Fermats letzter Satz 9783446193130, 3446193138

Der Satz des Pythagoras: a-Quadrat + b-Quadrat = c-Quadrat steht im Zentrum des Rätsels, um das es hier geht. Diese &quo

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German Pages 364 Year 1998

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Table of contents :
Cover......Page 1
Kapitel 1-3......Page 8
Kapitel 7-8......Page 9
Anhang......Page 10
Zum Geleit......Page 11
Einleitung......Page 19
Cambridge, 23. Juni 1993......Page 25
Das letzte Problem......Page 29
Alles ist Zahl......Page 37
Der absolute Beweis......Page 44
Eine Unendlichkeit von Zahlentripeln......Page 50
Vom Satz des Pythagoras zum letzten Satz Fermats......Page 53
Der Fürst der Amateure......Page 59
Die Entwicklung der Zahlentheorie......Page 69
Die Geburt eines Rätsels......Page 81
Die Randnotiz......Page 85
Der letzte Satz wird endlich veröffentlicht......Page 88
3 Eine Schande für die Mathematik......Page 97
Der mathematische Zyklop......Page 98
Kleine Schritte......Page 116
Monsieur Le Blanc......Page 125
Die versiegelten Umschläge......Page 137
4 Der Weg in die Abstraktion......Page 149
Die Ära der Puzzles, Knobeleien und Rätsel......Page 153
Die Fundamente des Wissens......Page 162
Unwiderstehliche Neugier......Page 179
Mit roher Gewalt......Page 181
Der Doktorand......Page 194
5 Beweis durch Widerspruch......Page 205
Wunschdenken......Page 216
Tod eines Genies......Page 219
Philosophie des Guten......Page 221
Das fehlende Glied......Page 228
6 Die geheime Berechnung......Page 237
Der Eremit in der Dachkammer......Page 239
Duell mit dem Unendlichen......Page 242
Der erste Dominostein kippt......Page 261
»Fermatproblem gelöst?«......Page 265
Das dunkle Haus......Page 269
Die Methode von Kolywagin und Flach......Page 271
Der Vortrag des Jahrhunderts......Page 277
Das Nachbeben......Page 282
7 Ein kleines Problem......Page 287
Der Teppichflicker......Page 290
Ein Alptraum aus der E-Mail......Page 301
Das Geburtstagsgeschenk......Page 304
8 Große Vereinheitlichung der Mathematik......Page 311
Große ungelöste Probleme......Page 314
Silikonbeweise......Page 326
Der Preis......Page 337
1. Der Beweis für den Satz des Pythagoras......Page 343
2. Euklids Beweis, daß 2 irrational ist......Page 344
3. Das Rätsel um das Alter des Diophantos......Page 346
5. Euklids Beweis, daß es eine unendliche Anzahl pythagoreischer Tripel gibt......Page 347
6. Beweis der Punktevermutung......Page 348
7. Irrweg ins Absurde......Page 350
8. Die Axiome der Arithmetik......Page 351
10. Beispiel für einen Beweis durch Induktion......Page 352
Vorschläge zur weiteren Lektüre......Page 355
Bildnachweis......Page 359
Personenverzeichnis......Page 361
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Fermats letzter Satz
 9783446193130, 3446193138

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Ein Wissenschaftskrimi als Weltbestseller: Simon Singh erzählt die Jagd nach der Lösung eines scheinbar einfachen mathematischen Problems, an dem die klügsten Köpfe über 350 Jahre scheiterten. »Alles andere als ein trockenes Lehrbuch, liest sich dieses Buch wie die Chronik einer obsessiven Liebesaffäre.« (Daily Mail) »Wer dieses Buch liest, gewinnt Einblick in eine Welt der Schönheit und der intellektuellen Herausforderungen, die gewöhnlich jenen 99,9% der Menschheit verschlossen bleibt die keine Spitzenmathematiker sind.« (The Times)

Simon Singh, ein junger Wissenschaftsjournalist von der BBC, sorgt für Furore: Sein erstes Buch eroberte in wenigen Wochen die britischen Bestsellerlisten und wird bald in alle Sprachen übersetzt sein. Dabei handelt dieses Buch von einem Thema, das vielen von uns in der Schule vergällt wurde: Von der Mathematik – aber eben nicht vom mechanischen Rechnen und Beweisen, sondern von der eigentümlichen Faszination, die von den rätselhaften Gesetzen und überraschenden Eigenschaften der Zahlen ausgeht. Simon Singh ist das Kunststück gelungen, die Geschichte der modernen Mathematik als Wissenschaftskrimi für Laien und Profis zu erzählen. Diese Geschichte beginnt vor mehr als 350 Jahren. Im 17. Jahrhundert notierte der französische Jurist und Mathematiker Pierre de Fermat eine Vermutung, die jeder Laie verstehen kann, an deren Beweis jedoch die besten Mathematiker bis vor wenigen Jahren scheiterten. Auch Fermat selbst blieb ihn schuldig. Seit dieser Zeit bemühten sich die besten Köpfe der Mathematik, »Fermats letzten Satz« zu beweisen. Manche von ihnen fanden dabei ganz zufällig die Lösung für andere, weit kompliziertere Probleme. Einem Gelehrten schließlich rettete Fermats Vermutung buchstäblich das Leben: Paul Wolfs kehl, der bereits den Revolver bereitgelegt hatte, um sich wegen einer unglücklichen Liebe umzubringen, kam in letzter Minute auf eine neue Idee, wie das Rätsel zu lösen sei. Auch ihm

blieb der Erfolg versagt, aber immerhin faßte er nun neuen Mut, weiterzuleben. Als er 1908 eines natürlichen Todes starb, setzte er ein Vermögen als Preis für den Beweis der Fermat’schen Vermutung aus. Erst 1995 gelang dem britischen Mathematiker Andrew Wiles nach siebenjähriger geheimer Arbeit der Durchbruch. Weitere zwei Jahre dauerte es, bis sein Beweis, immerhin 180 Seiten lang, die strengen Prüfungen internationaler Experten bestanden hatte. Dann aber stand fest: Andrew Wiles zählt zu den größten Mathematikern der Geschichte, mit seiner Lösung hat er seinem Fach neue Dimensionen erschlossen. In einer feierlichen Zeremonie nahm er im Sommer 1997 in der Akademie der Wissenschaften in Göttingen den Wolfskehl-Preis entgegen. Simon Singh, geboren 1964 in Wellington, Somerset, studierte Physik und arbeitet nun als Wissenschaftsjournalist bei der BBC. Sein Dokumentarfilm über Fermats letzten Satz wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung eines Holzschnittes von Wenzel Jamnitzer (Nürnberg, 1568)

Simon Singh Fermats letzter Satz Die abenteuerliche Geschichte eines mathematischen Rätsels Aus dem Englischen von Klaus Fritz

Carl Hanser Verlag

Titel der Originalausgabe: Fermat’s Last Theorem. The Story of a Riddle that Confounded the World’s Greatest Minds for 358 Years Fourth Estate, London Copyright © 1997 by Simon Singh Foreword copyright © 1997 by John Lynch

1 2 3 4 5

03 02 01 00 99

ISBN 3-446-19313-8 Alle Rechte der deutschen Ausgabe: © Carl Hanser Verlag München Wien 1998 Satz: Dr. Ulrich Mihr GmbH, Tübingen Druck und Bindung: Kösel, Kempten Printed in Germany

Zur Erinnerung an Pakhar Singh

Inhalt

Zum Geleit

11

Einleitung

19

1 »Ich denke, das genügt!«

25

Cambridge, 23. Juni 1993 Das letzte Problem Alles ist Zahl Der absolute Beweis Eine Unendlichkeit von Zahlentripeln Vom Satz des Pythagoras zum letzten Satz Fermats 2 Das Rätsel Der Fürst der Amateure Die Entwicklung der Zahlentheorie Die Geburt eines Rätsels Die Randnotiz Der letzte Satz wird endlich veröffentlicht 3 Eine Schande für die Mathematik Der mathematische Zyklop Kleine Schritte Monsieur Le Blanc Die versiegelten Umschläge

25 29 37 44 50 53 59 59 69 81 85 88 97 98 116 125 137

4 Der Weg in die Abstraktion Die Ära der Puzzles, Knobeleien und Rätsel Die Fundamente des Wissens Unwiderstehliche Neugier Mit roher Gewalt Der Doktorand 5 Beweis durch Widerspruch

149 153 162 179 181 194 205

Wunschdenken Tod eines Genies Philosophie des Guten Das fehlende Glied

216 219 221 228

6 Die geheime Berechnung

237

Der Eremit in der Dachkammer Duell mit dem Unendlichen Der erste Dominostein kippt »Fermatproblem gelöst?« Das dunkle Haus Die Methode von Kolywagin und Flach Der Vortrag des Jahrhunderts Das Nachbeben 7 Ein kleines Problem Der Teppichflicker Ein Alptraum aus der E-Mail Das Geburtstagsgeschenk 8 Große Vereinheitlichung der Mathematik Große ungelöste Probleme Silikonbeweise Der Preis

239 242 261 265 269 271 277 282 287 290 301 304 311 314 326 337

Anhang

341

1. Der Beweis für den Satz des Pythagoras 2. Euklids Beweis, daß 2 irrational ist 3. Das Rätsel um das Alter des Diophantos 4. Bachets Wiegeproblem 5. Euklids Beweis, daß es eine unendliche Anzahl pythagoräischer Tripel gibt 6. Beweis der Punktevermutung 7. Irrweg ins Absurde 8. Die Axiome der Arithmetik 9. Die Spieltheorie und das Triell 10. Beispiel für einen Beweis durch Induktion

343 344 346 347

Vorschläge zur weiteren Lektüre

355

Bildnachweis

359

Personenverzeichnis

361

347 348 350 351 352 353

Zum Geleit Zu guter Letzt hatten wir uns doch noch getroffen. In dem keineswegs überfüllten Raum, groß genug immerhin, um zu besonderen festlichen Anlässen alle Mitglieder des mathematischen Fachbereichs von Princeton aufzunehmen, schritten wir aufeinander zu. Nicht allzu viele waren an jenem Nachmittag gekommen, doch schon war ich mir unsicher geworden, wer von den Anwesenden denn nun Andrew Wiles sein mochte. Nach einer Weile fiel mein Augenmerk auf einen etwas scheu wirkenden Mann, der an seinem Tee nippte und sich, den Gesprächen lauschend, jenem rituellen Stelldichein von Denkern widmete, das die Mathematiker überall auf der Welt um vier Uhr nachmittags veranstalten. Wiles seinerseits erriet einfach, wer ich war. Eine außergewöhnliche Woche ging zu Ende. Ich hatte einige der besten Mathematiker der heutigen Zeit getroffen und erste Einsichten in ihre Welt gewonnen. Doch trotz all meiner Versuche, Andrew Wiles’ habhaft zu werden, um ihn für einen Dokumentarfilm der Horizon-Reihe der BBC zu gewinnen, war dies unsere erste Begegnung. Dies also war der Mann, der kurz zuvor verkündet hatte, er habe den heiligen Gral der Mathematik entdeckt; der Mann, der den Anspruch erhob, Fermats letzten Satz bewiesen zu haben. Während wir sprachen, machte Wiles einen zerstreuten und abwesenden Eindruck, und trotz seiner höflichen und freundlichen Art war deutlich, daß er mich zum Kuckuck wünschte. Er könne sich, erklärte er ganz schlicht, unmöglich mit etwas anderem befassen als mit seiner Arbeit, die in der entscheidenden Phase sei. Später jedoch, vielleicht wenn der Druck nachgelassen habe, würde er gerne teilnehmen. Ich wußte – und er wußte, daß ich es wußte –, daß sein Lebenswerk zu zerbrechen drohte und daß der heilige Gral, den er in Händen gehalten hatte, sich nun als zwar recht hübsches

und wertvolles, doch eben nur als ein Trinkgefäß entpuppte. Er hatte in seinem feierlich verkündeten Beweis einen Fehler entdeckt. Die Geschichte des letzten Satzes von Fermat ist einzigartig. Als ich Andrew Wiles kennenlernte, war mir klar, daß es sich um eine der wirklich großen Unternehmungen auf wissenschaftlichem und theoretischem Gebiet handelte. Im Sommer 1993 hatte ich die Schlagzeilen gelesen, als mit dem Beweis das Thema Mathematik auf die Titelseiten der Weltpresse vordrang. Damals konnte ich mich nur vage erinnern, worum es bei Fermats letztem Satz ging, doch wurde mir klar, daß es sich um ein ganz besonderes Ereignis handeln mußte – wie geschaffen für einen Ho rizon-Film. In den Wochen darauf sprach ich mit vielen Mathematikern: die einen waren selbst am Geschehen beteiligt oder standen Andrew nahe, die ändern waren einfach hellauf begeistert, einen großen Augenblick in der Geschichte ihrer Disziplin mitzuerleben. Sie alle teilten ihre Einsichten in die Geschichte der Mathematik großzügig mit mir und verhalfen mir mit geduldigen Worten zu dem bißchen Verständnis der einschlägigen Begriffe, welches mir möglich war. Rasch wurde klar, daß es sich hier um einen Stoff handelte, den vielleicht ein halbes Dutzend Menschen auf der ganzen Welt vollständig durchdringen konnten. Eine Zeitlang fragte ich mich, ob es nicht verrückt von mir wäre, einen solchen Film in Angriff zu nehmen. Doch die Mathematiker schilderten mir auch die bewegte Geschichte und die tiefere Bedeutung des Fermatsatzes für sie selbst und für ihr Fach, und darin, so wurde mir klar, lag die eigentliche Story. Ich erfuhr, daß das Problem bei den alten Griechen seinen Ausgang genommen hat und daß Fermats letzter Satz als Himalajagipfel der Zahlentheorie gilt. Ich lernte die eigentümliche Schönheit der Mathematik kennen und begann zu begreifen, was es heißt, wenn die Mathematik als die Sprache der Natur bezeichnet wird. Dank Wiles’ Zeitgenossen konnte ich mir nun vorstellen, welche Herkulesarbeit es gewesen sein mußte, sämtliche neueren Verfahren der Zahlentheorie zusammenzuführen und für den Beweis einzusetzen. Andrews Freunde in Princeton berichteten mir von sei-

nen zähen Fortschritten während der Jahre einsamer Arbeit. Andrew Wiles und das Rätsel, das sein Leben beherrschte, erschienen mir immer außergewöhnlicher, doch offenbar war es mein Schicksal, diesen Menschen selbst nie zu treffen. Obwohl die Mathematik, die in Wiles’ Beweis steckt, zur schwierigsten überhaupt gehört, stellte ich fest, daß die Schönheit des letzten Satzes von Fermat darin begründet liegt, daß das Problem selbst höchst einfach zu verstehen ist. Dieses Rätsel stellt sich in Begriffen, die schon jedem Schulkind vertraut sind. Pierre de Fermat stand in der Tradition der Renaissance, er trug entscheidend zur Neuentdeckung des Wissens der alten Griechen bei, doch er stellte eine Frage, auf die die Griechen nicht gekommen wären, und setzte damit ein Problem in die Welt, das für andere ungemein schwierig zu lösen war. Was dem Problem noch einen zusätzlichen Stachel verlieh, war die Tatsache, daß Fermat der Nachwelt eine Notiz hinterlassen hatte, die besagte, er sei im Besitz der Lösung, ohne diese jedoch zu nennen. Dies war der Beginn einer drei Jahrhunderte währenden Jagd. Die Zeitspanne allein schon läßt das Gewicht des Problems deutlich werden. Es ist schwer, in irgendeiner anderen wissenschaftlichen Disziplin ein so einfach und klar gestelltes Problem zu finden, das der Nagelprobe des fortschreitenden Wissens so lange hätte standhalten können. Denken wir an die sprunghaften Fortschritte in Physik, Chemie, Medizin und in der Technik seit dem siebzehnten Jahrhundert. Die Medizin ist, ausgehend von den »Körpersäften«, inzwischen bei der Genanalyse angelangt, die wesentlichen Bestandteile des Atoms sind entdeckt, und Menschen sind auf dem Mond gelandet, doch in der Zahlentheorie blieb die Fermatsche Vermutung unbewältigt. Während meiner Recherchen suchte ich eine Zeitlang nach einem Grund, warum sich jemand außerhalb der Mathematik für Fermats letzten Satz interessieren sollte. Die Mathematik hat eine Vielzahl praktischer Anwendungen, und die Zahlentheorie hat ihre spannendsten Anwendungen in der Kryptologie, beim Bau von Schallschutzanlagen und bei der Kommunikation mit fernen Raumfahrzeugen. Nichts davon schien angetan, ein größeres Pu-

blikum zu fesseln. Viel spannender waren die Mathematiker selbst mit ihrer Leidenschaftlichkeit, die sie zum Ausdruck brachten, wenn sie über Fermat sprachen. Mathematik ist eine der reinsten Formen des Denkens, und Außenstehenden mag es fast scheinen, als lebten die Mathematiker in einer anderen Welt. Was mich in allen Gesprächen mit ihnen verblüffte, war die außerordentliche Genauigkeit ihres Ausdrucks. Eine Frage wurde selten sofort beantwortet, ich mußte oft warten, bis der genaue Aufbau der Entgegnung im Kopf vorbereitet war, doch dann kam sie, eine sorgfältige und klar gegliederte Antwort, wie ich sie mir nur wünschen konnte. Als ich Andrews Freund Peter Sarnak darauf ansprach, erklärte er, daß es den Mathematikern einfach zuwider ist, eine falsche Aussage zu treffen. Natürlich spielen Intuition und Inspiration auch für sie eine Rolle, doch formale Aussagen müssen absolut gültig sein. Im Herzen der Mathematik steckt der Beweis, und er hebt sie auch von den anderen Wissenschaften ab. Andere Wissenschaften arbeiten mit Hypothesen, die anhand von experimentell gewonnenen Daten überprüft werden, bis sie sich als unhaltbar erweisen und durch neue Hypothesen ersetzt werden. In der Mathematik ist das Ziel der absolute Beweis, und wenn etwas einmal bewiesen ist, dann ist es für immer bewiesen, ohne Spielraum für Veränderungen. Bei der Fermatschen Vermutung sahen sich die Mathematiker vor der größten Herausforderung an den Beweis, und wer immer auch die Antwort finden würde, die Lobeshymnen aller Fachkollegen waren ihm sicher. Preise wurden ausgelobt, und die Rivalität trieb ihre Blüten. Die Geschichte des letzten Satzes von Fermat trägt vielerlei Züge, auch die von Tod und Verblendung, und die Suche nach dem Beweis hat nicht zuletzt auch die Entwicklung der Mathematik vorangetrieben. Der Harvard-Mathematiker Barry Mazur meinte, Fermat habe jenen Teilgebieten der Mathematik, auf denen die frühen Beweisversuche stattgefunden haben, einen gewissen »Animus« verliehen. Ironischerweise hat sich gerade ein solches Teilgebiet der Mathematik als entscheidend für Wiles’ endgültigen Beweis herausgestellt. Schritt für Schritt drang ich weiter in dieses mir fremde Gebiet

vor und erkannte, daß Fermats letzter Satz für die Entwicklung der Mathematik eine zentrale Rolle spielt und diese Entwicklung sogar in seiner eigenen Geschichte widerspiegelt. Fermat war der Vater der modernen Zahlentheorie, und seit seiner Zeit hat sich die Mathematik fortschreitend verändert und sich in viele schwer zugängliche Gebiete aufgeteilt. Neue Verfahren erschlossen neue Forschungsfelder, die sich wiederum verselbständigten. Im Laufe der Jahrhunderte verlor der letzte Satz zunehmend an Bedeutung für die vorderste Front der mathematischen Forschung und verwandelte sich in eine Kuriosität. Doch nunmehr ist klar, daß seine zentrale Stellung in der Mathematik nie geschwächt war. Probleme im Umkreis von Zahlen, wie das Fermatproblem, sind wie Puzzlespiele, und die Mathematiker legen mit Vorliebe Puzzles. Für Andrew Wiles war es ein ganz besonderes Puzzle und nichts weniger als sein ehrgeiziges Lebensziel. Dreißig Jahre zuvor, als Kind, war er in einer öffentlichen Bücherei auf Fermats letzten Satz gestoßen, der ihn dann nicht mehr losgelassen hatte. Als Kind wie als Erwachsener träumte er davon, das Problem zu lösen, und als er in jenem Sommer 1993 erstmals einen Beweis vorstellte, lagen sieben Jahre hingebungsvoller Arbeit hinter ihm, ein kaum vorstellbares Ausmaß an Konzentration und Entschlossenheit. Etliche der Verfahren, die er einsetzte, waren zu Anfang noch gar nicht erfunden. Er trug die Arbeiten vieler hervorragender Mathematiker zusammen, verknüpfte ihre Ideen und schuf Begriffe, vor denen andere zurückgescheut waren. In gewissem Sinne, überlegte Barry Mazur, hat sich erwiesen, daß alle an Fermat gearbeitet haben, doch jeder für sich und ohne es zu beabsichtigen, denn der Beweis nahm die ganze Kraft der modernen Mathematik in Anspruch. Andrew hatte scheinbar weit voneinander entfernte Gebiete der Mathematik von neuem miteinander verbunden. Seine Arbeit rechtfertigte daher offenbar all die Spezialisierungen, welche die Mathematik erfahren hatte, seit das Problem erstmals gestellt worden war. Als wesentliche Voraussetzung seines Beweises für den Fermatsatz hatte Andrew eine Idee bewiesen, die sogenannte TaniyamaShimura-Vermutung, die eine neue Brücke zwischen völlig unterschiedlichen mathematischen Welten geschlagen hatte. Für viele

ist das oberste Ziel die eine, vereinheitlichte Mathematik, und nun gab es einen ersten Ausblick auf diese Welt. Mit seinem Beweis der Fermatschen Vermutung hatte Andrew Wiles also einen der wichtigsten zahlentheoretischen Bausteine festzementiert, den Grundstein einer Pyramide aus Vermutungen, die darauf errichtet werden sollte. Dabei ging es nicht mehr allein um die Lösung des am längsten umkämpften mathematischen Rätsels, sondern darum, die Grenzen der Mathematik selbst auszuweiten. Es war, als ob Fermats einfach zu verstehendes Problem aus der Kindheit der Mathematik auf seine Zeit gewartet hätte. Die Geschichte des Fermatproblems war nun auf höchst spektakuläre Weise zu Ende gegangen. Für Andrew Wiles war dies auch das Ende einer beruflichen Einsiedelei, wie sie der Mathematik, m der die Zusammenarbeit gepflegt wird, weitgehend fremd ist. Beim rituellen Nachmittagstee in den Mathematikinstituten rund um den Globus treffen Ideen aufeinander, und es wird erwartet, daß neue Einsichten vor der Veröffentlichung mit ändern geteilt werden. Ken Ribet, ein Mathematiker, der selbst einen entscheidenden Beitrag zum Beweis geleistet hat, äußerte mir gegenüber nur halb im Scherz den Gedanken, gerade die Unsicherheit der Mathematiker verlange nach dem stützenden Umfeld der Kollegen. Andrew Wiles hatte all dies in den Wind geschlagen und über seine Arbeit bis kurz vor Ende Stillschweigen bewahrt. Auch daran zeigte sich das Gewicht Fermats. Wiles verfolgte mit aller Leidenschaft seinen Wunsch, dieses Problem zu lösen, eine Leidenschaft, die stark genug war, um ihr sieben Jahre seines Lebens zu widmen und über sein Ziel Stillschweigen zu bewahren. Wie abgelegen das Problem auch scheinen mochte, die Konkurrenz um Fermat hatte nie nachgelassen, das wußte er, und er hätte nie das Risiko eingehen können, offenzulegen, woran er arbeitete. Nach wochenlanger Recherche zum Thema war ich in Princeton eingetroffen. Unter den Mathematikern herrschte eine für ihre Verhältnisse hochgradige emotionale Spannung. Hier ging es, wie ich nun sah, um Konkurrenz, Erfolg, Einsamkeit, Genialität, Triumph und Eifersucht, um immensen Erfolgsdruck, um Scheitern und sogar um tragisches Leid. Im Herzen der entscheidenden Taniyama-

Shimura-Vermutung steckte das tragische Leben des Yutaka Taniyama im Japan der Nachkriegszeit, dessen Geschichte ich aus dem Munde seines engen Freundes Goro Shimura zu erfahren den Vorzug hatte. Shimura belehrte mich auch über den Begriff des »Guten« in der Mathematik, dem gemäß man spürt, daß etwas stimmig ist, weil es gut ist. Dieses Gespür für das Gute prägte gewissermaßen die Atmosphäre der Mathematik in jenem Sommer. Alle genossen den großartigen Moment. Kein Wunder, daß Andrew bei alledem die Last der Verantwortung spürte, als der Fehler sich im Laufe des Herbstes allmählich herauskristallisierte. Die Welt blickte auf ihn, die Kollegen forderten ihn auf, den Beweis zu veröffentlichen, und dennoch schaffte er es – nur er weiß, wie –, dem Druck standzuhalten. Er hatte, abgeschottet von den ändern und in seiner eigenen Gangart, Mathematik betrieben und sah sich nun der Öffentlichkeit ausgesetzt. Andrew ist ein sehr aufs Privatleben bedachter Mensch, und er kämpfte verbissen, um seine Familie vor dem Sturm zu schützen, der um ihn her losbrach. Während jener Woche, die ich in Princeton verbrachte, rief ich bei ihm an oder hinterließ Nachrichten in seinem Büro, an seiner Haustür und bei vielen Freunden; ich besorgte sogar ein Geschenk mit englischem Tee und Gebäck. Doch er sperrte sich gegen meine Avancen bis zu jenem zufälligen Treffen am Tag meiner Abreise. Wir hatten dann ein ruhiges, intensives Gespräch, das letztlich nur knapp eine Viertelstunde dauerte. Als wir uns an jenem Nachmittag trennten, hatten wir eine Abmachung getroffen. Sollte er es schaffen, den Beweis ins Lot zu bringen, würde er mich aufsuchen, um über einen Film zu sprechen; ich war bereit zu warten. Doch als ich in jener Nacht nach London zurückflog, schien mir das Fernsehprojekt gestorben zu sein. Im Laufe von nunmehr dreihundert Jahren hatte keiner jemals ein Loch in den vielen Beweisversuchen zum Satz des Fermat geflickt. Die Geschichte war ein Scherbenhaufen falscher Erfolgsbehauptungen, und so sehr ich wünschte, Andrew würde die Ausnahme sein, so schwer fiel mir die Vorstellung, er sei mehr als nur ein weiterer Stein auf diesem Friedhof der Mathematik.

Ein Jahr später kam der Anruf. Dank einer erstaunlichen mathematischen Kehrtwende und blitzartiger Inspiration und Einsicht hatte es Andrew nun doch noch geschafft, das Fermatproblem zu lösen. Ein Jahr danach fand sich die nötige Zeit für die Dreharbeiten. Inzwischen hatte ich Simon Singh angeboten, an dem Film mitzuarbeiten, und zusammen verbrachten wir einige Zeit mit Andrew. Aus seinem Munde erfuhren wir nun die ganze Geschichte jener sieben Jahre einzelgängerischer Forschung und des darauf folgenden Jahres in der Hölle. Bei den Dreharbeiten schilderte Andrew seine innersten Eindrücke von dem, was er geleistet hatte. Dreißig Jahre lang hatte er nicht von seinem Kindheitstraum abgelassen; ohne daß er es wußte, hatte seine Beschäftigung mit der Mathematik über weite Strecken letztlich dazu gedient, jene Werkzeuge zusammenzutragen, die er für die Herausforderung Fermats benötigte; sie hatte sein Berufsleben beherrscht, und nichts würde je wieder so sein wie zuvor. Er erzählte von seinem Gefühl, etwas verloren zu haben, weil das Problem ihn nicht mehr ständig begleitete, und von seinem nunmehr beschwingenden Gefühl der Erleichterung. Angesichts einer Disziplin, deren Gegenstand für ein Laienpublikum technisch ungemein schwer zu verstehen ist, war die emotionale Spannung in unseren Gesprächen stärker als alles, was ich in meinem Berufsleben als Autor von Wissenschaftsfilmen erlebt habe. Für Andrew war es das Ende eines Lebensabschnitts. Für mich war es ein Privileg, ihm nahe zu sein. Der Film wurde von der BBC unter dem Titel Horizon: Fermat’s Last Theorem gesendet. Simon Singh hat nun, immer vor dem Hintergrund der vielgestaltigen Geschichte des Fermatproblems und der Mathematik, jene Einsichten und vertraulichen Gespräche zu diesem Buch ausgearbeitet. Es schildert umfassend und erhellend eine großartige Episode in der Geschichte des menschlichen Denkens. John Lynch Redakteur der BBC-Sendereihe Horizon März 1997

Einleitung Die Geschichte des letzten Fermatsatzes berührt alle großen Themen der Zahlentheorie und ist daher untrennbar verwoben mit der Geschichte der Mathematik. Sie gewährt ungewöhnliche Einsichten in die treibenden Kräfte der Mathematik und, vielleicht noch wichtiger, in die Beweggründe und Ziele der Mathematiker selbst. Die Fermatsche Vermutung bildet das Herzstück einer fesselnden Saga, die von Kühnheit, Geflunker, Scharfsinn und tragischem Leid handelt und in der alle großen Helden der Mathematik auftreten. Fermats letzter Satz schlug seine Wurzeln in der Mathematik des alten Griechenland, zweitausend Jahre bevor Pierre de Fermat dem Problem die heute bekannte Gestalt verlieh. Der Satz verknüpft daher die von Pythagoras geschaffenen Grundlagen der Mathematik mit den fortgeschrittensten Ideen der modernen Mathematik. Ich habe für dieses Buch einen weitgehend chronologischen Aufbau gewählt. Es beginnt mit dem pythagoreischen Bund und der Schilderung seines revolutionären Ethos und endet mit der persönlichen Geschichte von Andrew Wiles’ Ringen um die Lösung von Fermats Rätsel. Kapitel 1 erzählt die Geschichte des Pythagoras und zeigt, daß der Satz des Pythagoras der direkte Vorfahre der Fermatschen Vermutung ist. In diesem Kapitel werden einige grundlegende Konzepte der Mathematik vorgestellt, die auch später immer wieder auftauchen werden. Kapitel 2 führt die Geschichte vom alten Griechenland herüber ins Frankreich des siebzehnten Jahrhunderts und zu Pierre de Fermat, der in jener Zeit das abgründigste Rätsel in der Geschichte der Mathematik stellte. Um einen Eindruck vom außergewöhnlichen Charakter Fermats zu vermitteln und seinen Beitrag zur Mathematik zu erläutern, der weit über den letzten Satz hinausgeht, verwende ich etliche Seiten auf die

Beschreibung seines Lebens und einiger seiner anderen glänzenden Entdeckungen. Die Kapitel 3 und 4 schildern einige Versuche des achtzehnten, neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, Fermats letzten Satz zu beweisen. All diese Bemühungen scheiterten zwar am Ende, doch sie trugen der Mathematik ein fabelhaftes Arsenal an Werkzeugen und Verfahren ein, manche von elementarer Bedeutung für die jüngsten Versuche, den letzten Satz von Fermat zu beweisen. Ich erläutere in diesen Kapiteln nicht nur die einschlägige Mathematik, sondern widme mich auch ausführlich jenen Mathematikern, die von Fermats Vermächtnis in Bann gezogen wurden. Ihre Lebensgeschichten zeigen, wie die Mathematik sich durch die Jahrhunderte entwickelt hat und daß die Mathematiker bereit waren, auf der Suche nach Wahrheiten alles zu opfern. Die letzten Kapitel des Buches berichten vom erstaunlichen Geschehen der vergangenen vierzig Jahre, in denen die Forschung zu Fermats letztem Satz einen revolutionären Wandel durchlaufen hat. Die Kapitel 6 und 7 sind vor allem der Arbeit von Andrew Wiles gewidmet, dessen bahnbrechende Leistungen während der vergangenen zehn Jahre die Mathematikergemeinde verblüffte. Diese letzten Kapitel beruhen auf ausführlichen Gesprächen mit Wiles. Sie waren für mich die einzigartige Gelegenheit, aus berufenem Munde von einer der erstaunlichsten geistigen Reisen des zwanzigsten Jahrhunderts zu hören, und ich hoffe, vermitteln zu können, welches Maß an Heroismus und schöpferischer Kraft Wiles für die zehn Jahre währende Anstrengung hat aufbieten müssen. Bei der Schilderung der Geschichte Pierre de Fermats und seines verblüffenden Rätsels habe ich versucht, mathematische Gedankengänge ohne Rückgriff auf Gleichungen zu erläutern, doch unweigerlich recken x, y und z hie und da ihre häßlichen Köpfe hervor. Wenn Gleichungen im Text auftauchen, bemühe ich mich, sie ausführlich zu erklären, so daß auch Leser ohne mathematischen Hintergrund in der Lage sein werden, ihre Bedeutung zu verstehen. Für Leser mit ein wenig tiefer reichendem Wissen auf dem Gebiet gehe ich in mehreren Anhängen ausführlicher auf die mathematischen Ideen ein, die im Haupttext angesprochen werden.

Zudem habe ich eine Liste mit weiteren Lektürevorschlägen aufgenommen, die vor allem den Laien näheren Zugang zu bestimmten Gebieten der Mathematik ermöglichen soll. Dieses Buch wäre nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung und die Beteiligung vieler Menschen. Besonders danken möchte ich Andrew Wiles, der mir in einer Zeit starker Belastungen großzügigerweise ausführliche und ins Detail gehende Interviews gewährte. In meinen sieben Jahren als Wissenschaftsjournalist habe ich niemanden mit mehr Leidenschaft und Engagement für sein Fach getroffen, und ich bin Professor Wiles unendlich dankbar, daß er bereit war, mir seine Geschichte zu erzählen. Ich möchte auch den anderen Mathematikern danken, die mir beim Schreiben dieses Buches halfen und mir eingehende Interviews gewährten. Mancher von ihnen war selbst ausschlaggebend am Kampf um den letzten Satz von Fermat beteiligt, andere wiederum waren Zeugen der historischen Ereignisse der letzten vierzig Jahre. Die Stunden der Fragen und der Gespräche mit ihnen bereiteten mir immenses Vergnügen, und ich weiß die Geduld und die Begeisterung zu schätzen, mit denen sie mir so viele schöne mathematische Gedanken erläuterten. Mein Dank gilt insbesondere John Conway, Nick Katz, Barry Mazur, Ken Ribet, Peter Sarnak, Goro Shimura und Richard Taylor. Ich habe versucht, dieses Buch mit möglichst vielen Porträts zu illustrieren, um den Lesern eine bessere Vorstellung von den Persönlichkeiten zu vermitteln, die an der Geschichte des letzten Satzes von Fermat teilhatten. Verschiedene Bibliotheken und Archive haben mir ausgesprochen großzügig geholfen. Danken möchte ich besonders Susan Oakes von der London Mathematical Society, Sandra Gumming von der Royal Society und Ian Stewart von der Universität Warwick. Dankbar bin ich auch Jacquelyn Savani von der Universität Princeton, Duncan McAngus, Jeremy Gray, Paul Balister und dem Isaac Newton Institute für ihre Hilfe bei der Materialrecherche. Mein Dank gilt weiterhin Patrick Walsh, Christopher Potter, Bernadette Alves, Sanjida O’Connell und meinen Eltern für ihre Kommentare zum Text und die Unterstützung während des vergangenen Jahres.

Schließlich fanden viele der in diesem Buch zitierten Interviews statt, wahrend ich an einer Fernsehdokumentation über Fermats letzten Satz arbeitete. Ich möchte der BBC für die Erlaubnis danken, dieses Material zu verwenden, und schulde meinen besonderen Dank John Lynch, der gemeinsam mit mir an der Dokumentation arbeitete und half, mein Interesse an dem Thema zu wecken.

Fermats letzter Satz

Andrew Wiles mit zehn Jahren. In diesem Alter stieß er zum ersten Mal auf Fermats letzten Satz.

1 »Ich denke, das genügt!« An Archimedes wird man noch denken, wenn Aischylos längst vergessen ist, denn Sprachen sterben, mathematische Ideen jedoch nicht. »Unsterblichkeit« mag ein dummes Wort sein, doch was immer es bedeuten mag, ein Mathematiker hat wohl die besten Chancen, unsterblich zu werden. A Mathematician’s Apology G. H. Hardy

Cambridge, 23. Juni 1993 Es war die wichtigste Mathematikvorlesung des Jahrhunderts. Zweihundert Mathematiker lauschten wie gebannt. Nur ein Viertel von ihnen verstand das dichte Gemenge aus griechischen Symbolen und algebraischen Formeln an der Tafel. Die übrigen waren einfach in der Hoffnung gekommen, Zeugen eines historischen Ereignisses zu werden. Tags zuvor waren Gerüchte laut geworden. In der elektronischen Post des Internet wurde gemunkelt, die Vorlesung werde mit der Lösung eines weltberühmten mathematischen Problems enden, mit dem Beweis von Fermats letztem Satz. Derlei Klatsch war fast alltäglich. In den Teepausen plauderten die Mathematiker häufig über das Fermatproblem und überlegten mit Vorliebe, wer wohl gerade an welchem Lösungsansatz arbeitete. Gelegentlich hörte man im Gemeinschaftsraum der Professoren mathematisches Gemurmel, und dann verdichteten sich die Spekulationen zu Gerüchten über einen Durchbruch, doch bisher hatte keiner etwas Greifbares zustande gebracht. Diesmal jedoch klang das Gerücht ganz anders. Ein Forschungs-

Student in Cambridge ließ sich überzeugen und rannte zum Buchmacher, wo er zehn Pfund darauf setzen wollte, daß das Fermatproblem innerhalb einer Woche gelöst sein würde. Der Buchmacher roch allerdings den Braten und lehnte die Wette ab. Das war nun schon der fünfte Student an diesem Tag, und alle wollten sie die gleiche Wette abschließen. Zwar hatte die Fermatsche Vermutung die besten Köpfe der Menschheit drei Jahrhunderte lang vergeblich in ihren Bann geschlagen, doch langsam ahnten nun sogar die Buchmacher, daß ein Beweis kurz bevorstand. Die drei Tafeln waren nun vollgeschrieben mit Rechnungen, und der Vortragende hielt inne, um die erste Tafel zu wischen. Dann setzte er seine algebraischen Erörterungen fort. Jede Zeile seiner Berechnungen schien ihn der Lösung einen kleinen Schritt näherzubringen, doch auch eine Dreiviertelstunde später hatte er den Beweis noch nicht verkündet. Die Professoren, dicht gedrängt in den vorderen Stuhlreihen, warteten ungeduldig auf die Lösung. Hinten im Raum standen Studenten, die sich fragend nach den älteren Semestern umsahen, um vielleicht einen Fingerzeig auf die Lösung zu erhalten. Waren sie Zeugen eines vollständigen Beweises von Fermats letztem Satz, oder wurde dort vorne bloß ein unvollständiger Gedankengang vorgetragen, dem die Pointe fehlte? Der Vortragende war Andrew Wiles, ein zurückhaltender Engländer, der in den achtziger Jahren nach Amerika gegangen war, wo er eine Professur in Princeton angenommen hatte. Dort erwarb er sich dann den Ruf, einer der begnadetsten Mathematiker seiner Generation zu sein. In den letzten Jahren freilich hatte er kaum an der jährlichen Runde der Konferenzen und Seminare teilgenommen, und die Kollegen hegten schon den Verdacht, Wiles sei am Ende. Daß brillante junge Köpfe ausbrannten, war nichts Ungewöhnliches, wie der Mathematiker Alfred Adler feststellte: »Das mathematische Leben eines Mathematikers ist kurz. Seine Arbeiten werden nach dem fünfundzwanzigsten oder dreißigsten Lebensjahr selten besser. Wenn er bis dahin wenig geleistet hat, wird er auch künftig wenig leisten.« »Die Jungen sollten Sätze beweisen, die Alten Bücher schreiben«, bemerkte G.H. Hardy in seinem Buch A Mathematician’s

Apology. »Kein Mathematiker darf je vergessen, daß die Mathematik mehr als jede andere Kunst oder Wissenschaft ein Spiel der Jungen ist. Um dies mit einem simplen Beispiel aus einem vergleichsweise bescheidenen Anforderungsfeld zu verdeutlichen: das durchschnittliche Zuwahlsalter in die Royal Society ist bei Mathematikern am niedrigsten.« Sein eigener, außerordentlich begnadeter Schüler Srinivasa Ramanujan, dem in der Jugend eine Reihe von bahnbrechenden Leistungen gelungen waren, wurde mit nur einunddreißig Jahren zum Fellow der Royal Society gewählt. In seinem Heimatdorf Kumbakonan in Südindien war Ramanujan zwar kaum in den Genuß einer gediegenen Bildung gekommen, doch war er in der Lage, Sätze aufzustellen und Beweise zu erbringen, die den westlichen Mathematikern entgangen waren. In der Mathematik scheint die mit dem Alter zunehmende Erfahrung weniger Gewicht zu haben als jugendliche Intuition und Kühnheit. Als Ramanujan seine Ergebnisse Hardy vortrug, war der Cambridge-Professor so beeindruckt, daß er ihm anbot, seine Stelle als kleiner Angestellter in Südindien aufzugeben und ans Trinity College zu kommen, wo er sich mit den besten Zahlentheoretikern der Welt austauschen konnte. Doch die rauhen Winter East Anglias setzten Ramanujan heftig zu. Er erkrankte an Tuberkulose und starb mit dreiunddreißig Jahren. Auch andere Mathematiker machten glänzende, aber kurze Karrieren. Im neunzehnten Jahrhundert erbrachte der Norweger Niels Henrik Abel mit neunzehn Jahren seinen wichtigsten Beitrag zur Mathematik. Acht Jahre später fiel er, in Armut, ebenfalls der Tuberkulose zum Opfer. Charles Hermite sagte über ihn: »Er hat den Mathematikern ein Vermächtnis hinterlassen, das sie fünfhundert Jahre lang auf Trab halten wird«, und tatsächlich haben Abels Entdeckungen auch heute noch großen Einfluß auf die Zahlentheoretiker. Abels gleichermaßen brillantem Zeitgenossen Evariste Galois gelangen seine großartigen Leistungen ebenfalls schon im Teenageralter – und er starb im Alter von nur einundzwanzig Jahren. Mit diesen Beispielen soll nicht etwa behauptet werden, daß Mathematiker zu früh und auf tragische Weise sterben, sondern nur, daß sie die besten Ideen meist in ihrer Jugend entwickeln. Dazu be-

merkte Hardy einmal: »Ich kenne kein Beispiel eines bedeutenden mathematischen Fortschritts, den ein mehr als Fünfzigjähriger in die Wege geleitet hat.« Mathematiker mittleren Alters treten oft in den Hintergrund und betätigen sich für den Rest ihres Berufslebens in der Lehre oder Verwaltung, nicht in der Forschung, doch in Wiles’ Fall lagen die Dinge völlig anders. Obwohl schon im ehrwürdigen Alter von vierzig, hatte er die letzten sieben Jahre unter völligem Stillschweigen mit dem Versuch zugebracht, das größte Einzelproblem der Mathematik zu lösen. Während die Kollegen vermuteten, er sei ausgelaugt, gelangen Wiles verblüffende Fortschritte: Er entwickelte neue mathematische Methoden und Werkzeuge und war nun bereit, sie vorzustellen. Seine Entscheidung, in vollkommener Abgeschiedenheit zu arbeiten, war eine hochriskante und in der Welt der Mathematik unerhörte Strategie. Die mathematischen Fachbereiche der Universitäten können nicht mit Erfindungen aufwarten, die sich patentieren ließen, und aus diesem Grund herrscht dort am wenigsten Geheimniskrämerei. Die wissenschaftliche Gemeinschaft der Mathematiker ist stolz auf ihren offenen und freien Gedankenaustausch. So haben sich die Teepausen der Mathematiker in Cambridge zu alltäglichen Ritualen entwickelt, bei denen über Earl-Grey-Tee und Gebäck neue Ideen erläutert und geprüft werden. Daher veröffentlichen auch immer häufiger Autorenpaare oder ganze Mathematikergruppen gemeinsame Artikel und teilen sich dann auch die Reputation dafür. Sollte Professor Wiles jedoch tatsächlich einen vollständigen und haltbaren Beweis für Fermats letzten Satz gefunden haben, dann stünde der begehrteste Mathematikpreis ihm und ihm alleine zu. Doch die Geheimhaltung hatte ihm auch einen Preis abverlangt: Seine Gedanken hatte er zuvor mit keinem Kollegen zusammen erörtern oder prüfen können, und so war es durchaus möglich, daß ihm ein schwerwiegender Fehler unterlaufen war. Eigentlich hatte Wiles mehr Zeit damit verbringen wollen, seine Arbeit noch einmal durchzugehen und das endgültige Manuskript von der ersten bis zur letzten Seite zu überprüfen. Doch als sich die einzigartige Gelegenheit fand, seine Entdeckung am Isaac Newton Institute in Cambridge vorzustellen, gab er seine Vorsicht auf. Das

Institut dient einzig und allein dem Zweck, die besten Köpfe der Welt für ein paar Wochen zu Seminaren zusammenzubringen, wo sie ein selbstgewähltes Thema von der vordersten Front ihrer Disziplin behandeln. Das Gebäude liegt, fern von Studenten und anderen Ablenkungen, am Rande des Campus und soll die Wissenschaftler schon von seiner Anlage her dazu ermuntern, gemeinsam zu arbeiten und Ideen auszutauschen. Es gibt keine Korridorfluchten, in die man sich zurückziehen könnte, und von jedem Büro geht der Blick auf ein zentrales Forum. Die Mathematiker werden angehalten, die Bürotüren nicht zu schließen, und sich in diesem offenen Bereich zu treffen. Auch beim Gang durchs Institut wird die Zusammenarbeit gefördert. Im Aufzug, der nur drei Stockwerke bedient, findet sich eine Tafel. Tatsächlich ist jeder Raum des Gebäudes mit wenigstens einer Tafel ausgestattet, auch die Waschräume. Diesmal hatten die Seminare am Newton Institute das Thema »L-Funktionen und Arithmetik«. Die besten Zahlentheoretiker der Welt waren versammelt, um Probleme dieses sehr speziellen Bereichs der reinen Mathematik zu diskutieren, doch nur Wiles hatte erkannt, daß in den L-Funktionen vielleicht der Schlüssel zur Lösung des Fermatproblems steckte. Zwar hatte ihn die Chance gereizt, seine Arbeit einem so bedeutenden Publikum vorzustellen, doch entscheidend war, daß das Newton Institute in seiner Heimatstadt Cambridge lag. Hier war Wiles geboren, hier war er aufgewachsen und hatte seine Leidenschaft für die Zahlen entwickelt, und in Cambridge war es auch gewesen, wo diese Leidenschaft für ein Problem entflammt war, das den Rest seines Lebens prägen sollte.

Das letzte Problem Schon 1963, im Alter von zehn Jahren, hatte sich Andrew Wiles in die Mathematik vernarrt. »Ich war ganz versessen auf die kniffligen Schulbuchaufgaben, ich nahm sie mit nach Hause und erfand mir neue. Aber das beste Problem von allen entdeckte ich in unserer Bücherei.«

Eines Tages, auf dem Heimweg von der Schule, beschloß Wiles, auf einen Sprung in der Stadtbücherei in der Milton Road vorbeizuschauen. Verglichen mit den College-Bibliotheken war sie recht ärmlich ausgestattet, doch immerhin gab es eine umfangreiche Sammlung von Rätselbüchern, die Andrew häufig in ihren Bann zogen. Die Bücher waren vollgepackt mit naturwissenschaftlichen Rätseln und mathematischen Knobeleien, deren Lösung dann bequem irgendwo auf den letzten Seiten nachzuschlagen war. Diesmal jedoch fiel Andrews Augenmerk auf ein Buch, das nur ein Problem enthielt und keine Lösung. Es war The Last Problem von Eric Temple Bell, die Geschichte eines mathematischen Problems, das seine Wurzeln im alten Griechenland hat, doch erst im siebzehnten Jahrhundert ganz zur Entfaltung kam. Damals ließ es der große französische Mathematiker Pierre de Fermat ohne Absicht zu einer Herausforderung für alle Nachfolger werden. Ein begnadeter Mathematiker nach dem anderen mußte vor Fermats Hinterlassenschaft demütig kapitulieren, und drei Jahrhunderte lang gelang es keinem einzigen, das Problem zu lösen. Zwar gibt es in der Mathematik auch andere ungelöste Fragen, doch das Besondere an Fermats Problem ist seine trügerische Schlichtheit. Dreißig Jahre nachdem Wiles die Einführung von Bell gelesen hatte, schilderte er mir seine Eindrücke, als er mit Fermats letztem Satz Bekanntschaft schloß. »Er sah so einfach aus, und doch konnten all die großen Mathematiker der Geschichte ihn nicht beweisen. Da war ein Problem, das ich als Zehnjähriger schon verstehen konnte, und von diesem Moment an wußte ich, daß ich nie davon ablassen würde. Ich mußte es einfach lösen.« Das Problem sieht deshalb so schlicht aus, weil es auf einem Stück Mathematik beruht, an das sich jeder erinnert – dem Satz des Pythagoras: In einem rechtwinkligen Dreieck ist das Quadrat über der Hypotenuse gleich der Summe der Quadrate über den beiden anderen Seiten.

Dieser Singsang des Pythagoras sollte in Millionen, wenn nicht Milliarden menschlicher Gehirne eingebrannt werden. Jedes noch unwissende Schulkind wird gezwungen, diesen grundlegenden Satz zu lernen. Doch obwohl er von einem Zehnjährigen verstanden werden kann, entsprang ihm ein Problem, an dem die größten mathematischen Köpfe der Geschichte scheiterten. Pythagoras von Samos ist eine höchst einflußreiche und zugleich geheimnisumwitterte Gestalt in der Geschichte der Mathematik. Über Leben und Werk gibt es keine Zeugnisse erster Hand, und so umranken ihn Mythen und Legenden, die es den Historikern erschweren, Tatsachen und Erfundenes zu trennen. Als gesichert kann gelten, daß Pythagoras der Begründer der Zahlentheorie und des ersten goldenen Zeitalters der Mathematik ist. Dank seines Genies gebrauchte man die Zahlen nicht mehr bloß zum Zählen und Rechnen, sondern behandelte sie als Gegenstände eigenen Rechts. Pythagoras untersuchte die Eigenschaften bestimmter Zahlen, die Beziehungen zwischen den Zahlen und die von ihnen gebildeten Muster. Er erkannte, daß Zahlen unabhängig von der dinghaften Welt existieren und ihr Studium von den Ungenauigkeiten der sinnlichen Wahrnehmung nicht beeinträchtigt wird. So konnte er von Meinungen und Vorurteilen unabhängige Wahrheiten entdekken, die gegenüber allem sonstigen Wissen unumstößlich sind. Pythagoras lebte im sechsten Jahrhundert vor Christus und sammelte seine mathematischen Kenntnisse auf Reisen durch die gesamte antike Welt, Einigen Legenden zufolge soll er bis nach Indien und Britannien gereist sein. Gesichert jedoch ist, daß er viele mathematische Methoden und Kniffe bei den Ägyptern und Babyloniern gelernt hat. Diese beiden Völker des Altertums waren schon über das simple Zählen hinausgegangen und führten komplizierte Berechnungen durch, auf deren Grundlage sie ausgeklügelte Buchhaltungsverfahren entwickeln und kunstvolle Bauten errichten konnten. Die Mathematik war für sie nur ein Werkzeug, um praktische Probleme zu lösen. Einige geometrische Grundregeln wurden zum Beispiel bei dem Versuch entdeckt, Flurgrenzen wiederherzustellen, die bei der alljährlichen Nilflut überschwemmt wurden. Das Wort selbst, Geometrie, bedeutet Vermessung der Erde.

Pythagoras stellte fest, daß die Ägypter und Babylonier jede Berechnung anhand eines Rezepts durchführten, dem sie blind folgen konnten. Diese Rezepte, von Generation zu Generation weitergereicht, lieferten immer die richtige Antwort, und daher machte sich niemand die Mühe, sie in Frage zu stellen oder die Logik hinter den Gleichungen zu erkunden. Für diese Zivilisationen war es wichtig, daß die Berechnungen stimmten – warum sie stimmten, war uninteressant. Nach zwanzig Jahren des Reisens hatte sich Pythagoras alle mathematischen Regeln der damals bekannten Welt angeeignet. Nun hißte er die Segel und kehrte auf seine Heimatinsel Samos in der Ägäis zurück, um dort eine dem Studium der Philosophie gewidmete Schule zu gründen, an der man sich insbesondere mit den von ihm gesammelten neuen mathematischen Regeln näher befassen würde. Er hoffte, ein reiches Angebot an freidenkerischen Schülern zu finden, mit deren Unterstützung er radikal neue philosophische Gedanken entwickeln wollte. Während seiner Abwesenheit jedoch hatte der Tyrann Polycrates die einst freiheitsliebende Stadt in eine intolerante und rückwärtsgewandte Gesellschaft verwandelt. Polycrates bot Pythagoras einen Platz am Hofe an, doch der Philosoph erkannte, daß dies nur eine Finte war, um ihn zum Schweigen zu bringen, und lehnte das Angebot ab. Statt dessen verließ er die Stadt, um sich in einer Höhle in einem abgelegenen Teil der Insel niederzulassen, wo er ohne Furcht vor den Haschern des Tyrannen seinen Gedanken nachgehen konnte. Pythagoras war in seiner Einsamkeit jedoch keineswegs glücklich, und schließlich bestach er einen jungen Knaben, sein erster Schüler zu werden. Wer dieser Junge war, ist umstritten, doch manche Historiker vermuten, daß sein Name ebenfalls Pythagoras war und daß der Schüler später zu Ruhm gelangen sollte als der erste Mensch, der vorschlug, daß Athleten Fleisch essen sollten, um ihre Kondition zu verbessern. Pythagoras, der Lehrer, zahlte seinem Schüler für jede Lektion drei Obolusse und konnte nach ein paar Wochen beobachten, daß sich der anfangs widerstrebende Junge zusehends für sein Wissen begeisterte. Um diesen Erfolg zu krönen, gab Pythagoras vor, er könne den Schüler nicht mehr bezahlen

und müsse seine Lektionen einstellen. Daraufhin bot ihm der Junge an, lieber für die Ausbildung zu bezahlen, als sie zu beenden. Der Schüler war zum Anhänger seiner Philosophie geworden. Leider gelang Pythagoras auf Samos nur diese eine Bekehrung. Zeitweise führte er eine Schule, das sogenannte »Halbrund« des Pythagoras, doch seine Ansichten über gesellschaftliche Reformen waren unerwünscht, und so sah sich der Philosoph gezwungen, mit der Mutter und dem einzigen Schüler aus der Kolonie zu fliehen. Pythagoras ging nach Süditalien, in die Kolonie Magna Graecia, und ließ sich in Kroton nieder, wo er zu seinem Glück in Milon, dem reichsten Bürger Krotons, den idealen Mäzen fand, der zugleich einer der kräftigsten Männer der Geschichte war. Pythagoras’ Ruf als Weiser von Samos verbreitete sich schon in ganz Griechenland, doch Milon war noch berühmter. Er war ein Mann von herkuleischer Gestalt, der – was keinem zuvor gelungen war – bei den Olympischen und Pythischen Spielen zwölf Siege errungen hatte. Neben der Athletik schätzte und praktizierte Milon auch Philosophie und Mathematik. Er stellte Pythagoras einen Teil seines Hauses zur Verfügung, groß genug, um darin eine Schule aufzubauen. So kam es, daß der schöpferischste Geist und der kräftigste Körper eine Partnerschaft eingingen. Pythagoras, in der neuen Heimat vor Verfolgung sicher, gründete den pythagoreischen Bund – eine Gemeinschaft von sechshundert Gefolgsleuten, die nicht nur seine Lehren verstehen, sondern sie auch mit neuen Gedanken und Beweisen befruchten sollten. Beim Eintritt in den Bund mußte jeder Anhänger seine weltlichen Besitztümer in einen Gemeinschaftsfonds einbringen. Jeder, der den Bund verließ, sollte den doppelten Betrag seiner ursprünglichen Einlage erhalten, und zu seinem Gedenken wurde ein Grabstein aufgestellt. Der pythagoreische Bund war eine egalitäre Schule, der auch mehrere Frauen angehörten. Pythagoras’ Lieblingsschülerin war Milons Tochter, die schöne Theano, und trotz des Altersunterschieds heirateten die beiden schließlich. Bald nach Gründung des Bundes prägte Pythagoras das Wort Philosoph und legte damit zugleich die Ziele seiner Schule fest. Während der Olympischen Spiele fragte ihn Leon, der Prinz von

Phlius, als was er sich selbst bezeichnen würde. Pythagoras antwortete »Ich bin ein Philosoph«, doch Leon hatte das Wort noch nie gehört und bat um eine Erklärung. Das Leben, Prinz Leon, kann gut mit diesen öffentlichen Spielen verglichen werden, denn in der großen Menge, die hier versammelt ist, werden die einen vom Gewinnstreben angelockt, die ändern von der Hoffnung und dem Verlangen nach Glanz und Ruhm. Doch unter ihnen sind ein paar, die gekommen sind, um alles, was hier vor sich geht, zu beobachten und zu verstehen. Das gleiche gilt fürs Leben. Manche sind von der Liebe zum Reichtum beherrscht, während andere in blindem Wahn nach Macht und Herrschaft fiebern, doch der edelste Menschenschlag widmet sich der Frage, welchen Sinn und welches Ziel das Leben selbst hat. Er versucht, die Geheimnisse der Natur aufzudecken. Diesen Menschen nenne ich einen Philosophen, denn zwar ist kein Mensch in jeder Hinsicht vollkommen weise, doch er kann die Weisheit lieben als Schlüssel zu den Geheimnissen der Natur. Zwar wußten viele von Pythagoras’ Zielen, doch niemand außerhalb des Bundes kannte Einzelheiten oder das Ausmaß seines Erfolgs. Jedes Mitglied der Schule mußte beschwören, Außenstehenden niemals von den mathematischen Entdeckungen zu berichten. Selbst nach Pythagoras’ Tod noch wurde ein Mitglied des Bundes ertränkt, weil er seinen Schwur gebrochen hatte – er verkündete offen die Entdeckung eines neuen regelmäßigen Körpers, des Dodekaeders, der aus zwölf regelmäßigen Fünfecken konstruiert wird. Bekannt ist, daß Pythagoras eine Weltanschauung begründete, die den Weg der Mathematik veränderte. Der Bund war im Grunde eine religiöse Gemeinschaft, und eine der angebeteten Gottheiten war die Zahl. Verstünde man die Beziehungen zwischen den Zahlen, so glaubten sie, könnte man die geistigen Geheimnisse des Universums aufdecken und den Göttern näherkommen. Der Bund legte besonderes Augenmerk auf die natürlichen Zahlen, mit denen wir zählen (1, 2, 3, 4 ...) und auf die Brüche. Die natürlichen Zahlen gehören zu den ganzen Zahlen, und ihre Brüche zu den ratio-

nalen Zahlen (d. h. Verhältnisse von ganzen Zahlen). In der unendlichen Menge der Zahlen suchten die Pythagoreer nach solchen, denen eine besondere Bedeutung zukam, und sie nannten Zahlen mit ganz speziellen Eigenschaften »vollkommene« Zahlen. Nach Pythagoras hängt die Vollkommenheit einer Zahl von ihren echten Teilern ab (den Zahlen, durch die sie ohne Rest dividiert werden kann, ohne die Zahl selbst). Die Teiler von 12 zum Beispiel sind 1, 2, 3, 4 und 6. Wenn die Summe der Teiler einer Zahl größer ist als die Zahl selbst, wird sie als »abundante« Zahl bezeichnet. Die 12 ist somit eine abundante Zahl, weil ihre Teiler zusammen 16 ergeben. Wenn hingegen die Summe der Teiler einer Zahl kleiner ist als sie selbst, wird sie »defiziente« Zahl genannt. Die 10 ist eine defiziente Zahl, weil ihre Teiler (1, 2 und 5) zusammen nur 8 ergeben. Ganz besondere und seltene Zahlen sind solche, deren Teiler addiert genau sie selbst ergeben – dies sind die vollkommenen Zahlen. Die 6 hat die Teiler 1, 2 und 3 und ist daher eine vollkommene Zahl, denn 1 + 2 + 3 = 6. Die nächste vollkommene Zahl ist 28, denn 1 + 2 + 4 + 7 + 14 = 28. Die mathematische Vollkommenheit der 6 und der 28 hatte nicht nur Bedeutung für den pythagoreischen Bund, sondern auch für andere Kulturen, die zum Beispiel beobachteten, daß der Mond die Erde in 28 Tagen umkreist, und erklärten, Gott habe die Erde in 6 Tagen erschaffen. Der heilige Augustinus verkündet im Gottesstaat, Gott hätte die Welt zwar in einem Augenblick erschaffen können, er habe sich jedoch für die sechs Tage entschieden, um die Vollkommenheit des Universums darzutun. Augustinus traf die wichtige Feststellung, die 6 sei nicht deshalb vollkommen, weil Gott sie gewählt habe, vielmehr sei ihr diese Vollkommenheit wesenseigen. »Die 6 ist an und für sich eine vollkommene Zahl, doch nicht weil Gott alle Dinge in sechs Tagen erschaffen hätte. Das Gegenteil ist wahr: Gott schuf alle Dinge in sechs Tagen, weil diese Zahl vollkommen ist. Und sie würde vollkommen bleiben, selbst wenn das Werk der sechs Tage nicht existierte.« Je größer die Zahlen werden, desto schwieriger sind die vollkommenen unter ihnen zu finden. Die dritte ist die 496, die vierte die 8 128, die fünfte die 33 550 336 und die sechste die 8 589 869 056.

Pythagoras stellte fest, daß sie nicht nur die Summe ihrer Teiler bilden, sondern noch mehrere andere elegante Eigenschaften aufweisen. So sind die vollkommenen Zahlen immer eine Summe aufeinanderfolgender Zahlen. Zum Beispiel: 6 = 1 + 2 + 3, 28 = 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6 + 7, 496 = 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6 + 7 + 8 + 9 + ... + 30 + 31, 8 128 = 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6 + 7 + 8 + 9 + ... + 126 + 127. Pythagoras beschäftigte sich gerne mit vollkommenen Zahlen, gab sich jedoch nicht damit zufrieden, sie zu sammeln, sondern wollte auch ihre tiefere Bedeutung ergründen. Eine seiner Einsichten war, daß Vollkommenheit eng mit »Zweiheit« verknüpft ist. Die Zahlen: 4 (2 × 2), 8 (2 × 2 × 2), 16 (2 × 2 × 2 × 2) usw. sind Potenzen von 2, die als 2n geschrieben werden können, wobei n die Anzahl der miteinander multiplizierten Zweien darstellt. All diese Zweierpotenzen sind nicht ganz vollkommen, denn die Summe ihrer Teiler ergibt immer nur eins weniger als die Zahl selbst. Sie sind deswegen jedoch nur leicht defizient: 22 = (2 × 2) = 4 Teiler 1, 2 Summe = 3 , 23 = (2 × 2 × 2) = 8 Teiler 1, 2, 3 Summe = 7 , 24 = (2 × 2 × 2 × 2) = 16 Teiler 1, 2, 4, 8 Summe = 15 , 25 = (2 × 2 × 2 × 2 × 2) = 32 Teiler 1, 2, 4, 8, 16 Summe = 31. Zwei Jahrhunderte später arbeitete Euklid die von Pythagoras entdeckte Verknüpfung zwischen Zweiheit und Vollkommenheit noch deutlicher heraus. Er entdeckte an den vollkommenen Zahlen, daß sie immer das Produkt zweier Zahlen sind, die eine davon eine Potenz der Zahl Zwei, die andere die jeweils nächsthöhere Zweierpotenz minus eins. Das heißt: 6 28 496 8 128

= 21 × (22 - 1), = 22 × (23 - 1), = 24 × (25 - 1), = 26 × (27 - 1).

Heute betreibt man die Suche nach vollkommenen Zahlen mit Hilfe moderner Computer, und inzwischen hat man so unvorstellbar große Exemplare wie 2216090 × (2216091 -1) gefunden, eine Zahl mit über 130 000 Stellen, die Euklids Regel entspricht. Pythagoras fesselten die mannigfaltigen inneren Zusammenhänge und Eigenschaften der vollkommenen Zahlen, er schätzte ihre Eleganz und empfand sie als intellektuell reizvoll. Der Begriff der vollkommenen Zahl scheint zunächst recht eingängig, und doch konnte Pythagoras einige wesentliche Fragen auf diesem Gebiet nicht klären. So gibt es zwar viele Zahlen, deren Teiler sich zu einer Summe addieren, die um eins kleiner ist als die Zahl selbst, die also nur leicht defizient sind, doch es scheint keine Zahlen zu geben, die nur leicht abundant sind. Die alten Griechen fanden keine Zahlen, die um eins größer sind als die Summe ihrer Teiler, doch den Grund dafür konnten sie nicht erklären. Zu ihrer Ernüchterung konnten sie nicht einmal beweisen, daß es keine solche Zahlen gibt. Rätsel wie diese faszinierten die Pythagoreer. Zu begreifen, warum es keine leicht abundanten Zahlen gibt, hätte keinen praktischen Nutzen erbracht, doch die Lösung des Problems konnte vielleicht helfen, das Wesen der Zahl zu erhellen, und war deshalb der Mühe wert. Zweieinhalbtausend Jahre später sind die Mathematiker immer noch nicht in der Lage zu beweisen, daß keine leicht abundanten Zahlen existieren.

Alles ist Zahl Pythagoras untersuchte nicht nur die Beziehungen der Zahlen untereinander, sondern ging auch der Frage nach, wie sie mit der Natur zusammenhingen. Den Naturerscheinungen lagen Gesetze zugrunde, und diese Gesetze konnten durch mathematische Gleichungen beschrieben werden. Einer der ersten Zusammenhänge, die er entdeckte, war der zwischen der musikalischen Harmonie und der Harmonie der Zahlen. Das wichtigste Instrument in der frühen hellenischen Musik war

das Tetrachord oder die viersaitige Leier. Schon vor Pythagoras hatten die Musiker erkannt, daß bestimmte Töne, wenn sie zusammen erklangen, eine angenehme Wirkung hatten, und sie stimmten ihre Leiern so, daß sie mit dem Zupfen von zwei Saiten eine solche Harmonie erzeugen konnten. Die frühen Musiker verstanden jedoch nicht, warum bestimmte Töne harmonierten, und stimmten ihre Instrumente nicht nach bestimmten Regeln. Vielmehr stimmten sie die Leiern rein nach Gehör, bis sie einen harmonischen Klang erzeugten – ein Verfahren, das Platon als Folter der Stimmwirbel bezeichnete. Iamblichos, ein Gelehrter des vierten Jahrhunderts, der neun Bücher über die pythagoreische Sekte verfaßte, schildert, wie Pythagoras die Grundprinzipien der musikalischen Harmonie entdeckte: Einst war er mit dem Gedanken beschäftigt, ob er eine genial einfache und zuverlässige mechanische Hilfe für den Gehörsinn erfinden könnte. Sie sollte den Zirkeln, Linealen und optischen Instrumenten gleichen, die für den Gesichtssinn bestimmt waren. Und für den Tastsinn gab es Waagen, den Begriff des Gewichts und dessen Maße. Ein göttlicher Glücksfall führte ihn an der Esse eines Schmieds vorbei, wo er den Hämmern lauschte, die auf das Eisen schlugen und dabei bunte Harmonien erklingen ließen – nur eine bestimmte Kombination von Tönen erzeugte Mißklänge. Iamblichos zufolge eilte Pythagoras sofort in die Schmiede, um die Harmonie der Hämmer zu untersuchen. Wie er feststellte, erzeugten die meisten Hämmer, wenn sie gleichzeitig geschlagen wurden, harmonische Klänge, wenn jedoch ein bestimmter Hammer hinzukam, war ein Mißklang zu hören. Er untersuchte die Hämmer und erkannte, daß jene, die harmonisch zusammenstimmten, einfache mathematische Beziehungen untereinander aufwiesen – ihre Massen waren einfache Quotienten oder Bruchteile voneinander. Das heißt, alle Hämmer, die halb, zwei Drittel oder drei Viertel so schwer waren wie ein bestimmter Hammer, erzeugten harmonische Klänge. Hingegen hatte der

Abbildung 1: Eine frei schwingende, offene Saite erzeugt einen Grundton. Wird sie an einem Punkt auf genau halber Länge festgehalten, erklingt ein Ton, der um eine Oktave höher ist als der Grundton und mit ihm harmoniert. Fixiert man die Saite an anderen Punkten, die einfache Bruchteile ihrer Gesamtlänge markieren (z. B. ein Drittel, ein Viertel, ein Fünftel), können weitere harmonische Töne erzeugt werden.

Hammer, der die Disharmonie erzeugte, wenn er zusammen mit den anderen aufschlug, ein Gewicht, das in keinem einfachen rechnerischen Verhältnis zum Gewicht der anderen Hämmer stand.

Pythagoras hatte entdeckt, daß den Harmonien in der Musik einfache Zahlenverhältnisse zugrunde liegen. Die Historiker hegen zwar gewisse Zweifel, was Iamblichos’ Darstellung dieser Episode angeht, einigermaßen gesichert jedoch ist, daß Pythagoras seine neue Theorie auf die Leier anwandte, indem er die Eigenschaften einer einzigen Saite untersuchte. Durch Zupfen der Saite erklingt eine Standardnote oder ein Ton, der von der in ihrer gesamten Länge schwingenden Saite erzeugt wird. Wird die Saite an bestimmten Punkten festgehalten, können andere Schwingungen und Töne erzeugt werden (Abbildung 1). Vollkommen harmonische Töne kommen nur an bestimmten Punkten vor. Wird die Saite zum Beispiel an einem Punkt auf halber Länge fixiert, ergibt das Zupfen einen Ton, der eine Oktave höher ist und mit dem ursprünglichen Ton harmoniert. Wird die Saite an Punkten fixiert, die genau auf einem Drittel, einem Viertel oder einem Fünftel ihrer Länge liegen, ergeben sich ebenfalls harmonische Töne. Wählt man jedoch einen Punkt, der nicht einen einfachen Bruchteil ihrer Gesamtlänge markiert, erhält man einen Ton, der mit den anderen Tönen nicht harmoniert. Pythagoras hatte die mathematische Regelmäßigkeit entdeckt, die einem natürlichen Phänomen zugrunde lag, und gezeigt, daß es eine tiefgreifende Beziehung zwischen der Mathematik und den Naturwissenschaften gibt. Seit dieser Entdeckung suchen die Wissenschaftler nach den mathematischen Regelmäßigkeiten, die offenbar alle physikalischen Vorgänge beherrschen, und es hat sich erwiesen, daß Zahlen in mannigfaltigen natürlichen Erscheinungen eine Rolle spielen. So scheint eine besondere Zahl die Länge mäandernder Flüsse zu beeinflussen. Hans-Henrik Stølum, ein Geologe an der Universität Cambridge, hat das Verhältnis zwischen der Gesamtlänge von Flüssen und der direkten Entfernung von Quelle und Mündung berechnet. Dieses Verhältnis ist zwar je nach Fluß verschieden, der Mittelwert ist jedoch etwas größer als drei, das heißt, die tatsächliche Flußlänge ist dreimal so groß wie die Luftlinie. Tatsächlich beträgt das Verhältnis etwa 3,14 und entspricht damit einem Wert in der Nähe von π, dem Verhältnis des Umfangs eines Kreises zu seinem Radius.

Die Zahl π wurde ursprünglich aus der Geometrie des Kreises abgeleitet, und doch taucht sie immer wieder in ganz unterschiedlichen physikalischen Zusammenhängen auf. Im Falle der Flußlängen ergibt sich π als Folge eines Kampfs zwischen Ordnung und Chaos. Einstein hat als erster darauf hingewiesen, daß Flüsse immer stärkere Windungen ausbilden, weil auch schon die kleinste Biegung schnellere Strömungen am Uferrand verursacht, die wiederum zu größerer Erosion und damit zu ausgeprägteren Mäandern führt. Je schärfer die Biegung, desto schneller fließt das Wasser an deren Außenseite, desto stärker wiederum ist die Erosion und in deren Folge die Flußkrümmung, und so weiter. Es gibt jedoch einen natürlichen Prozeß, der dem Chaos Einhalt gebietet: Die Flußwindungen werden zunehmend kreisförmiger, der Fluß macht gleichsam kehrt und schließt sich kurz. Er fließt dann wieder geradeaus, die Windung wird zu einem toten Nebenarm. Diesen beiden gegensinnigen Prozessen wohnt eine Tendenz zum Gleichgewicht inne, so daß sich zwischen der tatsächlichen Flußlänge und der direkten Entfernung zwischen Quelle und Mündung durchschnittlich ein Verhältnis mit dem Quotienten π herausbildet. Dieser Verhältniswert π tritt zumeist bei Flüssen auf, die durch leicht abfallende Ebenen fließen, etwa in Brasilien oder der sibirischen Tundra. Pythagoras erkannte, daß Zahlen überall verborgen sind, von den musikalischen Harmonien bis zu den Umlaufbahnen der Planeten, und verkündete daher: »Alles ist Zahl.« Indem er die Bedeutung der Mathematik auslotete, entwickelte er eine Sprache, die es ihm und seinen Nachfolgern ermöglichte, die Natur des Universums zu beschreiben. Von nun an erbrachte jeder Durchbruch in der Mathematik den Wissenschaftlern neue Begriffe zur Erklärung der natürlichen Phänomene. Tatsächlich regten die neuen Entwicklungen in der Mathematik auch viele Revolutionen in den Naturwissenschaften an. Isaac Newton war nicht nur Physiker, sondern auch ein bedeutender Mathematiker. Er untermauerte große Teile seiner Arbeiten mit dem Infinitesimalkalkül, einer von ihm selbst geschaffenen Sprache, die er benötigte, um die Grundbegriffe der Mechanik

und sein Konzept der Schwerkraft darzulegen. Newtons klassische Gravitationstheorie hielt sich mehrere Jahrhunderte lang, bis sie von der allgemeinen Relativitätstheorie Albert Einsteins abgelöst wurde, die eine andere, umfassendere Erklärung der Schwerkraft ermöglichte. Einsteins Ideen wiederum waren nur möglich auf der Grundlage neuer mathematischer Konzepte, die ihm eine anspruchsvollere Sprache für seine komplexeren wissenschaftlichen Ideen lieferten. Auch in jüngster Zeit beeinflussen bahnbrechende Erkenntnisse in der Mathematik die wissenschaftliche Deutung der Gravitation. Die neuesten quantentheoretischen Erklärungen der Schwerkraft sind mit der Entwicklung der mathematischen Stringtheorie verknüpft, der zufolge die geometrischen und topologischen Eigenschaften von Tuben die Naturkräfte am besten zu erklären scheinen. Die bedeutsamste aller vom pythagoreischen Bund entdeckten Verknüpfungen von Zahlen und natürlichen Phänomenen ist jene, die den Namen des Gründers trägt. Der Satz des Pythagoras liefert uns eine Gleichung, die für alle rechtwinkligen Dreiecke gilt und die auch den rechten Winkel selbst definiert. Dieser wiederum bestimmt die Senkrechte oder das Lot, das heißt die Beziehung von Vertikaler und Horizontaler, und letztlich die Beziehung zwischen den drei Dimensionen der uns vertrauten Welt. Die Mathematik bestimmt anhand des rechten Winkels die Grundstruktur des Raumes, in dem wir leben. Es handelt sich hier um eine elementare Erkenntnis, und doch sind die mathematischen Kenntnisse, die man braucht, um sie nachzuvollziehen, verhältnismäßig schlicht. Die meisten Zwölfjährigen begreifen den Satz, und zweifellos sagte der kleine Wiles ihn schon in der Wiege auf. Um ihn zu verstehen, messen wir zunächst einfach die beiden kurzen Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks (x und y) und quadrieren dann jeden Längenwert (x2, y2). Dann addieren wir die beiden quadrierten Zahlen (x2 + y 2) und erhalten eine bestimmte Summe. Berechnen wir diese Summe für das Dreieck in Abbildung 2, ergibt sich die Zahl 169. Messen wir nun die längste Seite z, die sogenannte Hypotenuse, und quadrieren ihre Länge ebenfalls. Erstaunlicherweise zeigt sich,

z

y

x x = 12,

y = 5,

z = 13

x2 + y2 = z2 144 + 25 = 169 Abbildung 2: Für alle rechtwinkligen Dreiecke gilt der Satz des Pythagoras.

daß diese Zahl z2 gleich derjenigen ist, die wir soeben berechnet haben, also 132 = 169. Das heißt: In einem rechtwinkligen Dreieck ist das Quadrat über der Hypotenuse gleich der Summe der Quadrate über den beiden anderen Seiten. Oder, mit anderen Worten (oder vielmehr Symbolen): x2 + y2 = z2. Offensichtlich gilt dies für das oben abgebildete Dreieck, doch wirklich erstaunlich am Satz des Pythagoras ist, daß er für jedes denkbare rechtwinklige Dreieck wahr ist. Es handelt sich um ein allgemeingültiges mathematisches Gesetz, und wann immer wir auf ein Dreieck mit einem rechten Winkel stoßen, können wir uns darauf verlassen. Haben wir es umgekehrt mit einem Dreieck zu tun, auf den der Satz des Pythagoras zutrifft, können wir vollkommen gewiß sein, daß es sich um ein rechtwinkliges Dreieck handelt. In diesem Zusammenhang sollte nicht verschwiegen werden, daß der Satz zwar immer mit dem Namen Pythagoras verknüpft sein wird, den Chinesen und Babyloniern jedoch schon tausend

Jahre früher bekannt war. Er traf jedenfalls auf alle Dreiecke zu, die sie überprüften, allerdings hatten sie keine Möglichkeit zu zeigen, daß er für alle rechtwinkligen Dreiecke im Universum gilt, die sie nicht nachmessen konnten. Pythagoras kann eben deshalb auf den Satz Anspruch erheben, weil er der erste war, der seine universelle Gültigkeit bewiesen hat. Doch wie nun zeigte Pythagoras, daß sein Satz für jedes rechtwinklige Dreieck wahr ist? Die unendliche Vielfalt der rechtwinkligen Dreiecke konnte er ja nicht überprüfen, und doch durfte er sich seines Satzes hundertprozentig sicher sein. Diese Gewißheit beruht auf dem Begriff des mathematischen Beweises. Die Suche nach einem solchen Beweis ist die Suche nach einer Art von Wissen, das absoluter ist als das in anderen wissenschaftlichen Disziplinen gesammelte. Es ist dieses Bemühen, anhand von Beweisen unumstößliche Wahrheiten zu finden, welches die Mathematiker seit zweieinhalbtausend Jahren umtreibt.

