mit mir unter.« Solche Rache- und Vernichtungsphantasien sind aber nur darum möglich, weil der Suizident sich im Recht fühlt, ohne Maß zu vernichten, denn er empfindet sich selbst als maßlos gekränkt und beschämt.

Feuer als Symbol für Buße und Läuterung: die Grundstrebung der Autoaggression Der Scham über die eigene als unmöglich empfundene Existenz ist nicht anders beizukommen – so jedenfalls die Überzeugung der Suizidenten – als durch einen Akt schmerzhaftester Selbstbestrafung. Wie verzweifelt muss ein Mensch sein, dass er keinen anderen Weg aus seinem Konflikt weiß, als sich wie in einem Brandopfer zur Sühne anzuzünden? Als übernehme er das den anderen unterstellte Urteil über sich selbst, gibt er zu verstehen: »Ich habe die schlimmste Strafe verdient, denn ich bin der schlimmste Mensch.« Der grenzenlosen Scham entspricht das härteste autodestruktive Strafund Vernichtungsmittel. Nur das Feuer erfasst den ganzen Leib des Menschen. Es lässt keine Körperpartie aus. Es ist das Mittel einer »Rundum-Tortur«, von den Haarspitzen bis zur Fußsohle. Es lässt den Menschen zu Asche werden. Eine größere Selbst-Vernichtung und Auslöschung ist nicht möglich. Andererseits könnte sich hier die Tendenz zur Dissoziation zeigen, die ermöglicht, eine schwere seelische Verletzung mit Hilfe der Spaltung zu bewältigen. Viele schwer misshandelte Menschen haben die Fähigkeit, in Gedanken ihren malträtierten Körper zu verlassen und »sich selbst« in Sicherheit außerhalb der Reichweite ihrer Peiniger zu bringen. Diese dissoziativen Zustände können wie in Trance herbeigeführt und bis zu Depersonalitationszuständen ausgeweitet werden. Mög126

licherweise wird also der Körper als »Hülle« dem Feuer geopfert, damit das eigene Selbst leben kann. Wenn die innere Scham auf den fremden Körper projiziert und dieser Körper dann verbrannt wird, ist dies als Reparatur- und Heilungsversuch zu verstehen. Auf paradoxe Weise drückt sich darum in der büßenden Selbstbestrafung die Vorstellung aus, dass irgendwann einmal genug gelitten und gesühnt worden ist und dass das Opfer reicht, um die Schuld abgegolten zu haben. Der Leib als Träger der Scham verbrennt, damit die Seele frei wird. Die Autoaggression hat in dieser purgatorischen Funktion einen in die Zukunft weisenden Sinn. Buße steht im Dienst der Katharsis. Ob die, die sich anzünden, hoffen, gerettet zu werden, ist den Gesprächen mit überlebenden Suizidenten nicht zu entnehmen. Die Tatsache, dass fast alle Selbstverbrennungen mindestens in halböffentlichen, für andere Menschen zugänglichen Räumen geschehen, lässt diese Vermutung aber durchaus zu. Vor dem Hintergrund des Zusammenhangs von Aggression und Autoaggression wird ein wenig verständlich, dass gekränkte Männer die Frauen, die sich von ihnen trennen wollen, mit Benzin übergießen, anzünden und anschließend sich selbst suizidieren. In diesen dramatischen Fällen wird ausagiert, was bei einer Selbstverbrennung innerpsychisch geschieht: Dem Mord(-versuch) als Bestrafung folgt der (Selbst-)Mord als Sühne.

Feuer als Symbol für Lebensenergie: die Grundstrebung von Appell und Suche nach Beziehung Das Feuer ist die kosmische Energie, ohne die es kein Leben gibt. Ihr Grundsymbol ist die Sonne. Ihr Licht bringt Wärme und Kraft zum Wachsen. Es macht alles, auf das es trifft, sichtbar. Der, der sich selbst anzündet, verbindet sich auf dem Weg in seinen Tod mit dieser universalen Lebensenergie. Er verschmilzt gleichsam mit dem Feuer. Einmal kann er so flammend lebendig sein, wie er es sich immer gewünscht hat und es in seinem Leben aus Scham nicht zu sein wagte. Für den Au127

genblick des Brennens stellt er sich unverschämt leuchtend und unübersehbar öffentlich dar gegen seine Tendenz, sich zu verbergen. Es ist sein Coming-out, wenn er wie eine Fackel lodernd auf sich aufmerksam macht. Die Kehrseite der sich verbergenden Scham ist also die demonstrative Zeigelust. Der Suizident zeigt sich mit seinem brennenden Schmerz. Sein Appell heißt: »Bei mir brennt es! Seht mich! Helft mir! Lasst mich nicht verbrennen!« Der Vorwurf und die Anklage lauten: »Muss ich mich erst anzünden, damit ihr aufwacht und euch um mich kümmert?« Der, der sich anzündet, möchte gesehen werden. Er braucht Aufmerksamkeit und will Kontakt. Gleichzeitig verbirgt er sich mit seinem Wunsch, der ihm wie das Eingeständnis seiner Schwäche vorkommen muss, schamhaft im Feuer. Er ist nicht anzufassen, ohne dass sich andere an ihm buchstäblich die Finger verbrennen.

Feuer als Symbol für Wandlung und Transzendenz: die Grundstrebung von Flucht und Erlösung In das Feuer zu gehen meint, in es einzugehen, mit ihm zu verschmelzen und auf dem ekstatischen Höhepunkt ganz mit ihm eins zu sein. Dann ist man nicht mehr allein, sondern in tiefster Vereinigung, wie zwei Liebende. Abschätzende, begutachtende Blicke haben keinen Raum, sie sind gar nicht vorstellbar und möglich, wenn der Suizident im Feuer wie in den Armen der Gottheit versinkt – eine unio mystica besonderer Art. Um zum göttlichen Licht zu gelangen, um die »Heilige Hochzeit« im Moment des Aufflammens feiern zu können, muss auch unter diesem Aspekt der Körper als die fleischlichvergängliche Hülle verbrennen und die Seele für die göttliche Wirklichkeit frei werden. Der kompensatorisch-regressive Charakter dieser Vorstellungen ist unübersehbar. Scham, Angst und das Gefühl tiefer Minderwertigkeit werden aufgewogen mit der Phantasie einer Würde, Größe, Schönheit und Geborgenheit, die unzerstörbar und unverlierbar sind in einer anderen Welt, in der der Suizi128

dent sich nicht mehr demütigen lassen muss. Der dringliche Wunsch nach absoluter Konfliktfreiheit und rückhaltloser Akzeptanz, also die Heilung der narzisstischen Wunde auf dem Weg der Regression, ist illusionär. Trotzdem kann man fragen, was sich darin als Hoffnung auf ein erträgliches Leben hier und jetzt ausspricht. Der Erlösungsaspekt des Feuers unterstellt einen Leib-SeeleDualismus. Er tendiert zu einer Abwertung der Leiblichkeit und zu einer tiefen Spaltung zwischen akzeptablen und unakzeptablen Persönlichkeitsanteilen. Die Wertschätzung der körperlichen Dimension des Lebens gegen die Tendenz zu schamhafter Abwertung ist eine zentrale Aufgabe im therapeutischen Prozess. Dass es eine große Herausforderung ist, seinen verletzten, vernarbten und häufig entstellten Körper in sein Personenbild aufzunehmen, liegt auf der Hand. Hier sind vom Therapeuten in besonderer Weise Einfühlung und Achtsamkeit notwendig, um nicht Beschämungssituationen auszulösen. Die Sehnsucht nach einer transzendenten Dimension, die sich im Feuersuizid ausdrückt, ist ernst zu nehmen. Wer sein Leben lang darum ringt, einen geachteten Stand zu haben, wird möglicherweise mit dem jenseitigen Ziel die Anerkennung seiner Person verbinden. Und wer sein Leben als »Wandern im finstern Tal« (Ps. 23, 4) empfindet, hofft auf den Lichtgott, der »einen hellen Schein in unsre Herzen« gibt (2. Kor. 4, 6). Für den, der sich seiner Person schämt, kann das heißen, dass sein Leben nicht mehr von (Selbst-)Verachtung verdunkelt ist. Diese auf Erhellung, Achtung und Beziehung drängenden Impulse sind eine Ressource von großem Wert. Therapeutische Aufgabe bleibt es darum, Vorstellungen wie »ewiges Licht«, »Gott«, »Erleuchtung« und »Himmel« in ihrer Qualität als Symbole der Ganzheit zu verstehen und nicht als illusionäre Verkennungen des »wirklichen Lebens« zu ironisieren und abzuwerten. Sie sind Utopien, Noch-nicht-Orte und Noch-nicht-Existenzweisen, die als Vorbild dem Patienten sagen, wer er sein kann. Niemand kann dauernd und ohne Aussicht auf Veränderung in einer existentiellen Krise leben. Jeder Konflikt tendiert 129