Der absolute Beweis Die Geschichte des letzten Satzes von Fermat ist im Kern die Suche nach einem fehlenden Beweis. Der mathematische Beweis ist viel anspruchsvoller als unser lockerer Alltagsbegriff, aber auch anspruchsvoller als der Beweis, wie ihn Physiker oder Chemiker verstehen. Der Unterschied zwischen naturwissenschaftlichem und mathematischem Beweis ist zwar fein, aber entscheidend, und will man die Arbeiten der Mathematiker seit Pythagoras verstehen, muß man diesen Unterschied begriffen haben. Dem Begriff des klassischen mathematischen Beweises zufolge beginnt man mit einer Reihe von Axiomen, das heißt Aussagen, deren Wahrheit als sicher gelten kann oder die offensichtlich wahr sind. Indem man von diesen Axiomen ausgehend Schritt für Schritt einen logischen Gedankengang entfaltet, gelangt man zu einer Schlußfolgerung, die unbestreitbar ist. Diese Schlußfolgerung ist das Theorem oder der Satz. Mathematische Beweise beruhen auf diesem logischen Verfah-

ren, und einmal gelungen, sind sie wahr bis ans Ende der Zeit. Um den Wert solcher Beweise einschätzen zu können, sollten sie mit ihrem armen Verwandten, dem minder anspruchsvollen naturwissenschaftlichen Beweis, verglichen werden. In der Naturwissenschaft wird eine Hypothese aufgestellt, um ein bestimmtes Phänomen zu erklären. Stimmen die Beobachtungen gut mit der Hypothese überein, gilt dies als Beleg zu ihren Gunsten. Die Hypothese sollte zudem nicht nur ein bekanntes Phänomen beschreiben, sondern auch die Ergebnisse anderer Phänomene voraussagen können. Anhand von Experimenten kann die Vorhersagekraft der Hypothese geprüft werden. Verlaufen sie erfolgreich, gilt dies als erneuter Beleg zugunsten der Hypothese. Schließlich kann die schiere Menge der Belege so beeindruckend werden, daß die Hypothese als naturwissenschaftliche Theorie anerkannt wird. Die wissenschaftliche Theorie kann nie in dem Maße absolute Geltung beanspruchen wie der mathematische Satz: sie gilt aufgrund der verfügbaren Nachweise nur als hochwahrscheinlich. Der sogenannte naturwissenschaftliche Beweis beruht auf Beobachtung und Wahrnehmung, die beide fehlbar sind und nur Annäherungen an die Wahrheit ermöglichen. Bertrand Russell hat einmal festgestellt: »Es mag zwar paradox klingen, doch alle exakte Wissenschaft wird vom Gedanken der Annäherung beherrscht.« Selbst in den weithin anerkannten wissenschaftlichen »Beweisen« steckt eine kleine Portion Zweifel. Manchmal schwindet er, wenn auch nie ganz, ein andermal stellt sich heraus, daß der Beweis falsch ist. Diese Schwäche des wissenschaftlichen Beweises führt zu den wissenschaftlichen Revolutionen, bei denen eine bis dahin geltende Theorie durch eine andere Theorie ersetzt wird, die möglicherweise nur eine besser ausgearbeitete Variante der ursprünglichen ist oder in völligem Widerspruch zu ihr steht. Bei der Suche nach den elementaren Bestandteilen der Materie zum Beispiel wirft jede neue Generation von Physikern die Theorie ihrer Vorgänger über den Haufen oder verfeinert sie zumindest. Die moderne Suche nach den Bausteinen des Universums wurde zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts eingeläutet, als John Dalton durch eine Reihe von Experimenten zu der Vermutung gelangte, al-

les sei aus einzelnen, nicht weiter teilbaren Atomen zusammengesetzt. Gegen Ende des Jahrhunderts entdeckte J.J. Thomson das Elektron, das erste subatomare Teilchen, weshalb das Atom nun nicht mehr als der letzte Baustein gelten konnte. Zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelten die Physiker ein »vollständiges« Bild des Atoms: ein Kern aus Protonen und Neutronen, der von Elektronen umkreist wird. Stolz verkündeten sie, Protonen, Neutronen und Elektronen seien die vollzähligen Bausteine des Universums. Dann stieß man durch Experimente mit der kosmischen Strahlung auf die Existenz der Pionen und Myonen. Eine noch gewaltigere Revolution war im Jahr 1932 die Entdeckung der Antimaterie – und damit der Existenz von Antiprotonen, Antineutronen, Antielektronen usw. Zwar wußten die Teilchenphysiker nicht genau, wie viele Partikel es tatsächlich gibt, aber die neu entdeckten Teilchen galten als wirklich elementar. Doch dann wurde im Jahr 1960 der Begriff des Quark in die Welt gesetzt. Das Proton selbst ist offenbar aus den mit Teilladungen versehenen Quarks zusammengesetzt, wie auch das Neutron, das Pion und das Myon. Die Moral der Geschichte ist, daß die Physiker ihr Bild des Universums ständig ändern, wenn nicht sogar ausradieren und ganz von vorne beginnen. Im nächsten Jahrzehnt wird womöglich sogar die Vorstellung von einem Teilchen als punktartigem Objekt durch den Gedanken ersetzt werden, die Teilchen seien Strings – eben jene Strings, mit denen man die Schwerkraft am besten erklären könnte. Der Theorie zufolge können diese Strings mit einer Länge von einem Milliardstel eines Milliardstel eines Milliardstel eines Milliardstel Meters (so klein, daß sie gleichsam Punkte sind) auf verschiedene Weise schwingen, wobei jede Schwingung ein anderes Teilchen entstehen läßt. Dieser Gedanke ist mit Pythagoras’ Entdeckung vergleichbar, daß die Saite einer Leier verschiedene Töne erzeugt, je nachdem, wie sie schwingt. Der Science-fiction-Autor und Zukunftsforscher Arthur C. Clarke hat einmal bemerkt, immer wenn ein bedeutender Professor behaupte, etwas sei unzweifelhaft wahr, werde die Behauptung wahrscheinlich schon am nächsten Tag widerlegt. Der naturwis-

Abbildung 3: Das Problem des unvollständigen Schachbretts.

senschaftliche Beweis ist notwendig mit Zweifeln behaftet und unbeständig. Der mathematische Beweis hingegen gilt absolut und zweifelsfrei. Pythagoras starb in der Gewißheit, daß sein Satz, der 500 v. Chr. zutraf, bis in alle Ewigkeit wahr bleiben würde. Die Naturwissenschaft funktioniert ähnlich wie das Rechtswesen. Eine Theorie wird dann für wahr gehalten, wenn genug Belege vorhanden sind, die sie »über jeden vernünftigen Zweifel hinaus« beweisen. Die Mathematik dagegen beruht nicht auf fehlerbehafteten Experimenten, sondern auf unfehlbarer Logik. Das läßt sich am Problem des »unvollständigen Schachbretts« zeigen (Abbildung 3). Wir haben hier ein Schachbrett, dem zwei schräg gegenüberliegende Eckfelder fehlen, so daß nur 62 Quadrate übrig sind. Nehmen wir nun 31 Dominosteine, mit denen wir paßgenau jeweils zwei Quadrate abdecken können. Die Frage lautet jetzt: Ist es

möglich, die 31 Dominosteine so zu legen, daß sie alle 62 Quadrate des Schachbretts abdecken? Für dieses Problem gibt es zwei Lösungsansätze: (1) Der naturwissenschaftliche Ansatz Der Naturwissenschaftler würde das Problem durch Experimentieren zu lösen versuchen und nach ein paar Dutzend verschiedenen Anordnungen der Dominosteine feststellen, daß keine von ihnen paßt. Am Ende glaubt er hinreichend nachgewiesen zu haben, daß das Schachbrett nicht abgedeckt werden kann. Der Naturwissenschaftler kann jedoch nie sicher sein, daß dies auch wirklich der Fall ist, weil es eine Anordnung von Steinen geben könnte, die noch nicht ausprobiert wurde und das Problem lösen würde. Es gibt Millionen verschiedener Anordnungen, und nur ein kleiner Teil von ihnen kann durchgespielt werden. Der Schluß, die Aufgabe sei unmöglich zu lösen, ist eine Theorie, die auf Experimenten beruht, doch der Wissenschaftler wird mit der Tatsache leben müssen, daß die Theorie vielleicht eines Tages über den Haufen geworfen wird. (2) Der mathematische Ansatz Der Mathematiker versucht die Frage zu beantworten, indem er ein logisches Argument entwickelt, das zu einer Schlußfolgerung führt, die zweifelsfrei richtig ist und nie mehr in Frage gestellt wird. Eine solche Argumentation lautet folgendermaßen. • Die abgetrennten Eckfelder des Schachbretts waren beide weiß. Daher sind noch 32 schwarze und 30 weiße Quadrate übrig. • Jeder Dominostein bedeckt zwei benachbarte Quadrate, und diese sind immer verschiedenfarbig, das eine schwarz, das andere weiß. • Deshalb werden die ersten 30 Dominosteine, wie auch immer sie angeordnet sind, 30 weiße und 30 schwarze Quadrate des Schachbretts abdecken. • Folglich bleiben immer ein Dominostein und zwei schwarze Quadrate übrig.

• Jeder Dominostein bedeckt jedoch, wie wir uns erinnern, zwei benachbarte Quadrate, und diese sind immer von unterschiedlicher Farbe. Die beiden verbleibenden Quadrate müssen aber dieselbe Farbe haben und können daher nicht mit dem einen restlichen Dominostein abgedeckt werden. Das Schachbrett ganz abzudecken ist daher unmöglich! Dieser Beweis zeigt, daß das unvollständige Schachbrett mit keiner möglichen Anordnung der Dominosteine abzudecken ist. Auf ähnliche Weise ermittelte Pythagoras einen Beweis, der zeigt, daß sein Satz auf jedes mögliche rechtwinklige Dreieck zutrifft. Für Pythagoras war das Konzept des mathematischen Beweises heilig, und allein diesem Verfahren verdankte der pythagoreische Bund seine vielen Entdeckungen. Die meisten Beweise der neueren Zeit sind so unglaublich kompliziert, daß ein Laie den logischen Schritten nicht folgen kann, doch glücklicherweise ist der Argumentationsgang beim Satz des Pythagoras verhältnismäßig einfach und erfordert nur mathematische Kenntnisse aus den höheren Schulklassen. Der Beweis wird in Anhang 1 skizziert. Pythagoras’ Beweis ist unerschütterlich. Er zeigt, daß sein Satz für jedes rechtwinklige Dreieck im Universum gilt. Diese Entdekkung wurde als so wundersam erfahren, daß man den Göttern zum Dank hundert Ochsen opferte. Sie war ein Meilenstein der Mathematik und eine bahnbrechende Leistung in der Geschichte der Zivilisation. Die Entdeckung hatte zweifache Bedeutung. Zum ersten wurde die Idee des Beweises entwickelt. Ein bewiesenes mathematisches Ergebnis bringt eine tiefere Wahrheit zum Ausdruck als jede andere wahre Aussage, denn es handelt sich um das Resultat einer Schritt für Schritt logischen Argumentation. Zwar hatte der Philosoph Thales schon einige schlichte geometrische Beweise gefunden, doch erst Pythagoras brachte den Gedanken zur Reife und konnte viel anspruchsvollere mathematische Aussagen beweisen. Zum zweiten stellte der Satz des Pythagoras die Verknüpfung einer mathematischen Methode mit etwas Greifbarem dar. Pythagoras zeigte, daß die Wahrheiten der Mathematik in den Naturwissenschaften angewandt werden und ihnen ein logisches Grundgerüst

bieten können. Die Mathematik liefert der Naturwissenschaft eine feste Ausgangsbasis. Auf dieser vollkommen zuverlässigen Grundlage können die Naturwissenschaftler dann ihre ungenauen Messungen und unvollkommenen Beobachtungen anstellen. Letztlich sind daher alle Ergebnisse der Naturwissenschaft mit dem Makel der Ungewißheit behaftet.

Eine Unendlichkeit von Zahlentripeln Die pythagoreische Bruderschaft brachte mit ihrer unermüdlichen Suche nach der Wahrheit via Beweis Leben in die Mathematik. Die Kunde von ihrem Erfolg verbreitete sich rasch, und doch blieben die Entdeckungen im einzelnen ein streng gehütetes Geheimnis. Viele baten um Aufnahme ins innere Heiligtum des Wissens, doch nur die herausragenden Köpfe wurden angenommen. Zu den abgelehnten Kandidaten gehörte auch ein gewisser Kylon. Er protestierte gegen seine Demütigung, und zwanzig Jahre später schließlich übte er Vergeltung. Während der sechsundsiebzigsten Olympiade (510 v.Chr.) kam es in der nahe gelegenen Stadt Sybaris zu einem Aufstand. Telys, der siegreiche Anführer der Revolte, entfesselte eine barbarische Verfolgungsjagd gegen die Anhänger der gestürzten Regierung, die viele zur Flucht in die Obhut Krotons zwang. Telys forderte die Auslieferung der Verräter nach Sybaris, wo sie ihre gerechte Strafe zu erwarten hätten, doch Milon und Pythagoras riefen die Krotoner dazu auf, dem Tyrannen die Stirn zu bieten und die Flüchtlinge zu schützen. Der erzürnte Telys stellte sofort eine Armee von 300 000 Mann zusammen und marschierte gegen Kroton, wo Milon mit 100 000 bewaffneten Bürgern die Stadt verteidigte. In einem siebzigtägigen Krieg führte der überlegene Feldherr Milon die Krotoner zum Sieg. Zur Vergeltung leiteten sie den Fluß Crathis um, dessen Wasser Sybaris überflutete und die Stadt zerstörte. Der Krieg war zwar zu Ende, doch in Kroton herrschte immer noch Aufruhr um die Frage der Kriegsbeute. Die einfache Bevölke-

rung fürchtete, die pythagoreische Elite könnte die erbeuteten Ländereien allein für sich beanspruchen, und machte ihrem Unmut Luft. In weiten Kreisen war ohnehin schon der Ärger darüber gewachsen, daß der geheimniskrämerische Bund seine Entdeckungen immer noch geheimhielt. Bislang war diese Abneigung ohne Folgen geblieben, doch nun schwang sich Kylon zur Stimme des Volkes auf. Er schürte Furcht, Verschwörungsängste und Neid des Mobs und stiftete ihn zu einem Überfall an, um die bedeutendste Schule der Mathematik, welche die Welt je gesehen hatte, zu zerstören. Der Mob umzingelte Milons Haus und die angrenzende Schule, alle Türen wurden verschlossen und verrammelt, um die Flucht der Bewohner zu verhindern, und dann begann das Mordbrennen. Milon schlug sich einen Weg durch das Inferno und konnte fliehen, doch Pythagoras und viele seiner Schüler starben in den Flammen. Die Mathematik hatte ihren ersten großen Helden verloren, doch der pythagoreische Geist lebte weiter. Die Zahlen und ihre Wahrheiten blieben unsterblich. Pythagoras hatte gezeigt, daß die Mathematik weniger subjektiv ist als jede andere Disziplin. Seine Schüler brauchten ihren Meister nicht, um den Wert einer bestimmten Theorie zu beurteilen. Die Wahrheit einer Theorie war unabhängig von bloßer Meinung. Vielmehr war das Gebäude der mathematischen Logik zum Schiedsrichter über die Wahrheit geworden. Dies war der größte Beitrag der Pythagoreer zur menschlichen Kultur – ein Verfahren, zur Wahrheit zu gelangen, das die Fehlbarkeit des menschlichen Urteils hinter sich läßt. Nach dem Überfall Kylons und dem Tod ihres Gründervaters kehrten die pythagoreischen Bundesgenossen Kroton den Rücken und ließen sich in anderen Städten Magna Graecias nieder. Man verfolgte sie jedoch weiterhin, und viele mußten sich schließlich in fremden Ländern eine neue Heimat suchen. Nun, da man sie in alle Winde vertrieben hatte, ergriffen die Pythagoreer die Gelegenheit, ihr mathematisches Evangelium in der ganzen alten Welt zu verbreiten. Die Jünger des Pythagoras bauten neue Schulen auf und führten ihre Schüler in die Methode des logischen Beweises ein. Sie erläuterten nicht nur den Beweis des Satzes von Pythagoras,

+

32 9

+ +

=

42 16

= =

52 25

Abbildung 4: Die Suche nach ganzzahligen Lösungen für die Gleichung des Pythagoras läßt sich versinnbildlichen als Suche nach zwei Quadraten, die zusammengelegt ein drittes Quadrat ergeben. Zum Beispiel kann ein Quadrat, das aus 9 Teilquadraten besteht, mit einem Quadrat aus 16 Teilquadraten zu einem dritten Quadrat zusammengelegt werden, das nun aus 25 Teilquadraten besteht.

sondern offenbarten der Welt auch das Geheimnis, wie die sogenannten pythagoreischen Tripel zu finden sind. Pythagoreische Tripel bestehen aus drei ganzen Zahlen, welche die pythagoreische Gleichung x2 + y2 = z 2 erfüllen. Zum Beispiel ist Pythagoras’ Gleichung wahr für x = 3, y = 4 und z = 5: 32 + 42 = 52,

9 + 16 = 25.

Eine weitere Möglichkeit, sich die pythagoreischen Tripel zu veranschaulichen, ist die Neuanordnung von Quadraten. Haben wir ein 3 × 3-Quadrat aus 9 Teilquadraten und ein 4 × 4-Quadrat aus 16 Teilquadraten, können wir alle 25 Teilquadrate zu einem neuen, 5 × 5-Quadrat zusammenlegen, wie in Abbildung 4 gezeigt. Die Pythagoreer suchten nach weiteren Beispielen für pythagoreische Tripel, nach anderen Quadraten, die zusammengelegt ein drittes, größeres Quadrat ergaben. Eines davon ist x = 5, y = 12 und z = 13: 52 + 122 = 132,

25 + 144 =169.

Ein größeres pythagoreisches Tripel ist x = 99, y = 4 900 und z = 4901. Je höher die Zahlen, desto seltener und schwerer sind neue Exemplare solcher Tripel zu finden. Um so viele Tripel wie

möglich zu entdecken, erfanden die Pythagoreer ein besonderes Verfahren und wiesen damit zugleich nach, daß es tatsächlich eine unendliche Anzahl pythagoreischer Tripel gibt.

Vom Satz des Pythagoras zum letzten Satz Fermats E. T. Bell erörtert diese unendliche Anzahl pythagoreischer Tripel in seinem Buch The Last Problem, das in der Bibliothek die Aufmerksamkeit des jungen Andrew Wiles erregte. Zwar hatten die Pythagoreer das Problem der Tripel fast vollständig durchdrungen, doch Wiles fand bald heraus, daß die auf den ersten Blick harmlose Gleichung x2 + y2 = z2 auch eine dunkle Seite hat: In Beils Buch stieß er auf ein mathematisches Gespenst. Die drei Variablen x, y und z in Pythagoras’ Gleichung sind ins Quadrat erhoben (d. h. x2 = x × x): x2 + y2 = z2. Bei Bell fand sich nun eine ähnliche Gleichung, in der x, y und z hoch drei genommen werden (d. h. x3 = x × x × x). In dieser Gleichung ist die sogenannte Potenz von x nicht 2, sondern 3: x3 + y3 = z3. Es war noch verhältnismäßig leicht, ganzzahlige Lösungen – also pythagoreische Tripel – für die ursprüngliche Gleichung zu finden, doch sobald die Potenz von 2 auf 3 erhöht wird (aus dem Quadrat also ein Würfel wird), sind ganzzahlige Lösungen der Gleichung offenbar unmöglich. Ganze Generationen von Mathematikern haben an diesem Problem herumgekritzelt, ohne Zahlen zu finden, welche die Gleichung genau erfüllen. Bei der ursprünglichen »quadratischen« Gleichung bestand die Aufgabe darin, zwei aus Teilquadraten bestehende Quadrate so zusammenzulegen, daß sie ein drittes, größeres Quadrat ergaben. Bei der »kubischen« Gleichung muß das Problem gelöst werden, zwei

=

+

63 216

+ +

83 512

= =

93 - 1 729 - 1

Abbildung 5: Ist es möglich, die Bausteine eines Würfels mit dem eines anderen Würfels so zusammenzufügen, daß sich ein dritter, größerer Würfel ergibt? In diesem Beispiel mit einem 6× 6 × 6-Würfel und einem weiteren 8 × 8 × 8-Würfel ergeben sich zusammen nicht genug Bausteine, um einen 9 × 9 × 9-Würfel zu bilden. Der erste Würfel besteht aus 216 (63), der zweite aus 512 (8 3) Bausteinen. Zusammen gibt dies 728 Bausteine, einer weniger als 93.

Würfel, die wiederum aus kleinen Würfeln bestehen, zu einem dritten, größeren Würfel zusammenzusetzen. Egal, mit welchen Würfeln man auch beginnt, das Ergebnis sind offenbar immer Würfel, die entweder vollständig sind – wobei jedoch einige Bausteine übrigbleiben – oder unvollständig. Der Lösung am nächsten kommen allenfalls Würfel, bei denen ein Baustein fehlt oder einer überzählig ist. Wenn wir etwa mit den Würfeln 63 (x3) und 83 (y3) beginnen und deren Bausteine zusammensetzen, erhalten wir einen 93-Würfel, bei dem nur ein Baustein fehlt (Abbildung 5). Drei Zahlen zu finden, welche die Gleichung genau erfüllen, ist offenbar unmöglich. Das heißt, es scheint keine ganzzahligen Lösungen zu geben für die Gleichung x3 + y3 = z 3. Und das ist noch nicht alles. Erhöht man die Potenz von 3 (Würfel) auf eine beliebige größere Zahl n (z.B. 4, 5, 6...) – dann scheint auch in diesen Fällen eine Lösung unmöglich zu sein. Offenbar gibt es keine ganzzahligen Lösungen für die allgemeinere Gleichung xn + yn = zn, mit n größer als 2.

Allein weil wir die »2« in der Gleichung des Pythagoras durch eine höhere Zahl ersetzen, wird die Suche nach ganzzahligen Lösungen, die vorher recht simpel war, eine hirnzermarternde Aufgabe. Der große französische Mathematiker Pierre de Fermat hatte im siebzehnten Jahrhundert die verblüffende Behauptung aufgestellt, niemand werde eine Lösung finden, einfach deshalb, weil es keine gebe. Fermat ist einer der herausragenden und faszinierendsten Mathematiker der Geschichte. Die unendliche Reihe der Zahlen konnte er gewiß nicht überprüft haben, doch war er sich vollkommen sicher, daß keine Zahlenkombination existiert, welche die Gleichung erfüllt – eben weil er seine Behauptung auf einen Beweis gründete. Ebensowenig wie Pythagoras jedes Dreieck nachmessen mußte, um die Wahrheit seines Satzes nachzuweisen, mußte Fermat jede Zahlenkombination durchrechnen, um die Gültigkeit seines Satzes zu beweisen. Fermats Vermutung, sein sogenannter letzter Satz, lautet: xn + yn = zn hat keine ganzzahligen Lösungen für n größer als 2. Wiles las Beils Buch Kapitel für Kapitel und erfuhr, wie Fermat sich zusehends für Pythagoras’ Werk begeistert hatte und schließlich darauf verfallen war, abgewandelte Formen seiner Gleichung zu untersuchen. Dann las er von Fermats Behauptung, auch wenn sämtliche Mathematiker der Welt bis in alle Ewigkeit eine Lösung der Gleichung suchten, würden sie keine finden. Wiles muß Seite um Seite begierig verschlungen haben in der Vorfreude darauf, endlich selbst den Beweis für Fermats Satz prüfen zu können. Doch der Beweis blieb aus. Er war nirgends zu finden. Bell schloß sein Buch mit der Bemerkung, der Beweis sei vor langer Zeit verlorengegangen. Es gebe keinen Hinweis darauf, wie er wohl ausgesehen hätte, keine Andeutungen, wie er konstruiert oder abgeleitet war. Andrew blieb, wütend und fasziniert zugleich, vor einem Rätsel zurück. Und damit war er in guter Gesellschaft. Über drei Jahrhunderte lang haben viele große Mathematiker versucht, Fermats verlorenen Beweis wiederzuentdecken, und kei-

nem einzigen ist es gelungen. Mit jeder neuen Generation wuchs die Enttäuschung, doch auch die Entschlossenheit. Im Jahr 1742, fast ein Jahrhundert nach Fermats Tod, bat der Schweizer Mathematiker Leonhard Euler seinen Freund Clêrot, in Fermats Haus nach einem Fetzen Papier mit einer vielleicht entscheidenden Notiz zu suchen. Doch nie fand man einen Hinweis, wie Fermats Beweis ausgesehen haben mochte. Im zweiten Kapitel werden wir mehr über diesen mysteriösen Pierre de Fermat erfahren und darüber, wie sein Beweis verlorenging. Doch vorerst genügt es zu wissen, daß Fermats letzter Satz, ein Problem, das die Mathematiker über die Jahrhunderte gefesselt hatte, die Phantasie des jungen Andrew Wiles in seinen Bann zog. In der Milton-Road-Bibliothek saß ein zehnjähriger Junge, die Augen unablässig auf das berüchtigtste Problem der Mathematik gerichtet. In solchen Fällen ist meist schon die Fragestellung schwer zu verstehen, doch hier war sie einfach: Beweise, daß xn +yn = zn keine ganzzahligen Lösungen für n größer als 2 besitzt. Daß die begnadetsten Köpfe des Planeten keine Lösung gefunden hatten, schreckte Andrew nicht. Mit dem ganzen mathematischen Rüstzeug seiner Lehrbücher unternahm er sogleich den Versuch, den Beweis erneut aufzustellen. Vielleicht konnte er etwas finden, das alle außer Fermat übersehen hatten. Er träumte davon, der Welt einen Schock zu versetzen. Dreißig Jahre später war Andrew Wiles soweit. Er stand im Hörsaal des Isaac Newton Institute, kritzelte eine Zeile an die Tafel und blickte dann, mühsam seine Freude verbergend, in die Gesichter des Publikums. Alle wußten, daß die Vorlesung ihrem Höhepunkt entgegenging. Manche hatten Fotoapparate in den Vorlesungssaal geschmuggelt, die nun Andrews Schlußsätze mit Lichtblitzen spickten. Die Kreide in der Hand, wandte sich Andrew ein letztes Mal der Tafel zu. Noch ein paar Zeilen mit Schlußfolgerungen, und der Beweis war erbracht. Zum ersten Mal in über dreihundert Jahren hatte Fermats Herausforderung eine Antwort gefunden. Ein paar weitere Kameras blitzten, um den historischen Augenblick festzuhalten. Wiles schrieb Fermats letzten Satz vollständig an die Tafel,

Am 23. Juni 1993 hielt Wiles eine Vorlesung am Isaac Newton Institute in Cambridge. Dieses Foto entstand, unmittelbar nachdem er den Beweis für Fermats letzten Satz erbracht hatte. Ebensowenig wie sein Publikum ahnte er damals, was für ein Alptraum auf ihn zukommen sollte.

drehte sich dem Publikum zu und sagte bescheiden: »Ich denke, das genügt!« Zweihundert Mathematiker klatschten in die Hände und stießen Jubelschreie aus. Selbst jene Kollegen, die das Ergebnis vorausgeahnt hatten, grinsten ungläubig. Nach dreißig Jahren, so glaubte Andrew Wiles, hatte er sich seinen Traum erfüllt, und nach siebenjähriger Abschottung konnte er seine geheimgehaltenen Berechnungen endlich offenlegen. In diesem Augenblick, den er mit allen Anwesenden genoß, ahnte er nichts von den Schrecken, die ihn erwarteten.

Pierre de Fermat

2 Das Rätsel »Weißt du«, gestand der Teufel, »nicht einmal die besten Mathematiker auf den anderen Planeten – alle viel weiter als deiner – konnten das Rätsel lösen. Da ist sogar ein Kerl auf Saturn, der aussieht wie ein Pilz auf Stelzen und partielle Differentialgleichungen im Kopf löst: selbst der hat aufgegeben.«

The Devil and Simon Flagg Arthur Poges

Der Fürst der Amateure Pierre de Fermat wurde am 20. August 1601 in der südwestfranzösischen Stadt Beaumont de Lomagne geboren. Der Vater, Dominique Fermat, war ein wohlhabender Lederhändler, und so kam Fermat in den Genuß einer vorzüglichen Schulbildung im Franziskanerkloster Grandselve, der sich ein Studium an der Universität von Toulouse anschloß. Ob sich Fermat schon als junger Mann in der Mathematik besonders hervorgetan hat, ist nicht bekannt. Auf Drängen der Familie schlug Fermat eine juristische Laufbahn ein und wurde 1631 zum Conseiller au Parlement de Toulouse ernannt, wo er als Hofrat an der Petitionskammer tätig war. Wollten die Bürger der Stadt ein Gesuch an den König richten, mußten sie zuallererst Fermat oder einen seiner Amtskollegen vom Gewicht ihrer Eingabe überzeugen. Die Räte waren die Lebensader zwischen Paris und der Provinz. Sie vermittelten jedoch nicht nur zwischen der lokalen Bevölkerung und dem Monarchen, sondern gewährleisteten auch, daß die königlichen Erlasse aus der Hauptstadt in den Regionen befolgt wurden. Fermat war ein tüchtiger

Staatsdiener, der nach allem, was man weiß, seine Pflichten gewissenhaft und umsichtig erfüllte. Fermat war außerdem als Richter tätig und kraft seines hohen Ranges mit den schwersten Fällen betraut. Der englische Mathematiker Sir Kenelm Digby berichtet von dieser Arbeit. Digby hatte Fermat um ein Treffen ersucht, doch in einem Brief an den gemeinsamen Kollegen John Wallis schrieb er, der Franzose sei mit dringenden Justizangelegenheiten befaßt und habe ihn deshalb nicht empfangen können. Nun hatte ich leider genau den Tag erwischt, da die Versetzung der Richter von Castres nach Toulouse stattfand, wo er [Fermat] zum leitenden Richter am obersten Gerichtshof bestallt wurde. Seither ist er mit Kapitalverbrechen von großer Bedeutung befaßt. In einem Fall hat er ein Urteil gesprochen, welches großes Aufsehen erregt hat. Es ging um die Verurteilung eines Priesters, der sein Amt mißbraucht hatte, zum Tode auf dem Scheiterhaufen. Diese Strafsache ist gerade abgeschlossen, die Hinrichtung ist vollzogen. Fermat korrespondierte regelmäßig mit Digby und Wallis. Seine Briefe waren, wie wir noch sehen werden, oft nicht gerade freundlich, doch bieten sie interessante Einblicke in Fermats Alltag und seine wissenschaftliche Tätigkeit. Fermat machte im Staatsdienst rasch Karriere, gewann Zugang zu den führenden gesellschaftlichen Kreisen und auch das Recht, ein de im Namen zu führen. Den Aufstieg hatte er jedoch weniger seinem Ehrgeiz als seiner robusten Gesundheit zu verdanken. In ganz Europa wütete damals die Pest, und wer sie überlebte, wurde ausersehen, die Plätze der Verstorbenen einzunehmen. Selbst Fermat erlitt im Jahr 1652 einen Pestanfall und erkrankte so schwer, daß sein Freund Bernard Medon mehreren Kollegen mitteilte, er sei tot. Kurze Zeit später jedoch korrigierte er sich in einem Brief an den Holländer Nicholas Heinsius:

Ich habe Ihnen vor einiger Zeit mitgeteilt, Fermat sei verstorben. Doch er lebt, und wir fürchten nun nicht mehr um seine Gesundheit, auch wenn wir ihn vor kurzem noch zu den Toten zählten. Die Pest wütet nicht mehr unter uns. Fermat mußte jedoch nicht nur die gesundheitlichen Gefahren des siebzehnten Jahrhunderts überstehen, sondern auch die politischen. Als man ihn zum Mitglied des Toulouser obersten Gerichtshofs ernannte, war es gerade drei Jahre her, daß Kardinal Richelieu zum Ersten Minister Frankreichs bestallt worden war. Es war eine Zeit der Ränke und Intrigen, und alle, die mit Staatsgeschäften zu tun hatten – und sei es nur in der Provinz –, mußten sorgfältig darauf achten, nicht in die Machenschaften des Kardinals verwickelt zu werden. Fermat nahm sich zu Herzen, seine Pflichten gewissenhaft zu erfüllen und keine Aufmerksamkeit auf seine Person zu lenken. Politischen Ehrgeiz besaß er nicht, und er mühte sich nach Kräften, nicht in die ungestümen Händel des Gerichtshofs verwikkelt zu werden. Statt dessen widmete er seine verbleibenden Kräfte der Mathematik, und wenn er nicht gerade Priester zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilte, gab er sich von ganzem Herzen seiner Liebhaberei hin. Fermat war ein echter Amateur, laut E. T. Bell der »Fürst der Amateure«. Julian Coolidge hingegen nahm Fermat nicht in sein Buch Mathematics of Great Amateurs auf, eben weil er »echte Größe besaß, weshalb man ihn zu den Professionellen zählen sollte«. Zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts befreite sich die Mathematik erst allmählich aus dem dunklen Mittelalter. Sie war keine besonders angesehene Disziplin, auch die Mathematiker selbst genossen keinen besonderen Respekt und mußten ihre Studien meist selbst finanzieren. Galilei zum Beispiel konnte an der Universität von Pisa nicht Mathematik studieren und war gezwungen, Privatunterricht zu nehmen. Die einzige europäische Institution, die Mathematiker engagiert förderte, war die Universität Oxford, die 1619 den Savilian-Lehrstuhl für Geometrie eingerichtet hatte. Mit Recht läßt sich sagen, daß die meisten Mathematiker des siebzehnten Jahrhunderts Amateure waren, Fermat jedoch war ein beson-

derer Fall. Er lebte weitab von Paris und hatte deshalb keinen Zugang zu dem damals schon vorhandenen kleinen Kreis von Mathematikern um Pascal, Gassendi, Roberval, Beaugrand und vor allem den Mönch Marin Mersenne. Mersennes Beiträge zur Zahlentheorie mochten zwar bescheiden gewesen sein, dennoch spielte er in der Mathematik des siebzehnten Jahrhunderts nachweislich eine wichtigere Rolle als seine angeseheneren Kollegen. Nachdem er 1611 in den Paulanerorden eingetreten war, studierte er Mathematik, um sie anschließend den Mönchen und Nonnen im Paulanerkloster von Nevers beizubringen. Acht Jahre später ging er nach Paris, wo er sich den Paulanern der Annonciade in der Nähe der Place Royale anschloß, zur damaligen Zeit ein Tummelplatz für Intellektuelle. Dort lernte Mersenne unweigerlich die anderen Pariser Mathematiker kennen, die sich aber zu seiner Enttäuschung untereinander und auch mit ihm nur widerwillig austauschten. Der geheimniskrämerische Zug der Pariser Mathematiker ist seit den Kossisten des sechzehnten Jahrhunderts Tradition. Die Kossisten waren Fachleute für Berechnungen aller Art und wurden von Kaufleuten und Unternehmern angeheuert, um schwierige Probleme der Buchführung zu lösen. Die besten Kossisten erfanden ihre eigenen ausgeklügelten Lösungsverfahren und setzten alles daran, diese geheimzuhalten, um ihren Ruf zu wahren, als einzige bestimmte Probleme lösen zu können. So war es ganz außergewöhnlich, daß Niccolò Tartaglia, der eine Methode zur raschen Lösung kubischer Gleichungen gefunden hatte, seine Entdeckung Girolamo Cardano mitteilte, den er freilich auf absolute Geheimhaltung einschwor. Zehn Jahre später brach Cardano sein Versprechen und veröffentlichte Tartaglias Methode in seiner Ars Magna, was ihm Tartaglia nie verzieh. Er brach alle Beziehungen zu Cardano ab und entfesselte einen heftigen öffentlichen Streit, der andere Mathematiker nur noch mehr darin bestärkte, ihre Geheimnisse für sich zu behalten. Diese Tradition setzte sich bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts fort, und wie wir später sehen werden, gibt es selbst im zwanzigsten Jahrhundert Genies, die in völliger Abgeschiedenheit arbeiten.

Als Pater Mersenne nach Paris kam, war er entschlossen, diesen Ethos der Verschwiegenheit zu bekämpfen, und forderte die Mathematiker auf, ihre Gedanken offenzulegen und sich ihre Arbeiten gegenseitig zunutze zu machen. Der Mönch arrangierte regelmäßige Treffen einer Gruppe von Gelehrten, die später den Kern der Académie française bilden sollte. Wenn einer sich weigerte, daran teilzunehmen, gab Mersenne alles weiter, was er besaß, ob nun Briefe oder Papiere – auch wenn man sie ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hatte. Ein Mann Gottes durfte sich eigentlich nicht so verhalten, doch er rechtfertigte sich mit dem Argument, der Austausch von Wissen werde der Mathematik und der Menschheit zugute kommen. Die Indiskretionen des wohlmeinenden Mönchs führten zu bitteren Auseinandersetzungen mit den schweigsamen Primadonnen und schließlich auch zum Bruch der Freundschaft mit Descartes, die auf das gemeinsame Studium am Jesuitenkolleg von La Flèche zurückging. Mersenne hatte philosophische Schriften Descartes’ veröffentlicht, die von der Kirche als Affront betrachtet werden mußten – einer Kirche, die, wie angesichts der von Fermat ausgesprochenen Strafen deutlich wird, im Umgang mit Häretikern keine Gnade kannte. Mersenne muß zugute gehalten werden, daß er Descartes gegen theologische Angriffe verteidigte, wie er zuvor auch schon Galilei in Schutz genommen hatte. Mersenne stand für rationales Denken in einem von Religion und Magie beherrschten Zeitalter. Auf seinen Reisen durch ganz Frankreich und auch in andere Länder verbreitete Mersenne die Kunde von den neuesten Entdekkungen. Besonderen Wert legte er darauf, Pierre de Fermat aufzusuchen, und er war offenbar der einzige Mathematikerkollege, mit dem Fermat regelmäßig zusammentraf. Mersennes Einfluß auf diesen Fürsten der Amateure wird wohl nur von der Arithmetica übertroffen worden sein, einer aus griechischer Zeit überlieferten mathematischen Abhandlung, mit der sich Fermat unablässig beschäftigte. Auch wenn Mersenne nicht reisen konnte, hielt er die Verbindung zu Fermat und anderen mit fleißigem Briefeschreiben aufrecht. Nach Mersennes Tod fand man in seinem Zimmer stapelweise Briefe von achtundsiebzig verschiedenen Korrespondenzpartnern.

Mersenne ermunterte Fermat, seine Beweise zu veröffentlichen, doch dieser weigerte sich beharrlich. Publikation und Anerkennung bedeuteten ihm nichts – er gab sich mit dem schlichten Vergnügen zufrieden, in aller Ruhe neue mathematische Sätze zu postulieren. Das scheue und zurückgezogene Genie Fermat besaß freilich auch einen schelmischen Zug, der, wenn die Geheimniskrämerei noch hinzukam, zur Folge hatte, daß er mit anderen Mathematikern nur in Verbindung trat, um sie zu foppen. Er schrieb Briefe, in denen er seine neuesten Sätze verkündete, ohne deren Beweis mitzuliefern. Dann forderte er seine Zeitgenossen auf, diesen zu suchen. Daß er seine eigenen Beweise nie offenbarte, führte zu manchem Zerwürfnis. René Descartes nannte Fermat einen »Aufschneider«, und der Engländer John Wallis verwünschte ihn als »diesen verdammten Franzosen«. Zu allem Unglück für die Engländer bereitete es Fermat besonderes Vergnügen, die Kollegen jenseits des Kanals auf den Arm zu nehmen. Fermats Angewohnheit, ein Problem darzulegen, dessen Lösung jedoch für sich zu behalten, brachte ihm nicht nur die Befriedigung, seine Kollegen ärgern zu können, sondern hatte auch praktischere Beweggründe. Erstens mußte er seine Zeit nicht damit verschwenden, seine Methoden ganz auszuformulieren, und konnte sich zügig an die nächste Eroberung machen. Zudem mußte er keine eifersüchtigen Mäkeleien über sich ergehen lassen. War ein Beweis einmal veröffentlicht, würden Hinz und Kunz, die auch nur ein wenig vom Thema verstanden, die einzelnen Schritte überprüfen und diskutieren. Auf das Drängen Blaise Pascals, einen Teil seiner Arbeiten zu veröffentlichen, antwortete der Eremit: »Was auch immer von meinem Werk man für publikationswürdig erachtet, ich möchte meinen Namen nicht darunter sehen.« Fermat verkörperte das verschwiegene Genie, das den Ruhm opferte, um nicht von den kleinkarierten Fragen seiner Kollegen belästigt zu werden. Bei diesem Briefwechsel mit Pascal, dem einzigen neben Mersenne, mit dem er seine Ideen erörterte, ging es um die Schöpfung eines ganz neuen Zweigs der Mathematik – der Wahrscheinlichkeitstheorie. Pascal führte den mathematischen Eremiten in das Gebiet ein, weshalb Fermat sich trotz aller Rückzugsneigungen

verpflichtet fühlte, seine Ideen zu diskutieren und den Dialog aufrechtzuerhalten. Gemeinsam entdeckten Fermat und Pascal die ersten Beweise und untermauerten die Wahrscheinlichkeitstheorie, die ja naturgemäß mit Ungewißheiten zu tun hat, mit einem Fundament aus Gewißheiten. Pascals Interesse an diesem Thema hatte ein Pariser Berufsspieler geweckt, Antoine Gombaud, Chevalier de Méré, dem bei dem Glücksspiel Points ein Problem aufgefallen war. Es ging darum, beim Würfeln Punkte zu erzielen, und wer zuerst eine bestimmte Punktzahl erlangte, war Gewinner und strich das Preisgeld ein. Gombaud war zusammen mit einem Kollegen mitten in einem solchen Spiel, als sie es wegen einer dringenden Verabredung unterbrechen mußten. So ergab sich das Problem, was sie mit dem Einsatz anfangen sollten. Die einfache Lösung wäre gewesen, den ganzen Betrag dem Spieler mit den meisten Punkten zu geben, doch Gombaud fragte Pascal, ob es eine fairere Möglichkeit gebe, das Geld aufzuteilen. Pascal stand also vor dem Problem, die Wahrscheinlichkeit zu berechnen, mit der jeder Teilnehmer das Spiel gewinnen würde, wenn es mit gleichen Chancen für beide Teilnehmer fortgesetzt würde. Der Einsatz konnte dann entsprechend den berechneten Wahrscheinlichkeiten verteilt werden. Schon vor dem siebzehnten Jahrhundert besaßen Berufsspieler aufgrund ihrer Erfahrung eine intuitive Vorstellung von den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit, doch Pascal eröffnete seinen Briefwechsel mit Fermat mit dem Ziel, die mathematischen Regeln zu entdecken, mit denen sich diese Gesetze genauer bestimmen lassen. Drei Jahrhunderte später bemerkte Bertrand Russell zu diesem scheinbaren Widerspruch in sich selbst: »Wie können wir nur von den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit sprechen? Ist Wahrscheinlichkeit nicht die Antithese zu jeglichem Gesetz?« Die Franzosen gingen Gombauds Frage nach und erkannten bald, daß es sich um ein verhältnismäßig triviales Problem handelte, das gelöst werden konnte, wenn man alle möglichen Spielresultate und deren jeweilige Wahrscheinlichkeit genau bestimmte. Pascal und Fermat konnten Gombauds Problem unabhängig voneinander lösen. Dank der gemeinsamen Arbeit waren sie dabei

recht schnell vorangekommen, und so nahmen sie sich vor, schwierigere und anspruchsvollere Fragen der Wahrscheinlichkeit auszuloten. Wahrscheinlichkeitsprobleme sind gelegentlich umstritten, weil die mathematische Antwort, die wahre Antwort, häufig den intuitiven Schlüssen widerspricht. Daß die Intuition hier versagt, überrascht uns, denn man sollte meinen, im Überlebenskampf der Evolution sei ein Gehirn entstanden, dem die Lösung solcher Fragen ganz natürlich von der Hand geht. Stellen wir uns einmal vor, wie sich unsere Vorfahren auf der Jagd an einen jungen Hirsch heranschlichen und überlegten, ob sie nun angreifen sollten oder nicht. Wie hoch ist das Risiko, daß ein ausgewachsener Zwölfender in der Nähe darauf lauert, seinen Nachwuchs zu verteidigen und den Angreifer zu verletzen? Wie stehen andererseits die Chancen, daß sich bald eine bessere Gelegenheit bietet, ein Mahl aufzutreiben, wenn man die Lage jetzt als zu riskant einschätzt? Ein Talent dafür, Wahrscheinlichkeiten abzuschätzen, sollte zu unserer genetischen Ausstattung gehören, und doch führt uns die Intuition häufig in die Irre. Eines der am stärksten unserer Intuition widersprechenden Wahrscheinlichkeitsprobleme ist das der gemeinsamen Geburtstage. Nehmen wir ein Fußballfeld mit 23 Personen, den Spielern und dem Schiedsrichter. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, daß zwei von ihnen am gleichen Tag Geburtstag haben? Bei 23 Personen und 365 möglichen Geburtstagen ist es auf den ersten Blick unwahrscheinlich, daß zwei Geburtstage zusammenfallen. Die meisten werden bei dieser Frage vielleicht auf höchstens 10 Prozent Wahrscheinlichkeit tippen. Tatsächlich liegt sie bei über 50 Prozent – das heißt, wenn es nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung geht, stehen die Chancen eher dafür als dagegen, daß zwei Personen in diesem Beispiel am gleichen Tag Geburtstag haben. Dieser hohen Wahrscheinlichkeit liegt der Umstand zugrunde, daß es hier weniger um die Zahl der Personen geht als um die Zahl der Paarungsmöglichkeiten. Wenn wir nach gemeinsamen Geburtstagen suchen, müssen wir Paare und nicht Einzelpersonen ins Auge fassen. Zwar befinden sich 23 Menschen auf dem Feld,

doch gibt es 253 mögliche Paare. So kann der erste mit jedem der 22 anderen ein Paar bilden, was schon einmal 22 Paarungen ergibt. Dann kann der zweite mit jeder der verbleibenden 21 Personen zusammengestellt werden (das Paar, das die erste mit der zweiten Person bildet, haben wir schon gezählt, so daß die Zahl der möglichen Paarungen jetzt um eins kleiner ist), wir erhalten also 21 weitere Paare. Schließlich kann der dritte mit den verbleibenden 20 Personen zusammengehen, und so weiter, bis wir insgesamt 253 Paare erhalten. Die Behauptung, es sei zu mehr als 50 Prozent wahrscheinlich, daß bei einer Gruppe von 23 Menschen zwei am gleichen Tag Geburtstag haben, widerstreitet unserer Intuition und ist doch mathematisch unwiderlegbar. Auf derlei sonderbare Wahrscheinlichkeiten stützen sich Buchmacher und Spieler, um den Arglosen Geld aus der Tasche zu ziehen. Wenn Sie das nächste Mal auf einer Party mit mehr als 23 Gästen sind, könnten Sie die Wette riskieren, daß zwei der Anwesenden am selben Tag Geburtstag haben. Beachten Sie, daß bei einer Gruppe von 23 Leuten die Wahrscheinlichkeit nur wenig mehr als 50 Prozent beträgt, jedoch rasch ansteigt, wenn die Zahl der Anwesenden wächst. Bei einer Party mit 30 Gästen lohnt es sich daher immer zu wetten, daß zwei von ihnen am selben Tag Geburtstag haben. Fermat und Pascal deckten die Gesetzmäßigkeiten auf, die in allen Glücksspielen zum Tragen kommen und die sich Spieler für ausgeklügelte Spiel- und Wettstrategien zunutze machen können. Diese Wahrscheinlichkeitsgesetze finden auch in einer ganzen Reihe anderer Bereiche Anwendung, von der Börsenspekulation bis zur Berechnung der Wahrscheinlichkeit eines atomaren Unfalls. Pascal war sogar davon überzeugt, mit seinen Theorien den Glauben an Gott rechtfertigen zu können. So behauptete er, die Begeisterung eines Spielers, der eine Wette eingeht, sei gleich dem Betrag, den er gewinnen könnte, mal der Wahrscheinlichkeit des Gewinns. Der mögliche Gewinn ewiger Glückseligkeit, so Pascal weiter, habe unendlichen Wert, und die Wahrscheinlichkeit, durch tugendhaftes Leben in den Himmel zu kommen, sei, wie gering auch immer, auf jeden Fall endlich groß. Deshalb ist die Religion,

Pascals Definition zufolge, ein Spiel mit unendlich großer Begeisterung, das den Einsatz wert ist, denn die Multiplikation eines unendlichen Gewinns mit einer endlichen Wahrscheinlichkeit ergibt einen unendlichen Wert. Fermat war nicht nur zusammen mit Pascal der Schöpfer der Wahrscheinlichkeitstheorie, er trug auch wesentlich zur Begründung eines anderen Zweigs der Mathematik bei, der Differentialrechnung. Sie ermöglicht es, die Veränderungsrate, oder die Ableitung, einer Quantität im Hinblick auf eine andere zu berechnen. Bei den Mathematikern sind die betreffenden Quantitäten meist abstrakt und wenig greifbar, doch Fermats Arbeiten hatten revolutionäre Folgen für die Wissenschaft. Zum Beispiel ist die Veränderungsrate der Entfernung im Verhältnis zur Zeit besser als Geschwindigkeit bekannt. Fermats mathematische Grundlegung bot den Wissenschaftlern die Möglichkeit, den Begriff der Geschwindigkeit zu klären und seine Beziehung zu anderen wesentlichen Quantitäten wie etwa der Beschleunigung – der Veränderungsrate der Geschwindigkeit im Verhältnis zur Zeit – besser auszuarbeiten. Auch die Wirtschaftswissenschaft ist stark von der Differentialrechnung geprägt. Die Inflation ist die Veränderungsrate der Preise – sie wird auch als Ableitung des Preises bezeichnet –, und die Ökonomen interessieren sich zudem noch häufig für die Veränderungsrate der Inflation, der zweiten Ableitung der Preise. Diese Ausdrücke sind oft aus Politikermund zu hören; der Mathematiker Hugo Rossi hat dazu einmal bemerkt: »Im Herbst 1972 verkündete Präsident Nixon, die Beschleunigungsrate der Inflation nehme ab. Dies war das erste Mal, daß ein amtierender Präsident zugunsten seiner Wiederwahl eine dritte Ableitung ins Feld führte.« Jahrhundertelang herrschte die Auffassung, Isaac Newton habe die Differentialrechnung unabhängig und ohne Kenntnis von Fermats Werk entwickelt, doch im Jahr 1934 entdeckte Professor L. T. Moore eine Notiz, in der Newton die Dinge klarstellte und Fermat die gebührende Anerkennung aussprach. Newton zufolge gründet seine Differentialrechnung auf »Monsieur Fermats Verfahren, Tangenten zu zeichnen«. Seit Newton Fermats Ideen zur klassischen Form der Differentialrechnung ausarbeitete, wird sie zur Formu-

lierung seines oben erwähnten Gravitationsgesetzes und der Gesetze der Mechanik verwendet, die auf Entfernung, Geschwindigkeit und Beschleunigung beruhen. Die Grundlegung der Differentialrechnung und der Wahrscheinlichkeitstheorie hätte bei weitem ausgereicht, um Fermat einen Platz unter den großen Mathematikern der Geschichte zu sichern, doch seine größte Leistung erbrachte er auf einem weiteren Gebiet der Mathematik. Heute schießt man mit Hilfe der Differentialrechnung Raketen zum Mond, und die Versicherungsunternehmen setzen die Wahrscheinlichkeitstheorie zur Risikoberechnung ein, doch Fermats besondere Vorliebe galt einem Thema, aus dem kaum praktischer Nutzen zu schlagen ist – der Zahlentheorie. Fermat untersuchte mit leidenschaftlichem Interesse die Eigenschaften der Zahlen und ihre Beziehungen untereinander. Dies ist die reinste und älteste Art, Mathematik zu treiben, und Fermat konnte auf einen Wissensfundus bauen, der seit Pythagoras weitergegeben worden war.

Die Entwicklung der Zahlentheorie Nach Pythagoras’ Tod fand der Gedanke des mathematischen Beweises rasch Verbreitung in der gesamten zivilisierten Welt. Zwei Jahrhunderte nach dem Niederbrennen der Schule war das Zentrum der mathematischen Forschung nicht mehr Kroton, sondern die Stadt Alexandria. Nach der Eroberung Griechenlands, Kleinasiens und Ägyptens beschloß Alexander der Große im Jahr 332 v. Chr., sich eine Hauptstadt zu errichten, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Alexandria war in der Tat eine beeindruckende Metropole, doch zunächst kein Brennpunkt der Gelehrsamkeit. Erst nach dem Tode Alexanders, dem Ptolemaios I. auf dem ägyptischen Thron folgte, wurde Alexandria zur Heimstatt der ersten Universität der Welt. Die Kulturstadt des Ptolemaios zog Mathematiker und viele andere Gelehrte an, gewiß auch aufgrund des Rufs der Universität, doch vor allem wegen der Bibliothek. Die alexandrinische Bibliothek ging auf eine Idee des Demetrius

Phalaerus zurück, eines unbequemen Redners, der zur Flucht aus Athen gezwungen worden war und schließlich in Alexandria Obhut gefunden hatte. Er veranlaßte Ptolemaios, alle großen Bücher zu sammeln, denn alle großen Köpfe würden ihnen folgen. Als die Bücher aus Ägypten und Griechenland zusammengetragen waren, schickte man Gesandte in ganz Europa und Kleinasien auf die Suche nach weiteren Werken mit den Zeugnissen des menschlichen Wissens. Selbst Vergnügungsreisende nach Alexandria konnten sich dem gewaltigen Appetit der Bibliothek nicht entziehen. Beim Eintritt in die Stadt beschlagnahmte man ihre Bücher und übergab sie den Kopisten. Die Werke wurden abgeschrieben, das Original ging an die Bibliothek und ein Duplikat gnädigerweise an den ursprünglichen Besitzer zurück. Dieser sorgfältige Kopierdienst für die Reisenden des Altertums läßt heutige Historiker hoffen, eines Tages in irgendeinem Hinterzimmer des Planeten auf die Kopie eines großen verlorenen Textes zu stoßen. 1906 entdeckte J. L. Heiberg in Konstantinopel ein solches Manuskript, Die Methode, mit einem Teil der Originalschriften des Archimedes. Ptolemaios’ Traum, ein Haus für die Schätze des Wissens zu errichten, lebte auch nach seinem Tod fort. Weitere Ptolemäer lösten sich auf dem ägyptischen Thron ab, und schließlich besaß die Bibliothek über 600 000 Bücher. Die Mathematiker konnten sich beim Studium in Alexandria alles Wissen der damaligen Zeit aneignen, und die berühmtesten Gelehrten der Welt waren versammelt, um es zu lehren. Der erste Leiter des Fachbereichs Mathematik war kein geringerer als Euklid. Euklid wurde um 330 v. Chr. geboren. Wie Pythagoras glaubte er an die Suche nach mathematischer Wahrheit um ihrer selbst willen und kümmerte sich nicht um praktische Anwendungen seiner Arbeit. Einer Anekdote zufolge fragte ihn einmal ein Student, was ihm denn die Mathematik nütze, die er lerne. Am Schluß der Vorlesung wandte sich Euklid seinem Sklaven zu und befahl: »Gib dem Jungen eine Münze, da er doch aus allem, was er lernt, Nutzen schlagen will.« Der Student wurde ausgeschlossen. Euklid widmete einen großen Teil seines Lebens der Arbeit an den Elementen, dem erfolgreichsten Lehrbuch der Welt. Bis ins

neunzehnte Jahrhundert hinein war es auch des meistverkaufte Werk nach der Bibel. Die Elemente bestehen aus dreizehn Büchern, ein Teil davon mit Euklids eigenen Arbeiten. Der Rest ist eine Sammlung allen mathematischen Wissens der damaligen Zeit, darunter auch zwei Bücher, die ausschließlich dem pythagoreischen Bund gewidmet sind. In den Jahrhunderten nach Pythagoras hatten die Mathematiker eine ganze Reihe logischer Verfahren entwickelt, die auf verschiedenen Gebieten angewandt werden konnten, und Euklid setzte sie alle gekonnt in den Elementen ein. Insbesondere nutzte er eine logische Waffe namens reductio ad absurdum, den Beweis durch die Herleitung eines Widerspruchs. Dieser Ansatz gründet auf die erstaunliche Idee, die Wahrheit einer Theorie zu beweisen, indem man zunächst einmal annimmt, sie sei falsch. An einem bestimmten Punkt der logischen Schrittfolge tritt ein Widerspruch auf (z.B. 2 + 2 = 5). Die Mathematik verabscheut Widersprüche, die betreffende Theorie kann daher nicht falsch sein, also muß sie wahr sein. Der englische Mathematiker G. H. Hardy faßt den Geist des Beweises durch Widerspruch in seinem Buch A Mathematician’s Apology folgendermaßen zusammen: »Die reductio ad absurdum, die Euklid so liebte, ist eine der besten Waffen der Mathematik. Sie ist ein raffinierteres Gambit als das des Schachspiels: ein Schachspieler mag einen Bauern oder sogar eine Figur zum Opfer anbieten, doch ein Mathematiker setzt alles aufs Spiel.« Mit einem seiner berühmtesten Widerspruchsbeweise stellte Euklid die Existenz der sogenannten irrationalen Zahlen fest. Man vermutet, daß die Pythagoreer die irrationalen Zahlen schon Jahrhunderte zuvor entdeckt hatten, deren bloße Vorstellung Pythagoras jedoch dermaßen zuwider war, daß er ihre Existenz bestritt. Als Pythagoras behauptete, das Universum werde von Zahlen beherrscht, meinte er ganze Zahlen und Verhältnisse von ganzen Zahlen (Brüche). Eine irrationale Zahl – und dies schreckte Pythagoras – ist weder eine ganze Zahl noch ein Bruch. Irrationale Zahlen haben nämlich die Eigenart, nicht als Zahlen mit endlich vielen Dezimalstellen darstellbar zu sein, auch nicht als periodische Dezimalzahlen. Eine periodische Dezimalzahl wie 0,111 111... ist im

Grunde eine ziemlich einfache Zahl, nämlich nichts anderes als der 1 Bruch 9 . Die »1« wiederholt sich unendlich oft, die Dezimalfolge weist also ein sehr schlichtes und regelmäßiges Muster auf. Diese Regelmäßigkeit, auch wenn sie sich bis ins Unendliche fortsetzt, bedeutet, daß die Dezimalzahl als Bruch dargestellt werden kann. Versucht man jedoch, eine irrationale Zahl als Dezimalzahl darzustellen, erhält man eine Zahlenfolge, die sich ohne wiederkehrendes oder gleichartiges Muster ins Unendliche fortsetzt. Der Begriff der irrationalen Zahl war ein gewaltiger Durchbruch. Die Mathematiker gingen über die vorfindliche Welt der einfachen, ganzen Zahlen und Brüche hinaus und entdeckten oder besser vielleicht erfanden – völlig neue. Leopold Kronecker, ein Mathematiker des neunzehnten Jahrhunderts, bemerkte dazu: »Die natürlichen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, alles übrige ist Menschenwerk!« Die bekannteste irrationale Zahl ist π. In der Schule rechnet man 1 häufig mit dem ungefähren Wert 3 7 oder 3,14. Der tatsächliche Wert von π beträgt jedoch eher 3,14159265358979323846, doch auch dies ist nur eine Näherung. Die Zahl π kann nämlich nie genau hingeschrieben werden, da ihre Dezimalstellen sich ohne bestimmtes Muster ms Unendliche fortsetzen. Ein schöner Aspekt dieses Zufallsmusters ist, daß es anhand einer vollkommen regelmäßigen Gleichung berechnet werden kann: π = 4  1 + 3 + 5 + 7 + 9 + 11 + 13 + 15 + ....



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Berechnet man die ersten zwei oder drei Terme, erhält man einen sehr groben Wert für π, doch je mehr davon einbezogen werden, desto genauer wird das Ergebnis. Zwar reicht es aus, die Zahl π bis auf 39 Stellen zu kennen, um den Umfang des Universums bis auf den Radius eines Wasserstoffatoms genau berechnen zu können, doch dies hält Computerspezialisten nicht davon ab, so viele Stellen wie möglich von π zu berechnen. Gegenwärtig hält Yasumasa Kanada von der Universität Tokio den Rekord, der π im Jahr 1996 bis auf sechs Milliarden Stellen hinter dem Komma berechnete. Neueren Gerüchten zufolge haben die russischen Tschudnowski-

Der Wert von π auf über 1500 Dezimalstellen genau 3,141592653589793238462643383279502884197169399375105820 97494459230781640628620899862803482534211706798214808651 32823066470938446095505822317253594081284811174502841027 01938521105559644622948954930381964428810975665933446128 47564823378678316527120190914564856692346034861045432664 82133936072602491412737245870066063155881748815209209628 29254091715364367892590360011330530548820466521384146951 94151160943305727036575959195309218611738193261179310511 85480744623799627495673518857527248912279381830119491298 33673362440656643086021394946395224737190702179860943702 77053921717629317675238467481846766940513200056812714526 35608277857713427577896091736371787214684409012249534301 46549585371050792279689258923542019956112129021960864034 41815981362977477130996051870721134999999837297804995105 97317328160963185950244594553469083026425223082533446850 35261931188171010003137838752886587533208381420617177669 14730359825349042875546873115956286388235378759375195778 18577805321712268066130019278766111959092164201989380952 57201065485863278865936153381827968230301952035301852968 99577362259941389124972177528347913151557485724245415069 59508295331168617278558890750983817546374649393925506040 09277016711390098488240128583616035637076601047101819429 55596198946767837449448255379774726847104047534646208046 68425906949129331367702898915210475216205696602405803815 01935112533824300355876402474964732639141992726042699227 96782354781636009341721641219924586315030286182974555706 74983850549458858692699569092721079750930295532116534498 72027559602364806654911988183479775356636980742654252786 25518184175746728909777727938000816470200161452491921732 17214772350141441973568548161361157352552113347574184946

Brüder in New York acht Milliarden Dezimalstellen von π berechnet und sich eine Billion Stellen zum Ziel gesetzt. Doch selbst wenn Kanada oder die Tschudnowski-Brüder weiterrechnen, bis ihre Computer alle Energie des Universums aufgezehrt haben, bleibt der entscheidende Punkt, daß sie dann immer noch nicht den genauen Wert von π besitzen würden. Man kann durchaus nachvollziehen, warum Pythagoras seine Schüler darauf einschwor, die Existenz dieser mathematischen Monster zu verheimlichen. Als sich Euklid im zehnten Buch seiner Elemente an das Problem der Irrationalität von Zahlen heranwagte, ging es ihm darum, zu beweisen, daß es eine Zahl geben kann, die nicht als Bruch darstellbar ist. Anstatt zu beweisen, daß π irrational ist, untersuchte er die Quadratwurzel von 2 – also 2, die (positive) Zahl, die mit sich selbst multipliziert 2 ergibt. Um zu beweisen, daß 2 nicht als Bruch dargestellt werden kann, bediente sich Euklid der reductio ad absurdum und nahm zunächst einmal an, daß sie als Bruch aufgeschrieben werden könnte. Dann zeigte er, daß dieser hypothetische Bruch immer weiter vereinfacht oder gekürzt werden kann. 8 4 Kürzung eines Bruches bedeutet, daß etwa der Bruch 12 auf 6 gekürzt werden kann, indem man Zähler und Nenner durch 2 teilt. 2 4 wiederum kann auf 3 gekürzt werden, ein Ausdruck, der nicht 6 weiter zu kürzen ist und den Bruch daher in der einfachsten Form darstellt. Euklid zeigte jedoch, daß der hypothetische Bruch, der 2 darstellen soll, immer weiter und unendlich oft gekürzt werden könnte, ohne je seine einfachste Form zu erlangen. Das ist unsinnig, da alle Brüche irgendwann die einfachste Form erreichen müssen, und deshalb kann der angenommene Bruch nicht existieren. 2 kann also nicht als Bruch dargestellt werden und ist irrational. Eine Skizze des Euklidschen Beweises findet sich im Anhang 2. Durch den Widerspruchsbeweis konnte Euklid die Existenz von irrationalen Zahlen aufzeigen. Zum ersten Mal hatten Zahlen eine neue, abstrakte Qualität angenommen. Bis zu jenem historischen Zeitpunkt konnten alle Zahlen als ganze Zahlen oder als Brüche dargestellt werden, doch Euklids irrationale Zahlen ließen eine Darstellung in der traditionellen Form nicht zu. Die Quadratwurzel von 2 kann nur mit dem Symbol 2 dargestellt werden, nicht

als Bruch, und jeder Versuch, sie als Dezimalzahl darzustellen, ergibt immer nur eine Näherung, etwa 1,414213562373... Als Pythagoras ausrief »Alles ist Zahl«, meinte er nur ganze Zahlen und Brüche. Für ihn lag die Schönheit der Mathematik in der Vorstellung, daß mit diesen einfachen Zahlen alle natürlichen Phänomene zu erklären seien. Diese philosophische Grundannahme machte Pythagoras blind für die irrationalen Zahlen und trieb ihn vielleicht dazu, einen seiner Schüler hinzurichten. Der Legende zufolge beschäftigte sich ein junger Schüler namens Hippasus gedankenverloren mit dem Versuch, die 2 als Bruch darzustellen. Schließlich erkannte er, daß es einen solchen Bruch nicht gibt, daß 2 also eine irrationale Zahl ist. Hippasus muß überglücklich gewesen sein ob dieser Entdeckung, sein Meister allerdings war es nicht. Pythagoras hatte das Universum auf rationale Zahlen gegründet, und die Existenz von irrationalen Zahlen stellte diese Idealvorstellung in Frage. Auf Hippasus’ Einsicht hätte eine Zeit der Diskussionen und des Nachdenkens folgen sollen, während der sich Pythagoras mit dieser neuen Springquelle von Zahlen hätte abfinden müssen. Er war jedoch nicht bereit hinzunehmen, daß er im Unrecht war, und gleichzeitig auch nicht in der Lage, Hippasus’ Argument mit der Kraft logischer Schlüsse den Boden zu entziehen. Zu seiner ewigen Schande verurteilte er Hippasus zum Tode durch Ertränken. Der Vater der Logik und der mathematischen Methode hatte lieber auf Gewalt zurückgegriffen als zuzugeben, daß er falsch lag. Pythagoras’ Weigerung, die Existenz irrationaler Zahlen einzugestehen, ist sein schändlichster Akt und vielleicht die größte Tragödie der griechischen Mathematik. Erst nach seinem Tod konnten die irrationalen Zahlen wieder gefahrlos zur Sprache gebracht werden. Euklid war zwar an der Zahlentheorie interessiert, doch seinen größten Beitrag zur Mathematik leistete er auf einem anderen Gebiet. Seine wahre Leidenschaft war die Geometrie, und von den dreizehn Büchern der Elemente behandeln die Bücher I bis VI die Geometrie der (zweidimensionalen) Ebene und die Bücher XI bis XIII die Geometrie der (dreidimensionalen) Körper. Hier lag ein so

umfassender Wissenskanon vor, daß die Elemente die Geometrielehrpläne an Schulen und Universitäten für die nächsten zwei Jahrtausende prägen sollten. Der Mathematiker, der das vergleichbare Lehrbuch für die Zahlentheorie zusammenstellte, war Diophantos von Alexandria, der letzte große Vertreter der griechischen Mathematiktradition. Diophantos’ Errungenschaften in der Zahlentheorie sind in seinen Büchern zwar gut nachzulesen, doch ansonsten weiß man fast nichts über diesen begnadeten Mathematiker. Sein Geburtsort ist unbekannt, und die Zeit seines Wirkens in Alexandria läßt sich nur auf fünfhundert Jahre genau eingrenzen. In seinen Schriften zitiert Diophantos Hypsikles, daher muß er nach 150 v.Chr. gelebt haben; andererseits zitiert Theon von Alexandria Diophantos’ Werk, also muß er vor 364 n. Chr. gelebt haben. Als vernünftige Schätzung gilt die Zeit um 250 v. Chr. Passend für einen Problemlöser, ist das einzige Detail aus Diophantos’ Leben in Form eines Rätsels überliefert, das der Legende nach in seinen Grabstein gemeißelt war. Knabe zu sein gewährte ihm Gott ein Sechstel des Lebens; noch ein Zwölftel dazu, und Er kleidete seine Wangen in Flaum. Ein Siebtel noch, und Er entzündete ihm das Licht der Ehe; fünf Jahre nach der Heirat schenkte Er ihm einen Sohn. Doch ach! – das spätgeborene kränkliche Kind: die Hälfte der Lebensspanne des Vaters hatte es erreicht, da raffte das kalte Schicksal es hinweg. Vier Jahre lang fand er Trost in dieser Wissenschaft der Zahlen, dann beschloß sein Leben auch er. Natürlich geht es darum, zu berechnen, wie alt Diophantos wurde. Die Antwort kann in Anhang 3 nachgelesen werden. Dieses Rätsel ist ein Beispiel für die Art von Problemen, für die Diophantos eine ausgesprochene Vorliebe hegte. Seine Spezialität waren Fragen, die ganzzahlige Lösungen erforderten – heute werden solche Fragen als diophantische Probleme bezeichnet. Während seiner Zeit in Alexandria sammelte er die schon klar gelösten Probleme und erfand neue, die er zu einer großen Abhandlung mit

Frontispiz der Arithmetica von Diophantos in der 1621 veröffentlichten Übersetzung von Claude Caspar Bachet de Méziriac. Dieses Buch wurde zu Fermats Bibel und war Anregung für große Teile seines Werkes.

dem Titel Arithmetica zusammenstellte. Von den dreizehn Büchern dieses Werks überlebten nur sechs die Wirren des Mittelalters und inspirierten schließlich die Mathematiker der Renaissance, darunter auch Pierre de Fermat. Die anderen sieben Bücher gingen in einer Reihe tragischer Geschehnisse verloren, die die Mathematik bis in die Ära der Babylonier zurückwarfen. In den Jahrhunderten zwischen Euklid und Diophantos blieb Alexandria die geistige Hauptstadt der zivilisierten Welt, wenn auch ständig von fremden Heerscharen bedroht. Zum ersten großen Angriff kam es 47 v.Chr., als Julius Cäsar bei dem Versuch, Kleopatra zu stürzen, die alexandrinische Flotte in Brand setzte. Die Bibliothek, die nahe am Hafen lag, fing ebenfalls Feuer, und Hunderttausende von Büchern fielen den Flammen zum Opfer. Zum Glück für die Mathematiker wußte Kleopatra die Bedeutung der Wissenschaft zu schätzen und war entschlossen, den einstigen Glanz der Bibliothek wiederherzustellen. Marcus Antonius erkannte, daß der Weg zum Herzen einer Intellektuellen über ihre Bibliothek führt, und marschierte in die Stadt Pergamon ein. Dort war man schon im Aufbau einer Bibliothek begriffen, die die beste Sammlung der Welt beherbergen sollte, doch Marcus Antonius ließ alle Bestände nach Ägypten schaffen und stellte so die Überlegenheit Alexandrias wieder her. In den folgenden vier Jahrhunderten sammelte die Bibliothek unablässig weiter Bücher, bis ihr 389 n. Chr. der erste von zwei tödlichen Schlägen versetzt wurde, beide aus dem Geist religiöser Bigotterie. Der christliche Kaiser Theodosius befahl Theophilus, dem Bischof von Alexandria, alle heidnischen Monumente zu zerstören. Kleopatra hatte unglücklicherweise beschlossen, die wiedererrichtete und mit neuen Werken ausgestattete Bibliothek im Tempel von Serapis unterzubringen, weshalb sie nun der Zerstörung, die Ikonen und Altären gelten sollte, gleich mit zum Opfer fiel. Die »heidnischen« Gelehrten versuchten, das in sechs Jahrhunderten gesammelte menschliche Wissen zu retten, doch bevor sie irgend etwas ausrichten konnten, metzelte der christliche Mob sie nieder. Der Abstieg ins dunkle Mittelalter hatte begonnen. Ein paar wertvolle Abschriften der wichtigsten Bücher überleb-

ten den Angriff der Christen, und auch in den nächsten Jahrhunderten kamen viele wissensdurstige Gelehrte nach Alexandria. Schließlich gelang es den Moslems, die die Stadt im Jahr 642 angriffen, das Vernichtungswerk der Christen zu vollenden. Als der siegreiche Kalif Omar gefragt wurde, was mit der Bibliothek geschehen solle, befahl er, jene Bücher, die dem Koran widersprächen, zu vernichten – die ändern seien überflüssig und müßten ebenfalls zerstört werden. Man verbrannte die Handschriften zur Beheizung der öffentlichen Bäder, und so löste sich die griechische Mathematik in Rauch auf. Es überrascht nicht, daß der Großteil von Diophantos’ Werk zerstört wurde; immerhin grenzt es an ein Wunder, daß sechs Bücher der Arithmetica die Tragödie von Alexandria heil überstanden. Während des folgenden Jahrtausends kam die Mathematik in der westlichen Welt nicht mehr auf die Beine, und nur eine Handvoll großer Gelehrter in Indien und Arabien hielt die Wissenschaft am Leben. Sie kopierten die Formeln aus den erhalten gebliebenen griechischen Manuskripten und begannen auf eigene Faust, viele verlorene mathematische Sätze neu zu entdecken. Auch bereicherten sie die Mathematik mit einer Vielzahl neuer Bausteine, etwa mit der Zahl Null. In der modernen Mathematik hat die Null zwei Funktionen. Erstens ermöglicht sie die Unterscheidung von Zahlen wie 52 und 502. In einem Zahlensystem, in dem die Position einer Zahl ihren Wert anzeigt, braucht man ein Symbol, um eine leere Position zu kennzeichnen. Zum Beispiel stellt die 52 fünf mal zehn plus zwei mal eins dar, die 502 dagegen fünf mal hundert plus null mal zehn plus zwei mal eins: die Null ist nötig, um jegliche Zweideutigkeit zu vermeiden. Sogar die Babylonier des dritten Jahrhunderts vor Christus legten um der Klarheit willen Wert auf die Verwendung der Null, die Griechen übernahmen den Gedanken und gebrauchten ein kreisförmiges Symbol, das dem unseren ähnelt. Die Null hat jedoch eine anspruchsvollere und tiefere Bedeutung, die erst mehrere Jahrhunderte später von den indischen Mathematikern vollständig erfaßt wurde. Die Hindus erkannten, daß der Null über die bloße Füllrolle zwischen anderen Zahlen eine unabhängige Existenz zu-

kommt – die Null ist eine eigenständige Zahl. Sie stellt die Quantität des Nichts dar. Zum ersten Mal hatte man dem abstrakten Begriff des Nichts eine greifbare symbolische Darstellung gegeben. Dieser Schritt nach vorne mag den heutigen Lesern kaum beachtlich erscheinen, doch allen griechischen Philosophen des Altertums war die tiefere Bedeutung des Nullsymbols entgangen. Dies gilt auch für Aristoteles, der forderte, die Null zu verbieten, weil sie die Widerspruchsfreiheit der anderen Zahlen zunichte mache: Teile man eine gewöhnliche Zahl durch Null, erhalte man ein unverständliches Ergebnis. Im sechsten Jahrhundert kehrten die indischen Mathematiker das Problem nicht mehr unter den Teppich, und ein Jahrhundert später war der Gelehrte Brahmagupta schon so weit, die Division durch Null als Definition des Unendlichen zu verwenden. Während man in Europa die edle Suche nach der Wahrheit aufgegeben hatte, festigten Inder und Araber das Wissen, das aus den glühenden Ruinen von Alexandria herausgeschmuggelt worden war, und deuteten es mit einer neuen und eleganteren Sprache. Sie fügten der mathematischen Begrifflichkeit nicht nur die Null hinzu, sondern ersetzten die primitiven griechischen Symbole und die umständlichen römischen Zahlzeichen durch neue Zeichen und ein Zahlensystem, das heute die ganze Welt verwendet. Wiederum mag dies als ein lächerlich bescheidener Fortschritt erscheinen, doch wenn wir einmal in römischer Schreibweise versuchen, CLV mit DCI zu multiplizieren, wird uns die Bedeutung dieses Durchbruchs schnell klar. Die entsprechende Aufgabe, 155 mit 601 zu multiplizieren, ist um einiges leichter zu lösen. Der Fortschritt jeder wissenschaftlichen Disziplin hängt von der Fähigkeit ab, Gedanken auszutauschen und Ideen zu entwickeln, und die Grundlage dafür ist eine hinreichend genaue und flexible Sprache. Die Ideen von Pythagoras und Euklid waren nicht weniger elegant, weil sie in einer umständlichen Sprache ausgedrückt waren, doch sobald sie in arabische Symbole übersetzt waren, blühten sie in Gestalt neuer und fruchtbringender Begriffe auf. Im zehnten Jahrhundert lernte der französische Gelehrte Gerbert von Aurillac das neue Zahlensystem bei den spanischen Mau-

ren, und dank seiner Lehrtätigkeit in Kirchen und Universitäten ganz Europas konnte er das neue System im Westen einführen. Im Jahr 999 wurde er als Silvester II. zum Papst gewählt und förderte nun kraft seines Amtes die Verbreitung des indo-arabischen Zahlensystems noch stärker. Obwohl dieses handliche Zahlensystem die Buchhaltung revolutionierte und rasch von Kaufleuten übernommen wurde, trug es wenig zu einer Wiedergeburt der europäischen Mathematik bei. Den entscheidenden Wendepunkt für die westliche Mathematik stellt das Jahr 1453 dar, in dem die Türken Konstantinopel plünderten. Im Laufe der Jahrhunderte waren die Manuskripte, die die Schändung Alexandrias überstanden hatten, in Konstantinopel zusammengetragen worden, doch nun waren sie erneut von der Vernichtung bedroht. Die byzantinischen Gelehrten nahmen alle greifbaren Texte an sich und flohen mit ihnen nach Westen. Nun, da sie die Angriffe Cäsars, des Bischofs Theophilus, des Kalifen Omar und schließlich der Türken überstanden hatten, fanden ein paar wertvolle Exemplare der Arithmetica« ihren Weg zurück nach Europa. Diophantos’ Werk sollte auf dem Schreibtisch Pierre de Fermats landen.

Die Geburt eines Rätsels Fermats richterliche Verpflichtungen nahmen einen Großteil seiner Zeit in Anspruch, doch die wenigen Mußestunden widmete er ausschließlich der Mathematik. Ein Grund dafür war, daß es im Frankreich des siebzehnten Jahrhunderts nicht gern gesehen war, wenn ein Richter allzu munter am gesellschaftlichen Leben teilnahm, denn eines Tages würde vielleicht ein Freund oder Bekannter vor Gericht erscheinen müssen. Die Verbrüderung mit der ortsansässigen Bevölkerung würde nur zur Günstlingswirtschaft führen. Und so konnte sich Fermat abseits der besseren Toulouser Gesellschaft ganz seiner Liebhaberei hingeben. Von einem Mentor, der Fermats Interesse an der Mathematik befeuert haben könnte, ist nichts bekannt – diese Aufgabe erfüllte

freilich ein Exemplar der Arithmetica. Das Werk stellt den Versuch dar, den Stand der Zahlentheorie zu Lebzeiten des Diophantos anhand einer Reihe von Problemen und Lösungen zu beschreiben. Tatsächlich offenbarte die Arithmetica Fermat den mathematischen Wissensschatz eines ganzen Jahrtausends. Hier war in einem Buch alles Wissen über die Zahlen versammelt, das Gelehrte wie Pythagoras und Euklid geschaffen hatten. Die Zahlentheorie hatte seit der barbarischen Brandschatzung Alexandrias keine Fortschritte mehr gemacht, doch nun machte sich Fermat daran, das Studium der grundlegenden mathematischen Disziplinen wiederaufzunehmen. Die Ausgabe der Arithmetica, die Fermat dazu anregte, war eine lateinische Übersetzung von Claude Caspar Bachet de Méziriac, der als gelehrtester Mann Frankreichs galt. Bachet war nicht nur ein hervorragender Linguist, Dichter und Altphilologe, er hatte auch eine Leidenschaft für mathematische Rätsel. Seine erste Veröffentlichung war eine Sammlung von Knobeleien mit dem Titel Problèmes plaisants et délectables, darunter Flußüberquerungsrätsel, ein Umgießproblem und diverse Zahlenspielereien. Eine Frage drehte sich um Gewichte: Welches ist die kleinste Anzahl von Gewichten, mit denen jedes ganzzahlige Gewicht von 1 bis 40 Kilo auf einer Waage gemessen werden kann? Bachet lieferte eine raffinierte Antwort, die zeigt, daß diese Aufgabe mit nur vier Gewichten gelöst werden kann. Sie ist in Anhang 4 nachzulesen. Bachet war zwar ein mathematischer Dilettant, doch reichte sein Interesse an solchen Rätseln aus, um zu erkennen, daß die von Diophantos angeführten Probleme auf einem höheren Niveau angesiedelt und es wert waren, eingehender untersucht zu werden. Er entschloß sich, Diophantos’ Werk zu übersetzen und es zu veröffentlichen, damit die Verfahren der alten Griechen wieder ms Leben gerufen werden konnten. Dazu muß man wissen, daß weite Bereiche des mathematischen Wissens der Antike völlig vergessen

waren. Selbst an den größten europäischen Universitäten wurde keine höhere Mathematik gelehrt, und nur dank der Bemühungen von Wissenschaftlern wie Bachet konnte so vieles in so kurzer Zeit wiederbelebt werden. Als Bachet 1621 seine lateinische Ausgabe der Arithmetica veröffentlichte, trug er dazu bei, das zweite goldene Zeitalter der Mathematik einzuläuten. Die Arithmetica enthält über hundert Probleme, und Diophantos bietet für jedes eine genaue Lösung an. Diese Gewissenhaftigkeit war ein Wesenszug, den Fermat nie annehmen sollte. Er hatte kein Interesse daran, ein Lehrbuch für künftige Generationen zu schreiben: es ging ihm allein um die Genugtuung, ein Problem gelöst zu haben. Wenn er sich in Diophantos’ Probleme und Lösungen vertiefte, kamen ihm ähnliche und noch kompliziertere Fragen in den Sinn. Fermat notierte sich dann das Nötigste, um sich davon zu überzeugen, daß er die Lösung absehen konnte – und scherte sich nicht weiter darum, den Rest des Beweises niederzuschreiben. Allzuhäufig warf er die Aufzeichnungen zu seinen Geistesblitzen in den Papierkorb und wandte sich rasch dem nächsten Problem zu. Zum Glück für uns Nachkommende hatte Bachets Ausgabe der Arithmetica auf jeder Seite großzügige Randspalten, auf denen Fermat gelegentlich hastige Kommentare und Schlußfolgerungen hinterließ. Für Generationen von Mathematikern waren diese Randnotizen zwar etwas flüchtige, aber dennoch unschätzbare Hinweise auf Fermats brillanteste Gedankengänge. Zu den Entdeckungen Fermats gehören die sogenannten befreundeten Zahlen, die eng mit den vollkommenen Zahlen verwandt sind, die Pythagoras zwei Jahrtausende zuvor begeistert hatten. Befreundet nennt man Paare von Zahlen, welche die Summe der Teiler der jeweils anderen Zahl darstellen. Die Pythagoreer machten die erstaunliche Entdeckung, daß 220 und 284 befreundete Zahlen sind. Die Teiler von 220 sind 1, 2, 4, 5, 10, 11, 20, 22, 44, 55 und 110, ihre Summe ist 284. Die Teiler von 284 wiederum sind 1, 2, 3, 4, 71 und 142, ihre Summe ist 220. Das Paar 220 und 284 wurde zum Symbol der Freundschaft. Martin Gardner berichtet in seinem Buch Mathematische Hexereien, im Mittelalter seien Amulette mit diesen Zahlen verkauft

worden, die, als Talismane getragen, Glück in der Liebe bringen sollten. Ein arabischer Numerologe berichtet von dem Brauch, zwei Früchte zu nehmen, 220 in die eine und 284 in die andere zu ritzen, dann die erste zu verspeisen und die zweite der Liebsten als eine Art mathematisches Aphrodisiakum zu überreichen. Den frühen Theologen fiel in der biblischen Genesis auf, daß Jakob Esau 220 Tiere schenkt. Sie glaubten, diese Zahl, die eine Hälfte des befreundeten Zahlenpaars, sei Ausdruck für Jakobs Liebe zu Esau. Keine weiteren befreundeten Zahlen wurden gefunden, bis Fermat im Jahr 1636 das Paar 17 296 und 18 416 entdeckte. Dies mag nichts Weltbewegendes sein, doch zeigt sich hier, wie vertraut Fermat mit den Zahlen war und wie leidenschaftlich er mit ihnen spielte. Durch Fermat wurde es zu einer Mode, befreundete Zahlen zu suchen: Descartes entdeckte ein drittes Paar (9 363 584 und 9 437 056), und Leonhard Euler fügte der Liste weitere zweiundsechzig befreundete Paare hinzu. Seltsamerweise hatten sie alle ein viel kleineres Paar übersehen. 1866 entdeckte der sechzehnjährige Italiener Niccolò Paganini das befreundete Zahlenpaar 1 184 und 1 210. Im zwanzigsten Jahrhundert entwickelten die Mathematiker diesen Gedanken weiter und suchten nach sogenannten »geselligen« Zahlen, vier oder mehr Zahlen, die eine geschlossene Kette bilden. Zum Beispiel ist bei dem Quartett 1 264 460, 1 547 860, 1 727 636, 1 305 184 die Summe der Teiler der ersten Zahl gleich der zweiten Zahl, die Teiler der zweiten wiederum addieren sich zur dritten Zahl und die Teiler der dritten zur ersten Zahl. Die längste heute bekannte gesellige Kette besteht aus 28 Zahlen und beginnt mit der 14 316. Auch wenn Fermat durch die Entdeckung eines neuen Paares befreundeter Zahlen eine gewisse Berühmtheit erlangte, sein Ruf festigte sich erst wirklich durch eine Reihe mathematischer Glanzleistungen. So stellte er zum Beispiel fest, daß die 26, zwischen der 25 und der 27 liegend, eingebettet ist zwischen eine Quadratzahl (25 = 52 = 5 × 5) und eine Kubikzahl (27 = 33 = 3 × 3 × 3). Er suchte nach weiteren auf diese Weise eingebetteten Zahlen, fand jedoch

keine, und vermutete, die 26 sei die einzige. Nach tagelangen Mühen gelang es ihm, mit einem anspruchsvollen Argument unumstößlich zu beweisen, daß die 26 tatsächlich die einzige Zahl zwischen einer Quadratzahl und einer Kubikzahl ist. Sein Schritt für Schritt ausgeführter Beweis bestätigte, daß dieses Kriterium auf keine andere Zahl zutreffen kann. Fermat verkündete diese besondere Eigenschaft der 26 den Mathematikerkollegen und rief sie auf, den Beweis dafür zu erbringen. Er verhehlte nicht, daß er ihn besaß, die Frage war nur: Hatten die anderen das Genie, ihrerseits den Beweis zu führen? Die These ist zwar schlicht, der Beweis jedoch ist höllisch kompliziert, und Fermat machte es ausgesprochenes Vergnügen, die englischen Mathematiker Wallis und Digby zu piesacken, die dann auch ihr Scheitern eingestehen mußten. Doch den größten Ruhm konnte Fermat am Ende mit einer weiteren Herausforderung der Mathematikerwelt ernten. Allerdings ging es hier um ein beiläufig zustandegekommenes Rätsel, das nicht für die öffentliche Auseinandersetzung bestimmt war.