zu einer Lösung, um die innere Spannung zu reduzieren, denn die psychische Energie ist begrenzt. Der Suizid lässt sich unter diesem Aspekt verstehen als Auflösung der unerträglichen Spannung zwischen dem Wunsch, leben zu wollen, und der Verzweiflung, so aber nicht leben zu können. Insofern ist das Motiv der Flucht beziehungsweise der Unterbrechung Teil jeder suizidalen Krise. Flucht ist allerdings negativ assoziiert mit Vorstellungen wie Vermeidung, es sich leicht machen, Aufgeben. Aus einem Konflikt oder vor einem Konflikt zu fliehen meint darum, sich der allgemein als notwendig empfundenen Auseinandersetzung feige zu entziehen und lieber die »eigene Haut« zu retten, als sich im Streit zu stellen und möglicherweise dann verändern zu müssen. Flucht wird darum vor allem als Ausdruck von Angst verstanden: Angst vor Beschämung, Angst vor deutlicher Kritik, Angst vor Hilflosigkeit und Ohnmacht. Kommt allerdings die Vorstellung eines transzendenten Fluchtpunkts, einer Erlösung hinzu, geht es nicht mehr nur um bloße Vermeidung, sondern um eine besondere Art von Hinwendung. Die Flucht aus dem Unerträglichen birgt den Keim einer Sehnsucht nach dem anderen Ort, an dem Leben möglich und erträglich ist, in sich. Das Feuer ist das Symbol der göttlich-transzendentalen Wirklichkeit gerade in seiner Ambivalenz aus lebensschaffender und lebensverneinender Kraft. Es ist das Ur-Element, aus dem alles kommt und zu dem alles zurückkehrt. Weil es materiell und doch nicht fassbar ist, sichtbar und doch durchscheinend, ist es in seiner Lichtfülle Vor-Schein des ewigen Lichts, das mit Leben und Glück gleichgesetzt wird. Darum ist es nicht nur Mittel, sondern unter diesem Aspekt auch Ziel des Suizidenten. So wie das Feuer alles, was es berührt, mit seiner Glut wandelt, schön und dauerhaft macht, so hebt es den Menschen, der in das Feuer geht, auf eine höhere Seinsstufe. Er gehört nicht mehr dieser irdischen, vergänglichen Welt an, sondern ist ein »Kind der Sonne«, eine »Tochter des Lichts«. Die göttliche Energie und die feurige Aura werden zur eigenen Macht und Herrlichkeit.

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9. Die Therapie

Voraussetzung für die Angemessenheit des psychotherapeutischen Behandlungskonzepts ist die fachärztliche Klärung, ob beim Patienten eine Psychose oder eine psychosenahe Erkrankung vorliegt. Darum gehört die psychiatrische Untersuchung des wachen Patienten mit der Frage, ob die Notwendigkeit einer medikamentösen Behandlung gegeben ist, zu den ersten Maßnahmen. Erst wenn sich das wahnhafte Erleben reduziert hat und einer eventuell auftretenden Entzugsproblematik bei vorbestehendem Substanzmissbrauch adäquat begegnet wird, hat die psychotherapeutische Arbeit eine Chance. Diesen ersten Schritt setze ich voraus, wenn ich nun das Konzept einer sinnorientierten Psychotherapie entwickle.

Die Gegenwart der Scham und die therapeutische Haltung Wer sich mit der Frage einer angemessenen therapeutischen Hilfe für Menschen, die sich selbst in Brand gesetzt haben, beschäftigt, wird F. J. Stoddard (1993, S. 480ff.) mit seiner knappen Einschätzung nur beipflichten können: »Few patient evoke deeper feelings in medical staff and families than those who have attempted suicide by burning. Total denial, disbelief, pity, horror, bewilderment, anger, deep sadness, and feelings of helpnessless are not rare … Those who burn themselves are among the most difficult patients with burns and are the most difficult patients to treat psychiatrically«. Auch auf der Station des Brandverletzten-Zentrums wird der Selbstverbrennungsversuch eines Patienten häufig als Makel und als Charakterabnormalität empfunden. Trotz der Schweigepflicht wird über den Betroffenen im Team auch in 131

Gegenwart anderer gesprochen und über die Umstände und Motive spekuliert. Besondere Vorkehrungen, zum Beispiel die Einrichtung einer Sitzwache oder der konsiliarische Besuch des Psychiaters lassen unter den Mitpatienten den Verdacht aufkommen: »Da stimmt doch etwas nicht!«. In dieser Atmosphäre aus Neugierde, Argwohn und Kontrolle entwickeln sich spezifische Schamgefühle. Wird dem Patienten, der nach einem Selbstverbrennungsversuch im Brandverletzten-Zentrum behandelt wird, bewusst, dass er mit anderen zusammen liegt, die in der Regel ohne ihr Zutun an den Folgen eines Brandunfalls leiden, mischt sich in die mitgebrachte Scham ein Schuldgefühl den Behandelnden gegenüber: »Ihr habt so viel zu tun und jetzt müsst ihr euch auch noch um mich kümmern. Dabei habe ich es ja selbst gemacht und bin selbst schuld!« Selbst wenn dieses Gefühl nicht geäußert, sondern als stiller Selbstvorwurf verschwiegen wird, verleitet es den Patienten dazu, besonders konform und angepasst zu sein, um sich nicht den Rest der Sympathie des Teams zu verscherzen. Sich zu wehren und wütend zu werden, ist ihm kaum möglich, denn er ist auf vielfältige Weise von den Behandelnden abhängig. Er fürchtet seine Ausgrenzung und den Rückzug der Teammitglieder als Strafe. Fatal ist es, wenn die Neigung, sich die Tat wieder und wieder vorzuwerfen, von Mitarbeitenden unausgesprochen gefördert wird, nach dem Motto: »Als ob wir hier nicht schon genug zu tun hätten …« Fallen Selbstvorwurf und Fremdvorwurf zusammen, hat der Patient fast keine andere Möglichkeit, als sich wieder als »persona non grata« zu fühlen. Er hat zunehmend den Eindruck, auf der Station wiederhole sich im Kleinen, was ihn als Muster sein Leben lang verfolgt: Sein Anderssein und sein Defekt sind ein Makel, der ihm vorgeworfen wird und dessen er sich schämt. In wenigen (Ausnahme-)Fällen reagieren Patienten mit aggressivem Trotz, der mit seiner Wut die Energie der narzisstischen Kränkung ahnen lässt. Eine 45-jährige Patientin, die sich mit Rasenmäher-Benzin übergossen hatte, sagte mir: »Sie wünschen mich doch auch zur Hölle!« Ein 30-jähriger Mann schrie über den Stationsflur: »Wenn ihr wollt, dann kann ich 132

das ja gleich noch mal machen, aber dann bleibt hier kein Auge trocken!« Nicht nur der Patient erlebt den Konflikt aus Scham, anschließender autodestruktiver Wut und schließlich zusätzlicher Scham über seine Autodestruktivität als unauflöslichen Zirkel, sondern auch die Angehörigen. Der ausgesprochene oder stille Vorwurf: »Warum hast du das denn gemacht!? Musste das sein? Hast du nicht an uns gedacht?« intensiviert die SchamWut-Scham-Spirale. Aber auch die gegenteilige Reaktion, eine um Unterstützung und Fürsprache bemühte Haltung – etwa: »Macht doch nichts! Mach dich nicht fertig. Guck nach vorn. Du schaffst das schon!« – hat nicht immer den erhofften Effekt. Den Optimismus der anderen, mancher Behandelnder eingeschlossen, erlebt der Patient aufgrund seines tiefen Selbstzweifels und seiner Selbstunsicherheit als verdächtiges, ihn nicht wirklich ernst nehmendes Gutreden, als vertröstende Floskel ohne Wert. Wenn soviel Positivität nötig ist, kann es nicht wirklich gut sein. »Irgendwann wird ja doch alles herauskommen und dann ziehen sich alle zurück«, so die Angst des Patienten. Hinzu kommt die Scham vor dem Seelsorger, der, anders als die Teammitglieder anderer Professionen, im allgemeinen Bewusstsein als besondere moralische Instanz für das Verbot der Selbsttötung als eines hybriden Frevels an Gott gilt. Der Patient löst auch im Therapeuten stark ambivalente Gefühle aus. Es ist aber die wichtigste therapeutische Aufgabe, dem Suizidenten eine verlässliche Beziehung anzubieten und ihn erleben zu lassen, dass sie gestaltbar, beeinflussbar und tragfähig werden kann, ohne dass die Selbsttötung angedroht oder gar wirklich ausgeführt wird. In einer Falldarstellung schreibt Jürgen Kind: Der Patient versuchte, »in mir jemanden zu finden, der sich durch dieses Verhalten (Suizidandrohungen – Anm. C. B.) nicht abschrecken und vertreiben ließ … Natürlich wäre es jetzt ein Mißverständnis zu meinen, daß sich der Therapeut in solchen Situationen bewußt freundlich und zugewandt verhalten sollte, etwa im Sinne einer korrigierenden emotionalen Erfahrung. Genau das wäre falsch, da es verhinderte, die Übertragung dieser problematischen, sadistischen Selbst- und Ob133

jektanteile in der Beziehung zur Darstellung kommen zu lassen … Ich meine, daß es diesem Patienten zunächst darum ging, mich existent und sichtbar werden zu lassen … Er wollte mich in eine zwischenmenschliche Beziehung zwingen, und er tat es mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln« (1992, S. 163). Die Reinszenierung des Scham-Wut-Zirkels bestimmt in besonderer Weise den Anfang der therapeutischen Arbeit. Der Suizidpatient erlebt die Kontaktaufnahme ausgesprochen ambivalent. Einerseits werden seine Bedürftigkeit und sein Angewiesensein auf Hilfe deutlich. Andererseits empfindet er, dass ihn der Kontakt stützt. Die als Drohung empfundene und oft auch so gemeinte Aussage, in die Psychiatrie verlegt zu werden, wenn keine stabile Zusammenarbeit zustande kommt, verschärft den Druck. Der Konflikt zwischen dem Widerstand gegen die therapeutische Arbeit, in der »alles ans Licht kommt«, und dem Wunsch nach einer verlässlichen Beziehung, in der Anerkennung und Unterstützung erlebbar werden, lässt den Patienten häufig in die Somatik ausweichen. Es gibt im stationären Alltag in dieser Hinsicht viel zu besprechen: ob die Spalthauttransplatationen einheilen und wann die nächste Operation stattfindet, warum die Kompressionsbandagen nicht passen und mit wie vielen Schmerzmitteln der nächste Verbandswechsel durchgeführt werden soll … Die Fülle der mit der körperlichen Verletzung zusammenhängenden organisatorischen und pflegerischen Maßnahmen lenkt von dem seelischen Konflikt ab und bietet unendlich viele Verstecke. Die Somatisierung ist der wichtigste und häufigste Schutzmechanismus im stationären Alltag. Nicht nur der Patient, sondern auch das behandelnde Team hält sich an die körperlichen Wunden und räumt der medizinischen Versorgung Priorität ein. Den Körper zu versorgen entlastet von der Herausforderung, sich auch um die seelischen Verletzungen zu kümmern. Neben dem Ausweichen in die Körperlichkeit entwickeln Patienten zwei weitere Haltungen, um den therapeutischen Kontakt zu vermeiden: Flucht in den Angriff und Flucht in die Verschmelzung. Patienten zeigen sich aggressiv-reizbar, wenn der Therapeut 134

nach den Umständen des Selbstverbrennungsversuchs fragt. Sie verschließen sich und vermitteln das Gefühl, man habe nicht den richtigen Zeitpunkt oder die angemessene Form für das Gespräch gewählt. Der Therapeut hat den Eindruck, etwas falsch gemacht und den Patienten verletzt zu haben. Er beginnt sich seiner Unfähigkeit zu schämen. Kommt dieses Gefühl in der Supervision zur Sprache, versteht man, dass sich Patienten darum so häufig aggressiv-verschlossen zeigen und den Therapeuten beschämen, weil »Angriff die beste Verteidigung« ist und sie sich auf diese Weise am wirkungsvollsten vor erneuter Beschämung schützen können – Flucht in den Angriff. Andere Patienten präsentieren dem Therapeuten schon im ersten Gespräch intime Einzelheiten ihrer Lebens- und Beziehungsgeschichte, ohne dass es eine gemeinsame Erfahrung gibt, wie mit solchen Mitteilungen umzugehen ist. »Wenn ich alles sage, kann der Therapeut nichts mehr sagen«, scheint der Patient zu denken. Auch mit dieser entwaffnenden »Offenheit« beschämt und lähmt er den Therapeuten – Flucht in die Verschmelzung. Das Gelingen einer therapeutischen Beziehung, die das Drama erneuter Beschämung, Kränkung und (Auto-)Aggression nicht wiederbeleben will und auf die Unterbrechung des Schamzirkels aus ist, hängt davon ab, ob im Kontakt zwischen dem Patienten und seinem Therapeuten eine sensible Balance zwischen Sicherheit gebender Nähe und schützender Distanz, zwischen befreiender Direktheit und respektvoller Diskretion etabliert werden kann. Deshalb wird der Therapeut seine Übertragungsgefühle sorgfältig von den Gefühlen der Gegenübertragung unterscheiden müssen. Er wird sich laufend bewusst sein, wann er eigene Wut und Aggressionen gegen den Patienten empfindet und ihn darum ablehnt und wann er Empfindungen spürt, die der Patient auf ihn projiziert und die der Therapeut nutzen kann (Kind 1992, S. 163–165). Die therapeutische Begegnung bleibt grundsätzlich ein unverfügbares Ereignis. In diesem Sinn warnt Alexander Mitscherlich (1983, S. 10) vor der »Distanzlosigkeit den großen Geheimnissen des Lebens gegenüber« und fordert Respekt von 135

der »prinzipiellen Selbstverborgenheit, in der zwei Menschen leben«, der Therapeut und der Patient. Die Spannung zwischen dem Wunsch, sich zu zeigen, und dem Bedürfnis, sich zu verbergen, gehört zu unserem Wesen. Sie nicht zu achten, bedeutet, einen Menschen in seinem Innersten zu verletzen. Mit dem Stichwort »Geheimnis« ist die Unverfügbarkeit menschlicher Existenz angesprochen. Eine therapeutische Haltung, die »enthüllen«, »ans Licht bringen« und »das Rätsel lösen will«, ist dem Menschen, der sich schämt, nicht angemessen und für den therapeutischen Prozess kontraproduktiv. Dass Begriffe wie »Geheimnis« und »Selbstentzogenheit der Person« im religiösen Denken beheimatet sind und therapeutisches Handeln in diesem Verständnis darum nur von einem Grund her möglich ist, der ihm vorgegeben ist, hat E. Jüngel beschrieben, wenn er »Gott als Geheimnis der Welt« denkt. Dabei meint das mit Geheimnis beschriebene »etwas anderes als ein Rätsel, das sich auflöst, wenn es gelöst und begriffen wird. Geheimnis meint in diesem Sinn nicht eine Vorstufe für etwas am Ende Klares, Verstandenes und Begriffenes, etwas also, das noch nicht an das Licht gekommen und also noch unvollkommen gegenwärtig ist. Dagegen bleibt festzuhalten: Das Mysterium offenbart sich als Geheimnis, das Mysterium des Wesens des Menschen. Geheimnis ist eine positive Beschreibung der Selbstentzogenheit gegen jeden Zugriff« (Jüngel 2001, S. 341). Die therapeutische Arbeit geschieht in der Haltung des Respekts vor dem Geheimnis, das der Andere ist und notwendig bleibt. So lässt sich ein prozesshaftes Verständnis von Rückführung in lebendige Beziehungen denken, das weder vom Therapeuten noch vom Klienten hergestellt und erarbeitet werden muss, sondern sich im geschützten Raum der Beziehung einstellen kann. Es bewahrt den Therapeuten vor hybriden Heilerträumen und den Klienten vor vernichtenden Unterlegenheitsphantasien. Sie steht für Schutz und für Verschwiegenheit, also für eine elementare Sicherheit im therapeutischen Kontakt. Es muss nicht ausdrücklich betont werden, dass es ein langer Prozess ist. Schließlich geht es um die Frage, was uns im Leben hält. 136