Die Randnotiz Beim Studium des zweiten Buches der Arithmetica stieß Fermat auf eine ganze Reihe von Beobachtungen, Problemen und Lösungen im Umkreis des Satzes von Pythagoras und der pythagoreischen Zahlentripel. Zum Beispiel erörterte Diophantos die Existenz bestimmter Tripel, die »fast gleichschenklige« rechtwinklige Dreiecke bildeten, bei denen die beiden kürzeren Seiten sich nur um eins unterscheiden (z.B. x = 20, y = 21, z = 29 und 202 + 212 = 292). Fermat verblüffte die Vielfalt und schiere Menge der pythagoreischen Zahlentripel. Viele Jahrhunderte zuvor, so wußte er, hatte Euklid den (in Anhang 5 skizzierten) Beweis geführt, daß es tatsächlich eine unendliche Anzahl pythagoreischer Tripel gibt. Fermat muß sich in Diophantos’ genaue Erörterung dieser Tripel versenkt und sich gefragt haben, was wohl zu diesem Thema noch

beizutragen sei. Ohne den Blick vom Buch abzuwenden, begann er, ein wenig mit der Gleichung des Pythagoras zu spielen, denn vielleicht gab es ja etwas zu entdecken, das den Griechen entgangen war. Plötzlich, in einem Moment genialer Eingebung, der den Fürsten der Amateure unsterblich machen sollte, bildete er eine Gleichung, die der pythagoreischen zwar sehr ähnlich war, doch überhaupt keine Lösungen besaß. Dies war die Gleichung, mit der der zehnjährige Andrew Wiles in der Milton-Road-Bücherei Bekanntschaft schloß. Anstelle des Satzes von Pythagoras, x 2 +y 2 = z 2, sann Fermat über eine Abwandlung nach: x 3 +y 3 = z 3. Fermat hatte nur die Potenz von 2 auf 3 erhöht, das Quadrat in einen Würfel verwandelt, doch diese neue Gleichung besaß offenbar keine einzige ganzzahlige Lösung. Versuch und Irrtum zeigten rasch, wie schwierig es war, zwei Kubikzahlen zu finden, die zusammengenommen eine dritte Kubikzahl ergaben. Konnte es tatsächlich sein, daß eine so geringfügige Veränderung die Gleichung des Pythagoras mit ihrer unendlichen Zahl von Lösungen in eine Gleichung ohne eine einzige Lösung verwandelte? Fermat erprobte auch andere, noch höhere Potenzen und stellte jedesmal fest, daß er keine Lösung finden konnte. Am Ende zog er den Schluß, es gebe keine drei Zahlen, die folgende Gleichung ohne Rest erfüllen: x n +y n = zn

mit n = 3, 4, 5,...

An den Rand seiner Ausgabe der Arithmetica, neben das Problem 8, notierte er seine Beobachtung: Cubem autem in duos cubos, aut quadratoquadratum in duos quadratoquadratos, et generaliter nullam in infinitum ultra quadratumpotestatem in duos eiusdem nominis fas est dividere.

Es ist nicht möglich, einen Kubus in zwei Kuben, oder ein Biquadrat in zwei Biquadrate und allgemein eine Potenz, höher als die zweite, in zwei Potenzen mit demselben Exponenten zu zerlegen. Es schien keinen Grund zu geben, warum unter allen möglichen Zahlen nicht wenigstens eine begrenzte Anzahl von Lösungen gefunden werden sollte, doch Fermat stellte die Behauptung auf, nirgendwo im unendlichen Universum der Zahlen gebe es ein »Fermatsches Tripel«. Eine verblüffende Behauptung, doch Fermat glaubte, sie beweisen zu können. Der ersten Randnotiz, in der er seine These festhielt, fügte der geniale Schelm eine weitere Bemerkung hinzu, die Generationen von Mathematikern den Schlaf rauben sollte: Cuius rei demonstrationem mirabilem sane detexi hanc marginis exiguitas non caperet. Ich habe hierfür einen wahrhaft wunderbaren Beweis, doch ist dieser Rand hier zu schmal, um ihn zu fassen. Hier kam der ärgerlichste Zug Fermats zur Geltung. Seine Worte lassen darauf schließen, daß er ganz entzückt war über diesen »wahrhaft wunderbaren« Beweis, sich jedoch nicht die Mühe machen wollte, ihn im einzelnen niederzuschreiben, geschweige denn, ihn zu veröffentlichen. Seinen Beweis teilte er nie jemandem mit, und trotz der Mischung aus Trägheit und Bescheidenheit, die ihn kennzeichnete, gelangte die Fermatsche Vermutung, auch als Fermats letzter oder großer Satz bezeichnet, zu Berühmtheit.

Der letzte Satz wird endlich veröffentlicht Fermat gelang seine berühmt-berüchtigte Entdeckung schon um das Jahr 1637, recht früh in seinem Mathematikerleben. Knapp dreißig Jahre später – er verfolgte in der Stadt Castres seine richterlichen Pflichten – erkrankte er schwer. Am 9.Januar 1665 unterzeichnete er seinen letzten arrêt, und drei Tage später starb er. Da Fermat keine Kontakte zur Pariser Mathematikerschule gepflegt hatte und seine frustrierten Korrespondenzpartner ihn nicht unbedingt in angenehmer Erinnerung bewahrten, liefen seine Entdeckungen Gefahr, für immer verloren zu gehen. Glücklicherweise erkannte sein ältester Sohn Clément-Samuel, daß die Liebhaberei seines Vaters von enormer Bedeutung war, und beschloß, seine Entdeckungen der Welt zugänglich zu machen. Dank ihm wissen wir heute überhaupt etwas von Fermats bahnbrechenden Leistungen in der Zahlentheorie, und ohne Clément-Samuel wäre das Rätsel des letzten Satzes zusammen mit dem Schöpfer entschwunden. Clément-Samuel verbrachte fünf Jahre damit, die Aufzeichnungen und Briefe seines Vaters zu sammeln und die Randnotizen in seiner Ausgabe der Arithmetica zu entziffern. Fermats letzter Satz war nur eine von vielen geistvollen Notizen im Buch, und Clément-Samuel machte sich daran, diese Anmerkungen in einer besonderen Ausgabe der Arithmetica zu veröffentlichen. Im Jahr 1670 brachte er in Toulouse Diophanti Alexandrini arithmeticorum cum observationibus P. de Fermat heraus. Neben den Originalübersetzungen Bachets ins Griechische und Lateinische waren hier achtundvierzig Bemerkungen Fermats abgedruckt. Es war die zweite Bemerkung (siehe Abbildung 6), die als Fermats letzter Satz oder als Fermatsche Vermutung bekannt werden sollte. Sobald Fermats »Bemerkungen« einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich waren, zeigte sich, daß die Briefe, die er an Kollegen geschickt hatte, nur Kostproben aus einer ganzen Schatztruhe voller Entdeckungen waren. Seine persönlichen Notizen enthielten eine

Frontispiz von Clement-Samuel Fermats Ausgabe der Arithmetica des Diophantos von 1670. Sie enthält die Randnotizen seines Vaters.

Abbildung 6: Diese Seite enthält Pierre de Fermats berühmt-berüchtigte Randbemerkung.

ganze Reihe mathematischer Sätze. Leider fehlte entweder jede Erklärung, oder es fand sich nur eine Andeutung des zugrundeliegenden Beweises. Fermat lieferte gerade genug verlockende Einblicke in seine logischen Gedankengänge, um die Mathematiker davon zu überzeugen, daß er tatsächlich Beweise hatte, doch deren Ausarbeitung blieb als Herausforderung den Kollegen überlassen. Leonhard Euler, einer der größten Mathematiker des achtzehnten Jahrhunderts, versuchte, eine von Fermats elegantesten Feststellungen zu beweisen, einen Satz, bei dem es um Primzahlen ging. Eine Primzahl ist eine Zahl größer als 1, die keine Teiler hat – sie läßt sich durch keine Zahl außer der 1 und der Primzahl selbst ohne Rest teilen. Die 13 zum Beispiel ist eine Primzahl, die 14 jedoch nicht. Die 13 läßt sich ohne Rest nicht teilen, die 14 hingegen durch 2 und 7. Die Primzahlen lassen sich einteilen in solche, die gleich 4n + 1 sind, und solche, die gleich 4n - 1 sind (mit einer natürlichen Zahl n). Die 13 gehört also zur ersten Gruppe ( 4 × 3 + 1), die 19 dagegen zur zweiten (4 × 5 - 1). Fermat behauptet in seinem Primzahlsatz, daß der erste Typ von Primzahlen immer die Summe zweier Quadrate darstelle (13 = 22 + 32), während der zweite Typ nicht auf diese Weise dargestellt werden könne (19 = ?2 + ?2). Dies mochte zwar eine wunderbar schlichte Eigenschaft der Primzahlen sein, doch stellte es sich als ausgesprochen schwierig heraus, sie für jede einzelne Primzahl zu beweisen. Der Beweis war nur einer von vielen, die Fermat für sich behielt. Euler machte sich an die Aufgabe, Fermats Beweis wiederzuentdecken. Nach siebenjähriger Arbeit gelang es Euler 1749, fast ein Jahrhundert nach Fermats Tod, diesen Primzahlsatz zu beweisen. Fermats Reigen mathematischer Sätze enthält fundamentale ebenso wie schlechterdings faszinierende Erkenntnisse. Die Mathematiker bewerten die Bedeutung von Sätzen nach ihren Auswirkungen auf das gesamte Feld der Mathematik. Man hält einen Satz erstens dann für wichtig, wenn er eine allgemeine Wahrheit enthält, das heißt, wenn er für eine ganze Kategorie von Zahlen gilt. Der obige Primzahlsatz etwa gilt nicht nur für einige, sondern für alle Primzahlen. Zweitens müssen wichtige Sätze eine tiefere Wahrheit

über die Beziehungen der Zahlen untereinander offenbaren. Ein mathematischer Satz kann die Quelle für eine ganze Reihe anderer Sätze sein und sogar die Entwicklung völlig neuer Zweige der Mathematik anregen. Schließlich sind Sätze dann wichtig, wenn bislang ganze Forschungsunternehmen wegen eines fehlenden logischen Bindeglieds lahmgelegt waren. Viele Mathematiker haben sich schon in den Schlaf geweint, weil ihnen nur ein Glied in der Argumentationskette fehlte, um einen wichtigen neuen Satz beweisen zu können. Weil die Mathematiker einen Satz verwenden, um zu einem neuen zu gelangen, war es entscheidend, jeden einzelnen Satz Fermats zu beweisen. Nur weil Fermat behauptete, er habe den Beweis für einen Satz, konnte dieser nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden. Jeder Satz muß, bevor er anwendbar ist, mit messerscharfer Logik bewiesen sein, andernfalls wären die Folgen katastrophal. Nehmen wir zum Beispiel an, die Mathematiker hätten einen von Fermats Sätzen als wahr vorausgesetzt. Er wäre dann als Einzelschritt in eine ganze Reihe anderer Beweise eingebaut worden. Diese längeren Beweisgänge wären umgehend in noch umfangreichere Beweise eingereiht worden, und so weiter. Am Ende hätte man hunderte von Sätzen auf die Wahrheit des ursprünglichen, nicht geprüften Satzes gegründet. Was aber, wenn Fermat ein Fehler unterlaufen und der ungeprüfte Satz tatsächlich falsch wäre? Alle anderen Sätze, die ihn enthielten, wären zweifelhaft, und weite Bereiche der Mathematik würden in sich zusammenbrechen. Sätze sind die Fundamente der Mathematik, denn sobald ihre Wahrheit nachgewiesen ist, kann man gefahrlos weitere Sätze auf sie gründen. Nicht gesicherte Ideen sind unendlich weniger wertvoll und werden als Vermutungen bezeichnet. Jede logische Argumentation, die sich auf eine Vermutung stützt, ist selbst eine Vermutung. Fermat behauptete, er habe Beweise für jede seiner Feststellungen, sie waren in seinen Augen also Sätze (Theoreme). Bis zu dem Zeitpunkt jedoch, da die Mathematikerkollegen die einzelnen Beweise abermals entdeckten, durfte jeder Satz nur als Vermutung gelten. Von daher hätte man in den vergangenen 350 Jahren (wie auch im

angelsächsischen Sprachraum, Anm. d. Übers.) eher von Fermats letzter Vermutung als von Fermats letztem Satz sprechen sollen. Im Lauf der Jahrhunderte bewies man Fermats Feststellungen eine nach der anderen, doch der letzte Satz, der übrigblieb, erwies sich als das hartnäckigste Problem. Drei Jahrhunderte lang fanden die Mathematiker keine Lösung, was ihn als das anspruchsvollste Rätsel der Mathematik berühmt und berüchtigt machte. Daß der Satz, wie allgemein anerkannt, schwierig zu beweisen ist, heißt jedoch nicht unbedingt, daß er nach den oben genannten Kriterien auch wichtig ist. Der letzte Satz schien zumindest bis in die jüngste Zeit mehrere dieser Kriterien nicht zu erfüllen – offenbar würde sein Beweis nichts weiter bewegen, zu keiner tieferen Erkenntnis über die Zahlen führen oder dazu beitragen, andere Vermutungen zu beweisen. Fermats letzter Satz ist einzig deshalb so berühmt, weil er so ungeheuer schwer zu beweisen ist. Daß der Fürst der Amateure behauptet hat, er könne den Satz beweisen, der seither Generationen von Berufsmathematikern zur Verzweiflung getrieben hat, setzt dem Problem die Krone auf. Fermats lässige Kommentare am Rand seiner Arithmetica-Ausgabe wurden zur Herausforderung für die mathematische Welt. Er hatte den letzten Satz bewiesen: die Frage war nun, ob ein anderer Mathematiker diesem Genie das Wasser reichen konnte. Der englische Mathematiker G. H. Hardy, bekannt für seinen schrulligen Humor, malte sich einen Streich aus, durch den er den Nachkommenden eine ähnlich harte Nuß hinterlassen würde. Hardy dachte sich eine Art Versicherungspolice aus, die ihm seine Furcht vor Schiffsreisen nehmen würde. Sollte er je eine Seereise antreten müssen, so Hardy, werde er vorher ein Telegramm an einen Kollegen schicken mit den Worten: HABE RIEMANNSCHE VERMUTUNG BEWIESEN STOP GENAUERES BEI RÜCKKEHR

Die Riemannsche Vermutung ist ein Problem, das die Mathematiker seit dem neunzehnten Jahrhundert umtreibt. Hardys Über-

legung war, Gott werde ihn gewiß nicht ertrinken lassen, denn andernfalls würde ein zweites schreckliches Gespenst die Mathematiker heimsuchen. Fermats letzter Satz ist ein überwältigend schwieriges Problem, und doch kann es so formuliert werden, daß ein Schulkind verstehen kann, worum es eigentlich geht. In der Physik, der Chemie oder der Biologie kann es kein Problem geben, das so einfach und unzweideutig darlegbar ist und doch so lange Zeit ungelöst bleibt. E. T. Bell schrieb in seinem Buch, die menschliche Zivilisation werde wohl schon vor dem Beweis von Fermats letztem Satz ans Ende gelangt sein. Dieser Beweis ist zum großen Lotteriegewinn in der Zahlentheorie geworden, und es überrascht nicht, daß mit der Suche auch einige der spannendsten Episoden der Mathematikgeschichte eingeleitet wurden. Die besten Köpfe der Welt haben sich mit Fermats letztem Satz beschäftigt, ein höchst gewinnversprechendes Unternehmen, das mit selbstmörderischer Verzweiflung und Duellen im Morgengrauen vorangetrieben wurde. Das Rätsel wurde auch über die geschlossene Welt der Mathematiker hinaus bekannt. 1958 fand es sogar Eingang in eine FaustErzählung. Die Anthologie Deals with the Devil enthält eine Kurzgeschichte von Arthur Poges. In »The Devil and Simon Flagg« fordert der Teufel Simon Flagg auf, ihm eine Frage zu stellen. Wenn es ihm gelingt, sie innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu beantworten, holt er sich Simons Seele, doch wenn nicht, muß er Simon 100 000 Dollar geben. Simon stellt die Frage: »Ist Fermats letzter Satz wahr?« Der Teufel verschwindet und saust durchs ganze Weltall, um alle mathematischen Lehren überhaupt in sich aufzusaugen. Am folgenden Tag kehrt er zurück und muß seine Niederlage eingestehen: »Du hast gewonnen, Simon«, sagte er fast flüsternd und betrachtete ihn mit neidlosem Respekt. »Nicht einmal ich kann in so kurzer Zeit genug Mathematik lernen, um ein so schwieriges Problem zu lösen. Je tiefer ich mich darin versenkt habe, desto schlimmer wurde es. Nichteindeutige Faktorzerlegung, ideale

Zahlen – bah! Weißt du«, gestand der Teufel, »nicht einmal die besten Mathematiker auf den anderen Planeten – alle viel weiter als deiner – konnten das Rätsel lösen. Da ist sogar ein Kerl auf Saturn, der aussieht wie ein Pilz auf Stelzen und partielle Differentialgleichungen im Kopf löst: selbst der hat aufgegeben.«

Leonhard Euler

3 Eine Schande für die Mathematik Die Mathematik ist kein behutsamer Gang auf freigeräumter Straße, sondern eine Reise in die unbekannte Wildnis, in der sich die Forscher häufig verlieren. Wo logische Strenge herrscht, sollten die Historiker davon ausgehen, daß die Karten bereits gezeichnet und die wirklichen Forscher schon woanders sind. W. S. Anglin

»Seit ich als Kind auf Fermats letzten Satz gestoßen bin, ist er meine größte Leidenschaft«, sagt Andrew Wiles, vom Thema so bewegt, daß seine Worte zögern. »Ich hatte also mit diesem seit dreihundert Jahren ungelösten Problem Bekanntschaft geschlossen. Meine Schulkameraden waren zumeist nicht gerade in die Mathematik vernarrt, deshalb habe ich mit ihnen nicht darüber gesprochen. Aber mein Lehrer hatte selbst schon mathematische Forschung betrieben, und er gab mir ein Buch über Zahlentheorie, dem ich einige Hinweise verdankte, wie das Problem überhaupt in Angriff zu nehmen war. Zunächst einmal ging ich davon aus, daß Fermat nicht viel mehr über Mathematik wußte als ich damals. Ich versuchte, seine verlorene Lösung mit den Methoden zu finden, die auch er angewandt haben könnte.« Wiles war ein völlig unbefangener und zugleich ehrgeiziger Junge, der eine Chance witterte, gerade dort erfolgreich zu sein, wo Generationen von Mathematikern gescheitert waren. Das mochte anderen als tollkühner Traum vorkommen, doch der junge Andrew glaubte zurecht, daß er, ein Schulkind des zwanzigsten Jahrhunderts, ebensoviel Mathematik beherrschte wie Pierre de Fermat, ein Genie des siebzehnten Jahrhunderts. Vielleicht würde er, un-

voreingenommen wie er war, auf einen Beweis stoßen, den andere, hochgebildete Geister, übersehen hatten. All seiner Begeisterung zum Trotz endete jede Rechnung in einer Sackgasse. Er zermarterte sich das Hirn, er wälzte seine Schulbücher und erreichte doch nichts. Ein Jahr lang scheiterten alle Versuche, dann änderte er seine Strategie. Vielleicht konnte er etwas aus den Fehlern der bedeutenden Mathematiker lernen. »Fermats letzter Satz hat diese unglaubliche, romantische Geschichte. Viele haben darüber nachgedacht, und mit jedem weiteren großen Mathematiker der Vergangenheit, der das Problem in Angriff nahm und dabei scheiterte, wurde die Herausforderung größer und das Geheimnis unergründlicher. Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert hatten es viele Mathematiker auf die unterschiedlichste Weise versucht, und im Teenageralter kam ich zu dem Schluß, daß ich sie studieren und versuchen mußte zu begreifen, wie sie eigentlich vorgegangen waren.« Der junge Wiles prüfte alle jemals unternommenen ernsthaften Versuche, Fermats letzten Satz zu beweisen. Zunächst nahm er sich das Werk des produktivsten Mathematikers der Geschichte vor und zugleich des ersten, dem ein Durchbruch im Kampf gegen Fermat gelungen war.

Der mathematische Zyklop Der mathematische Schaffensprozeß ist eine schmerzhafte und geheimnisvolle Erfahrung. Das Beweisziel ist meist klar, doch der Weg liegt im Nebel, und der Mathematiker stolpert durch seine Berechnungen in der Befürchtung, jeder Schritt könnte die Argumentation in die falsche Richtung führen. Hinzu kommt die Angst, es könnte einen Weg zum Ziel gar nicht geben. Ein Mathematiker mag glauben, daß eine Aussage wahr ist, und Jahre damit verbringen, sie zu beweisen, während sie in Wirklichkeit falsch ist. Er hat dann im Grunde versucht, das Unmögliche zu beweisen. In der gesamten Geschichte der Disziplin sind offenbar nur eine Handvoll Mathematiker von den Selbstzweifeln verschont geblie-

ben, die ihre Kollegen verunsichern. Der vielleicht bemerkenswerteste unter ihnen war Leonhard Euler, ein mathematisches Genie des achtzehnten Jahrhunderts. Ihm gelang der erste Durchbruch zum Beweis vom großen oder Fermats letztem Satz. Euler verfügte über eine unglaubliche Intuition und ein sagenhaftes Gedächtnis, so daß es hieß, er könne umfangreiche Berechnungen im Kopf anstellen, ohne auch nur einmal die Feder aufs Papier zu setzen. In ganz Europa galt er als »Analysis persönlich«, und François Arago, Sekretär der französischen Akademie, sagte über ihn: »Euler rechnete ohne sichtbare Mühe, wie ein Mensch atmet, oder wie ein Adler, der sich reglos in den Lüften hält.« Leonhard Euler wurde als Sohn des calvinistischen Pastors Paul Euler 1707 in Basel geboren. Obwohl er schon früh eine glänzende Begabung für die Mathematik bewies, beharrte der Vater darauf, daß er Theologie studieren und eine kirchliche Laufbahn einschlagen solle. Pflichtbewußt gehorchte Leonhard und studierte an der Universität Basel Theologie und Hebräisch. Zum Glück für Euler war Basel auch die Heimat einer außergewöhnlichen Familie, der Bernoullis. Sie konnte ohne weiteres für sich in Anspruch nehmen, die Mathematikerfamilie überhaupt zu sein, da sie innerhalb von drei Generationen acht herausragende mathematische Köpfe hervorgebracht hatte – manche sagen, die Familie Bernoulli sei für die Mathematik, was die Familie Bach für die Musik ist. Ihr Ruhm verbreitete sich auch über Mathematikerkreise hinaus, wie eine Anekdote zeigt, die das Ansehen der Familie beleuchtet. Während einer Reise durch Europa kam Daniel Bernoulli eines Tages mit einem Fremden ins Gespräch. Nach einer Weile stellte er sich auf schlichte Art vor: »Ich bin Daniel Bernoulli.« »Und ich«, entgegnete sein Gesprächspartner sarkastisch, »ich bin Isaac Newton.« Daniel schilderte diese Episode des öfteren mit großem Vergnügen, da er in ihr die aufrichtigste Respektbekundung seines Lebens erblickte. Daniel und Nikolaus Bernoulli waren enge Freunde von Leonhard Euler, und sie erkannten, daß man auf dem besten Wege war, diesen begnadeten Mathematiker in einen ausgesprochen mittelmäßigen Theologen zu verwandeln. Sie traten an Paul Euler mit

der dringenden Bitte heran, Leonhard zu erlauben, den Talar gegen die Zahlen einzutauschen. Euler senior hatte einst bei Bernoulli senior, Jakob Bernoulli, Mathematik gelernt, und empfand größte Hochachtung vor dieser Familie. Widerstrebend freundete er sich mit dem Gedanken an, daß sein Sohn zum Rechnen und nicht zum Predigen geboren war. Leonhard Euler verließ bald darauf die Schweiz und verbrachte den größten Teil seiner Schaffenszeit an den herrschaftlichen Höfen von Berlin und Sankt Petersburg. Zu Fermats Zeiten hatte man die Mathematiker noch als amateurhafte Zahlenjongleure betrachtet, doch im achtzehnten Jahrhundert galten sie schon als berufsmäßige Problemloser. Der Umgang mit den Zahlen hatte sich drastisch gewandelt, unter anderem dank Sir Isaac Newton und seinen wissenschaftlichen Berechnungen. Newton war der Auffassung, daß die Mathematiker ihre Zeit damit verschwendeten, sich gegenseitig mit sinnlosen Rätseleien zu foppen. Er hingegen wollte die Mathematik auf die physikalische Welt anwenden, von der Position der Sterne bis hin zur Flugbahn von Kanonenkugeln. Als Newton 1727 starb, hatte Europa eine wissenschaftliche Revolution erlebt, und noch im selben Jahr veröffentlichte Euler seinen ersten Artikel. Zwar enthielt diese Arbeit elegante und neuartige mathematische Erörterungen, doch diente sie vorrangig der Beschreibung eines technischen Problems bei der Bemastung von Schiffen. Die europäischen Mächte zeigten kein Interesse an den Möglichkeiten der Mathematik, abgelegene und abstrakte Ideenwelten zu erkunden; vielmehr wollten sie die Mathematik für die Lösung praktischer Probleme in Anspruch nehmen und konkurrierten dabei um die Dienste der besten Köpfe. Euler begann seine Laufbahn bei den Zaren, bevor ihn der preußische König Friedrich der Große an die Berliner Akademie der Wissenschaften einlud. Schließlich kehrte er jedoch nach Rußland zurück, wo er am Hof Katharinas der Großen seine letzten Jahre verbrachte. Im Laufe seines Forscherlebens behandelte er die unterschiedlichsten Probleme, von der Navigation bis zu Finanzfragen, von der Akustik bis zur Bewässerung. Diese praktische Welt der Problemlösungen trübte

Eulers mathematischen Scharfsinn jedoch nicht im geringsten. Jede neue Aufgabe regte ihn zur Entwicklung origineller und genialer mathematischer Verfahren an. Mit leidenschaftlicher Zielstrebigkeit schrieb er täglich mehrere Aufsätze, und der Legende zufolge unternahm er zwischen dem ersten und dem zweiten Ruf zum Abendessen stets noch den Versuch, eine vollständige Berechnung zu Papier zu bringen, die es wert war, veröffentlicht zu werden. Euler verschwendete keinen Augenblick. Wenn er mit der einen Hand ein kleines Kind in den Schlaf schaukelte, entwarf er mit der anderen Hand noch einen Beweis. Eine der größten Leistungen Eulers war die Entwicklung der algorithmischen Methode. Sinn und Zweck von Eulers Algorithmen war die Bearbeitung scheinbar unlösbarer Probleme. Eines davon war die äußerst genaue Vorhersage der Mondphasen bis weit in die Zukunft hinein – mit diesem Wissen konnten für die Seefahrt lebenswichtige Navigationskarten erstellt werden. Schon Newton hatte gezeigt, daß es verhältnismäßig leicht ist, die Umlaufbahn eines Himmelskörpers um einen anderen vorauszusagen, doch im Falle des Mondes ist dies nicht so einfach. Der Mond umrundet die Erde, doch gibt es einen dritten Himmelskörper, die Sonne, was die Sache enorm kompliziert. Während Erde und Mond einander anziehen, stört die Sonne die Position der Erde und zieht die Umlaufbahn des Mondes in ihre Richtung. Die Wirkungen von jeweils zwei Himmelskörpern aufeinander konnten mittels Gleichungen berechnet werden, doch die Mathematiker des achtzehnten Jahrhunderts konnten den dritten Körper noch nicht in ihre Berechnungen einbeziehen. Selbst heute ist es unmöglich, das sogenannte »Dreikörperproblem« exakt zu lösen. Euler erkannte, daß die Seefahrer die Mondphasen nicht vollkommen exakt kennen mußten, sondern nur hinreichend genau, um ihre Position bis auf ein paar Seemeilen korrekt zu bestimmen. Daher entwickelte er ein Rezept für eine hinreichend genaue Lösung. Dieses Rezept, als Algorithmus bezeichnet, ergab zunächst ein grobes Resultat, das dann wieder in den Algorithmus eingegeben werden konnte, der dann ein genaueres Resultat lieferte. Dieses wiederum konnte erneut verwendet werden, um ein noch genaue-

res Resultat zu erzielen, und so weiter. Nach etwa hundert dieser Näherungsoperationen konnte Euler die Position des Mondes mit einer Genauigkeit bestimmen, die für die Zwecke der Seefahrt genügte. Er überreichte seinen Algorithmus der britischen Admiralität, die ihn mit einem Preis von 300 Pfund belohnte. Euler erwarb sich den Ruf, jedes ihm gestellte Problem lösen zu können, eine Begabung, die sich offenbar über die Grenzen der Wissenschaft hinaus erstreckte. Während seines Aufenthalts am Hofe Katharinas der Großen begegnete er dem großen französischen Philosophen Denis Diderot. Diderot war überzeugter Atheist und verbrachte seine Zeit damit, die Russen zum Atheismus zu bekehren. Katharina war darüber erzürnt und bat Euler, dem Treiben des gottlosen Franzosen Einhalt zu gebieten. Euler dachte ein wenig über die Sache nach und verkündete dann, er besitze einen algebraischen Beweis für die Existenz Gottes. Katharina bat Euler und Diderot zu sich in den Palast, um im Kreise ihrer Höflinge dem theologischem Disput zu lauschen. Euler trat vor das Publikum und verkündete: »Mein Herr,

a + bn = x, also existiert Gott; antworten Sie! « n

Diderot, der wenig von der Algebra verstand, konnte gegen den größten Mathematiker Europas kein Argument ins Feld führen und blieb stumm. Gedemütigt verließ er Sankt Petersburg und kehrte nach Paris zurück. Euler unterdessen bereitete die Rückkehr zur theologischen Forschung auch weiterhin Vergnügen, und er veröffentlichte noch ein paar andere nicht ganz ernstgemeinte Beweise zum Wesen Gottes und des menschlichen Geistes. Ein gewichtigeres Problem, das Eulers humorvolles Naturell ebenfalls reizte, betraf die preußische Stadt Königsberg, das heutige russische Kaliningrad. Die Stadt liegt an dem Fluß Pregel und hat vier Stadtteile, die durch sieben Brücken miteinander verbunden sind. Abbildung 7 zeigt die Anlage der Stadt. Einige der wißbegierigeren Bürger Königsbergs fragten sich, ob es möglich wäre, einen Spaziergang über alle sieben Brücken zu unternehmen, ohne eine der Brücken mehr als einmal zu überqueren. Die Bürger ver-

Abbildung 7: Der Pregel teilt die Stadt Königsberg in vier Stadtteile, A, B, C und D. Sieben Brücken verbinden sie, und zu Eulers Zeiten ging in der Stadt das Rätsel um, ob es möglich wäre, bei einem Spaziergang jede Brücke einmal und nur einmal zu überqueren.

suchten es mit unterschiedlichen Routen, jedoch vergeblich. Auch Euler fand keine Lösung, aber es gelang ihm zu erklären, warum ein solcher Spaziergang unmöglich ist. Euler nahm sich zunächst einen Plan der Stadt vor und entwikkelte davon ausgehend eine vereinfachte Darstellung, bei der, wie in Abbildung 8, die Stadtteile zu Punkten geschrumpft und die Brücken durch Linien ersetzt sind. Dann stellte er fest, daß ein Spaziergang, bei dem alle Brücken nur einmal überquert werden, allgemein nur dann möglich ist, wenn ein Punkt mit einer geraden Zahlen von Linien verknüpft ist. Der Spaziergänger muß nämlich eine Landpartie über eine Brücke betreten und über eine andere verlassen. Für diese Regel gibt es nur zwei Ausnahmen: am Beginn und am Ende des Spaziergangs. Am Beginn verläßt der Spaziergänger eine Landpartie, wofür er nur eine Brücke braucht, und die letzte Landpartie betritt er wiederum über nur eine Brücke. Wenn der

B Abbildung 8: Eine vereinfachte Darstellung der Königsberger Brücken.

Spaziergang an verschiedenen Orten beginnt und endet, dann dürfen diese beiden Landpartien eine ungerade Zahl von Brücken haben. Doch wenn der Gang am selben Ort beginnt und endet, dann muß dieser Punkt, wie alle anderen, eine gerade Anzahl von Brükken besitzen. Euler zog daraus den allgemeinen Schluß, für jedes beliebige Netz von Brücken gelte, daß ein Spaziergang, bei dem jede Brücke nur einmal überquert wird, nur dann möglich ist, wenn alle Landpartien eine gerade Anzahl von Brücken besitzen oder wenn genau zwei Landpartien eine ungerade Anzahl von Brücken besitzen. Im Fall Königsberg gibt es insgesamt vier Landpartien, die alle mit einer ungeraden Zahl von Brücken verbunden sind – drei Punkte haben drei Brücken und einer hat fünf Brücken. Euler konnte erklären, warum es unmöglich war, jede Königsberger Brücke einmal und nur einmal zu überqueren, und er hatte außerdem eine Regel aufgestellt, die auf jedes Brückennetz in jeder Stadt der Welt angewandt werden konnte. Das Argument ist wunderbar einfach und entspricht vielleicht genau der Sorte logischer Probleme, die Euler noch kurz vor dem Abendessen erledigt hat. Das Rätsel der Königsberger Brücken war ein Problem der angewandten Mathematik, doch es regte Euler zur Behandlung abstrakterer Netze an. Er entdeckte schließlich eine grundsätzliche Wahrheit über alle Netze, den Satz von Euler, den er mit nur einer

Ecken = 4 Flächen = 3 Kanten = 6

Ecken = 6 Flächen = l Kanten = 6

Ecken = 6 Flächen = 5 Kanten = 10

Abbildung 9: Der Satz von Euler trifft auf alle erdenklichen Netze zu.

Handvoll Schritte beweisen konnte. Er stellt eine zeitlose Beziehung zwischen den drei Eigenschaften dar, die jedes Netz besitzt: Es gilt: E + F - K = 1 mit E = K = F =

Zahl der Ecken (Punkte) im Netz Zahl der Kanten (Linien) im Netz Zahl der eingeschlossenen Flächen im Netz.

Euler behauptete, bei jedem Netz könne man die Zahl der Ecken und Flächen addieren, die Zahl der Kanten subtrahieren und immer die Zahl 1 erhalten. So gehorchen zum Beispiel alle Netze in Abbildung 9 dieser Regel. Diese Formel könnte man anhand einer ganzen Reihe von Netzen überprüfen. Sollte sie jedesmal zutreffen, wäre man versucht anzunehmen, daß sie für alle Netze gilt. Dies mag zwar hinreichen, um eine naturwissenschaftliche Theorie zu begründen, doch nicht, um einen mathematischen Satz zu beweisen. Daß die Formel für jedes mögliche Netz gilt, kann nur mit einem narrensicheren Argument gezeigt werden, und genau dies gelang Euler.

(a)

(b)

(c)

Abbildung 10: Euler bewies seinen Satz, indem er zeigte, daß er für das einfachste Netz gilt, und dann nachwies, daß er auch auf jede mögliche Erweiterung der einen Ecke zutrifft.

Er begann mit dem denkbar einfachsten Netz, nämlich einer einzigen Ecke, wie in Abbildung 10 (a). Für dieses Netz stimmt die Formel ganz offensichtlich: es gibt eine Ecke und keine Kanten oder Flächen, deshalb gilt: E + F - K = 1 + 0 - 0 = 1. Dann überlegte Euler, was passieren würde, wenn er diesem einfachsten aller Netze etwas hinzufügte. Für jede Erweiterung der einen Ecke ist eine Kante nötig. Sie kann entweder die vorhandene Ecke mit sich selbst verbinden oder sie mit einer neuen Ecke verknüpfen. Betrachten wir zunächst den Fall, bei dem eine Ecke durch diese Kante mit sich selbst verbunden wird. Wie in Abbildung 10 (b) gezeigt, entsteht durch die Hinzufügung einer Kante auch eine neue Fläche. Die Netzformel bleibt also wahr, weil die neue Fläche (+ 1) die neue Kante ausgleicht (-1). Kommen weitere Kanten dieser Art

hinzu, bleibt der Satz gültig, da mit jeder neuen Kante auch eine neue Fläche entsteht. Gehen wir nun dazu über, die ursprüngliche Ecke durch eine Kante mit einer neuen Ecke zu verbinden, wie in Abbildung 10 (c). Wiederum bleibt Eulers Satz gültig, weil die neue Ecke (+ 1) die neue Kante ausgleicht (-1). Kommen auf diese Weise neue Kanten hinzu, bleibt der Satz gültig, weil jede neue Kante mit einer neuen Ecke verbunden wird. Mehr brauchte Euler für seinen Beweis nicht. Er stellte fest, daß die Netzformel für das einfachste aller Netze gilt, für eine einzige Ecke. Davon ausgehend, können alle anderen Netze, gleich wie kompliziert, durch die schrittweise Hinzufügung von jeweils einer Kante konstruiert werden. Entscheidend ist, daß Eulers Satz mit jeder neuen Kante Gültigkeit bewahrt, weil entweder eine neue Ecke oder eine neue Fläche hinzukommt, die in der Formel zum Ergebnisausgleich führen. Euler hatte eine einfache, aber mächtige Strategie entwickelt. Er bewies, daß die Formel für das einfachste Netz, eine einzige Ecke, gilt, und zeigte dann, daß jede Operation, mit dem man das Netz ausbauen kann, diese Gültigkeit nicht aufhebt. Die Formel trifft daher auf die unendliche Menge aller möglichen Netze zu. Als Euler auf die Fermatsche Vermutung stieß, muß er die Hoffnung gehegt haben, ihn durch eine ähnliche Strategie beweisen zu können. Fermats letzter Satz und der Satz von Euler stammen aus sehr unterschiedlichen Gebieten der Mathematik, doch haben sie eines gemein: beide sagen etwas aus über eine unendliche Anzahl von Gegenständen. Dem Satz von Euler zufolge gilt für die unendliche Zahl von möglichen Netzen, daß die Zahl der Ecken und Flächen minus der Zahl der Kanten immer 1 ergibt. Fermats letzter Satz besagt, daß es für eine unendliche Zahl von Gleichungen keine ganzzahligen Lösungen gibt. Erinnern wir uns, daß Fermat behauptete, es gebe keine positiven ganzzahligen Lösungen für die folgende Gleichung: xn + yn = zn,

wobei n eine beliebige Zahl größer als 2 ist.

Diese Gleichung repräsentiert eine unendliche Reihe von Gleichungen: x 4 + y 4 = z 4, x 5 + y 5 = z 5, x 6 + y 6 = z 6, x 7 + y 7 = z 7. .. . Euler fragte sich, ob es möglich wäre zu beweisen, daß eine dieser Gleichungen keine Lösung besitzt und diesen Beweis dann auf alle übrigen Gleichungen zu übertragen. Auf diese Weise hatte er schon seinen Satz für alle Netze bewiesen, indem er vom einfachsten Fall, der einzelnen Ecke, ausging, und daraus allgemeingültige Schlüsse zog. Euler kam einen gewaltigen Schritt vorwärts, als er einen in den Notizen Fermats verborgenen Hinweis entdeckte. Zwar brachte Fermat nie einen Beweis für seinen letzten Satz zu Papier, doch an einer anderen Stelle seines Exemplars der Arithmetica hatte er in kryptischer Manier einen Beweis für den Einzelfall n = 4 notiert und ihn in den Beweisgang für ein ganz anders geartetes Problem eingearbeitet. Zwar ist dies die vollständigste Rechnung, die Fermat je zu Papier brachte, doch bleiben die einzelnen Schritte unvollständig und vage, und er schließt seinen Beweis mit der Bemerkung, Mangel an Zeit und Papier hinderten ihn an einer ausführlicheren Erläuterung. Trotz der fehlenden Einzelheiten in Fermats Kritzeleien zeigen sie deutlich eine bestimmte Form des Beweises durch Widerspruch, die Methode des unendlichen Abstiegs. Um zu beweisen, daß für die Gleichung x 4 + y 4 = z 4 keine Lösungen existieren, ging Fermat zunächst von der Annahme aus, es gäbe eine Lösung x = X 1, y = Y 1,

z = Z 1.

Fermat untersuchte die Eigenschaften von (X 1, Y 1, Z 1) und kam zu dem Ergebnis, wenn es eine Lösung gäbe, müsse auch eine Lösung mit einem kleineren (X2, Y2, Z2) existieren. Dann jedoch mußte es auch eine noch kleinere Lösung (X3, Y3, Z3) geben, und so weiter.

Fermat war auf eine Treppe von Lösungen gestoßen, auf der man theoretisch unendlich weit zu immer kleineren Zahlen absteigen konnte. Allerdings müssen x, y und z ganze Zahlen sein, und weil es deshalb auch eine kleinste mögliche Lösung geben muß, ist die niemals endende Treppe unmöglich. Dieser Widerspruch beweist, daß die ursprüngliche Annahme, es gäbe eine Lösung (X1, Y1, Z1), falsch sein muß. Fermat hatte mit der Methode des unendlichen Abstiegs gezeigt, daß die Gleichung mit n = 4 keine Lösung haben darf, weil sich andernfalls absurde Schlußfolgerungen ergeben würden. Euler versuchte auf der Grundlage dieses Arguments einen allgemeinen Beweis für alle anderen Gleichungen zu entwickeln. Diesen mußte er nicht nur aufwärts bis hin zu n = unendlich führen, sondern auch abwärts nach n = 3, und dieser eine Schritt gelang ihm als erster. Am 4. August 1753 verkündete Euler in einem Brief an den preußischen Mathematiker Christian Goldbach, daß er Fermats Methode des unendlichen Abstiegs auf den Fall n = 3 angewandt habe und der Beweis gelungen sei. Erstmals nach einem Jahrhundert hatte ein Mathematiker Fortschritte auf dem Weg zur Lösung des Fermatproblems erzielt. Um Fermats Beweis von n = 4 auf n = 3 zu erweitern, mußte Euler den merkwürdig anmutenden Begriff einer imaginären Zahl ins Spiel bringen, die von den europäischen Mathematikern des sechzehnten Jahrhunderts entdeckt worden war. Daß neue Zahlen »entdeckt« werden, mag seltsam klingen, doch das liegt vor allem an unserer großen Vertrautheit mit den Zahlenarten, die wir meist gebrauchen. Wir vergessen dabei, daß es eine Zeit gab, in der diese Zahlen noch gar nicht existierten. Negative Zahlen, Brüche und irrationale Zahlen mußten ja erst entdeckt werden, und immer war der Beweggrund dafür die Suche nach der Antwort auf ansonsten unlösbare Fragen. Die Geschichte der Zahlen beginnt mit den natürlichen Zahlen, die wir zum Zählen verwenden (1, 2, 3...). Diese Zahlen reichen völlig aus, um einfache ganzzahlige Größen zu addieren, die Anzahl von Schafen etwa oder von Goldmünzen, was eine Gesamtzahl ergibt, die ebenfalls eine ganze ist. Neben der Addition gibt es ein weiteres einfaches Rechenverfahren, die Multiplikation, die

-4

-3

-2

-1

0

+1 ½

+2

+3

+4

2

Abbildung 11: Alle Zahlen können entlang der Zahlengeraden aufgereiht werden, die in beiden Richtungen ins Unendliche geht.

mit ganzen Zahlen wiederum ganze Zahlen ergibt. Hingegen taucht bei der Division ein merkwürdiges Problem auf. Während 8 geteilt durch 2 gleich 4 ist, stellt sich heraus, daß 2 geteilt durch 1 8 gleich 4 ist. Das Ergebnis dieser Division ist keine ganze Zahl, sondern ein Bruch. Wir haben hier eine einfache Operation mit natürlichen Zahlen, die uns zwingt, über das Reich der natürlichen Zahlen hinauszugehen, wenn wir eine Antwort erhalten wollen. Für die Mathematiker ist es undenkbar, nicht wenigstens theoretisch jede einzelne Frage beantworten zu können – eine Anforderung, die als Vollständigkeit bezeichnet wird. Es gibt gewisse Fragen im Umkreis der natürlichen Zahlen, die ohne den Rückgriff auf Brüche unbeantwortbar wären. In der Sprache der Mathematiker ausgedrückt, sind die Brüche notwendig für die Vollständigkeit. Dieses Verlangen nach Vollständigkeit führte die Hindus zur Erfindung der negativen Zahlen. Sie stellten fest, daß 5 minus 3 zwar offensichtlich 2 ergab, 3 minus 5 jedoch nicht so einfach zu lösen war. Die Antwort lag jenseits der natürlichen Zahlen und war nur möglich, wenn man den Begriff der negativen Zahlen einführte. Einige Mathematiker wehrten sich gegen diesen Übergang zur Abstraktion und bezeichneten die negativen Zahlen als »sinnlos« oder »fiktiv«. Ein Buchhalter konnte wohl eine Goldmünze in die Hand nehmen, oder auch eine halbe, doch eine negative Münze konnte er nicht greifen. Dasselbe Streben nach Vollständigkeit führte die Griechen zur Entdeckung der irrationalen Zahlen. In Kapitel 2 tauchte die Frage auf, welche Zahl die Quadratwurzel von zwei ist, also 2. Die 7 Griechen wußten, daß diese Zahl in etwa bei 5 lag, doch als sie versuchten, den genauen Bruch zu ermitteln, stellte sich heraus, daß er gar nicht existierte. Sie hatten es mit einer Zahl zu tun, die nicht als

Bruch dargestellt werden konnte, doch diese neue Zahlenart war unerläßlich, um eine einfache Frage zu beantworten – was ist die Quadratwurzel von zwei? Die Forderung nach Vollständigkeit hatte zur Folge, daß man dem Reich der Zahlen eine weitere Kolonie hinzufügte. In der Renaissance glaubten die Mathematiker, sie hätten nun alle Zahlen im Universum entdeckt. Diese Zahlen konnte man sich auf einer Zahlengeraden vorstellen, einer unendlich langen Geraden mit der Null in der Mitte (Abbildung 11). Die ganzen Zahlen waren in gleichem Abstand entlang der Zahlengeraden aufgereiht, die positiven rechts von der Null bis ins positiv Unendliche, die negativen links von der Null bis ins negativ Unendliche. Die Brüche nahmen die Räume zwischen den ganzen Zahlen ein, und die irrationalen Zahlen waren zwischen den Brüchen verteilt. Die Zahlengerade ließ die Vorstellung aufkommen, nun sei endlich Vollständigkeit erreicht. Alle Zahlen schienen an ihrem Platz zu sein, bereit, alle mathematischen Fragen zu beantworten – jedenfalls gab es auf der Zahlengeraden keinen Platz mehr für neue Zahlen. Doch im sechzehnten Jahrhundert wurde erneut Unzufriedenheit laut. Der italienische Mathematiker Rafaello Bombelli stieß bei seinen Untersuchungen zur Quadratwurzel auf eine unbeantwortbare Frage. Die Schwierigkeiten begannen mit der Frage: Was ist die Quadratwurzel von eins, 1? Die offensichtliche Antwort lautet 1, denn 1 × 1 = 1. Die weniger offensichtliche Antwort ist -1. Eine negative Zahl, multipliziert mit einer anderen negativen Zahl, ergibt eine positive Zahl. Das heißt, -1 × -1 = + 1. Die Quadratwurzel von + 1 ist also sowohl + 1 als auch -1. Diese gleich doppelte Antwort ist gut und schön, aber nun stellt sich die Frage: Was ist die Quadratwurzel der negativen Eins, -1 ? Das Problem scheint unlösbar zu sein. Die Antwort kann nicht + 1 oder -1 lauten, weil das Quadrat dieser beiden Zahlen + 1 ergibt. Allerdings sind keine weiteren Kandidaten für die Lösung in Sicht. Zugleich sind wir gemäß der Vollständigkeitsforderung gezwungen, die Frage zu beantworten. Die Lösung Bombellis bestand einfach darin, daß er eine neue Zahl, i, einführte, imaginäre Zahl genannt, einfach definiert als Lö-

imaginäre Achse 4i 3i 2i

⊕ 1+2i

i

-4

-3

-2

-1

+1

+2

+3

+4

reelle Achse

-i -2 i -3 i -4i

Abbildung 12: Durch die Einführung einer Achse für die imaginären Zahlen wird die Zahlengerade zu einer Zahlenebene. Jede Kombination einer reellen und einer imaginären Zahl hat eine Position in der Zahlenebene.

sung des Problems: Was ist die Quadratwurzel von minus eins? Das mag nach einer allzu bequemen Antwort aussehen, doch Bombelli verfuhr hier nicht anders als bei der Einführung der negativen Zahlen. Da sie vor der ansonsten unbeantwortbaren Frage Was ist null minus eins? standen, legten die Hindus einfach -1 als Lösung fest. Nur weil wir mit der ähnlichen Vorstellung der »Schulden« vertraut sind, fällt uns die Vorstellung der -1 leichter, während wir m der realen Welt nichts vorfinden, was uns den Gedanken einer ima-

ginären Zahl näherbringt. Der deutsche Mathematiker Gottfried Leibniz beschrieb im siebzehnten Jahrhundert ganz treffend die seltsame Natur dieser Zahl: »Die imaginären Zahlen sind eine feine und wunderbare Zuflucht des göttlichen Geistes, beinahe ein Amphibium zwischen Sein und Nichtsein.« Haben wir i einmal als die Quadratwurzel von -1 definiert, dann muß es auch 2i geben, denn dies wäre die Summe von i plus i i (und zugleich die Quadratwurzel von -4). Desgleichen muß 2 existieren. Mit einfachen Schritten ist es möglich, ein imaginäres Gegenstück für jede sogenannte reelle Zahl zu erzeugen. Es gibt imaginäre natürliche Zahlen, imaginäre negative Zahlen, imaginäre Brüche und imaginäre irrationale Zahlen. Nun ergab sich das Problem, daß all diese imaginären Zahlen keine ihnen entsprechenden Positionen entlang der reellen Zahlengeraden besaßen. Die Mathematiker lösten diese Krise, indem sie eine eigene, imaginäre Zahlengerade schufen, die rechtwinklig zur reellen verläuft und sie im Nullpunkt schneidet (Abbildung 12). Die Zahlen sind nun nicht mehr auf eine eindimensionale Gerade beschränkt, sondern besetzen eine zweidimensionale Ebene. Während die reinen imaginären und reellen Zahlen ausschließlich auf den jeweiligen Geraden liegen, befinden sich die Verknüpfungen von reellen und imaginären Zahlen (z. B. 2 + i), die komplexen Zahlen, auf der sogenannten Zahlenebene. Bemerkenswert ist hier vor allem, daß die komplexen Zahlen zur Lösung jeder denkbaren Gleichung herangezogen werden können. Um etwa (3 + 4i) zu berechnen, müssen die Mathematiker nicht noch einmal eine Zahlenart erfinden – die Antwort lautet nämlich 2 + i, wiederum eine komplexe Zahl. Mit anderen Worten, die imaginären Zahlen scheinen das letzte Element zu sein, das nötig ist, um die Mathematik zu vervollständigen. Obwohl die Quadratwurzeln negativer Zahlen als imaginäre Zahlen bezeichnet wurden, halten die Mathematiker i nicht für abstrakter als eine negative Zahl oder eine natürliche Zahl. Zudem haben die Physiker entdeckt, daß mit der Sprache der imaginären Zahlen manche Phänomene der realen Welt am besten beschrieben werden können. Mit ein paar geringfügigen Abwandlungen eignen

sich die imaginären Zahlen nämlich hervorragend, um die natürlichen Schwingungen etwa von Pendeln zu analysieren. Diese Bewegung, technisch ausgedrückt eine Sinusschwingung, findet sich überall in der Natur, und so sind die imaginären Zahlen zu einem festen Bestandteil vieler physikalischer Berechnungen geworden. Heute verwenden die Elektroingenieure die Zahl i, um Schwingströme zu analysieren, und die theoretischen Physiker berechnen die Ergebnisse schwingender quantenmechanischer Wellenfunktionen mit Hilfe der Potenzen imaginärer Zahlen. Auch die reinen Mathematiker haben sich die imaginären Zahlen für die Beantwortung zuvor undurchdringlicher Probleme zunutze gemacht. Die imaginären Zahlen bringen im wahrsten Sinne des Wortes eine neue Dimension in die Mathematik. Euler hegte die Hoffnung, diesen zusätzlichen Freiheitsgrad für die Lösung des Fermatproblems einsetzen zu können. In der Vergangenheit hatten andere Mathematiker versucht, Fermats Methode des unendlichen Abstiegs auch auf weitere Fälle neben n = 4 anzuwenden, doch diese Versuche, den Beweis zu erweitern, ergaben jedesmal Lücken in der logischen Argumentation. Euler hingegen zeigte, daß es mit Hilfe der imaginären Zahl i möglich war, Löcher in diesem Beweisverfahren zu stopfen und mit der Methode des unendlichen Abstiegs auch den Fall n = 3 zu erledigen. Diese enorme Leistung konnte Euler bei anderen Fällen des Fermatproblems allerdings nicht wiederholen. Unglücklicherweise blieben alle Bemühungen Eulers, seine Argumentation auf die unendliche Zahl von Fällen auszudehnen, am Ende fruchtlos. Der Mann, der in der Mathematik mehr geschaffen hat als jeder andere in der Geschichte, sah sich durch Fermats Herausforderung gedemütigt. Daß ihm der erste Durchbruch beim schwersten Problem der Welt gelungen war, blieb ihm als einziger Trost. Euler ließ sich von seinem Scheitern nicht beirren und schrieb bis zu seinem letzten Tag brillante mathematische Arbeiten, eine um so bemerkenswertere Leistung, als er während der letzten Schaffensphase völlig blind war. Der Verlust seines Augenlichts setzte 1735 ein, als die Pariser Akademie einen Preis für die Lösung

eines astronomischen Problems ausschrieb. Das Problem war so vertrackt, daß die Mathematiker die Akademie ersuchten, für die Beantwortung mehrere Monate Zeit zu gewähren. Euler jedoch hatte das nicht nötig. Ganz versessen auf die Lösung, arbeitete er drei Tage lang ununterbrochen an der Aufgabe und gewann selbstverständlich den Preis. Die schlechten Arbeitsbedingungen und die enorme Anstrengung hatten jedoch zur Folge, daß Euler, damals noch in den Zwanzigern, auf einem Auge erblindete. Viele Porträts von ihm, auch das am Anfang dieses Kapitels, zeigen die Erkrankung des rechten Auges. Auf den Rat Jean Le Rond D’Alemberts hin ersetzte man Euler durch Joseph-Louis Lagrange als Mathematiker am Hof Friedrichs des Großen, der daraufhin an D’Alembert schrieb: »Ihren Bemühungen sowie Ihrer Empfehlung verdanke ich es, daß bei meiner Akademie der einäugige Meßkünstler durch einen ändern, der seine zwei Augen hat, ist ersetzt worden: welches besonders der anatomischen Klasse sehr behagen wird.« Euler kehrte nach Rußland zurück, wo Katharina die Große ihren »mathematischen Zyklopen« willkommen hieß. Der Verlust eines Augenlichts war nur ein kleines Handikap tatsächlich verkündete Euler, nun werde er »weniger Ablenkung« haben. Vierzig Jahre später, im Alter von sechzig Jahren, verschlimmerte sich sein Zustand erheblich, als ein grauer Star in seinem noch intakten Auge erkennen ließ, daß er eines Tages vollkommen erblinden mußte. Entschlossen, sich nicht aufzugeben, begann er, das schwächer werdende Auge geschlossen haltend, Schreiben zu üben, um seine Fertigkeit vor Einbruch der völligen Dunkelheit zu vervollkommnen. Nur ein paar Wochen später war er blind. Die Übungen zahlten sich eine Zeitlang aus, doch nach ein paar Monaten wurde Eulers Schrift unleserlich, und sein Sohn Albert trat ihm als Sekretär zur Seite. Auch in den folgenden siebzehn Jahren setzte Euler seine mathematische Arbeit fort, und genau besehen war er produktiver denn je. Sein gewaltiger Intellekt ermöglichte es ihm, mit Begriffen zu jonglieren, ohne sie aufs Papier bringen zu müssen, und dank seines sagenhaften Gedächtnisses konnte er das eigene Gehirn als

geistige Bibliothek benutzen. Seine Kollegen stellten fest, seit dem Verlust des Augenlichts hätte sich der Horizont seiner Einbildungskraft offenbar noch ausgedehnt. Nebenbei bemerkt führte Euler seine Berechnungen zu den Mondpositionen aus, während er blind war. Die europäischen Herrscher schätzten diese mathematische Errungenschaft besonders hoch ein. Das Problem hatte die größten Mathematiker Europas, darunter Newton, in Verwirrung gestürzt. Im Jahr 1776 wurde Euler an seinem grauen Star operiert, und ein paar Tage lang schien es, als sei sein Augenlicht wiederhergestellt. Dann kam es zur Infektion, und Euler stürzte zurück in die Dunkelheit. Unerschüttert setzte er seine Arbeit fort, bis er am 18. September 1783 einen tödlichen Schlaganfall erlitt. Der Mathematiker und Philosoph Marquis de Condorcet schrieb: »Euler hörte auf zu leben und zu rechnen.«

Kleine Schritte Ein Jahrhundert nach Fermats Tod war seine Vermutung nur für zwei besondere Fälle bewiesen. Er selbst noch hatte den Mathematikern einen guten Start verschafft und gezeigt, daß es keine Lösungen gibt für die Gleichung x 4 + y 4 = z 4. Euler hatte den Beweis erweitert und nachgewiesen, daß es keine Lösungen gibt für x 3 + y 3 = z 3. Nach Eulers Durchbruch stand allerdings der Beweis immer noch aus, daß es für die unendliche Reihe von Gleichungen keine ganzzahligen Lösungen gibt: x 5 + y 5 = z 5, x 6 + y 6 = z 6, x 7 + y 7 = z 7,

x 8 + y 8 = z 8, x 9 + y 9 = z 9, .. . Die Mathematiker kamen zwar nur peinlich langsam voran, doch war die Lage nicht ganz so schlecht, wie sie auf den ersten Blick aussehen mochte. Der Beweis für den Fall n = 4 erledigt auch die Fälle n = 8, 12, 16, 20... Der Grund dafür ist, daß jede Zahl, die als 8 te (oder 12 te, 16 te, 20 te...) Potenz geschrieben werden kann, auch als 4 te Potenz dargestellt werden kann. Zum Beispiel ist die Zahl 256 gleich 28 und gleich 44. Deshalb gilt jeder Beweis, der auf die 4 te Potenz zutrifft, auch für die 8te Potenz und für jede Potenz, die ein Mehrfaches von 4 ist. Entsprechend diesem Prinzip gilt Eulers Beweis für den Fall n = 3 auch für die Fälle n = 6, 9, 12, 15 ... Mit einem Mal geraten die Zahlen ins Wanken und Fermat scheint bezwingbar. Der Beweis für den Fall n = 3 ist besonders wichtig, weil die Zahl 3 eine Primzahl ist. Wie schon erläutert, zeichnet sich eine Primzahl dadurch aus, daß sie nicht das Vielfache einer ganzen Zahl ist, mit Ausnahme der 1 und ihrer selbst. Weitere Primzahlen sind 5, 7, 11, 13 ... Alle übrigen Zahlen sind Vielfache von Primzahlen und werden als zusammengesetzte Zahlen bezeichnet. Für die Zahlentheoretiker sind Primzahlen die wichtigsten Zahlen überhaupt, weil sie die Atome der Mathematik bilden. Primzahlen sind die Bausteine der Zahlen, weil alle anderen Zahlen erzeugt werden können, indem man verschiedene Primzahlen multipliziert. Dies scheint zu einem erstaunlichen Durchbruch zu führen. Um Fermats letzten Satz für alle Werte von n zu beweisen, muß nur gezeigt werden, daß er für alle Primzahlwerte von n gilt. Alle anderen Fälle sind nur Mehrfache der Primzahlfälle und wären dann implizit mitbewiesen. Auf den ersten Blick vereinfacht sich damit das Problem gewaltig, denn die Gleichungen, in denen n keine Primzahl ist, können beiseite gelassen werden. Die Zahl der verbleibenden Gleichungen ist nun drastisch reduziert. So müssen für die Werte von n bis zur Zahl 20 nur sechs Fälle bewiesen werden:

x5 x7 x 11 x 13 x 17 x 19

+ + + + + +

y5 y7 y 11 y 13 y 17 y 19

= = = = = =

z 5, z 7, z 11, z 13, z 17, z 19.

Wird Fermats letzter Satz für die Primwerte von n bewiesen, ist er zugleich für alle Werte von n bewiesen. Was die ganzen Zahlen angeht, so ist offensichtlich, daß es unendlich viele gibt. Faßt man jedoch allein die Primzahlen ins Auge, die nur einen kleinen Teil aller ganzen Zahlen ausmachen, ist dann das Problem nicht einfacher? Intuitiv scheint klar: Wenn man mit einer unendlichen Menge beginnt und dann den größten Teil von ihr abzieht, erhält man etwas Endliches. Leider ist die Intuition nicht der Richter über die Wahrheit in der Mathematik, sondern die Logik. Tatsächlich kann bewiesen werden, daß die Liste der Primzahlen nie aufhört. Obwohl man also den überwiegenden Teil der Gleichungen mit den Nicht-Primwerten für n beiseite lassen kann, ist die Menge der verbleibenden Gleichungen mit Primwerten für n immer noch unendlich groß. Der Nachweis, daß es unendlich viele Primzahlen gibt, reicht weit zurück bis auf Euklid und ist einer der klassischen Beweisgänge der Mathematik. Euklid geht von einer endlichen Liste bekannter Primzahlen aus und zeigt, daß es möglich ist, diese Liste unendlich oft zu verlängern. In Euklids endlicher Liste gibt es N Primzahlen, genannt (P, P2, P , . . . P N ) . Euklid kann nun eine neue Zahl QA erzeugen, wobei Q A = (P l × P 2 × P 3 ... × PN ) + 1. Diese neue Zahl QA ist entweder eine Primzahl oder keine Primzahl. Wenn sie prim ist, ist es uns gelungen, eine neue, größere Primzahl zu finden, und deshalb ist die ursprüngliche Liste der Primzahlen nicht vollständig. Wenn QA hingegen nicht prim ist, muß sie ohne Rest durch eine Primzahl teilbar sein. Diese Primzahl kann keine der uns bekannten sein, denn wenn wir QA durch eine

der Primzahlen auf unserer Liste teilen, bleibt unweigerlich ein Rest von 1. Es muß daher eine neue Primzahl geben, die wir als PN + 1 bezeichnen können. Wir sind nun zu dem Schluß gelangt, daß entweder QA eine neue Primzahl ist oder aber PN +1. Wie dem auch sei, wir haben unserer ursprünglichen Liste eine neue Primzahl hinzugefügt. Diesen Vorgang können wir nun wiederholen, diesmal mit unserer neuen Primzahl (PN +1 oder QA) auf der Liste, und eine neue Zahl QB erzeugen. Sie wird entweder eine neue Primzahl sein, oder es wird eine weitere Primzahl PN +2 existieren müssen, die noch nicht auf unserer Liste bekannter Primzahlen verzeichnet ist. Die Folgerung aus diesem Argument lautet: Wie lang auch immer unsere Liste von Primzahlen sein mag, es ist immer möglich, eine neue zu finden. Deshalb hört die Liste der Primzahlen nie auf, sie ist unendlich. Doch wie kann etwas, das unbestreitbar kleiner ist als eine unendlich große Menge, ebenfalls unendlich sein? Der deutsche Mathematiker David Hilbert hat einmal gesagt: »Das Unendliche hat wie keine andere Frage von jeher so tief das Gemüt des Menschen bewegt; das Unendliche hat wie kaum eine andere Idee auf den Verstand so anregend und fruchtbar gewirkt; das Unendliche ist aber auch wie kein anderer Begriff so der Aufklärung bedürftig.« Um das Paradox des Unendlichen aufzulösen, muß bestimmt werden, was mit dem Unendlichen gemeint ist. Georg Cantor, der mit Hilbert zusammenarbeitete, definierte das Unendliche als die Größe der niemals endenden Liste der natürlichen Zahlen (1, 2, 3, 4...). Demnach ist alles, was vergleichbar groß ist, ebenfalls unendlich. Dieser Definition zufolge ist die Anzahl der geraden natürlichen Zahlen, die uns zunächst kleiner vorkommen mag, ebenfalls unendlich. Es ist leicht zu zeigen, daß die Menge der natürlichen Zahlen und die Menge der geraden Zahlen vergleichbar sind, weil wir jede natürliche Zahl mit einer geraden Zahl paaren können: 1

2

3

4

5

6

7 ...













⇓ ...

2

4

6

8

10

12

14 ...

Wenn jedes Element aus der Liste der natürlichen Zahlen mit einem Element aus der Liste der geraden Zahlen gepaart werden kann, dann müssen die beiden Listen gleich groß sein. Diese Vergleichsmethode führt zu einigen überraschenden Schlußfolgerungen, unter anderem zu der Feststellung, daß es eine unendliche Anzahl von Primzahlen gibt. Obwohl Cantor der erste war, der sich auf formalem Wege an das Unendliche heranwagte, handelte er sich wegen seiner radikalen Definition zunächst heftige Kritik seitens der Mathematikerkollegen ein. Gegen Ende seiner Laufbahn wurden die Angriffe immer persönlicher, so daß er am Ende psychisch erkrankte und unter schweren Depressionen litt. Schließlich jedoch, nach seinem Tode, fanden seine Ideen weithin Anerkennung als einzige in sich stimmige, genaue und mächtige Definition des Unendlichen. Voller Hochachtung äußerte sich Hubert: »Aus dem Paradies, das Cantor uns geschaffen, soll uns niemand wieder vertreiben können.« Auf Hubert geht auch das als Hilberts Hotel bezeichnete Gedankenexperiment zurück, das die merkwürdigen Eigenschaften des Unendlichen gut veranschaulicht. Dieses Hotel hat den Vorzug, unendlich viele Zimmer zu haben. Eines Tages kommt ein neuer Gast an und muß zu seiner Enttäuschung erfahren, daß trotz der unendlichen Größe des Hotels alle Zimmer belegt sind. Hilbert, der Empfangschef, denkt eine Weile nach und versichert dem Neuankömmling schließlich, er werde ein freies Zimmer finden. Er bittet alle schon anwesenden Gäste, in das nächste Zimmer zu ziehen, so daß der Gast in Zimmer 1 in Zimmer 2 umzieht, der Gast in Zimmer 2 in Zimmer 3 und so weiter. Alle, die schon im Hotel waren, haben weiterhin ein Zimmer, und der neue Gast kann ins leere Zimmer 1 einziehen. Am Abend darauf muß Hubert mit einem viel größeren Problem fertig werden. Das Hotel ist immer noch voll, als ein unendlich großer Bus mit unendlich vielen neuen Gästen vorfährt. Hilbert bewahrt ruhig Blut und reibt sich die Hände bei dein Gedanken an unendlich viele Hotelrechnungen. Er bittet alle schon einquartierten Gäste, in das Zimmer umzuziehen, dessen Nummer doppelt so groß ist wie die ihres gegenwärtigen Zimmers. Der Gast

in Zimmer 1 zieht also in Zimmer 2, der Gast in Zimmer 2 in Zimmer 4, und so weiter. Alle Hotelgäste haben auch weiterhin Zimmer, und doch sind unendlich viele Zimmer – all jene mit ungeraden Nummern – für die neuen Gäste frei geworden. Huberts Hotel legt die Vorstellung nahe, alle Unendlichkeiten seien gleich groß, weil verschiedene Unendlichkeiten offenbar im selben Hotel Platz finden können – die Unendlichkeit der geraden Zahlen kann der Unendlichkeit der natürlichen Zahlen gegenübergestellt und mit ihr verglichen werden. Allerdings sind bestimmte Unendlichkeiten tatsächlich größer als andere. So ist der Versuch, die rationalen und die irrationalen Zahlen einander paarweise zuzuordnen, zum Scheitern verurteilt, und tatsächlich kann gezeigt werden, daß die unendliche Menge der irrationalen Zahlen größer ist als die unendliche Menge der rationalen Zahlen. Die Mathematiker mußten ein ganz eigenes Begriffssystem entwickeln, um mit den verschieden großen Unendlichkeiten zurechtzukommen, und die Zauberei mit diesen Begriffen ist in der Mathematik gegenwärtig eine brandheiße Sache. Die Hoffnungen auf einen raschen Beweis von Fermats letztem Satz gingen zunichte, weil es eine unendliche Menge von Primzahlen gibt. Doch gerade dieser Umstand ist in anderen Bereichen der Mathematik, in der Spionage und in der Evolution der Insekten durchaus vorteilhaft. Bevor wir zur Suche nach einem Beweis für Fermats Vermutung zurückkehren, lohnt es sich, einen kurzen Blick auf Gebrauch und Mißbrauch von Primzahlen zu werfen. Die Theorie der Primzahlen ist eines der wenigen Gebiete der reinen Mathematik, das in der wirklichen Welt unmittelbar von Nutzen ist, nämlich in der Kryptologie. Hier geht es um die Verschlüsselung geheimer Mitteilungen, und zwar auf eine Weise, daß allein der Empfänger sie entschlüsseln kann und kein Dritter, der sie möglicherweise abfängt. Zur Verschlüsselung muß ein geheimer Schlüssel verwendet werden, den der Empfänger bisher nur gleichsam andersherum zu drehen hatte, um die Botschaft zu entschlüsseln. Bei diesem Verfahren ist der Schlüssel das schwächste Glied in der Sicherheitskette. Zunächst einmal müssen sich Sender und Empfänger über die einzelnen Merkmale des Schlüssels einigen,

und der Austausch dieser Informationen birgt viele Risiken. Sollte der Gegner in der Lage sein, die Informationen zum Schlüssel beim Austausch abzuhören, kann er alle späteren Mitteilungen entschlüsseln. Zudem muß der Schlüssel aus Sicherheitsgründen regelmäßig verändert werden, jedesmal unter dem Risiko, daß der neue Schlüssel abgefangen werden kann. Das Problem mit dem Schlüssel besteht im Kern darin, daß man ihn in die eine Richtung dreht, um eine Mitteilung, etwa einen Funkspruch, zu »zerhacken«, und in die andere Richtung, um die Nachricht wieder zusammenzusetzen – wobei dies fast so leicht ist wie das »Zerhacken«. Der alltäglichen Erfahrung nach ist jedoch das Zusammensetzen in vielen Fällen schwieriger als das Zerhakken – wie es auch relativ einfach ist, ein Ei zu zerschlagen, jedoch enorm schwierig, es wieder zusammenzusetzen. In den siebziger Jahren kamen Whitfield Diffie und Martin Hellman auf die Idee, sich einmal mathematische Verfahren anzuschauen, die in der einen Richtung ganz leicht, in der Gegenrichtung jedoch unglaublich schwer zu bewerkstelligen sind. Ein solches Verfahren würde einen perfekten Schlüssel liefern. So könnte ich zum Beispiel meinen eigenen zweiteiligen Schlüssel verwenden, dessen »verschlüsselnde« Hälfte ich in einem allgemein zugänglichen Verzeichnis veröffentlichen könnte. Dann könnte jeder verschlüsselte Mitteilungen an mich schicken, doch nur ich besäße den »entschlüsselnden« Teil des Schlüssels. Zwar kennt dann jeder den Verschlüsselungsteil, doch dieser hat keine Ähnlichkeit mit dem Entschlüsselungsteil. Ronald Rivest, Adi Shamir und Leonhard Adleman, eine Arbeitsgruppe von Mathematikern und Computerwissenschaftlern am Massachusetts Institute of Technology, erkannten im Jahr 1977, daß die Primzahlen eine ideale Grundlage für diesen Prozeß der leichten Verschlüsselung/schweren Entschlüsselung bieten. Um meinen persönlichen Schlüssel anzufertigen, würde ich zwei riesige Primzahlen auswählen, jede mit bis zu 80 Stellen, und sie dann multiplizieren, so daß ich eine noch größere zusammengesetzte Zahl erhalte. Um Mitteilungen zu verschlüsseln, braucht man nur die große zusammengesetzte Zahl, zur Entschlüsselung

hingegen muß man die beiden ursprünglichen, miteinander multiplizierten Primzahlen kennen, die sogenannten Primfaktoren. Nun kann ich die große zusammengesetzte Zahl veröffentlichen, den Verschlüsselungsteil des Schlüssels, und die beiden Primfaktoren, den Entschlüsselungsteil, für mich behalten. Entscheidend ist, daß dann zwar alle Welt die zusammengesetzte Zahl kennt, es jedoch immens schwierig ist, die beiden Primfaktoren herauszufinden. Nehmen wir ein einfaches Beispiel. Ich könnte die zusammengesetzte Zahl 589 veröffentlichen und damit allen ermöglichen, mir verschlüsselte Nachrichten zukommen zu lassen. Die beiden Primfaktoren von 589 würde ich geheimhalten, so daß nur ich diese Nachrichten entschlüsseln könnte. Sollten andere die beiden Primfaktoren herausfinden, könnten auch sie meine Nachrichten entschlüsseln, doch selbst bei dieser kleinen Zahl ist nicht offensichtlich, welches die Primfaktoren sind. In diesem Falle brauchte man nur ein paar Minuten mit einem Schreibtisch-Computer, um auszurechnen, daß die Primfaktoren 31 und 19 (31 × 19 = 589) lauten. Mein Schlüssel bliebe daher nicht lange geheim. Allerdings hätte die Primzahl, die ich wirklich veröffentlichen würde, über hundert Stellen, und damit wäre die Aufgabe, ihre Primfaktoren herauszufinden, praktisch nicht mehr zu lösen. Selbst wenn die besten Computer der Welt eingesetzt würden, um diese riesige zusammengesetzte Zahl (den verschlüsselnden Teil des Schlüssels) in ihre beiden Primfaktoren zu zerlegen (den entschlüsselnden Teil), brauchte man mehrere Jahre für die Lösung. Um gegnerische Spione auflaufen zu lassen, müßte ich daher jährlich nur einmal den Schlüssel wechseln. Einmal im Jahr gebe ich meine neue, riesige zusammengesetzte Zahl bekannt, und alle, die meine Nachrichten entschlüsseln wollen, müßten sich von neuem an den Versuch machen, die beiden Primfaktoren zu berechnen. Die Primzahlen spielen nicht nur eine Rolle in der Spionage, sondern tauchen auch in der Natur auf. Die periodischen Zikaden, vor allem die Magicicada septendecim, besitzen die längste Lebensspanne unter den Insekten. Ihr einzigartiger Lebenszyklus beginnt unter der Erde, wo die Nymphen geduldig Nährlösung aus den

Wurzeln von Bäumen saugen. Dann, nach siebzehn Jahren des Wartens, wühlen sich die erwachsenen Zikaden aus der Erde heraus und überschwemmen eine Zeitlang in riesigen Schwärmen das Land. Während der folgenden Wochen paaren sie sich, legen ihre Eier und sterben. Die Biologen haben sich lange mit dem Rätsel herumgeschlagen, warum die Zikaden einen so langen Lebenszyklus besitzen. Und hat es eine Bedeutung, daß ihr Leben eine Primzahl von Jahren dauert? Eine andere Spezies, Magicicada tredecim, schwärmt alle dreizehn Jahre aus, was darauf hindeutet, daß solche Lebenszyklen einen evolutionären Vorteil bieten. Einer Theorie zufolge hat die Zikade einen Parasiten, der eben falls ein langes Leben hat und den die Zikade abzuschütteln ver sucht. Hat der Parasit eine Lebensspanne von zum Beispiel zwei Jahren, dann »will« die Zikade einen Lebenszyklus vermeiden, der durch 2 teilbar ist, denn andernfalls würden der Parasit und die Zi kade regelmäßig aufeinandertreffen. Und wenn der Parasit einen Lebenszyklus von drei Jahren hat, will die Zikade eine Lebens spanne vermeiden, die durch 3 teilbar ist, denn sonst treffen Parasit und Zikade wiederum regelmäßig aufeinander. Schließlich ist es die beste Strategie der Zikade, eine lange Lebensspanne zu erreichen, die eine Primzahl von Jahren dauert. Denn 17 ist nicht teilbar, und die Magicicada. septendecim wird selten auf ihren Parasiten treffen. Wenn der Parasit zwei Jahre lebt, werden sie sich nur alle 34 Jahre treffen, und wenn er länger lebt, zum Beispiel 16 Jahre, nur alle 272 (16 × 17) Jahre. Um zurückzuschlagen, stehen dem Parasiten nur zwei Lebens zyklen zur Verfügung, die die Häufigkeit des Zusammentreffens erhöhen würden - der Einjahreszyklus und der 17-Jahre-Zyklus der Zikade. Der Parasit wird jedoch kaum den Zeitraum von 17 Jahren überleben, in dem er jährlich auftauchen muß, denn in den ersten 16 Jahren wird es keine Zikaden geben, in die er sich einni sten kann. Wenn die Generationen von Parasiten hingegen einen Lebenszyklus von 17 Jahren erreichen wollen, müßte ihre Evolu tion sie erst einmal bis zum Lebenszyklus von 16 Jahren bringen. Das hieße, Parasit und Zikade würden auf einer bestimmten Stufe

der Evolution 272 Jahre lang nicht zusammentreffen! In beiden Fällen wird die Zikade von ihrem langen Primzahlzyklus geschützt. Vielleicht erklärt dies, warum der vermutete Parasit noch nicht gefunden wurde! Bei dem Verfolgungsrennen mit der Zikade hat der Parasit seine Lebensspanne wahrscheinlich bis auf die Schwelle von 16 Jahren ausgedehnt. Dann ist er 272 Jahre lang nicht mehr mit der Zikade zusammengetroffen, was ihm schließlich den Garaus machte. Das Ergebnis ist eine Zikade mit einem Lebenszyklus von 17 Jahren, den sie nicht mehr braucht, weil ihr Parasit nicht mehr existiert.

Monsieur Le Blanc Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts schon war Fermats letzter Satz das berüchtigtste Problem der Zahlentheorie. Seit Eulers Durchbruch hatte es keine weiteren Fortschritte gegeben, doch die dramatische Erklärung einer jungen Französin sollte die Suche nach dem verlorenen Beweis Fermats von neuem anheizen. Sophie Germain lebte in einer von Chauvinismus und Vorurteilen gegen Frauen geprägten Zeit, und um ihre Forschungen durchführen zu können, war sie gezwungen, eine falsche Identität anzunehmen, unter fürchterlichen Bedingungen zu studieren und in geistiger Isolation zu arbeiten. Jahrhundertelang wurden die Frauen davon abgehalten, Mathematik zu studieren, doch trotz der Diskriminierung gab es einige Mathematikerinnen, die gegen das Establishment kämpften und ihre Namen unauslöschlich in die Annalen dieser Wissenschaft einschrieben. Die erste Frau, die der Disziplin nachweislich ihren Stempel aufgeprägt hat, war Theano im sechsten Jahrhundert vor Christus, die zunächst Schülerin von Pythagoras war, in die ersten Ränge der Schule aufstieg und den Lehrer schließlich heiratete. Pythagoras ist als der »feministische Philosoph« bekannt, weil er Schülerinnen nach Kräften förderte: Theano war nur eine von 28 Schwestern im pythagoreischen Bund.