Das Modell einer sinnorientierten Psychotherapie Der Sinn der Selbstverbrennung wird deutlich, wenn das Suizidmittel Feuer in seiner Bedeutung ernst genommen und als Spur und Schlüssel genutzt wird. Den vier Aspekten von Buße und Bestrafung, Suche nach Beziehung und Erlösung muss darum im Verlauf der Therapie im Sinn von Leitthemen eine hohe Aufmerksamkeit geschenkt werden. Dabei wird jeder Patient sein individuelles Profil der Selbstverbrennungsdynamik zu erkennen geben. Bei dem einen dominiert der Appellcharakter, bei dem anderen die Autoaggression. Grundsätzlich gilt aber: Die Dynamik des Selbstverbrennungsgeschehens geht für den Suizidenten in die Richtung eines nach vorn weisenden Prozesses. In das Feuer zu gehen hat für ihn nicht nur den Sinn, sich als »unmöglichen« Menschen auszulöschen, sondern auch gereinigt, gewandelt und erlöst neu und »unverschämt« leben zu können. Der Feuersuizid hat ein positives Ziel. Die Suizidmethode zeigt darum grundsätzlich, welche Therapie der Patient braucht. Mittel und Ziel entsprechen einander: Statt mit dem lebensfeindlichen Mittel der Selbstverbrennung soll dieses Ziel mit dem lebensdienlichen Mittel einer verstehenden und unterstützenden Therapie angestrebt werden. Sie nutzt und fördert dabei drei grundlegende Fähigkeiten des personalen Existenzvollzugs. Zum einen besitzt der Mensch die Fähigkeit, sich selbst mit seinem jeweiligen Grundgefühl in einer konkreten Lebenssituation wahrzunehmen. Dieses Grundgefühl lässt sich als Resonanz auf ein Ereignis verstehen, das von außen den Menschen trifft. Es hinterlässt als Eindruck ein Gefühl. Oft ist es zwiespältig und macht sich als innere Spannung oder Unruhe, manchmal auch als Leere bemerkbar. Wird dieses Gefühl angesprochen, kann es beschrieben und erkundet werden. Dann gewinnt es eine klarere Gestalt und einen deutlicheren Umriss. Zum anderen verfügt der Mensch über die Fähigkeit, sich von sich selbst und seinem unmittelbaren Erleben ein Stück weit zu distanzieren. Er kann Abstand zu sich selbst nehmen und gewinnt auf diese Weise Raum für eine eigene Stellungnahme. 137

Und schließlich kann sich der Mensch transzendieren und sich auf ein Ziel hin entwerfen. Er muss nicht bleiben, der er im Augenblick ist, muss sich nicht alles von sich selbst gefallen lassen, sondern darf neu entscheiden und konkrete Ziele in seinem Leben angehen. Diese drei Fähigkeiten – sich erleben können, eine Position finden und handeln können – sind gleichzeitig drei menschliche Grundbedürfnisse, die er realisieren will, damit er sinnvoll leben kann. Sie strukturieren als drei Elementarschritte den therapeutischen Prozess. Er wird durch die Befunderhebung am Anfang der gemeinsamen therapeutischen Arbeit ergänzt. Dieses viergliedrige Schema hat sich im Lauf der Jahre unter den Bedingungen des Brandverletzten-Zentrums bewährt und orientiert sich an der Methode der Personalen Existenzanalyse, wie sie A. Längle (2000, S. 23-28) entwickelt hat. 1. Schritt: Die Befunderhebung. »Was ist geschehen?« lautet die erste Frage. Die Fakten und Umstände des Feuersuizids werden erfasst und gegebenenfalls mit anderen Informationen und Versionen abgeglichen. Auf diese Weise wird so viel wie möglich von der äußeren Realität erhoben und gesichert, um einen einigermaßen genauen Faktenrahmen für das Geschehen zu erhalten. Der Patient versteht: Dem Therapeuten ist an der Tatsächlichkeit des Suizidgeschehens gelegen, er folgt geduldig und verständnisvoll der oft verworrenen Hergangsgeschichte und ist bereit, die äußeren Umstände kennen zu lernen. So wird der Patient am Anfang der therapeutischen Arbeit »geerdet«. Wenn der Hergang des Suizidversuchs klar ist, gibt das dem Patienten und dem Therapeuten einen Anhalt, an dem sich beide orientieren und auf den sie sich beziehen können. Außerdem wird schon am Anfang die Überzeugung etabliert, dass Äußerlichkeiten wie das Suizidmittel und der Ort innerlich bedeutsam sind und das eine das andere wechselseitig auslegt und verständlich macht. 2. Schritt: Der Eindruck. »Welche Gefühle und Gedanken bewegen Sie?« Nicht die vielen möglichen Gründe und die konfliktreiche Lebensgeschichte stehen im Vordergrund, sondern die mit dem Selbstverbrennungsversuch verbundenen ak138

tuellen Gefühle von Trauer und Verzweiflung, Schmerz und Scham, Sehnsucht und Enttäuschung – und manchmal und gar nicht selten die Empfindung von Erleichterung und Dankbarkeit. »Wie gut, dass es nicht geklappt hat.« Diese Gefühle dürfen einen großen Raum einnehmen und werden vom Therapeuten ohne Urteil und mit grundsätzlicher Wertschätzung und Achtung geteilt. Der Patient erlebt, dass er sich in der Beziehung zum Therapeuten trotz seiner Scham äußern und als Person zeigen darf. Er kann dann auch über seine Wünsche, Phantasien und Ängste, die mit dem Feuersuizid verbunden sind, zu sprechen anfangen. Die vier Grundstrebungen des Suizidgeschehens bieten dafür einen diagnostischen Orientierungsrahmen. 3. Schritt: Die Selbstdistanzierung: »Wie verstehen Sie sich in diesem Geschehen?« Innerlich einen Schritt zurückzutreten und Abstand vom Geschehen und von den mit ihm verbundenen Gefühlen zu gewinnen, bedeutet, mehr sehen und in der Folge auch verstehen und damit ordnen zu können. Jetzt kommt die Lebensgeschichte in den Blick. Frühere Krisen und besondere Lebensereignisse werden vom Patienten und dem Therapeuten auf die persönlichen Formen der Krisen- und Konfliktbewältigung hin angeschaut. Gibt es immer wieder auftauchende Motive, etwa übergroße Scham oder Zweifel am eigenen Wert? Wie drückten sich Unsicherheit und Gekränktsein aus, wie die Angst vor Verlust und Verlassenwerden? Es kommt zu einer Verknüpfung des Suizidgeschehens mit den eigenen Erfahrungen und den persönlichen Überzeugungen, Haltungen und Werten. Zunehmend versteht der Patient, welchen Sinn die Wahl des Feuers als Suizidmittel hat. Dabei wird im Beschreiben der schweren Erlebnisse, zum Beispiel in der frühen Kindheit, nicht mehr nur die Unangemessenheit damals erworbener Konfliktlösungsformen für aktuelle Krisen des Erwachsenen deutlich, sondern auch die grundlegende seelische Kraft des Patienten. »Wie habe ich das damals bloß ausgehalten?« kann er dann sagen und das Gefühl einer gewissen Selbstachtung für das seelische Überleben in einer schweren frühen Lebenskrise entwickeln. Dass er sich nicht alles erklären kann, wird auf der Basis dieser Selbsterkundung als zum Leben 139

gehörende Wahrheit erträglich. Wesentlich ist, den Suizidversuch nicht als Versagen, etwa als Flucht vor Verantwortung oder als Ausdruck von Schwäche, sondern als kreativ-tragischen Lösungsversuch einer Lebenskrise zu begreifen. Der Patient beginnt zu verstehen, dass Trennungs- und Abweisungserfahrungen zu tiefen Kränkungen führen, die Verlustangst, ohnmächtige Wut und brennende Scham über sein Unvermögen und seine Nichtigkeit in ihm wachrufen. So wird ihm die Beziehung zu Suizidmittel Feuer und seiner Grundintention im Selbstverbrennungsgeschehen langsam deutlich. Er kann angeben, welcher Aspekt der suizidalen Dynamik im existentiell-symbolischen Ausdruck des Feuerelements für ihn leitend war. Er beginnt, sich selbst darin zu verstehen und den zuerst als fremdes, unerklärliches Geschehen empfundenen Selbsttötungsversuch in seinem Sinn für sich selbst zu dechiffrieren. Häufig kommt es in dieser Phase zu Aha-Erlebnissen mit dem Gefühl spontaner Plausibilität für das eigene bislang unverstandene Tun. 4. Schritt: Der Ausdruck. »Wie werden Sie damit umgehen?« Neu gewonnene Haltungen sollen im Lebensvollzug ausgedrückt und realisiert werden. Die Frage, wie man anders mit Entwertungserfahrungen umgehen kann, nimmt einen großen Raum ein und führt zu einer differenzierten Haltung gegenüber den kritischen Lebenssituationen. Haltung meint Stellung-Nahme: So will ich mich beim nächsten Mal verhalten. Das geht mit einer Erweiterung des Handlungsspielraums einher und führt für den Patienten zu der ermutigenden Erfahrung: Ich kann mir die Freiheit nehmen, zwischen Erlebnis und Reaktion den Zwischenschritt der Abstandnahme und des Nachdenkens zu etablieren. Ich darf mein Reiz-ReaktionsSchema für kurze Zeit unterbrechen und nach meinen verschiedenen Optionen fragen. Der Patient entwickelt Strategien, um erneute Krisen rechtzeitig zu erkennen. Fragen der sozialen Reintegration, etwa die Wiederaufnahme einer Berufstätigkeit, werden erörtert. Auf diese Weise entsteht zunehmend Distanz zur Krise und es öffnet sich der Raum für eine Neuorientierung in die Zukunft. Neue Aufgaben in Beruf und Familie sind nicht nur Belastungen, die Stress machen (»Das ist mir alles zu 140