In späteren Jahrhunderten sollten Männer wie Sokrates und Platon ebenfalls Frauen zum Eintritt in ihre Schulen ermuntern, doch erst im vierten Jahrhundert nach Christus gründete eine Mathematikerin ihre eigene, einflußreiche Schule. Hypatia, die Tochter eines Mathematikprofessors an der Universität von Alexandria, war berühmt dafür, die beliebtesten Vorlesungen in der bekannten Welt zu halten, und galt als die größte Problemlöserin. Mathematiker, die sich monatelang an einem bestimmten Problem festgebissen hatten, schrieben ihr mit der Bitte um eine Lösung, und Hypatia enttäuschte ihre Bewunderer nur selten. Sie war ganz besessen von der Mathematik und dem Verfahren des logischen Beweises. Auf die Frage, warum sie nie geheiratet habe, antwortete sie, sie sei mit der Wahrheit vermählt. Am Ende war ihre Hingabe an die Sache des Rationalismus der Grund für ihren Sturz, als Cyril, der Patriarch von Alexandria, damit begann, Philosophen, Wissenschaftler und Mathematiker zu unterdrücken, die er als Häretiker bezeichnete. Der Historiker Edward Gibbon schildert anschaulich, was geschah, als Cyril gegen Hypatia intrigiert und die Massen gegen sie aufgebracht hatte: An einem todüberschatteten Tage während der heiligen Fastenzeit zerrte man Hypatia aus ihrem Wagen, riß ihr die Kleider vom Leib und schleifte sie in die Kirche, wo sie auf barbarische Weise von Peter dem Leser und einer Horde wilder und gnadenloser Fanatiker niedergemetzelt wurde; man kratzte ihr mit scharfen Austernschalen das Fleisch von den Knochen und übergab ihre zitternden Gliedmaßen den Flammen. Bald nach dem Tode Hypatias versank die Mathematik in eine Phase der Stagnation. Erst in der Renaissance erwarb sich erneut eine Frau einen Namen als Mathematikerin. Maria Agnesi wurde 1718 in Mailand geboren, wie Hypatia als Tochter eines Mathematikers. Sie fand in ganz Europa Anerkennung als eine hervorragende Vertreterin ihres Faches und wurde besonders berühmt für ihre Abhandlungen über Kurventangenten. In Italien wurden Kurven versiera genannt, vom Lateinischen vertere, »drehen«, doch war das

Wort zugleich ein Kürzel für avversiera, »Frau des Teufels«. Die Bezeichnung für eine von Agnesi untersuchte Kurve (versiera Agnesi) wurde mit »witch (Hexe) of Agnesi« falsch ins Englische übersetzt, und in der Folge nannte man die Mathematikerin selbst bei diesem Namen. Obwohl die Mathematiker in ganz Europa Maria Agnesis fachliches Können bestätigten, weigerten sich viele akademische Institutionen, insbesondere die französische Akademie, ihr eine Forschungsstelle zu gewähren. Die institutionalisierte Diskriminierung von Frauen setzte sich noch bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein fort. So verweigerte man Emmy Noether, die Einstein als bedeutendstes mathematisches Genie seit Einführung der höheren Bildung für Frauen bezeichnete, eine Dozentenstelle an der Universität Göttingen. Die Mehrheit der Fakultätsvertreter meinte: »Wie kann man zulassen, daß eine Frau Privatdozent wird? Einmal Privatdozent, kann sie auch Professor und Mitglied des Senats werden... Was werden unsere Soldaten denken, wenn sie an die Universität zurückkehren und feststellen, daß sie zu Füßen einer Frau studieren sollen?« Ihr Freund und Mentor Hubert antwortete: »Meine Herren, ich sehe nicht ein, warum das Geschlecht der Kandidatin ein Argument gegen ihre Zulassung als Privatdozent sein sollte. Der Senat ist schließlich keine Badeanstalt!« Als ihr Kollege Edmund Landau später gefragt wurde, ob sie wirklich eine große Mathematikerin sei, antwortete er; er könne bestätigen, daß sie ein großer Mathematiker sei, doch daß sie eine Frau sei, könne er nicht beschwören. Neben den persönlichen Anfeindungen teilte Noether auch vieles andere mit den Mathematikerinnen früherer Jahrhunderte. So war auch sie die Tochter eines Mathematikprofessors. Viele Mathematiker beiderlei Geschlechts stammen aus Mathematikerfamilien, doch bei den Frauen liegt der Prozentsatz besonders hoch. Der Grund dafür ist wohl, daß die meisten Frauen mit entsprechendem Talent nie mit dem Thema in Berührung kamen oder ermuntert wurden, sich mit Mathematik zu beschäftigen, während die Gelehrtentöchter kaum umhin konnten, in die Welt der Zahlen einzudringen. Außerdem heirateten Noether, Hypatia, Agnesi und die

meisten anderen Mathematikerinnen nicht, vor allem weil eine solche Laufbahn für Frauen gesellschaftlich nicht akzeptabel war und es wenige Männer gab, die bereit waren, Frauen mit einer so umstrittenen Tätigkeit zu ehelichen. Die große russische Mathematikerin Sonja Kowalewski macht hier eine Ausnahme. Sie arrangierte eine Vernunftehe mit ihrem Mann Wladimir, der einer platonischen Beziehung nicht abgeneigt war. Die Heirat erlaubte es beiden Partnern, ihren Familien zu entkommen und sich ihren Forschungen zu widmen; als respektable verheiratete Frau konnte Sonja viel leichter ganz Europa bereisen. Von allen europäischen Ländern zeigte sich Frankreich den gebildeten Frauen gegenüber am chauvinistischsten. Die Mathematik sei für Frauen nicht geeignet und jenseits ihrer geistigen Fähigkeiten, hieß es. Obwohl die Pariser Salons im achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts die mathematische Welt weitgehend beherrschten, gelang es nur einer Frau, sich den Zwängen der französischen Gesellschaft zu entziehen und sich als große Zahlentheoretikerin zu etablieren. Sophie Germain revolutionierte die Forschung zu Fermats letztem Satz und leistete einen größeren Beitrag als irgendeiner ihrer männlichen Vorgänger. Sophie Germain wurde am 1.April 1776 als Tochter des Kaufmanns Ambroise-François Germain geboren. Abgesehen von der Arbeit war ihr Leben von den Wirren der Französischen Revolution beherrscht – im selben Jahr, als sie ihre Liebe zu den Zahlen entdeckte, wurde die Bastille gestürmt, und die Schreckensherrschaft überschattete ihr Studium der Analysis. Sophies Vater war zwar finanziell erfolgreich, doch die Familie gehörte nicht der Aristokratie an. Die jungen Damen vom gesellschaftlichen Rang Germains wurden zwar nicht gerade ermuntert, Mathematik zu studieren, doch erwartete man von ihnen genug einschlägiges Wissen, um in der Lage zu sein, das Thema zu erörtern, sollte es in der gepflegten Konversation einmal auftauchen. Eigens dafür gab es eine Reihe von Lehrbüchern, die jungen Frauen die neuesten Entwicklungen in der Mathematik und den Naturwissenschaften nahebringen sollten. Francesco Algarotti war der Autor von Newtons Welt-Wissenschaft für das Frauenzimmer. Da Algarotti glaubte, Frauen seien

Sophie Germain

nur an romantischen Geschichten interessiert, versuchte er, Newtons Entdeckungen anhand eines Gesprächs zwischen einer Marquise und ihrem mathematisch gebildeten Konversationspartner zu erläutern. Dieser erklärt etwa, daß die Anziehungskraft von Massen mit dem Quadrat ihrer Entfernung abnimmt, woraufhin die Marquise ihre eigene Deutung dieses grundlegenden Naturgesetzes offeriert: »Ich muß unweigerlich denken... daß dieses Verhältnis, das Quadrat der Entfernungen... auch in der Liebe zur Geltung kommt. So ist die Liebe nach acht Tagen der Abwesenheit vierundsechzigmal weniger intensiv als am ersten Tage.«

Kein Wunder, daß es nicht diese galante Sorte von Büchern war, die Sophie Germains Interesse an der Mathematik weckten. Erst als sie eines Tages in der Bibliothek ihres Vaters stöberte und dabei zufällig auf Jean-Étienne Montuclas Buch Histoire de la Mathématique stieß, sollte sich ihr Leben verändern. Besonders Montuclas Abhandlung über das Leben des Archimedes zog ihre Phantasie in Bann. Die Darstellung seiner Entdeckungen war zweifellos interessant, doch was Sophies Einbildungskraft besonders erregte, war das Geschehen um seinen Tod. Archimedes hatte sein Leben in Syrakus verbracht und es dort in vergleichsweise ruhigen Zeiten dem Studium der Mathematik gewidmet, doch in seinen späten Siebzigern zerstörte das eindringende römische Heer diesen Frieden. Der Legende zufolge war Archimedes während der Invasion so tief in das Studium einer geometrischen Figur im Sand versunken, daß er die Fragen eines römischen Soldaten nicht beantwortete. Der Soldat tötete ihn mit dem Speer. Sophie Germain zog daraus den Schluß, wenn jemand von einem geometrischen Problem derart vereinnahmt sein konnte, daß er schließlich im Tod endete, müsse die Mathematik das fesselndste Wissensgebiet der Welt sein. Sie machte sich sofort daran, sich selbst die Grundlagen der Zahlentheorie und der Analysis beizubringen und studierte bald bis spät in die Nacht hinein die Werke von Euler und Newton. Dieses plötzliche Interesse an einem so wenig femininen Thema beunruhigte ihre Eltern. Ein Freund der Familie, Graf Guglielmo Libri-Carucci dalla Sommaja, berichtete, daß Sophies Vater Kerzen, Kleidung und den Ofen aus dem Zimmer entfernte, um sie vom Mathematikstudium abzuhalten. Nur ein paar Jahre später schloß in Großbritannien der Vater der jungen Mathematikerin Mary Somerville ebenfalls die Kerzen weg, mit der Begründung, er müsse dieser Entwicklung Einhalt gebieten, »sonst haben wir Mary eines Tages in der Zwangsjacke«. Sophie Germain wehrte sich, legte ein geheimes Kerzenversteck an und wickelte sich in Bettücher ein. Libri-Carucci zufolge waren die Winternächte so kalt, daß die Tinte im Faß gefror, doch Sophie habe unbeirrt weitergemacht. Manche beschrieben sie als scheu und ungeschickt, doch zweifellos war sie auch ungeheuer ent-

schlössen, so daß die Eltern schließlich nachgaben und Sophie ihren Segen gaben. Germain heiratete nie, und während ihrer ganzen Laufbahn finanzierte der Vater ihre Forschungen. Auch arbeitete sie weiterhin lange Jahre allein, weil es keinen Mathematiker in der Familie gab, der sie in die neuesten Ideen einführen konnte, und ihre Tutoren sie nicht ernst nahmen. Dann wurde im Jahr 1794 in Paris die École Polytechnique eröffnet. Sie sollte eine Akademie der besten Köpfe sein und Mathematiker und Naturwissenschaftler zum Dienst an der Nation ausbilden. Für Germain wäre dies der ideale Ort gewesen, um ihre mathematischen Fähigkeiten zu entwickeln – doch die Institution war Männern vorbehalten. Wegen ihres scheuen Wesens konnte sie sich nicht offen mit der Leitung der Akademie anlegen, statt dessen entschloß sie sich, unter falschem Namen an der École zu studieren und nahm die Identität eines ehemaligen Studenten der Akademie, Monsieur Antoine-August Le Blanc, an. Die Verwaltung der Akademie wußte nicht, daß der wirkliche Monsieur Le Blanc Paris schon verlassen hatte, und druckte weiter Vorlesungsnotizen und Aufgaben für ihn. Germain gelang es, die für Le Blanc bestimmten Unterlagen zu bekommen und reichte jede Woche unter ihrem Pseudonym die Lösungen der Aufgaben ein. Alles lief nach Plan, bis nach ein paar Monaten dem Fachbeauftragten für den Kurs, Joseph-Louis Lagrange, die brillanten Lösungen des Monsieur Le Blanc auffielen. Dessen Lösungen waren nicht nur erstaunlich genial, sondern ließen auch auf die wundersame Verwandlung eines Studenten schließen, der zuvor wegen seiner miserablen mathematischen Fähigkeiten in Verruf gestanden hatte. Lagrange, einer der besten Mathematiker des neunzehnten Jahrhunderts, bat den verwandelten Studenten um ein Treffen. Germain war gezwungen, ihre wahre Identität preiszugeben. Lagrange war verblüfft, fand jedoch Gefallen an der jungen Frau und wurde ihr Mentor und Freund. Endlich hatte Sophie Germain einen Lehrer, der sie inspirierte und mit dem sie offen über ihre Fähigkeiten und Ambitionen sprechen konnte. Germain gewann zusehends an Selbstvertrauen, ließ die Problemlösungen hinter sich und verlegte ihre Studien auf unerforsch-

te Gebiete der Mathematik. Vor allem fand sie Interesse an der Zahlentheorie und hörte daher zwangsläufig auch von Fermats letztem Satz. Mehrere Jahre lang arbeitete sie an dem Problem, bis sie schließlich zu der Auffassung gelangte, einen bedeutenden Durchbruch erzielt zu haben. Nun brauchte sie einen Kollegen auf dem Feld der Zahlentheorie, mit dem sie ihre Ideen erörtern konnte, und sie entschloß sich, gleich ganz nach oben zu gehen und den größten Zahlentheoretiker der Welt, den deutschen Mathematiker Carl Friedrich Gauß, um Rat zu fragen. Gauß gilt als einer der brillantesten mathematischen Köpfe aller Zeiten. Während E. T. Bell Fermat als »Fürst der Amateure« bezeichnete, war Gauß der »Fürst der Mathematiker«. Germain hatte durch die Lektüre seines Meisterwerks Disquisitiones arithmeticae mit seiner Arbeit Bekanntschaft geschlossen, der wichtigsten und umfassendsten Abhandlung seit Euklids Elementen. Gauß’ Werk beeinflußte alle Gebiete der Mathematik, doch seltsamerweise veröffentlichte er nie etwas über Fermats letzten Satz. In einem Brief äußerte er sich sogar verächtlich über das Problem. Ein Freund, der deutsche Astronom Wilhelm Olbers, hatte ihn aufgefordert, an einem Wettbewerb teilzunehmen, den die Pariser Akademie für die Lösung des Fermatproblems ausgeschrieben hatte: »Die... Preisfrage ... scheint mir recht für Sie gemacht, lieber Gauß.« Zwei Wochen später antwortete dieser: »Für Ihre Nachrichten, den Pariser Preis betreffend, bin ich Ihnen sehr verbunden. Ich gestehe zwar, daß das Fermatsche Theorem als isolierter Satz für mich wenig Interesse hat, denn es lassen sich eine Menge solcher Sätze leicht aufstellen, die man weder beweisen, noch widerlegen kann.« Das war keineswegs anmaßend von Gauß, doch hatte Fermat klar gesagt, es gebe einen Beweis, und immerhin hatten die späteren, erfolglosen Beweisversuche zu neuartigen mathematischen Verfahren geführt, etwa zum Beweis durch unendlichen Abstieg und zur Verwendung imaginärer Zahlen. Vielleicht hatte Gauß früher schon einmal versucht, das Problem zu lösen, und war daran gescheitert, so daß der abschlägige Bescheid an Olbers nur zum Ausdruck brachte, daß ihm die intellektuellen Trauben hier zu hoch hingen. Als er Sophie Germains Brief erhielt, war er jedenfalls so beeindruckt von ihrer

bahnbrechenden Leistung, daß er seine zwiespältigen Gefühle gegenüber Fermats letztem Satz zeitweilig hintanstellte. Ein dreiviertel Jahrhundert zuvor hatte Euler seinen Beweis für n = 3 veröffentlicht, und seit damals hatten Mathematiker, auch Germain, vergeblich versucht, andere Einzelfälle zu beweisen. Dann, im Jahr 1815, wandte Germain eine neue Strategie an und begann an einem sogenannten allgemeinen Lösungsansatz zu arbeiten. Das heißt, es war nicht mehr ihr unmittelbares Ziel, einen bestimmten Fall zu lösen, sondern etwas über viele Fälle auf einmal zu sagen. In ihrem Brief an Gauß skizzierte sie eine Rechnung, die sich um eine bestimmte Gattung p von Primzahlen drehte, für die gilt, daß p größer als z und 2p + 1 ebenfalls eine Primzahl ist. Germains Liste von Primzahlen enthält die 5, weil 11 ( 2 × 5 + 1) ebenfalls prim ist; die 13 gehört nicht dazu, denn 27 (2 × 13 + 1) ist nicht prim. Germain konnte auf elegante Weise zeigen, daß es bei solchen Primzahlwerten von n vermutlich keine Lösungen für die Gleichung xn + yn = zn gibt. Mit »vermutlich« meinte sie, es sei unwahrscheinlich, daß Lösungen existierten, denn wenn es solche gäbe, müßten entweder x, y oder z Vielfache von n sein, was den Möglichkeitsbereich von Lösungen sehr stark einschränkte. Kollegen überprüften ihre Liste von Primzahlen eine nach der ändern und versuchten zu beweisen, daß x, y oder z keine Vielfachen von n sein konnten, und damit auch zeigten, daß es für diesen bestimmten Wert von n keine Lösungen gab. Im Jahr 1825 konnte sie mit ihrer Methode den ersten vollständigen Erfolg verbuchen, dank Johann Peter Gustav Lejeune-Dirichlet und Adrien-Marie Legendre, zwei Mathematikern, zwischen denen eine ganze Generation lag. Legendre war schon in seinen Siebzigern und hatte noch die Wirren der Französischen Revolution erlebt. Weil er sich weigerte, den Regierungskandidaten für das Institut National zu unterstützen, stellte man seine Pensionszahlungen ein, und als er seinen Beitrag zu Fermats letztem Satz leistete, war er völlig verarmt. Dirichlet hingegen war ein brillanter junger Zahlentheoretiker, der gerade zwanzig geworden war. Beide konnten unabhängig voneinander beweisen, daß der Fall

n = 5 keine Lösungen hat, doch gründeten sie ihre Beweise und ihren Erfolg auf Sophie Germains Vorarbeit. Vierzehn Jahre später gelang den Franzosen ein weiterer Durchbruch. Gabriel Lamé ergänzte Germains Verfahren auf geniale Weise und führte den Beweis für die Primzahl n = 7. Germain hatte den Zahlentheoretikern gezeigt, wie eine ganze Gruppe von Primzahlfällen zu erledigen war, und nun war es an ihren Kollegen, mit vereinten Kräften Fermats letzten Satz Fall für Fall zu beweisen. Sophie Germains Arbeit an Fermats letztem Satz sollte ihr größter Beitrag zur Mathematik werden, doch zunächst fand sie für ihre bahnbrechende Leistung keine Anerkennung. Als Germain an Gauß schrieb, war sie noch in den Zwanzigern, und obwohl sie sich in Paris schon einen Ruf erworben hatte, befürchtete sie, daß der große Mathematiker sie wegen ihres Geschlechts nicht ernst nehmen würde. Um sich zu schützen, griff Germain erneut zu ihrem Pseudonym Monsieur Le Blanc. Furcht und Respekt gegenüber Gauß zeigen sich in einem ihrer Briefe an ihn: »Leider entspricht die Tiefe meines Intellekts nicht der Unersättlichkeit meines Appetits, und es kommt mir gewissermaßen wie eine Unverschämtheit vor, einen genialen Mann zu behelligen, da ich doch wegen nichts anderem seine Aufmerksamkeit beanspruchen darf als wegen einer Bewunderung, die notwendig von allen seinen Lesern geteilt wird.« Gauß, der die wahre Identität der Absenderin nicht kannte, versuchte Germain die Befangenheit zu nehmen und antwortete: »Es freut mich, daß die Arithmetik in Ihnen einen so fähigen Freund gefunden hat.« Germains Beitrag wäre vielleicht für immer fälschlicherweise dem mysteriösen Monsieur Le Blanc zugute geschrieben worden, wenn nicht Kaiser Napoleon auf den Plan getreten wäre. Im Jahr 1806 stürmte die französische Armee durch eine preußische Stadt nach der ändern und eroberte schließlich das ganze Land. Germain befürchtete, das Schicksal des Archimedes könnte nun auch ihren anderen großen Helden, Gauß, ereilen, und schickte ihrem Freund General Joseph-Marie Pernety, dem Befehlshaber der Truppen, eine Mitteilung mit der Bitte, die Sicherheit von Gauß zu gewährlei-

sten. Der General kümmerte sich daraufhin ganz besonders um den deutschen Mathematiker, dem er erklärte, sein Leben verdanke er Mademoiselle Germain. Gauß war dankbar, aber überrascht, denn von Sophie Germain hatte er nie gehört. Das Versteckspiel war zu Ende. In Germains nächstem Brief an Gauß enthüllte sie widerstrebend ihre wahre Identität. Gauß, keineswegs wütend ob der Täuschung, schrieb ihr mit Vergnügen zurück: Doch wie meine Bewunderung und Verblüffung beschreiben, als ich sah, daß der geschätzte Korrespondent Monsieur Le Blanc sich in diese erlauchte Persönlichkeit verwandelte, die ein treffliches Exempel darstellt für das, was mir zu glauben so schwer fällt. Der Geschmack an den abstrakten Wissenschaften im allgemeinen und im besonderen an den Geheimnissen der Zahlen ist äußerst selten, darüber braucht man sich nicht zu wundern: Die reizenden Zauber dieser erhabenen Wissenschaft enthüllen sich in ihrer ganzen Schönheit nur denen, die den Mut haben, sie gründlich zu untersuchen. Wenn aber eine Person weiblichen Geschlechts, die infolge unserer Sitten und unserer Vorurteile auf unendlich viel mehr Hindernisse stoßen muß als die Männer, um sich mit ihrer heiklen Erforschung vertraut zu machen, dennoch versteht, diese Hürden zu überwinden und in die verborgensten Geheimnisse einzudringen, dann muß sie ohne Zweifel edelsten Mut, ganz außergewöhnliches Talent, überlegenen Geist besitzen. In der Tat, nichts konnte mir auf angenehmere und unzweideutigere Art beweisen, daß die Reize dieser Wissenschaft, die mein Leben mit so vielen Genüssen verschönt haben, nicht eingebildet sind, als die Vorliebe, mit der Sie sie beehrt haben. Sophie Germains Korrespondenz mit Carl Friedrich Gauß war ihr immer wieder Anregung für das eigene Werk, doch im Jahr 1808 brach die Beziehung mit einem Mal ab. Gauß war zum Professor für Astronomie an der Universität Göttingen berufen worden, er wandte sich von der Zahlentheorie ab und verlegte seine Interessen

auf die stärker anwendungsbetonte Mathematik. Germains Briefe zu beantworten hielt er nicht mehr für nötig. Ohne ihren Mentor schwand ihr Selbstvertrauen zusehends, und innerhalb eines Jahres gab sie die reine Mathematik auf. Zwar leistete sie keine weiteren Beiträge zum Beweis von Fermats letztem Satz, doch begann sie eine ereignisreiche und wiederum glänzende Laufbahn als Physikerin, nur um abermals mit den Vorurteilen des Establishments konfrontiert zu werden. Ihr wichtigster Beitrag zur Physik war eine »Abhandlung zu den Schwingungen elastischer Platten«, die voll fruchtbarer Erkenntnisse steckte und der modernen Elastizitätstheorie den Boden bereitete. Für ihre Forschungen und die Arbeit zu Fermats letztem Satz verlieh ihr das Institut de France eine Medaille, und die Academic des Sciences ließ sie als erste nicht mit einem Mitglied verheiratete Frau als Vorlesungshörerin zu. Gegen Ende ihres Lebens schließlich nahm sie erneut Verbindung zu Carl Friedrich Gauß auf, der die Universität Göttingen veranlaßte, ihr einen Ehrentitel zu verleihen. Tragischerweise starb Sophie Germain noch vor der Verleihungsfeier an Brustkrebs. Im Rückblick war sie wohl der profundeste weibliche Geist, den Frankreich je hervorgebracht hat. Und doch, so seltsam es klingt, als der Vertreter des Staates kam, um den Totenschein für diese bedeutende Gefährtin und Arbeitspartnerin der erlauchtesten Mitglieder der französischen Akademie der Wissenschaften auszustellen, bezeichnete er sie als »rentière-annuitant« (alleinstehende Frau ohne Beruf) – nicht als »mathématicienne«. Das ist nicht alles. Beim Bau des Eiffelturms waren die Ingenieure verpflichtet, der Elastizität des verwendeten Materials besondere Aufmerksamkeit zu widmen. In diesen stolzen Bau wurden die Namen von zweiundsiebzig Wissenschaftlern eingemeißelt. Doch man wird auf dieser Liste den Namen jener genialen Tochter des Geistes nicht finden, deren Forschungen so viel zum Aufbau der Elastizitätstheorie von Metallen beigetragen haben – den Sophie Germains. Wurde sie in diese Liste nicht aufgenommen aus dem gleichen Grunde, weshalb Agnesi nicht Mit-

glied der französischen Akademie werden konnte – weil sie eine Frau war? Es sieht danach aus. Sollte dies wirklich zutreffen, fällt die Schande auf jene, die für diese Undankbarkeit gegen eine Frau verantwortlich sind, welche sich in hohem Maße um die Wissenschaft verdient gemacht und durch ihre Leistungen einen beneidenswerten Platz in der Ruhmeshalle errungen hat. H.J. Mozans, 1913

Die versiegelten Umschläge Nach der bahnbrechenden Leistung Sophie Germains schrieb die französische Akademie der Wissenschaften eine Reihe von Preisen aus, darunter eine Goldmedaille und 3 000 Franc für jenen Mathematiker, der das Geheimnis von Fermats letztem Satz endlich lüften würde. Nun galt es nicht mehr nur, den Ruhm für den Beweis zu erringen, die Herausforderung war jetzt auch mit einer sehr wertvollen Belohnung verbunden. Die Pariser Salons schwirrten vor Gerüchten, wer wohl welche Strategie einsetzen werde und wann endlich die Verkündung eines Ergebnisses zu erwarten sei. Dann, am 1. März 1847, fand die dramatischste Sitzung in der Geschichte der Akademie statt. Die Protokolle halten fest, daß Gabriel Lamé, der den Fall n = 7 ein paar Jahre zuvor bewiesen hatte, vor die bedeutendsten Mathematiker der Zeit ans Podium trat und verkündete, er sei einem Beweis der Fermatschen Vermutung sehr nahe. Er gab zu, daß sein Beweis noch unvollständig sei, skizzierte jedoch schon einmal seine Vorgehensweise und sagte mit Genugtuung voraus, daß er in den kommenden Wochen einen vollständigen Beweis im Journal der Akademie veröffentlichen werde. Die Anwesenden waren verblüfft, mit einer Ausnahme. Sobald Lamé den Sitzungssaal verlassen hatte, bat Augustin Louis Cauchy, ebenfalls einer der besten Pariser Mathematiker, um die Erlaubnis zu sprechen. Cauchy gab der Akademie bekannt, daß er mit ähnli-

Gabriel Lamé

chen Verfahren wie Lamé gearbeitet habe und daß auch er einen vollständigen Beweis veröffentlichen werde. Cauchy und Lamé waren überzeugt davon, dem Beweis des letzten Fermatsatzes greifbar nahe zu sein, sahen jedoch zugleich, daß die Zeit eine wesentliche Rolle spielte. Der erste, der einen vollständigen Beweis erbrachte, würde den prestigeträchtigsten und wertvollsten Preis in der Mathematik erhalten. Obwohl keiner der beiden Rivalen einen vollständigen Beweis besaß, waren sie erpicht darauf, ihre Ansprüche geltend zu machen, und so reichten sie nur drei Wochen nach ihren Ankündigungen versiegelte Umschläge bei der Akademie ein. Dies war damals gängige Praxis, um die geistige Urheberschaft von Mathematikern festzustellen, ohne daß sie Einzelheiten ihrer Arbeiten aufdecken mußten. Sollte es später zu einem Streit um die Urheberschaft kommen, würden die versiegelten Umschläge zur Klärung der Frage dienen. Während des ganzen Aprils stieg die Spannung, denn Cauchy und Lamé publizierten wenn auch vage, so doch vielversprechende Einzelheiten ihrer Beweise in den Sitzungsberichten der Akademie. Die ganze Mathematikergemeinde wartete gespannt auf den endgültigen Beweis, doch viele hofften insgeheim, Lamé und nicht Cauchy möge das Rennen machen. Allen Darstellungen zufolge war Cauchy ein selbstgerechter Mensch, auf bigotte Weise religiös und bei seinen Kollegen äußerst unbeliebt. Die Akademie tolerierte ihn nur, weil er ein brillanter Kopf war. Dann, am 24. Mai, gab es eine Ankündigung, die alle Spekulationen beendete. Es war weder Cauchy noch Lamé, der vor die Akademie trat, sondern Joseph Liouville. Er verlas einen Brief des deutschen Mathematikers Ernst Kummer und versetzte damit dem gesamten Publikum einen Schock. Kummer war ein Zahlentheoretiker höchsten Ranges, den jedoch auf weiten Strecken seiner Laufbahn ein grimmiger, vom Haß auf Napoleon angeheizter Patriotismus von seiner wahren Berufung abhielt. Während seiner Kindheit war das französische Heer in seine Heimatstadt Sorau einmarschiert und hatte eine Typhusepidemie mitgeschleppt. Kummers Vater, der Stadtarzt, fiel in-

Augustin Louis Cauchy

nerhalb weniger Wochen der Krankheit zum Opfer. Für Kummer war diese Erfahrung ein schwerer Schock, und er schwor sich, alles in seinen Kräften Stehende zu tun, um sein Land vor weiteren Angriffen zu schützen. Sobald er die Universität verlassen hatte, verwendete er seine ganze Intelligenz auf das Problem der Flugbahnen von Kanonenkugeln. Und eines Tages schließlich lehrte er Ballistik an der Berliner Militärakademie. Parallel zu seiner militärischen Laufbahn betrieb Kummer Forschungen auf dem Gebiet der reinen Mathematik. So war er über das Drama, das sich an der Pariser Akademie abspielte, bestens informiert. Er hatte die Sitzungsberichte gelesen und die wenigen Einzelheiten unter die Lupe genommen, die Cauchy und Lamé zu veröffentlichen gewagt hatten. Für Kummer war offensichtlich, daß sich die beiden Franzosen auf dem Weg in die gleiche logische Sackgasse befanden, und in dem Brief an Liouville skizzierte er seine Einwände. Kummer zufolge bestand das Problem im wesentlichen darin, daß die Beweise von Cauchy und Lamé sich auf eine Eigenschaft von Zahlen stützten, die als Primfaktorzerlegung bezeichnet wird. Diese beruht darauf, daß es genau eine mögliche Kombination von Primzahlen gibt, die miteinander multipliziert eine bestimmte zusammengesetzte Zahl ergeben. So ist zum Beispiel die Zahl 18 aus folgenden Primfaktoren zusammengesetzt: 18 = 2 × 3 × 3. Auf die gleiche Weise lassen sich auch die folgenden Zahlen in Primfaktoren zerlegen: 35 = 5 180 = 2 106 260 = 2

7, 2×3 ×2 ×3 × ×

× ×

3 5

× ×

5, 7 × 11

×

23.

Die Primfaktorzerlegung wurde schon im vierten Jahrhundert vor Christus von Euklid entdeckt, der im Buch IX seiner Elemente bewies, daß sie für alle natürlichen Zahlen gilt. Dieser Nachweis ist ein unerläßlicher Baustein für viele andere Beweise und gilt heute als Hauptsatz der Zahlentheorie.

Auf den ersten Blick gab es keinen Grund, warum Cauchy und Lamé sich nicht auf die Primfaktorzerlegung stützen sollten, wie Hunderte von Mathematikern vor ihnen. Unglücklicherweise nahmen jedoch beide für ihre Beweise auch imaginäre Zahlen in Anspruch. Zwar können natürliche Zahlen auf nur eine Weise in Primfaktoren zerlegt werden, doch Kummer wies darauf hin, daß dies nicht unbedingt gelten mußte, wenn imaginäre Zahlen ins Spiel kamen. Ihm zufolge steckte hier ein kapitaler Fehler. Wenn wir uns auf reelle Zahlen beschränken, kann beispielsweise die Zahl 12 nur in die Primfaktoren 2 × 2 × 3 zerlegt werden. Lassen wir jedoch auch imaginäre Zahlen für unseren Beweis zu, kann die 12 außerdem noch folgendermaßen zerlegt werden: 12 = (1 + -11) × (1 - -11) Die (1 + -11) ist eine komplexe Zahl, die Verknüpfung einer reellen und einer imaginären Zahl. Obwohl die Multiplikation hier im Vergleich zu den gewöhnlichen Zahlen komplizierter ist, führt die Existenz der komplexen Zahlen zu einer weiteren Möglichkeit, die 12 zu faktorisieren. Es gibt nun nicht mehr nur eine Faktorzerlegung, sondern man kann zwischen mehreren Zerlegungen wählen. Daß die Faktorzerlegung nun auf mehrere Weisen möglich war, versetzte den Beweisen von Cauchy und Lamé einen schweren Schlag, machte sie jedoch nicht unbedingt völlig zunichte. Die Beweise sollten zeigen, daß es für die Gleichung x n + y n = z n, mit n größer als 2, keine Lösungen gibt. Wie weiter oben in diesem Kapitel erläutert, mußte der Beweis nur für die Primzahlwerte von n erbracht werden. Kummer zeigte, daß es mit zusätzlichen Verfahren möglich ist, für verschiedene Werte von n die Primfaktorzerlegung eindeutig zu machen. Das Problem der eindeutigen Primfaktorzerlegung konnte zum Beispiel für alle Primzahlen bis einschließlich n = 31 vermieden werden. Allerdings war die Sache bei der Primzahl n = 37 nicht so einfach. Auch die 59 und die 67 stellten unter den Primzahlen bis 100 besondere Fälle dar. Diese sogenannten irregulären Primzahlen, die in der Reihe der Primzahlen immer wie-

Ernst Kummer

der auftauchen, waren nun die Stolpersteine für einen endgültigen Beweis. Kummer wies darauf hin, daß es bislang keine mathematische Theorie gebe, mit der sich das Problem der irregulären Primzahlen auf einen Streich erledigen ließe. Allerdings könne man jede einzelne irreguläre Primzahl mit eigens auf sie zugeschnittenen Methoden behandeln. Die Entwicklung dieser besonderen Verfahren wäre jedoch ein langwieriges Unternehmen, und, schlimmer noch, die Menge der irregulären Primzahlen sei unendlich groß. Wollte man sie Schritt für Schritt abarbeiten, würden alle Mathematiker der Welt bis ans Ende der Zeiten beschäftigt sein. Kummers Brief war ein verheerender Schlag für Lamé. Im Rückblick betrachtet war die Voraussetzung der eindeutigen Primfaktorzerlegung bestenfalls zu optimistisch, schlimmstenfalls tollkühn. Wäre er offener mit seiner Arbeit umgegangen, erkannte Lame, hätte er den Irrtum schon früher erkennen können, und in diesem Sinne schrieb er an seinen Kollegen Dirichlet in Berlin: »Wenn Sie nur in Paris gewesen wären, oder ich in Berlin, dann wäre diese Geschichte nicht passiert.« Während sich Lamé gedemütigt fühlte, wollte Cauchy die Niederlage nicht eingestehen. Sein eigener Ansatz, so glaubte er, fuße, im Vergleich zu Lamés Beweisversuch, weniger stark auf der eindeutigen Primfaktorzerlegung, und solange Kummers Analyse noch nicht vollständig überprüft war, gab es die Möglichkeit, daß sie einen Fehler enthielt. Über mehrere Wochen noch veröffentlichte er einschlägige Artikel, doch gegen Ende des Sommers verfiel auch er in Schweigen. Kummer hatte gezeigt, daß ein vollständiger Beweis von Fermats letztem Satz mit den zeitgenössischen Verfahren der Mathematik noch nicht gelingen konnte. Dies war ein glänzendes Stück mathematischer Logik, doch ein schwerer Schlag für eine ganze Generation von Mathematikern, die gehofft hatten, das schwierigste Problem ihres Faches lösen zu können. Cauchy schrieb 1875 für die Akademie einen Abschlußbericht zur Preisvergabe für die Lösung des Fermatproblems, in dem er die Lage treffend charakterisierte:

Bericht über den Wettbewerb um den Großen Preis für Mathematik. Schon im Wettbewerb von 1853 ausgeschrieben und verlängert bis 1856. Elf Abhandlungen wurden dem Sekretär vorgelegt. Doch in keinem Falle wurde die gestellte Frage beantwortet. Somit bleibt das Problem, für dessen Lösung wiederholt ein Preis ausgesetzt wurde, an dem Punkt, wo Monsieur Kummer es aufgegeben hat. Allerdings sollte die mathematische Wissenschaft sich glücklich schätzen ob der Arbeiten der Geometer, die sich bemühten, die Frage zu lösen. Hier ist vor allem Monsieur Kummer zu nennen. Die Ausschußmitglieder sind der Meinung, daß es eine ehrenhafte und nützliche Entscheidung seitens der Akademie wäre, die Frage aus dem Wettbewerb zurückzuziehen und die Medaille Monsieur Kummer zu verleihen für seine glänzenden Forschungen über komplexe Zahlen, die aus Einheitswurzeln und ganzen Zahlen bestehen. Zwei Jahrhunderte lang waren nun alle Versuche, den Beweis von Fermats letztem Satz wiederzuentdecken, gescheitert. Im Teenageralter studierte Wiles die Werke von Euler, Germain, Cauchy, Lamé und schließlich auch die Arbeiten Kummers. Er hoffte, aus ihren Fehlern lernen zu können, doch als Student an der Universität Oxford sah er sich schließlich derselben undurchdringlichen Mauer gegenüber wie damals Kummer. Einige von Wiles’ Zeitgenossen hegten inzwischen den Verdacht, das Problem könnte unlösbar sein. Vielleicht hatte sich Fermat getäuscht, und der Grund, weshalb niemand seinen Beweis wiederentdeckt hatte, war einfach der, daß es keinen gab. Trotz dieser skeptischen Einwände suchte Wiles weiter nach einem Beweis. Er ließ sich dabei von dem Wissen inspirieren, daß es in der Vergangenheit mehrere Fälle von Beweisen gegeben hatte, die erst nach einigen Jahrhunderten mühseliger Suche entdeckt worden waren. Und in manchen dieser Fälle beruhte die plötzliche Einsicht, die zur Lösung führte, keineswegs auf neuen mathematischen Ansätzen; vielmehr handelte es sich um Beweise, die schon lange vorher hätten erbracht werden können.

(a)

(b)

Abbildung 13: In diesen Diagrammen ist jeder Punkt mit jedem anderen durch Geraden verbunden. Ist es möglich, ein Diagramm zu konstruieren, bei dem jede Gerade mindestens drei Punkte durchläuft?

Ein Beispiel für ein Problem, das sich jahrzehntelang einer Lösung verschloß, ist das Punkteproblem. Hier geht es um eine Anzahl von Punkten, die über Geraden miteinander verbunden sind, wie die Punktediagramme in Abbildung 13. Die Vermutung lautet, daß es unmöglich ist, ein Punktediagramm zu zeichnen, bei dem jede Gerade mindestens drei Punkte durchläuft (mit Ausnahme des Diagramms, bei dem alle Punkte auf derselben Geraden liegen). Probiert man ein paar Diagramme aus, erscheint dies offensichtlich richtig. Abbildung 13 (a) zum Beispiel hat fünf Punkte, die über fünf Geraden verbunden sind. Drei der Geraden durchlaufen keine drei Punkte, weshalb diese Anordnung eindeutig nicht die Forderung erfüllt, daß alle Geraden drei Punkte durchlaufen müssen. Fügt man einen weiteren Punkt und die entsprechende Gerade hinzu wie in Abbildung 13 (b), verringert sich die Zahl der Geraden, die keine drei Punkte durchlaufen, auf nur noch zwei. Allerdings scheint es unmöglich zu sein, das Diagramm so zu verändern, daß alle Geraden drei Punkte durchlaufen. Natürlich beweist dies nicht, daß ein solches Diagramm unmöglich ist. Generationen von Mathematikern versuchten vergeblich, einen Beweis für das auf den ersten Blick simple Punkteproblem zu finden. Was die Sache jedoch noch ärgerlicher machte, war, daß der schließlich gefundene Beweis nicht besonders viel an mathemati-

schem Wissen verlangte, zusätzlich allenfalls noch ein wenig Pfiff. Der Beweis findet sich in Anhang 6. So war es durchaus möglich, daß alle für den Beweis von Fermats letztem Satz nötigen Verfahren bereitstanden und die einzige Zutat, die noch fehlte, ein Schuß Genialität war. Wiles mochte einfach nicht aufgeben: Die Suche nach dem Beweis des Satzes hatte sich von einem Kindheitstraum in eine ausgewachsene Obsession verwandelt. Nun, da er alles gelernt hatte, was es über die Mathematik des neunzehnten Jahrhunderts zu wissen gab, wollte er sich mit den Techniken des zwanzigsten Jahrhunderts bewaffnen.

Paul Wolfskehl

4 Der Weg in die Abstraktion Der Beweis ist ein Götze, vor dem der Mathematiker sich foltert. Sir Arthur Eddington

Ernst Kummer hatte mit seinem Werk die Aussichten, einen Beweis für Fermats letzten Satz zu finden, offenbar nachhaltig geschwächt. Überdies wandten sich die Mathematiker in der Folgezeit allmählich anderen Forschungsgebieten zu, und so bestand die Gefahr, daß die neue Generation das scheinbar unlösbare Problem einfach beiseite schieben würde. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nahm es immer noch einen besonderen Platz in den Herzen der Zahlentheoretiker ein, doch betrachteten sie Fermats letzten Satz wie Chemiker die Alchimie. Beides waren törichte romantische Träumereien einer vergangenen Epoche. Im Jahr 1908 allerdings brachte der Darmstädter Industrielle Paul Wolfskehl neues Leben in die Sache. Seine Familie war bekannt für ihren Reichtum und ihr künstlerisches und wissenschaftliches Mäzenatentum, und Paul machte da keine Ausnahme. Er hatte Mathematik studiert und widmete sein Leben nun weitgehend dem Aufbau des Familienimperiums, hielt jedoch auch weiter Verbindung zu professionellen Mathematikern und betrieb aus Liebhaberei auch ein wenig Zahlentheorie. Vor allem Fermats letzten Satz mochte Wolfskehl nicht einfach beiseite legen. Wolfskehl war keineswegs ein begabter Mathematiker, und es war ihm nicht bestimmt, einen wichtigen Beitrag zum Beweis der Fermatschen Vermutung zu leisten. Dank einer merkwürdigen Kette von Ereignissen sollte er dennoch seinen Namen für alle Zeiten mit Fermats Problem verknüpfen und Tausende dazu bewegen, sich der Herausforderung zu stellen.

Die Geschichte beginnt mit Wolfskehls Leidenschaft für eine schöne Frau, deren Name bis heute unbekannt ist. Zu seinem Leidwesen gab ihm diese mysteriöse Frau einen Korb. In äußerster Verzweiflung beschloß Wolfskehl, sich das Leben zu nehmen. Er war ein leidenschaftlicher Mann, aber nicht vorschnell, und so plante er seinen Tod bis in die kleinste Einzelheit voraus. Er legte einen Tag für seinen Selbstmord fest, an dem er sich Schlag Mitternacht in den Kopf schießen wollte. In der verbleibenden Zeit regelte er alle anstehenden Geschäfte, am letzten Tag setzte er sein Testament auf und schrieb Briefe an die engsten Freunde und die Familie. Wolfskehl war so gründlich gewesen, daß alles schon einige Zeit vor dem festgesetzten Mitternachtstermin geregelt war. Um sich die Zeit zu vertreiben, ging er in die Bibliothek und begann die mathematischen Veröffentlichungen durchzublättern. Nicht lange, und Wolfskehl fand sich wie gebannt vor Kummers klassischer Abhandlung wieder, in der er das Scheitern Cauchys und Lamés erklärt. Sie war eine der großen mathematischen Leistungen der damaligen Zeit und der richtige Lesestoff für einen Mathematiker, der sich umbringen wollte. Wolfskehl arbeitete sich Zeile für Zeile durch Kummers Gleichungen. Plötzlich stutzte er, denn offenbar hatte er eine Lücke im Argument entdeckt – Kummer hatte eine Annahme gemacht und es versäumt, den Schritt zu rechtfertigen. Wolfskehl fragte sich, ob er einen schwerwiegenden Fehler entdeckt hatte oder ob Kummers Annahme zulässig war. Träfe ersteres zu, dann war es durchaus möglich, daß Fermats letzter Satz um einiges leichter zu beweisen wäre, als viele geglaubt hatten. Er setzte sich hin, überdachte den unzulänglichen Abschnitt des Beweises und versank in die Arbeit an einem eigenen Kleinbeweis, der Kummers Abhandlung entweder bestätigen oder zeigen würde, daß seine Annahme falsch und der Artikel somit wertlos war. Im Morgengrauen war die Arbeit vollbracht. Die schlechte Nachricht für die Mathematik war, daß Kummers Beweis standgehalten hatte und ein Beweis der Fermatschen Vermutung damit unerreichbar blieb. Die gute Nachricht lautete, daß der festgesetzte Zeitpunkt des Freitods verstrichen und Wolfskehl so stolz darauf

war, eine Lücke in der Arbeit des großen Ernst Kummer entdeckt und überbrückt zu haben, daß sich Verzweiflung und Trübsal verflüchtigt hatten. Die Mathematik hatte seinen Lebenswillen wiedererweckt. Wolfskehl zerriß die Abschiedsbriefe und schrieb im Licht des nächtlichen Geschehens sein Testament um. Als es nach seinem Tod im Jahr 1908 verlesen wurde, mußte die Familie Wolfskehl schockiert feststellen, daß Paul einen großen Teil seines Vermögens als Preis ausgesetzt hatte. Er stand der Person zu, die Fermats letzten Satz beweisen konnte. Das Preisgeld von 100 000 Mark, nach heutiger Kaufkraft etwa 2 500 000 DM, war seine Art, jenem Rätsel Tribut zu zollen, das sein Leben gerettet hatte. Das Geld wurde der Göttinger Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu treuen Händen übergeben, die noch im selben Jahr den Wettbewerb um den Wolfskehl-Preis ausschrieb: Auf Grund des von dem verstorbenen Herrn Dr. Paul Wolfskehl in Darmstadt uns zugewendeten Vermächtnisses wird hiermit ein Preis von 100 000 Mark für denjenigen ausgesetzt, dem es zuerst gelingt, den Beweis des großen Fermatschen Satzes zu führen. Die Aussetzung des Preises erfolgt unter folgenden näheren Bedingungen: (1) Die Königliche Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen entscheidet frei darüber, wem der Preis zuzuerkennen ist. Sie lehnt die Annahme jeder Manuskriptsendung ab, die auf die Bewerbung um den Preis für den Fermatschen Satz Bezug hat; sie berücksichtigt für die Preiszuteilung lediglich solche mathematischen Abhandlungen, die in periodischen Zeitschriften, als Monographien oder in Buchform im Buchhandel käuflich erschienen sind. Die Gesellschaft stellt dem Verfasser solcher Abhandlungen anheim, etwa fünf gedruckte Exemplare davon an sie einzusenden. (2) Außer Betracht bleiben für die Verleihung des Preises solche Arbeiten, die in einer Sprache gedruckt sind, welche den zur Beurteilung der Arbeit berufenen Fachgelehrten unverständlich ist.

An die Stelle solcher Arbeiten können vom Verfasser als richtig anerkannte Übersetzungen treten. (3) Die Gesellschaft lehnt alle Verantwortung für eine Nichtberücksichtigung von Arbeiten ab, die nicht zur ihrer Kenntnis gelangt sind, desgleichen für alle Irrtümer, die daraus entspringen könnten, daß der wirkliche Verfasser der Arbeit oder eines Teiles derselben als solcher der Gesellschaft unbekannt geblieben ist. (4) Sie behält sich für den Fall, daß an der Lösung der Aufgabe mehrere Personen beteiligt sind oder die Lösung durch die Arbeiten mehrerer Gelehrter herbeigeführt worden ist, freieste Entscheidung, insbesondere auch die Teilung des Preises nach ihrem Ermessen vor. (5) Die Zuerkennung des Preises durch die Gesellschaft erfolgt frühestens zwei Jahre nach der Veröffentlichung der zu krönenden Abhandlung. Es soll innerhalb dieses Zeitraums deutschen und ausländischen Mathematikern Gelegenheit geboten werden, über die Richtigkeit der durch die Veröffentlichung bekannt gewordenen Lösung sich zu äußern. (6) Ist der Preis durch die Gesellschaft zuerkannt, so wird davon den Berechtigten durch den Vorsitzenden Sekretär im Namen der Gesellschaft Mitteilung gemacht und solches öffentlich an allen denjenigen Orten bekanntgegeben werden, an denen der Preis im letzten Jahre ausgeschrieben war. Die Zuerkennung des Preises durch die Gesellschaft ist unanfechtbar. (7) Die Auszahlung des Preises erfolgt an den Berechtigten innerhalb dreier Monate nach seiner Zuerkennung durch die Königliche Universitätskasse in Göttingen oder auf Gefahr und Kosten des Empfängers an einem anderen von ihm zu bezeichnenden Orte. (8) Das vermachte Kapital wird je nach der Wahl der Gesellschaft bar oder in den hierfür hinterlegten Papieren gegen rechtsgültige Quittung zur Auszahlung gebracht. Die Auszahlung des Preises kann durch Aushändigung der hinterlegten Wertpapiere auch dann erfolgen, wenn deren Kurswert die Summe von 100 000 Mark nicht mehr erreichen sollte.

(9) Falls der Preis bis zum 13. September 2007 nicht zuerkannt ist, können Ansprüche auf ihn nicht mehr erhoben werden. Mit dem heutigen Tag tritt die Wolfskehlsche Preisstiftung unter den vorstehend angegebenen Bedingungen in Kraft. Göttingen, den 27. Juni 1908 Die Königliche Gesellschaft der Wissenschaften Nebenbei bemerkt, wollte das Komitee zwar 100 000 Mark an den ersten Mathematiker auszahlen, der beweisen konnte, daß Fermats letzter Satz gültig war, doch keinen einzigen Pfennig an denjenigen, dem womöglich der Nachweis gelang, daß er falsch war. Der Wolfskehl-Preis wurde in allen mathematischen Zeitschriften ausgeschrieben, und die Nachricht von dem Wettbewerb verbreitete sich rasch in ganz Europa. Trotz des großen öffentlichen Aufsehens, für das man gesorgt hatte, und dem zusätzlichen Anreiz eines enormen Preisbetrags gelang es dem Wolfskehl-Komitee nicht, bei den ernsthaften Mathematikern größeres Interesse zu wecken. Die meisten Berufsmathematiker betrachteten Fermats letzten Satz als vergebliche Liebesmüh und beschlossen, ihre Karrieren nicht für einen Kampf gegen Windmühlen aufs Spiel zu setzen. Andererseits jedoch wurde durch den Preis ein ganz neues Publikum auf das Problem aufmerksam, eine Horde beflissener Köpfe, die bereit waren, sich an das ultimative Rätsel zu machen und es vom Stande vollkommener Unwissenheit aus in Angriff zu nehmen.

Die Ära der Puzzles, Knobeleien und Rätsel Seit den Griechen schon bemühen sich die Mathematiker, ihren Lehrbüchern Würze zu verleihen und Beweise und Sätze so umzuformulieren, daß sie als Lösungen für Zahlenrätsel daherkommen. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts fand dieser spielerische Ansatz seinen Weg auch in die Massenblätter, und ne-

ben den Kreuzworträtseln und Anagrammen wurden dort nun auch Zahlenrätsel abgedruckt. Es dauerte nicht lange, bis sich ein wachsendes Publikum für die mathematischen Knobeleien begeisterte, Amateure, die sich über alles die Köpfe zerbrachen, vom trivialsten Rätsel bis zum profunden mathematischen Problem, darunter auch dem Fermats. Der vielleicht fruchtbarste Schöpfer von Rätseln war Henry Dudeney, der für Dutzende von Zeitungen und Illustrierte schrieb, darunter Strand, Cassell’s, Queen, Tit-Bits, Weekly Dispatch und Blighty. Ein weiterer großer Rätselsteller des viktorianischen Zeitalters war Hochwürden Charles Dodgson, Dozent für Mathematik am Oxforder Christ Church College, besser bekannt als Schriftsteller unter dem Namen Lewis Carroll. Dodgson widmete sich mehrere Jahre lang der Aufgabe, ein riesiges Sammelwerk von Rätseln unter dem Titel Curiosa Mathematica zusammenzustellen. Zwar brachte er die Reihe nicht zum Abschluß, doch schrieb er immerhin mehrere Bände, darunter die Pillow Problems. Der größte Rätselsteller von allen war das amerikanische Wunderkind Sam Loyd (1841-1911), der als Teenager schon üppig Geld damit verdiente, neue Rätsel auszuknobeln und alte neu zu erfinden. In Sam Loyd and his Puzzles: An Autobiographical Review erinnert er sich, daß er manche seiner ersten Rätsel für den Zirkusbesitzer und Trickkünstler P. T. Barnum erfand: Vor vielen Jahren, als Barnums Zirkus wirklich »die größte Show auf Erden« war, ließ mich der große Schausteller zu Werbezwecken eine Reihe von Preisrätseln ausarbeiten. Sie wurden weithin als die »Fragen der Sphinx« bekannt, denn es winkten hohe Preise für jeden, der sie lösen konnte. Merkwürdigerweise wurde diese Autobiographie 1928 verfaßt, siebzehn Jahre nach Loyds Tod. Loyd hatte seine Schläue an den Sohn vererbt, ebenfalls Sam genannt, der der wirkliche Autor des Buches war und ganz genau wußte, daß alle Käufer irrtümlicherweise annehmen würden, der berühmtere Sam Loyd senior habe es geschrieben.

Abbildung 14: Eine Karikatur zu der von Sam Loyds »14 -15«-Puzzle ausgelösten Manie.

Loyds berühmteste Schöpfung war das viktorianische Gegenstück zum Zauberwürfel, das »14 -15 « -Zahlenpuzzle, das man auch heute noch in Spielzeugläden findet. Fünfzehn Scheiben, von 1 bis 15 durchnumeriert, sind auf einem 4 × 4-Gitter befestigt und sollen in die richtige Reihenfolge gebracht werden. Loyds »14-15«-Puzzle wurde in der in Abbildung 14 gezeigten Anordnung verkauft, und er bot jedem eine beträchtliche Belohnung an, dem es gelang, das Rätsel zu lösen und die 14 und die 15 durch eine beliebige Folge von Verschiebungen in die richtige Reihenfolge zu bringen. Loyds Sohn beschrieb den Wirbel, den dieses handfeste, aber im Kern mathematische Rätsel auslöste: Der Preis von 1 000 Dollar für die erste richtige Lösung des Problems wurde nie eingefordert, obwohl es Tausende gibt, die behaupten, ihnen sei das Meisterstück gelungen. Die Leute vernarrten sich in das Rätsel, und es gibt manch komische Geschichte über Kaufleute, die vergaßen, ihre Läden zu öffnen. Von einem angesehenen Geistlichen heißt es, er habe eine ganze Winternacht unter einer Straßenlaterne gestanden und versucht sich daran zu

erinnern, wie genau ihm die Meisterleistung gelungen sei. Das Mysteriöse an diesem Rätsel ist, daß keiner in der Lage scheint, sich an die Abfolge der Schritte zu erinnern, mit denen er es doch ganz sicher gelöst habe. Kapitäne sollen ihre Schiffe auf Grund gefahren, Lokführer ihre Züge durch Bahnhöfe gejagt haben. Ein berühmter Verleger aus Baltimore berichtet, daß er eines Tages zum Mittagessen gegangen sei und seine verzweifelten Mitarbeiter ihn schließlich lange nach Mitternacht gefunden hätten, wie er kleine Kuchenstücke auf einem Teller hin- und herschob! Loyd war sich immer sicher, die 1 000 Dollar nie auszahlen zu müssen, denn er wußte, daß es unmöglich ist, auch nur zwei Täfelchen zu vertauschen, ohne an einer anderen Stelle des Zahlenpuzzles die Ordnung zu zerstören. Ebenso wie ein Mathematiker beweisen kann, daß eine bestimmte Gleichung keine Lösungen besitzt, konnte Loyd beweisen, daß sein »14-15«-Puzzle unlösbar ist. Loyd definierte in seinem Beweis zunächst eine Größe, die angibt, wie ungeordnet ein Puzzle ist, den Unordnungsparameter Up. Der Unordnungsparameter für jede gegebene Anordnung ist die Zahl der Scheibenpaare, die sich in der falschen Reihenfolge befinden. Für das richtig angeordnete Puzzle ist, wie in Abbildung 15 (a) gezeigt, Up = 0, weil keine Scheibe in der falschen Position ist. Beginnt man mit dem richtig geordneten Puzzle und schiebt die Scheiben umher, dann ist es relativ leicht, zu der in Abbildung 15 (b) gezeigten Anordnung zu gelangen. Die Scheiben sind in der richtigen Reihenfolge, bis wir auf die Nummern 12 und 11 stoßen. Natürlich muß die 11 vor der 12 kommen, dieses Scheibenpaar ist also in der falschen Reihenfolge. Die vollständige Liste der falsch angeordneten Scheibenpaare lautet: (12, 11), (15, 13), (15, 14), (15, 11), (13, 11) und (14, 11). Wegen der sechs Scheibenpaare in der falschen Reihenfolge beträgt in diesem Arrangement Up = 6. (Scheibe 10 und Scheibe 12 sind zwar benachbart, was eindeutig falsch ist, doch sie sind nicht in der falschen Reihenfolge. Dieses Scheibenpaar beeinflußt daher den Unordnungsparameter nicht.) Nach ein paar weiteren Verschiebungen erhalten wir die Anordnung 15 (c). Wenn wir die falsch angeordneten Scheibenpaare aufli-

(a) Dp = 0

(b) Dp = 6

(c) Dp =12

Abbildung 15: Durch Verschieben der Zahlenscheiben lassen sich verschiedene Grade an Unordnung herstellen. Für jeden Zustand läßt sich das Maß der Unordnung anhand des Unordnungsparameters Up messen.

sten, stellen wir fest, daß Up = 12. Der wichtige Punkt hier ist, daß in allen Fällen, (a), (b) und (c), der Wert des Unordnungsparameters eine gerade Zahl ist (0, 6 und 12). Tatsächlich ist diese Aussage, wenn wir mit der richtigen Anordnung beginnen, immer wahr. Solange das leere Quadrat in der rechten unteren Ecke verbleibt, ergibt sich, wie oft die Scheiben auch hin und her geschoben werden, immer ein gerader Wert für Up Das ist eine wesentliche Eigenschaft jeder Anordnung, die aus der ursprünglichen Anordnung gewonnen wurde. In der Mathematik heißt eine Eigenschaft, die immer vorhanden ist, egal wie der Gegenstand verändert wird, eine Invariante. Untersuchen wir jedoch nun einmal die Anordnung, die Loyd verkaufte. In ihr sind als einziges ungeordnetes Paar die 14 und die 15 vertauscht, der Wert des Unordnungsparameters beträgt also Up = 1. In Loyds Arrangement hat der Unordnungsparameter also einen ungeraden Wert! Wir wissen jedoch, daß jeder Zustand, der aus der richtigen Ordnung gewonnen wird, einen geraden Wert für den Unordnungsparameter ergibt. Der Schluß daraus ist, daß Loyds Arrangement nicht aus der korrekten Anordnung gewonnen werden kann und es umgekehrt unmöglich ist, ausgehend von Loyds Anordnung zurück zur richtigen zu gelangen: seine 1 000 Dollar waren nicht in Gefahr. Loyds Puzzle und der Unordnungsparameter zeigen die Macht

einer Invarianten. Sie liefern den Mathematikern eine wichtige Strategie, um zu beweisen, daß es unmöglich ist, einen bestimmten Gegenstand in einen anderen zu verwandeln. Zum Beispiel herrscht gegenwärtig viel Aufregung um die Erforschung von Knoten, und die Knotentheoretiker versuchen natürlich die Frage zu beantworten, ob ein Knoten allein durch Knüpfen und Schlingen, jedoch nicht durch Schneiden in einen ändern verwandelt werden kann. Dabei versuchen sie eine Eigenschaft des ursprünglichen Knotens zu finden, die durch beliebiges Knüpfen und Schlingen nicht zerstört werden kann – eine Knoteninvariante. Dann berechnen sie dieselbe Eigenschaft für den zweiten Knoten. Wenn die Werte unterschiedlich sind, folgt daraus, daß es unmöglich ist, vom ersten Knoten zum zweiten zu gelangen. Bis zur Erfindung dieses Verfahrens in den zwanziger Jahren durch Kurt Reidemeister war es unmöglich zu beweisen, daß ein Knoten nicht in einen anderen Knoten verwandelt werden kann. Mit anderen Worten, bevor Knoteninvarianten entdeckt wurden, war es unmöglich zu zeigen, daß sich ein Altweiberknoten grundsätzlich von einem Weberknoten, einem Überwendknoten oder einer einfachen Schlaufe unterscheidet. Der Begriff einer konstanten Eigenschaft ist wesentlich für viele andere mathematische Beweise, und wie wir in Kapitel 5 sehen werden, sollte er entscheidend dazu beitragen, Fermats letzten Satz in den Hauptstrom der Mathematik zurückzuholen. Um die Jahrhundertwende gab es dank Gestalten wie Sani Loyd mit seinem »14-15«-Zahlenpuzzle Millionen von Hobbytüftlern in ganz Europa und Amerika, die begierig nach neuen Herausforderungen Ausschau hielten. Sobald die Nachricht von Wolfskehls Vermächtnis zu diesen mathematischen Sprößlingen durchgedrungen war, wurde Fermats letzter Satz erneut zum berühmtesten Problem der Welt. Das Fermatproblem war unendlich komplexer als seifet das schwierigste von Loyds Rätseln, doch auch die Belohnung war sehr viel größer. Die Amateurtüftler träumten davon, einen relativ simplen Trick zu finden, den die großen Gelehrten der Vergangenheit übersehen hatten. Der kühne Amateur des zwanzigsten Jahrhunderts war Pierre de Fermat in der Kenntnis mathema-

tischer Techniken fast ebenbürtig. Die Herausforderung bestand darin, sie ebenso schöpferisch einzusetzen wie Fermat. Der Wolfskehl-Preis war nur ein paar Wochen ausgeschrieben, und schon wälzte sich eine Lawine von Lösungsvorschlägen durch die Tore der Göttinger Universität. Zu niemandes Überraschung waren alle Beweise falsch. Obwohl jeder Einsender überzeugt war, die Lösung dieses jahrhundertealten Problems gefunden zu haben, waren ihnen allen kleine und manchmal auch nicht so kleine Irrtümer in der logischen Argumentation unterlaufen. Die Kunst der Zahlentheorie ist so abstrakt, daß es furchterregend leicht ist, vom Pfad der Logik abzukommen und sich unmerklich im Gebüsch der Absurdität zu verlieren. In Anhang 7 findet sich ein Beispiel für einen klassischen Irrtum, den ein begeisterter Amateur leicht übersehen kann. Jeder Vorschlag mußte ohne Ansehen der Person genauestens geprüft werden, denn es hätte ja sein können, daß ein unbekannter Amateur zufällig auf den meistgesuchten Beweis in der Mathematik gestoßen war. Zwischen 1909 und 1934 war Professor Edmund Landau der Leiter des Fachbereichs Mathematik in Göttingen, und es war seine Aufgabe, die Eingaben für den Wolfskehl-Preis zu prüfen. Landau sah seine Forschungsarbeit ständig unterbrochen, da er sich mit Dutzenden von wirren Beweisversuchen herumschlagen mußte, die jeden Monat auf seinem Schreibtisch landeten. Um damit fertig zu werden, erfand er eine pfiffige Methode, sich die Arbeit vom Halse zu schaffen. Der Professor ließ Hunderte von Karten drucken mit der Aufschrift: Sehr geehrte/r ......, ich danke Ihnen für Ihr Manuskript zum Beweis der Fermatschen Vermutung. Der erste Fehler findet sich auf: Seite ...... Zeile ...... Ihr Beweis ist daher wertlos. Professor E. M. Landau

Landau übergab dann jede neue Einsendung zusammen mit einer vorgedruckten Karte einem seiner Studenten und bat ihn, die Lücken auszufüllen. Jahrelang gingen ununterbrochen Lösungsversuche ein, selbst nach der drastischen Entwertung des Wolfskehl-Preises infolge der Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg. Gerüchten zufolge würde der Gewinner heute nicht einmal in der Lage sein, sich eine Tasse Kaffee mit dem Preisgeld zu kaufen, doch diese Behauptungen sind etwas übertrieben. Dr. F. Schlichting, in den siebziger Jahren verantwortlich für die Bearbeitung der Einsendungen, erklärt, daß der Preis damals immer noch gut 10 000 DM wert war. Sein Brief an Paulo Ribenboim, den dieser in seinem Buch 13 Lectures on Fermat’s Last Theorem veröffentlichte, bietet interessante Einsichten in die Arbeit des Wolfskehl-Komitees: Sehr geehrter Herr Ribenboim, die genaue Zahl der bisher eingereichten »Lösungen« ist nicht bekannt. Im ersten Jahr (1907-1908) wurden 621 Lösungen in den Akten der Akademie registriert, und heute hat man etwa drei Regalmeter an Korrespondenz zum Fermatproblem archiviert. In den vergangenen Jahrzehnten wurde wie folgt verfahren. Der Sekretär der Akademie teilt die eingehenden Manuskripte auf in: (1) völligen Unsinn, der sofort zurückgeschickt wird, (2) Material, das wie Mathematik aussieht. Der zweite Stapel wird dem mathematischen Fachbereich übergeben, und dort wird die Arbeit des Lesens, der Fehlersuche und der Beantwortung an einen wissenschaftlichen Assistenten delegiert – und im Augenblick bin ich das Opfer. Monatlich sind etwa drei bis vier Briefe zu beantworten, und darunter ist eine Menge komisches und merkwürdiges Zeug. Einer hat z.B. die erste Hälfte seiner Lösung eingeschickt und die zweite Hälfte versprochen, falls wir ihm 1000 DM im voraus zahlen würden. Ein anderer hat mir ein Prozent seiner Gewinne aus Veröffentlichungen und Radio- und Fernsehinterviews angeboten, wenn er berühmt sein würde, ich müßte ihn jetzt nur unterstützen; falls

nicht, drohte er damit, die Lösung an einen mathematischen Fachbereich in Rußland zu schicken und uns den Ruhm vorzuenthalten, ihn entdeckt zu haben. Von Zeit zu Zeit taucht einer in Göttingen auf und besteht auf einem persönlichen Gespräch. Fast alle »Lösungen« sind auf sehr elementarem Niveau verfaßt (mit den Mitteln der Schulmathematik und vielleicht ein paar unverdauten Artikeln zur Zahlentheorie), können aber dennoch sehr schwer zu verstehen sein. Vom sozialen Hintergrund her gesehen sind die Einsender oft Personen mit einer technischen Ausbildung, aber einer gescheiterten Karriere, die mit einem Beweis der Fermatschen Vermutung den Erfolg suchen. Einige der Manuskripte habe ich Ärzten übergeben, die schwere Schizophrenien diagnostiziert haben. Wolfskehls Testament sah unter anderem vor, daß die Akademie den Preis Jahr für Jahr in den mathematischen Zeitschriften bekanntzugeben habe. Doch schon nach den ersten Jahren weigerten sich die Zeitschriften, die Anzeigen zu drucken, weil sie mit Briefen und verrückten Manuskripten überschwemmt wurden. Ich hoffe, diese Informationen sind für Sie von Interesse. Mit freundlichen Grüßen, F. Schlichting Wie Dr. Schlichting erwähnt, beschränkten sich die Wettbewerbsteilnehmer nicht darauf, ihre »Lösungen« an die Göttinger Akademie zu schicken. Jeder Mathematikfachbereich der Welt hat vermutlich eine Schublade voll angeblicher Beweise. Die meisten Institutionen kümmern sich nicht um diese Amateurbeweise, manche Empfänger haben sich ihrer auf recht einfallsreiche Weise entledigt. Der Mathematikautor Martin Gardner berichtet von einem Freund, der dem Absender antwortete, er sei nicht kompetent, den Beweis zu untersuchen. Jedoch wolle er ihm Name und Adresse eines Experten auf diesem Gebiet mitteilen, der weiterhelfen könne die genaue Anschrift des letzten Amateurs, der ihm einen Beweis geschickt hatte. Ein anderer Freund Gardners pflegte zu antworten: »Ich habe eine bemerkenswerte Widerlegung Ihres Beweisversuchs, doch ist diese Seite leider nicht groß genug, um sie zu fassen.«

Während im Laufe des gesamten Jahrhunderts Amateurmathematiker rund um den Globus vergeblich versuchten, Fermats letzten Satz zu beweisen und den Wolfskehl-Preis zu gewinnen, zeigten die meisten professionellen Mathematiker dem Problem auch weiterhin die kalte Schulter. Statt auf dem Werk Kummers und anderer Zahlentheoretiker des neunzehnten Jahrhunderts aufzubauen, begannen die Mathematiker damit, die Grundlagen ihrer Wissenschaft zu untersuchen, um eine Reihe der wichtigsten Fragen auf dem Gebiet der Zahlen zu klären. Einige der größten Gestalten des zwanzigsten Jahrhunderts, darunter Bertrand Russell, David Hubert und Kurt Gödel, versuchten die wirklich grundlegenden Eigenschaften der Zahlen zu verstehen, um ihre wahre Bedeutung zu begreifen und zu klären, welche Fragen die Zahlentheorie beantworten, und, wichtiger noch, nicht beantworten kann. Ihre Arbeiten sollten die Fundamente der Mathematik erschüttern und schließlich auch Folgen für Fermats letzten Satz haben.

Die Fundamente des Wissens Jahrhundertelang hatten sich die Mathematiker damit beschäftigt, mittels logischer Beweise Brücken vom Bekannten ins Unbekannte zu schlagen. Dabei erzielte man phantastische Fortschritte. Jede neue Generation verbreiterte die Grundlagen und schuf neue Begriffe der Zahlentheorie und der Geometrie. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts allerdings richteten die mathematischen Logiker den Blick immer öfter zurück auf die Grundlagen der Mathematik, auf denen alles andere ruhte. Sie wollten diese Grundlagen verifizieren und vom ersten Prinzip an das ganze Gebäude in strenger Logik neu errichten, um sich zu vergewissern, daß die ersten Prinzipien überhaupt verläßlich sind. Die Mathematiker sind berüchtigt dafür, es ganz genau zu nehmen und einen unumstößlichen Beweis zu verlangen, bevor sie eine Aussage als wahr anerkennen. Eine Anekdote aus Ian Stewarts Concepts of Modern Mathematics bringt dies auf den Punkt:

Ein Astronom, ein Physiker und ein Mathematiker machten einst Ferien in Schottland. Vom Zugfenster aus sahen sie inmitten einer Wiese ein schwarzes Schaf stehen. »Wie interessant«, bemerkte der Astronom, »alle schottischen Schafe sind schwarz!« Darauf antwortete der Physiker: »Nein, nein! Einige schottische Schafe sind schwarz!« Der Mathematiker rollte seine Augen flehentlich gen Himmel und verkündete dann: »In Schottland gibt es mindestens eine Wiese mit mindestens einem Schaf, das mindestens auf einer Seite schwarz ist.« Sogar noch strenger als der gewöhnliche Mathematiker ist der Spezialist für mathematische Logik. Mathematische Logiker begannen Vorstellungen zu hinterfragen, die andere Mathematiker jahrhundertelang für selbstverständlich gehalten hatten. So besagt etwa das Trichotomiegesetz, daß jede Zahl entweder negativ, positiv oder Null ist. Das scheint auf der Hand zu liegen, und die Mathematiker hatten es stillschweigend als wahr vorausgesetzt, doch niemand hatte sich die Mühe gemacht, es wirklich zu beweisen. So lange das Trichotomiegesetz nicht bewiesen war, erkannten die Logiker, konnte es auch falsch sein, und dann würde ein ganzes Wissensgebäude, alles, was auf dem Gesetz beruhte, zusammenbrechen. Zum Glück für die Mathematik wurde das Trichotomiegesetz gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts bewiesen. Seit den alten Griechen hatten die Mathematiker immer mehr Sätze und Wahrheiten angesammelt, und obwohl man das meiste streng bewiesen hatte, befürchteten sie, daß manches, etwa das Trichotomiegesetz, ohne gründliche Prüfung übernommen worden war. Manche Sätze waren inzwischen Allgemeingut geworden, und doch war sich niemand ganz sicher, wie sie ursprünglich bewiesen worden waren – wenn überhaupt. Deshalb beschlossen die Logiker, von den ersten Prinzipien an jeden Satz zu beweisen. Allerdings mußte jede Wahrheit aus anderen Wahrheiten hergeleitet werden. Diese Wahrheiten wiederum mußten anhand fundamentalerer Wahrheiten bewiesen werden und so weiter. Am Ende standen die Logiker vor ein paar Kernaussagen, die so grundlegend wa-

ren, daß sie selbst nicht bewiesen werden konnten. Diese fundamentalen Annahmen sind die Axiome der Mathematik. Ein Beispiel für ein Axiom ist das Kommutativgesetz der Addition, welches einfach besagt, daß für beliebige Zahlen m und n gilt: m + n = n + m. Dieses und die Handvoll anderer Axiome gelten als selbstverständlich und können leicht überprüft werden, wenn man bestimmte Zahlen einsetzt. Bisher haben die Axiome jeden Test bestanden und werden als das Fundament der Mathematik betrachtet. Die Herausforderung für die Logiker bestand darin, die ganze Mathematik auf der Grundlage dieser Axiome neu aufzubauen. Die Axiome der Arithmetik sind in Anhang 8 aufgelistet, in dem auch näher erläutert wird, wie die Logiker das gesamte Gebäude der Mathematik darauf aufbauten. Eine ganze Legion von Logikern beteiligte sich an der langwierigen und mühseligen Arbeit, die überwältigend komplexe Mathematik in ihrer Gesamtheit auf der Grundlage einer möglichst kleinen Zahl von Axiomen neu zu errichten. Sinn dieses Unternehmens war es, das von den Mathematikern bereits als selbstverständlich vorausgesetzte Wissen abzusichern und dabei nur die strengsten logischen Standards zu verwenden. Der deutsche Mathematiker Hermann Weyl brachte die Stimmung der damaligen Zeit auf den Punkt: »Die Logik ist die Hygiene, die der Mathematiker praktiziert, um seine Gedanken gesund und stark zu erhalten.« Man wollte nicht nur das schon Bekannte »reinigen«, sondern hoffte, daß dieser Ansatz an den Fundamenten auch Licht auf bis dahin noch ungelöste Probleme werfen würde, darunter auch Fermats letzten Satz. An der Spitze des Unternehmens stand der bedeutendste Mathematiker der Epoche, David Hubert. Er glaubte, alles in der Mathematik könnte und sollte von den grundlegenden Axiomen her bewiesen werden. Im Erfolgsfall hätte man die beiden wichtigsten Bestandteile des mathematischen Systems endgültig gesichert. Erstens sollten die Mathematiker zumindest theoretisch in der Lage sein, jede einzelne Frage zu beantworten – daraus spricht derselbe

Ethos der Vollständigkeit, der in der Vergangenheit schon die Einführung neuer Zahlen wie der negativen und der imaginären verlangt hatte. Zweitens sollte die Mathematik frei sein von Widersprächen – das heißt, hätte man anhand einer Methode bewiesen, daß eine Aussage wahr ist, sollte es nicht möglich sein, anhand einer anderen zu zeigen, daß dieselbe Aussage falsch ist. Wenn man nur ein paar Axiome voraussetze, so lautete Huberts Überzeugung, würde es möglich sein, jede denkbare mathematische Frage ohne Angst vor Widersprüchen zu beantworten. Am 8.August 1900 hielt Hubert vor dem Internationalen Mathematikerkongreß in Paris einen Vortrag von historischem Rang. Er legte 23 ungelöste mathematische Probleme dar, deren Lösung er für besonders dringlich hielt. Manche stammten aus allgemeineren Bereichen der Mathematik, doch die meisten drehten sich um die logischen Grundlagen des Faches. Mit diesen Problemstellungen wollte Hubert die Aufmerksamkeit der Mathematikerwelt bündeln und ein Forschungsprogramm unterbreiten. Die mathematische Gemeinschaft sollte dafür begeistert werden, ihm bei der Verwirklichung seiner Vision eines mathematischen Systems zu helfen, das frei war von Zweifeln und Widersprächen – ein Gedanke, den er auch auf seinen Grabstein meißeln ließ: Wir müssen wissen, Wir werden wissen. Auch wenn er gelegentlich als erbitterter Rivale Huberts auftrat, war Gottlob Frege einer der führenden Köpfe im sogenannten Hilbertprogramm. Über ein Jahrzehnt lang widmete sich Frege der Ableitung Hunderter komplizierter Sätze aus den einfachen Axiomen, und sein Erfolg brachte ihn zu der Überzeugung, er sei auf bestem Wege, Huberts Traum in weiten Teilen zu verwirklichen. Einer der entscheidenden Durchbrüche Freges war die Definition der Zahl selbst. Was meinen wir zum Beispiel genau mit der Zahl 3? Um diese Frage zu beantworten, mußte Frege zunächst die »Dreiheit« definieren. »Dreiheit« ist die abstrakte Eigenschaft von Ansammlungen

oder Mengen, die drei Gegenstände enthalten. »Dreiheit« könnte zum Beispiel dazu dienen, um die Menge der blinden Mäuse in einem beliebten Kinderlied zu charakterisieren, und genausogut auch die Menge der Seiten eines Dreiecks. Frege stellte fest, daß es zahlreiche Mengen mit der Eigenschaft der »Dreiheit« gibt und definierte schließlich die »3« anhand des Mengenbegriffs. Er bestimmte eine neue Menge, die alle Mengen enthält, die »Dreiheit« aufweisen, und nannte diese neue Menge von Mengen »3«. So hat eine Menge also drei Elemente, dann und nur dann, wenn sie selbst Element der Menge »3« ist. Das mag uns als viel zu komplizierte Definition eines Begriffs vorkommen, den wir jeden Tag verwenden, doch Freges Beschreibung der »3« ist logisch streng und unanfechtbar und für Hilberts kompromißloses Programm auch unverzichtbar. Im Jahr 1902 schien Freges jahrelange Mühsal endlich Früchte zu tragen, denn er bereitete die Veröffentlichung der Grundgesetze der Arithmetik vor – eines gewaltigen, Maßstäbe setzenden zweibändigen Werkes, das neue Standards der Gewißheit in die Mathematik einführen sollte. Gleichzeitig machte der englische Logiker Bertrand Russell, der ebenfalls an Hilberts großem Forschungsprogramm arbeitete, eine verheerende Entdeckung. Obwohl er den rigorosen Vorgaben Hilberts gefolgt war, stieß er auf einen Widerspruch. Russell beschrieb seine Reaktion auf die erschreckende Einsicht, daß die Mathematik in sich widersprüchlich sein könnte: Zuerst nahm ich an, dieser Widerspruch werde leicht zu überwinden sein und es handle sich um einen belanglosen Denkfehler. Allmählich aber wurde mir klar, daß das nicht der Fall war... Das ganze zweite Halbjahr 1901 nahm ich an, die Lösung werde einfach sein, doch nach Ablauf dieser Zeit war ich zu dem Schluß gekommen, daß es sich um eine schwere Aufgabe handle... Ich nahm die Gewohnheit an, jede Nacht von elf bis eins auf der Gemeindewiese umherzuwandern, was mir die Gelegenheit gab, die drei verschiedenen Laute kennenzulernen, die die Ziegenmelker von sich geben (die meisten Leute kennen nur einen). Ich gab mir die größte Mühe, den Widerspruch zu lösen.