viel! Wie soll ich das schaffen?«), sondern sagen dem Patienten, dass er angefragt ist und gebraucht wird. »Zum Wesen des Menschen gehört das Hingeordnet- und Ausgerichtetsein, sei es auf etwas, sei es auf jemand, sei es auf ein Werk oder auf einen Menschen, auf eine Idee oder auf eine Person!« (Frankl 1959, S. 676). Diese Änderung des Blickwinkels (PerspektivenShifting) ist hilfreich. Nicht wir fragen – jedenfalls nicht ausschließlich – das Leben: Welchen Sinn bietest du mir? Das Leben fragt – auch – mich: Wie antwortest du mir? Wie stellst du dich mir, dem Leben, zur Verfügung? Nach der Bewegung zu sich selbst hin, die in einem Ja zur eigenen Person und den besonderen Lebensmöglichkeiten und -umständen mündet, begleitet der Therapeut den Patienten bei der Suche nach der für ihn stimmigen Antwort auf die Herausforderungen seines Lebens. »Gut, dass ich Kinder habe und für sie sorgen muss«, sagte eine Patientin. In der alltäglich-praktischen Übernahme konkreter Verpflichtungen wächst das Gefühl, wieder einen sinnvollen Platz einnehmen zu können. Schließlich wird die Frage einer weiteren stationären oder ambulanten psychotherapeutischen Behandlung angesprochen. Für den therapeutischen Prozess bedeutet das: Das Leitthema ist nicht zuerst die Krise des Suizidenten, aus der er sich mit dem Mittel der Selbstverbrennung herauslösen wollte, sondern das »Wohin«, die Intention, die sich mit dem Suizidversuch verbindet. Wenn es der Wunsch des Patienten ist, im Kontakt mit sich und wichtigen anderen Menschen leben zu können, ohne sich schämen zu müssen, muss das therapeutische Bemühen an diesem positiven Ziel einsetzen und den Selbstverbrennungsversuch als kreativ-tragische Leistung des Patienten im Sinne eines Lösungsversuchs achten. Ziel der therapeutischen Begleitung ist es, den Patienten zu seinem Selbst-Sein (Identität vs. Identitätsdiffusion) und MitSein (Sozialität vs. Isolation) in einer für ihn sinnvollen, von ihm personal verantworteten Existenz anzuregen. Er soll als Person leben statt gelebt zu werden. Die suizidale Dynamik der Selbstverbrennung zeigt, dass dem Menschen wesenhaft ein Streben nach Sinn eigen ist. Er kann nicht leben ohne den Versuch, sich die eigene und die ihn 141

umgebende Welt verstehbar zu machen, sie sich anzueignen und so Zukunft als Gestaltungsraum zu gewinnen. Viktor Frankl (1982, S. 255) hat den Sinn als eine »Möglichkeit vor dem Hintergrund der Wirklichkeit« beschrieben. Sinn muss einen notwendigen Realitätsbezug haben (»Wirklichkeit«) und gleichzeitig frei sein (»Möglichkeit«). Im Sinn eines neuen »Ja zum Leben« meint das entfaltete Ziel des Therapieprozesses – die Akzeptanz der eigenen Lebenswelt und ihrer Bedingungen, – die Zuwendung zu Werten, die die Person ansprechen und sie in eine Beziehung zu sich selbst, zu anderen Menschen und zu ihrer Umwelt bringen, – die Achtung der eigenen Person in ihrer Einmaligkeit ebenso wie die Einzigartigkeit jedes anderen Menschen, – das Einverständnis mit dem situativen Appell, das in verantwortliches Handeln führt (Längle 2000, S. 9f.). Wir kommen auf die Welt und die Welt mit ihren Bedingungen ist schon da. Die »Welt« sind für uns wesentlich die anderen Menschen. Ohne die uns schon erwartenden Anderen und ohne die uns vorauseilende Welt sind wir als individuelle Menschen nicht denkbar. Wir leben und erfahren uns darum in Bezug auf die Anderen und in deren Echo und Reaktion auf uns. Zustimmung zum eigenen Leben wird möglich im dialogischen Austausch mit sich selbst (Aspekt der Introspektion), mit der Mit-Welt (Aspekt der Sozialität) und der Welt der Werte und Haltungen (Aspekt der Normativität). Gegen die Tendenz zur tragisch-scheiternden Kommunikation, die sich in der Selbstverbrennung ausdrückt, wächst im Patienten die Fähigkeit, mit sich, mit anderen und den eigenen Lebenszielen in Kontakt zu kommen und sich ausdrücken zu können. In der Begegnung zwischen Patient und Therapeut entsteht ein neuer Lebensraum. In ihm begegnet der Patient dem Anruf des Lebens, der Herausforderung seiner besonderen Existenz, und sucht nach seiner persönlichen Antwort. Im Wechselspiel von Anfrage und Antwort entsteht langsam das Gefühl für den Sinn des eigenen Daseins. Sinn hat immer etwas mit Werten zu tun. Wozu kann ich Ja sagen? Was ist mir wichtig? Worauf ver142

lasse ich mich? In dem Maß, in dem die Person wächst, wird sie sowohl zu Selbst-Distanzierung (von sich absehen können) als auch zu Selbst-Annahme (sich selbst in Empfang nehmen) fähig. So wie scheiternde Kommunikation in die Selbstzerstörung führt, ist gelingende Kommunikation Zuwendung zum Leben. Zu-Wendung meint, das eigene Leben in Glück und Schmerz, in Lust und Leid wieder zu fühlen, es anzunehmen und zu gestalten.

Wann beginnen? Weil die stationäre medizinische Behandlung der meist schweren körperlichen Verletzungen in der Regel mehrere Monate in Anspruch nimmt, bleibt genügend Zeit, um einen therapeutischen Kontakt aufzubauen. Die Erfahrung zeigt, dass es für den weiteren Behandlungsverlauf wichtig ist, möglichst frühzeitig Kontakt zu den Patienten herzustellen und so die Chance zu nutzen, vor der Wiedererrichtung der nach einem Suizidversuch typischen Widerstände eine therapeutische Beziehung zu etablieren. Ich gehe darum zu den Patienten auf die BrandverletztenIntensivstation, auch wenn sie noch beatmet und narkotisiert sind, um einen ersten Eindruck zu bekommen. Langsam stelle ich mich auf diesen Menschen ein, schaue ihn an und nehme sein Körperbild in mich auf. In der Regel lese ich den Bericht des Notarztes über den Ablauf und die Umstände des Selbstverbrennungsversuchs, soweit sie bekannt sind. Manchmal melden sich Angehörige oder Freunde, Nachbarn oder Arbeitskollegen. Ihre Besorgnis und Erschütterung, ihre Fragen und ihre Ratlosigkeit erweitern mein Wissen um den Patienten. Er wird zu einer Person mit einer Geschichte, einem Schicksal, einem Ausdruck. Ich bin immer wieder froh, dass es am Anfang diese Verzögerung gibt. Nichts drängt, sofort aktiv zu werden und reagieren zu müssen. Man darf unwissend sein und muss nichts verstehen. Man selber ist ja verstört und voller Fragen. So aber entsteht unmerklich und behutsam Beziehung und Kontakt. Wenn dann der Patient langsam wach wird und von 143

der Beatmung abtrainiert wird, wenn er zum ersten Mal mit einem Sprechaufsatz trotz Tracheostoma4 sprechen kann und ich bei meinem kurzen Besuch – der Hygienevorschrift zuwider – den Mundschutz abnehme, damit er einmal mein Gesicht sehen kann, ist er mir nicht mehr ganz so fremd.

Der zeitliche Rahmen Die aufwendige Pflege Schwerbrandverletzter mit regelmäßigen Verbandswechseln in Narkose, die operative Deckung von Restdefekten und die intensive physio- und ergotherapeutische Behandlung machen es notwendig, das therapeutische VierSchritte-Schema zwar beizubehalten, die zeitliche Gestaltung aber flexibel an die stationären Gegebenheiten und die individuellen Möglichkeiten des Patienten anzupassen. Zwei bis drei Sitzungen pro Woche sind realistisch. Diese zeitliche Dehnung gibt dem Patienten Raum für seine innere Entwicklung und Vertiefung. Jede der vier therapeutischen Einheiten, Befunderhebung, Eindruck, Selbstdistanzierung und Ausdruck, die jeweils einen geschlossenen Schwerpunkt bilden, kann aus unterschiedlich vielen Einzelsitzungen bestehen.

Zwei Therapieverläufe Ich gebe zwei Therapieverläufe in Ausschnitten wieder und schildere den Prozess der 29-jährigen Referendarin Barbara (Patientin Herr Scholz, S. 35) und des 21-jährigen Hannes (Patient Hannes, S. 38). Beide Verläufe zeigen die wichtige Rolle, die die Trias Scham, Wut und Feuer für die suizidale Dynamik spielt.

4 Von außen operativ angelegte Öffnung der Luftröhre.

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Barbara Schon am Tag nach dem Erstinterview bittet die junge Frau um ein Gespräch. Ich gehe zu ihr auf die Station. Wir sind allein, die Mitpatientin ist unterwegs. Barbara wirkt angespannt. »Meine Mutter hat gerade angerufen. Sie möchte sich mit Ihnen treffen.« »Wissen Sie, was Sie von mir will?« »Sie will mit Ihnen reden …« »Worüber, haben Sie eine Vorstellung?« Sie zögert. »Sie schaltet sich ja immer ein … irgendwie macht sie das unruhig.« »Ihre Mutter sorgt sich?« »Ich weiß nicht … sie muss immer alles wissen … ich hab ihr auch immer alles erzählt.« »Es ist gut, jemanden zu haben, der einen kennt.« Sie strafft sich mit einem Ruck, sieht mich durchdringend an und sagt mit schneidender Stimme: »Glauben Sie, dass sie mich kennt? Glauben Sie, dass sie mich kennen will?« Ich bin von diesem Stimmungsumschwung überrascht. »Das klingt bitter, was Sie sagen …« »Finden Sie?!« »Das klingt so, als ob Sie denken, Ihre Mutter verstehe Sie gar nicht wirklich.« Die Patientin schaut mich an, dann schweift ihr Blick ab. Schließlich sagt sie leise und verhalten: »Ich habe nur sie. Irgendwie war sie immer da. Sie hat mir immer geholfen … Das ist ja auch für meine Mutter nicht leicht. Mein Vater ist schon lange tot, sie hat nur mich … und sie hat eben gehofft … das war ja auch so.« Sie bricht ab und sieht verloren aus dem Fenster. »Sie hat an Sie geglaubt …« Das Gesicht der Patientin wird hart und verschließt sich. Mir ist klar, dass sie an dieser Stelle jetzt nicht weiter sprechen kann. Darum sage ich: »Ich spüre, wie weh Ihnen das tut und wie hin- und hergerissen Sie sind. Wenn Sie mögen, sehen wir uns morgen wieder. Wir haben Zeit … Vielleicht finden 145

wir einen Weg … Ja, und mit Ihrer Mutter möchte ich im Augenblick nicht sprechen. Ich finde, darüber sollten wir erst noch reden.« Am Nachmittag dieses Tages ruft mich die Mutter der Patientin an. »Ich hatte meine Tochter gebeten, Ihnen auszurichten, dass ich mit Ihnen sprechen möchte.« »Ja, das hat sie auch getan.« »Ich habe auf Ihren Anruf gewartet, schließlich macht man sich ja Sorgen …« »Das kann ich gut verstehen nach all dem, was passiert ist.« »Was machen Sie denn mit ihr … worüber reden Sie? Ich muss das wissen. Irgendwann wird sie bei Ihnen entlassen und dann bin ich ja wieder dran.« »Sie meinen, Sie haben dann wieder die Verantwortung für Ihre Tochter?« »Natürlich, wer denn sonst. Sie sind dann ja nicht da. Wenn’s drauf ankommt, ist keiner da außer mir.« »Ihre Tochter und ich haben uns erst zweimal zum Gespräch getroffen. Ich verstehe noch viel zu wenig von dem, was Ihre Tochter beschäftigt.« »Ich will nicht, dass sich jemand zwischen Barbara und mich drängt. Das war eine Kurzschlusshandlung, sie war einfach überarbeitet. Wir werden das schaffen.« »Geben Sie Barbara ein bisschen Zeit. Die Wunden heilen gut, die Transplantate gehen an, also, das ist alles sehr positiv. Und ihre Seele muss sich ordnen.« »Das weiß ich, ich kenne meine Tochter schon länger.« »Dann spüren Sie, wann Sie sie fragen können.« »Ich werde in der kommenden Woche mal nach Hamburg kommen. Ich möchte dann mit Ihnen sprechen.« Ich verkneife mir, mit »Jawoll, gnädige Frau!« zu antworten. In der sehr ausführlichen Sitzung am Tag darauf ist das ambivalente Verhältnis der Patientin zu ihrer Mutter das Thema. Es wird deutlich, dass sie ihre Mutter angesichts der von ihr empfundenen Lebensuntüchtigkeit braucht, und dass diese Selbsteinschätzung Quelle von großer Wut und Scham ist. »Ich brauche sie doch«, sagt die Patientin »und ich bin immer noch, immer, immer die kleine Babs, die das alles nicht 146

kann und die zu blöd ist für das Leben.« Sie erzählt, wie das Verhältnis zu Mutter nach dem Tod des Vaters immer enger geworden sei, wie die Mutter zur Vertrauten wurde. »Männer hatten da kaum Chancen, oder?« Sie lacht kurz, wird dann aber sofort wieder ernst. »Nee, die wurden sehr beguckt, und die haben das dann gemerkt … Es war auch keiner dabei …« »Keiner, der der Richtige war?« »Ja, so ungefähr, ich weiß nicht.« »Das hört sich nach schwierigen Verhältnissen an.« »Ich weiß nicht … Ich kann nichts machen.« Sie schweigt. Der Blick wandert aus dem Fenster in die Ferne. »Und wenn man was macht, wenn man was versucht, dann wird’s wahrscheinlich schwierig,« sage ich. »Man kann nichts machen«, wiederholt sie. »Und haben Sie etwas gemacht?« »Das war falsch.« »Das war falsch … War es vielleicht nötig?« »Ich verstehe das nicht. Ich will das nie wieder erleben.« Ich zögere, bevor ich sage: »Es klingt vielleicht eigenartig, aber ich finde: So wie Sie es getan haben, steckt auch eine verzweifelte Sehnsucht drin.« Sie sieht mich erstaunt an. »Ich habe mich gehasst,« sagt sie schließlich mit tonloser Stimme. »Und ich war einfach müde.« »Was wäre gut gewesen? Hätte es etwas gegeben, was Ihnen geholfen hätte?« Sie zuckt mit den Schultern. Mehr zu sich selbst als zu mir sagt sie dann: »Ich glaube, ich wäre eine gute Lehrerin geworden … Schüler mochten mich. Grad’ die, die irgendwie Schwierigkeiten hatten, haben gemerkt … die haben gemerkt, dass ich das verstehe, wenn jemand nicht so kann.« »Wenn jemand da gewesen wäre, der begriffen hätte, in was für einer ausweglosen Situation Sie gesteckt haben … das wäre gut gewesen?« »Vielleicht.« »Aber es gab niemanden, der geredet hat.« »Was soll man da reden … Ich hab alle enttäuscht. Meine Mutter war verzweifelt … Es war zu Ende.« 147