David Hubert

Bertrand Russel

Jeden Morgen setzte ich mich vor ein unbeschriebenes Blatt Papier. Den ganzen Tag über, nur kurz durch das Mittagessen unterbrochen, stierte ich auf den leeren Bogen. Oft war es am Abend noch ebenso leer. Vor dem Widerspruch gab es kein Entkommen. Russells Arbeit fügte dem Traum von einem mathematischen System ohne Zweifel, Widersprüche und Paradoxien unermeßlichen Schaden zu. Er schrieb an Frege, dessen Manuskript schon beim Drucker war. Der Brief machte Freges Lebenswerk praktisch zunichte, doch sein opus magnum veröffentlichte er trotz dieses tödlichen Schlags. In einer Nachbemerkung zum zweiten Band schrieb er: »Einem wissenschaftlichen Schriftsteller kann kaum etwas Unerwünschteres begegnen, als daß ihm nach Vollendung seiner Arbeit eine der Grundlagen seines Baues erschüttert wird. In diese Lage wurde ich durch einen Brief des Herrn Bertrand Russell versetzt, als der Druck dieses Bandes sich seinem Ende näherte.« Ironischerweise entstand Russells Widerspruch aus Freges hochgeschätzten Mengen oder Klassen. Viele Jahre später erinnerte sich Russell in Die Entwicklung meines Denkens an die Überlegungen, die seine Zweifel an Freges Arbeit entfachten: »Unter den Voraussetzungen, an denen ich bisher nie gezweifelt hatte, durfte man annehmen, daß es Klassen gibt, die ein Element von sich selbst sind, und solche, die kein Element von sich selbst sind. So ist z.B. die Klasse sämtlicher Teelöffel selber natürlich kein Teelöffel; aber die Klasse sämtlicher Dinge, die keine Teelöffel sind, ist ersichtlich selber eines von den Dingen, die keine Teelöffel sind.« Diese eigentümliche und dem Anschein nach harmlose Feststellung führte zu der katastrophalen Paradoxie. Russells Paradoxie wird häufig mit der Geschichte des gründlichen Bibliothekars erläutert. Eines Tages, während er zwischen den Regalen umhergeht, entdeckt der Bibliothekar eine Sammlung von Katalogen. Es gibt verschiedene Kataloge für Romane, Fachbücher, Lyrik und so weiter. Der Bibliothekar stellt fest, daß manche Kataloge sich selbst auflisten, während andere dies nicht tun. Um das System zu vereinfachen, stellt der Bibliothekar zwei

weitere Kataloge zusammen, wobei der eine die Kataloge auflistet, die sich selbst auflisten, der andere, und interessantere, die Kataloge, die sich nicht selbst auflisten. Nach getaner Arbeit stößt der Bibliothekar auf ein Problem: Sollte der Katalog, der alle Kataloge auflistet, die sich nicht selbst auflisten, sich selbst auflisten? Wenn ja, darf er per Definition nicht aufgelistet werden. Wenn er allerdings nicht aufgelistet wird, muß er per Definition aufgelistet werden. Der Bibliothekar steht vor einem unlösbaren Dilemma. Die Kataloge ähneln stark den Mengen oder Klassen, die Frege zur Definition der Zahlen verwendet. Der Widerspruch, der den Bibliothekar plagt, führt daher auch zu Problemen im vermeintlich logischen Aufbau der Mathematik. Die Mathematik kann keine Unverträglichkeiten, Paradoxien oder Widersprüche tolerieren. Der mächtige Beweis durch Widerspruch etwa gründet auf einer Mathematik, die frei ist von Paradoxien. Der Beweis durch Widerspruch behauptet, wenn eine Annahme zu einer absurden Aussage führe, müsse die Annahme falsch sein. Nach Russell jedoch können selbst die Axiome zu Widersprüchen führen. Daher könnte es sein, daß sich anhand eines Beweises durch Widerspruch eines der Axiome als falsch herausstellt, während eben diese Axiome doch die Fundamente der Mathematik bilden und allgemein als wahr anerkannt sind. Viele Wissenschaftler stellten Russells Arbeit in Frage und behaupteten, die Mathematik sei ein offensichtlich erfolgreiches und fehlerfreies Unternehmen. In seiner Antwort darauf erläuterte Russell die Bedeutung seiner Arbeit: »Nun«, könnten Sie sagen, »nichts davon erschüttert meine Überzeugung, daß 2 und 2 zusammen 4 ergibt.« Da haben Sie völlig recht, außer in Grenzfällen – und nur in Grenzfällen zweifeln Sie daran, ob ein bestimmtes Tier ein Hund ist oder eine bestimmte Länge weniger als ein Meter ist. Zwei müssen zwei von etwas sein, und die Aussage »2 und 2 ergibt 4« ist nutzlos, wenn sie nicht angewandt wird. Zwei Hunde und zwei Hunde sind gewiß vier Hunde, doch es gibt Fälle, in denen Sie zweifeln, ob zwei davon Hunde sind. »Nun, jedenfalls handelt es sich um

Tiere«, könnten Sie sagen. Doch es gibt Mikroorganismen, bei denen es zweifelhaft ist, ob sie Tiere oder Pflanzen sind. »Gut, dann eben lebende Organismen«, könnten Sie sagen. Doch es gibt Dinge, bei denen in Frage steht, ob sie leben oder nicht. Sie werden dann unweigerlich sagen: »Zwei Entitäten und zwei Entitäten sind vier Entitäten.« Wenn Sie mir erklären, was Sie mit »Entität« meinen, können wir die Diskussion fortsetzen. Russells Arbeit erschütterte die Grundfesten der Mathematik und stürzte die Forschungen zur mathematischen Logik in ein Chaos. Die Logiker waren sich darüber im klaren, daß eine Paradoxie, die irgendwo in den Fundamenten der Mathematik steckte, früher oder später ihren unlogischen Kopf recken und schwerwiegende Probleme hervorrufen könnte. Zusammen mit Hubert und den anderen Logikern nahm sich Russell vor, die Lage zu bereinigen und wieder Ruhe in die Mathematik zu bringen. Der von Russell entdeckte Widerspruch war eine direkte Folge der Arbeit mit den mathematischen Axiomen, die bis zu diesem Zeitpunkt als selbstverständlich und hinreichend für die Definition der ganzen übrigen Mathematik vorausgesetzt worden waren. Eine Lösungsmöglichkeit bestand darin, ein zusätzliches Axiom einzuführen und zu verbieten, daß eine Klasse sich selbst als Element enthält. Russells Paradoxie wäre dann vermieden, da die Frage entfällt, ob man den Katalog der Kataloge, die sich nicht selbst auflisten, in sich selbst aufnehmen muß. Russell arbeitete in den nächsten zehn Jahren an den Axiomen der Mathematik, dem eigentlichen Kern des Problems. Dann, im Jahr 1910, veröffentlichte er zusammen mit Alfred North Whitehead den ersten der drei Bände der Principia Mathematica – ein offenbar erfolgreicher Versuch, das durch Russells eigene Paradoxie geschaffene Problem teilweise zu lösen. In den darauffolgenden Zwei Jahrzehnten nutzten andere die Principia Mathematica als Anleitung für den Aufbau eines perfekten Gebäudes der Mathematik, und als Hubert 1930 emeritiert wurde, war er zuversichtlich, daß die Mathematik auf dem besten Wege sei, sich zu erholen. Sein Traum von einer konsistenten Logik, die mächtig genug war, um

alle mathematischen Fragen zu beantworten, sollte dem Anschein nach bald Wirklichkeit werden. Dann jedoch veröffentlichte im Jahr 1931 ein unbekannter, fünfundzwanzigjähriger Mathematiker einen Artikel, der Huberts Hoffnungen für immer zunichte machen sollte. Kurt Gödel zwang die Mathematiker zu der Einsicht, daß die Mathematik nie logisch vollkommen sein würde, und in seinen Arbeiten lag auch der Gedanke begründet, Probleme wie Fermats letzter Satz könnten sogar unlösbar sein. Kurt Gödel wurde am 28. April 1906 in Mähren geboren, damals Teil von Österreich-Ungarn, heute zur Tschechischen Republik gehörig. Schon von früher Kindheit an litt er unter schweren Krankheiten, die bedrohlichste davon ein rheumatisches Fieber im Alter von sechs Jahren. Aufgrund dieser frühen Bekanntschaft mit dem Tod entwickelte Gödel eine zwanghafte Hypochondrie, die er sein Leben lang nicht mehr los wurde. Nachdem er ein medizinisches Lehrbuch gelesen hatte, bildete sich bei ihm die fixe Idee, er habe ein schwaches Herz, obwohl seine Ärzte keine Hinweise dafür finden konnten. Später, gegen Ende seines Lebens, glaubte er irrtümlich, er werde vergiftet, weigerte sich zu essen und hungerte sich fast zu Tode. Schon als Kind zeigte Gödel eine Begabung für Naturwissenschaften und Mathematik, und sein forschendes Wesen brachte ihm in der Familie den Spitznamen »der Herr Warum« ein. Er ging an die Wiener Universität, unsicher, ob er sich auf Mathematik oder Physik spezialisieren sollte, doch eine voller Leidenschaft gehaltene Vorlesung von Professor P. Furtwängler regte Gödel an, sein Leben den Zahlen zu widmen. Die Vorlesungen waren um so außergewöhnlicher, als Furtwängler vom Hals ab gelähmt war und ohne Notizen vom Rollstuhl aus vortragen mußte, während sein Assistent an die Tafel schrieb. Mit Anfang Zwanzig hatte sich Gödel im Fachbereich Mathematik etabliert, doch zusammen mit den Kollegen schlenderte er gelegentlich den Korridor hinunter zu den Treffen des Wiener Kreises, einer Gruppe von Philosophen, die die großen Fragen der Logik diskutierten. In dieser Zeit entwickelte Gödel Vorstellungen,

die sich verheerend auf die Grundlagen der Mathematik auswirken sollten. Im Jahr 1931 veröffentlichte Gödel seinen Artikel Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme, der seine sogenannten Unvollständigkeitssätze enthält. Als die Kunde davon nach Amerika gelangte, stellte der große Mathematiker John von Neumann seine Vorlesungsreihe über das Hilbertprogramm sofort ein und setzte für die restliche Kurszeit eine Diskussion über Gödels revolutionäre Arbeit an. Gödel hatte bewiesen, daß der Versuch, ein vollständiges und widerspruchsfreies mathematisches System zu errichten, für immer zum Scheitern verurteilt ist. Seine Gedanken konnten in zwei Feststellungen zusammengefaßt werden. Erster Unvollständigkeitssatz Wenn die axiomatische Mengentheorie widerspruchsfrei ist, gibt es Sätze, die weder bewiesen noch widerlegt werden können. Zweiter Unvollständigkeitssatz Es gibt kein konstruktives Verfahren, mit dem zu beweisen wäre, daß die axiomatische Theorie widerspruchsfrei ist. Im Kern besagt Gödels erste Feststellung, daß es immer Fragen geben wird, die die Mathematik nicht beantworten kann, welche Menge von Axiomen auch immer verwendet wird – Vollständigkeit kann nie erreicht werden. Schlimmer noch, die zweite Feststellung besagt, die Mathematiker könnten sich nicht einmal sicher sein, daß ihre Axiomenwahl nicht zu Widersprüchen führt – die Widerspruchsfreiheit könne nie bewiesen werden. Gödel hatte gezeigt, daß das Hilbertprogramm ein unmögliches Unterfangen war. Jahrzehnte später, in Portraits from Memory, schilderte Bertrand Russell seine Reaktion auf Gödels Entdeckung: Ich wollte Gewißheit in der Art, wie die Menschen religiösen Glauben wollen. Ich dachte, Gewißheit sei eher in der Mathematik als anderswo zu finden. Doch ich entdeckte, daß viele ma-

Kurt Gödel

thematische Beweise, die ich nach den Erwartungen meiner Lehrer akzeptieren sollte, voller Fehlschlüsse steckten, und daß, sollte Gewißheit in der Mathematik tatsächlich zu erlangen sein, sie auf einem neuen Feld der Mathematik zu finden sein würde, das solidere Fundamente besaß als jene, die man bislang für sicher gehalten hatte. Doch im Laufe der Arbeit erinnerte ich mich immer wieder an die Fabel mit dem Elefanten und der Schildkröte. Ich hatte einen Elefanten geschaffen, der die mathematische Welt tragen sollte, doch nun fand ich ihn schwankend vor und machte mich daran, eine Schildkröte zu schaffen, um ihn am Fallen zu hindern. Doch die Schildkröte war nicht sicherer als der Elefant, und nach zwei Jahrzehnten mühseliger Arbeit kam ich zu dem Schluß, daß ich nichts weiter tun könne, um das mathematische Wissen unbezweifelbar zu machen. Obwohl Gödels zweite Feststellung besagt, es sei unmöglich, die Widerspruchsfreiheit der Axiome zu beweisen, heißt dies nicht notwendig, sie seien widersprüchlich. Viele Mathematiker glaubten im Grunde ihres Herzens immer noch, daß ihre Wissenschaft widerspruchsfrei bleiben würde, doch in ihren Köpfen konnten sie es nicht beweisen. Viele Jahre später meinte der große Zahlentheoretiker André Weil: »Gott existiert, weil die Mathematik konsistent ist, und der Teufel existiert, weil wir das nicht beweisen können.« Der Beweis von Gödels Unvollständigkeitssätzen ist immens kompliziert. Allein schon eine strengere Formulierung des zweiten Satzes müßte lauten: Zu jeder ω-widerspruchsfreien rekursiven Klasse χ von Formeln gibt es rekursive Klassenzeichen r, so daß weder ν Gen r noch Neg (ν Gen r) zu Flg (χ) gehört. (Wobei ν die freie Variable aus r ist). Glücklicherweise kann Gödels zweiter Satz, ähnlich wie Russells Paradoxie anhand der Bibliothekarsanekdote, mit einer logischen Analogie veranschaulicht werden, die auf Epimenides zurückgeht

und als kretische oder Lügnerparadoxie bekannt ist. Epimenides war ein Kreter, der den Satz ausrief: »Ich bin ein Lügner!« Die Paradoxie wird deutlich, wenn wir zu bestimmen versuchen, ob diese Aussage wahr oder falsch ist. Sehen wir zunächst, was passiert, wenn wir annehmen, daß die Feststellung wahr ist. Dies bedeutet, daß Epimenides ein Lügner ist, doch sind wir ja davon ausgegangen, daß er einen wahren Satz gesagt hat, und deshalb ist er kein Lügner. Schauen wir nun, was geschieht, wenn wir annehmen, daß die Aussage falsch ist. Das hieße, Epimenides ist kein Lügner, doch haben wir vorausgesetzt, daß er eine falsche Aussage traf, und deshalb ist Epimenides ein Lügner – wir haben einen weiteren Widerspruch. Ob wir nun annehmen, daß die Aussage wahr oder falsch ist, wir stoßen in jedem Fall auf einen Widerspruch, und deshalb ist die Aussage weder wahr noch falsch. Gödel interpretierte die Lügnerparadoxie neu und führte den Begriff des Beweises ein. Das Ergebnis war eine Aussage über sich selbst, die etwa so lauten könnte: Diese Aussage kann nicht bewiesen werden. Wenn die Aussage falsch wäre, dann wäre sie beweisbar, doch dies würde ihr selbst widersprechen. Um den Widerspruch zu vermeiden, muß die Aussage daher wahr sein. Allerdings kann sie, obwohl sie wahr ist, nicht bewiesen werden, weil die Aussage (von der wir wissen, daß sie wahr ist) eben dies feststellt. Gödel konnte die obige Aussage in die Sprache der Mathematik übersetzen und damit zeigen, daß es in der Mathematik Aussagen gibt, die wahr sind, aber nie bewiesen werden können: die sogenannten unentscheidbaren Sätze. Das war der Todesstoß für das Hilbertprogramm. Gödels Arbeiten hatten viele Züge mit ähnlichen Entdeckungen in der Quantenphysik gemein. Nur vier Jahre bevor Gödel seinen Artikel zur Unentscheidbarkeit veröffentlichte, entdeckte der deutsche Physiker Werner Heisenberg die Unschärferelation. Wie es in der Mathematik eine prinzipielle Grenze für die Beweisbar-

keit von Sätzen gibt, gibt es nach Heisenberg auch in der Physik eine prinzipielle Grenze für die Meßbarkeit bestimmter Eigenschaften. Wollen die Physiker zum Beispiel die genaue Position eines Gegenstands bestimmen, können sie dessen Geschwindigkeit nur mit relativ geringer Genauigkeit bestimmen. Um nämlich die Position des Gegenstands zu messen, müßte man ihn mit Lichtphotonen beleuchten, und um seine Position exakt zu bestimmen, müßten die Photonen mit hoher Energie versehen sein. Wird der Gegenstand allerdings mit solchen Photonen beschossen, ändert sich seine Geschwindigkeit und wird an und für sich unbestimmbar. Würden die Physiker die Position eines Gegenstands bestimmen wollen, müßten sie ihr Wissen um seine Geschwindigkeit daher zum Teil aufgeben. Heisenbergs Unschärferelation kommt nur in atomaren Dimensionen zur Geltung, dort, wo die Hochpräzisionsmessungen entscheidend sind. Ein Großteil der Physik konnte daher, während die Quantenphysiker sich mit tiefgreifenden Fragen über die Grenzen des Wissens befaßten, ungerührt weiterbetrieben werden. Dasselbe geschah in der Welt der Mathematik. Während die Logiker sich höchst esoterisch anmutende Debatten über Unentscheidbarkeit lieferten, arbeitete der Rest der mathematischen Gemeinschaft ungerührt weiter. Zwar hatte Gödel bewiesen, daß es einige Aussagen gab, die nicht bewiesen werden konnten, doch gab es genug, bei denen man es konnte, und seine Entdeckung entwertete nichts, was in der Vergangenheit bewiesen worden war. Außerdem glaubten viele Mathematiker, daß Gödels unentscheidbare Sätze nur in den dunkelsten und fernsten Gebieten der Mathematik zu finden seien und man daher vielleicht nie auf sie stoßen würde. Schließlich hatte Gödel nur behauptet, daß diese Sätze existierten; einen bestimmten konnte er nicht herzeigen. Doch dann, im Jahr 1963, wurde Gödels theoretischer Alptraum greifbare Wirklichkeit. Paul Cohen, ein neunundzwanzigjähriger Mathematiker an der Universität Stanford, entwickelte ein Verfahren, mit dem sich feststellen läßt, ob eine bestimmte Frage unentscheidbar ist oder nicht. Das Verfahren funktioniert nur bei wenigen Sonderfällen, dennoch fand er als erster bestimmte Fragen, die tatsächlich unentscheidbar

sind. Nach seiner Entdeckung flog er, den Beweis in der Hand, sofort nach Princeton, um ihn von Gödel persönlich absegnen zu lassen. Gödel, der damals zunehmend unter Verfolgungswahn litt, schnappte sich die Papiere und schlug die Tür wieder zu. Zwei Tage später erhielt Cohen eine Einladung zum Tee bei Gödel, ein Zeichen, daß der Meister den Beweis mit dem Siegel seiner Anerkennung versehen hatte. Besonders dramatisch war, daß einige der unentscheidbaren Fragen eine zentrale Rolle in der Mathematik spielten. Ironischerweise hatte Cohen bewiesen, daß eines der von David Hilbert benannten wichtigen Probleme der Mathematik, die Kontinuumshypothese, unentscheidbar war. Gödels Werk, untermauert durch die unentscheidbaren Sätze Cohens, war eine beunruhigende Neuigkeit für all jene Mathematiker, ob Professionelle oder Amateure, die auch weiterhin versuchten, Fermats letzten Satz zu beweisen – vielleicht war er ja unentscheidbar! Was, wenn Pierre de Fermat ein Fehler unterlaufen war, als er behauptete, einen Beweis gefunden zu haben? Sollte diese Ahnung zutreffen, war es durchaus möglich, daß der letzte Satz unentscheidbar war. Ihn zu beweisen war vielleicht nicht nur schwierig, sondern völlig unmöglich. Wenn Fermats letzter Satz unentscheidbar war, dann hätte die Mathematik Jahrhunderte mit der Suche nach einem Beweis verbracht, der nicht existierte. Wenn Fermats letzter Satz unentscheidbar war, so stellte sich merkwürdigerweise heraus, hieß dies zugleich, daß er zutraf. Der Grund dafür ist folgender. Die Fermatsche Vermutung besagt, daß es keine ganzzahligen Lösungen gibt für die Gleichung xn + yn = z n

mit n größer als 2.

Sollte dieser Satz tatsächlich falsch sein, dann wäre es möglich, dies zu beweisen, indem man eine Lösung (ein Gegenbeispiel) ausfindig macht. Der Satz wäre also entscheidbar. Unwahr sein ist nicht vereinbar mit unentscheidbar sein. Sollte Fermats letzter Satz jedoch wahr sein, dann gab es nicht unbedingt einen gleichermaßen einfachen Weg, ihn zu beweisen, und das hieß, er konnte unentscheidbar sein. Kurz gesagt, Fermats letzter Satz konnte wahr sein, ohne je beweisbar zu sein.

Unwiderstehliche Neugier Pierre de Fermats beiläufige Randnotiz in Diophantos’ Arithmetica war zum haarsträubendsten Rätsel der Mathematikgeschichte geworden. Auch nach drei Jahrhunderten des ruhmreichen Scheiterns und Gödels Fingerzeig, man sei womöglich hinter einem nichtexistenten Beweis her, verblieben einige Mathematiker im Bannkreis des Problems. Fermats letzter Satz war eine mathematische Sirene, die Genies anlockte, um ihre Hoffnungen dann zunichte zu machen. Jeder Mathematiker, der sich auf die Fermatsche Vermutung einließ, lief Gefahr, sein Berufsleben zu verschwenden. Doch wer immer auch den entscheidenden Durchbruch erzwingen sollte, würde in die Geschichte eingehen als der Mensch, der das schwierigste Problem der Welt gelöst hatte. Ganze Generationen von Mathematikern waren von Fermats letztem Satz besessen, und dies aus zwei Gründen. Eine Rolle spielte erstens der unbarmherzige Wille, einfach besser zu sein. Der letzte Satz war die schwerste Prüfung, und jeder, der ihn beweisen konnte, hätte dort gesiegt, wo Cauchy, Euler, Kummer und zahllose andere gescheitert waren. Ebenso wie es Fermat selbst großes Vergnügen bereitet hatte, Probleme zu lösen, vor denen seine Zeitgenossen klein beigeben mußten, so würde jeder, der seinen letzten Satz beweisen konnte, sich darüber freuen, ein Problem gelöst zu haben, das die ganze Mathematikergemeinde über Hunderte von Jahren in Verwirrung gestürzt hatte. Zweitens würde jeder, der Fermats Herausforderung standhielt, das unschuldige Glück genießen, ein Rätsel gelöst zu haben. Die Befriedigung, die mit der Lösung esoterischer Fragen der Zahlentheorie einhergeht, ist durchaus vergleichbar mit der schlichten Freude, eine der trivialen Knobeleien Sam Loyds geknackt zu haben. Ein Mathematiker sagte mir einmal, der Genuß, den ihm die Lösung mathematischer Probleme bereite, sei dem der Kreuzworträtsel-Süchtigen verwandt. Das letzte Wort eines besonders schweren Kreuzworträtsels einzutragen ist immer mit einem Gefühl der Befriedigung verbunden, doch man stelle sich das Triumphgefühl vor, welches

sich einstellt, wenn man sich jahrelang mit einem Rätsel herumgeschlagen hat, das noch kein Mensch gelöst hat, und dann die Lösung findet. Das sind die Gründe, warum Andrew Wiles in den Bann Fermats geriet: »Die reinen Mathematiker lieben einfach die Herausforderung. Sie lieben ungelöste Probleme. Wenn sie sich mit Mathe befassen, haben sie dieses herrliche Gefühl. Du fängst mit einem Problem an, das dir ein vollkommenes Rätsel ist. Du kannst es nicht verstehen, es ist so kompliziert, du wirst einfach nicht schlau daraus. Doch wenn du es schließlich löst, hast du dieses sagenhafte Gefühl, wie schön das ist, wie alles so elegant zusammenpaßt. Am Trügerischsten sind die Probleme, die einfach aussehen und sich dann als höchst vertrackt erweisen. Das beste Beispiel dafür ist Fermat. Es sah so aus, als müsse es eine Lösung haben, und dann ist es natürlich etwas ganz Besonderes, weil Fermat behauptete, er habe eine Lösung.« Die Mathematik findet zwar ihre Anwendung in Wissenschaft und Technik, doch die Mathematiker treibt etwas ganz anderes. Was sie inspiriert, ist das Vergnügen an der Entdeckung. In seinem Buch A Mathematician’s Apology versuchte G. H. Hardy, seine Laufbahn zu erklären und zu rechtfertigen: Dazu will ich nur eines sagen. Wenn ein Schachproblem im groben Sinne »nutzlos« ist, dann gilt dies auch für den Großteil der besten Mathematik... Ich habe nie etwas »Nützliches« getan. Keine meiner Entdeckungen hat, direkt oder indirekt, zum Guten oder zum Schlechten, die Annehmlichkeit der Welt auch nur im geringsten verändert und wird dies wohl auch nicht tun. Gemessen an allen praktischen Kriterien ist der Wert meines Mathematikerlebens gleich null; und außerhalb der Mathematik ist es ohnehin belanglos. Ich habe nur eine Chance, dem Urteil völliger Belanglosigkeit zu entkommen, nämlich wenn es heißt, ich hätte etwas geschaffen, das schaffenswert war. Und daß ich etwas geschaffen habe, ist unbestreitbar: in Frage steht nur dessen Wert.

Die Sehnsucht, ein mathematisches Problem zu lösen, wird vor allem durch die Neugier befeuert, und die Belohnung ist die schlichte, aber überwältigende Befriedigung, die aus der Lösung jedes Rätsels entspringt. Der Mathematiker E. C. Titchmarsh hat einmal gesagt: »Zu wissen, daß π irrational ist, kann praktisch nicht von Nutzen sein, doch wenn wir es wissen können, wäre es sicher unerträglich, es nicht zu wissen.« Im Falle der Fermatschen Vermutung mangelte es nicht an Neugier. Gödel hatte mit seinen Arbeiten zur Unentscheidbarkeit ein Element des Zweifels ins Spiel gebracht, ob das Problem überhaupt lösbar sei, doch das reichte nicht aus, um den wahren Fermat-Fanatiker zu entmutigen. Da war die Tatsache schon ernüchternder, daß die Mathematiker in den dreißiger Jahren all ihre Techniken erschöpft und kaum noch etwas in petto hatten. Nötig war ein neues Werkzeug, etwas, das die Moral der Mathematiker heben würde. Der Zweite Weltkrieg sollte genau dies bringen – den größten Sprung in der Rechenkapazität seit Erfindung des Rechenschiebers.

Mit roher Gewalt Als G. H. Hardy 1940 erklärte, die beste Mathematik sei weitgehend nutzlos, fügte er rasch hinzu, das sei nicht unbedingt schlecht: »Wirkliche Mathematik spielt für den Krieg keine Rolle. Bislang hat niemand einen kriegerischen Nutzen der Zahlentheorie entdeckt.« Hardy sollte bald eines Besseren belehrt werden. Im Jahr 1944 schrieb John von Neumann zusammen mit einem Kollegen das Buch Spieltheorie und wirtschaftliches Verhaken, in dem er den Begriff der Spieltheorie einführte. Sie war von Neumanns Versuch, die Struktur von Spielen sowie die Art und Weise, wie Menschen in Spielen entscheiden, mathematisch zu beschreiben. Am Anfang stand die Untersuchung von Schach und Poker, dann wandte er sich dem Versuch zu, höherstufige Spiele wie etwa die Wirtschaft in Modellen abzubilden. Nach dem Zweiten Weltkrieg erkannte die RAND-Corporation das Potential der Ideen

von Neumann und heuerte ihn an. Seine Aufgabe war es, an der Entwicklung von Strategien für den Kalten Krieg zu arbeiten. Die mathematische Spieltheorie wurde nun zu einem unverzichtbaren Werkzeug für Generäle, das es erlaubte, Schlachten als komplexe Schachspiele zu behandeln. Diese Anwendung der Spieltheorie läßt sich auf einfache Weise mit der Geschichte eines Triells verdeutlichen. Ein Triell ist im wesentlichen ein Duell mit drei statt zwei Beteiligten. Eines Morgens beschließen Herr Schwarz, Herr Grau und Herr Weiß, einen Streit durch ein Pistolentriell zu beenden, bei dem am Ende nur einer überleben wird. Herr Schwarz ist der schlechteste Schütze, denn er trifft sein Ziel durchschnittlich nur einmal in drei Versuchen. Herr Grau schießt schon besser, bei drei Versuchen trifft er zweimal. Herr Weiß ist der beste Schütze, er trifft immer. Um das Triell fairer zu gestalten, darf Herr Schwarz als erster schießen, danach Herr Grau (wenn er noch lebt), dann Herr Weiß (wenn er noch lebt). Schließlich beginnt das Ganze von vorne, bis nur noch einer von ihnen am Leben ist. Die Frage lautet nun: »Wo sollte Herr Schwarz beim erstenmal hinzielen?« Man kann sich hier auf die Intuition verlassen, besser jedoch auf die Spieltheorie. Die Antwort wird in Anhang 9 erörtert. Noch einflußreicher im Krieg als die Spieltheorie ist die Mathematik der Code-Entschlüsselung. Während des Zweiten Weltkriegs erkannten die Alliierten, daß die mathematische Logik theoretisch auch für die Entschlüsselung deutscher Funkmeldungen zu gebrauchen wäre, wenn die Berechnungen nur schnell genug vonstatten gingen. Die Herausforderung bestand darin, ein Verfahren zur Automatisierung der Mathematik zu finden, so daß eine Maschine die Rechnungen ausführen konnte. Den größten Beitrag zu diesem Unternehmen der Code-Entschlüsselung leistete der Engländer Alan Turing. Turing kehrte 1938 nach einem Aufenthalt in Princeton nach Cambridge zurück. Die von Gödels Unvollständigkeitssätzen gestiftete Verwirrung hatte er selbst noch miterlebt, und er hatte sich an die Aufgabe gemacht, die Scherben von Huberts Traum aufzulesen. Vor allem wollte er wissen, ob es eine Möglichkeit gab zu be-

Alan Turing

stimmen, welche Fragen entscheidbar waren und welche nicht, und er versuchte, eine Methode dafür zu entwickeln. Damals waren die Rechengeräte noch primitiv und im Grunde nutzlos, wenn es an ernsthafte Mathematik ging, und so gründete Turing seine Vorstellungen auf eine imaginäre Maschine mit unendlicher Rechenkapazität. Diese hypothetische Maschine, die unendlich lange Lochpapierstreifen verbrauchte und eine Ewigkeit rechnen konnte, war alles, was er brauchte, um seinen abstrakten logischen Fragen nachzugehen. Turing wußte damals noch nicht, daß seine Phantasievorstellung von einer mechanischen Beantwortung theoretischer Fragen schließlich zu einem Durchbruch hin zu wirklichen Rechnungen auf wirklichen Maschinen führen würde. Trotz des Kriegsausbruchs setzte Turing seine Forschungen als Fellow des King’s College in Cambridge fort, bis seinem genügsamen Dozentenleben am 4. September 1940 plötzlich ein Ende bereitet wurde. Die britische Regierung beorderte ihn in ihre Code and Cypher School. Deren Aufgabe war es, die chiffrierten Nachrichten des Feindes zu entschlüsseln. Im Vorfeld des Krieges hatten die Deutschen beträchtliche Mühe darauf verwendet, ein überlegenes Verschlüsselungssystem zu entwickeln, zur großen Besorgnis des britischen Geheimdienstes, der in der Vergangenheit den Nachrichtenverkehr des Gegners relativ leicht hatte entschlüsseln können. In der von der britischen Regierung herausgegebenen offiziellen Geschichte der britischen Geheimdienste im Zweiten Weltkrieg (British Intelligence in the Second World War) heißt es zum Spielstand in den dreißiger Jahren: Im Jahr 1937 galt als gesicherte Erkenntnis, daß im Gegensatz zu ihren japanischen und italienischen Pendants das deutsche Heer, die deutsche Marine und vermutlich die Luftwaffe – gemeinsam mit anderen staatlichen Organisationen wie den Eisenbahnen und der SS – für den gesamten Nachrichtenverkehr mit Ausnahme des taktischen verschiedene Varianten desselben Chiffriersystems einsetzten: die Enigma-Maschine, die in den zwanziger Jahren auf den Markt gekommen, deren Sicherheit jedoch von den Deutschen durch ständige Umbauten erhöht worden war.

1937 konnte die Code and Cypher School der Regierung das weniger veränderte und abgesicherte Modell dieser Maschine entschlüsseln, das die Deutschen, die Italiener und die nationalistischen Streitkräfte Spaniens einsetzten. Doch abgesehen davon war die Enigma immer noch angriffssicher, und es hatte den Anschein, daß dies auch künftig der Fall sein würde. Die Enigma bestand aus einer Tastatur, die mit einer Verschlüsselungseinheit verbunden war. Diese enthielt drei separate Rotoren, deren Positionen bestimmten, wie jeder auf der Tastatur eingegebene Buchstabe chiffriert wurde. Was es so schwierig machte, den Enigma-Schlüssel zu knacken, war die gewaltige Zahl unterschiedlicher Möglichkeiten, die Maschine einzustellen. Zunächst wurden die drei Rotoren aus einem Grundstock von fünf ausgewählt, die ausgewechselt und untereinander vertauscht werden konnten, um die Codebrecher zu verwirren. Zweitens konnte jeder Rotor in 26 verschiedenen Positionen angebracht werden. Das heißt, die Maschine konnte auf über eine Million verschiedene Weisen eingestellt werden. Daneben konnten die Steckfelder auf der Rückseite der Enigma von Hand ausgetauscht werden, so daß sich insgesamt über 150 Millionen Millionen Millionen mögliche Zustände ergaben. Um die Sicherheit noch weiter zu erhöhen, änderten die drei Rotoren ständig ihre Richtung, so daß sich jedesmal, wenn ein Buchstabe übermittelt wurde, die Konfiguration der Maschine und damit die Verschlüsselung für den nächsten Buchstaben änderte. Wenn man etwa »DODO« tippte, konnte die verschlüsselte Nachricht »FGTB« herauskommen – das »D« und das »O« wurden jeweils zweimal gesendet, doch jedesmal unterschiedlich verschlüsselt. Das deutsche Heer, die Marine und die Luftwaffe wurden mit Enigma-Maschinen ausgestattet, und selbst die Eisenbahnen und weitere staatliche Dienststellen hatten sie in Betrieb. Wie bei allen Codierungssystemen der damaligen Zeit war der Schwachpunkt der Enigma, daß der Empfänger die Enigma-Konfiguration des Senders kennen mußte. Um die Sicherheit zu gewährleisten, mußten diese Einstellungen täglich geändert werden. Eine Möglichkeit der Sender, die Einstellungen regelmäßig zu ändern und die Emp-

fänger auf dem laufenden zu halten, besteht darin, alle Tageseinstellungen in einem geheimen Schlüsselbuch festzuhalten. Allerdings lief man dabei Gefahr, daß die Briten, sollten sie ein U-Boot kapern, auch das Schlüsselbuch in die Hände bekommen würden, das alle Tageseinstellungen für den folgenden Monat enthielt. Das andere Verfahren, das man dann im Krieg einsetzte, war, die jeweilige Tageseinstellung in einem Vorspann zur eigentlichen Nachricht zu übertragen, verschlüsselt mit der Einstellung des Vortags. Bei Kriegsausbruch war die britische Cypher School noch von Altphilologen und Linguisten beherrscht. Das Außenministerium erkannte jedoch bald, daß Zahlentheoretiker bessere Chancen hatten, die deutschen Codes zu entschlüsseln. Daher brachte man zunächst neun der brillantesten Zahlentheoretiker des Landes am neuen Sitz der Cypher School in Bletchley Park zusammen, einem viktorianischen Herrenhaus in Buckinghamshire. Turing mußte seine hypothetischen Maschinen mit den unendlich langen Lochpapierstreifen und unbegrenzter Rechenzeit aufgeben und unter sehr realem Zeitdruck und mit endlichen Ressourcen ein praktisches Problem in Angriff nehmen. Die Kryptologie ist ein geistiger Kampf zwischen dem Verschlüßler und dem Entschlüßler. Die Herausforderung für den Verschlüßler besteht darin, eine ausgehende Nachricht so weit zu zerhacken und zu vermischen, daß sie, falls der Gegner sie abhört, unentschlüsselbar ist. Der möglichen mathematischen Bearbeitung sind jedoch Grenzen gesetzt, da die Nachricht schnell und effizient übermittelt werden muß. Die Stärke des deutschen Enigma-Schlüssels war, daß die Nachricht mit hoher Geschwindigkeit mehrere Stufen der Verschlüsselung durchlief. Die Herausforderung für den Codebrecher bestand darin, eine abgehörte Nachricht zu entschlüsseln, solange der Inhalt der Mitteilung noch von Bedeutung war. Ein deutscher Funkspruch mit dem Befehl, ein britisches Schiff anzugreifen, mußte entschlüsselt werden, bevor das Schiff versenkt war. Turing leitete eine Arbeitsgruppe von Mathematikern, die versuchten, spiegelbildliche Modelle der Enigma-Maschine herzustellen. Turing nutzte seine vor dem Krieg entwickelten abstrakten Ideen für diese Geräte, die theoretisch alle möglichen Enigma-Ein-

Stellungen systematisch durcharbeiten konnten, bis der Schlüssel geknackt war. Die britischen Maschinen, über zwei Meter breit und hoch, waren für diese Aufgabe mit elektromagnetischen Relais ausgestattet. Weil diese Relais dauernd tickten, nannte man die Maschinen Bomben. Trotz ihrer Schnelligkeit konnten die Bomben in einem halbwegs annehmbaren Zeitraum unmöglich jede einzelne der 150 Millionen Millionen Millionen möglichen Enigma-Einstellungen durchprüfen. Turings Leute mußten also versuchen, die Zahl der möglichen Permutationen auf irgendeine Weise entscheidend zu verringern, indem sie aus dem Nachrichtenverkehr alle Informationen zusammentrugen, die sie bekommen konnten. Einer der größten Durchbrüche der Briten war die Erkenntnis, daß die Enigma nie einen Buchstaben in sich selbst verschlüsseln konnte. Wenn also ein Chiffreur »R« eintippte, konnte die Maschine je nach Einstellung potentiell jeden Buchstaben abschicken, mit Ausnahme von »R«. Diese auf den ersten Blick harmlose Tatsache war alles, was man brauchte, um die notwendige Dechiffrierzeit drastisch zu verkürzen. Die Deutschen schlugen zurück, indem sie die Länge der verschickten Nachrichten begrenzten. Alle Nachrichten enthalten unweigerlich Hinweise für die Codebrecher, je länger die Nachricht, desto mehr. Die Deutschen begrenzten die Länge der Nachrichten auf maximal 250 Buchstaben und hofften, so den Mangel auszugleichen, daß bei der Enigma Klarbuchstabe und Geheimbuchstabe nicht zusammenfallen konnten. Um die Codes zu knacken, versuchte Turing häufig, Schlüsselwörter in den Nachrichten zu erraten. Lag er richtig, konnte er die Entschlüsselung der restlichen Mitteilung enorm beschleunigen. Wenn die Codebrecher zum Beispiel vermuteten, daß die verschlüsselte Meldung, wie häufig der Fall, einen Wetterbericht enthielt, dann nahmen sie an, daß in der Meldung Wörter wie »Nebel« oder »Windgeschwindigkeit« vorkamen. Wenn sie recht hatten, konnten sie die Nachricht rasch entschlüsseln und daraus auch die Enigma-Einstellungen für den Tag ableiten. Wenn es mit dem Wetterbericht nicht gelang, versuchten sich die Briten in die Lage des Enigma-Benutzers zu versetzen, um andere Wörter zu erraten. War dieser nachlässig, würde er den Empfänger

vielleicht mit dem Vornamen anreden oder persönliche Eigenarten entwickelt haben, die die Codebrecher kannten. Wenn das alles nichts half und die deutschen Nachrichtenströme unentschlüsselt blieben, soll die Cypher School angeblich sogar die britische Luftwaffe gebeten haben, einen bestimmten deutschen Hafen zu verminen. Der deutsche Hafenmeister pflegte in diesem Fall sofort eine verschlüsselte Meldung zu funken, die die Briten abhörten. Die Codebrecher konnten dann sicher sein, daß Wörter wie »Mine«, »vermeiden« und »Koordinaten« in der Meldung enthalten waren. Nach ihrer Entschlüsselung besaß Turing die Enigma-Einstellungen des Tages, und alle weiteren deutschen Meldungen konnten ebenfalls dechiffriert werden. Am 1. Februar 1942 fügten die Deutschen den für besonders geheime Informationen vorgesehenen Enigma-Maschinen einen vierten Rotor hinzu. Das war die größte Steigerung des Verschlüsselungsniveaus während des Krieges, doch Turings Leute schlugen zurück und verbesserten die Effizienz der Bomben. Dank der Cypher School wußten die Alliierten mehr über den Feind, als die Deutschen jemals hätten argwöhnen können. Die Wirkung der deutschen U-Boote im Atlantik wurde stark geschmälert, und die Briten wußten im voraus von den Angriffen der Luftwaffe. Die Codebrecher entschlüsselten auch die genauen Positionen der deutschen Versorgungsschiffe, so daß man britische Zerstörer hinausschicken konnte, um sie zu versenken. Die alliierten Streitkräfte mußten zu jedem Zeitpunkt darauf achten, daß ihre Ausweichtaktiken und Überraschungsangriffe nicht ihre Fähigkeit verriet, den deutschen Nachrichtenverkehr zu dechiffrieren. Sollten die Deutschen argwöhnen, daß die Enigma entschlüsselt worden war, würden sie ihr Chiffrierniveau anheben, und die Briten mußten womöglich von vorn anfangen. Daher kam es vor, daß die Cypher School die Alliierten von einem bevorstehenden Angriff unterrichtete, diese jedoch beschlossen, keine auffälligen Gegenmaßnahmen zu treffen. Gerüchten zufolge wußte Churchill sogar, daß Coventry das Ziel eines verheerenden Angriffs war, doch habe er beschlossen, keine besonderen Schutzmaßnahmen zu ergreifen, um die Deutschen nicht mißtrauisch zu ma-

chen. Stuart Milner-Barry, der mit Turing zusammenarbeitete, bestreitet die Wahrheit dieses Gerüchts und sagt, der betreffende Funkspruch zu Coventry sei erst geknackt worden, als es zu spät war. Die Zurückhaltung beim Gebrauch der entschlüsselten Informationen zahlte sich glänzend aus. Selbst als die Briten dank der abgehörten Funkmeldungen den Deutschen schwere Verluste beibrachten, schöpften diese nicht den Verdacht, der Enigma-Code sei geknackt worden. Sie glaubten, ihr Verschlüsselungsniveau sei so hoch, daß es absolut unmöglich wäre, die Codes zu brechen. Ihre außergewöhnlich hohen Verluste erklärten sie statt dessen mit der Vermutung, der britische Geheimdienst habe die eigenen Reihen infiltriert. Wegen der Geheimhaltung, unter der die Arbeit Turings und seiner Gruppe in Bletchley stand, konnte ihr überwältigender Beitrag zur Kriegsführung nie öffentlich anerkannt werden, auch nicht viele Jahre nach Kriegsende. Es hieß einmal, der Erste Weltkrieg sei der Krieg der Chemiker, der Zweite Weltkrieg der Krieg der Physiker gewesen. Tatsächlich läßt sich aufgrund der in den letzten Jahrzehnten freigegebenen Informationen durchaus behaupten, daß der Zweite Weltkrieg auch der Krieg der Mathematiker war – und in einem dritten Weltkrieg wäre ihr Beitrag noch entscheidender. Während der Laufbahn als Codebrecher verlor Turing nie seine eigentlichen mathematischen Ziele aus den Augen. An die Stelle der hypothetischen Maschinen waren wirkliche getreten, doch er beschäftigte sich immer noch mit seinen esoterischen Fragen. Gegen Ende des Krieges half Turing beim Bau von »Colossus«, einer durchgängig elektronischen Maschine aus 1 500 Röhren, die viel schneller waren als die elektromechanischen Relais in den Bomben. Colossus war ein Computer im modernen Sinne, dessen besonders hohe Geschwindigkeit und technische Reife Turing an ein einfaches Gehirn denken ließ – er hatte einen Gedächtnisspeicher, er konnte Informationen verarbeiten, und die Zustände des Computers ähnelten den Zuständen des Gehirns. Turing hatte seine imaginäre Maschine in den ersten wirklichen Computer verwandelt. Nach Kriegsende baute Turing immer komplexere Maschinen,

etwa die Automatic Computing Engine (ACE). 1948 ging er an die Universität Manchester und baute den ersten Computer der Welt mit elektronisch gespeichertem Programm. Großbritannien hatte Turing die fortgeschrittensten Computer der Welt zu verdanken, doch deren erstaunlichste Berechnungen sollte er nicht mehr erleben. In den Nachkriegsjahren wurde Turing vom britischen Geheimdienst überwacht. Man wußte, daß er Homosexueller war und befürchtete, daß der Mann, der mehr über die britischen Sicherheitscodes wußte als jeder andere, erpreßbar sein könnte. Daher beschloß man, ihn auf Schritt und Tritt zu überwachen. Turing hatte sich mit der dauernden Überwachung schon weitgehend abgefunden, als er 1952 wegen Übertretung der Sittlichkeitsgesetze als Homosexueller verhaftet wurde. Diese Demütigung machte ihm das Leben unerträglich. Andrew Hodges, Turings Biograph, schildert die Ereignisse, die zu seinem Tod führten: Alan Turings Tod war ein Schock für diejenigen, die ihn kannten... Daß er ein unglücklicher Mensch voll von Spannungen war; daß er einen Psychiater konsultierte und einen Schlag erlitten hatte, der viele Leute gefällt hätte – all dies war klar. Aber der Prozeß lag schon zwei Jahre zurück, die Hormonbehandlung war vor einem Jahr zu Ende gegangen, und er schien sich über alles hinweggehoben zu haben. Bei der gerichtlichen Untersuchung am 10. Juni 1954 wurde festgestellt, daß es Selbstmord war... Er war... ordentlich im Bett liegend vorgefunden worden. Er hatte Schaum rund um den Mund, und der Pathologe, der an jenem Abend die Autopsie machte, hatte keine Schwierigkeiten, als Todesursache Zyanid-Vergiftung festzustellen... Im Haus befand sich ein Gefäß mit Kaliumzyanid und auch ein Marmeladenglas mit Zyanidlösung. Neben seinem Bett lag ein halber Apfel, von dem einige Bissen genommen worden waren. Sie analysierten den Apfel nicht, und so wurde nie wirklich festgestellt, ob der Apfel, was vollkommen offensichtlich erschien, in das Zyanid getaucht worden war.

Turings Vermächtnis war eine Maschine, die in ein paar Stunden Rechnungen durchführen konnte, für die ein Mensch viel zu lange gebraucht hätte. Die heutigen Computer führen im Bruchteil einer Sekunde mehr Berechnungen durch als Fermat in seinem ganzen Leben. Die Mathematiker, die sich immer noch mit der Fermatschen Vermutung herumschlugen, begannen nun Computer einzusetzen, in denen sie Programme ablaufen ließen, die auf Kummers Ansatz aus dem neunzehnten Jahrhundert beruhten. Kummer hatte einen Fehler in den Arbeiten von Cauchy und Lame entdeckt und gezeigt, daß zum Beweis von Fermats letztem Satz nur noch die Fälle erledigt werden mußten, bei denen n eine irreguläre Primzahl ist – für den Wertebereich bis 100 waren dies nur die 37, die 59 und die 67. Gleichzeitig wies Kummer nach, daß man theoretisch alle irregulären Primzahlen einzeln abarbeiten konnte, das Problem sei nur, daß jede von ihnen enormen Rechenaufwand erforderte. Zum Nachweis verbrachten Kummer und sein Kollege Dimitri Mirimanoff mehrere Wochen damit, die Fälle der drei irregulären Primzahlen bis 100 zu erledigen. Allerdings waren sie und andere Mathematiker nicht bereit, sich auch den nächsten Packen irregulärer Primzahlen zwischen 100 und 1 000 vorzunehmen. Ein paar Jahrzehnte später begannen die Probleme mit dem überwältigenden Rechenaufwand zu schwinden. Mit dem Siegeszug des Computers konnten auch die vertrackten Fälle der Fermatschen Vermutung rasch erledigt werden, und nach dem Zweiten Weltkrieg bewiesen Arbeitsgruppen aus Computerwissenschaftlern und Mathematikern Fermats letzen Satz für alle Werte von n bis 500, dann bis 1 000 und schließlich bis 10 000. In den achtziger Jahren schob Samuel S. Wagstaff von der Universität Illinois die Grenze bis 25 000 vor, und in jüngster Zeit konnten die Mathematiker verkünden, daß die Fermatsche Vermutung für alle Werte von n bis vier Millionen zutraf. Außenstehende mochten zwar den Eindruck gewinnen, die moderne Technik gewänne langsam die Oberhand über das Fermatproblem, doch die Mathematikergemeinschaft war sich darüber im klaren, daß ihr Erfolg rein kosmetischer Natur war. Selbst wenn Supercomputer Jahrzehnte damit verbringen würden, den Satz für

einen Wert von n nach dem ändern zu beweisen, konnten sie dies niemals für jeden Wert bis ins Unendliche tun und deshalb auch nie den Satz generell beweisen. Selbst wenn er bis zum Wert von einer Billion bewiesen wäre, gäbe es keinen Grund, warum er für eine Billion und eins zutreffen sollte. Und wenn er für alle Werte bis zu einer Trillion bewiesen wäre, gäbe es keinen Grund, warum er für eine Trillion und eins gelten sollte, und so weiter ad infinitum. Die rohe Gewalt der computerisierten Zahlenfresserei allein kann das Unendliche nicht erreichen. In seinem Buch The Picturegoers gibt David Lodge eine schöne Beschreibung der Ewigkeit, die auch für den parallelen Begriff des Unendlichen von Bedeutung ist: »Stell dir eine Stahlkugel vor, die so groß ist wie die Erde, und eine Fliege, die sich einmal in einer Million Jahren darauf niederläßt. Wenn die Stahlkugel durch die damit verbundene Reibung aufgelöst ist, hat die Ewigkeit noch nicht einmal begonnen.« Die Computer konnten nur Rechenergebnisse liefern, die zugunsten von Fermats letztem Satz sprachen. Dem beiläufigen Beobachter mögen die Belege überwältigend erscheinen, doch die Mathematiker werden selbst durch noch so viele Hinweise nicht zufriedengestellt. Sie bilden eine Gemeinschaft von Skeptikern, die nur unumstößliche Beweise zulassen. Eine Theorie aufgrund von Rechenergebnissen, die mit einigen Zahlen gewonnen wurden, auf die Unendlichkeit der Zahlen auszudehnen, ist ein riskantes (und unzulässiges) Spiel. Daß diese Extrapolation eine gefährliche Krücke ist, auf die man sich nicht verlassen kann, zeigt sich bei einer bestimmten Folge von Primzahlen. Im siebzehnten Jahrhundert wiesen die Mathematiker durch gründliche Berechnungen nach, daß die folgenden Zahlen prim sind: 13; 331; 3 331; 33 331; 333 331; 3 333 331; 33 333 331; 333 333 331. Die nächsten Zahlen dieser Folge werden immer riesiger, und zu prüfen, ob sie ebenfalls prim sind, hätte beträchtliche Mühen gekostet. Zur damaligen Zeit waren einige Mathematiker versucht, ausgehend vom bisherigen Muster zu extrapolieren und anzunehmen,

daß alle Zahlen dieser Form prim sind. Die nächste Zahl des Musters jedoch, 3 333 333 331, erwies sich nicht als prim: 3 333 333 331 = 17 × 19 607 843. Ein weiteres gutes Beispiel, das zeigt, warum die Mathematiker sich weigerten, die Ergebnisse der Computerberechnungen als Beweise gelten zu lassen, ist die Eulersche Vermutung. Euler stellte die Behauptung auf, es gebe keine Lösung für folgende Gleichung, die der Fermats nicht unähnlich ist: x 4 + y 4 + z4 = ω 4. Zwei Jahrhunderte lang konnte die Eulersche Vermutung nicht bestätigt werden, andererseits jedoch konnte niemand sie durch ein Gegenbeispiel widerlegen. Die ersten Versuche mit Papier und Bleistift und später die jahrelange Suche mit Computern erbrachten keine Lösung. Das Fehlen eines Gegenbeispiels sprach stark zugunsten der Vermutung. Im Jahr 1988 schließlich entdeckte Naom Elkies von der Universität Harvard folgende Lösung: 2 682 4404 + 15 365 6394 + 18 796 7604 = 20 615 6734. Für die Eulersche Vermutung mochte noch soviel sprechen, sie stellte sich als falsch heraus. Elkies bewies zudem, daß es unendlich viele Lösungen der Gleichung gibt. Dies bestätigt noch einmal, daß die Resultate, die man aus der ersten Million Zahlen gewinnt, nicht zum Beweis einer Vermutung über alle Zahlen taugen. Doch der trügerische Charakter der Eulerschen Vermutung ist nichts gegen die Vermutung der überschätzten Primzahldichte. Durchsucht man immer größere Abschnitte auf der Zahlengeraden, dann stellt sich heraus, daß Primzahlen immer seltener vorkommen. Zwischen 0 und 100 zum Beispiel gibt es 25 Primzahlen, doch zwischen 10 000 000 und 10 000 100 gibt es nur noch zwei. Carl Friedrich Gauß stellte 1791, mit vierzehn Jahren, eine Vermutung darüber auf, wie stark die Häufigkeit der Primzahlen auf der gesamten Zahlengeraden abnimmt. Die Formel war einigermaßen genau, schien jedoch die wahre Verteilung der Primzahlen immer geringfügig zu überschätzen. Überprüfte man die Primzahlen bis

eine Million, eine Billion oder eine Trillion, so zeigte sich, daß die Gaußsche Formel ein wenig zu großzügig war, und die Mathematiker waren stark versucht zu glauben, dies gelte für alle Zahlen bis ins Unendliche. So kam die Vermutung der überschätzten Primzahldichte in die Welt. Dann, im Jahr 1914, bewies G. H. Hardys Mitarbeiter in Cambridge, J. E. Littlewood, daß die Gaußsche Formel die Zahl der Primzahlen in einem hinreichend großen Zahlenbereich unterschätzte. 1955 zeigte S. Skewes, daß diese Unterschätzung irgendwann vor der folgenden Zahl eintreten würde:

1010

10 000 000 00 0 000 000 00 0 00 0 000 00 0 00 0 000

Diese Zahl ist jenseits aller Vorstellungskraft und auch jenseits aller praktischen Verwendbarkeit. Hardy nannte Skewes’ Zahl »die größte Zahl, die je einem bestimmten Zweck in der Mathematik gedient hat«. Spielte man Schach mit allen Teilchen des Universums (10 87), wobei ein Zug einfach bedeute, zwei Teilchen miteinander auszutauschen, dann, so rechnete Hardy vor, entspräche die Zahl der möglichen Spiele in etwa Skewes’ Zahl. Es gab keinen Grund, warum die Fermatsche Vermutung sich als ebenso grausam und tückisch erweisen sollte wie die Eulersche Vermutung oder die Vermutung der überschätzten Primzahldichte.

Der Doktorand Andrew Wiles begann seine Laufbahn 1975 als Doktorand an der Universität Cambridge. Drei Jahre, seine mathematische Lehrzeit, arbeitete er an seiner Dissertation. Jeder Doktorand hatte einen Doktorvater, der ihn anleitete und förderte. Bei Wiles war dies John Coates, Professor am Emmanuel College, ein Australier aus Possum Brush in New South Wales. Coates erinnert sich noch, wie er Wiles unter seine Fittiche nahm: »Ein Kollege sagte mir, er hätte einen sehr guten Studenten, der gerade Teil III des mathematischen »tripos« abschloß (das letzte Examen für den »honours degree« in Cambridge), und er dräng-

Andrew Wiles während seiner Collegezeit.

te mich, ihn als Studenten zu nehmen. Ich hatte Glück mit Andrew. Schon als Doktorand hatte er sehr tiefgreifende Ideen, und es war immer klar, daß er als Mathematiker noch Großartiges leisten würde. Natürlich kam es damals nicht in Frage, daß ein Doktorand sich direkt auf Fermats letzten Satz stürzte. Das war selbst für einen ausgesprochen erfahrenen Mathematiker zu schwierig.« Alles, was Wiles im Jahrzehnt zuvor getan hatte, war darauf ausgerichtet gewesen, sich auf Fermats Herausforderung vorzubereiten, doch nun, da er sich den Reihen der professionellen Mathematiker angeschlossen hatte, mußte er pragmatischer sein. Er schildert, wie er seinen Traum vorübergehend aufgab: »Als ich nach Cambridge ging, habe ich den Fermatsatz wirklich beiseite gelegt. Nicht, daß ich ihn vergessen hätte – er war immer da –, doch mir war klar, daß die einzigen Techniken, die uns dafür zur Verfügung standen, schon 130 Jahre alt waren. Damit konnte man offenbar nicht an die Wurzel des Problems herankommen. Die Schwierigkeit mit dem Fermatsatz war, daß man Jahre damit verbringen und doch nichts erreichen konnte. Es ist gut und schön, wenn man an einem Problem arbeitet, solange dabei interessante Mathematik herauskommt – selbst wenn man es am Ende doch nicht löst. Die Definition eines guten mathematischen Problems ist die Mathematik, die es einbringt, weniger das Problem selbst.« John Coates trug die Verantwortung, Andrew eine neue Leidenschaft nahezubringen, die ihn als Forscher zumindest für die nächsten drei Jahre beschäftigen würde. »Ich glaube, alles, was ein Doktorvater für einen Studenten tun kann, ist, zu versuchen, ihn auf einen fruchtbaren Weg zu bringen. Natürlich kann man sich nie sicher sein, was in der Forschung Früchte tragen wird, aber vielleicht kann ein älterer Mathematiker seinen guten Riecher einsetzen und intuitiv ein gutes Feld ausfindig machen, und dann liegt es wirklich am Studenten, wie weit er in diese Richtung gehen kann.« Coates gelangte zu dem Schluß, daß Wiles ein Gebiet der Mathematik studieren sollte, in dem es um elliptische Kurven geht. Diese Entscheidung sollte sich später als Wendepunkt in Wiles’ Karriere erweisen und ihm die Techniken an die Hand geben, die er für einen neuartigen Zugriff auf Fermats letzten Satz benötigte.

John Coates, in den siebziger Jahren Wiles’ Doktorvater, hält auch weiterhin Verbindung zu seinem ehemaligen Studenten.

Der Begriff »elliptische Kurven« ist etwas irreführend, denn weder geht es um Ellipsen noch um Kurven im gewöhnlichen Sinne. Vielmehr handelt es sich um Gleichungen mit der Form y 2 = x 3 + ax2 + bx + c,

wobei a, b und c ganze Zahlen sind.

Als Kurven werden sie bezeichnet, weil sie früher verwendet wurden, um die Umfange von Ellipsen und die Länge von Planetenumlaufbahnen zu berechnen, doch um der Klarheit willen werde ich sie einfach als elliptische Gleichungen und nicht als elliptische Kurven bezeichnen. Die Herausforderung bei den elliptischen Gleichungen besteht wie bei Fermats letztem Satz darin, herauszufinden, ob sie ganzzahlige Lösungen haben, und falls ja, wie viele. Zum Beispiel hat die elliptische Gleichung y2 = x3 - 2

mit a = 0, b = 0, c = -2

nur eine ganzzahlige Lösung, nämlich 52 = 33 - 2

oder

25 = 27 - 2.

Zu beweisen, daß diese Gleichung nur eine ganzzahlige Lösung besitzt, ist eine immens schwierige Aufgabe, und in der Tat war es Pierre de Fermat, der ihn führte. Die Leser erinnern sich vielleicht an Kapitel 2, wo es heißt, Fermat habe bewiesen, daß die 26 die einzige Zahl im Universum ist, die zwischen einer Quadratzahl und einer Kubikzahl liegt. Damit ist zugleich gesagt, daß die obige elliptische Gleichung nur eine Lösung hat, das heißt 52 und 33 sind die einzige Quadratzahl und die einzige Kubikzahl, die sich um 2 unterscheiden, und deshalb ist die 26 die einzige Zahl, die zwischen zwei solchen Zahlen eingebettet liegt. Das Faszinierende an den elliptischen Gleichungen ist, daß sie eine eigentümliche Nische besetzen zwischen einfacheren, fast trivialen Gleichungen, und komplizierten Gleichungen, die unlösbar sind. Die Mathematiker können, indem sie einfach die Werte von a, b und c in der allgemeinen elliptischen Gleichung austauschen, eine unendliche Vielzahl von Gleichungen erzeugen, jede mit besonderen Eigenschaften, doch alle im Bereich des Lösbaren.

Die Mathematiker des alten Griechenland untersuchten als erste elliptische Gleichungen, so auch Diophantos, der große Teile seiner Arithmetica der Erforschung ihrer Eigenschaften widmete. Fermat, wahrscheinlich von Diophantos angeregt, nahm die Herausforderung der elliptischen Gleichungen ebenfalls an, und weil sie von seinem Helden untersucht worden waren, freute sich Wiles, ihre Erforschung noch weiter treiben zu können. Selbst noch nach zweitausend Jahren stellten die elliptischen Gleichungen Forscher wie Wiles vor gewaltige Probleme: »Sie sind bisher noch lange nicht vollständig durchdrungen. Ich könnte viele scheinbar einfache Fragen zu den elliptischen Gleichungen stellen, die noch nicht gelöst sind. Selbst Fragen, denen schon Fermat nachging, sind noch ungelöst. All meine bisherige Arbeit in der Mathematik kann in gewisser Weise auf Fermat zurückgeführt werden, wenn nicht auf Fermats letzten Satz.« In den Gleichungen, die Wiles als Doktorand untersuchte, war es so schwierig, die genaue Zahl der Lösungen festzustellen, daß Fortschritte nur durch die Vereinfachung des Problems gelingen konnten. Die folgende ebenfalls elliptische Gleichung zum Beispiel kann fast unmöglich direkt angegangen werden: x 3 - x 2 = y 2 + y. Die Aufgabe besteht darin, herauszubekommen, wie viele ganzzahlige Lösungen es für diese Gleichung gibt. Eine recht triviale Lösung ist x = 0 und y = 0: 03 - 02 = 0 2 + 0. Eine etwas interessantere Lösung ist x = 1 und y = 0: 13 - 12 = 0 2 + 0. Es mag andere Lösungen geben, doch bei einer unendlichen Menge von zu prüfenden ganzen Zahlen ist es unmöglich, eine vollständige Liste der Lösungen dieser besonderen Gleichung zu erstellen. Einfacher ist es, nach Lösungen innerhalb eines endlichen Zahlenraums zu suchen, in der sogenannten Uhrenarithmetik. Wir haben weiter vorne gesehen, daß man sich die Zahlen als

0

1

2

3

4

5

6

7

8

9

Abbildung 16: Das herkömmliche Rechnen kann man sich als Bewegung entlang einer Zahlengeraden vorstellen.

Markierungen auf einer Zahlengeraden vorstellen kann, die, wie in Abbildung 16 dargestellt, ins Unendliche reicht. Um den Zahlenraum endlich zu machen, schneidet die Uhrenarithmetik die Gerade ab und biegt sie auf sich selbst zurück, so daß man einen Zahlenring erhält. Abbildung 17 zeigt eine 5er-Uhr, die Zahlengerade wurde also bei 5 abgeschnitten und auf die 0 zurückgebogen. Die Zahl 5 verschwindet und entspricht nun der 0; die einzigen Zahlen in der 5er-Uhr-Arithmetik sind daher 0, 1, 2, 3 und 4. In der gewöhnlichen Arithmetik können wir uns die Addition so vorstellen, daß wir die Zahlengerade einige Zwischenräume weit entlanggehen. So ist etwa 4 + 2 = 6 das gleiche, wie wenn man sagt: Beginne bei 4 und gehe dann auf der Zahlengeraden zwei Zwischenräume weiter bis zur 6. In der 5er-Uhr-Arithmetik jedoch ist 4 + 2 = 1. Wir beginnen nämlich bei 4, gehen zwei Zwischenräume weiter und gelangen zur 1. Die Uhrenarithmetik mag uns fremd vorkommen, doch wie der Name schon sagt, verwenden wir sie täglich, wenn wir über die Uhrzeit sprechen. Vier Stunden nach 11 Uhr (also 11 + 4) nennen wir im Alltag nicht 15 Uhr, sondern 3 Uhr. Das ist die 12er-Uhr-Arithmetik. Wie die Addition können wir auch andere gängige Rechenarten wie etwa die Multiplikation durchführen. In der 12er-Uhr-Arithmetik ist 5 × 7 = 11. Diese Multiplikation kann man sich folgendermaßen vorstellen: Man beginnt bei 0, geht dann 5 mal eine Strecke von 7 Zwischenräumen weiter und kommt schließlich bei 11 an. Neben dieser Möglichkeit, sich die Multiplikation in der Uhrenarithmetik zu verdeutlichen, gibt es auch Abkürzungen, die die Rechnungen beschleunigen. Um etwa 5 × 7 in der 12er-Uhr-Arith-

0

4 3

1 2

Abbildung 17: In der 5er-Uhr-Arithmetik wird die Zahlengerade bei 5 abgeschnitten und auf sich selbst zurückgebogen. Die Zahl 5 fällt mit der 0 zusammen und wird deshalb durch sie ersetzt.

metik zu berechnen, können wir zunächst einfach das normale Ergebnis berechnen, nämlich 35. Dann teilen wir 35 durch 12, nehmen den Rest und haben damit die Antwort auf die ursprüngliche Frage. Die 12 geht nur zweimal in die 35, es bleibt ein Rest von 11, eben das Resultat von 5 × 7 in der 12er-Uhr-Arithmetik. Genausogut kann man sich vorstellen, daß man die Uhr zweimal umkreist und dann noch 11 Zwischenräume zu gehen hat. Weil die Uhrenarithmetik sich nur mit einem begrenzten Zahlenraum beschäftigt, ist es relativ einfach, für eine gegebene Uhrenarithmetik alle möglichen Lösungen einer elliptischen Gleichung zu finden. Zum Beispiel ist es in einer 5er-Uhr-Arithmetik möglich, alle denkbaren Lösungen folgender Gleichung aufzulisten: x 3 - x 2 = y 2 + y. Die Lösungen sind: x x x x

= = = =

0, 0, 1, 1,

y y y y

= = = =

0, 4, 0, 4.

Auch wenn manche dieser Gleichungen in der normalen Arithmetik nicht gültig wären, in der 5er-Uhr-Arithmetik sind sie es. Zum Beispiel funktioniert die vierte Lösung (x = 1, y = 4) wie folgt: x 3- x 2 = 13 - 12 = 1-1 = 0=

y2 + y 42 + 4 16 + 4 20.

Doch erinnern wir uns, daß in der 5er-Uhr-Arithmetik die 20 mit der 0 zusammenfällt, da sich die 20 ohne Rest durch 5 teilen läßt. Weil die Mathematiker, so auch Wiles, nicht alle Lösungen einer elliptischen Gleichung im unendlichen Zahlenraum auflisten konnten, gaben sie sich damit zufrieden, die Zahl der Lösungen in allen verschiedenen Uhrenarithmetiken herauszufinden. Die obige elliptische Gleichung hat in der 5er-Uhr-Arithmetik vier mögliche Lösungen, und daher sagen die Mathematiker E5 = 4. Die Zahl der Lösungen in anderen Uhrenarithmetiken kann ebenfalls berechnet werden. In der 7er-Uhr-Arithmetik zum Beispiel ist die Zahl der Lösungen gleich neun, also E7 = 9. Um ihre Ergebnisse zusammenzufassen, listen die Mathematiker die Zahl der Lösungen jeder Uhrenarithmetik auf und nennen diese Liste dann die L-Reihe für die elliptische Gleichung. Wofür das L steht, ist schon lange vergessen, auch wenn manche vermuten, daß es auf Gustav Lejeune-Dirichlet zurückgeht, der über elliptische Gleichungen gearbeitet hat. Um der Klarheit willen verwende ich den Ausdruck E-Reihe – die Reihe, die aus einer elliptischen Gleichungen abgeleitet ist. Für das obige Beispiel lautet die E-Reihe wie folgt: Elliptische Gleichung:

x3 - x2 - y2 + y;

E-Reihe:

E1 E2 E3 E4 E5 E6 E7 E8 .. .

= 1, = 4, = 4, = 8, = 4, = 16, = 9, = 16,

Die Mathematiker können nicht sagen, wie viele Lösungen gewisse elliptische Gleichungen im unendlich großen normalen Zahlenraum haben, und so bescheidet man sich mit der E-Reihe. Tatsächlich enthält sie eine Menge Informationen über die von ihr be-

schriebene elliptische Gleichung. Ebenso wie die DNS in der Biologie alle notwendigen Informationen für den Aufbau eines lebenden Organismus enthält, steckt in der E-Reihe der Schlüssel für die elliptische Gleichung. Die Mathematiker hofften nun, durch die Untersuchung der E-Reihen, dieser mathematischen DNS, eines Tages in der Lage zu sein, alles zu berechnen, was sie je über eine elliptische Gleichung wissen wollten. In der gemeinsamen Arbeit mit John Coates erwarb sich Wiles rasch einen Ruf als brillanter Zahlentheoretiker mit einem profunden Verständnis elliptischer Gleichungen und ihrer E-Reihen. Immer neue Ergebnisse wurden gewonnen und ein Artikel nach dem ändern veröffentlicht, doch Wiles erkannte damals noch nicht, daß er zugleich die Erfahrung sammelte, die ihn viele Jahre später vor die Tür des Beweises von Fermats letztem Satz bringen sollte. Obwohl es damals niemand ahnte, hatten die Mathematiker im Nachkriegsjapan bereits eine Kette von Ereignissen ausgelöst, welche die elliptischen Gleichungen unwiderruflich mit Fermats letztem Satz verknüpften. Coates hatte Wiles dazu angeregt, sich mit elliptischen Gleichungen zu befassen, und ihm damit zugleich die Werkzeuge an die Hand gegeben, die es ihm später ermöglichen sollten, an der Verwirklichung seines Traums zu arbeiten.

Yutaka Taniyama

5 Beweis durch Widerspruch Die Werke des Mathematikers müssen schön sein wie die des Malers oder Dichters; die Ideen müssen harmonieren wie die Farben oder Worte. Schönheit ist die erste Prüfung: es gibt keinen Platz in der Welt für häßliche Mathematik. G. H. Hardy

Im Januar 1954 stattete ein begabter junger Mathematiker an der Universität Tokio seiner Fachbereichsbibliothek einen Routinebesuch ab. Goro Shimura suchte nach einem Exemplar von Band 24 der Mathematischen Annalen. Ihn interessierte vor allem ein Artikel Deurings über dessen algebraische Theorie komplexer Multiplikation, den er für eine ausgesprochen sperrige und verstiegene Berechnung brauchte. Überrascht und enttäuscht mußte er feststellen, daß der Band schon verliehen war. Ausgeliehen hatte ihn Yutaka Taniyama, der auf der anderen Seite des Campus lebte und mit Shimura flüchtig bekannt war. Shimura schrieb an Taniyama, er brauche dringend die Zeitschrift, um die vertrackte Rechnung abzuschließen, und fragte ihn höflich, wann er sie zurückbringen werde. Ein paar Tage später landete eine Postkarte auf Shimuras Schreibtisch. Auch er arbeite an dieser Rechnung, antwortete Taniyama, und stecke am selben Punkt der Logik fest. Vielleicht könnten sie ihre Ideen austauschen und gemeinsam an der Sache arbeiten. Diese zufällige Begegnung wegen eines Bibliotheksbands führte zu einer Partnerschaft, die den Gang der mathematischen Geschichte ändern sollte. Taniyama wurde am 12. November 1927 in einer Kleinstadt in der Nähe von Tokio geboren. Das japanische Schriftzeichen für

Goro Shimura

seinen Vornamen sollte eigentlich »Toyo« bedeuten, doch die meisten Leute außerhalb seiner Familie mißdeuteten es als »Yutaka«, und mit zunehmendem Alter fand sich Taniyama mit diesem Namen ab und akzeptierte ihn. Taniyamas Schulbildung war voller Lücken. Als Kind erkrankte er mehrmals für längere Zeit, und in seinen Teenagerjahren streckte ihn eine Tuberkulose nieder, so daß er zwei Jahre Gymnasium versäumte. Dann brach der Krieg aus und zog seine Schulbildung noch weiter in Mitleidenschaft. Goro Shimura, ein Jahr jünger als Taniyama, mußte die Schule während des Krieges ganz abbrechen. Sie wurde geschlossen, Shimura wurde für den Krieg eingespannt und mußte in einer Fabrik für Flugzeugteile arbeiten. Jeden Abend versuchte er, den entgangenen Unterricht wettzumachen, wobei er sich vor allem zur Mathematik hingezogen fühlte. »Natürlich gibt es vieles, was man lernen könnte, aber die Mathematik war am leichtesten, denn ich konnte ja einfach mathematische Lehrbücher lesen. Ich brachte mir durch diese Lektüre die Analysis bei. Hätte ich mich auf Chemie oder Physik verlegt, dann hätte ich eine wissenschaftliche Versuchsausrüstung gebraucht, und daran war einfach nicht zu denken. Ich hielt mich nie für begabt. Ich war einfach neugierig.« Ein paar Jahre nach dem Krieg fanden Shimura und Taniyama an der Universität zusammen. Zu der Zeit, als sie sich wegen des Bibliotheksbands Postkarten schrieben, normalisierte sich das Leben in Tokio allmählich, und die beiden jungen Wissenschaftler konnten sich den einen oder anderen kleinen Luxus leisten. Sie verbrachten ihre Nachmittage in Kaffeehäusern, abends gingen sie in ein kleines Restaurant, das sich auf Walfleisch spezialisiert hatte, und an den Wochenenden schlenderten sie durch die botanischen Gärten oder den Stadtpark. Allesamt ideale Stätten, um ihre neuesten mathematischen Ideen zu diskutieren. Shimura besaß zwar einen gewissen Sinn für Humor – auch heute noch hat er Spaß an Zen-Witzen –, doch war er viel konservativer und traditionsgebundener als sein geistiger Partner. Shimura pflegte im Morgengrauen aufzustehen und sich sofort an die Arbeit zu setzen, während sein Kollege um diese Zeit häufig noch gar nicht schlafen gegangen war und die ganze Nacht durchgearbeitet

hatte. Besucher fanden Taniyama oft noch am hellichten Nachmittag in tiefem Schlaf vor. Shimura war ein ordnungsliebender Mensch, Taniyama dagegen nachlässig bis an den Rand der Trägheit. Überraschenderweise bewunderte Shimura diesen Zug an ihm: »Er war mit dieser besonderen Fähigkeit begabt, viele Fehler zu machen, die meist auf den richtigen Weg führten. Ich beneidete ihn darum und versuchte vergeblich, es ihm nachzutun, fand es jedoch ausgesprochen schwierig, gute Fehler zu machen.« Taniyama war das Sinnbild des gedankenversunkenen Genies, und das spiegelte sich auch in seiner äußeren Erscheinung. Er war nicht in der Lage, einen richtigen Knoten zu knüpfen, und anstatt seine Schuhe täglich ein dutzendmal zu binden, beschloß er, es ganz bleiben zu lassen. Er trug immer denselben komischen grünen Anzug mit dem seltsam metallenen Glanz. Er war aus einem Stoff gefertigt, der so gräßlich war, daß die anderen Mitglieder seiner Familie ihn nicht tragen wollten. Als sie sich 1954 kennenlernten, standen Taniyama und Shimura gerade am Beginn ihrer Karrieren als Mathematiker. Damals wie auch heute noch war es Tradition, daß ein Professor die jungen Forscher unter die Fittiche nahm und dem flügge werdenden Geist den Weg wies. Taniyama und Shimura jedoch lehnten diese Art von Lehrzeit ab. Während des Krieges war die echte Forschung zum Stillstand gekommen, und selbst Anfang der fünfziger Jahre hatte sie sich noch nicht wieder erholt. Shimura zufolge waren die Professoren »müde, verblaßt und desillusioniert«. Hingegen waren die Studenten der Nachkriegszeit voller Leidenschaft und Lernbegierde, und sie erkannten bald, daß sie nur vorankommen konnten, wenn sie auf eigene Faust lernten. Die Studenten organisierten regelrechte Seminare, bei denen sie sich abwechselnd über die neuesten Verfahren und wissenschaftlichen Durchbrüche unterrichteten. Wenn es an diese Seminare ging, war Taniyama entgegen seiner ansonsten laxen Haltung eine unermüdlich treibende Kraft. Die älteren Studenten ermutigte er, unbekanntes Gelände zu erforschen, den jüngeren diente er als Vaterfigur. Da die Studenten in Japan damals vom Rest der Welt isoliert wa-

ren, behandelten sie in den Seminaren gelegentlich auch Themen, die man in Europa und Amerika allgemein als passe betrachtete. Ihre Unbefangenheit bedeutete auch, daß sie Gleichungen untersuchten, die man im Westen nicht mehr beachtete. Ein besonders aus der Mode gekommenes Thema, das Taniyama und Shimura gleichermaßen faszinierte, waren die Modulformen. Modulformen gehören zu den fremdartigsten und wunderlichsten Gegenständen der Mathematik. Diese höchst esoterische Beschäftigung zählte der Zahlentheoretiker Martin Eichler in diesem Jahrhundert dennoch zu den fünf Grundoperationen: Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division und Modulformen. Die meisten Mathematiker würden sich als Meister in den ersten vier Rechenarten betrachten, doch die fünfte finden sie immer noch etwas verwirrend. Die wesentliche Eigenschaft der Modulformen ist ihre ungewöhnlich hohe Symmetrie. Zwar sind die meisten mit dem alltäglichen Symmetriebegriff vertraut, doch hat er in der Mathematik eine ganz eigenwillige Bedeutung. Ein Objekt ist dann symmetrisch, wenn es auf eine bestimmte Weise transformiert werden kann und doch hinterher unverändert erscheint. Um die überwältigende Symmetrie einer Modulform richtig einschätzen zu können, ist es angebracht, zunächst die Symmetrie eines gewöhnlicheren Gegenstandes zu untersuchen, etwa eines einfachen Quadrats. Beim Quadrat ist eine Form der Symmetrie die Drehsymmetrie. Das heißt, wenn wir uns den Punkt, in dem sich x-Achse und y-Achse schneiden, als Drehpunkt vorstellen, kann das Quadrat in Abbildung 18 um ein Viertel gedreht werden und danach als unverändert erscheinen. Desgleichen lassen Halbdrehungen und Dreivierteldrehungen und ganze Drehungen das Quadrat offenbar unverändert. Neben der Drehsymmetrie besitzt das Quadrat auch die Eigenschaft der Spiegelsymmetrie. Wenn wir uns einen Spiegel entlang der x-Achse vorstellen, würde sich die obere Hälfte des Quadrats genau auf der unteren Hälfte spiegeln und umgekehrt, so daß das Quadrat nach der Transformation unverändert erscheint. Ebenso

y

x

Abbildung 18: Ein einfaches Quadrat ist sowohl dreh- als auch spiegelsymmetrisch.

können wir drei andere Spiegelstellungen definieren (entlang der yAchse und entlang der beiden Diagonalen), bei denen das gespiegelte Quadrat mit dem ursprünglichen identisch erscheinen würde. Das einfache Quadrat ist relativ symmetrisch, denn es besitzt sowohl Dreh- als auch Spiegelsymmetrie, allerdings keine Translationssymmetrie. Das heißt, verschöbe man das Quadrat in irgendeine Richtung, würde ein Beobachter die Bewegung sofort bemerken, weil sich die Position des Quadrats relativ zu den Achsen ändert. Wäre jedoch die gesamte Fläche mit Quadraten gefliest, wie in Abbildung 19, dann wäre diese unendliche Menge von Quadraten translationssymmetrisch. Würde die unendliche geflieste Fläche um eine oder mehr quadratische Fliesen nach oben oder unten verschoben, dann erschiene die verschobene geflieste Ebene mit der ursprünglichen identisch. Die Symmetrie gefliester Flächen ist eine relativ einfache Vorstellung, doch wie bei vielen dem Anschein nach einfachen Begriffen stecken darin vielerlei Feinheiten. So begann in den siebziger Jahren der britische Physiker und Autor von Unterhaltungsmathematik Roger Penrose mit verschiedenen Fliesen auf einer Oberfläche zu experimentieren. Schließlich entdeckte er zwei besonders interessante Formen, die er Drachen und Pfeil nannte (Abbildung 20). Für sich genommen, konnte man mit diesen Formen keine Oberfläche kacheln, ohne Lücken oder Überschneidungen zu bekommen, doch zusammen konnte man mit ihnen eine reichhaltige

y

x

Abbildung 19: Eine unendliche, mit Quadraten geflieste Oberfläche ist drehund spiegelsymmetrisch und zusätzlich noch translationssymmetrisch.

Menge von Fliesenmustern erzeugen. Die Drachen und Pfeile können auf unendlich viele verschiedene Weisen zusammengefügt werden, und obwohl sich alle Muster offenbar ähneln, unterscheiden sie sich allesamt in den Einzelheiten. Abbildung 20 zeigt ein Muster aus Drachen und Pfeilen. An Penrose’ gefliesten Flächen (mit ihren durch Fliesen wie dem Drachen und dem Pfeil erzeugten Mustern) ist außerdem bemerkenswert, daß sie ein sehr begrenztes Maß an Symmetrie aufweisen können. Auf den ersten Blick mag es scheinen, daß die Fliesenfläche in Abbildung 20 translationssymmetrisch sei, und doch ist jeder Versuch, das Muster so zu verschieben, daß es im Grunde unverändert bleibt, zum Scheitern verurteilt. Die Penrose-Muster sind auf trügerische Weise asymmetrisch, und deshalb fesseln sie die Mathematiker und sind heute der Ausgangspunkt eines ganz neuen Gebiets der Mathematik.

Abbildung 20: Mit zwei verschiedenen Fliesenformen, dem Drachen und dem Pfeil, konnte Roger Penrose eine Oberfläche bedecken. Allerdings besitzen die Penrose-Mosaike keine Translationssymmetrie.

Eigentümlicherweise haben die Penrose-Muster auch Auswirkungen in den Naturwissenschaften. Die Kristallographen waren immer der Auffassung, Kristalle müßten nach denselben Prinzipien aufgebaut sein, die den quadratisch gefliesten Ebenen zugrunde liegen, da sie einen hohen Grad an Translationssymmetrie aufweisen. In der Theorie beruhte der Aufbau der Kristalle auf einer sehr regelmäßigen, sich wiederholenden Struktur. Im Jahr 1984 jedoch entdeckten Wissenschaftler ein metallisches Kristall aus Aluminium und Mangan, das den Prinzipien von Penrose entsprach. Das Mosaik aus Aluminium und Mangan verhielt sich wie die Drachen und Pfeile und ergab einen fast, jedoch nicht ganz regelmäßigen Kristall. Ein französisches Unternehmen hat in jüngster Zeit einen Penrose-Kristall zur Entwicklung einer Pfannenbeschichtung verwendet. Während an den Penrose-Mosaiken die begrenzte Symmetrie fasziniert, ist an den Modulformen die unbegrenzte Symmetrie interessant. Die von Taniyama und Shimura untersuchten Modulformen können verschoben, umgestellt, vertauscht, gespiegelt und gedreht werden, sie bleiben unverändert und sind damit die symmetrischsten mathematischen Objekte. Als der französische Uni-

versalgelehrte Henri Poincaré im neunzehnten Jahrhundert Modulformen untersuchte, hatte er große Schwierigkeiten, mit ihrer überwältigenden Symmetrie zurechtzukommen. Während er sich mit einem bestimmten Typ von Modulformen befaßt habe, so schilderte er den Kollegen, sei er zwei Wochen lang jeden Tag aufgewacht und habe versucht, einen Fehler in seinen Berechnungen zu finden. Am fünfzehnten Tag gelangte er endgültig zu dem Schluß, daß die Modulformen tatsächlich in höchstem Maße symmetrisch sind. Leider ist es unmöglich, eine Modulform zu zeichnen oder sich auch nur vorzustellen. Im Falle der quadratischen Fliesen haben wir einen Gegenstand, der in zwei Dimensionen existiert, in einer Fläche, die von der x-Achse und der y-Achse bestimmt wird. Eine Modulform wird ebenfalls von zwei Achsen bestimmt, doch diese sind beide komplex, das heißt jede Achse hat einen reellen und einen imaginären Teil und wird daher im Grunde zu zwei Achsen. Die erste komplexe Achse muß also von zwei Achsen repräsentiert werden, von der x r-Achse (reell) und der x i-Achse (imaginär), die zweite komplexe Achse ebenfalls von zwei Achsen, der y r -Achse (reell) und der y i-Achse (imaginär). Um genau zu sein, kommen die Modulformen in der oberen Hälfte dieses komplexen Raums vor, doch vor allem ist zu beachten, daß es sich um einen vierdimensionalen Raum handelt (x r , x i, y r , y i). Dieser vierdimensionale Raum wird als hyperbolischer Raum bezeichnet. Das hyperbolische Universum ist für Menschen schwer zu begreifen, deren Leben sich in den drei Dimensionen der Alltagserfahrung abspielt, doch es handelt sich um ein mathematisch wertvolles Konzept. Gerade die zusätzliche Dimension verleiht den Modulformen ihren immens hohen Grad an Symmetrie. Der Künstler Maurits Escher war von mathematischen Ideen fasziniert und versuchte, den hyperbolischen Raum in einigen seiner Lithographien und Gemälde wiederzugeben. Abbildung 21 zeigt Eschers Circle Limit IV, das die hyperbolische Welt auf das zweidimensionale Blatt bannt. Im wirklichen hyperbolischen Raum wären die Fledermäuse und Engel genausogroß, und die Wiederholung verweist auf das hohe Symmetrieniveau. Zwar läßt

Abbildung 21: Maurits Eschers Circle Limit IV vermittelt eine gewisse Vorstellung von der Symmetrie von Modulformen. © 1997 Cordon Art – Baarn Holland. Alle Rechte vorbehalten.

auch das zweidimensionale Blatt etwas von dieser Symmetrie erahnen, doch nimmt die Verzerrung zum Rand des Bildes hin zu. Die Modulformen, die im hyperbolischen Raum vorkommen, haben ganz unterschiedliche Gestalten und Größen, doch jede ist aus denselben Grundelementen aufgebaut. Was jede Modulform einzigartig macht, ist, wieviel sie von jedem Grundelement enthält. Die Grundelemente einer Modulform sind von eins bis unendlich durchnumeriert (M 1, M 2, M 3, M 4...). So enthält eine bestimmte Modulform etwa einen Packen von Grundelement eins ( M 1 = 1),

drei Packen von Grundelement zwei ( M2 = 3), zwei Packen von Grundelement drei ( M3 = 2) und so weiter. Diese Informationen über die Zusammensetzung einer Modulform können in einer sogenannten Modul- oder M-Reihe gebündelt werden, einer Liste von Bestandteilen und der jeweils erforderlichen Menge: M-Reihe:

( M 1 = 1), ( M 2 = 3), ( M 3 = 2), .. .

Wie die E-Reihe die DNS der elliptischen Gleichungen ist, ist die M-Reihe die DNS der Modulformen. Entscheidend ist die Menge jeder Zutat in der M-Reihe. Abhängig davon, wie man die Menge etwa der ersten Zutat ändert, kann man eine völlig andere, doch gleichermaßen symmetrische Modulform erzeugen, oder man kann die Symmetrie ganz zerstören und ein neues Objekt erzeugen, das keine Modulform ist. Wird die Menge jeder Zutat nach dem Zufallsprinzip bestimmt, entsteht dabei wahrscheinlich ein Objekt, das wenig oder keine Symmetrie besitzt. Die Modulformen stellen ein weitgehend eigenständiges Feld der Mathematik dar. Insbesondere hatten sie offenbar nichts mit den elliptischen Gleichungen zu tun, die Wiles in Cambridge erforschte. Die Modulform ist ein enorm kompliziertes Geschöpf, das im wesentlichen aufgrund seiner Symmetrie untersucht wird und erst im neunzehnten Jahrhundert entdeckt wurde. Die elliptische Gleichung hingegen stammt von den alten Griechen her und hat mit Symmetrie nichts zu tun. Modulformen und elliptische Gleichungen leben in ganz unterschiedlichen Regionen des mathematischen Kosmos, und keiner wäre je auf den Gedanken gekommen, daß es zwischen ihnen auch nur die loseste Verknüpfung geben könnte. Taniyama und Shimura sollten der Mathematikergemeinschaft allerdings einen Schock versetzen, als sie den Gedanken äußerten, elliptische Gleichungen und Modulformen seien im Grunde ein und dasselbe. Diese beiden kühnen Mathematiker behaupteten, sie könnten die modulare und die elliptische Welt vereinen.

Im Jahr 1955 nahmen Goro Shimura und Yutaka Taniyama an einem internationalen Symposium in Tokio teil.

Wunschdenken Im September 1955 fand in Tokio ein internationales Symposium statt. Für die vielen jungen japanischen Forscher war es die einzigartige Gelegenheit, dem Rest der Welt zu zeigen, was sie gelernt hatten. Sie verteilten eine Liste mit sechsunddreißig Problemen im Umkreis ihrer Arbeit, versehen mit bescheidenen Einleitungsworten: Einige ungelöste Probleme der Mathematik: eine gründliche Vorbereitung hat nicht stattgefunden, so daß auch triviale oder schon gelöste darunter sein könnten. Die Teilnehmer werden gebeten, zu einem Problem ihrer Wahl Stellung zu nehmen. Vier der Fragen stammten von Taniyama, und sie deuteten auf einen merkwürdigen Zusammenhang zwischen Modulformen und elliptischen Gleichungen hin. Diese unschuldigen Fragen sollten letzten Endes zu einer Revolution in der Zahlentheorie führen. Taniyama hatte sich die ersten Terme der M-Reihe einer bestimm-

ten Modulform näher angesehen. Das Muster kam ihm bekannt vor, und er stellte fest, daß es identisch war mit der Liste von Zahlen in der E-Reihe einer bekannten elliptischen Gleichung. Er berechnete einige weitere Terme jeder Reihe, und auch in diesen Fällen stimmten die M-Reihe einer Modulform und die E-Reihe einer elliptischen Gleichung völlig überein. Dies war eine verblüffende Entdeckung, denn aus irgendeinem unbekannten Grund konnte die Modulform mit einer elliptischen Gleichung anhand der jeweiligen M-Reihe und E-Reihe in Verbindung gebracht werden – diese Reihen waren identisch. Die mathematische DNS dieser beiden Wesen war genau die gleiche. Dies war eine doppelt folgenschwere Entdeckung. Erstens legte sie die Vermutung nahe, daß es zwischen Modulformen und elliptischen Gleichungen in der Tiefe eine elementare Verbindung gab, zwischen Objekten also, die von entgegengesetzten Enden der Mathematik herstammen. Zweitens bedeutete diese Entdeckung, daß die Mathematiker, die schon die M-Reihe einer Modulform kannten, nicht die E-Reihe einer entsprechenden elliptischen Gleichung berechnen mußten, da sie ja mit der M-Reihe identisch sein würde. Wie in jeder anderen Disziplin auch sind Beziehungen zwischen dem Anschein nach unterschiedlichen Gebieten für die Forschung sehr fruchtbar. Sie verweisen auf eine zugrundeliegende Wahrheit, die beide Forschungsfelder bereichert. So haben die Wissenschaftler ursprünglich die Elektrizität und den Magnetismus als völlig unterschiedliche Phänomene behandelt. Im neunzehnten Jahrhundert dann erkannten Theoretiker und experimentelle Forscher, daß beide eng miteinander verflochten sind. Daraus ergab sich ein tieferes Verständnis sowohl der Elektrizität als auch des Magnetismus. Elektrische Ströme erzeugen Magnetfelder, und Magnete können in Kabeln, die in der Nähe vorbeilaufen, Elektrizität induzieren. Dies führte zur Erfindung der Dynamos und Elektromotoren und letztlich zu der Entdeckung, daß das Licht selbst auf harmonisch schwingende magnetische und elektrische Felder zurückgeht. Taniyama untersuchte noch einige weitere Modulformen, und jedesmal schien die M-Reihe vollkommen mit der E-Reihe einer elliptischen Gleichung übereinzustimmen. Allmählich fragte er sich,

Goro Shimura mit dem letzten Brief seines Freundes und Kollegen Yutaka Taniyama.

ob möglicherweise jede einzelne Modulform zu einer elliptischen Gleichung passen könne. Vielleicht hatte jede Modulform dieselbe DNS wie eine elliptische Gleichung: vielleicht ist jede Modulform eine verkappte elliptische Gleichung? Die Fragen, die er beim Symposium aushändigte, drehten sich um diese Hypothese. Die Idee, daß jede elliptische Gleichung mit einer Modulform verwandt ist, war so außergewöhnlich, daß jene Mathematiker, die sich Taniyamas Fragen ansahen, sie bloß als merkwürdige Beobachtung behandelten. Gewiß hatte Taniyama gezeigt, daß ein paar elliptische Gleichungen mit bestimmten Modulformen in Beziehung gesetzt werden konnten, doch das sei, wie es hieß, nichts weiter als ein Zufall. Für die Skeptiker war Taniyamas Behauptung einer allgemeineren und universellen Beziehung weitgehend unbegründet. Die Hypothese beruhte auf Intuition und nicht auf einem wirklichen Nachweis. Taniyamas einziger Verbündeter war Shimura, der an die Kraft und die Tiefe der Idee seines Freundes glaubte. Nach dem Symposium machten sie sich gemeinsam auf die Suche nach mehr Material, um die vermutete Beziehung zwischen der modularen und der elliptischen Welt zu untermauern. 1957 wurde die Zusammenarbeit vorübergehend unterbrochen, da Shimura 1957 an das Institute for Advanced Study in Princeton eingeladen wurde. Nach seinen zwei Jahren als Gastprofessor in Amerika wollte er die Arbeit mit Taniyama fortsetzen. Doch dazu sollte es nicht kommen. Am 17. November 1958 nahm sich Yutaka Taniyama das Leben.

Tod eines Genies Shimura bewahrt heute noch die Postkarte auf, die Taniyama ihm schickte, als sie wegen des Bibliotheksbands nähere Bekanntschaft schlössen. Er hat auch noch den letzten Brief, den ihm Taniyama nach Princeton schickte, der jedoch nicht den leisesten Hinweis darauf enthält, was nur zwei Monate später geschehen sollte. Bis zum heutigen Tag versteht Shimura nicht, was hinter Taniyamas

Selbstmord steckte. »Ich war sehr verwirrt. Verwirrt ist vielleicht das beste Wort. Natürlich war ich traurig, aber es kam so plötzlich. Ich habe seinen Brief im September bekommen, er starb Anfang November, und ich konnte es mir einfach nicht erklären. Natürlich habe ich später dies oder jenes gehört, und ich habe versucht, mich mit seinem Tod abzufinden. Manche sagten, er habe das Vertrauen in sich selbst verloren, aber nicht als Mathematiker.« Besonders rätselhaft war für Taniyamas Freunde, daß er sich gerade in Misako Suzuki verliebt hatte und sie noch im selben Jahr heiraten wollte. In einem persönlichen Nachruf im Bulletin of the London Mathematical Society erinnert sich Shimura an die Verlobung mit Misako in den Wochen vor dem Selbstmord: Als ich von ihrer Verlobung hörte, war ich etwas überrascht, denn ich hätte nicht unbedingt gedacht, daß sie sein Typ wäre, aber ich hatte nichts dagegen. Hinterher sagte man mir, sie hätten einen Mietvertrag für eine neue Wohnung unterschrieben, offenbar eine bessere als die alte, zusammen Sachen für die Küche eingekauft und sich auf die Hochzeit vorbereitet. Für sie und ihre Freunde sah alles vielversprechend aus. Dann kam die Katastrophe über sie. Am Morgen des 17. November 1958, einem Montag, fand ihn der Hausverwalter tot in seinem Zimmer. Auf dem Schreibtisch hatte er eine Mitteilung hinterlassen, drei Seiten aus einem Notizbuch, wie er es für seine wissenschaftliche Arbeit verwendet hatte. Der erste Absatz lautete: »Bis gestern hatte ich nicht die bestimmte Absicht, mir das Leben zu nehmen. Doch es wird mehr als nur ein paar Leuten aufgefallen sein, daß ich in letzter Zeit körperlich wie geistig müde war. Was den Grund meines Freitods angeht, so verstehe ich ihn selbst nicht ganz, doch er ist nicht die Folge eines bestimmten Ereignisses oder einer bestimmten Angelegenheit. Ich möchte nur sagen, daß ich mich in einer geistigen Verfassung befinde, in der ich das Vertrauen in meine Zukunft verloren habe. Es mag jemanden geben, der unter meinem Tod leiden oder ihn als einen

gewissen Schlag empfinden wird. Ich hoffe aufrichtig, daß dieser Vorfall keinen dunklen Schatten auf die Zukunft dieses Menschen werfen wird. Wie auch immer, ich kann nicht bestreiten, daß dies eine Art Verrat ist, doch bitte entschuldigt es als letzten Akt in meinem Sinne, denn ich habe immer gelebt, wie mir der Sinn stand.« Dann erläuterte er ganz akribisch, wie man mit seinen Sachen verfahren solle, welche Bücher und Schallplatten er aus der Bibliothek oder von Freunden geliehen hatte, und so weiter. So hieß es etwa: »Ich möchte die Platten und den Plattenspieler Misako Suzuki hinterlassen, vorausgesetzt, sie ist deswegen nicht aufgebracht.« Auch erklärte er, wie weit er mit seinen Studenten in den Kursen zur Analysis und linearen Algebra gekommen war, und er schloß mit einer Entschuldigung an die Kollegen wegen der Unannehmlichkeiten, die seine Handlung ihnen bereiten könnte. So beendete einer der brillantesten und kühnsten Köpfe der Zeit sein Leben nach eigenem Willen. Nur fünf Tage zuvor war er einunddreißig Jahre alt geworden. Wenige Wochen nach dem Selbstmord wiederholte sich die Tragödie. Seine Verlobte, Misako Suzuki, nahm sich ebenfalls das Leben. Es heißt, sie habe folgende Nachricht hinterlassen: »Wir versprachen einander, uns nie zu trennen, wo auch immer wir hingehen. Nun, da er gegangen ist, muß auch ich gehen, zu ihm.«

Philosophie des Guten In seiner kurzen Laufbahn trug Taniyama viele radikale Ideen zur Mathematik bei. Die Fragen, die er auf dem Symposium aushändigte, enthielten seine großartigste Einsicht, doch sie war ihrer Zeit so weit voraus, daß er ihren gewaltigen Einfluß auf die Zahlentheorie nicht mehr erlebte. Seine geistige Schöpferkraft wurde schmerzlich vermißt, ebenso seine führende Rolle im Kreis der jungen

Wissenschaftler Japans. Shimura erinnert sich deutlich an den Einfluß, den Taniyama ausübte: »Er war immer liebenswürdig zu den Kollegen, besonders zu den jüngeren, und kümmerte sich aufrichtig um ihr Wohlergehen. Er war die moralische Stütze vieler, die über die Mathematik in Kontakt mit ihm kamen, mich selbst natürlich eingeschlossen. Vermutlich war er sich der Rolle, die er innehatte, nie bewußt. Doch ich spüre seine noble Großzügigkeit in dieser Hinsicht heute noch stärker als damals. Und doch konnte ihn niemand unterstützen, als er es verzweifelt brauchte. Wenn ich darüber nachdenke, überkommt mich bitterste Trauer.« Nach Taniyamas Tod konzentrierte Shimura all seine Kräfte darauf, die genaue Beziehung zwischen elliptischen Gleichungen und Modulformen zu klären. Im Laufe der Jahre trug er mühsam weiteres Material und ein oder zwei Stücke Logik zusammen, um die Theorie zu untermauern. Er gewann zusehends die Überzeugung, daß jede einzelne elliptische Gleichung mit einer Modulform verwandt sein müsse. Andere Mathematiker hatten immer noch ihre Zweifel. So erinnert sich Shimura an ein Gespräch mit einem renommierten Kollegen, bei dem der Professor fragte: »Wie ich höre, stellen Sie die Behauptung auf, daß manche elliptischen Gleichungen mit Modulformen verknüpft werden können.« »Nein, Sie verstehen nicht«, antwortete Shimura. »Es geht nicht nur um manche elliptischen Gleichungen, sondern um alle.« Shimura konnte das nicht beweisen, doch jedesmal, wenn er die Hypothese an einem Fall überprüfte, stellte sie sich als richtig heraus, und überhaupt schien alles gut zu seiner allgemeineren mathematischen Philosophie zu passen. »Ich vertrete diese Philosophie des Guten. Die Mathematik sollte das Gute enthalten. So kann man im Falle der elliptischen Gleichung sagen, sie sei gut, wenn sie von einer Modulform parametrisiert wird. Ich gehe davon aus, daß alle elliptischen Gleichungen gut sind. Das ist eine ziemlich krude Philosophie, doch man kann sie immer zum Ausgangspunkt nehmen. Dann mußte ich natürlich verschiedene technische Gründe für meine Vermutung finden. Ich könnte sagen, daß diese Vermutung der Philosophie des Guten entsprang. Die meisten Mathematiker betreiben Mathematik von einem ästhetischen Standpunkt

aus, und diese Philosophie des Guten rührt von meinem ästhetischen Standpunkt her.« Shimura gelang es dank der immer deutlicher werdenden Hinweise, seiner Theorie über elliptische Gleichungen und Modulformen zusehends Anerkennung zu verschaffen. Er konnte der Mathematikergemeinschaft zwar nicht beweisen, daß seine Theorie stimmte, doch zumindest war sie jetzt mehr als nur Wunschdenken. Es gab genug Material zu ihren Gunsten, um ihr den Titel einer Vermutung zu verleihen. Anfangs bezeichnete man sie als Taniyama-Shimura-Vermutung, in Anerkennung des Mannes, der sie angeregt, und seines Kollegen, der sie vollständig ausgearbeitet hatte. André Weil, einer der Nestoren der Zahlentheorie im zwanzigsten Jahrhundert, übernahm schließlich die Vermutung und publizierte sie auch im Westen. Weil untersuchte die Idee von Shimura und Taniyama und fand noch mehr solide Hinweise zu ihren Gunsten. Von daher wurde die Hypothese oft als Taniyama-ShimuraWeil-Vermutung bezeichnet, manchmal als Taniyama-Weil-Vermutung und gelegentlich als Weil-Vermutung. Tatsächlich gab es viele Debatten und Streitigkeiten über die korrekte Bezeichnung. Für die an Kombinatorik interessierten Leser sei erwähnt, daß es mit diesen drei Namen 15 mögliche Bezeichnungen gibt, und es ist durchaus möglich, daß jede einzelne von ihnen im Lauf der Zeit auch abgedruckt wurde. Hingegen werde ich die ursprüngliche Bezeichnung Taniyama-Shimura-Vermutung verwenden. Professor John Coates, der Wiles als Student betreute, war selbst noch Student, als die Taniyama-Shimura-Vermutung im Westen zum Gesprächsthema wurde. »Ich fing 1966 in der Forschung an, als die Vermutung von Taniyama und Shimura allmählich die Welt eroberte. Alle waren verblüfft und gingen nun ernsthaft der Frage nach, ob sämtliche elliptischen Gleichungen modular sein könnten. Das war eine mächtig aufregende Zeit; das Problem war nur, daß es sehr schwierig schien, Fortschritte zu machen. Ich glaube, es ist nicht unfair zu sagen, daß die Idee zwar wunderschön, doch sehr schwer zu beweisen war, und das ist es vor allem, was uns als Mathematiker interessiert.«

In den späten sechziger Jahren testeten ganze Scharen von Mathematikern immer wieder die Taniyama-Shimura-Vermutung. Sie begannen mit einer elliptischen Gleichung und ihrer E-Reihe und suchten dann eine Modulform mit einer identischen M-Reihe. In jedem einzelnen Fall hatte die elliptische Gleichung tatsächlich eine zugehörige Modulform. Obwohl diese Ergebnisse die Taniyama-Shimura-Vermutung stark untermauerten, handelte es sich keineswegs um einen Beweis. Die Mathematiker vermuteten, daß die Vermutung zutraf, doch bis jemand einen logischen Beweis gefunden hatte, blieb sie eben eine Vermutung. Barry Mazur, Professor an der Universität Harvard, erlebte den Aufstieg der Taniyama-Shimura-Vermutung. »Es war eine wunderbare Vermutung – die Annahme, daß jede elliptische Gleichung mit einer Modulform zusammengehört –, doch erst einmal wurde sie ignoriert, weil sie ihrer Zeit so weit voraus war. Als sie aufgestellt wurde, ging man nicht auf sie ein, weil sie so ungeheuerlich war. Auf der einen Seite hatte man die elliptische Welt, auf der ändern die modulare. Diese beiden Gebiete der Mathematik waren gründlich erforscht worden, doch jedes für sich. Die Mathematiker, die die elliptischen Gleichungen untersuchen, waren in modularen Fragen wohl nicht so beschlagen, und umgekehrt. Und dann kommt diese Taniyama-Shimura-Vermutung daher, die großartige Annahme, daß es eine Brücke zwischen diesen beiden völlig verschiedenen Welten gibt. Die Mathematiker mögen gerne Brücken bauen.« Der Wert mathematischer Brücken ist enorm. Sie ermöglichen es mathematischen Zirkeln, die bislang auf verschiedenen Inseln gelebt hatten, ihre Ideen auszutauschen und die Schöpfungen der jeweils anderen Seite auszuloten. Die Mathematik besteht aus Wissensinseln in einem Meer der Unwissenheit. Zum Beispiel gibt es die Insel, die von den Geometern bewohnt wird, die Formen und Gestalten erforschen, und die Insel der Wahrscheinlichkeit, wo die Mathematiker sich mit Zufall und Risiko befassen. Es gibt Dutzende solcher Inseln, jede mit ihrer einzigartigen Sprache, die den Bewohnern anderer Inseln unverständlich ist. Die Sprache der Geometrie ist völlig anders als die Sprache der Wahrscheinlichkeit,

und der Jargon der Analysis ist bedeutungslos für jene, die nur die Sprache der Statistik kennen. In der Taniyama-Shimura-Vermutung steckte die großartige Chance, zwei Inseln miteinander zu verbinden und ihre Bewohner zum erstenmal miteinander ins Gespräch zu bringen. Barry Mazur betrachtet die Taniyama-Shimura-Vermutung als ein Übersetzungsinstrument ähnlich dem Stein von Rosette, der ägyptisch-demotische, altgriechische und Hieroglyphenschrift enthielt. Auf der Grundlage des Demotischen und Griechischen konnten die Archäologen nun erstmals die Hieroglyphen entziffern. »Es ist, als ob man eine Sprache versteht und dieser Stein von Rosette ein tiefgehendes Verständnis der anderen Sprache ermöglicht«, sagt Mazur. »Doch die Taniyama-Shimura-Vermutung ist ein RosetteStein mit einer gewissen magischen Kraft. Die Vermutung hat die sehr erfreuliche Eigenschaft, daß sich simple Intuitionen in der modularen Welt in tiefe Wahrheiten in der elliptischen Welt verwandeln und umgekehrt. Und hinzu kommt, daß sehr tiefgehende Probleme der elliptischen Welt in manchen Fällen gelöst werden können, indem man sie mit diesem Rosette-Stein in die modulare Welt übersetzt und dabei entdeckt, daß wir die Einsichten und Werkzeuge in der modularen Welt haben, um das übersetzte Problem anzugehen. Daheim in der elliptischen Welt wären wir ratlos gewesen.« Sollte sich die Taniyama-Shimura-Vermutung als richtig erweisen, würde sie es den Mathematikern erlauben, jahrhundertelang ungelöste elliptische Probleme über den Weg in die modulare Welt in Angriff zu nehmen. Man hoffte, das Feld der elliptischen Gleichungen und das der Modulformen vereinigen zu können, und vielleicht gab es zwischen verschiedenen anderen mathematischen Gebieten ebenfalls Verbindungen. Robert Langlands vom Institute for Advanced Study in Princeton verblüfften in den sechziger Jahren die möglichen Auswirkungen der Taniyama-Shimura-Vermutung. Zwar war sie nicht bewiesen worden, doch Langlands glaubte, es handle sich nur um ein Element einer viel umfassenderen Vereinheitlichungsmöglichkeit. Er war sicher, daß es zwischen allen wesentlichen mathematischen

Feldern Verbindungen gab und begann nach diesen Verflechtungen zu suchen. Nach ein paar Jahren kam eine Reihe davon zum Vorschein. Zwar waren diese anderen Einheitsvermutungen alle viel schwächer als Taniyama-Shimura, doch bildeten sie ein kompliziertes Netz hypothetischer Verknüpfungen zwischen vielen Feldern der Mathematik. Langlands’ Traum war es, diese Vermutungen eine nach der ändern zu beweisen und den Weg für eine große Vereinheitlichung der Mathematik zu ebnen. Langlands erörterte seinen Plan einer zukünftigen Mathematik mit Kollegen und versuchte sie zur Mitarbeit am inzwischen sogenannten Langlands-Programm zu bewegen, einer gemeinsamen Anstrengung, die Vielzahl der Vermutungen zu beweisen. Einen klaren Ansatz zur Bestätigung dieser Spekulationen gab es zwar nicht, doch wenn man den Traum verwirklichte, wartete eine überwältigende Belohnung. Jedes unlösbare Problem auf einem Gebiet der Mathematik konnte dann in ein analoges Problem auf einem ändern Gebiet übersetzt werden, wo ein ganz neues Arsenal von Werkzeugen dafür eingesetzt werden konnte. War eine Lösung immer noch nicht greifbar, konnte das Problem erneut übersetzt und auf ein weiteres Gebiet verlagert werden, und so weiter, bis es gelöst war. Eines Tages, so das Langlands-Programm, würden die Mathematiker in der Lage sein, ihre abgelegensten und vertracktesten Probleme zu lösen, indem sie sie auf der mathematischen Landkarte hin und her schoben. Auch für die angewandten Wissenschaften und das Ingenieurwesen waren bedeutende Auswirkungen zu erwarten. Ob es nun darum geht, die Wechselwirkungen kollidierender Quarks zu modellieren oder ein Telekommunikationsnetz am effizientesten zu organisieren, häufig ist der Schlüssel zum Problem ein mathematisches Kalkül. Auf manchen Gebieten der Naturwissenschaft und Technik sind die Berechnungen derart komplex, daß der Fortschritt ins Stocken geraten ist. Wenn die Mathematiker nur die Einheitsvermutungen des Langlands-Programms beweisen könnten, gäbe es Abkürzungen für die Lösung sowohl praktischer als auch abstrakter Probleme. In den siebziger Jahren war das Langlands-Programm zu einer

Blaupause für die mathematische Zukunft geworden, doch war dieser Weg zum Paradies der Problemloser durch die schlichte Tatsache versperrt, daß letztlich keiner mit einer brauchbaren Idee aufwarten konnte, wie irgendeine der Vermutungen Langlands’ zu beweisen wäre. Die stärkste Vermutung im Programm war immer noch Taniyama-Shimura, doch selbst sie schien jenseits der mathematischen Möglichkeiten zu liegen. Ein Beweis der Taniyama-Shimura-Vermutung hätte den ersten Schritt zur Verwirklichung des Langlands-Programms dargestellt, und damit wurde er zu einer der begehrtesten Trophäen der modernen Zahlentheorie. Trotz ihres Status als unbewiesene Vermutung tauchte Taniyama-Shimura immer noch in Hunderten von mathematischen Forschungspapieren auf, wo spekuliert wurde, was geschehen würde, wenn sie bewiesen werden könnte. Die Papiere pflegten mit dem offenen Vorbehalt zu beginnen: »Angenommen, die Taniyama-Shimura-Vermutung trifft zu...«. Dann folgte in der Regel ein Lösungsvorschlag für ein Problem. Natürlich konnten diese Ergebnisse nur hypothetischer Natur sein, denn sie beruhten ja auf der Wahrheit der Taniyama-Shimura-Vermutung. Diese neuen hypothetischen Resultate wiederum nahm man in andere Resultate auf, und so entstand eine Überfülle mathematischer Arbeiten, die auf der Wahrheit der Taniyama-Shimura-Vermutung beruhte. Diese eine Vermutung war die Grundlage einer ganz neuen Architektur der Mathematik geworden, doch bis zu ihrem Beweis war das ganze Gebäude vom Einsturz bedroht. Andrew Wiles war damals ein junger Forscher in Cambridge, und er erinnert sich an die Beklommenheit, die in den siebziger Jahren im Kreis der Mathematiker herrschte: »Wir bauten immer mehr Vermutungen auf, die sich immer weiter in die Zukunft erstreckten, doch sie würden alle närrisch sein, sollte die TaniyamaShimura-Vermutung nicht zutreffen. Also mußten wir TaniyamaShimura beweisen, um zu zeigen, daß dieser ganz neue Entwurf, den wir voller Hoffnung in die Zukunft hineingezeichnet hatten, haltbar war.« Die Mathematiker hatten ein Kartenhaus gebaut. Eines Tages, so träumten sie, würde einer kommen und ihrem Gebäude ein solides

Fundament geben. Andererseits mußten sie mit dem Alptraum leben, eines Tages werde jemand beweisen, daß Taniyama und Shimura tatsächlich falschgelegen hatten, und dann würden zwei Jahrzehnte Forschungsarbeit zunichte gemacht sein.

Das fehlende Glied Im Herbst 1984 versammelte sich eine erlesene Gruppe von Zahlentheoretikern zu einem Symposium in Oberwolfach, einem kleinen Ort im Schwarzwald. Sie waren zusammengekommen, um neueste Erkenntnisse auf dem Feld der elliptischen Gleichungen zu diskutieren, und natürlich berichteten manche Teilnehmer gelegentlich von kleineren Fortschritten, die sie auf dem Weg zum Beweis der Taniyama-Shimura-Vermutung erzielt hatten. Einer der Referenten, der Saarbrücker Mathematiker Gerhard Frey, konnte zwar nicht mit neuen Ideen aufwarten, wie die Vermutung in Angriff zu nehmen wäre, doch er stellte die verblüffende Behauptung auf, falls jemand die Taniyama-Shimura-Vermutung beweisen könnte, wäre damit sofort auch Fermats letzter Satz bewiesen. Frey erhob sich zum Vortrag und schrieb zunächst Fermats Gleichung an die Tafel: x n + y n = z n , mit n größer als 2. Fermats letzter Satz lautet, daß es keine (positiven) ganzzahligen Lösungen für diese Gleichung gibt. Frey jedoch ging der Frage nach, was wäre, wenn diese Vermutung falsch wäre, das heißt, wenn es mindestens eine Lösung gäbe. Er hatte keine Ahnung, wie eine hypothetische und häretische Lösung lauten könnte und bezeichnete daher die unbekannten Zahlen mit den Buchstaben A, B und C: A n + B n = Cn Frey machte sich nun daran, diese Gleichung »umzuformen«. Hier handelt es sich um sein strenges mathematisches Verfahren, welches das Aussehen der Gleichung verändert, ohne ihren Kern anzutasten. Mit einer Reihe geschickter Manöver formte Frey die ur-

sprüngliche Gleichung Fermats mittels der hypothetischen Lösung um in: y 2 = x 3 + (A n - Bn )x 2 - A n B n . Obwohl diese Umformung sich von der ursprünglichen Gleichung offensichtlich stark unterscheidet, folgt sie unmittelbar aus der hypothetischen Lösung. Das heißt, wenn – und das ist ein großes »wenn« – es eine Lösung zu Fermats Gleichung gibt und die Fermatsche Vermutung falsch ist, dann muß es diese umgeformte Gleichung geben. Zu Anfang war Freys Publikum nicht allzu beeindruckt von der Umformung, doch dann wies er darauf hin, daß diese neue Gleichung eine elliptische sei, wenn auch eine sehr verwickelte und exotische. Elliptische Gleichungen haben die Form: y 2 = x 3 + a x2 + b x + c, doch mit

a = An - Bn ,

b = 0,

c = -A n B n

ist es leichter, die elliptische Natur der Freyschen Gleichung einzusehen. Indem Frey die Fermatsche Gleichung in eine elliptische umgeformt hatte, hatte er auch die Fermatsche Vermutung mit der Taniyama-Shimura-Vermutung verknüpft. Frey erläuterte seinen Zuhörern nun, daß seine elliptische Gleichung, erzeugt aus der hypothetischen Lösung der Fermatschen Gleichung, wahrhaft kurios sei. Tatsächlich behauptete Frey, seine elliptischen Gleichungen seien so abwegig, daß die Auswirkungen ihrer Existenz für die Taniyama-Shimura-Vermutung vernichtend wären. Behalten wir im Auge, daß Freys elliptische Gleichung nur eine Phantomgleichung ist. Es gäbe sie nur dann, wenn Fermats letzter Satz falsch wäre. Würde Freys elliptische Gleichung jedoch tatsächlich existieren, dann wäre sie so merkwürdig, daß sie offenbar mit keiner Modulform verwandt sein könnte. Doch die TaniyamaShimura-Vermutung besagt, daß jede elliptische Gleichung mit einer Modulform verwandt sein muß. Daher würde die Existenz von Freys elliptischer Gleichung der Taniyama-Shimura-Vermutung widersprechen.

Mit anderen Worten, Freys Argument lautete wie folgt: (1) Wenn (und nur wenn) Fermats letzter Satz falsch ist, existiert Freys elliptische Gleichung. (2) Freys elliptische Gleichung ist so abwegig, daß sie nie modular sein kann. (3) Die Taniyama-Shimura-Vermutung besagt, daß jede elliptische Gleichung modular sein muß. (4) Deshalb muß die Taniyama-Shimura-Vermutung falsch sein! Andererseits jedoch, und folgenträchtiger, konnte Frey sein Argument auch rückwärts aufziehen: (1) Wenn die Taniyama-Shimura-Vermutung bewiesen werden kann, muß jede elliptische Gleichung modular sein. (2) Wenn jede elliptische Gleichung modular sein muß, dann darf die Freysche elliptische Gleichung nicht existieren. (3) Wenn die Freysche elliptische Gleichung nicht existiert, dann kann es keine Lösungen der Fermatschen Gleichung geben. (4) Deshalb ist die Fermatsche Vermutung richtig! Gerhard Frey war zu dem dramatischen Schluß gelangt, daß die Wahrheit der Fermatschen Vermutung unmittelbar aus einem Beweis der Taniyama-Shimura-Vermutung folgen würde. Frey behauptete, wenn die Mathematiker die Taniyama-Shimura-Vermutung beweisen könnten, würden sie automatisch auch Fermats letzten Satz beweisen. Zum ersten Mal in über hundert Jahren sah das härteste mathematische Problem angreifbar aus. Frey zufolge war die einzige Hürde, die vor dem Beweis von Fermats Vermutung noch zu nehmen war, der Beweis der Taniyama-Shimura-Vermutung. Freys Publikum war von seiner brillanten Einsicht beeindruckt, doch herrschte auch Verblüffung über einen elementaren Fehler in seiner Logik. Fast jeder der Anwesenden, außer Frey selbst, hatte ihn bemerkt. Der Fehler schien nicht schwerwiegend zu sein: doch solange er nicht behoben war, war Freys Arbeit unvollständig. Wer auch immer den Fehler als erster korrigieren würde, sollte auch die

Anerkennung für die Verknüpfung von Fermat und Taniyama-Shimura bekommen. Freys Zuhörer verließen hastig das Auditorium in Richtung Kopierraum. Die Bedeutung eines Vertrags kann häufig an der Länge der Schlange bemessen werden, die im Anschluß daran mit den Unterlagen vor den Kopierern steht. Mit der vollständigen Ausarbeitung der Freyschen Ideen in Händen kehrten die Zuhörer in ihre Institute zurück, wo sie sich daranmachten, die Lücke zu füllen. Freys Argument beruhte auf der Tatsache, daß seine aus der Fermatschen Gleichung abgeleitete elliptische Gleichung so kurios war, daß sie nicht modular sein konnte. Seine Arbeit war unvollständig, weil er nicht bewiesen hatte, daß seine elliptische Gleichung hinreichend abwegig war. Erst wenn jemand beweisen konnte, daß sie völlig abwegig war, würde ein Beweis der Taniyama-Shimura-Vermutung auch den Beweis der Fermatschen Vermutung nach sich ziehen. Die Mathematiker glaubten zunächst, die Abwegigkeit der elliptischen Gleichung Freys zu beweisen, sei mehr oder weniger Routinearbeit. Freys Fehler hatte auf den ersten Blick ausgesehen wie der eines Anfängers, und alle, die in Oberwolfach dabeigewesen waren, nahmen an, es würde einen Wettlauf darum geben, wer die Rechnung zuerst auf die Reihe bekam. Sicher würde in ein paar Tagen eine E-Mail auftauchen, in der dann der Absender zeigen würde, wie er die Abwegigkeit von Freys elliptischer Gleichung bewiesen hatte. Eine Woche verging, doch die E-Mail kam nicht. Monate verstrichen, und der mathematische Sprint, den man zunächst erwartet hatte, verwandelte sich in einen Marathonlauf. Offenbar zwackte und quälte Fermat seine Nachfahren immer noch. Frey hatte eine verlockende Strategie zum Beweis von Fermats letztem Satz entworfen, doch selbst der erste elementare Schritt, der Beweis, daß Freys elliptische Gleichung nicht modular war, fiel den Mathematikern rund um den Globus verblüffend schwer. Um diesen Beweis zu führen, suchten die Mathematiker nach Invarianten, ähnlich denen, die in Kapitel 4 beschrieben wurden.

Ken Ribet

Die Knoteninvariante zeigte, daß ein Knoten nicht in einen anderen verwandelt werden konnte, und Loyd wies mit der Puzzleinvariante nach, daß sein »14-15«-Puzzle nicht in die richtige Reihenfolge gebracht werden konnte. Wenn die Zahlentheoretiker eine geeignete Invariante finden konnten, um Freys elliptische Gleichung zu beschreiben, dann konnten sie beweisen, daß sie, wie auch immer umgeformt, nie in eine modulare Form zu verwandeln war. Auch Ken Ribet, Professor an der Universität von Kalifornien in Berkeley, gehörte zu den Mathematikern, die sich abplagten, um die Verbindung der Taniyama-Shimura-Vermutung mit der Fermatschen Vermutung zu beweisen und zu vervollständigen. Seit dem Vortrag in Oberwolfach war Ribet ganz versessen darauf zu beweisen, daß Freys elliptische Gleichung zu abwegig war, um modular sein zu können. Doch auch nach achtzehnmonatiger Anstrengung hatte er, wie alle ändern, nichts in der Hand. Dann, im Sommer 1986, kam Ribets Kollege Barry Mazur nach Berkeley, um an einem internationalen Mathematikerkongreß teilzunehmen. Die beiden Freunde trafen sich auf einen Cappuccino im Cafe Strada, klagten sich ihr Leid und grummelten ein wenig über den schlechten Zustand der Mathematik. Schließlich besprachen sie die letzten Neuigkeiten über die verschiedenen Versuche, die Abwegigkeit von Freys elliptischer Gleichung zu beweisen, und Ribet erläuterte seinem Freund eine von ihm ausgeklügelte vorläufige Strategie. Der Ansatz schien einigermaßen erfolgversprechend, doch könne er nur einen kleinen Teil davon beweisen. »Ich setzte mich mit Barry zusammen und erzählte ihm, an was ich arbeitete. Ich erwähnte, daß ich einen sehr speziellen Fall bewiesen hätte, jedoch nicht wüßte, wie er zu verallgemeinern wäre, um den Beweis in seinem vollen Umfang zu gewinnen.« Professor Mazur nippte an seinem Cappuccino und lauschte Ribets Ausführungen. Plötzlich stutzte er und starrte Ken ungläubig ins Gesicht. »Aber siehst du denn nicht? Du hast es schon geschafft! Alles, was du tun mußt, ist, ein Gamma-Null der algebraischen Struktur (M) zu addieren und noch einmal das Argument

durchgehen, dann funktioniert es. Damit hast du alles, was du brauchst.« Ribet blickte Mazur an, dann seinen Cappuccino, schließlich wieder Mazur. Es war der wichtigste Augenblick in Ribets Laufbahn, und er erinnert sich noch liebevoll an die kleinsten Einzelheiten. »Ich sagte, du hast vollkommen recht – natürlich –, wie konnte ich das nur übersehen. Ich war völlig verblüfft, weil es mir nie in den Sinn gekommen war, das zusätzliche Gamma-Null der Struktur (M) hinzuzufügen, so einfach das auch klingt.« Man sollte hinzusetzen, daß Gamma-Null der Struktur (M) addieren wohl für Ken Ribet einfach klingen mag, es sich hier jedoch um einen logischen Schritt für die Eingeweihten handelt, den nur eine Handvoll aller Mathematiker über einer Tasse Cappuccino aushecken könnten. »Es war die entscheidende Zutat, die mir gefehlt hatte, und sie war die ganze Zeit mit Händen greifbar gewesen. Wie auf einer Wolke ging ich zurück in meine Wohnung und dachte die ganze Zeit: Mein Gott, stimmt das wirklich? Völlig in Gedanken versunken setzte ich mich hin und begann auf einem Notizblock herumzukritzeln. Nach ein oder zwei Stunden hatte ich alles ausformuliert und mich vergewissert, daß ich die entscheidenden Schritte beherrschte und daß alles zusammenpaßte. Ich ging mein Argument noch einmal durch und sagte mir, ja, das muß unbedingt funktionieren. Und da waren natürlich Tausende von Mathematikern auf dem internationalen Kongreß, und ein paar Leuten gegenüber erwähnte ich sozusagen beiläufig, ich hätte gezeigt, daß ein Beweis der Taniyama-Shimura-Vermutung auch die Fermatsche Vermutung bestätigen würde. Das verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und bald wußte es eine ganze Menge Leute. Sie kamen hinter mir hergerannt und fragten: Stimmt es wirklich, daß Sie bewiesen haben, daß Freys elliptische Gleichung nicht modular ist? Ich brauchte eine Minute, um nachzudenken, und sagte dann plötzlich: Ja, das habe ich.« Fermats letzter Satz war jetzt unauflöslich mit der TaniyamaShimura-Vermutung verknüpft. Würde jemand beweisen, daß alle elliptischen Gleichungen modular sind, dann hieße dies zugleich,

daß Fermats Gleichung keine Lösungen besitzt, und würde sofort den Beweis von Fermats letztem Satz ergeben. Dreieinhalb Jahrhunderte lang war die Fermatsche Vermutung ein abgeschottetes Problem gewesen, ein merkwürdiges und unlösbares Rätsel am Rande der Mathematik. Nun hatte es Ken Ribet, angeregt von Gerhard Frey, ins Rampenlicht gerückt. Das wichtigste Problem des siebzehnten Jahrhunderts war mit dem bedeutendsten Problem des zwanzigsten Jahrhunderts verknüpft. Ein Rätsel von enormer historischer und emotionaler Bedeutung war mit einer Vermutung verbunden, die die moderne Mathematik revolutionieren konnte. Frey hatte die anstehende Aufgabe klar definiert. Die Mathematiker würden, falls sie die Taniyama-Shimura-Vermutung beweisen konnten, zugleich auch Fermats letzten Satz beweisen. Zunächst regten sich neue Hoffnungen, doch dann wurde die Realität der Lage deutlich. Die Mathematiker hatten dreißig Jahre lang versucht, Taniyama-Shimura zu beweisen und waren gescheitert. Warum sollten sie jetzt irgendwelche Fortschritte machen? Die Skeptiker glaubten, daß nun jede noch so kleine Hoffnung auf die Taniyama-Shimura-Vermutung zerstoben war. Ihrer Logik zufolge war nämlich alles, was zu einer Lösung des Fermatproblems führen konnte, per Definition unmöglich. Selbst Ken Ribet, dem der entscheidende Durchbruch gelungen war, blieb pessimistisch: »Ich gehörte zu der überwiegenden Mehrheit von Leuten, die glaubten, daß die Taniyama-Shimura-Vermutung völlig unzugänglich sei. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, sie zu beweisen. Ich habe nicht einmal mit dem Gedanken daran gespielt. Andrew Wiles war vermutlich einer der wenigen Menschen auf der Welt, die so kühn waren, davon zu träumen, man könne wirklich hergehen und diese Vermutung beweisen.«

Im Jahr 1986 erfuhr Andrew Wiles, daß es möglich wäre, Fermats letzten Satz auf dem Weg über die Taniyama-Shimura-Vermutung zu beweisen.

6 Die geheime Berechnung Ein fachkundiger Problemloser muß zwei unvereinbare Qualitäten besitzen – rastlose Phantasie und geduldige Beharrlichkeit. Howard W. Eves

»Es war eines Abends im Spätsommer 1986. Ich war zu Besuch im Hause eines Freundes und nippte an meinem Eistee. Mitten im Gespräch erwähnte der Freund nebenbei, Ken Ribet habe nachgewiesen, daß zwischen der Taniyama-Shimura-Vermutung und Fermats letztem Satz tatsächlich ein Zusammenhang besteht. Ich war ganz aus dem Häuschen. In diesem Moment wurde mir klar, daß sich der Lauf meines Lebens ändern würde, denn um Fermats letzten Satz zu beweisen, mußte ich jetzt nur die Taniyama-Shimura-Vermutung bestätigen. Aus meinem Kindheitstraum war etwas geworden, woran ein ernstzunehmender Mensch arbeiten konnte. Ich durfte diese Gelegenheit einfach nicht verpassen. Mir war klar, daß ich nach Hause gehen und mir die Taniyama-Shimura-Vermutung vornehmen würde.« Über zwei Jahrzehnte waren vergangen, seit Andrew Wiles in einer Bibliothek jenes Buch in die Hände genommen hatte, das ihn zum Kampf mit Fermat anspornte. Doch nun sah er zum ersten Mal einen Weg vor sich, der ihn zur Erfüllung seines Kindheitstraums führen konnte. Wiles’ Einstellung zu Taniyama-Shimura änderte sich schlagartig: »Mir fiel ein Mathematiker ein, der über die Taniyama-Shimura-Vermutung geschrieben und süffisant angemerkt hatte, es handle sich um eine Übung für den interessierten Leser. Ja, jetzt war ich sehr wohl interessiert!« Nach dem Abschluß seiner Doktorarbeit bei Professor John

Coates in Cambridge war Wiles auf die andere Seite des Atlantiks nach Princeton gegangen, nun selbst Professor. Unter Coates’ Obhut hatte er sich vermutlich mehr Kenntnisse über elliptische Gleichungen erarbeitet als jeder andere, doch war er sich durchaus darüber im klaren, daß die Aufgabe trotz dieses enormen Hintergrundwissens und seines großen mathematischen Geschicks immer noch überwältigend war. Die meisten anderen Mathematiker, darunter auch John Coates, waren überzeugt, ein Beweisversuch sei verlorene Liebesmüh: »Ich für mein Teil hatte große Zweifel, ob die schöne Verknüpfung von Fermats letztem Satz mit der Taniyama-Shimura-Vermutung wirklich zu irgend etwas führen würde, denn wie ich gestehen muß, glaubte ich nicht, die Taniyama-Shimura-Vermutung könne überhaupt bewiesen werden. So schön sie auch war, es schien unmöglich, sie zu beweisen. Ehrlich gesagt, meinte ich, sie würde meiner Lebtage nie bewiesen werden.« Wiles wußte, daß die Chancen schlecht für ihn standen, doch selbst wenn er am Ende scheitern und Fermats letzten Satz nicht beweisen würde, so war er doch davon überzeugt, daß seine Mühen nicht umsonst sein würden: »Natürlich stand der Beweis für die Taniyama-Shimura-Vermutung schon seit etlichen Jahren aus. Keiner hatte die geringste Idee, wie man ansetzen könnte, doch wenigstens war es keine abwegige mathematische Beschäftigung. Ich konnte versuchen, bestimmte Zwischenresultate zu erzielen, was sich mathematisch immerhin gelohnt hätte, auch wenn mir der ganze Beweis nicht gelingen sollte. Ich hatte nicht das Gefühl, meine Zeit zu verschwenden. Mein Leben lang war ich die romantische Neigung zur Fermatschen Vermutung nicht losgeworden, und nun war sie mit einem Problem verknüpft, mit dem man sich auch professionell befassen konnte.«

Der Eremit in der Dachkammer Um die Jahrhundertwende antwortete der große Logiker David Hubert auf die Frage, warum er denn nicht versuche, Fermats letzten Satz zu beweisen: »Bevor ich überhaupt anfangen könnte, müßte ich mich drei Jahre lang intensiv einarbeiten, und so viel Zeit kann ich nicht auf ein wahrscheinlich zum Scheitern verurteiltes Unternehmen verschwenden.« Um überhaupt eine Chance zu haben, dessen war sich Wiles durchaus bewußt, mußte er sich zunächst tief in das Problem versenken, doch im Gegensatz zu Hubert war er bereit, das Risiko auf sich zu nehmen. Er las die neuesten Zeitschriftenbeiträge und probte die modernsten mathematischen Verfahren so lange durch, bis er sie im Schlaf beherrschte. Um sich alle notwendigen Waffen für die bevorstehende Schlacht zu verschaffen, mußte er sich in den nächsten anderthalb Jahren mit jedem Stück Mathematik vertraut machen, das jemals auf elliptische Gleichungen und Modulformen angewandt oder aus ihnen abgeleitet worden war. Eine vergleichsweise kleine Investition, wenn man sich vor Augen hält, daß er damit rechnete, ein ernsthafter Beweisversuch könnte durchaus zehn Jahre hartnäckiger Anstrengung verlangen. Wiles gab alle Arbeiten auf, die nicht direkt im Zusammenhang mit dem Beweis der Fermatschen Vermutung standen, und nahm auch nicht mehr am endlosen Karussell der Konferenzen und Kolloquien teil. Da er an der mathematischen Fakultät in Princeton Verpflichtungen hatte, besuchte er noch Seminare, unterrichtete Studenten und hielt Tutorien ab. Wann immer möglich, ging er den Ablenkungen eines Fakultätsmitglieds aus dem Weg und arbeitete zu Hause, wo er sich in seine Dachkammer zurückziehen konnte. Dort versuchte er, die Möglichkeiten der herkömmlichen Verfahren zu erweitern, in der Hoffnung, eine Strategie für den Angriff auf die Taniyama-Shimura-Vermutung entwickeln zu können. »Wenn ich damals in mein Arbeitszimmer hochkam, setzte ich mich an den Versuch, bestimmte Musterbeispiele ausfindig zu machen. Ich probierte es mit Berechnungen, die ein kleines Stück Ma-

thematik erklärten. Dieses wiederum wollte ich in einen schon bestehenden, umfassenden begrifflichen Rahmen eines Teilbereichs der Mathematik einfügen, mit dem das Problem vielleicht zu lösen wäre. Manchmal mußte ich mir dafür ein Buch holen, um zu sehen, wie es dort gemacht wurde. Ein andermal ging es nur darum, das Vorhandene geringfügig zu ändern und eine kleine Zusatzrechnung anzustellen. Und gelegentlich kam ich zu der Einsicht, daß nichts bisher Verfügbares auch nur im geringsten brauchbar war. Also mußte ich einfach etwas ganz Neues finden – und es ist ein Rätsel, wo das herkommt. Im Grunde ist es nur eine Frage des Denkens. Oft schreibt man etwas hin, um einen Gedankengang zu klären, aber nicht immer. Besonders wenn man wirklich in eine Sackgasse geraten ist, wenn man ein echtes Problem überwinden will, dann nützt einem das gängige mathematische Denken überhaupt nichts. Um auf diese Art von neuer Idee zu kommen, braucht es eine lange Zeit äußerster Hingabe an das Problem, ohne jede Ablenkung. Man darf wirklich an nichts anderes denken – und muß sich einfach darauf konzentrieren. Und dann hält man inne. Nun kommt es offenbar zu einer Phase der Entspannung, in der das Unbewußte die Sache in die Hand nimmt, und in dieser Zeit gelingen einige der neuen Einsichten.« In dem Moment, da er sich auf den Beweis einließ, traf Wiles auch den bemerkenswerten Entschluß, in völliger Abgeschiedenheit zu arbeiten und kein Wort darüber zu reden. In der modernen Mathematik hat sich eine Gepflogenheit der gemeinsamen Arbeit entwickelt, und vor diesem Hintergrund erschien Wiles’ Entscheidung als ein Rückfall in vergangene Zeiten. Es schien, als ob er den berühmtesten mathematischen Eremiten, Fermat selbst, nachahmte. Ein Grund für die Entscheidung, über seine Arbeit Stillschweigen zu bewahren, war Wiles zufolge das Bedürfnis, in Ruhe gelassen zu werden: »Mir war klar, daß alles, was mit Fermats letztem Satz zu tun hatte, zuviel Interesse weckte. Man kann sich nur dann wirklich über Jahre hinweg in ein Problem versenken, wenn die Aufmerksamkeit nicht zerfasert, und zu viele Zaungäste hätten sie zunichte gemacht.«

Ein weiterer Beweggrund für Wiles’ Stillschweigen war sicher auch das Verlangen nach Ruhm. Er befürchtete, eines Tages den Beweis schon fast in der Tasche zu haben, ohne den letzten Schritt der Rechnung beenden zu können. Sollte an diesem Punkt etwas über seine bahnbrechenden Leistungen nach außen dringen, gäbe es nichts, was einen Rivalen davon abhalten würde, auf der Grundlage seiner Arbeit den Beweis zu vervollständigen und ihm den Preis vor der Nase wegzuschnappen. In den Jahren, die nun folgten, gelangen Wiles eine Reihe außergewöhnlicher Entdeckungen, von denen keine diskutiert oder veröffentlicht werden sollte, solange der Beweis noch nicht vollständig war. Selbst vertraute Kollegen wußten nichts von diesen Forschungen. John Coates erinnert sich an Gespräche mit Wiles, bei denen er kein Sterbenswörtchen herausrückte. »Ich weiß noch, wie ich ihm bei dieser oder jener Gelegenheit gesagt habe: ›Gut und schön, diese Verknüpfung mit Fermats letztem Satz, aber Taniyama-Shimura zu beweisen ist immer noch ein aussichtsloses Unterfangene Ich glaube, er hat nur gelächelt.« Ken Ribet, der den Zusammenhang von Fermat und TaniyamaShimura endgültig bewiesen hatte, wußte ebenfalls nichts von Wiles’ heimlichem Forschungsunternehmen. »Das ist wohl der einzige mir bekannte Fall, wo jemand so lange vor sich hinarbeitete, ohne preiszugeben, was er tat, ohne über seine Fortschritte zu sprechen. Das gab es nach meiner Erfahrung einfach nicht. In unseren Kreisen teilen die Leute einander ihre Ideen immer mit. Die Mathematiker treffen sich auf Konferenzen, sie besuchen sich zu Gastseminaren, sie schicken sich E-Mails, sie telefonieren miteinander, sie fragen nach den neuesten Erkenntnissen, sie bitten um Rückmeldungen – die Mathematiker sind immer im Gespräch miteinander. Wenn du mit anderen Leuten redest, klopfen sie dir auf die Schulter; sie sagen dir, wie wichtig es sei, was du geleistet hast, und teilen ihre Ideen mit dir. Das ist sehr fruchtbar, und wenn man sich davon abnabelt, tut man etwas, was psychologisch gesehen wohl ziemlich sonderbar ist.« Um keinen Verdacht zu erregen, heckte Wiles einen schlauen Vorwand aus, der die Kollegen von der Spur abbrachte. Anfang

der achtziger Jahre hatte er an einem größeren Forschungsvorhaben über einen bestimmten Typ elliptischer Gleichungen gearbeitet, dessen Ergebnisse er eigentlich zur Gänze veröffentlichen wollte, bis er durch die Entdeckungen Ribets und Freys auf andere Gedanken kam. Wiles beschloß, seine Forschungen in Teilen zu veröffentlichen und alle halbe Jahre ein kleineres Papier herauszubringen. Mit dieser vorgeblichen Produktivität machte er seine Kollegen glauben, er arbeite immer noch an seinem alten Vorhaben. Denn solange dieses Täuschungsmanöver funktionierte, konnte Wiles seiner wahren Leidenschaft nachgehen, ohne etwas von seinen bahnbrechenden Arbeiten preiszugeben. Der einzige Mensch, der Wiles’ Geheimnis kannte, war seine Frau Nada. Sie hatten geheiratet, kurz nachdem Wiles mit der Arbeit an seinem Beweis begonnen hatte, und wenn er Fortschritte machte, vertraute er das ausschließlich Nada an. In den Jahren nach der Heirat war die Familie seine einzige Zerstreuung. »Meine Frau kennt mich nur aus der Zeit, in der ich an Fermat arbeitete. Auf unserer Hochzeitsreise, ein paar Tage nach der Heirat, habe ich ihr davon erzählt. Sie hatte von Fermats letztem Satz gehört, doch damals hatte sie noch keine Ahnung, welche romantische Bedeutung er für Mathematiker hatte und was für ein Stachel er so viele Jahre in unserem Fleisch gewesen war.«

Duell mit dem Unendlichen Um Fermats letzten Satz zu beweisen, mußte Wiles zunächst die Taniyama-Shimura-Vermutung beweisen: Jede elliptische Gleichung kann mit einer Modulform in Beziehung gesetzt werden. Schon bevor ihr Zusammenhang mit Fermats letztem Satz nachgewiesen worden war, hatten die Mathematiker verbissen versucht, diese Vermutung zu beweisen, doch alle Ansätze waren gescheitert. Wiles war sich der immensen Schwierigkeit, den Beweis zu führen, durchaus bewußt: »Was man als letztes in aller Unbedarftheit hätte versuchen können, und was manche Leute sicher auch taten, war, die elliptischen Gleichungen und die Modulformen abzuzählen

und zu zeigen, daß es von beiden gleich viele gab. Aber dafür hat keiner jemals ein einfaches Verfahren entdeckt. Das erste Problem ist nämlich, daß es unendlich viele von beiden gibt und daß man eine unendliche Menge nicht abzählen kann. Das geht einfach nicht.« Wiles versuchte es zunächst mit seinem üblichen Ansatz für schwierige Probleme. »Ich kritzle manchmal Muster oder Figuren aufs Papier. Nichts Wichtiges, eben unbewußte Krakeleien. Einen Computer benutze ich nicht.« In diesem Falle, wie bei vielen Problemen in der Zahlentheorie, waren Computer völlig nutzlos. Die Taniyama-Shimura-Vermutung betraf eine unendliche Zahl von Gleichungen. Gewiß konnte man mit einem Computer innerhalb von wenigen Sekunden einen bestimmten Fall überprüfen, aber für alle Fälle war es unmöglich. Notwendig war ein logischer Argumentationsgang, der eine handfeste Begründung dafür lieferte, warum jede elliptische Gleichung modular sein mußte. Dazu brauchte Wiles nur Papier und Bleistift und seinen Grips. »Dieser Gedanke ging mir praktisch die ganze Zeit im Kopf herum. Wachte ich morgens auf, fiel mir als erstes der Beweis ein. Ich dachte den ganzen Tag darüber nach, auch noch, wenn ich schlafen ging. Wenn ich keine Ablenkung hatte, wälzte ich unablässig diesen einen Gedanken.« Nach einem Jahr des Nachdenkens beschloß Wiles, eine allgemeine Strategie für seinen Beweis einzusetzen, die als Induktion bezeichnet wird. Die Induktion ist ein ausgesprochen mächtiges Beweisverfahren, denn sie erlaubt es einem Mathematiker zu zeigen, daß eine Aussage für eine unendliche Zahl von Fällen wahr ist, ohne daß er den Beweis für mehr als einen bestimmten Fall ausführen muß. Stellen wir uns zum Beispiel vor, ein Mathematiker wolle beweisen, daß eine Aussage auf jede natürliche Zahl bis ins Unendliche zutrifft. Der erste Schritt besteht darin, zu zeigen, daß die Aussage für die Zahl 1 gilt, was vermutlich eine ziemlich einfache Sache ist. Der nächste Schritt ist der Nachweis, daß wenn die Aussage für die Zahl 1 gilt, sie auch für die Zahl 2 gelten muß; und wenn sie für die 2 gilt, muß sie ebenfalls auf die 3 zutreffen, und wenn auf die 3, dann auch auf die 4, und so weiter. Allgemeiner ge-

sagt, muß der Mathematiker zeigen, daß wenn die Aussage für irgendeine Zahl n wahr ist, sie dann auch für die nächste Zahl n + 1 wahr sein muß. Der Beweis durch Induktion besteht im Kern aus zwei Schritten: (1) Beweise, daß die Aussage für den ersten Fall gilt. (2) Beweise, daß wenn die Aussage für irgendeinen Fall gilt, sie auch für den nächsten Fall gelten muß. Man kann sich den induktiven Beweis auch veranschaulichen, indem man sich die unendliche Zahl von Fällen als unendliche Reihe von Dominosteinen vorstellt. Den Beweis für jeden einzelnen Fall zu führen heißt, eine Möglichkeit zu finden, jeden einzelnen Dominostein umzukippen. Einen nach dem ändern umzukippen würde unendlich viel Zeit und Mühe kosten. Der induktive Beweis erlaubt es jedoch den Mathematikern, mit dem ersten Stein auch alle ändern umzukippen. Wenn die Dominosteine richtig aufgereiht sind, dann wird der erste umkippende Stein auch den zweiten mit sich nehmen, dieser wiederum den dritten und so weiter bis ms Unendliche. Diesen Dominoeffekt macht man sich beim induktiven Beweis zunutze. Er ist eine Art mathematisches Domino, bei dem man nur den ersten Fall beweist und damit zugleich die unendliche Zahl von Fällen. In Anhang 10 wird gezeigt, wie der induktive Beweis bei einer verhältnismäßig einfachen mathematischen Aussage über alle Zahlen verwendet werden kann. Die Herausforderung für Wiles bestand darin, ein induktives Argument aufzubauen und damit zu zeigen, daß jede einzelne der unendlich vielen elliptischen Gleichungen mit einer der unendlich vielen Modulformen zusammenpasse. Er mußte, wie auch immer, den Beweis auf eine unendliche Zahl von Einzelfällen zuschneiden und dann den ersten Fall beweisen. Im nächsten Schritt mußte er dann zeigen, daß mit dem Beweis des ersten Falles alle anderen ebenfalls bewiesen waren. Im Werk eines tragischen Genies aus dem Frankreich des neunzehnten Jahrhunderts fand er schließlich den ersten Schritt seines induktiven Beweises verborgen. Evariste Galois wurde am 25. Oktober 1811, nur zweiundzwan-

zig Jahre nach der Französischen Revolution, in Bourg-la-Reine geboren, einem kleinen Dorf nicht weit südlich von Paris. Napoleon Bonaparte war damals auf dem Gipfel seiner Macht, doch im Jahr darauf unternahm er den katastrophalen Rußlandfeldzug, und 1814 wurde er ins Exil verwiesen und durch König Ludwig XVIII. ersetzt. Im Jahr 1815 floh Napoleon von Elba, marschierte in Paris ein und übernahm erneut die Macht, wurde jedoch nach hundert Tagen bei Waterloo geschlagen und erneut gezwungen, zugunsten von Ludwig XVIII. abzudanken. Galois wuchs wie Sophie Germain in einer Zeit gewaltiger Umwälzungen auf, doch während Germain sich von den Wirren der Französischen Revolution abschottete und sich auf die Mathematik konzentrierte, verstrickte sich Galois immer wieder in die politischen Konflikte, die ihn nicht nur von einer glänzenden akademischen Karriere abhielten, sondern auch zu seinem allzu frühen Tod führten. Die allgemeine Unruhe beeinflußte zwar das Leben aller, doch war es vor allem Galois’ Vater, Nicolas-Gabriel Galois, der das Interesse seines Sohnes an der Politik weckte. Als Evariste erst vier Jahre alt war, wurde sein Vater zum Bürgermeister von Bourg-laReine gewählt. Damals kehrte Napoleon gerade triumphal an die Macht zurück, und die starken liberalen Überzeugungen des Vaters standen in Einklang mit der Stimmung der Nation. Nicolas-Gabriel Galois war ein gebildeter und wohlwollender Mann, der in den ersten Jahren als Bürgermeister in der ganzen Gemeinde Respekt gewann, so daß er auch nach der Rückkehr Ludwigs XVIII. auf den Thron sein durch Wahl erworbenes Amt behielt. Abgesehen von der Politik scheint er sich hauptsächlich mit dem Schmieden geistreicher Verse beschäftigt zu haben, die er zum Vergnügen des Publikums bei den Gemeindeversammlungen zum besten gab. Viele Jahre später sollte diese gewinnende Begabung für Sinngedichte zu seinem Sturz führen. Mit zwölf Jahren kam Evariste Galois an seine erste Schule, das Lycée Louis-le-Grand, ein angesehenes, wenn auch autoritäres Institut. Anfangs erhielt er keinerlei Mathematikunterricht, und seine schulischen Leistungen waren achtbar, doch nicht außergewöhnlich. Im ersten Schuljahr jedoch sollte eine Begebenheit seinen

Evariste Galois

künftigen Lebensweg vorprägen. Das Lycée war zuvor eine jesuitische Schule gewesen, und nun kamen Gerüchte auf, es solle erneut in die Obhut der Priester gestellt werden. Damals herrschte ein unablässiger Kampf zwischen Republikanern und Monarchisten um die Machtverteilung zwischen Ludwig XVIII. und den Volksvertretern. Den wachsenden Einfluß des Klerus wertete man als Anzeichen für eine Verlagerung der Kräfte zugunsten des Königs. Die Schüler des Lycée mit ihren überwiegend republikanischen Neigungen planten einen Aufstand, doch der Direktor, Monsieur Berthod, deckte die Verschwörung auf und verwies gut ein Dutzend Anführer sofort von der Schule. Am Tag darauf verlangte Berthod von den verbliebenen älteren Schülern eine Treuebekundung, doch diese weigerten sich, einen Toast auf Ludwig XVIII. auszubringen, woraufhin hundert weitere Schüler ausgeschlossen wurden. Galois war zu jung, um an der gescheiterten Rebellion teilnehmen zu können, und blieb im Lycée. Dennoch mußte er mit ansehen, wie seine Mitschüler gedemütigt wurden, und dieses Erlebnis entfachte seine republikanischen Neigungen. Mit sechzehn Jahren erhielt Galois erstmals Unterricht in Mathematik, und diese verwandelte ihn nach Ansicht seiner Lehrer von einem gewissenhaften Eleven in einen aufmüpfigen Schüler. Den Schulberichten zufolge vernachlässigte er alle anderen Fächer und verlegte sich allein auf seine neu gefundene Leidenschaft. Dieser Schüler bewegt sich ausschließlich in den höchsten Gefilden der Mathematik. Der mathematische Wahn beherrscht den Jungen. Ich denke, es wäre das beste für ihn, wenn seine Eltern ihm gestatten würden, nur dieses eine Fach zu studieren, andernfalls verschwendet er hier seine Zeit und tut nichts, als seine Lehrer zu quälen und sich selbst mit Strafen zu überhäufen. Galois’ Heißhunger auf die Mathematik erschöpfte bald die Möglichkeiten seines Lehrers. Er begann nun umstandslos aus den neuesten Büchern der zeitgenössischen Meister zu lernen. Mühelos sog er die schwierigsten Begrifflichkeiten auf, und mit siebzehn Jahren veröffentlichte er seinen ersten Aufsatz in den Annales de

Gergonne. Der weitere Weg des Wunderkinds schien klar vorgezeichnet, freilich sollte gerade seine unglaubliche Brillianz das größte Hindernis für ihn sein. Obwohl er offensichtlich mehr als genug Mathematik beherrschte, waren seine Lösungen häufig so neuartig und ausgebufft, daß seine Prüfer sie nicht anerkennen wollten. Schlimmer noch, Galois führte so viele Rechnungen im Kopf aus, daß er sich nicht darum scherte, den Gedankengang zu Papier zu bringen, was die unzulänglichen Prüfer noch mehr verwirrte und vor den Kopf stieß. Nicht besonders hilfreich in dieser Lage war zudem das aufbrausende und ungeduldige Temperament des jungen Genies, mit dem er seine Lehrer oder irgend jemand sonst, der seinen Weg kreuzte, nicht gerade für sich einnehmen konnte. Als Galois sich an der angesehensten Hochschule des Landes, der École Polytechnique bewarb, verweigerte man ihm wegen Sprunghaftigkeit und mangelnden Erläuterungen in der mündlichen Prüfung die Aufnahme. Galois war ganz versessen auf die Polytechnique, nicht nur wegen ihrer herausragenden akademischen Stellung, sondern auch, weil sie im Ruf stand, ein Zentrum der republikanischen Bewegung zu sein. Ein Jahr später bewarb er sich erneut, und wiederum verwirrte er den Prüfer, Monsieur Dinet, mit seinen logischen Bocksprüngen. Galois ahnte, daß er ein zweites Mal durchfallen würde, und enttäuscht, daß seine überragenden Fähigkeiten nicht erkannt wurden, verlor er die Beherrschung und warf einen Tafelschwamm nach Dinet. Es war ein Volltreffer. Galois sollte die heiligen Hallen der Polytechnique nie mehr betreten. Galois ließ sich von diesen Niederlagen nicht entmutigen, er blieb sich seiner mathematischen Begabung auch weiterhin sicher und setzte seine Studien auf eigene Faust fort. Hauptsächlich befaßte er sich mit der Suche nach Lösungen für bestimmte Gleichungen, zum Beispiel den quadratischen. Sie haben die Form ax 2 + bx + c = 0,

mit beliebigen Werten für a, b und c.

Die Aufgabe besteht nun darin, diejenigen Werte von x zu finden, die für die quadratische Gleichung Lösungen ergeben. Die Mathematiker halten es weniger mit Versuch und Irrtum, sondern bevor-

zugen ein Rezept zum Finden von Lösungen. Glücklicherweise gibt es eins: x=

-b ±

(b 2 - 4a c) 2a

Indem man einfach die Werte von a, b und c in das obige Rezept einsetzt, kann man die richtigen Werte für x berechnen. Zum Beispiel können wir das Rezept für die Lösung der folgenden Gleichung verwenden: 2x 2 - 6x + 4 = 0,

mit a = 2, b = -6 und c = 4.

Wenn wir die Werte von a, b und c in das Rezept einsetzen, erhalten wir die Lösungen x = 1 und x = 2. Die quadratische Gleichung ist nur ein Typ in einer viel größeren Klasse von Gleichungen, die als Polynomgleichungen bezeichnet werden. Ein komplizierterer Typ von Polynomgleichungen ist die kubische Gleichung: ax 3 + b x2 + cx + d = 0. Daß diese Gleichung komplizierter ist, liegt an dem zusätzlichen Term x 3. Wenn wir noch einen weiteren Term, x 4, hinzufügen, erhalten wir die nächste Stufe der Polynomgleichung, die sogenannte biquadratische: ax4 + b x3 + cx2 + d x + e = 0. Im neunzehnten Jahrhundert fanden die Mathematiker auch Rezepte zur Lösung der kubischen und biquadratischen Gleichungen, doch man kannte keine Lösungsmethode für die Gleichung 5. Grades: ax 5 + b x4 + cx 3 + d x 2 + ex + f = 0. Galois war versessen darauf, ein Rezept für die Lösung solcher Gleichungen 5. Grades zu finden, eine der großen Herausforderungen der damaligen Zeit. Schon mit siebzehn Jahren hatte er genug Fortschritte gemacht, um zwei Abhandlungen bei der Academic des Sciences einreichen zu können. Zum Gutachter für die

Arbeiten berief man Augustin Louis Cauchy, der viele Jahre später mit Lamé über einen letztendlich fehlerhaften Beweis von Fermats letztem Satz streiten sollte. Die Arbeit des jungen Mannes beeindruckte Cauchy außerordentlich, und er kam zu dem Urteil, sie sei es wert, in den Wettbewerb um den Großen Mathematikpreis der Akademie aufgenommen zu werden. Um für die Teilnahme in Frage zu kommen, mußten die beiden Papiere erneut, als zusammengefaßte Abhandlung, eingereicht werden. Cauchy schickte die Unterlagen an Galois zurück und wartete auf seinen Beitrag zum Wettbewerb. Die Kritik seiner Lehrer und die Ablehnung durch die École Polytechnique hatte Galois überstanden, er war nunmehr auf dem besten Weg zur Anerkennung, doch im Laufe der folgenden drei Jahre zerstörte eine Reihe von persönlichen und beruflichen Tragödien seine Ambitionen. Im Juli 1829 kam ein neuer jesuitischer Priester in das Dorf Bourg-la-Reine, wo Galois’ Vater immer noch Bürgermeister war. Der Priester störte sich an den republikanischen Neigungen des Bürgermeisters und entfesselte eine Gerüchtekampagne, um seinen Ruf zu schädigen und ihn aus dem Amt zu treiben. Der intrigante Geistliche machte sich vor allem zunutze, daß Nicolas-Gabriel Galois für seine geistreiche Reimschmiederei bekannt war. Er schrieb ein paar anstößige Verse, die Mitglieder der Gemeinde der Lächerlichkeit aussetzten, und unterzeichnete sie mit dem Namen des Bürgermeisters. Der ältere Galois konnte mit der Schande und der peinlichen Verlegenheit nicht leben, die ihm damit bereitet wurden, und kam zu dem Entschluß, der einzig ehrenhafte Ausweg sei der Freitod. Evariste Galois kehrte ins Dorf zurück, um am Begräbnis des Vaters teilzunehmen, und erlebte nun selbst, welche Zwietracht der Priester gesät hatte. Als der Sarg ins Grab hinuntergelassen wurde, kam es zwischen dem Jesuiten, der die Messe hielt, und den Anhängern des Bürgermeisters, die erkannten, daß es eine Intrige gegeben hatte, zu einem Handgemenge. Der Priester zog sich eine klaffende Wunde am Kopf zu, das Handgemenge wuchs sich zu einem Krawall aus, und der Sarg plumpste schließlich auf wenig feierliche Weise ins Grab. Galois hatte mit ansehen müssen, wie die

herrschenden Kreise Frankreichs seinen Vater demütigten und zerstörten, eine Erfahrung, die aus ihm einen noch glühenderen Kämpfer für die republikanische Sache machte. Er kehrte nach Paris zurück, faßte seine Forschungspapiere zu einer Abhandlung zusammen und überreichte sie lange vor Eingabeschluß dem Sekretär der Akademie, Joseph Fourier, der sie an den Gutachterausschuß weiterleiten sollte. Galois’ Arbeit bot zwar keine Lösung für das Problem der Gleichung 5. Grades, dafür allerdings glänzende Einsichten, und viele Mathematiker, darunter Cauchy, hielten sie für preiswürdig. Für Galois und seine Freunde war es daher ein Schock, daß er den Preis nicht gewann und zudem noch nicht einmal an der offiziellen Ausscheidung teilgenommen hatte. Fourier war wenige Wochen vor dem Urteil der Jury verstorben. Zwar hatte er einen Stapel von Wettbewerbsbeiträgen an das Komitee weitergeleitet, doch Galois’ Arbeit war nicht darunter. Sie wurde nie gefunden. Ein französischer Journalist schrieb über diese Ungerechtigkeit: Letztes Jahr, vor dem 1. März, überreichte Monsieur Galois dem Sekretär des Instituts eine Abhandlung zur Lösung numerischer Gleichungen. Diese Abhandlung hätte in den Wettbewerb um den Großen Mathematikpreis aufgenommen werden sollen. Sie verdient den Preis, da sie einige Schwierigkeiten löst, die Lagrange nicht bewältigen konnte. Monsieur Cauchy hatte dem Autor für diese Arbeit höchstes Lob gezollt. Und was geschah? Die Abhandlung ist verlorengegangen, und der Preis wird ohne die Teilnahme des jungen Wissenschaftlers vergeben. Le Globe, 1831 Galois gewann den Eindruck, seine Abhandlung sei von der politisch einseitig ausgerichteten Akademie absichtlich unterschlagen worden, und wurde in diesem Glauben ein Jahr später noch bestärkt, als die Akademie sein nächstes Manuskript mit der Behauptung ablehnte, »sein Argument ist weder hinreichend klar noch hinreichend ausgearbeitet, um uns ein Urteil über seine logische Strenge zu erlauben«. Er kam zu dem Schluß, es gebe eine Ver-

schwörung, um ihn aus der mathematischen Gemeinschaft auszustoßen, und vernachlässigte in der Folge die mathematische Forschung zugunsten des Kampfes für die republikanische Sache. Damals war er Student an der École Normale Supérieure, die kaum weniger angesehen war als die École Polytechnique. An der École Normale überwog Galois’ schlechter Ruf als Unruhestifter bald sein Ansehen als Mathematiker. Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung während der Julirevolution von 1830, als Karl X. aus Frankreich floh und die politischen Fraktionen in den Pariser Straßen um die Herrschaft kämpften. Der Direktor der École, Monsieur Guigniault, ein Monarchist, war sich darüber im klaren, daß die Mehrzahl seiner Studenten radikale Republikaner waren. Er ließ sie in ihre Schlafsäle einsperren und die Schultore verriegeln. So wurde Galois daran gehindert, an der Seite seiner Brüder zu kämpfen. Zorn und Enttäuschung darüber wuchsen noch, als die Republikaner am Ende geschlagen wurden. Bei nächster Gelegenheit veröffentlichte er einen vernichtenden Artikel über den Direktor der École, in dem er ihn der Feigheit zieh. So verwundert nicht, daß Guigniault den aufmüpfigen Schüler von der Schule verwies, womit Galois’ offizielle Karriere als Mathematiker beendet war. Am 4. Dezember versuchte das verhinderte Genie, ein berufsmäßiger Rebell zu werden und bewarb sich um Aufnahme in die Artillerie der Nationalgarde, einem republikanischen Teil der auch als »Volksfreunde« bezeichneten Miliz. Doch vor Ende des Monats noch schaffte der neue König Louis-Philippe, ängstlich bedacht, einen weiteren Aufstand zu vermeiden, die Gardeartillerie ab. Galois, verarmt und heimatlos, das begnadetste junge Talent in ganz Paris, wurde auf Schritt und Tritt verfolgt. Manche seiner ehemaligen Mathematikerkollegen sorgten sich zusehends um sein Schicksal. Die scheue Sophie Germain, inzwischen die große alte Dame der französischen Mathematik, äußerte ihre Besorgnis in einem Brief an einen Freund der Familie, Graf Libri-Carucci: Es herrscht entschieden ein mißgünstiges Schicksal in allem, was die Mathematik betrifft. Der Tod von Monsieur Fourier war der letzte Schlag für diesen Studenten Galois, der trotz seiner Auf-

sässigkeit auf hohe Begabung schließen ließ. Er wurde von der École Normale verwiesen, er ist mittellos, auch seine Mutter besitzt sehr wenig, und seinem Hang zu Beleidigungen gibt er weiterhin nach. Es heißt, er wird völlig verrückt werden. Ich fürchte, das ist wahr. Galois ging seiner Leidenschaft für die Politik weiter nach, doch das Glück war ihm immer weniger gewogen – wie auch der große französische Schriftsteller Alexandre Dumas feststellte. Dumas war zufällig im Restaurant Vendanges de Bourgogne, als dort ein Festbankett zu Ehren von neunzehn Republikanern stattfand, die man von der Anklage der Verschwörung freigesprochen hatte: Plötzlich, inmitten des privaten Gesprächs mit der Person zu meiner Linken, drang der Name Louis-Philippe, gefolgt von fünf oder sechs Pfiffen, an mein Ohr. Ich wandte mich um. Fünfzehn oder zwanzig Stühle von mir entfernt bot sich ein höchst lebhaftes Schauspiel dar. Es wäre schwierig gewesen, in ganz Paris zweihundert Personen zu finden, die der Regierung feindseliger gesinnt waren als jene, die sich gegen fünf Uhr nachmittags in der langen Halle des Erdgeschosses über dem Garten versammelt hatten. Ein junger Mann, der sein Glas erhoben hatte und einen blanken Dolch in ebendieser Hand hielt, versuchte, sich Gehör zu verschaffen – Evariste Galois war einer der glühendsten Republikaner. So groß war der Lärm, daß der genaue Anlaß dafür untergegangen war. Ich konnte nur hören, daß eine Drohung ausgesprochen wurde und der Name Louis-Philippes fiel: Die Absicht wurde durch das blanke Messer deutlich gemacht. Dies ging weit über meine eigenen republikanischen Überzeugungen hinaus. Ich gab dem Druck meines Nachbarn zur Linken nach, der als einer der Komödianten des Königs nicht kompromittiert werden wollte, und wir sprangen von der Fensterbank in den Garten hinaus. Einigermaßen beunruhigt ging ich nach Hause. Diese Episode würde gewiß Folgen haben. In der Tat, zwei oder drei Tage später wurde Evariste Galois verhaftet.