Nach einer Pause fährt sie fort: »Ich hab das ja schon manchmal gemacht: einfach etwas getan, wenn ich nicht mehr konnte.« »Darum das Feuer: Wegen des Hasses und der Scham und um wegzukommen?« »Ich kann nicht darüber reden … bitte hören Sie auf.« Die Frage nach der Leistung, dem »Immer-gut-Sein«, die im Erstinterview dominierte und mit dem Motiv des mangelnden Selbstwertgefühls und der intensiven Selbstverachtung assoziiert war, erwies sich in diesem und in dem nächsten Gespräch als ein Aspekt des großen Themas der gegenseitigen Abhängigkeit von Mutter und Tochter. Immer deutlicher wurde, wie sehr die Patientin unter der bevormundenden, kontrollierenden Art ihrer Mutter litt, aber wie bedeutsam auch der Wunsch war, es der Mutter recht zu machen und von ihr anerkannt zu werden. Auch die Mutter erlebte sich als überfordert und stark belastet durch die Lebensuntüchtigkeit ihrer Tochter. Die Aussicht auf unabsehbare Zeit für sie sorgen zu müssen, setzte sie unter großen Druck. Andererseits war die Tochter nach dem Tod des Ehemanns Lebensmitte und Lebensaufgabe und darum unverzichtbar und unersetzlich. Der Suizidversuch lässt sich als tragischer Lösungsversuch verstehen: Beginnt die Patientin sich von den Ansprüchen und Vorgaben der Mutter zu emanzipieren und versucht sie auf eigene Weise ihre Begabung zu leben, verliert sie möglicherweise die mütterliche Anerkennung und damit den für sie notwendigen Rückhalt. Bleibt sie aber der Mutter innerlich verbunden und übernimmt sie deren Urteil, eine Versagerin zu sein, gibt sie ihr Wesen preis. Sich zu trennen, heißt schuldig zu werden. Zu bleiben bedeutet, sich wegen der eigenen Unfähigkeit zu schämen. Das Feuer als Selbsttötungsmittel zu wählen, könnte dann diese zwei Tendenzen ausdrücken: sich selbst zu bestrafen und sich aus diesem unerträglichen Dilemma radikal zu erlösen. Sich der ganzen Tragweite dieses tragischen Konflikts zu stellen, war der Patientin in unseren Gesprächen nicht möglich. Es gelang mir nicht, die Ansprüche an sich selbst zu relati148

vieren und die Angst vor dem Verlust der mütterlichen Zuneigung etwas zu dämpfen. Vier Wochen nach dem hier wiedergegebenem Gespräch wurde die Patientin mit ihrer Einwilligung in eine Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie verlegt. Nach vier Monaten erhielt ich die Nachricht, dass sie sich dort erhängt hat.

Hannes Drei Tage nach dem Erstinterview folgt das nächste Gespräch. Wir sitzen uns in meinem Zimmer gegenüber. Ich frage ihn, wie er den Wechsel von der Intensivstation auf die Anschlussstation empfindet. Hannes erzählt von der größeren Bewegungsfreiheit, unruhigen Nächten und schmerzhaftem Verbandwechseln ohne die bisher gewohnte Kurznarkose. Vor allem eine Spalthautentnahmestelle am linken Oberschenkel heilt nicht, sondern nässt und tut weh. »Das brennt wie Feuer«, sagt er, schlägt seinen Bademantel ein Stück zurück und zeigt mir den feuchten Verband. »Eigentlich sollte das Feuer ja vorbei sein«, sage ich, »aber es hört nicht auf.« »Ach, Scheiße, irgendwie hab ich’s mit dem Feuer … Ich hab mal gelesen, das hat mit Sex zu tun« (er lacht und wird dann wieder nachdenklich) »… ich weiß auch nicht … ich träum auch … es ist immer wieder da. Heute Nacht hab ich geträumt, ich bin in einer Garage oder so was, also jedenfalls hat alles gebrannt … Ich muss unwahrscheinlich gebrüllt haben, ich war heut Morgen total heiser … Das ist eine Scheißangst!« »Scheißangst?« Er macht eine lange Pause, sein Blick schweift ab. In verändertem Tonfall fährt er fort: »Ich war ganz alleine da oben … ich war schon oft alleine, aber da oben war ich echt alleine.« »Oben, wo oben?« »Da oben auf dem Mast … ich hab niemanden mehr gesehen. Ich war ganz allein.« »Niemand war bei Ihnen …« »Ich war ganz leicht … das ist so hoch, da sind nur noch die Vögel … Man ist da ganz weg.« 149

»Niemand war da, der Sie gehalten hat, der Ihren Namen gerufen hat?« »Ich hatte irgendwie gar keinen Gedanken mehr … Ich hab den Kanister aufgemacht und das Benzin rausgegossen … Ich weiß das gar nicht mehr. Ich habe plötzlich gebrannt, das weiß ich noch … Vielleicht von den Funken von der Hochspannungsleitung.« »Ganz oben, da wo nur noch die Vögel sind, und dann war das Feuer da.« Er schweigt und zieht seinen Bademantel fester um sich. Mehr zu sich als zu mir sagt er schließlich: »Völlig stoned … Ich muss völlig durchgeknallt gewesen sein … wie eine Fackel da oben.« »Eine lebendige Fackel …« »Das ist ja absolut krank, total irre!« »Eine lebendige Fackel, wie zum Abschied.« Er sieht mich an und es arbeitet in ihm. »Was … Abschied? … Als ich noch ’n Junge war, da haben wir manchmal im Garten gegrillt, … und dann, also am Ende hat mein Vater immer Fackeln angezündet … kurz vor Schluss …« »Die Fackeln haben es noch mal hell gemacht.« »Das war schön … da war mein Vater noch da. Man konnte noch ein bisschen über den Rasen laufen und dann war Schluss.« »Noch einmal hell und dann Schluss?« »Weiß nicht … Daran habe ich lange nicht mehr gedacht. Es waren Fackeln beim Haus.« In den nächsten beiden Sitzungen dieser ersten Therapieeinheit erzählt Hannes immer wieder von seiner Familie und seinem Zuhause, »als der Vater noch da war«. Er hat ihn sehr geliebt, sagt er immer wieder, und als der Vater weggeht, ist er sieben Jahre alt. »Da ging das Licht aus.« Und: »Im Bett habe ich immer mit ihm gesprochen.« Die Männer, mit denen seine Mutter dann zusammenlebte, hat er nicht gemocht. In diesen Sitzungen erlebt Hannes die Sehnsucht nach seinem Vater mit großer Heftigkeit und tiefem Schmerz. »Später hab ich oft ältere Freunde gehabt«, sagt er und erzählt, wie Männer ihn an150

gezogen haben und dass er gesucht hat, aber sein Vater war nicht dabei. Wie ein großes, schwarzes »Loch« fühle sich das an. Da, wo der Vater hingehört, ist es leer. Am Ende der 2. Sitzung kommen wir noch einmal auf die Fackeln zu sprechen. Sie erhellen die Dunkelheit. Sie sind weithin sichtbar. Und sie gehören »zum Garten beim Haus«. Hannes erzählt nicht nur von der Sehnsucht nach dem Vater, sondern auch von seinem Heimweh nach Hause. Ich sage: »Mit dem Feuer nach Hause gehen und nicht mehr allein sein.« Er antwortet: »Sie sind verrückt, das geht doch nicht … aber es ist verrückt.« In der 2. Phase ändert sich die Atmosphäre zwischen Hannes und mir. Als habe er Zweifel, ob es richtig war, mir so viel persönliche Details anzuvertrauen, zieht er sich zurück. Eine kleine Operation macht es für ein paar Tage unmöglich, miteinander zu sprechen. Als ich dann den Termin für ein Treffen vergesse und Hannes versetze, bricht es bei einer Begegnung auf dem Flur aus ihm heraus: »Scheiße noch mal, das können Sie mit mir nicht machen! Das macht keiner mit mir! Ich bin kein Stück Scheiße!« »Hannes, es tut mir Leid. Ich habe Ihnen wehgetan!« Er dreht sich um und verschwindet in seinem Zimmer. Am Nachmittag gehe ich zu ihm. »Ich habe Sie vergessen, als ob Sie nicht wichtig sind.« »Bin ich ja auch nicht. hören Sie auf mit der Heuchelei. Für Sie bin ich bloß einer von den brandy’s (Spitzname der Brandverletzten für Brandverletzte – Anm. C. B.) hier auf der Station.« »Sie können mir nicht vertrauen. Ich bin nicht da, obwohl ich es versprochen habe.« »Ich hab dazu keine Lust mehr. Ich hab die Schnauze voll … Ich dachte, vielleicht könnte es was werden …« »Mit uns beiden könnte es was werden?« Er schweigt, sieht mich aber zum ersten Mal wieder an. »Sie haben oft gewartet und er ist nicht gekommen.« Er schweigt und nickt. Dann erzählt er stockend von der ersten Zeit nach der Trennung seiner Eltern. Der Vater habe ihn abholen wollen und sei nicht gekommen. Er habe dann im Garten gewartet. Die Angst, die Verzweiflung und die Einsam151