Nach einem Monat Haft im Gefängnis Sainte-Pélagie klagte man Galois an, das Leben des Königs bedroht zu haben, und stellte ihn vor Gericht. Obwohl sein Gebaren wenig Zweifel an der Schuld ließ, war es bei dem Bankett so wild hergegangen, daß keiner wirklich bestätigen konnte, irgendwelche direkten Drohungen aus seinem Munde gehört zu haben. Mitfühlende Geschworene und das zarte Alter des Rebellen – noch immer war er nicht älter als zwanzig – verhalfen ihm zum Freispruch. Im Monat darauf wurde er abermals verhaftet. Am 14. Juli 1831, dem Bastilletag, marschierte Galois in der Uniform der verbotenen Gardeartillerie durch Paris. Dies war nichts weiter als eine Trotzbekundung, doch wurde er zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt und wieder nach Sainte-Pélagie gebracht. Während dieser Haft brachten die Schurken in seinem Umkreis den jungen Mann, der bislang keinen Alkohol angerührt hatte, zum Trinken. Der Botaniker und begeisterte Republikaner François Raspail, im Gefängnis, weil er sich geweigert hatte, das Kreuz der Ehrenlegion aus den Händen Louis-Philippes entgegenzunehmen, schilderte Galois’ erstes Zechgelage: Er ergreift das kleine Glas mutig wie Sokrates den Schierlingsbecher; er trinkt alles auf einen Schluck, nicht ohne zu blinzeln und eine süßsaure Miene aufzusetzen. Ein zweites Glas ist nicht schwerer zu leeren als das erste, desgleichen das dritte. Der Anfänger verliert das Gleichgewicht. Triumph! Hommage an den Bacchus des Kerkers! Ihr habt eine geniale Seele vergiftet, die den Wein verabscheut. Eine Woche später feuerte ein Heckenschütze aus einer Dachkammer gegenüber dem Gefängnis eine Kugel in die Zelle und verwundete den Mann neben Galois. Er war davon überzeugt, die Kugel sei für ihn bestimmt gewesen und die Regierung betreibe insgeheim seine Ermordung. Die Angst vor politischer Verfolgung setzte ihm zu, die Trennung von den Freunden und der Familie und die Ablehnung seiner mathematischen Ideen stürzte ihn in Depressionen. Betrunken bis zum Delirium, versuchte er sich zu erstechen, doch

Raspail und anderen gelang es, ihn festzuhalten und zu entwaffnen. Raspail schildert Galois’ Worte kurz vor dem Selbstmordversuch: Weißt du, was mir fehlt, mein Freund? Ich vertraue es nur dir an: jemand, den ich lieben kann und lieben einzig im Geiste. Ich habe meinen Vater verloren, und niemand ist je an seine Stelle getreten, hörst du mich ... ? Im März 1832, Galois’ Haft sollte einen Monat später enden, brach in Paris eine Cholera-Epidemie aus, und man setzte die Gefangenen von Sainte-Pélagie auf freien Fuß. Was in den folgenden Wochen mit Galois geschah, ist Gegenstand heftiger Spekulationen, sicher jedoch ist, daß die Ereignisse dieser Zeit vor allem die Folge einer Liebesaffäre mit einer mysteriösen Frau namens StéphanieFélicie Poterine du Motel waren, der Tochter eines angesehenen Pariser Arztes. Zwar gibt es keine Anhaltspunkte dafür, wie die Affäre begann, doch die Einzelheiten ihres tragischen Endes sind gut belegt. Stéphanie war bereits mit einem Herrn namens Pécheux d’Herbinville verlobt, der ihrer Untreue auf die Schliche kam. D’Herbinville geriet darüber in Rage, und als einer der besten Schützen Frankreichs zögerte er nicht, Galois zum Duell im Morgengrauen herauszufordern. Galois kannte den Ruf seines Gegners durchaus. Der Abend vor dem Schußwechsel war, wie er glaubte, die letzte Gelegenheit, seine Gedanken zu Papier zu bringen. In Briefen an die Freunde schilderte er seine Lage: Ich bitte meine Freunde, die Patrioten, es mir nicht nachzutragen, daß ich sterbe, aber nicht für mein Land sterbe. Ich sterbe als Opfer einer niederträchtigen Kokotte. In einem Schmierenstück an Verleumdung verlöscht mein Leben. Ach! Warum sterbe ich für so wenig, für etwas so Gemeines? Ich rufe den Himmel zum Zeugen, daß mich nur Nötigung und Gewalt dazu bewegt haben, einer Herausforderung nachzugeben, die ich mit allen Mitteln abzuwenden versuchte.

Abbildung 22 (a): In der Nacht vor dem Duell versuchte Galois, all seine mathematischen Ideen zu Papier zu bringen. In den Aufzeichnungen finden sich jedoch auch andere Bemerkungen. Auf dieser Seite, links unterhalb der Mitte, stehen die Wörter »Une femme«, letzteres allerdings durchgestrichen, vermutlich ein Hinweis auf die Frau, um die es bei dem Duell ging.

Galois’ Hingabe an die republikanische Sache und die romantische Verstrickung hatten seiner Leidenschaft für die Mathematik keinen Abbruch getan. Es war eine seiner größten Befürchtungen, seine Forschungsarbeiten, die bereits von der Akademie abgelehnt wor-

den waren, könnten für immer verlorengehen. In einem verzweifelten Kampf um die Anerkennung seiner Leistung arbeitete er die ganze Nacht hindurch die mathematischen Sätze aus, die nach seiner Überzeugung das Rätsel der Gleichungen 5. Grades vollkommen lösten. Abbildung 22 (a) zeigt eines der letzten von Galois beschriebenen Blätter. Was er zu Papier brachte, war zum größten Teil die erneuerte Fassung der Ideen, die er schon Cauchy und Fourier vorgelegt hatte, doch in der komplizierten Algebra versteckt fanden sich auch gelegentliche Hinweise auf »Stéphanie« oder »eine Frau« und Ausrufe der Verzweiflung – »Mir fehlt die Zeit, mir fehlt die Zeit!« Am Ende der Nacht, als er seine mathematischen Darlegungen abgeschlossen hatte, schrieb er einen Begleitbrief an den Freund Auguste Chevalier und bat ihn für den Fall seines Todes, die Papiere den größten Mathematikern Europas zukommen zu lassen: Mein lieber Freund, ich habe einige neue Entdeckungen in der Analysis gemacht. Die erste betrifft die Theorie der Gleichungen 5. Grades, andere die Integralfunktionen. In der Theorie der Gleichungen habe ich die Bedingungen für die Lösbarkeit von Gleichungen durch Radikale erforscht; ich hatte dadurch Gelegenheit, diese Theorie zu vertiefen und alle möglichen Transformationen einer Gleichung zu beschreiben, auch wenn sie nicht durch Radikale lösbar ist. All dies findet sich hier in drei Abhandlungen... In meinem Leben habe ich oft versucht, Thesen aufzustellen, über die ich mir nicht sicher war. Doch alles, was ich hier niedergelegt habe, trage ich seit einem Jahr im Kopfe, und es wäre nicht in meinem Interesse, mich dem Verdacht auszusetzen, ich verkündete Sätze, die ich nicht vollständig beweisen kann. Bitte Jacobi oder Gauß öffentlich um ihre Meinung, nicht zur Wahrheit, sondern zur Bedeutung dieser Sätze. Danach, so hoffe ich, werden sich Leute finden, welche es für lohnend erachten, dieses Geschreibsel zu entziffern. Ich umarme Dich von ganzem Herzen E. Galois

Abbildung 22 (b): Galois unternahm vor der schicksalhaften Stunde den verzweifelten Versuch, all seine mathematischen Ideen aufzuzeichnen, umgetrieben von der Angst, sein Vorhaben nicht vollenden zu können. Die Worte »je n’ai pas le temps« (mir fehlt die Zeit) finden sich am Ende der beiden Zeilen im unteren linken Teil der Seite.

Am folgenden Mittwochmorgen, dem 30. Mai 1832, traten sich Galois und d’Herbinville auf einem abgelegenen Feld gegenüber, fünfundzwanzig Schritte zwischen sich. D’Herbinville wurde von Sekundanten begleitet; Galois war allein gekommen. Er hatte niemandem von seinem drohenden Unglück erzählt: ein Bote, den er zu seinem Bruder Alfred geschickt hatte, lieferte die Nachricht erst ab, als das Duell schon vorüber war, und die Briefe, die er in der Nacht zuvor geschrieben hatte, erreichten die Freunde erst nach einigen Tagen. Sie hoben die Pistolen und feuerten. D’Herbinville stand noch aufrecht, doch Galois war in der Magengegend getroffen. Hilflos lag er am Boden. Ein Arzt war nicht zugegen, der Sieger ging in aller Ruhe von dannen und überließ seinen verwundeten Gegner dem Tod. Ein paar Stunden später war Alfred zur Stelle und brachte seinen Bruder ins Hospital Cochin. Es war zu spät, eine Bauchfellentzündung hatte eingesetzt, und am nächsten Tag starb Galois. Sein Begräbnis war eine Farce, nahezu wie das des Vaters. Die Polizei glaubte, die Bestattung würde sich zu einer politischen Kundgebung auswachsen und verhaftete in der Nacht davor dreißig seiner Mitstreiter. Dennoch versammelten sich zweitausend Republikaner zur Messe, und es kam unweigerlich zu Handgemengen zwischen den Anhängern Galois’ und den staatlichen Ordnungskräften, die zur Überwachung des Geschehens gekommen waren. Unter den Trauernden herrschte Wut, denn man war zusehends davon überzeugt, daß d’Herbinville kein gehörnter Verlobter, sondern ein Agent der Regierung war, und daß Stéphanie nicht nur eine Liebhaberin, sondern eine ränkeschmiedende Verführerin war. Ereignisse wie der Schuß auf Galois während seiner Haft in SaintePélagie hatten bereits auf eine Verschwörung zur Ermordung des jungen Aufrührers hingedeutet, und so kamen seine Freunde zu dem Schluß, er sei in eine Liebesaffäre gelockt worden, die Teil eines politischen Komplotts war, ihn zu töten. Die Historiker streiten sich über die Frage, ob das Duell die Folge einer tragischen Liebesaffäre war oder politische Hintergründe hatte, doch wie immer dem auch sei, einer der größten Mathematiker der Welt wurde im

Alter von zwanzig Jahren getötet, nachdem er sich nur fünf Jahre lang mit Mathematik befaßt hatte. Bevor der Bruder und Auguste Chevalier die Papiere Galois’ weiterleiteten, verfaßten sie eine neue Niederschrift, um die Darlegungen zu klären und zu erweitern. Galois’ Gewohnheit, seine Ideen überhastet und in ungenügendem Maße zu erläutern, wurde zweifellos noch dadurch verstärkt, daß er nur eine einzige Nacht zur Verfügung hatte, um die Ergebnisse seiner jahrelangen Forschungsarbeit zusammenzufassen. Obwohl die beiden ihrer Verpflichtung nachkamen und Abschriften des Manuskripts unter anderen an Carl Friedrich Gauß und Carl Jacobi schickten, fand Galois’ Werk über ein Jahrzehnt lang keine Anerkennung, bis dann 1846 eine Abschrift in die Hände Joseph Liouvilles gelangte. Liouville erkannte das Funkeln des Genies in Galois’ Gleichungen und verbrachte Monate damit, ihre Bedeutung zu erforschen. Er überarbeitete die Papiere und veröffentlichte sie schließlich in seinem angesehenen Journal de Mathématiques pures et appliquées. Sofort kam die Antwort der Kollegen, und sie fiel beeindruckend aus, denn Galois hatte in der Tat einen vollständigen Ansatz zur Lösung der Gleichungen 5. Grades formuliert. Zunächst hatte er alle Gleichungen 5. Grades in zwei Typen eingeteilt: die lösbaren und die unlösbaren. Dann hatte er ein Rezept für die lösbaren Gleichungen ausgearbeitet. Darüber hinaus untersuchte Galois auch Gleichungen noch höheren Grades, solche also, die x6, x 7 usw. enthielten, wobei es ihm gelang, festzustellen, welche davon lösbar waren. Es handelte sich um eines der Meisterstücke der Mathematik des neunzehnten Jahrhunderts, geschaffen von einem ihrer tragischsten Helden. In seiner Einleitung zu Galois’ Arbeit ging Liouville der Frage nach, warum der Mathematiker von den älteren Kollegen abgewiesen worden war und wie es ihm durch seine Bemühungen gelingen konnte, Galois zur Anerkennung zu verhelfen: Ein übertriebener Wunsch nach prägnanter Kürze war der Grund dieser Unzulänglichkeit, die man vor allem ändern vermeiden sollte, wenn man die abstrakten und mysteriösen Fragen

der reinen Algebra behandelt. Klarheit ist in der Tat um so notwendiger, wenn man versucht, den Leser weit vom ausgetretenen Pfad weg und in unbekanntere Gefilde zu führen. Wie Descartes sagte: »In Fragen transzendentaler Natur sei man transzendental klar.« Galois hat diese Vorschrift zu oft mißachtet, und wir können verstehen, wie angesehene Mathematiker den Versuch für richtig halten konnten, einen gewiß genialen, doch unerfahrenen Anfänger durch die Härte ihres weisen Rates auf den rechten Weg zurückzuführen. Der Autor, den sie zurechtwiesen, stand vor ihnen, leidenschaftlich, lebendig; er konnte von ihrem Ratschlag profitieren. Inzwischen hat sich alles geändert. Galois ist nicht mehr! Verlieren wir uns nicht in nutzloser Kritik; lassen wir die Mängel beiseite und betrachten wir die Vorzüge... Mein Eifer ward gut belohnt, und ich empfand größtes Vergnügen in jenem Moment, als sich mir, nachdem ich einige kleine Lücken ausgefüllt hatte, die vollständige Korrektheit der Methode offenbarte, mit der Galois vor allem diesen schönen Satz beweist.

Der erste Dominostein kippt Kernstück von Galois’ mathematischen Überlegungen war die sogenannte Gruppentheorie, eine Idee, die er zu einem mächtigen Werkzeug entwickelte, mit dem sich zuvor unlösbare Probleme bewältigen ließen. Eine mathematische Gruppe ist eine Menge von Elementen, die durch eine Rechenoperation miteinander verknüpft werden können, etwa durch Addition oder Multiplikation, und die bestimmten Anforderungen genügt. Eine ihrer wesentlichen Eigenschaften besteht darin, daß bei der Verknüpfung zweier beliebiger Elemente mit der jeweiligen Rechenoperation das Ergebnis ein weiteres Element der Gruppe ist. Die Gruppe, so heißt es, ist abgeschlossen unter dieser Operation. So bilden etwa die ganzen Zahlen eine Gruppe unter der Ope-

ration »Addition«. Verknüpft man eine ganze Zahl mit einer anderen unter der Operation Addition, erhält man eine dritte ganze Zahl, z.B. 4 + 12 = 16. Alle möglichen Additionsergebnisse liegen im Bereich der ganzen Zahlen, und die Mathematiker sagen daher, »die ganzen Zahlen sind unter der Addition abgeschlossen« oder, da auch die anderen Gruppeneigenschaften erfüllt sind, »die ganzen Zahlen bilden unter der Addition eine Gruppe«. Hingegen bilden die ganzen Zahlen mit der »Division« als Verknüpfung keine Gruppe, weil die Division einer ganzen Zahl durch eine andere nicht unbedingt eine weitere ganze Zahl ergibt, z.B. 1 4 : 12 = . 3 Der Bruch 1 ist keine ganze Zahl und liegt außerhalb der ursprünglichen Gruppe. Zieht man jedoch eine größere Gruppe in Betracht, die Brüche enthält, nämlich die sogenannten rationalen Zahlen, kann die Abgeschlossenheit wiederhergestellt werden: »Die rationalen Zahlen sind unter der Division abgeschlossen.« Doch gilt auch dies nur unter Vorbehalt. Die Division durch das Element Null führt ins Unendliche und damit zu etlichen mathematischen Alpträumen. Aus diesem Grund ist es genauer zu sagen, »die rationalen Zahlen (mit Ausnahme der Null) sind unter der Division abgeschlossen«. Die Abgeschlossenheit ähnelt in mancher Hinsicht dem in früheren Kapiteln erörterten Begriff der Vollständigkeit. Die ganzen Zahlen und die Brüche bilden unendlich große Gruppen, und man könnte annehmen, je größer die Gruppe ist, desto interessanter müßten auch die mit ihr erzielten mathematischen Resultate sein. Galois jedoch folgte einer Philosophie des »Weniger ist mehr« und zeigte, daß kleine, sorgfältig konstruierte Gruppen einen ganz besonderen Reichtum aufweisen konnten. Anstatt unendliche Gruppen zu verwenden, begann Galois mit einer bestimmten Gleichung und baute seine Gruppe aus der Handvoll Lösungen für diese Gleichung auf. Aus den Gruppen, die Galois aus

den Lösungen von Gleichungen 5. Grades bildete, gewann er seine Einsichten über ebendiese Gleichungen. Anderthalb Jahrhunderte später dann legte Wiles die Arbeit von Galois seinem Beweis der Taniyama-Shimura-Vermutung zugrunde. Um die Taniyama-Shimura-Vermutung zu beweisen, mußten die Mathematiker zeigen, daß jede einzelne der unendlich vielen elliptischen Gleichungen mit einer Modulform gepaart werden konnte. Ursprünglich hatte man nachzuweisen versucht, daß die gesamte DNS einer elliptischen Gleichung (die E-Reihe) mit der gesamten DNS einer Modulform (der M-Reihe) zusammenpaßte, und war dann zur nächsten elliptischen Gleichung übergegangen. Dies ist zwar ein durchaus sinnvoller Ansatz, doch niemand fand eine Möglichkeit, diesen Vorgang für die unendliche Zahl der elliptischen Gleichungen und Modulformen unendlich oft zu wiederholen. Wiles ging radikal anders an das Problem heran. Statt den Versuch zu unternehmen, alle Elemente einer E-Reihe und einer MReihe einander passend zuzuordnen, versuchte er, jeweils ein Element aller E-Reihen und aller M-Reihen zu verkoppeln und dann zum nächsten Element weiterzugehen. Mit anderen Worten, jede E-Reihe besitzt eine unendliche Liste von Elementen, einzelne Gene, welche die DNS bilden, und Wiles wollte zeigen, daß das erste Gen in jeder E-Reihe zum ersten Gen in einer M-Reihe passe. Anschließend wollte er zeigen, daß das zweite Gen der E-Reihe mit dem zweiten Gen der M-Reihe passe, und so weiter. Im herkömmlichen Ansatz hatte man es mit dem Problem der Unendlichkeit zu tun, das heißt, selbst wenn man beweisen konnte, daß die Gesamtheit einer E-Reihe mit der Gesamtheit einer M-Reihe zusammenpaßte, gab es immer noch unendlich viele andere EReihen und M-Reihen, die es zu verknüpfen galt. Auch Wiles mußte sich bei seinem Ansatz noch mit dem Unendlichen herumschlagen, denn selbst wenn er beweisen konnte, daß das erste Gen jeder E-Reihe identisch war mit dem ersten Gen einer M-Reihe, gab es immer noch unendlich viele Gene, die miteinander verglichen werden mußten. Allerdings hatte Wiles’ Ansatz einen wesentlichen Vorteil gegenüber den bisherigen Versuchen.

Selbst wenn bewiesen war, daß die Gesamtheit einer E-Reihe mit der Gesamtheit einer M-Reihe zusammenpaßte, mußte man beim alten Verfahren weitergehen und fragen: Welche E-Reihe und welche M-Reihe nehmen wir uns jetzt vor? Da die Unendlichkeiten der E-Reihen und M-Reihen keine natürliche Ordnung besitzen, ist dies eine weitgehend willkürliche Entscheidung. Entscheidend ist nun, daß bei Wiles’ Methode die Gene in der EReihe eine natürliche Reihenfolge besitzen, und wenn er bewiesen hatte, daß sich für alle ersten Gene Entsprechungen finden (E 1 = M 1 ) , besteht der nächste Schritt selbstverständlich darin, zu zeigen, daß dies auch für alle zweiten Gene gilt (E2 = M2), und so weiter. Genau diese natürliche Ordnung benötigte Wiles, um einen induktiven Beweis zu entwickeln. Zunächst mußte er zeigen, daß das erste Element jeder E-Reihe mit dem ersten Element einer M-Reihe gepaart werden konnte. Dann mußte er nachweisen, daß wenn die ersten Elemente gepaart werden konnten, dies auch bei den zweiten möglich war, und wenn bei den zweiten, dann auch bei den dritten, und so weiter. Er mußte den ersten Dominostein umkippen und dann beweisen, daß jeder umkippende Dominostein auch den jeweils nächsten kippen würde. Der erste Schritt gelang Wiles, als er das Potential der GaloisGruppen erkannte. Mit jeweils einer Handvoll Lösungen für jede elliptische Gleichung konnte er eine Gruppe bilden. Nach mehrmonatiger Analyse bewies Wiles, daß die Gruppe zu einem unbestreitbaren Schluß führte – das erste Element jeder E-Reihe konnte in der Tat mit dem ersten einer M-Reihe gepaart werden. Dank Galois war es Wiles gelungen, den ersten Dominostein zu kippen. Mit dem nächsten Schritt seines induktiven Beweises mußte er auf irgendeine Weise zeigen, daß wenn ein beliebiges Element der E-Reihe mit dem entsprechenden Element in der M-Reihe zusammenpaßte, dies auch für das nächste Element gelten mußte. So weit zu kommen, hatte ihn schon zwei Jahre Arbeit gekostet, und er hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde, um den Beweis zu erweitern. Wiles war sich über die anstehende Aufgabe durchaus im klaren: »Sie könnten fragen, warum ich unbegrenzte

Zeit auf ein Problem verwende, das vielleicht einfach nicht lösbar ist. Die Antwort ist, daß ich einfach gerne an diesem Problem arbeitete und ganz davon besessen war. Ich genoß es, meinen Grips daran zu erproben. Außerdem wußte ich immer, daß die Mathematik, mit der ich mich beschäftigte, selbst wenn sie nicht stark genug für Taniyama-Shimura und daher Fermat war, immerhin etwas anderes beweisen würde. Ich ging kein finsteres Seitengäßchen entlang, sondern betrieb gewiß gute Mathematik, und zwar die ganze Zeit über. Freilich bestand die Möglichkeit, daß ich nie zu Fermat durchdringen würde, aber daß ich nur meine Zeit verschwendete, stand nicht zu befürchten.«

»Fermatproblem gelöst?« Wiles’ Galois-Strategie war zwar nur der erste Schritt hin zum Beweis der Taniyama-Shimura-Vermutung, dennoch eine großartige mathematische Leistung, die für sich genommen schon publikationswürdig war. Wegen seiner selbstauferlegten Verschwiegenheit konnte er das Resultat nicht bekanntgeben und hatte zugleich auch keine Ahnung, ob vielleicht jemand anders ebenso bedeutende Fortschritte machte. Wiles erinnert sich an seine philosophische Haltung gegenüber potentiellen Rivalen: »Nun, sicher will kein Mensch Jahre mit dem Versuch verbringen, etwas zu beweisen und dann feststellen müssen, daß ein anderer es ein paar Wochen vorher schafft. Doch da ich mich mit einem als unlösbar geltenden Problem beschäftigte, fürchtete ich etwaige Konkurrenz nicht allzusehr. Ich war einfach der Auffassung, daß weder ich noch irgend jemand sonst eine brauchbare Idee hätte, wie es zu schaffen wäre.« Am 8. März 1988 verkündeten die Schlagzeilen, Fermats letzter Satz sei bewiesen, und Wiles bekam einen heftigen Schreck. Die Washington Post und die New York Times behaupteten, der dreißigjährige Yoichi Miyaoka von der Universität Tokio habe die Lösung des schwierigsten Problems der Welt gefunden. Zu jenem Zeitpunkt hatte Miyaoka seinen Beweis noch nicht veröffentlicht, sondern

nur bei einem Seminar am Bonner Max-Planck-Institut für Mathematik in groben Umrissen skizziert. Don Zagier, der teilgenommen hatte, brachte die Zuversicht der Mathematikergemeinde zum Ausdruck: »Miyaokas Beweis ist sehr aufregend, und manche haben den Eindruck, es bestünden sehr gute Chancen, daß er funktioniert. Es steht noch nicht ganz fest, aber bislang sieht es gut aus.« Miyaoka hatte in Bonn erläutert, wie er das Problem aus einem ganz neuen Blickwinkel in Angriff genommen hatte, nämlich der Differentialgeometrie. Über Jahrzehnte schon hatten die Vertreter dieser Disziplin ein reichhaltiges Verständnis mathematischer Formen und insbesondere der Eigenschaften ihrer Oberflächen entwickelt. In den siebziger Jahren dann unternahm eine russische Arbeitsgruppe unter Professor S. Arakelow den Versuch, Parallelen zwischen Problemen in der Differentialgeometrie und der Zahlentheorie aufzuzeigen. Es handelte sich hier um einen Forschungszweig im Rahmen des Langlands-Programms, und man verband damit die Hoffnung, bislang unbeantwortete Probleme der Zahlentheorie lösen zu können, indem man die entsprechenden Fragen in der Differentialgeometrie untersuchte, die schon beantwortet waren. Der Forschungsansatz wurde als Philosophie des Parallelismus bezeichnet. Die Differentialgeometer, die Probleme in der Zahlentheorie in Angriff nahmen, bezeichnete man als »arithmetisch-algebraische Geometer«, und im Jahr 1983 errangen sie ihren ersten bedeutenden Sieg, als Gerd Fallings am Institute for Advanced Study in Princeton einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis des Fermatproblems leistete. Erinnern wir uns, daß, es Fermat zufolge keine (positive) ganzzahlige Lösung gibt für die Gleichung x n + y n = z n , mit n größer als 2. Faltings glaubte, er könnte sich einem Beweis der Fermatschen Vermutung nähern, wenn er die geometrischen Formen untersuchte, die unterschiedlichen Werten von n entsprechen. Die Formen zu den jeweiligen Gleichungen sind durchweg verschieden, haben jedoch eines gemeinsam – alle sind mit Löchern durchsetzt. Die Formen sind vierdimensional, ähnlich wie Modulformen. Abbildung

Abbildung 23: Diese Flächen wurden mit dem Computerprogramm Mathematica erzeugt. Es sind geometrische Darstellungen der Gleichung xn + y n= 1, mit n = 3 für das erste Bild und n = 5 für das zweite. Hier werden x und y als Variable für komplexe Zahlen betrachtet.

23 stellt eine zweidimensionale Veranschaulichung dar. Alle Formen erinnern an mehrdimensionale Doughnuts mit mehr als nur einem Loch. Je größer der Wert von n in der Gleichung, desto mehr Löcher weist die entsprechende Form auf. Weil diese Formen immer mehr als ein Loch aufweisen, so konnte Faltings zeigen, konnten die entsprechenden Fermatgleichungen nur eine endliche Zahl ganzzahliger Lösungen besitzen. Eine endliche Zahl von Lösungen konnte alles mögliche bedeuten, von null, wie Fermat behauptet hatte, bis hin zu einer Million oder einer Billion. Faltings hatte Fermats letzten Satz also nicht bewiesen, doch zumindest die Möglichkeit einer unendlichen Zahl von Lösungen ausgeschlossen. Fünf Jahre später behauptete Miyaoka, er könne einen Schritt weitergehen. Schon mit Anfang Zwanzig hatte er eine Vermutung aufgestellt, bei der es um die sogenannte Miyaoka-Ungleichung ging. Nun stellte sich heraus, daß ein Beweis seiner geometrischen Vermutung auch beweisen würde, daß die Zahl der Lösungen für die Fermatgleichung nicht nur endlich, sondern gleich null war. Miyaokas Ansatz ähnelte dem von Wiles insofern, als auch er die Fermatsche Vermutung beweisen wollte, indem er sie mit einer

grundlegenden Vermutung aus einem ganz anderen Feld der Mathematik verknüpfte. In Miyaokas Fall war es die Differentialgeometrie; bei Wiles lief der Beweis über die elliptischen Gleichungen und Modulformen. Wiles kämpfte unglücklicherweise immer noch mit dem Beweis der Taniyama-Shimura-Vermutung, als Miyaoka verkündete, er habe seine eigene Vermutung vollständig bewiesen und damit auch Fermats letzten Satz. Zwei Wochen nach der Bonner Ankündigung veröffentlichte Miyaoka fünf Seiten Algebra mit den Einzelheiten seines Beweises, worauf die genaue Prüfung begann. Zahlentheoretiker und Differentialgeometer rund um die Welt durchsuchten Zeile für Zeile des Beweises nach der kleinsten Lücke in der logischen Argumentation und nach der unscheinbarsten Spur einer falschen Voraussetzung. Nach zwei Tagen zogen die Mathematiker etwas ans Licht, was wie ein beunruhigender Widerspruch im Beweisgang aussah. Ein Teil der Arbeit Miyaokas führte zu einem bestimmten Schluß in der Zahlentheorie, der, zurückübersetzt in die Differentialgeometrie, mit einem Resultat kollidierte, das schon einige Jahre zuvor bewiesen worden war. Obwohl dies nicht unbedingt Miyaokas gesamten Beweis entwertete, lief es der Philosophie des Parallelismus zwischen Zahlentheorie und Differentialgeometrie entgegen. Nach weiteren zwei Wochen verkündete Gerd Fallings, der Miyaoka den Weg geebnet hatte, daß er den genauen Grund für den scheinbaren Zusammenbruch des Parallelismus ausfindig gemacht hatte – eine Lücke im Argument. Der japanische Mathematiker war vorwiegend Geometer und hatte seine Ideen nicht vollkommen rigoros in das weniger vertraute Gebiet der Zahlentheorie übersetzt. Ein ganzes Heer von Zahlentheoretikern versuchte Miyaoka dabei zu helfen, den Irrtum auszubügeln, doch am Ende scheiterten ihre Bemühungen. Zwei Monate nach der ersten Ankündigung war man sich einig, daß der ursprüngliche Beweisansatz nicht gelingen konnte. Wie zuvor schon bei mehreren anderen gescheiterten Beweisen hatte Miyaoka neue und interessante Mathematik geschaffen. Einzelne Stücke des Beweises waren eigenständige, geniale Anwendungen, ob aus der Differentialgeometrie oder der Zahlentheorie,

und andere Mathematiker bauten im Laufe der Jahre für Beweise von anderen Sätzen darauf auf, ausgenommen allerdings Fermats letzter Satz. Der Wirbel um Fermat legte sich bald wieder, und die Zeitungen stellten in knappen Meldungen richtig, das drei Jahrhunderte alte Rätsel bleibe nun doch ungelöst. Zweifellos inspiriert von all dem Medienrummel, fand ein neues Graffito seinen Weg in den New Yorker U-Bahnhof an der 8. Straße, das da lautete: x n + y n = z n : keine Lösungen Ich habe einen wahrhaft wunderbaren Beweis dafür entdeckt, aber ich kann ihn nicht aufschreiben, weil mein Zug kommt.

Das dunkle Haus Vor den Augen der Welt verborgen, tat Wiles einen tiefen Seufzer der Erleichterung. Fermats letzter Satz blieb weiterhin unbezwungen, und er konnte seinen Kampf um den Beweis auf dem Weg über die Taniyama-Shimura-Vermutung fortsetzen. »Die meiste Zeit arbeitete ich am Schreibtisch, doch manchmal konnte ich das Problem auf etwas ganz Bestimmtes zuspitzen – da war ein Schlüssel zur Lösung, etwas, das mir merkwürdig vorkam, das gleichsam unter dem Papier lag, ohne daß ich es fassen konnte. Wenn mir etwas ganz Bestimmtes im Kopf herumschwirrte, dann brauchte ich nicht zu schreiben und zum Arbeiten auch keinen Schreibtisch. Statt dessen machte ich einen kleinen Spaziergang unten am See. Im Gehen, stelle ich fest, kann ich mich auf einen ganz bestimmten Aspekt des Problems konzentrieren und mich ganz darin versenken. Ich hatte immer Papier und Bleistift dabei, und wenn mir etwas einfiel, konnte ich mich auf eine Bank setzen und loskritzeln.« Nach drei Jahren unablässiger Anstrengungen waren Wiles eine Reihe von Durchbrüchen gelungen. Er hatte Galois-Gruppen auf elliptische Gleichungen angewandt, die elliptischen Gleichungen in eine unendliche Zahl von Einzelteilen zerlegt und dann bewiesen, daß das erste Stück jeder elliptischen Gleichung modular sein

mußte. Er hatte den ersten Dominostein umgekippt und lotete jetzt verschiedene Techniken aus, mit denen er vielleicht auch die anderen Steine zu Fall bringen konnte. Im Rückblick erscheint dies als der natürliche Weg zum Beweis, doch allein so weit zu kommen und die Anflüge von Selbstzweifel zu überwinden hatte gewaltige Entschlossenheit verlangt. Wiles beschrieb seine Erfahrung mit der Mathematik als Gang durch ein dunkles, fremdes Haus. »Man betritt den ersten Raum, und er ist dunkel. Vollkommen dunkel. Man stolpert herum und stößt gegen die Möbel, doch allmählich wird klar, was wo steht. Endlich, nach vielleicht einem halben Jahr, findet man den Lichtschalter, und plötzlich liegt alles im Hellen. Man kann genau sehen, wo man ist. Dann geht man in den nächsten Raum und verbringt noch ein halbes Jahr im Dunkeln. Diese Durchbrüche, für die man manchmal nur einen Augenblick braucht, ein andermal ein oder zwei Tage, sind daher allesamt Errungenschaften der vielen Monate des Herumstolperns im Dunkeln, ohne die es sie nicht gäbe.« Im Jahr 1990 fand sich Wiles in dem scheinbar dunkelsten Raum überhaupt. Zwei Jahre lang hatte er ihn erforscht. Noch immer hatte er keine Möglichkeit zu zeigen, daß wenn ein Stück der elliptischen Gleichung modular war, dies auch für das nächste Stück gelten mußte. Er hatte alle jemals veröffentlichten mathematischen Werkzeuge und Techniken ausprobiert und festgestellt, daß sie alle unzulänglich waren. »Ich glaubte wirklich, auf dem richtigen Weg zu sein, das hieß aber nicht, ich würde unweigerlich mein Ziel erreichen. Es konnte sein, daß die Methoden, die man brauchte, um dieses bestimmte Problem zu lösen, jenseits der Möglichkeiten der heutigen Mathematik lagen. Vielleicht würden die Methoden, die ich benötigte, um den Beweis zu vervollständigen, erst in hundert Jahren erfunden. Selbst wenn ich also auf der richtigen Spur war, lebte ich vielleicht dennoch im falschen Jahrhundert.« Wiles ließ sich auch ein weiteres Jahr lang nicht entmutigen. Er begann nun mit der sogenannten Iwasawa-Theorie zu arbeiten. Dabei handelt es sich um ein Verfahren zur Analyse elliptischer Gleichungen, das er schon als Student bei John Coates in Cambridge erlernt hatte. Obwohl die Methode, wie er sie vorfand, unzuläng-

lich war, hoffte er, sie zu einer Technik umschmieden zu können, die mächtig genug war, um den Domino-Effekt zu erzielen. Seit seinen ersten bahnbrechenden Erkenntnissen auf Basis der Galois-Gruppen hatte Wiles immer häufiger Rückschläge einstekken müssen. Immer wenn der Druck zu groß wurde, wandte er sich der Familie zu. Seit er 1986 mit der Arbeit an Fermats letztem Satz begonnen hatte, war er zweimal Vater geworden. »Die Kinder waren die einzige Möglichkeit, mich zu entspannen. Kleine Kinder haben einfach kein Interesse an Fermat, sie wollen partout eine Geschichte hören und lassen einen nichts anderes anfangen.«

Die Methode von Kolywagin und Flach Im Sommer 1991 gewann Wiles den Eindruck, daß er den Kampf um die Anpassung der Iwasawa-Theorie verloren hatte. Er mußte beweisen, daß jeder umkippende Dominostein auch den nächsten Stein kippen würde – daß wenn ein Element in der E-Reihe der elliptischen Gleichungen einem Element in der M-Reihe der Modulformen entsprach, dies auch für das nächste gelten würde. Er mußte sich außerdem vergewissern, daß dies für jede elliptische Gleichung und jede Modulform galt. Die Iwasawa-Theorie konnte ihm nicht die notwendige Garantie liefern. Noch einmal durchforstete er gründlich die Literatur, aber noch immer konnte er kein alternatives Verfahren finden, das ihm zum notwendigen Durchbruch verhelfen konnte. In Princeton war er die vergangenen fünf Jahre praktisch ein Eremit gewesen, und nun war es an der Zeit, wieder am akademischen Leben teilzunehmen und den neuesten mathematischen Klatsch zu erfahren. Vielleicht arbeitete irgendwo irgend jemand an einem innovativen Verfahren und hatte es bisher aus welchen Gründen auch immer noch nicht veröffentlicht. Er fuhr nach Norden, um an einer wichtigen Konferenz über elliptische Gleichungen in Boston teilzunehmen, wo er sicher sein konnte, die wichtigsten Spieler auf diesem Feld zu treffen. Die Kollegen aus der ganzen Welt hießen Wiles willkommen, erfreut, ihn wiederzusehen, nachdem er so lange nicht mehr am Ka-

russel der Konferenzen teilgenommen hatte. Noch immer wußten sie nicht, an was er gearbeitet hatte, und Wiles vermied sorgfältig irgendwelche Andeutungen. So ahnten sie nichts von seinen versteckten Beweggründen, als er sie nach dem Neuesten in puncto elliptische Gleichungen fragte. Anfangs waren die Antworten für Wiles’ Zwecke belanglos, doch eine Begegnung mit seinem einstigen Doktorvater John Coates warf schon mehr Früchte ab: »Coates erwähnte mir gegenüber, einer seiner Studenten namens Matheus Flach schreibe gerade an einer wunderbaren Analyse elliptischer Gleichungen. Er stütze sich auf ein neues, von Kolywagin entwickeltes Verfahren, und offenbar passe dieses Verfahren genau zu meinem Problem. Es schien genau das zu sein, was ich brauchte, wenngleich ich wußte, daß ich auch diese sogenannte Kolywagin-Flach-Methode noch weiterentwickeln mußte. Ich gab den alten Ansatz völlig auf und arbeitete Tag und Nacht an der Weiterentwicklung von Kolywagin-Flach.« Vielleicht konnte Wiles sein Argument anhand dieser neuen Methode vom ersten Stück der elliptischen Gleichung auf alle Stücke ausdehnen und potentiell auf alle elliptischen Gleichungen. Professor Kolywagin hatte ein ausgesprochen starkes mathematisches Verfahren entwickelt, und Matheus Flach hatte es verfeinert und noch zugkräftiger gemacht. Keiner der beiden erkannte Wiles’ Absicht, ihre Arbeiten in den wichtigsten Beweis der Welt einzubauen. Wiles kehrte nach Princeton zurück, verbrachte mehrere Monate damit, sich mit der neu entdeckten Technik vertraut zu machen, und machte sich an die Mammutaufgabe, sie anzupassen und einzubauen. Bald gelang es ihm, den induktiven Beweis für eine bestimmte elliptische Gleichung zu führen – er konnte alle Dominosteine umkippen. Leider konnte die Kolywagin-Flach-Methode, die bei einer bestimmten Gleichung funktionierte, nicht unbedingt für eine andere elliptische Gleichung angewandt werden. Schließlich erkannte Wiles, daß alle elliptischen Gleichungen verschiedenen Familien zugeordnet werden konnten. War die KolywaginFlach-Methode einmal so zurechtgeschnitten, daß sie für eine Gleichung funktionierte, konnte sie auch auf alle anderen Gleichungen dieser Familie angewandt werden. Die Herausforderung bestand

nun darin, die Kolywagin-Flach-Methode bei jeder Familie zum Zuge zu bringen. Obwohl manche Familien schwerer zu erobern waren als andere, war Wiles zuversichtlich, daß er sich den Weg durch eine nach der anderen bahnen konnte. Nach sechs Jahren intensiver Anstrengung sah Wiles schon das Ende in Sicht. Woche für Woche gelangen ihm Fortschritte, und er bewies für immer neue und größere Familien elliptischer Gleichungen, daß sie modular sein mußten. Es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, bevor er die noch ausstehenden elliptischen Gleichungen in die Tasche stecken konnte. Während der letzten Phase seiner Arbeit begann Wiles zu dämmern, daß sein ganzer Beweis auf der Anwendung einer Technik beruhte, die er erst einige Monate zuvor entdeckt hatte. Er fragte sich, ob er die Kolywagin-FlachMethode auf vollkommen strenge Weise anwandte. »In diesem Jahr arbeitete ich äußerst hart daran, die KolywaginFlach-Methode zum Laufen zu bringen, doch in ihr steckte eine Vielzahl ausgeklügelter Getriebeteile, mit denen ich nicht wirklich vertraut war. Da war einiges an schwerer Algebra, weshalb ich eine Menge neuer Mathematik lernen mußte. Dann, Anfang Januar 1993, kam ich zu dem Entschluß, daß ich mich jemandem anvertrauen mußte, einem Experten auf dem Feld der geometrischen Verfahren, die ich in Anspruch nahm. Ich wollte die entsprechende Person mit aller Umsicht wählen, denn sie würde Stillschweigen über die Sache bewahren müssen. Meine Wahl fiel auf Nick Katz.« Professor Nick Katz arbeitete ebenfalls am Fachbereich Mathematik der Universität Princeton und kannte Wiles schon seit einigen Jahren. Trotz ihrer Nähe hatte Katz keine Ahnung, was buchstäblich ein paar Schritte weiter den Korridor hinunter vor sich ging. Er erinnert sich an jede Einzelheit des Treffens, bei dem Wiles ihm sein Geheimnis eröffnete: »Eines Tages zur Teezeit kam Andy zu mir und fragte mich, ob ich in sein Büro kommen könne – da sei etwas, worüber er mit mir sprechen wolle. Ich hatte keine Ahnung, was es sein konnte. Ich ging hinüber in sein Büro, und er schloß die Tür hinter mir. Er glaube, er könne die Taniyama-Shimura-Vermutung beweisen, meinte er. Ich war einfach verblüfft, vollkommen perplex – das war phantastisch.«

Nick Katz

»Er erklärte, ein großer Teil des Beweises beruhe auf seiner Erweiterung der Arbeit von Kolywagin und Flach, sie sei jedoch technisch recht heikel. Er fühlte sich bei diesem technisch höchst anspruchsvollen Teil des Beweises auf schwankendem Boden, und um sich zu vergewissern, wollte er ihn mit jemandem durchgehen. Er meinte, ich sei der Richtige dafür, aber ich glaube, es gab noch einen anderen Grund, warum er ausgerechnet mich fragte. Er war sich sicher, daß ich den Mund halten und keinem Menschen etwas von seinem Beweis erzählen würde.« Nach sechs Jahren der Abschottung hatte Wiles sein Geheimnis aufgedeckt. Nun war es an Katz, sich durch den Berg an spektakulären Berechnungen zu arbeiten, die auf der Kolywagin-Flach-Methode gründeten. Praktisch alles, was Wiles geleistet hatte, war revolutionär, und Katz überlegte genau, wie er es gründlich prüfen konnte: »Was Andrew zu sagen hatte, war so gewichtig und umfangreich, daß es keinen Sinn gemacht hätte, wenn er es nur beiläufig in seinem Büro erläutert hätte. Für etwas so Wichtiges brauchten wir eigentlich den formellen Rahmen wöchentlich stattfindender Lehrveranstaltungen, denn ansonsten würde die Sache schlichtweg zerbröseln. Also beschlossen wir, eine Vorlesungsreihe anzukündigen.« Die beste Strategie wäre es, so beschlossen sie, eine Vorlesungsreihe für die Doktoranden des Fachbereichs anzukündigen. Wiles würde die Vorlesungen halten, Katz sollte im Publikum sitzen. Die Vorlesung würde eben jenen Teil des Beweises behandeln, ohne daß die Doktoranden freilich davon wußten. Das Schöne an dieser verschleierten Prüfung des Beweises war, daß Wiles gezwungen sein würde, alles Schritt für Schritt zu erklären, und doch im Fachbereich keinerlei Verdacht wecken würde. Was alle anderen anging, so handelte es sich um eine ganz gewöhnliche Lehrveranstaltung für Fortgeschrittene. »Also kündigte Andrew diese Vorlesung mit dem Titel ›Berechnungen zu elliptischen Kurven‹ an«, erinnert sich Katz mit verschmitztem Lächeln. »Ein völlig harmloser Titel – er konnte alles mögliche bedeuten. Er sagte nichts von Fermat und auch nichts von Taniyama-Shimura, sondern stürzte sich gleich zu Anfang in

technische Berechnungen. Kein Mensch hätte dahinter kommen können, um was es hier wirklich ging. Es war so aufgezogen, daß die Berechnungen, wenn man nicht wußte, wozu sie gut waren, unglaublich technisch und langweilig schienen. Und wenn man nicht weiß, wofür die Rechnerei gut sein soll, kann man ihr unmöglich folgen. Es ist ohnehin schon ziemlich schwer, ihr zu folgen, selbst wenn man weiß, wozu sie dient. Jedenfalls verschwanden die Doktoranden einer nach dem ändern, und nach ein paar Wochen war ich der einzige Zuhörer.« Katz saß im Auditorium und verfolgte sorgfältig jeden Schritt von Wiles’ Rechnung. Am Ende lautete sein Urteil, daß die Kolywagin-Flach-Methode tadellos zu funktionieren schien. Kein Mensch im Fachbereich erkannte, was vor sich gegangen war. Niemand vermutete, daß Wiles kurz davor stand, sich den wichtigsten Preis der Mathematik zu holen. Ihr Plan war gelungen. Kaum war die Vorlesungsreihe beendet, setzte Wiles alles daran, den Beweis zu vervollständigen. Bislang hatte er die KolywaginFlach-Methode erfolgreich angewandt, auf eine Familie elliptischer Gleichungen nach der ändern, und jetzt blieb nur noch eine Familie übrig, die sich dagegen sperrte. Wiles schildert den Versuch, auch das letzte Teilstück des Beweises zu erobern: »Eines Morgens Ende Mai war Nada mit den Kindern draußen, und ich saß am Schreibtisch und dachte über die verbleibende Familie elliptischer Gleichungen nach. Beiläufig schaute ich mir ein Papier von Barry Mazur an, und ein Satz darin machte mich stutzig. Es ging um eine Konstruktion aus dem neunzehnten Jahrhundert, und ich erkannte plötzlich, daß es eigentlich möglich sein sollte, sie einzusetzen, um die Kolywagin-Flach-Methode auch auf die letzte Familie elliptischer Gleichungen anzuwenden. Ich vergaß völlig, zum Mittagessen hinunterzugehen, und arbeitete in den Nachmittag hinein. Gegen drei oder vier war ich mir sicher, mit diesem Ansatz auch das letzte verbliebene Problem lösen zu können. Allmählich wurde es Zeit für den Tee, und ich ging hinunter. Nada war überrascht, daß ich so spät kam. Dann sagte ich es ihr – ich hatte Fermats letzten Satz bewiesen.«

Der Vortrag des Jahrhunderts Nach sieben Jahren hartnäckiger Arbeit hatte Wiles einen Beweis der Taniyama-Shimura-Vermutung zustande gebracht. Und das hieß, er hatte nach dreißig Jahren, in denen er davon geträumt hatte, zugleich auch Fermats letzten Satz bewiesen. Nun war es an der Zeit, dem Rest der Welt davon Mitteilung zu machen. »Im Mai 1993 war ich also davon überzeugt, daß ich Fermats letzten Satz vollkommen in der Hand hatte«, erinnert sich Wiles. »Ich wollte den Beweis zwar noch etwas eingehender prüfen, doch für Ende Juni war eine Konferenz in Cambridge angekündigt, und ich dachte, das wäre ein wunderbarer Ort, um den Beweis bekanntzugeben – Cambridge ist meine Heimatstadt, und ich hatte dort meinen Doktor gemacht.« Die Konferenz fand am Isaac Newton Institute statt. Das Institut hatte diesmal einen Workshop zur Zahlentheorie mit dem obskuren Titel »L-Funktionen und Arithmetik« angesetzt. Einer der Organisatoren war Wiles’ Doktorvater John Coates: »Wir brachten Leute aus allen Teilen der Welt zusammen, die an diesem Problemkreis arbeiteten, und natürlich luden wir auch Andrew ein. Wir hatten eine dicht mit Vorträgen besetzte Woche geplant, und weil die Nachfrage nach Vortragsterminen so groß war, gab ich Andrew nur zwei Termine. Doch dann schwante mir, daß er auch noch einen dritten brauchen würde und gab dann meinen eigenen Termin für seinen dritten Vortrag her. Ich wußte, daß er etwas Wichtiges zu sagen hatte, hatte aber keine Ahnung, was es war.« Als Wiles in Cambridge ankam, hatte er noch zweieinhalb Wochen bis zu seinen Vorträgen, und diese Zeit wollte er gut nutzen. »Ich beschloß, den Beweis mit ein oder zwei Experten durchzugehen, besonders den Kolywagin-Flach-Teil. Der erste, dem ich die Sache in die Hand drückte, war Barry Mazur. Ich glaube, ich sagte zu ihm: ›Hier ist ein Manuskript mit dem Beweis eines gewissen Satzes.‹ Er sah eine Zeitlang recht verdutzt drein, dann meinte ich: ›Nun, schau’s dir einfach mal an.‹ Ich glaube, er hat eine ganze Weile gebraucht, um es zu kapieren. Er schien ganz platt. Wie auch

immer, ich sagte ihm, daß ich hoffte, bei der Konferenz darüber sprechen zu können, und daß ich mich freuen würde, wenn er es einfach mal prüfen könnte.« Allmählich trudelten die bedeutendsten Vertreter der Zahlentheorie im Isaac Newton Institute ein, darunter auch Ken Ribet, dessen Berechnung aus dem Jahr 1986 Wiles zu seiner siebenjährigen Mühsal angeregt hatte. »Ich kam zu dieser Konferenz über L-Funktionen und elliptische Kurven, und es schien nichts Außergewöhnliches los zu sein, bis die Leute anfingen, mir zu erzählen, sie hätten merkwürdige Gerüchte über die von Andrew Wiles angesetzten Vorträge gehört. Den Gerüchten zufolge habe er Fermats letzten Satz bewiesen, und ich meinte nur, das ist völlig verrückt. Ich dachte, das kann einfach nicht wahr sein. In der Mathematik kommen Gerüchte sehr schnell in Umlauf, besonders durch die E-Mails, und erfahrungsgemäß sollte man nicht viel darauf geben. Aber die Gerüchte waren recht hartnäckig, und Andrew weigerte sich, irgendwelche Fragen zu beantworten und verhielt sich ganz, ganz seltsam. John Coates meinte zu ihm: ›Andrew, was hast du bewiesen? Sollen wir die Presse holen?‹ Andrew schüttelte nur den Kopf und sagte kein Wort dazu. Er legte es wirklich auf einen dramatischen Höhepunkt an. Dann, eines Nachmittags, kam Andrew zu mir und begann mich zu fragen, worüber ich 1986 gearbeitet hatte, und wollte auch etwas über die Geschichte von Freys Ideen wissen. Ich dachte mir, das ist unglaublich, aber er muß die Taniyama-Shimura-Vermutung und Fermats letzten Satz bewiesen haben, andernfalls würde er mich das nicht fragen. Ich fragte ihn nicht direkt, ob das stimmte, weil ich sah, daß er sich sehr spröde verhielt und mir keine offene Antwort geben würde. Also sagte ich nur so etwas wie: ›Nun, Andrew, wenn du die Gelegenheit hast, über diese Arbeit vorzutragen, sage ich dir, was geschehen ist.‹ Ich sah ihn an, als ob ich etwas wüßte, aber im Grunde wußte ich nicht, was vorging. Ich war immer noch am Raten.« Wiles antwortete ganz schlicht auf die Gerüchte und den wachsenden Druck: »Die Leute fragten mich in der Zeit davor, was ich genau sagen würde. Also sagte ich, nun, kommen Sie zu meinen Vorträgen und hören Sie selbst.«

Im Jahr 1920 hatte der damals achtundfünfzigjährige David Hubert in Göttingen einen öffentlichen Vortrag über die Fermatsche Vermutung gehalten. Auf die Frage, ob das Problem je gelöst werden würde, gab er die Antwort, er selbst würde es nicht mehr erleben, vielleicht jedoch die jüngeren Anwesenden im Publikum. Hubert hatte den Zeitpunkt der Lösung ziemlich genau getroffen. Wiles’ Vortrag lag zudem ganz gut in der Zeit für den WolfskehlPreis. Paul Wolfskehl hatte in seinem Testament den 13. September 2007 als zeitliches Limit gesetzt. Der Titel von Wiles’ Vortragsreihe lautete »Modulformen, elliptische Kurven und Galois-Darstellungen«. Wie zuvor schon bei den für Doktoranden angekündigten Vorlesungen, die eigentlich für Nick Katz bestimmt waren, war der Titel so vage, daß das eigentliche Ziel verborgen blieb. Wiles’ erster Vortrag war scheinbar profan, er bereitete den Boden für seinen Angriff auf die TaniyamaShimura-Vermutung im zweiten und dritten Vortrag. Die Mehrzahl der Zuhörer wußte überhaupt nichts von den Gerüchten, achtete kaum auf die Einzelheiten und verstand nicht, was denn der Witz des Vertrags sein sollte. Wer Bescheid wußte, suchte nach den kleinsten Hinweisen dafür, daß sich die Gerüchte bewahrheiten könnten. Gleich nach dem Ende des ersten Vertrags kam neues Leben in die Gerüchteküche, und ganze Schwärme von E-Mails flogen um die Welt. Professor Karl Rubin, ein ehemaliger Student von Wiles, berichtete seinen Kollegen in Amerika: Datum: Thema

Mo 21. Juni 1993 13:33:06 Wiles

Hi. Andrew hat heute seinen ersten Vortrag gehalten. Er hat keinen Beweis für Taniyama-Shimura vorgelegt, geht aber in diese Richtung und hat noch zwei Vorträge. Er ist immer noch sehr verschlossen, was das Endresultat angeht. Meiner Einschätzung nach wird er beweisen, daß E modular sein muß, wenn E eine elliptische Kurve über Q ist und die Galois-Darstellung in den Punkten der Ordnung 3 auf E bestimmten Voraussetzungen genügt.

Nach dem bislang Gesagten zu schließen, wird er wohl nicht die ganze Vermutung beweisen. Ich weiß allerdings nicht, ob das Argument auch für die Freysche Kurve gilt und somit auch etwas über Fermat besagt. Ich halte Dich auf dem laufenden. Karl Rubin Ohio State University

Am nächsten Tag hatten sich die Gerüchte weiter verbreitet, und beim zweiten Vortrag waren nun beträchtlich mehr Zuhörer im Publikum. Wiles versetzte ihnen einige Nadelstiche mit einer Zwischenrechnung, die klar zeigte, daß er die Taniyama-Shimura-Vermutung in Angriff nahm, doch die Zuhörer fragten sich auch weiterhin, ob er genug beisammen hatte, um sie zu beweisen, und damit auch Fermats letzten Satz erobert hatte. Aus den Satelliten flatterten stapelweise neue E-Mails: Datum: Thema:

Di 22. Juni 1993 13:10:39 Wiles

Keine wirklichen Neuigkeiten im heutigen Vortrag. Andrew präsentierte einen allgemeinen Satz zum Liften von Galois-Darstellungen in etwa auf dem gestern von mir angedeuteten Weg. Das Argument scheint nicht für alle elliptischen Kurven zu gelten, aber die Pointe kommt erst morgen. Ich weiß wirklich nicht, warum er es auf diese Weise aufzieht. Es ist klar, daß er weiß, was er morgen sagen wird. Das ist wirklich ein gewaltiges Stück Arbeit in so vielen Jahren, und offenbar ist er seiner Sache recht sicher. Ich lasse Dich morgen wissen, was passiert ist. Karl Rubin Ohio State University

»Am 23. Juni begann Andrew seinen dritten und letzten Vortrag«, erinnert sich John Coates. Erstaunlicherweise waren praktisch alle, die Ideen zu dem Beweis beigesteuert hatten, im Raum versammelt, Mazur, Ribet, Kolywagin und viele, viele andere.« Inzwischen hatten sich die Gerüchte so sehr verdichtet, daß die gesamte Mathematikergemeinde von Cambridge zum letzten Vor-

trag erschien. Wer Glück hatte, konnte sich noch ins Auditorium zwängen, die ändern mußten draußen im Gang bleiben, wo sie auf Zehenspitzen stehend durch das Fenster spähten. Ken Ribet hatte sich vorgenommen, die wichtigste mathematische Darlegung des Jahrhunderts nicht zu versäumen: »Ich kam ziemlich früh und setzte mich mit Barry Mazur in die erste Reihe. Um das Ereignis festzuhalten, hatte ich meine Kamera dabei. Die Atmosphäre war sehr geladen, die Leute waren aufgeregt. Natürlich hatten wir das Gefühl, an einem historischen Moment teilzuhaben. Vor und während des Vertrags hatten die Leute ein verschmitztes Lächeln auf ihren Gesichtern. Die Spannung hatte sich über mehrere Tage hin aufgebaut. Dann kam dieser herrliche Augenblick, als wir uns dem Beweis von Fermats letztem Satz näherten.« Wiles hatte Barry Mazur bereits eine Kopie des Beweises ausgehändigt, doch selbst ihn verblüffte Wiles’ Auftritt. »Ich habe nie einen so großartigen Vortrag erlebt, mit so vielen glänzenden Ideen, voll dramatischer Spannung, und so gut aufgebaut. Es gab nur eine mögliche Pointe.« Nach sieben Jahren energischer Arbeit war Wiles nun bereit, der Welt seinen Beweis zu verkünden. An die letzten Augenblicke des Vertrags kann er sich merkwürdigerweise nicht besonders gut erinnern, an die Atmosphäre hingegen schon: »Obwohl die Presse schon Wind von dem Vortrag bekommen hatte, war sie glücklicherweise nicht dabei. Doch im Publikum saßen eine Menge Leute, die gegen Ende Fotos machten, und der Institutsdirektor war gut vorbereitet mit einer Flasche Champagner gekommen. Während ich den Beweis vortrug, herrschte das typische würdevolle Schweigen, und dann schrieb ich einfach Fermats letzten Satz an die Tafel. ›Ich denke, das genügt‹, meinte ich dann, und es gab langen Beifall.«

Das Nachbeben Seltsamerweise geriet Wiles wegen des Vertrags in einen Zwiespalt: »Natürlich war es ein großes Ereignis, aber ich hatte gemischte Gefühle. Sieben Jahre lang war dies ein Teil von mir gewesen: mein ganzes Arbeitsleben hatte darin bestanden. Ich hatte mich so tief in das Problem versenkt, daß ich wirklich das Gefühl hatte, es gehörte mir allein. Doch jetzt ließ ich es los. Ich hatte den Eindruck, einen Teil meines Selbst aufzugeben.« Wiles’ Kollege Ken Ribet hatte keine solchen Bauchschmerzen: »Es war ein ganz außergewöhnliches Ereignis. Ich meine, du gehst zu einer Konferenz, und da gibt es ein paar Nullachtfünfzehn-Vorträge, ein paar gute Vorträge und auch ein paar ganz besondere Vorträge. Aber nur einmal im Leben bekommst du einem Vortrag zu hören, in dem jemand behauptet, ein Problem zu lösen, das seit 350 Jahren ungelöst ist. Die Leute blickten sich gegenseitig an und sagten: ›Mein Gott, du weißt, wir waren soeben Zeugen eines historischen Ereignisses.‹ Dann stellten sie ein paar Fragen über technische Einzelheiten des Beweises und mögliche Anwendungen auf andere Gleichungen, dann herrschte wieder Schweigen, und plötzlich gab es eine zweite Runde Applaus. Den nächsten Vortrag hielt ein gewisser Ken Ribet, meine Wenigkeit. Ich hielt den Vortrag, die Leute machten sich Notizen, die Leute applaudierten, und keiner der Anwesenden, mich selbst eingeschlossen, hat irgendeine Ahnung, was ich gesagt habe.« Während die Mathematiker per E-Mail die guten Neuigkeiten verbreiteten, mußte der Rest der Welt auf die Abendnachrichten oder die Morgenzeitungen warten. Fernsehteams und Wissenschaftsreporter fielen im Isaac Newton Institute ein und verlangten allesamt Interviews mit dem »größten Mathematiker des Jahrhunderts«. Der Guardian verkündete groß: »Die Stunde hat geschlagen für das größte Matherätsel«, und auf der Titelseite von Le Monde hieß es: »Der Satz Fermats endlich bewiesen.« Überall fragten Journalisten bei Mathematikern nach, was sie denn als Experten zu Wiles’ Arbeit meinten, und Professoren, die den Schock noch nicht

Nach Wiles’ Vortrag berichteten Zeitungen rund um die Welt über seinen Beweis des letzten Fermatsatzes.

ganz überwunden hatten, waren gehalten, den kompliziertesten mathematischen Beweis der Geschichte kurz und bündig zu erklären oder mit ein paar knappen Sätzen die Taniyama-Shimura-Vermutung zu erläutern. Professor Shimura erfuhr von dem Beweis seiner Vermutung durch die Titelseite der New York Times – »Zu guter Letzt: ›Heureka!‹ um ein jahrhundertealtes Mathegeheimnis.« Fünfunddreißig Jahre nachdem sich sein Freund Yutaka Taniyama umgebracht hatte, war die Vermutung, die sie zusammen aufgestellt hatten, endlich bestätigt worden. Für viele Berufsmathematiker war der Beweis der Taniyama-Shimura-Vermutung eine viel wichtigere Leistung als die Lösung des Fermatproblems, weil er beträchtliche Auswirkungen auf viele andere mathematische Sätze hatte. Die Journalisten, die über die Sache schrieben, verlegten sich zumeist auf Fermat und erwähnten die Taniyama-Shimura-Vermutung, wenn überhaupt, nur beiläufig. Shimura, ein bescheidener und liebenswürdiger Mann, störte sich nicht groß an der mangelnden Aufmerksamkeit für seine Rolle beim Beweis von Fermats letztem Satz. Allerdings betrübte ihn, daß er und Taniyama nicht als Namen, sondern als Adjektive gehandelt wurden. »Es ist schon sehr eigenartig, daß die Leute über die Taniyama-Shimura-Vermutung schreiben, aber keiner über Taniyama und Shimura.« Zum ersten Mal seit Yoichi Miyaoka 1988 seinen vermeintlichen Beweis angekündigt hatte, war die Mathematik wieder in die Schlagzeilen vorgedrungen. Der einzige Unterschied war, daß es diesmal doppelt so viele Berichte gab und keiner irgendwelche Zweifel an der Beweisführung äußerte. Über Nacht wurde Wiles zum berühmtesten, in Wahrheit zum einzig berühmten Mathematiker der Welt, und das Magazin People zählte ihn sogar zu den »25 faszinierendsten Menschen des Jahres«, zusammen mit Prinzessin Diana und Oprah Winfrey. Die höchste Auszeichnung kam von einer internationalen Bekleidungskette, die das sanfte Genie bat, ihre neue Männerkollektion zu empfehlen. Während der Medienrummel weiterlief und die Mathematiker, die nun im Rampenlicht standen, versuchten, das Beste daraus zu

machen, unterzog man den Beweis einem harten Test. Wie in allen wissenschaftlichen Disziplinen muß auch in der Mathematik jedes neue Stück Arbeit genau geprüft werden, bevor es als gediegene und richtige Erkenntnis übernommen werden kann. Wiles’ Beweis mußte den Leidensweg eines Prozesses mit unabhängigen Richtern durchlaufen. Zwar hatte er den Kollegen in seinen Vorträgen am Isaac Newton Institute den Beweisgang skizziert, doch dies galt nicht als offizielle peer review: Das akademische Protokoll verlangt, daß jeder Mathematiker bei einer angesehenen Zeitschrift sein vollständiges Manuskript einreicht und der Herausgeber es an eine Gruppe von Gutachtern weiterleitet. Deren Aufgabe ist es, den Beweis Zeile für Zeile zu überprüfen. Wiles mußte den Sommer über gespannt auf den Bericht der Gutachter warten, in der Hoffnung, am Ende ihren Segen zu erhalten.

Andrew Wiles und Ken Ribet kurz nach Wiles’ geschichtsträchtigem Vortrag am Isaac Newton Institute.

7 Ein kleines Problem Ein Problem zeigt sich des Angriffs wert, Wenn es sich dagegen wehrt. Piet Hein

Nach Wiles’ Vortrag in Cambridge informierte man umgehend das Wolfskehl-Komitee über den Beweis. Ohne weiteres konnte der Preis jedoch nicht verliehen werden, denn die Wettbewerbsregeln sahen eindeutig vor, daß der Beweis von anderen Mathematikern bestätigt und formell veröffentlicht werden mußte: »Die Königliche Gesellschaft der Wissenschaften... berücksichtigt für die Preiszuteilung lediglich solche mathematischen Abhandlungen, die in periodischen Zeitschriften, als Monographien oder in Buchform im Buchhandel käuflich erschienen sind... Die Zuerkennung des Preises durch die Gesellschaft erfolgt frühestens zwei Jahre nach der Veröffentlichung der zu krönenden Abhandlung. Es soll innerhalb dieses Zeitraums deutschen und ausländischen Mathematikern Gelegenheit geboten werden, über die Richtigkeit der durch die Veröffentlichung bekannt gewordenen Lösung sich zu äußern.« Wiles reichte sein Manuskript bei der Zeitschrift Inventions Mathematicae ein, und nun war es an deren Herausgeber Barry Mazur, die Gutachter auszuwählen. Wiles’ hatte eine derartige Vielfalt von modernen und klassischen mathematischen Verfahren für die Arbeit herangezogen, daß Mazur die außergewöhnliche Entscheidung traf, nicht nur, wie üblich, zwei oder drei Gutachter zu benennen, sondern sechs. Jährlich erscheinen in den Zeitschriften

rund um den Globus dreißigtausend Artikel, doch die schiere Größe und Bedeutung von Wiles’ Manuskript verlangte eine besonders kritische Prüfung. Um die Sache zu vereinfachen, unterteilte man den zweihundertseitigen Beweis in sechs Abschnitte, für die jeweils einer der Gutachter die Verantwortung übernahm. Kapitel 3 lag in der Obhut von Nick Katz, der diesen Teil von Wiles’ Beweis im selben Jahr schon einmal geprüft hatte. »Es traf sich, daß ich den Sommer über in Paris am Institut des Hautes Études Scientifiques sein würde, und ich nahm die kompletten 200 Seiten des Beweises mit – das für mich bestimmte Kapitel war siebzig Seiten lang. In Paris kam ich zu dem Entschluß, es wäre das beste, ernsthafte technische Unterstützung in Anspruch zu nehmen, und so bestand ich darauf, daß Luc Illusie, der ebenfalls in Paris war, Mitgutachter für dieses Kapitel wurde. Wir trafen uns den ganzen Sommer über ein paarmal die Woche und hielten uns im wesentlichen gegenseitig Vorträge, um uns das Kapitel zu erschließen. Wir taten buchstäblich nichts anderes, als dieses Manuskript Zeile für Zeile durchzusehen und uns zu vergewissern, daß keine Fehler drinsteckten. Gelegentlich verhedderten wir uns, und ich schickte Andrew ein- oder zweimal am Tag per E-Mail eine Frage: Ich verstehe nicht, was Du auf dieser Seite sagst, oder in jener Zeile scheint etwas nicht zu stimmen. Meist bekam ich schon am selben oder am nächsten Tag eine klärende Antwort, und wir gingen weiter zum nächsten Problem.« Der Beweis war ein gewaltiger Argumentationsgang, zusammengefügt aus Hunderten von Berechnungen und verleimt mit Tausenden von logischen Schlüssen. Sollte nur eine der Rechnungen falsch sein, oder sollte eine der Verknüpfungen sich lösen, würde womöglich der gesamte Beweis in sich zusammenfallen. Wiles, inzwischen wieder in Princeton, wartete gespannt auf das Urteil der Gutachter. »Ich mochte nicht richtig feiern, bis ich das Papier wirklich ganz aus den Händen hatte. Unterdessen war es meine Aufgabe, die Fragen zu beantworten, die ich per E-Mail von den Gutachtern erhielt. Ich war immer noch recht zuversichtlich, daß mir keine dieser Fragen größere Schwierigkeiten bereiten würde.« Wiles hatte den Beweis schon doppelt und dreifach geprüft, bevor

er ihn an die Gutachter weitergeleitet hatte, und erwartete daher kaum mehr als die mathematischen Verwandten der Grammatikoder Tippfehler, harmlose Irrtümer, die er umstandslos würde korrigieren können. »Bis in den August hinein ging es recht ereignislos mit diesen Fragen weiter«, erinnert sich Katz, »bis ich auf etwas stieß, das auf den ersten Blick wie noch so ein harmloses Problem aussah. Um den 23. August herum schicke ich Andrew eine E-Mail, aber die Sache ist ein wenig kompliziert, also schickt er mir ein Fax zurück. Doch das Fax scheint mir die Frage nicht zu beantworten, also schicke ich ihm noch eine E-Mail, und ich bekomme ein weiteres Fax, mit dem ich allerdings immer noch nicht zufrieden bin.« Wiles hatte geglaubt, der Irrtum sei so harmlos wie alle ändern, doch Katz blieb stur, und so mußte er die Angelegenheit ernst nehmen. »Ich konnte diese bestimmte, sehr unscheinbar aussehende Frage nicht sofort klären. Eine Zeitlang schien sie mir vom selben Schlag zu sein wie die anderen Probleme, doch dann, irgendwann im September, wurde mir allmählich klar, daß dies eben keine belanglose kleine Schwierigkeit war, sondern ein elementarer Fehler. Im entscheidenden Teil der Argumentation mit der KolywaginFlach-Methode steckte ein Irrtum, aber ein derart unterschwelliger, daß ich ihn bis dahin völlig übersehen hatte. Der Irrtum ist so abstrakter Natur, daß man ihn in einfachen Worten nicht wirklich beschreiben kann. Selbst wenn man den Fehler einem Mathematiker erklären wollte, müßte er diesen Teil des Manuskripts zwei oder drei Monate in allen Einzelheiten studieren.« Das Problem bestand im Kern darin, daß es keine Garantie dafür gab, daß die Kolywagin-Flach-Methode im Sinne von Wiles funktionierte. Mit ihr sollte der Beweis vom ersten Element aller elliptischen Gleichungen und Modulformen auf alle Elemente ausgedehnt werden, so daß mit einem Dominostein automatisch auch der nächste kippen würde. Die Kolywagin-Flach-Methode funktionierte ursprünglich nur unter besonders engumschriebenen Bedingungen, doch Wiles glaubte, er habe sie seinen Bedürfnissen entsprechend hinreichend angepaßt und verstärkt. Katz behauptete nun, dies treffe nicht unbedingt zu, und dies hatte dramatische und

verheerende Folgen. Wiles’ Arbeit war aufgrund des Irrtums zwar nicht unbedingt rettungslos verloren, allerdings würde er seinen Beweis neu untermauern müssen. In ihrer absolutistischen Manier verlangte die Mathematik von Wiles, ohne jeden Rest an Zweifel nachzuweisen, daß seine Methode für jedes Element aller E-Reihen und M-Reihen funktionierte.

Der Teppichflicker Als Katz die Bedeutung des von ihm ausfindig gemachten Irrtums erkannte, begann er sich zu fragen, wie er ihn im Frühjahr hatte übersehen können. Wiles hatte ihm damals Vorlesungen gehalten mit dem einzigen Zweck, etwaige Fehler aufzudecken. »Ich glaube, wenn man einer Vorlesung folgt, herrscht eine echte Spannung zwischen den Wünschen, einerseits alles verstehen zu wollen, und andererseits den Vortragenden nicht unterbrechen zu wollen. Wenn man alle naselang unterbricht – ich verstehe dies nicht, ich verstehe das nicht –, dann kommt der Mensch dort vorne nie dazu, etwas zu erklären, und man kommt nicht weiter. Wenn man hingegen nie unterbricht, verliert man den Faden und nickt dann immer nur höflich mit dem Kopf, prüft aber eigentlich nichts mehr nach. Es herrscht tatsächlich eine Spannung zwischen zuviel und zuwenig fragen, und offenbar hatte ich mich gegen Ende dieser Vorlesungen, als das Problem mir entwischt ist, für zuwenig fragen entschieden.« Ein paar Wochen zuvor noch hatte es in den Zeitungen rund um den Globus geheißen, Wiles sei der brillanteste Mathematiker der Welt, und nach 350 Jahren vergeblicher Hoffnungen glaubten die Zahlentheoretiker, endlich die Oberhand über Pierre de Fermat errungen zu haben. Nun drohte Wiles die Demütigung, einen Fehler eingestehen zu müssen. Bevor er seinen Irrtum zugab, wollte er freilich noch einmal alle Kräfte aufbieten, um die Lücke zu schließen. »Ich konnte nicht aufgeben. Ich war von dem Problem besessen und glaubte immer noch, ich müßte nur ein wenig an der Kolywagin-Flach-Methode herumbosseln und eine Kleinigkeit ändern, dann würde sie schon funktionieren. Ich beschloß, schnur-

stracks zu meiner alten Arbeitsweise zurückzukehren und mich völlig von der Außenwelt abzuschotten. Ich mußte meine Gedanken wieder sammeln, doch diesmal unter viel schwierigeren Umständen. Lange Zeit dachte ich, das fehlende Stück sei schon mit Händen greifbar, es sei etwas ganz Einfaches und am nächsten Tag würde dann alles zusammenpassen. Das war natürlich durchaus möglich, doch mit der Zeit gewann ich den Eindruck, das Problem würde immer unbezwingbarer.« Wiles hoffte, den Fehler beheben zu können, bevor die Mathematikergemeinde überhaupt von seiner Existenz erfuhr. Wiles’ Frau, die schon die siebenjährige Mühsal mit dem ursprünglichen Beweis miterlebt hatte, mußte sich nun den quälenden Kampf ihres Mannes gegen einen Irrtum mit ansehen, der vielleicht alles zunichte machen würde. Wiles erinnert sich an ihre Zuversicht: »Im September sagte mir Nada, das einzige, was sie sich zum Geburtstag wünsche, sei ein richtiger Beweis. Sie hat am 6. Oktober Geburtstag. Ich hatte nur zwei Wochen Zeit dafür, und ich schaffte es nicht.« Auch für Nick Katz war es eine Zeit der Anspannung. »Im Oktober wußten nur Illusie und ich, die Gutachter für die anderen Kapitel und Andrew von dem Fehler – das war im Prinzip alles. Als Gutachter hatte ich mich meines Erachtens diskret zu verhalten. Für mich war klar, daß ich diese Angelegenheit mit niemandem außer Andrew zu diskutieren hatte, deshalb sagte ich kein Wort darüber. Ich denke, äußerlich erschien er normal, doch in dieser Zeit verbarg er ein Geheimnis vor den ändern, und ich glaube, ihm muß dabei ziemlich unwohl in seiner Haut gewesen sein. Andrew glaubte, er könne die Sache im Handumdrehen lösen, doch als es langsam Herbst wurde und immer noch kein Manuskript vorlag, kamen Gerüchte auf, es gebe ein Problem.« Vor allem Ken Ribet, ebenfalls ein Gutachter, spürte zunehmend den Druck, das Geheimnis preiszugeben: »Aus vollkommen zufälligem Anlaß kam in Umlauf, ich sei der ›Fermat-Informationsdienst‹. Andrew hatte mich gebeten, für einen ersten Bericht der New York Times an seiner Stelle mit dem Reporter zu sprechen, worauf es in dem Artikel dann hieß: ›Ribet, der als Sprecher für Andrew Wiles auftritt...‹ oder so ähnlich. Danach zog ich wie ein

Magnet alle möglichen Nachfragen wegen des letzten Fermatsatzes auf mich, sowohl aus Mathematikerkreisen als auch von außerhalb. Presseleute riefen an, aus der ganzen Welt übrigens, und im Lauf von zwei oder drei Monaten hielt ich auch eine Menge Vorträge. Dabei betonte ich, um was für eine großartige Leistung es sich handelte, skizzierte den Beweis und sprach über die Teile, die ich am besten kannte, doch nach einer Weile begannen die Leute ungeduldig zu werden und heikle Fragen zu stellen. Wiles hatte ja diese sehr öffentliche Ankündigung gemacht, doch außer den paar wenigen Gutachtern hatte niemand eine Kopie des Manuskripts gesehen. Also warteten die Mathematiker auf dieses Manuskript, denn Andrew hatte versprochen, es werde ein paar Wochen nach der Bekanntgabe im Juni erscheinen. Es hieß: ›Schön und gut, dieser Beweis wurde angekündigt – wir würden gern wissen, was vor sich geht. Was macht er? Warum hören wir nichts mehr von der Sache?« Die Leute waren ein wenig aufgebracht, weil sie nicht informiert wurden, und wollten einfach wissen, was los war. Dann wurde alles noch schlimmer, weil sich über dem Beweis allmählich diese Wolke zusammenzog und die Leute mir ständig von den Gerüchten erzählten, wonach es eine Lücke in Kapitel 3 gebe. Sie fragten mich danach, und ich wußte einfach nicht, was ich sagen sollte.« Während Wiles und die Gutachter behaupteten, von einer Lücke im Beweis könne keine Rede sein, oder zumindest jede Stellungnahme verweigerten, begannen die Spekulationen ins Kraut zu schießen. In ihrer Ratlosigkeit schickten sich die Mathematiker E-Mails zu, um dem Geheimnis vielleicht auf den Grund zu kommen. Thema: Datum:

Lücke in Wiles’ Beweis? 18. Nov. 1993 21:04:49 GMT

Es schwirren viele Gerüchte herum über eine oder mehrere Lücken in Wiles’ Beweis. Bedeutet Lücke nun Riß, Spalte, Deichbruch, Kluft oder Abgrund? Hat jemand zuverlässige Informationen? Joseph Lipman Purdue University

In den Teezimmern der mathematischen Fakultäten schwappte der Klatsch über Wiles’ Beweis mit jedem Tag höher. Einige Mathematiker antworteten auf die Gerüchte und die spekulativen E-Mails mit dem Versuch, wieder etwas Ruhe in die Gemeinde zu bringen. Thema: Datum:

Antwort: Lücke in Wiles’ Beweis? 19. Nov. 1993 15:42:20 GMT

Informationen aus erster Hand kann ich nicht bieten, und Informationen aus zweiter Hand zu diskutieren ist meine Sache nicht. Ich glaube, der beste Ratschlag für alle ist, Ruhe zu bewahren und die sehr kompetenten Gutachter, die Wiles’Arbeit sorgfältig prüfen, ihre Arbeit tun zu lassen. Sie werden darüber berichten, sobald sie etwas Schlüssiges zu sagen haben. Jeder, der schon einmal einen Artikel geschrieben hat, wird mit der Tatsache vertraut sein, daß bei der Prüfung der Beweise häufig Fragen auftauchen. Es wäre erstaunlich, wenn dies bei einem so wichtigen Resultat mit einem langen und schwierigen Beweis nicht der Fall wäre. Leonard Evens North Western University

Trotz der Aufforderungen, Ruhe zu bewahren, wurden auch weiterhin E-Mails verschickt. Die Mathematiker diskutierten nicht nur den mutmaßlichen Irrtum, sondern stritten sich auch über die Frage, ob der Vorgriff auf das Urteil der Gutachter nicht ein ethisches Problem aufwerfe. Thema: Datum:

Mehr Fermat-Klatsch 24. Nov. 93 12:00:34 GMT

Ich denke, es ist klar, daß ich nicht mit jenen übereinstimme, die meinen, wir sollten nicht darüber schwatzen, ob Wiles’ Beweis des letzten Fermatsatzes nun fehlerhaft ist oder nicht. Ich bin durchaus für diese Sorte Klatsch, solange er nicht allzu ernst genommen wird. Für mich ist er nichts Bösartiges, vor allem deshalb, weil ich mir sicher bin, daß Wiles eine mathematische Arbeit von Weltklasse abgeliefert hat, ob sein Beweis nun fehlerhaft ist oder nicht. Hier ist also, was ich heute gehört habe, aus n-ter Hand ... Bob Silverman

Thema: Datum:

Re: Fermat-Loch Mo, 22. Nov. 93 20:16 GMT

Coates sagte in seinem Vortrag letzte Woche hier am Newton Institute, es gebe seiner Meinung nach eine Lücke in dem Teil des Beweises, der sich um die »geometrischen Eulersysteme« dreht. Um sie zu schließen, brauchte man »vielleicht eine Woche oder auch zwei Jahre«. Ich habe mehrmals mit ihm gesprochen, bin mir jedoch immer noch nicht sicher, auf welcher Grundlage er das behauptet: Er besitzt keine Kopie des Manuskripts. Soweit ich weiß, hat Richard Taylor als einer der Gutachter des Artikels für die Inventiones die einzige Kopie in Cambridge, und er verweigert beharrlich jeden Kommentar, bis alle Gutachter zu einem gemeinsamen Urteil gefunden haben. Die Lage ist also verworren. Ich für meinen Teil sehe nicht, inwiefern Coates’ Sicht der Dinge in der gegenwärtigen Phase als maßgeblich betrachtet werden kann: Ich warte auf das Wort von Richard Taylor. Richard Pinch

Während der unzuverlässige Beweis zusehends für Wirbel sorgte, gab sich Wiles alle Mühe, den Auseinandersetzungen und Spekulationen aus dem Weg zu gehen. »Ich habe buchstäblich die Rolläden heruntergelassen, weil ich nicht wissen wollte, was die Leute über mich sagten. Ich zog mich einfach zurück, hin und wieder allerdings sagte mein Kollege Peter Sarnak: ›Du weißt, da draußen tobt ein Sturm.‹ Ich hörte ihm zu, aber eigentlich wollte ich alle Verbindungen kappen und mich ganz auf das Problem konzentrieren.« Peter Sarnak war zur selben Zeit wie Wiles nach Princeton an den Fachbereich Mathematik gekommen, und im Laufe der Jahre waren sie enge Freunde geworden. In dieser nervenaufreibend turbulenten Zeit war Sarnak einer der wenigen, denen sich Wiles anvertraute. »Nun, ich kannte zwar nie die genauen Einzelheiten, aber es war klar, daß er dieses bestimmte, ernste Problem zu lösen versuchte. Doch jedesmal, wenn er diesen Teil der Rechnung auf die Reihe bekam, tauchte in der Folge eine neue Schwierigkeit an einer anderen Stelle des Beweises auf. Es war, als ob er versuchte,

einen Teppich in einem Zimmer zu verlegen, der vielleicht größer war als die Bodenfläche. Andrew mochte es zwar schaffen, den Teppich in einer Ecke richtig einzupassen, mußte dann aber feststellen, daß er sich in einer anderen Ecke aufwellte. Ob der Teppich schließlich in das Zimmer passen würde, konnte er nicht herausfinden. Doch alles was recht ist, trotz des Irrtums hatte Andrew einen riesigen Schritt vorwärts getan. Vor ihm hatte niemand eine Ahnung gehabt, wie die Taniyama-Shimura-Vermutung anzugehen wäre, doch jetzt waren alle ganz begeistert, weil er uns so viele neue Ideen präsentierte. Das waren grundlegend neue Gedanken, auf die noch nie jemand gekommen war. Selbst wenn also der Beweis nicht geflickt werden konnte, war er ein großer Fortschritt – doch natürlich würde Fermat ungelöst bleiben.« Wiles erkannte schließlich, daß er sein Schweigen nicht für immer aufrechterhalten konnte. Eine Lösung des Problems war nicht mit Händen zu greifen, und es war an der Zeit, die Spekulationen zu beenden. Nachdem er mit seinen Versuchen im Herbst kläglich gescheitert war, schickte er die folgende E-Mail an das Schwarze Brett der Mathematiker: Thema: Datum:

Fermat, Stand der Dinge 4. Dez. 93 01:36:50 GMT

Angesichts der Spekulationen um den Stand meiner Arbeit zur Taniyama-Shimura-Vermutung und zu Fermats letztem Satz möchte ich kurz die Lage schildern. Während der Begutachtung tauchte eine Reihe von Problemen auf, von denen die meisten gelöst werden konnten. Ein bestimmtes Problem jedoch konnte ich nicht beheben. Die entscheidende Reduktion der (meisten Fälle der) Taniyama-Shimura-Vermutung auf die Berechnung der Seimer-Gruppe ist korrekt. Allerdings ist die abschließende Berechnung einer genauen oberen Schranke für die Seimer-Gruppe im semistabilen Fall (der einer Modulform zugehörigen symmetrischen Quadratdarstellung), so wie sie dasteht, noch nicht vollständig. Ich glaube, die Sache in naher Zukunft abschließen zu können mittels der Konzepte, die ich in meinem Cambridger Vortrag erläutert habe.