keit seien nicht zum Aushalten gewesen. »Innerlich hat es in mir gebrannt«, sagt er, »und ich habe mich geschämt … Ich hatte ja keinen Vater.« In den folgenden drei Sitzungen erfahre ich, dass Hannes seinen Vater nicht mehr wiedergesehen hat. »Er hätte kommen müssen. Er wusste doch, wie es mir geht … Warum hat er mich nicht mitgenommen? Warum hat er mich vergessen?!« Es gelingt uns, miteinander über Enttäuschungen, Verletzungen, unerfüllte Wünsche und Verrat in Beziehungen zu sprechen und darüber, wie schwer es ist, mit einer Wunde in der Seele zu leben. Hannes fragt nach meinen Kindern und ich sage ihm, dass ich einen Sohn habe, der so alt ist wie er war, als sein Vater die Familie verließ. »Der mag Sie doch bestimmt.« »Ja«, sage ich. »Sie dürfen ihn nie enttäuschen, verstehen Sie, das bringt ihn um.« Hannes ist zunehmend in der Lage, über die schweren Erlebnisse seiner Kindheit so mit mir zu sprechen, dass der zeitliche und vor allem emotionale Abstand zwischen früher und jetzt deutlich wird. Er gewinnt an Sicherheit im Umgang mit seinem Schmerz. Im Stationsalltag kommt er gut zurecht. Schwestern und Pfleger mögen ihn. Bei den Mitpatienten ist er wegen seines Humors und seiner unkomplizierten Art beliebt. Er erhält ein hohes Maß an aufmunternder Aufmerksamkeit. Sie tut ihm sichtlich gut und dämpft die immer wieder durchbrechende Scham über seinen Rückfall in der Drogentherapie. Die 3. Phase des Therapieprozesses beginnt, als Hannes noch einmal auf seinen Selbstverbrennungsversuch zu sprechen kommt. »Ich muss völlig daneben gewesen sein!« »Vielleicht auch nicht … Manchmal haben Dinge einen geheimen Sinn.« »Sie meinen das Feuer?« »Das Feuer und den hohen Mast …« »Mir geht das mit der Gartenfackel nicht aus dem Kopf. Also … wenn ich so ’ne Fackel war da oben, was sollte das?« 152

»Sie meinen: Welchen Sinn hatte das?« »Ja, … eine Fackel, … also die leuchtet, die sieht man …« »Die soll man sehen, die will gesehen werden!« »Sie meinen: Ich wollte gesehen werden? Aber ich wollte doch weg!« »Wohin wollten Sie?« »Ach, ich weiß nicht … Irgendwohin, wo es ruhig ist … Ich habe mich so geschämt … Ich schäme mich ja immer noch!« »Und manchmal will man trotzdem etwas sagen.« »Da gab es nichts mehr zu sagen.« »Nein, mit Worten nicht …« »Naja, das Feuer war ja zu sehen …« »Sie waren im Feuer zu sehen!« »Ich verstehe das nicht … wenn ich brenne … Sie meinen, dass ich eine Fackel war? Dass die Leute sehen sollten?« »Vielleicht, ja …« »Aber ich bin doch keine Leuchte!« Er lacht. »Sie werden das Feuer wirklich nicht mehr los! In unserem ersten Gespräch haben Sie gesagt: Ich bin ein Stück Scheiße!« »Ja, aber Scheiße brennt ja nicht!« Wir lachen jetzt beide. »Also können Sie nicht wirklich ein Stück Scheiße sein!« »Ich weiß nicht … Ich möchte das nicht noch mal tun. Ich hab mir selber wehgetan.« In der nächsten Sitzung dreht sich das Gespräch um die Frage, ob Hannes bei der Einrichtung in Süddeutschland, in der er einen Drogenentzug gemacht hat, anrufen soll. Nach längerem Zögern meldet er sich dort und erhält das Angebot, die unterbrochene Therapie fortzusetzen. Ein halbes Jahr nach seiner Entlassung aus der stationären Behandlung im Brandverletzten-Zentrum berichtet er in einem kurzen Brief, dass er in der Nähe der Therapieeinrichtung eine Lehre anfangen wird.

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10. Schluss

»Quantum mortalia pectora caeca noctis habent« (Ovid). »Ja, wieviel an dunkler Nacht doch die Sterblichen haben.« Wer könnte sich angesichts des Leids schwer brandverletzter Suizidenten diesem Eindruck entziehen. Die Nacht der Verzweiflung mit einem Feuer zu erhellen, ein Signal der eigenen Befindlichkeit zu geben und so auf sich aufmerksam zu machen, ist darum verständlich und gleichzeitig zutiefst tragisch. Und doch: Die Selbstverbrennung ist der Versuch einer Lebensbewältigung, einer Suche nach Sinn, und noch im Scheitern der Kommunikation ist der Wunsch zu erkennen, geachtet und anerkannt leben zu können. Menschen nach einem Selbstverbrennungsversuch trotz des monströsen Suizidmittels nicht auszugrenzen, sondern ihren Hilferuf aufzunehmen und ihnen zu helfen, lebensdienliche Formen des Umgangs mit den Gefühlen der Scham, der Minderwertigkeit und Kränkung zu finden, also auf Lebensperspektiven hinzuweisen, ist das Ziel dieses Buches.

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Dank

Dieses Buch wäre ohne das Wissen und die Hilfe vieler Menschen nicht entstanden. Ich danke den Patientinnen und Patienten, denen ich im Brandverletzten-Zentrum des Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhauses in Hamburg begegnet bin und die bereit waren, mich an ihrem Leben teilnehmen zu lassen und mir ihre Erfahrungen mitzuteilen. Die Anästhesisten CA Dr. P. Voeltz und Ltd. OA Dr. S. Lönnecker und die Plastischen Chirurgen Ltd. OA Dr. F. Bisgwa und Dr. E. Striepling haben meine Arbeit ebenso unterstützt wie das Team der Brandverletzten-Intensivstation (Leitung M. Auweiler) und der Brandverletztenstation, 2. Phase (Leitung C. Stengel). Aber ohne die an- und aufregende, kritische und ermutigende Förderung durch Prof. em. Dr. K.-P. Jörns wäre aus einer Idee niemals diese Untersuchung geworden. Ihm verdanke ich die wesentlichen Anstöße und Einsichten. Ich widme ihm dieses Buch in großer Dankbarkeit.

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Psychotherapie der Suizidalität HAMBURGER BEITRÄGE DER SUIZIDALITÄT

ZUR

PSYCHOTHERAPIE

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So hab ich doch was in mir, das Gefahr bringt Perspektiven suizidalen Erlebens 1999. 190 Seiten mit 4 Abb., kart. ISBN 3-525-45837-1

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Aber mein Inneres überlaßt mir selbst Verstehen von suizidalem Erleben und Verhalten 2000. 172 Seiten, kart. ISBN 3-525-45900-9

5: Ines Kappert / Benigna Gerisch / Georg Fiedler (Hg.)

Ein Denken, das zum Sterben führt Selbsttötung – das Tabu und seine Brüche 2004. 200 Seiten, kart. ISBN 3-525-45903-3

Elmar Etzersdorfer / Georg Fiedler / Michael Witte (Hg.)

Neue Medien und Suizidalität Gefahren und Interventionsmöglichkeiten Unter Mitarb. von Jürgen Schramm und Jürgen Kratzenstein. 2003. 294 Seiten mit 12 Abb. und 3 Tab., kart. ISBN 3-525-46175-5

3: Benigna Gerisch / Ilan Gans (Hg.)

Jürgen Kind

Ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt

Die Psychoökonomie einer Suche 3. Auflage 1998. 203 Seiten, kart. ISBN 3-525-45749-9

Autodestruktivität und chronische Suizidalität 2001. 148 Seiten, kart. ISBN 3-525-45901-7

Erik Wenglein / Arno Hellwig / Matthias Schoof (Hg.)

4: Benigna Gerisch / Ilan Gans (Hg.)

So liegt die Zukunft in Finsternis Suizidalität in der psychoanalytischen Behandlung 2003. 162 Seiten, kart. ISBN 3-525-45902-5

Suizidal

Selbstvernichtung Psychodynamik und Psychotherapie bei autodestruktivem Verhalten 1996. 187 Seiten mit 9 Abb. und 27 Tab., kart. ISBN 3-525-45786-3