Weil das Manuskript noch eine Menge Arbeit erfordert, kann es noch nicht als Vorabdruck freigegeben werden. In meinem im Februar beginnenden Kurs in Princeton werde ich diese Arbeit umfassend darstellen. Andrew Wiles

Wiles’ Zuversicht überzeugte nur wenige. Fast sechs Monate waren vergangen, der Irrtum war noch nicht behoben, und es gab keinen Grund zu glauben, daß sich daran im nächsten halben Jahr etwas ändern würde. Und überhaupt, wenn er »die Sache in naher Zukunft abschließen« konnte, warum machte er sich dann die Mühe, diese E-Mail zu verschicken? Warum schwieg er nicht einfach noch ein paar Wochen und gab dann das fertige Manuskript frei? Die in der E-Mail angekündigte Vorlesung vom Februar bot nicht die versprochenen Einzelheiten, und die Mathematikergemeinde argwöhnte, Wiles versuche nur, zusätzliche Zeit herauszuschinden. Erneut stürzten sich die Zeitungen auf die Story und erinnerten die Mathematiker an den gescheiterten Beweisversuch Miyaokas von 1988. Die Geschichte wiederholte sich. Die Zahlentheoretiker warteten schon auf die nächste E-Mail, in der es dann heißen würde, der Beweis sei nicht mehr zu retten. Eine Handvoll Mathematiker hatte bereits im Sommer Zweifel daran geäußert, und nun schien sich ihr Pessimismus zu bestätigen. Es heißt, Professor Alan Baker von der Universität Cambridge habe angeboten, hundert Flaschen Wein gegen eine zu wetten, daß sich der Beweis innerhalb eines Jahres als wertlos erweisen würde. Baker bestreitet diese Geschichte, bekennt jedoch stolz, er habe eine »gesunde Skepsis« zum Ausdruck gebracht. Kaum ein halbes Jahr nach seinem Vortrag am Newton Institute lag Wiles’ Beweis in Fetzen. Vergnügen, Leidenschaft und Hoffnung, die ihn durch die Jahre der Arbeit im verborgenen getragen hatten, waren der Beschämung und Verzweiflung gewichen. Der Traum seiner Kindheit verwandelte sich in einen Alptraum: »In den ersten sieben Jahren genoß ich die Arbeit an dem Problem als persönlichen Kampf. So hart er auch war, so unerreichbar die Lösung schien, ich setzte mich jedenfalls mit meinem Lieblingspro-

blem auseinander. Es war meine Kindheitsleidenschaft, ich konnte es einfach nicht aufgeben, ich wollte auch nicht für einen Augenblick davon ablassen. Dann sprach ich in der Öffentlichkeit darüber, und in eben diesem Moment hatte ich tatsächlich den Eindruck, etwas verloren zu haben. Ein sehr gemischtes Gefühl. Es war herrlich zu sehen, wie die Leute auf den Beweis reagierten, zu sehen, wie die Argumente den Gang der Mathematik völlig verändern konnten, doch zugleich hatte ich diese persönliche Herausforderung verloren. Sie war der Welt nun offen zugänglich, und ich hatte nicht mehr diesen ureigenen Traum, den ich mir erfüllte. Und dann, als ein Problem auftauchte, gab es Dutzende, Hunderte, Tausende von Leuten, die mich ablenken wollten. Mathe auf diese allzu öffentliche Weise zu betreiben ist nicht meine Art, und mir machte es keinen Spaß mehr.« Die Zahlentheoretiker auf der ganzen Welt konnten es Wiles nachfühlen. Ken Ribet selbst hatte acht Jahre zuvor den gleichen Alptraum durchlebt, als er versuchte, die Verknüpfung zwischen der Taniyama-Shimura-Vermutung und Fermats letztem Satz zu beweisen. »Ich hielt einen Vortrag über den Beweis am Mathematical Sciences Research Institute in Berkeley, und einer der Zuhörer sagte: ›Einen Moment bitte, woher wissen Sie, daß das und das wahr ist?‹ Ich erläuterte ihm sofort meine Grunde, doch dann hieß es: ›Nun, das gilt in diesem Zusammenhang nicht.‹ Sofort fuhr mir ein Schreck in die Glieder. Ich bekam fast einen Schweißausbruch und war sehr aufgewühlt wegen der Sache. Dann wurde mir klar, daß es nur eine Möglichkeit gab, den Punkt zu rechtfertigen. Ich mußte auf die grundlegenden Arbeiten zum Thema zurückgreifen und mir ansehen, wie genau es in einem ähnlichen Zusammenhang funktionierte. Ich sah in dem einschlägigen Artikel nach und stellte fest, daß das Verfahren tatsächlich auf meinen Fall angewandt werden konnte, und innerhalb von ein oder zwei Tagen hatte ich das Argument beisammen. In meinem nächsten Vortrag konnte ich die Begründung dann nachliefern. Aber man lebt immer mit dieser Befürchtung: Wenn man etwas Wichtiges zu sagen hat, wird möglicherweise ein elementarer Fehler entdeckt. Wenn man in einem Manuskript einen Irrtum findet, gibt es

zwei Möglichkeiten. Manchmal gewinnt man gleich wieder die Zuversicht und kann den Beweis ohne größere Mühe auf die Beine stellen. Und manchmal passiert das Gegenteil. Das ist sehr beunruhigend. Wenn man erkennt, daß man einen entscheidenden Fehler gemacht hat, der nicht zu beheben ist, hat man das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Es kann vorkommen, daß sich ein Loch auftut und der ganze Beweis, während man immer mehr daran herumflickt und in noch größere Schwierigkeiten gerät, einfach auseinanderfällt. Doch in Wiles’ Fall war jedes Kapitel des Beweises für sich genommen schon ein bedeutender Artikel. In dem Manuskript steckten sieben Jahre Arbeit, es waren im Grunde sieben wichtige Aufsätze, die zusammengefügt waren, und jeder einzelne war hochinteressant. Der Irrtum steckte in einem der Aufsätze, in Kapitel 3, doch selbst wenn man das ganze Kapitel herausnahm, waren die verbleibenden Teile absolut wunderbar.« Doch ohne Kapitel 3 gab es keinen Beweis für die Taniyama-Shimura-Vermutung und daher auch nicht für Fermats letzten Satz. Die Lösungen für zwei große Probleme waren in Gefahr, und unter den Mathematikern verbreitete sich ein Gefühl der Enttäuschung. Zudem hatte man jetzt ein halbes Jahr gewartet, und mit Ausnahme von Wiles und seinen Gutachtern konnte nach wie vor niemand das Manuskript einsehen. Immer lauter wurden die Rufe nach größerer Offenheit, damit alle den Irrtum im einzelnen untersuchen könnten. Man hoffte, daß irgend jemand, wo auch immer, etwas entdekken würde, das Wiles entgangen war, und vielleicht eine Rechnung zustande brachte, die die Lücke im Beweis schloß. Einige Mathematiker erklärten, der Beweis sei zu wertvoll, um in den Händen nur eines Mannes zu bleiben. Die Zahlentheoretiker waren inzwischen dem Hohn und Spott anderer Mathematiker ausgesetzt, die sarkastisch fragten, ob sie überhaupt den Begriff »Beweis« verstanden hätten. Was der stolzeste Augenblick in der Geschichte der Mathematik hätte werden sollen, verwandelte sich in eine Farce. Trotz des Drucks weigerte sich Wiles, das Manuskript freizugeben. Sieben Jahre seines Lebens hatte er daran gearbeitet, und nun war er nicht bereit, sich zurückzulehnen und jemand anderem dabei zuzusehen, wie er den Beweis vervollständigte und ihm den

Ruhm stibitzte. Nicht etwa derjenige, der am meisten Arbeit in die Sache gesteckt hatte, würde Fermats letzten Satz beweisen, sondern derjenige, der den endgültigen und vollständigen Beweis lieferte. War das Manuskript in seinem fehlerhaften Zustand einmal veröffentlicht, dann, so wußte Wiles, würden ihn die MöchtegernBeweisflicker sofort mit Anfragen und Klärungsverlangen überhäufen. Bei so viel Ablenkung würden auch seine eigenen Hoffnungen zunichte gemacht, den Beweis zu kitten, während er anderen entscheidende Hinweise lieferte. Wiles versuchte sich erneut so abzuschotten wie damals, als er den ursprünglichen Beweis erarbeitet hatte, und kehrte zu seiner Gewohnheit zurück, sich in die Dachkammer zurückzuziehen und konzentriert zu arbeiten. Wie früher schlenderte er manchmal hinunter zum Princeton-See. Die Jogger, Radfahrer und Ruderer, die sonst immer mit einem kurzen Winken an ihm vorbeigezogen waren, hielten nun an und fragten, ob er denn schon weitergekommen sei mit der Lücke im Beweis. Wiles war auf den Titelseiten von Zeitungen auf der ganzen Welt erschienen, das Magazin People hatte ein Porträt von ihm gebracht, und sogar CNN hatte ihn interviewt. Im Sommer zuvor war Wiles die erste mathematische Berühmtheit der Welt geworden, und nun war sein Image schon angekratzt. Unterdessen gingen Klatsch und Tratsch am Fachbereich Mathematik in Princeton weiter. Der Mathematiker John H. Conway schildert, wie es im Teeraum zuging: »Gegen drei trafen wir uns immer zum Tee und stürzten uns auf die Kekse. Mal sprachen wir über mathematische Probleme, mal über den Prozeß gegen O. J. Simpson, und gelegentlich auch über Andrews Fortschritte. Weil keiner wirklich mit der Sprache rausrücken und ihn direkt danach fragen wollte, gebärdeten wir uns ein wenig wie Kreml-Astrologen. So sagte zum Beispiel jemand: ›Ich habe Andrew heute morgen gesehen.‹ – ›Hat er gelächelt?‹ – ›Ja, schon, aber einen glücklichen Eindruck hat er nicht gemacht.‹ Seine Gefühle konnten wir nur an seinem Gesichtsausdruck ablesen.«

Richard Taylor

Ein Alptraum aus der E-Mail Je tiefer es in den Winter hineinging, desto mehr schwanden die Hoffnungen auf einen Durchbruch, und eine immer größere Zahl von Mathematikern äußerte die Meinung, es sei Wiles’ Pflicht, das Manuskript freizugeben. Die Gerüchte wollten nicht verstummen, und in einer Zeitung hieß es, Wiles habe aufgegeben und der Beweis sei unwiderruflich gescheitert. Das war zwar übertrieben, gewiß richtig war allerdings, daß Wiles erfolglos Dutzende von Ansätzen ausgeschöpft hatte, mit denen er den Irrtum hatte umgehen wollen, und einen weiteren möglichen Lösungsweg sah er nicht mehr. Wiles gestand Peter Sarnak gegenüber ein, daß seine Lage allmählich zum Verzweifeln war und er kurz davor stünde, die Niederlage hinzunehmen. Sarnak überlegte, ob nicht ein Teil der Schwierigkeiten darin begründet sei, daß Wiles jemand fehlte, dem er sich von Tag zu Tag anvertrauen konnte; es gab niemanden, dem er Ideen zuspielen konnte oder der ihn auf den Gedanken bringen konnte, abgelegenere Ansätze auszuprobieren. Er riet Wiles, einen Kollegen ins Vertrauen zu ziehen und noch einmal zu versuchen, die Lücke zu schließen. Wiles brauchte jemanden, der die Kolywagin-Flach-Methode fachmännisch beherrschte und zugleich die Einzelheiten des Problems für sich behalten konnte. Er dachte längere Zeit darüber nach und entschloß sich dann, Richard Taylor, einen Cambridge-Dozenten, nach Princeton einzuladen, um gemeinsam mit ihm zu arbeiten. Taylor war als einer der für die Prüfung des Beweises verantwortlichen Gutachter und ehemaliger Student von Wiles doppelt vertrauenswürdig. Im Jahr zuvor war er im Isaac Newton Institute dabeigewesen, als sein einstiger Doktorvater den Beweis des Jahrhunderts vorgestellt hatte. Nun war es seine Aufgabe, an der Rettung des fehlerhaften Beweises mitzuarbeiten. Unterstützt von Richard Taylor lotete Wiles im Januar wiederum unermüdlich die Kolywagin-Flach-Methode aus und versuchte, einen Weg aus dem Problem zu finden. Manchmal betraten sie

nach tagelanger Anstrengung ein neues Gebiet, doch unweigerlich kamen sie immer wieder an ihren Ausgangspunkt zurück. Sie hatten sich weiter vorgewagt als jemals zuvor und erkannten nun beide, daß sie sich im Herzen eines unvorstellbar großen Labyrinths befanden. Zuinnerst hegten sie die Befürchtung, das Labyrinth könne unendlich groß sein und keinen Ausgang besitzen, und sie wären dazu verdammt, ewig und ziellos darin umherzustreifen. Dann, im Frühjahr 1994, gerade als sie das Gefühl hatten, schlimmer könne es nicht kommen, tauchte auf den Computerbildschirmen rund um die Welt folgende E-Mail auf: Datum: Thema:

03. April 94 Wieder mal Fermat

In Sachen letzter Fermatsatz hat sich heute eine wirklich verblüffende Wendung ergeben. Noam Elkies hat ein Gegenbeispiel bekanntgegeben, die Fermatsche Vermutung ist nun also doch falsch! Er hat heute am Institut darüber gesprochen. Die Lösung für Fermat, die er konstruiert, enthält einen unglaublich großen Primzahlexponenten (größer als 10 20), ist aber konstruktiv. Der wesentliche Gedanke ist offenbar eine Art HeegnerpunktKonstruktion, verbunden mit einem wirklich genialen Abstieg zum Übergang von den Modulkurven zur Fermatkurve. Der wirklich schwierige Teil des Arguments ist anscheinend der Nachweis, daß der Definitionskörper der Lösung (der a priori ein Ringklassenkörper eines imaginärquadratischen Körpers ist) tatsächlich zu Q absteigt. Ich konnte nicht alles im einzelnen nachvollziehen, es war recht kompliziert... Offenbar ist die Taniyama-Shimura-Vermutung nun also doch falsch. Die Fachleute glauben, daß sie noch gerettet werden kann, indem man das Konzept der automorphen Abbildung erweitert und den Begriff der »anomalen Kurven« einführt, die immer noch »quasi-automorphe Abbildungen« erlauben würden. Henri Darmon Universität Princeton

Noam Elkies war der Harvard-Professor, der 1988 ein Gegenbeispiel für die Eulersche Vermutung gefunden und sie damit widerlegt hatte: 2 682 4404 + 15 365 6394 + 187 9604 = 20 615 6734. Nun hatte er offenbar ein Gegenbeispiel für den letzten Fermatsatz entdeckt und bewiesen, daß auch diese Vermutung falsch war. Ein tragischer Schlag für Wiles – der Grund, warum er den Beweis nicht flicken konnte, war, daß sein sogenannter Irrtum direkt aus der Tatsache entsprang, daß die Fermatsche Vermutung falsch war. Ein noch schwererer Schlag war dies für die Mathematikergemeinde insgesamt, denn wenn Fermats letzter Satz falsch war, dann würde dies, wie Frey schon gezeigt hatte, zu einer elliptischen Gleichung führen, die nicht modular wäre – ein direkter Widerspruch zur Taniyama-Shimura-Vermutung. Elkies hatte nicht nur ein Gegenbeispiel zu Fermat gefunden, sondern indirekt auch eines zu Taniyama-Shimura. Das Ende der Taniyama-Shimura-Vermutung würde verheerende Auswirkungen in der gesamten Zahlentheorie haben, denn seit zwei Jahrzehnten hatten die Mathematiker unter einem gewissen Vorbehalt angenommen, sie treffe zu. In Kapitel 5 heißt es, die Mathematiker hätten Dutzende von Beweisen geschrieben, alle beginnend mit: »Die Taniyama-Shimura-Vermutung als richtig vorausgesetzt«, doch nun hatte Elkies gezeigt, daß sie falsch war, und damit brachen all diese Beweise in sich zusammen. Die Mathematiker verlangten sofort nähere Informationen und bombardierten Elkies mit Fragen, doch es gab keine Antwort und keine Erklärung, warum er nicht mit der Sprache herausrückte. Nicht einmal die genauen Einzelheiten des Gegenbeispiels ließen sich ausfindig machen. Ein oder zwei Tage herrschte Durcheinander, dann sahen sich einige Mathematiker die E-Mail noch einmal genauer an. Sie stellten fest, daß sie zwar in den meisten Fällen vom 2. oder 3.April stammte, allerdings nur, weil sie die Post aus zweiter oder dritter Hand bekommen hatten. Die ursprüngliche Nachricht war auf den 1. April datiert. Die E-Mail war ein boshafter Scherz des kana-

dischen Zahlentheoretikers Henri Darmon. Der Schelmenstreich war die richtige Lektion für die Gerüchteköche um Fermat, und zumindest für eine Weile herrschte Ruhe um Fermats letzten Satz, Wiles, Taylor und den angeschlagenen Beweis. In jenem Sommer machten Wiles und Taylor keine Fortschritte. Nach acht Jahren ununterbrochener Arbeit an einer Obsession, die ihn sein ganzes Leben nicht losgelassen hatte, war Wiles nun bereit, die Niederlage einzugestehen. Er sehe keinen Sinn mehr darin, weiter an der Reparatur des Beweises zu arbeiten, erklärte er Taylor. Dieser hatte jedoch schon fest geplant, den September in Princeton zu verbringen, bevor er nach Cambridge zurückkehren wollte, und schlug daher trotz Wiles’ Mutlosigkeit vor, noch einen Monat weiterzuarbeiten. Sollte es Ende September keine Anzeichen dafür geben, daß der Beweis geflickt werden konnte, dann würden sie aufgeben, ihr Scheitern öffentlich eingestehen und den fehlerhaften Beweis veröffentlichen, um anderen die Möglichkeit zu geben, ihn zu prüfen.

Das Geburtstagsgeschenk Obwohl Wiles’ Kampf mit dem schwersten mathematischen Problem überhaupt zum Scheitern verurteilt schien, konnte er auf die vergangenen sieben Jahre mit dem sicheren Gefühl zurückblicken, daß der größte Teil seiner Arbeit noch immer Gewicht hatte. Zunächst einmal hatte er mit seiner Anwendung von Galois-Gruppen den Mathematikern neue Einsichten in die Problematik verschafft. Er hatte gezeigt, daß das erste Element jeder elliptischen Gleichung mit dem ersten Element einer Modulform zusammenpaßte. Im Anschluß daran mußte er nachweisen, daß wenn ein Element der elliptischen Gleichung modular war, auch das nächste und somit alle modular sein mußten. Dieses Unternehmen, den Beweis zu erweitern, beschäftigte Wiles in der mittleren Phase seiner Arbeit. Er versuchte es mit einem induktiven Ansatz und setzte sich mit der Iwasawa-Theorie

auseinander in der Hoffnung, zeigen zu können, daß mit dem Fall eines Dominosteins auch alle anderen kippen würden. Ursprünglich schien ihm die Iwasawa-Theorie mächtig genug, um den nötigen Domino-Effekt auszulösen, doch am Ende erfüllte sie seine Erwartungen nicht ganz. Zwei Jahre Arbeit hatte er in eine mathematische Sackgasse gesteckt. Ein Jahr lang steckte Wiles in der Flaute, dann schloß er im Sommer 1991 Bekanntschaft mit der Methode von Kolywagin und Flach und gab die Iwasawa-Theorie zugunsten dieses neuen Verfahrens auf. Im Jahr darauf verkündete er in Cambridge den Beweis und wurde zum Helden erklärt. Innerhalb von zwei Monaten jedoch erwies sich die Kolywagin-Flach-Methode als mangelhaft, und seither war die Lage nur noch schlimmer geworden. Alle Versuche, Kolywagin-Flach richtig hinzubiegen, waren gescheitert. Doch abgesehen vom letzten Schritt mit der Kolywagin-FlachMethode hatte sich Wiles’ Arbeit durchaus gelohnt. Die TaniyamaShimura-Vermutung und Fermats letzter Satz mochten zwar nicht bewiesen sein, dennoch hatte er den Mathematikern eine ganze Reihe von neuen Verfahren und Strategien an die Hand gegeben, die sie für Beweise anderer Sätze nutzen konnten. Wiles’ Scheitern war keine Schande für ihn, und allmählich begann er sich mit der möglichen Niederlage abzufinden. Zum Trost wollte er zumindest wissen, weshalb er gescheitert war. Während Taylor noch einmal andere in Frage kommende Verfahren auslotete und prüfte, beschloß Wiles, sich den September über ein letztes Mal das ganze Gefüge der Kolywagin-Flach-Methode anzusehen und ausfindig zu machen, warum genau sie nicht funktionierte. Lebhaft erinnert er sich an diese letzten, schicksalhaften Tage: »Eines Montagmorgens, es war der 19. September, saß ich am Schreibtisch und untersuchte die Kolywagin-Flach-Methode. Nicht, daß ich geglaubt hätte, sie flottmachen zu können, vielleicht jedoch konnte ich wenigstens erklären, warum sie nicht funktionierte. Mir kam es vor, als klammerte ich mich an einen Strohhalm, doch ich wollte mich einfach vergewissern. Plötzlich, völlig unerwartet, hatte ich diese unglaubliche Eingebung. Die Ko-

lywagin-Flach-Methode funktionierte zwar nicht richtig, sie war jedoch alles, was ich brauchte, um die ursprüngliche IwasawaTheorie in Gang zu setzen. Ich sah, daß ich die Kolywagin-FlachMethode gut genug beherrschte, um meinen ursprünglichen, vor drei Jahren verfolgten Ansatz gelingen zu lassen. Aus der Asche der Kolywagin-Flach-Methode tauchte also gleichsam die wahre Antwort auf das Problem auf.« Die Iwasawa-Theorie alleine war unzulänglich. Die KolywaginFlach-Methode für sich genommen ebenfalls. Zusammen ergänzten sie sich aufs beste. Diesen Moment der Inspiration wird Wiles nie vergessen. Die Erinnerung daran war so eindringlich, daß er zu Tränen bewegt war: »Es war so unbeschreiblich schön; so einfach und elegant. Ich konnte nicht begreifen, wie mir das hatte entgehen können, und zwanzig Minuten lang starrte ich nur ungläubig auf die Lösung. Dann ging ich den Tag über im Fachbereich umher und kam immer wieder zum Schreibtisch zurück, um zu sehen, ob sie noch da war. Ich war ganz aus dem Häuschen vor Aufregung. Das war der wichtigste Moment meines Arbeitslebens. Nichts, was ich jemals tun werde, wird so viel bedeuten.« Wiles hatte sich damit nicht nur einen Kindheitstraum erfüllt und nach acht Jahren der Anspannung den Gipfel erreicht. Er war auch an den Rand der Niederlage gedrängt worden, hatte dagegen angekämpft und der Welt schließlich sein Genie bewiesen. Die letzten vierzehn Monate waren die schmerzvollste, demütigendste und bedrückendste Zeit seiner mathematischen Laufbahn gewesen. Und nun hatte eine brillante Einsicht seinem Leiden ein Ende bereitet. »So ging ich also am ersten Abend nach Hause und schlief darüber. Am nächsten Morgen ging ich es noch einmal durch, und gegen elf war ich mir sicher. Ich ging hinunter und sagte zu meiner Frau: ›Ich hab’s! Ich glaube, ich hab’s gefundene Das kam so unvermittelt, daß sie meinte, es ginge um ein Spielzeug der Kinder, und sie fragte: ›Was gefunden?‹ Ich sagte: ›Den Beweis. Ich hab’ ihn hingekriegt.‹ Im Monat darauf konnte Wiles das Versprechen einlösen, das er im Jahr zuvor nicht hatte halten können: »Es ging auf Nadas Ge-

burtstag zu, und ich erinnerte mich, daß ich ihr das letzte Mal nicht das Geschenk machen konnte, das sie haben wollte. Diesmal, eine halbe Minute zu spät zum Abendessen an ihrem Geburtstag, konnte ich ihr das vollständige Manuskript in die Hände drücken. Ich glaube, sie freute sich über dieses Geschenk mehr als über jedes andere, das sie je von mir bekommen hatte.« Thema: Datum:

Neues zu Fermats letztem Satz 25. Okt. 1994 11:04:11

Heute morgen wurden zwei Manuskripte freigegeben: Modulare elliptische Kurven und Fermats letzter Satz, von Andrew Wiles. Ringtheoretische Eigenschaften bestimmter Hecke-Algebren, von Richard Taylor und Andrew Wiles. Das erste (lang) enthält unter anderem den Beweis von Fermats letztem Satz, wobei für einen entscheidenden Schritt auf das zweite (kurze) zurückgegriffen wird. Wie die meisten von Ihnen wissen, hat sich herausgestellt, daß der von Wiles in seinen Cambridger Vorträgen ausgeführte Gedankengang eine gravierende Lücke enthielt, nämlich die Konstruktion eines EulerSystems. Nachdem Wiles erfolglos versucht hatte, diese Konstruktion zu reparieren, griff er auf einen anderen Ansatz zurück, den er zuvor schon erprobt, allerdings zugunsten der Idee eines Euler-Systems aufgegeben hatte. Er konnte seinen Beweis vervollständigen, unter der Hypothese, daß gewisse Hecke-Algebren lokal vollständige Durchschnitte haben. Dieser und die übrigen Gedanken aus Wiles’ Cambridger Vorträgen sind im ersten Manuskript ausgearbeitet. Taylor und Wiles führen im zweiten Papier gemeinsam den Nachweis, daß die Hecke-Algebren die erforderliche Eigenschaft besitzen. Die Grundzüge der Argumentation ähneln der von Wiles in Cambridge vorgetragenen Version. Der neue Ansatz erweist sich, da das Euler-System entfällt, als wesentlich einfacher und kürzer als der ursprüngliche. (Übrigens hat Faltings nach Einsicht in das Manuskript offenbar eine weitere bedeutende Vereinfachung für diesen Teil der Argumentation gefunden.) Verschiedene Fassungen dieser Manuskripte waren (in manchen Fäl-

len) ein paar Wochen lang zur Einsichtnahme bei einer kleinen Zahl von Kollegen. Eine gewisse Vorsicht ist auch in nächster Zeit noch angebracht, doch gibt es gute Gründe zur Zuversicht. Karl Rubin Ohio State University

MODULAR ELLIPTIC CURVES AND FERMATS LAST THEOREM

455

Chapter 1 This chapter is devoted to the study of certain Galois representations. In the first section we introduce and study Mazur’s deformation theory and discuss various refinements of it. These refinements will be needed later to make precise the correspondence between the universal deformation rings and t h e Hecke rings in Chapter 2. The main results needed are Proposition 1.2 which is used to interpret various generalized cotangent spaces as Selmer groups and (1.7) which later will be used to study them. At the end of the section we relate these Selmer groups to ones used in the Bloch-Kato conjecture, but this connection is not needed for the proofs of our main results. In the second section we extract from the results of Poitou and Tate on Galois cohomology certain general relations between Selmer groups as ∑ varies, as well as between Selmer groups and their duals. The most important observation of the third section is Lemma 1.10(i) which guarantees the existence of the special primes used in Chapter 3 and [TW].

1. Deformations of Galois representations Let p be an odd prime. Let ∑ be a finite set of primes including p and let Q ∑ be the maximal extension of Q unramified outside this set and . ¯ , and so also of Q ∑ in C . We will also Throughout we fix an embedding of Q fix a choice of decomposition group D q for all primes q in Z. Suppose that k is a finite field of characteristic p and that



(1.1)

ρ 0 : Gal(Q ∑ /Q ) → GL 2(k)

is an irreducible representation. In contrast to the introduction we will assume in the rest of the paper that ρ 0 comes with its field of definition k. Suppose further that det ρ 0 is odd. In particular this implies that the smallest field of definition for ρ 0 is given by the field k0 generated by the traces but we will not assume that k = k0. It also implies that ρ 0 is absolutely irreducible. We consider the deformations [ρ ] t o GL 2(A) of ρ 0 in the sense of Mazur [Ma1]. Thus if W (k ) is the ring of Witt vectors of k, A is to be a complete Noetherian local W (k)-algebra with residue field k and maximal ideal m, and a deformation [ρ ] is just a strict equivalence class of homomorphisms ρ : Gal(Q ∑ /Q ) → GL 2(A) such that ρ mod m = ρ 0, two such homomorphisms being called strictly equivalent if one can be brought to the other by conjugation by an element of ker : GL 2 (A) → GL 2 (k). We often simply write ρ instead of [ρ ] for the equivalence class.

Die erste Seite des von Wiles veröffentlichten Beweises, der sich noch über weitere hundert Seiten hinzieht.

Andrew Wiles

8

Große Vereinheitlichung der Mathematik Ein listiger Jüngling aus Lerma bewies jenen Satz des Herrn Fermat fortan lebt’ er in Sorgen, daß ein Fehler verborgen; verglichen mit Wiles schien sein Versuch ärmer. Fernando Gouvea

Diesmal gab es am Beweis nichts zu rütteln. Die beiden Artikel mit zusammen 130 Seiten waren die am gründlichsten geprüften Manuskripte in der Geschichte der Mathematik und wurden schließlich in den Annals of Mathematics (Mai 1995) veröffentlicht. Erneut fand sich Wiles auf der Titelseite der New York Times wieder, doch diesmal wurde die Schlagzeile »Mathematiker erklärt klassisches Rätsel für gelöst« von einer anderen Wissenschaftsmeldung in den Schatten gestellt – »Neue Erkenntnis zum Alter des Universums wirft abermals kosmologisches Rätsel auf«. Die Journalisten feierten den Fermatsatz nicht mehr ganz so begeistert, doch die Mathematiker hatten die wahre Bedeutung des Beweises nicht vergessen. »Mathematisch gesehen ist der endgültige Beweis vergleichbar mit der Atomspaltung oder der Entschlüsselung der DNS«, erklärte John Coates. »Der Beweis für Fermat ist ein intellektueller Triumph, und man darf nicht aus den Augen verlieren, daß er die Zahlentheorie mit einem Schlag revolutioniert. Für mich liegen der Reiz und die Schönheit von Andrews Arbeit darin, daß sie ein riesiger Schritt für die algebraische Zahlentheorie ist.« Wiles hatte in achtjähriger Mühsal praktisch alle bahnbrechenden Erkenntnisse der Zahlentheorie des zwanzigsten Jahrhunderts

zusammengetragen und sie in einen allumfassenden Beweis eingebaut. Er hatte vollkommen neue mathematische Verfahren entwikkelt und sie mit den herkömmlichen auf bis dahin für unmöglich gehaltene Weise verflochten. Damit hatte er zugleich neue Angriffslinien gegen eine ganze Reihe anderer Probleme eröffnet. Für Ken Ribet ist der Beweis die vollkommene Synthese der modernen Mathematik und Inspiration für Kommendes: »Ich glaube, wenn man auf einer kahlen Insel gestrandet wäre und nur dieses Manuskript bei sich hätte, dann gäbe es eine Menge Stoff zum Nachdenken. Alle modernen Konzepte der Zahlentheorie sind hier versammelt. Man blättert eine Seite um und stößt auf einen grundlegenden Satz von Deligne, und auf der nächsten folgt wie nebenbei ein Satz von Hellegouarch – das alles wird einfach auf die Bühne gerufen und für einen Moment in Anspruch genommen, dann kommt schon die nächste Idee an die Reihe.« Während die Wissenschaftsjournalisten sich in Lobgesängen auf Wiles’ Beweis ergingen, kommentierten nur wenige von ihnen den davon untrennbaren Beweis der Taniyama-Shimura-Vermutung. Die meisten hielten es nicht für nötig, den Beitrag der japanischen Mathematiker Yutaka Taniyama und Goro Shimura zu erwähnen, die in den fünfziger Jahren die Saat für Wiles’ Leistung ausgebracht hatten. Zwar hatte sich Taniyama schon vor dreißig Jahren das Leben genommen, doch sein Kollege Shimura erlebte noch den Beweis ihrer gemeinsamen Vermutung. Auf die Frage, wie er darauf reagiert habe, lächelte Shimura sanft und meinte in seiner zurückhaltenden und würdevollen Art nur: »Ich habe es doch gesagt.« Wie viele seiner Kollegen hat auch Ken Ribet den Eindruck, daß der Beweis der Taniyama-Shimura-Vermutung die Mathematik grundlegend verändert hat: »Es gibt eine wichtige psychologische Auswirkung, nämlich daß die Mathematiker nun in der Lage sind, die Arbeit an anderen Problemen voranzutreiben, vor denen sie zuvor noch zurückgeschreckt waren. Die Landschaft hat sich verändert, da man nun weiß, daß alle elliptischen Gleichungen modular sind, und wenn man jetzt einen Satz für elliptische Gleichungen beweist, nimmt man auch Modulformen in Angriff und umgekehrt. Man hat einen anderen Blick auf das, was vor sich geht, und weni-

ger Angst vor dem Gedanken, mit Modulformen zu arbeiten, weil man es jetzt im Grunde mit elliptischen Gleichungen zu tun hat. Und wenn man einen Artikel über elliptische Gleichungen schreibt, sagt man natürlich nicht mehr, wir wissen nichts, also müssen wir die Taniyama-Shimura-Vermutung als wahr voraussetzen und sehen, was wir damit anfangen können – nein, jetzt können wir einfach sagen, daß die Taniyama-Shimura-Vermutung stimmt, und deshalb muß dies oder jenes auch wahr sein. Das ist ein viel angenehmeres Gefühl.« Auf dem Weg über die Taniyama-Shimura-Vermutung hatte Wiles die elliptische und die modulare Welt vereint und der Mathematik damit Abkürzungen zu vielen anderen Beweisen verschafft Probleme im einen Bereich konnten durch Analogiebildung mit Problemen im parallelen Bereich gelöst werden. Klassische ungelöste elliptische Probleme, die noch bis auf die alten Griechen zurückgingen, konnten nun mit allen verfügbaren modularen Werkzeugen und Verfahren erneut angegangen werden. Noch wichtiger war, daß Wiles der erste Schritt im Sinne des umfassenderen Vereinheitlichungsprojekts von Robert Langlands gelungen war – des Langlands-Programms. Inzwischen gibt es wieder verstärkt Bemühungen, weitere Einheitsvermutungen zwischen anderen Bereichen der Mathematik zu beweisen. Im März 1996 teilten sich Wiles und Langlands den mit 100 000 Dollar dotierten Wolf-Preis (nicht zu verwechseln mit dem WolfskehlPreis). Das Preiskomitee sprach damit seine Anerkennung für Wiles’ Beweis aus, der für sich genommen schon eine erstaunliche Leistung war, doch auch neues Leben in Langlands’ anspruchsvolles Projekt gebracht hatte. Mit diesem Durchbruch konnte die Mathematik vielleicht das nächste goldene Zeitalter der Problemlösungen einläuten. Nach einem Jahr der Verlegenheit und Ungewißheit hatte die Mathematikergemeinde endlich Grund zu feiern. Auf allen Symposien, Kolloquien und Konferenzen widmete man dem Wilesschen Beweis eine Sitzung, und Bostoner Mathematiker starteten zum Gedenken an das wichtige Ereignis einen Limerick-Wettbewerb: Ein Beitrag lautete:

»My butter, garçon, is writ large in!« A diner was heard to be chargin’, »I had to write there«, Exclaimed waiter Pierre, »I couldn’t find room in the margerine.« »Meine Butter, garçon, ist vollgeschrieben!« hörte man einen Gast klagen, »Ich mußte drauf schreiben«, Rief Kellner Pierre, »Ich fand keinen Platz auf der Margarine.« E. Howe, H. Lenstra, D. Moulton

Große ungelöste Probleme Wiles sieht, daß er die Mathematik um eines ihrer größten Rätsel berauben mußte, um ihr einen ihrer größten Beweise zu geben: »Manche Leute meinten, ich hätte ihnen ihr Problem weggenommen, und fragten, ob ich ihnen nicht etwas anderes dafür geben könnte. Es herrscht eine gewisse Niedergeschlagenheit. Wir haben etwas verloren, das uns so lange begleitet hat und das viele von uns in die Mathematik gezogen hat. Vielleicht ist das einfach so mit Matheproblemen. Wir müssen eben neue finden, die unsere Aufmerksamkeit fesseln.« Obwohl Wiles das berühmteste Problem der Mathematik gelöst hat, brauchen die Tüftler rund um die Welt nicht die Hoffnung verlieren, denn es gibt noch immer eine Vielzahl ungelöster mathematischer Rätsel. Viele dieser tiefgründigen Probleme, die schon ein Schulkind verstehen kann, wurzeln wie Fermats letzter Satz in der Mathematik des alten Griechenland. Zum Beispiel gibt es immer noch Geheimnisse um die vollkommenen Zahlen. Wie in Kapitel 1 erläutert, handelt es sich dabei um Zahlen, deren Teiler addiert die

Zahl selbst ergeben. Zum Beispiel sind 6 und 28 vollkommene Zahlen, weil 6 teilbar ist durch 1, 2, 3, und 6 = 1 + 2 + 3, 28 teilbar ist durch 1, 2, 4, 7, 14, und 28 = 1 + 2 + 4 + 7 + 14. René Descartes bemerkte, »vollkommene Zahlen sind, wie vollkommene Menschen, sehr selten«, und tatsächlich hat man in den letzten paar Jahrtausenden nur dreißig davon entdeckt. Die neueste und größte vollkommene Zahl hat über 840 000 Stellen und ergibt sich aus der Formel 21398268 × (2 1 398269 - 1). Alle bekannten vollkommenen Zahlen haben eines gemein, sie sind gerade, was die Vermutung nahelegt, alle vollkommenen Zahlen seien gerade. Nun wäre es natürlich eine Herausforderung, dies zu beweisen – sind alle vollkommenen Zahlen gerade? – doch hat sich die Aufgabe als recht undankbar erwiesen. Das andere große Rätsel um die vollkommenen Zahlen lautet, ob es einen unendlich großen Vorrat von ihnen gibt. Im Laufe der Jahrhunderte haben Tausende von Zahlentheoretikern versucht zu beweisen, daß es unendlich viele beziehungsweise nicht unendlich viele vollkommene Zahlen gibt – und sind dabei gescheitert. Wem auch immer dies gelingen mag, ein Platz in der Geschichte wäre ihm sicher. Ein weiteres, gut mit Problemen ausgestattetes Gebiet der Mathematik ist die Theorie der Primzahlen. Die Reihe der Primzahlen weist kein erkennbares Muster auf, sie folgen also keinerlei Gesetzmäßigkeit. Man hat sie als wild wachsendes Unkraut unter den natürlichen Zahlen beschrieben. Wenn man diese durchforstet, finden sich streckenweise reichlich Primzahlen, doch aus unbekannten Gründen sind andere Bereiche völlig kahl. Seit Jahrhunderten versuchen die Mathematiker erfolglos, das der Primzahlverteilung zugrunde liegende Muster herauszuarbeiten. Vielleicht existiert überhaupt keines, und die Primzahlen sind ihrem Wesen nach zufallsverteilt. Dann wären die Mathematiker gut beraten, andere, weniger anspruchsvolle Probleme in Angriff zu nehmen.

Zum Beispiel bewies Euklid vor zweitausend Jahren, daß es einen unerschöpflichen Vorrat an Primzahlen gibt (siehe Kapitel 2). In den vergangenen zwei Jahrhunderten nun haben die Mathematiker versucht nachzuweisen, daß es einen unerschöpflichen Vorrat an Primzahlzwillingen gibt. Primzahlzwillinge sind Paare von Primzahlen, die nur den Abstand 2 haben. Näher können sie einander nicht sein – sie können sich nicht um 1 unterscheiden, weil dann eine von ihnen gerade sein müßte, also durch 2 teilbar, und damit keine Primzahl wäre. Beispiele für kleine Primzahlzwillinge sind (5, 7) und (17, 19), größere sind etwa (22 271, 22 273) und (1 000 000 000 061, 1 000 000 000 063). Primzahlzwillinge scheinen über die gesamte Reihe der ganzen Zahlen verstreut zu sein, und je angestrengter die Mathematiker nach ihnen suchen, desto mehr finden sie. Vieles spricht dafür, daß es unendlich viele davon gibt, doch ein Beweis dafür steht bislang aus. Der jüngste Durchbruch hin zum Beweis der sogenannten Primzahlzwilling-Vermutung gelang 1966 dem chinesischen Mathematiker Chen Jing-run, als er zeigen konnte, daß es unendlich viele Primzahlen und Fast-Primzahlen gibt. Echte Primzahlen haben keine Faktoren außer 1 und der Zahl selbst, aber Fast-Primzahlen sind beinahe so gut, weil sie nur zwei Primfaktoren besitzen. So ist die 17 eine Primzahl, doch die 21 ( 3 × 7 ) ist fast prim. Zahlen wie die 120 (2 × 3 × 4 × 5) sind überhaupt nicht prim, weil sie das Produkt von mehr als zwei Primfaktoren sind. Chen hat nun bewiesen, daß es eine unendliche Zahl von Fällen gibt, in denen eine Primzahl entweder mit einer weiteren Primzahl gepaart ist oder mit einer Fast-Primzahl. Wer immer auch einen Schritt weitergehen und das »Fast« streichen kann, wird den größten Durchbruch in der Primzahltheorie seit Euklid erzielen. Ein weiteres Primzahlrätsel geht auf das Jahr 1742 zurück, als Christian Goldbach, Lehrer von Zar Peter II. in dessen Teenagerjahren, einen Brief an den großen Schweizer Mathematiker Leonhard Euler schrieb. Goldbach hatte Dutzende von geraden Zahlen untersucht und festgestellt, daß er sie alle als Summe zweier Primzahlen darstellen konnte:

4 = 2 +2, 6 = 3 +3, 8 = 3 +5, 10 = 5 +5, 50 = 19 + 31, 100 = 53 + 47, 21 000 =. 17 + 20 983 .. Goldbach fragte Euler, ob er beweisen könne, daß jede gerade Zahl in zwei Primzahlen aufgespalten werden kann. Der Mann, der als »Analysis in Person« galt, blieb trotz jahrelanger Bemühungen ratlos vor dem Problem zurück. Heute, im Zeitalter der Computer, erweist sich die sogenannte Goldbachsche Vermutung als richtig für jede Zahl bis 100 000 000, doch immer noch ist niemand in der Lage zu zeigen, daß sie für jede gerade Zahl bis ins Unendliche gilt. Die Mathematiker konnten beweisen, daß jede gerade Zahl die Summe von nicht mehr als 800 000 Primzahlen ist, doch von da aus ist es ein langer Weg bis zum Beweis der ursprünglichen Vermutung. Trotzdem bieten solche schwächeren Beweise wichtige Einsichten in die Natur der Primzahlen, und Stalin verlieh 1941 dem russischen Mathematiker Iwan Matwejewitsch Winogradow, der dem Beweis um einiges nähergekommen war, als Preis 100 000 Rubel. Unter allen Problemen, die Fermats letzten Satz als größtes ungelöstes Mathematikproblem ablösen könnten, ist Keplers Kugelpackungsproblem der beste Kandidat. Johannes Kepler zeigte im Jahr 1609, daß die Planeten sich nicht auf kreisförmigen, sondern auf elliptischen Bahnen bewegen, eine Entdeckung, die die moderne Astronomie revolutionierte und später Isaac Newton zur Deduktion des allgemeinen Gravitationsgesetzes anregen sollte. Keplers mathematisches Vermächtnis ist etwas weniger grandios, doch gleichermaßen profund. Insbesondere hinterließ er uns das merkwürdige Problem, wie man Orangen am effizientesten aufhäuft. Das Problem erblickte 1611 das Licht der Welt, als Kepler die Abhandlung Über den hexagonalen Schnee als Neujahrsgabe für

seinen Gönner Johannes Wacker von Wackenfels schrieb. Darin gelang ihm die Erklärung, warum die Schneeflocken zwar jeweils ein einzigartiges, jedoch immer sechseckiges Muster besitzen. Er stellte die These auf, daß die Schneeflocke gleichsam als symmetrisches sechseckiges Saatkorn seinen Ausgang nimmt, das wächst, während es durch die Atmosphäre fällt. Wind, Temperatur, und Feuchtigkeit wechseln ständig und sorgen dafür, daß jede Schneeflocke einzigartig ist, und doch ist das Saatkorn so klein, daß die Bedingungen, die das Wachstumsmuster bestimmen, auf allen Seiten gleich sind und somit die Symmetrie gewahrt bleibt. Kepler mit seiner erstaunlichen Begabung, tiefe Einsichten aus den schlichtesten Beobachtungen zu gewinnen, schuf mit diesem offenbar leichten Herzens geschriebenen Aufsatz die Grundlagen der Kristallographie. Keplers Interesse an der Frage, wie sich Materieteilchen anordnen und offenbar selbst organisieren, führte ihn zur Erörterung eines weiteren Problems: Wie stapelt man Teilchen am effizientesten, nämlich so, daß sie den kleinstmöglichen Raum einnehmen? Wenn es sich um Kugeln handelt, ist klar: Wie man sie auch anordnet, es wird immer Lücken zwischen ihnen geben. Die Aufgabe besteht nun darin, herauszufinden, bei welcher Anordnung diese Lücken am kleinsten sind. Um das Problem zu lösen, konstruierte Kepler verschiedene Anordnungen und berechnete dann für jede die Dichte, mit der sie gepackt waren. Eine der ersten Anordnungen, die Kepler untersuchte, wird heute als flächenzentriertes kubisches Gitter bezeichnet. Man erhält es, wenn man zunächst eine Bodenschicht aus Kugeln erzeugt, bei der jede Kugel von sechs anderen Kugeln umgeben ist. Für die zweite Schicht werden die Kugeln in die »Kuhlen« der ersten Schicht gelegt (Abbildung 24). Die zweite Lage ist im wesentlichen ein Duplikat der ersten, nur ein wenig seitlich verschoben, damit sie richtig in die Zwischenräume paßt. Dieses Verfahren, das sich auch die Obsthändler zunutze machen, wenn sie ihre Orangen aufschichten, ergibt eine Packungsdichte von 74%. Wird also ein großer Karton anhand dieses flächenzentrierten Verfahrens mit Orangen gefüllt, nehmen die Orangen 74 % des Kartonvolumens ein.

Abbildung 24: Bei der flächenzentrierten kubischen Anordnung besteht jede Schicht aus Kugeln, die so aneinandergefügt sind, daß jede Kugel von sechs anderen umgeben ist. Alle weiteren Schichten werden horizontal leicht verschoben aufgelegt, so daß die Kugeln jeweils in den Zwischenräumen zu liegen kommen und nicht direkt übereinander. Die typische Orangenpyramide beim Obsthändler ist eine Variante dieser Packungsform.

Diese Anordnung kann man mit anderen vergleichen, etwa mit dem einfachen kubischen Gitter. Hier besteht jede Schicht aus Kugeln, die in einer quadratischen Gitterform angeordnet sind, und die Schichten liegen direkt übereinander (Abbildung 25). Das einfache kubische Gitter hat eine Packungsdichte von nur 53 %. Ein anderes Arrangement, das sechseckige Gitter, ähnelt dem flächenzentrierten kubischen im Aufbau der einzelnen Schichten, da jeweils eine Kugel von sechs anderen umgeben ist. Doch statt je-

Abbildung 25: In der einfachen kubischen Anordnung hat jede Schicht Kugeln die Form eines quadratischen Gitters. Eine Schicht liegt so über der ändern, daß jede Kugel direkt auf einer anderen Kugel sitzt.

de neue Schicht horizontal verschoben aufzulegen, so daß die Kugeln genau in die Zwischenräume der darunter hegenden Schicht passen, legt man die Schichten direkt übereinander (Abbildung 26). Das hexagonale Gitter ergibt eine Packungsdichte von nur 60%. Kepler untersuchte eine Vielzahl von möglichen Anordnungen und kam zu einem Schluß, den er für wichtig genug hielt, um ihn in seine Abhandlung Über den hexagonalen Schnee aufzunehmen: Das flächenzentrierte kubische Gitter ergibt »die dichtestmögliche Packung«. Keplers Feststellung war tadellos begründet, denn dieses Gitter war das beste, das er hatte finden können, doch das schloß nicht aus, daß er ein Arrangement mit noch höherer Pakkungsdichte übersehen hatte. Dieser kleine Rest an Zweifel liegt dem Kugelpackungsproblem zugrunde, einem Rätsel, das ein halbes Jahrhundert älter ist als das Fermatproblem und sich inzwischen als noch vertrackter als dieses erwiesen hat. Um es zu lösen, müssen die Mathematiker nachweisen, daß das flächenzentrierte kubische Gitter ohne Zweifel das effizienteste Verfahren ist, Kugeln zu packen. Wie bei Fermats letztem Satz geht es auch bei Keplers Problem darum, einen Beweis zu entwickeln, der unendlich viele Möglich-

Abbildung 26: In der sechseckigen Gitteranordnung bestehen die Schichten aus Kugeln, die jeweils von sechs anderen Kugeln umgeben sind. Eine Schicht wird dann so auf die andere gelegt, daß jede Kugel direkt auf einer anderen sitzt.

keiten umfaßt. Fermat behauptete, es gebe in der unendlichen Reihe ganzer Zahlen keine Lösungen für seine Gleichung. Kepler behauptete, unter den unendlich vielen Packungsmöglichkeiten gebe es keine, die dichter wäre als das flächenzentrierte Gitter. Die Mathematiker müssen nun nicht allein zeigen, daß es keine anderen Gitter, das heißt regelmäßige Anordnungen, mit einer höheren Packungsdichte gibt, sondern für ihren Beweis auch alle möglichen Zufallsanordnungen berücksichtigen. In den letzten 380 Jahren konnte niemand nachweisen, daß die flächenzentrierte kubische Anordnung tatsächlich die optimale Packungsstrategie ist; andererseits hat niemand eine effizientere Packungsmethode entdeckt. Das Fehlen von Gegenbeispielen bedeutet, daß Keplers Feststellung für alle praktischen Zwecke als wahr voraussetzbar ist, doch in der absoluten Welt der Mathematik steht ein strenger Beweis immer noch aus. Der britische Kugelpakkungsexperte C. A. Rogers hat daher bemerkt, Keplers Behauptung werde »von den meisten Mathematikern geglaubt, von allen Physikern als wahr betrachtet«. Zwar fehlt ein vollständiger Beweis, doch auf dem Weg dahin hat es im Laufe der Jahrhunderte große Fortschritte gegeben. 1892 lieferte der skandinavische Ma-

thematiker Axel Thue einen Beweis der zweidimensionalen Entsprechung von Keplers Problem: Auf welche Weise sind Kugeln in einer einzigen Schicht am dichtesten anzuordnen, also nicht in einer Kiste, sondern auf einem Tablett. Die Lösung ist die sechsekkige Anordnung. In der Folge kamen Tóth, Segre und Mahler zum selben Schluß, doch keine ihrer Methoden konnte auf das ursprüngliche, dreidimensionale Keplerproblem angewandt werden. In neuerer Zeit verfolgen die Mathematiker einen ganz anderen Ansatz und versuchen, eine Obergrenze für die mögliche Pakkungsdichte festzulegen. C. A. Rogers berechnete 1958 eine Obergrenze von 77,9% – das heißt, es ist unmöglich, eine Packungsdichte von mehr als 77,9% zu erreichen. Dieser Prozentsatz ist nicht viel höher als die Packungsdichte des flächenzentrierten kubischen Gitters mit 74,04%. Sollte daher irgendein Arrangement eine höhere Dichte aufweisen als das flächenzentrierte kubische, dann würde es nur um wenige Prozent besser sein. Es gab nur einen kleinen Spielraum von 3,93%, in den sich ein Zufallsarrangement hineindrängen und Kepler widerlegen konnte. Im Anschluß an Rogers versuchte man, diesen Spielraum auf Null zu begrenzen und die Obergrenze auf 74,04 % zu drücken. Dann gäbe es keinen Platz mehr für eine andere Anordnung, welche die flächenzentrierte kubische aus dem Feld schlagen könnte. Keplers Vermutung wäre mithin durch Ausschluß jeder anderen Möglichkeit bewiesen. Leider erweist sich die Senkung der Obergrenze als ein langwieriges Unterfangen, und 1988 stand die Grenze bei 77,84%, nur wenig besser als Rogers’ Ergebnis. Trotz des jahrelang nur zögerlichen Fortschritts kam das Pakkungsproblem im Sommer 1990 in die Schlagzeilen, als Wu-Yi Hsiang von der Universität Kalifornien in Berkeley einen Artikel veröffentlichte, der seiner Auffassung nach den Beweis der Keplerschen Vermutung lieferte. Die Mathematikergemeinde reagierte anfangs zuversichtlich, doch ebenso wie Wiles’ Beweis mußte auch dieses Papier die kritische Musterung der Gutachter bestehen, bevor es als stichhaltig anerkannt werden konnte. Nach einigen Wochen, in denen man Hsiang eine Reihe von Fehlern nachweisen konnte, lag der Beweis in Fetzen.

Hsiang machte eine ähnliche Leidenszeit durch wie Wiles und antwortete ein Jahr später mit einem überarbeiteten Beweis, der, wie er behauptete, die im ursprünglichen Manuskript entdeckten Probleme umging. Zum Unglück für Hsiang waren die Kritiker auch diesmal noch der Auffassung, es gebe Lücken in seinem Argument. In einem Brief an Hsiang versuchte der Mathematiker Thomas Hales seine Zweifel zu erläutern: Eine Annahme in Ihrem zweiten Artikel erscheint mir grundlegender und doch viel schwieriger zu beweisen als die anderen ... Sie behaupten, »das beste (volumenminimierende) Verfahren, eine zweite Schicht hinzuzufügen, bestehe darin, so viele Zwischenräume wie möglich zu bedecken...« Ihr Argument beruht offenbar in starkem und wesentlichem Maße auf dieser Annahme, doch nirgends findet sich auch nur die Andeutung eines Beweises. Seit der Veröffentlichung von Hsiangs überarbeitetem Beweisversuch herrscht ein ständiger Kampf zwischen ihm und seinen Kritikern, bei dem unablässig behauptet oder bestritten wird, daß die Probleme gelöst seien. Der Beweis ist bestenfalls noch umstritten, schlechtestenfalls unhaltbar – und auf jeden Fall kann sich, wer mag, immer noch am Beweis der Keplerschen Vermutung erproben. Doug Muder faßte die Lage 1996 aus seiner Sicht zusammen und brachte dabei auch gewisse Verwicklungen im Zusammenhang mit Hsiangs Beweis zutage: Ich kam vor kurzem von der gemeinsamen Sommer-Forschungskonferenz von AMS-IMS-SIAM zur Diskreten und Algorithmischen Geometrie in Mount Holyoke zurück. Diese Konferenz findet einmal in zehn Jahren statt, und daher stand auch der Fortschritt der letzten zehn Jahre im Mittelpunkt der Debatten. Hsiangs Behauptung, die Keplersche Vermutung bewiesen zu haben, ist jetzt sechs Jahre alt, und ich habe festgestellt, daß die Kollegen in einem übereinstimmen: keiner hält sie für wahr.

Bei den Plenumsvorträgen und den informellen Gesprächen in der Cafeteria waren die folgenden Punkte nie umstritten: 1. Hsiangs Artikel (1993 im International Journal of Mathematics veröffentlicht) stellt keinen Beweis der Keplerschen Vermutung dar. Bestenfalls ist er eine Skizze (mit immerhin 100 Seiten!), wie ein solcher Beweis anzusetzen wäre. 2. Selbst als Skizze ist der Artikel unzulänglich, da man zu mehreren Argumentationsschritten Gegenbeispiele gefunden hat. 3. Hsiangs damit verbundene Behauptung, die Dodekaeder-Vermutung (und diverse andere bis dahin ungelöste Kugelpakkungsprobleme) gelöst zu haben, ist gleichermaßen unbegründet. 4. Die Arbeit an der Keplerschen Vermutung und an der Dodekaeder-Vermutung sollte weitergehen, als ob es Hsiangs Papier überhaupt nicht gäbe. Gabor Fejes Tóth von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften sagte in einem Vortrag zu Hsiangs Artikel: »Er kann nicht als Beweis betrachtet werden. Das Problem ist immer noch offen.« Thomas Hales von der Universität Michigan stimmte ihm zu: »Dieses Problem ist immer noch ungelöst. Ich habe es nicht gelöst. Hsiang hat es nicht gelöst. Meines Wissens hat es auch kein anderer gelöst.« (Hales kündigte an, mit seinen eigenen Verfahren das Problem »in ein oder zwei Jahren« lösen zu können.) Eine interessante Geschichte wird deshalb daraus, weil eine Person sich diesem Konsens noch nicht angeschlossen hat – Hsiang selbst. (Er nahm auch nicht an der Konferenz teil.) Er kennt durchaus die Gegenbeispiele und weiß, daß die Experten auf diesem Gebiet seine Behauptungen nicht ernst nehmen, und doch hält er weiterhin Vorträge auf der ganzen Welt und wiederholt diese Behauptungen. Leute, die mit ihm persönlich gesprochen haben (etwa Hales und Bezdek) glauben, er werde nie zugeben, daß sein Artikel fehlerhaft ist. Aus diesem Grunde hat es so lange gedauert, bis sich der Staub gelegt hat. Hsiang hat erstmals 1990, vor sechs Jahren, behauptet, eine Lösung für die Keplersche Vermutung gefunden zu ha-

ben. Seither sind seine Vorträge immer vage genug, um plausibel zu klingen. Etliche Monate nach den ursprünglichen Behauptungen erschien der erste Vorabdruck, in dem sofort Lücken gefunden wurden, und die Gegenbeispiele folgten schnell. Doch weil Hsiang seinen Anspruch in der Öffentlichkeit aufrechterhielt, entstand der Eindruck, er müsse mit jeglichen bis dahin vorgebrachten Einwänden fertig geworden sein. Die Länge der Arbeit und der Umstand, daß sie vor der Veröffentlichung noch mehrmals revidiert wurde, trugen noch mehr zur Verwirrung bei. Der Fall Hsiang zeigt, in welchem Ausmaß die Mathematik auf einer Prestigeordnung beruht. Die Gemeinschaft nimmt an, daß festangestellte Professoren an hochrangigen Universitäten nicht einfach haltlose Behauptungen aufstellen und daß sie beim ersten nachgewiesenen Fehler die falschen Behauptungen zurückziehen. Jemand, der diesen Kodex mißachtet, kann für sehr lange Zeit Verwirrung stiften, da niemand die Zeit hat oder den Antrieb verspürt, ständig hinter ihm her zu sein und seine Behauptungen jedesmal von neuem zu widerlegen. (Wenn man sich überlegt, wieviel Arbeit in Hales’ vernichtenden Artikel in Mathematical Intelligence geflossen sein muß – und sich vor Augen hält, daß dieser Artikel für seine Forscherkarriere nichts bringt –, dann wird das Problem deutlich. Hsiangs veröffentlichte Antwort auf diesen Artikel war völlig unzulänglich, doch Hales kam zu dem Schluß, eine Widerlegung der Replik Hsiangs würde in ein nie endendes Hickhack führen, für das er einfach keine Zeit hatte.) Hsiang wird seine Fehler wohl nie zugeben, doch was ist mit dem International Journal? Offenbar ist es eine Durchgangsstation in dem Verfahren, das nicht so funktioniert hat, wie es sollte. Hsiangs Papier wurde nicht angemessen begutachtet – wenn überhaupt. Die Tatsache, daß das Journal von Hsiangs Kollegen in Berkeley herausgegeben wird, verleiht der Sache einen Ruch von Vetternwirtschaft. Es scheint klar, daß Hsiang das International Journal gewählt hat, weil es seine Freunde herausgaben, und nicht, weil es das geeignete Blatt für seinen Artikel war. Karoly Bezdek, der über ein Jahr lang gemeinsam mit Hsiang versucht hat, die Lücken in dem Papier zu füllen, hat beim Jour-

nal ein Papier mit einem Gegenbeispiel für eines von Hsiangs Lemmata eingereicht. Daran sitzen sie nun seit Dezember – nicht ungewöhnlich für einen Artikel, der begutachtet werden muß, aber ziemlich lange für ein Gegenbeispiel zum aufsehenerregendsten Artikel des Journal seit vielen Jahren. Doug Muder

Silikonbeweise In seinem Kampf um Fermats letzten Satz benutzte Wiles als Waffen nur Bleistift, Papier und reine Logik. Auch wenn er für den Beweis einen Großteil der modernen zahlentheoretischen Verfahren einsetzt, steht er damit in der besten Tradition von Pythagoras und Euklid. Allerdings gibt es in jüngster Zeit unheilverkündende Anzeichen dafür, daß Wiles’ Lösung einer der letzten heroischen Beweise sein könnte und daß man sich in Zukunft auf rohe Gewalt statt auf elegante Argumentation verlegen wird, um Resultate zu erzielen. Das erste Symptom dessen, was manche als den Niedergang der Mathematik bezeichnen, betrifft ein Problem, das der englische Teilzeitmathematiker Francis Guthrie im Oktober 1852 in die Welt setzte. Eines Nachmittags bemalte er in aller Ruhe eine Karte der britischen Grafschaften mit Farben. Dabei stieß ihm eine Frage auf, die ihm zwar trivial schien, die er jedoch nicht lösen konnte. Er wollte einfach nur wissen, wie viele Farben mindestens nötig sind, um jede beliebige Karte zu kolorieren, so daß keine zwei aneinandergrenzenden Gebiete dieselbe Farbe erhalten. Nur drei Farben reichen beispielsweise für das Muster in Abbildung 27 nicht aus. Somit steht fest, daß manche Karten vier Farben erfordern, doch Guthrie wollte wissen, ob vier Farben für alle Karten ausreichen oder ob manche vielleicht fünf, sechs oder mehr Farben verlangen. Enttäuscht, weil er die Lösung nicht finden konnte, doch zugleich von dem Problem fasziniert, sprach Guthrie darüber mit sei-

Francis Guthrie stellte fest, daß er mit nur vier Farben eine Karte der britischen Grafschaften einfärben konnte und dabei nie die gleiche Farbe für benachbarte Grafschaften verwenden mußte. Das führte ihn zu der Frage, ob es überhaupt eine mögliche Karte gab, die mehr als vier Farben erforderte.

Abbildung 27: Dieses einfache Muster zeigt, daß man für bestimmte Karten mindestens vier Farben benötigt, doch reichen vier Farben für alle Karten aus?

nem jüngeren Bruder Frederick, einem Studenten am Londoner University College. Dieser legte es seinem Professor, dem angesehenen Augustus de Morgan vor, der wiederum am 23. Oktober an den großen irischen Mathematiker und Physiker William Rowan Hamilton schrieb: Ein Student von mir bat mich heute, ihm einen Grund für eine Tatsache zu nennen, von der ich bislang nicht wußte, daß sie eine solche ist – und es immer noch nicht weiß. Er sagt, wenn eine Fläche in beliebiger Weise aufgeteilt wird und die einzelnen Teilflächen mit unterschiedlichen Farben bemalt werden, so daß bestimmte Gebiete mit beliebig langer gemeinsamer Grenze unterschiedliche Farben erhalten – dann braucht man in manchen Fällen vier Farben, aber niemals mehr. Ich habe einen Fall, bei dem vier Farben erforderlich sind. Frage: Läßt sich nicht ein Beispiel finden, bei dem fünf oder mehr Farben nötig sind?... Sollten Sie mit einem sehr einfachen Exempel antworten, das mich als dummen Esel dastehen läßt, werde ich es wohl wie die Sphinx halten müssen... Hamilton konnte ebenfalls keine Karte entwerfen, die fünf Farben erforderte, war jedoch auch nicht in der Lage zu beweisen, daß es keine solche gibt. Die Kunde von dem Problem verbreitete sich rasch in ganz Europa, doch die Angriffe aus allen Lagern prallten an ihm ab, und es erwies sich als ausgesprochen tückisch. Hermann Minkowski verkündete in einer Anwandlung von Hochmut, es sei nur deshalb noch nicht gelöst, weil es bislang nur drittklassige Ma-

thematiker versucht hätten. Doch am Ende scheiterten auch seine Bemühungen. »Der Himmel ist erzürnt über meinen Hochmut«, erklärte er. »Auch mein Beweis ist fehlerhaft.« Francis Guthrie hatte zwar eines der schwierigsten Probleme der Mathematik, das heute so genannte Vierfarbenproblem erfunden, dennoch verließ er England und arbeitete als Rechtsanwalt in Südafrika. Schließlich kehrte er als Professor an der Universität Kapstadt zur Mathematik zurück, wo er zumeist mehr Zeit bei den Botanikern als bei seinen Mathematikerkollegen verbrachte sein einziges Ruhmesblatt über das Vierfarbenproblem hinaus war, daß ein Heidekraut, Erica guthriei, nach ihm benannt wurde. Nachdem das Problem ein Vierteljahrhundert lang ungelöst geblieben war, verbreitete sich im Jahr 1879 enormer Optimismus, als der britische Mathematiker Alfred Bray Kempe einen Artikel im American Journal of Mathematics veröffentlichte, in dem er behauptete, eine Antwort auf Guthries Rätsel gefunden zu haben. Kempe konnte offenbar beweisen, daß jede Karte höchstens vier Farben erforderte, und die Gutachten seiner Kollegen schienen dies zu bestätigen. Ohne Umschweife wählte man ihn zum Fellow der Royal Society und schlug ihn für seinen Beitrag zur Mathematik am Ende auch noch zum Ritter. Dann, im Jahr 1890, veröffentlichte Percy John Heawood, Dozent an der Universität Durham, einen Artikel, der dem mathematischen Establishment einen Schock versetzte. Ein Jahrzehnt nachdem Kempe das Problem vermeintlich gelöst hatte, zeigte Heawood, daß der sogenannte Beweis elementare Mängel aufwies. Die einzig gute Neuigkeit war, daß Heawood bei seinem Abbruchunternehmen an Kempes Werk nebenher auch zeigen konnte, daß die maximale Anzahl der erforderlichen Farben entweder vier oder fünf war und sicher nicht höher lag. Obwohl Kempe, Heawood und andere nicht in der Lage waren, das Vierfarbenproblem zu lösen, trugen ihre gescheiterten Bemühungen entscheidend zur neuen, aufblühenden Disziplin der Topologie bei. Im Gegensatz zur Geometrie, in der man die genaue Form und Größe eines Objekts untersucht, ist man in der Topologie nur am Wesen des Objekts, seinen grundlegenden Eigenschaf-

ten interessiert. Untersucht etwa ein Geometer ein Quadrat, interessiert er sich für die gleich langen Seiten und die rechten Winkel jeder Ecke. Untersucht ein Topologe dasselbe Objekt, interessiert ihn nur, daß das Quadrat eine einzige ununterbrochene Linie ist, die letztlich eine Schleife bildet. Ein Topologe wird daher einen Kreis nicht von einem Quadrat unterscheiden, denn auch das Quadrat besteht aus einer einzigen Schleife. Eine weitere Möglichkeit, sich die topologische Entsprechung von Quadrat und Kreis zu veranschaulichen, besteht darin, sich eine dieser Formen auf einem Gummituch aufgemalt vorzustellen. Nehmen wir zunächst das Quadrat; es kann gespannt, verzogen, gebogen und verdreht (doch nicht zerrissen) werden, bis die ursprüngliche Form in einen Kreis verwandelt ist. Hingegen könnte das Quadrat nie in ein Kreuz verwandelt werden, egal wie stark das Gummituch verformt wird. Daher sind Quadrat und Kreuz topologisch nicht gleichwertig. Wegen dieser Denkweise wird die Topologie häufig auch als »Gummituch-Geometrie« bezeichnet. Die Topologen lassen Begriffe wie Länge und Winkel beiseite und können zwischen Objekten nur unterscheiden, indem sie auf Eigenschaften wie die Zahl seiner Schnittpunkte zurückgreifen. So unterscheidet sich eine achtförmige Figur wesentlich von einem Kreis, weil sie einen Punkt besitzt, in dem sich vier Linienstücke treffen, während der Kreis keine solchen Schnittpunkte aufweist. Wie immer man sie auch zieht und verdreht, die Achterfigur wird sich nie in einen Kreis verwandeln. Die Topologen interessieren sich auch für Objekte mit drei (und mehr) Dimensionen, bei denen Löcher, Schleifen und Knoten die wesentlichen Eigenschaften ausmachen. Der Mathematiker John Kelley hat einmal im Scherz bemerkt: »Ein Topologe ist jemand, der den Unterschied zwischen einem Doughnut und einer Kaffeetasse nicht kennt.« Wenn man Landkarten durch die vereinfachende Brille der Topologie betrachten würde, so hofften nun die Mathematiker, könnte man vielleicht zum Kern des Vierfarbenproblems vordringen. Der erste Durchbruch gelang 1922, als Philip Franklin das allgemeine Problem zurückstellte und sich mit einem Beweis abfand, der zeigte, daß jede Karte mit 25 oder weniger Gebieten nur vier

Abbildung 28: Am 1. April 1975 stellte Martin Gardner in seiner Kolumne für den Scientific American diese Karte vor. Er behauptete, sie erfordere fünf Farben – natürlich ein Scherz.

Farben erforderte. Andere Mathematiker versuchten auf Franklins Methoden aufzubauen, und 1926 erweiterte Reynolds den Beweis auf Karten mit 27 Regionen; 1940 dehnte ihn Winn auf 35 Gebiete aus; und 1970 schließlich gelang Ore und Stemple der Beweis für 39 Gebiete. Die Geschichte des Problems schien die des Fermatproblems widerzuspiegeln: langsame Fortschritte in Richtung Unendlich. Die ursprüngliche Vermutung war fast sicher richtig, doch bis

zum allgemeinen Beweis blieb es immer möglich, daß jemand mit einer Karte aufwartete, die Guthrie widerlegte. Tatsächlich veröffentlichte der Mathematikjournalist und -autor Martin Gardner 1975 im Magazin Scientific American eine Karte, von der er behauptete, sie verlange fünf Farben. Das Erscheinungsdatum war der 1. April, und Gardner war sich durchaus im klaren, daß es schwierig war, die Karte mit nur vier Farben zu kolorieren, wenn auch nicht unmöglich. Vielleicht möchten Sie es einmal ausprobieren: Abbildung 28 zeigt die Karte. Die langsamen Fortschritte ließen zusehends deutlich werden, daß die Kluft zwischen Ores und Stemples Beweis für Karten mit 39 Gebieten oder weniger und jeder erdenklichen Karte mit einer unendlichen Zahl von Gebieten mit den herkömmlichen Ansätzen niemals zu schließen war. Im Jahr 1976 dann präsentierten zwei Mathematiker von der Universität Illinois, Wolfgang Haken und Kenneth Appel, ein neues Verfahren, das den Begriff des mathematischen Beweises revolutionieren sollte. Haken und Appel hatten das Werk von Heinrich Heesch studiert, der behauptet hatte, daß die unendliche Anzahl unendlich verschiedener Karten aus einer endlichen Zahl endlicher Karten konstruiert werden könne und daß es durch die Analyse dieser Baustein-Karten möglich sein könnte, das allgemeine Problem in den Griff zu bekommen. Die elementaren Karten entsprachen den Elektronen, Protonen und Neutronen, den Grundbausteinen, aus denen alles andere aufgebaut werden kann. Leider lagen die Dinge nicht so einfach wie bei der heiligen Dreifaltigkeit der Teilchen, weil Haken und Appel das Vierfarbenproblem nur auf 1 482 elementare Konfigurationen reduzieren konnten. Wenn sie nun noch beweisen konnten, daß für diese Karten vier Farben ausreichten, dann hieße dies, daß alle Karten mit vier Farben zu kolorieren waren. Die 1 482 Karten und alle Einfärbmöglichkeiten zu überprüfen war jedoch eine gewaltige Aufgabe, die jede mathematische Arbeitsgruppe überforderte. Selbst einen Computer einzusetzen, um alle Permutationen durchzukurbeln, konnte ein Jahrhundert in Anspruch nehmen. Haken und Appel ließen sich nicht entmutigen

und machten sich an die Suche nach Abkürzungen und Strategien für Anwendungen im Computer, um die Überprüfung der Karten zu beschleunigen. 1975, fünf Jahre nachdem sie mit der Arbeit an dem Problem begonnen hatten, beobachteten die beiden Männer, daß der Computer nicht allein rechnete, sondern auch zur Entwicklung ihrer Ideen beitrug. Die beiden erinnern sich an den Wendepunkt ihrer Forschungen: An diesem Punkt begann das Programm uns zu überraschen. Anfangs hatten wir seine Argumente von Hand überprüft, so daß wir immer voraussagen konnten, welchen Kurs es in welcher Situation einschlagen würde; doch nun begann es auf einmal wie eine Schachspielmaschine zu arbeiten. Es heckte Verbundstrategien aus, die auf allen Tricks beruhten, die man es ›gelehrt‹ hatte, und oft waren diese Ansätze bei weitem pfiffiger als jene, die wir ausprobiert hätten. So begann es uns auf ganz unerwartete Weise darüber zu belehren, wie fortzufahren wäre. Es hatte gewissermaßen seine Schöpfer in manchen Gesichtspunkten der ›intellektuellen‹ wie auch der mechanischen Teile der Aufgabenbewältigung überholt. Im Juni 1976, nach 1200 Stunden Rechnerzeit, konnten Haken und Appel das Ergebnis verkünden. Alle 1 482 Karten waren analysiert, und keine von ihnen verlangte mehr als vier Farben. Guthries Vierfarbenproblem war endlich gelöst. Bemerkenswert daran war, daß es sich um den ersten mathematischen Beweis handelte, bei dem ein Computer mehr geleistet hatte, als nur die Rechnung zu beschleunigen – er hatte so viel zum Ergebnis beigetragen, daß der Beweis ohne ihn nicht möglich gewesen wäre. Das war eine gewaltige Leistung, doch zugleich machte sich im Kreis der Mathematiker Unbehagen breit, weil es keine Möglichkeit gab, den Beweis im herkömmlichen Sinn zu überprüfen. Bevor die Einzelheiten des Beweises im Illinois Journal of Mathematics veröffentlicht werden konnten, mußten die Herausgeber für ein gewisses Maß an Begutachtung durch die Kollegen sorgen. Da man nicht wie üblich verfahren konnte, fütterte man Hakens

und Appels Programm in einen unabhängigen Computer ein, um zu zeigen, daß auch dieser Rechner zum selben Ergebnis gelangte. Diese ungewöhnliche Art der Begutachtung brachte manche Mathematiker in Rage: Es handle sich hier um eine unzulängliche Prüfung und es gebe keine Sicherheit gegen einen kleinen Defekt im Kern des Computers, der zu einem logischen Irrtum führen könnte. H. P. F. Swinnerton-Dyer wies im Zusammenhang mit den Computerbeweisen auf folgendes hin: Wenn ein Satz mit Hilfe eines Computers bewiesen wurde, ist es unmöglich, eine Darstellung des Beweises zu liefern, die den Anforderungen der herkömmlichen Prüfung genügt – daß nämlich ein hinreichend geduldiger Leser in der Lage sein sollte, den Beweis durchzuarbeiten und seine Richtigkeit zu bestätigen. Selbst wenn man alle verwendeten Programme und Datenreihen ausdruckt, kann es keine Garantie geben, daß ein Datenband nicht falsch bespielt oder falsch abgelesen wurde. Zudem hat jeder moderne Computer versteckte Fehler in der Software wie in der Hardware – die so selten zu Irrtümern führen, daß sie jahrelang unentdeckt bleiben –, und jeder Computer ist anfällig für vorübergehende Fehlfunktionen. Daraus spricht auch eine gewisse Paranoia einer wissenschaftlichen Gemeinschaft, die Computer lieber meidet als nutzt. Joseph Keller hat einmal festgestellt, daß an seiner Universität, Stanford, der Fachbereich Mathematik weniger Computer besitzt als jeder andere Fachbereich, eingeschlossen der für französische Literatur. Die Mathematiker, die die Arbeit von Haken und Appel ablehnten, konnten nicht bestreiten, daß die Mathematiker Beweise auch dann anerkennen, wenn sie sie nicht persönlich überprüft haben. Im Falle von Wiles’ Beweis des letzten Fermatsatzes verstehen weniger als 10% der Zahlentheoretiker den gesamten Argumentationsgang, doch 100% übernehmen den Beweis als zutreffend. Wer ihn nicht ganz nachvollziehen kann, ist dennoch davon überzeugt, weil andere, die mit der Begrifflichkeit vertraut sind, ihn geprüft und bestätigt haben.

Ein noch extremerer Fall ist der sogenannte Beweis der Klassifikation endlicher einfacher Gruppen, der aus 500 einzelnen Artikeln von über hundert Mathematikern besteht. Es heißt, nur ein Mathematiker habe den gesamten, 15 000 Seiten umfassenden Beweis verstanden, der 1992 verstorbene Daniel Gorenstein. Allerdings kann sich die ganze Mathematikergemeinde dessen sicher sein, daß jeder Abschnitt des Beweises von einem eigenen Team von Spezialisten überprüft und jede einzelne Zeile der 15 000 Seiten Dutzende Male geprüft und gegengeprüft wurde. Beim Vierfarbenproblem liegen die Dinge deshalb ganz anders, weil keiner den Beweis je zur Gänze geprüft hat und es auch künftig niemand tun wird. In den zwanzig Jahren seit dem Beweis des Vierfarbensatzes wurden Computer auch für die Lösung anderer, weniger berühmter, doch gleichermaßen wichtiger Probleme eingesetzt. In einer Disziplin, die bislang kaum von der Technik beeinflußt war, finden sich immer mehr Mathematiker widerstrebend mit dem wachsenden Einsatz der Silikon-Logik ab und akzeptieren Wolfgang Hakens Argument: Jeder, der will, kann an beliebiger Stelle die Einzelheiten eintragen und sie überprüfen. Die Tatsache, daß ein Computer in ein paar Stunden mehr Einzeldaten durchprüfen kann als ein Mensch jemals im Leben, ändert nichts am elementaren Begriff des mathematischen Beweises. Was sich verändert hat, ist nicht die Theorie, sondern die Praxis der Mathematik. In jüngster Zeit übertragen die Mathematiker dem Computer durch den Einsatz der sogenannten genetischen Algorithmen noch mehr Macht. Das sind Computerprogramme, deren Grundzüge die Mathematiker entwickeln, deren Details jedoch die Computer selbst festlegen. Bestimmte Zeilen des Programms dürfen sich verändern und eine Evolution durchlaufen, ähnlich wie einzelne Gene in der organischen DNS. Vom ursprünglichen Mutterprogramm ausgehend, erzeugt der Computer Hunderte von Tochterprogrammen, die sich alle leicht unterscheiden, weil der Rechner selbst

Zufallsmutationen generiert. Die Tochterprogramme dienen dann dem Versuch, ein bestimmtes Problem zu lösen. Die meisten Programme werden kläglich scheitern, das Programm jedoch, welches dem Resultat am nächsten kommt, darf sich reproduzieren und eine neue Generation mutierter Töchter erzeugen. Für das Überleben des Tüchtigsten gilt hier das Kriterium, welches Programm der Lösung eines Problems am nächsten kommt. Die Mathematiker wiederholen diesen Vorgang unablässig in der Hoffnung, daß sich ein Programm entwickelt, welches das Problem löst, und in manchen Fällen hat dieser Ansatz auch beträchtlichen Erfolg. Der Computerwissenschaftler Edward Frenkin geht so weit, zu sagen, daß ein Computer eines Tages unabhängig von den Mathematikern einen wichtigen Beweis entdecken wird. Vor einem Jahrzehnt hat er den mit 100 000 Dollar ausgestatteten Leibnizpreis ins Leben gerufen, der für das erste Computerprogramm verliehen werden soll, das einen Satz aufstellt, der »tiefgreifende Auswirkungen auf die Mathematik« hat. Ob der Preis jemals eingefordert wird, ist eine strittige Frage, sicher jedoch ist, daß es Computerbeweisen immer an der Strahlkraft der traditionellen Beweise fehlen wird und daß sie vergleichsweise hohl klingen werden. Ein mathematischer Beweis sollte nicht nur eine Frage beantworten, sondern auch einen Begriff davon bieten, warum die Antwort so lautet, wie sie lautet. Eine Frage in eine Black Box einzuspeisen und am anderen Ende die Antwort geliefert zu bekommen, bereichert das Wissen, aber nicht das Verstehen. Bei Wiles’ Beweis des letzten Fermatsatzes wissen wir, daß es keine Lösungen für die Fermatsche Gleichung gibt, weil eine solche Lösung zu einem Widerspruch mit der Taniyama-Shimura-Vermutung führen würde. Wiles hat nicht allein Fermats Herausforderung standgehalten, er hat seine Antwort gerechtfertigt mit dem Verweis auf die grundlegende Beziehung zwischen elliptischen Gleichungen und Modulformen. Der Mathematiker Roland Graham verdeutlichte die Seichtheit von Computerbeweisen anhand einer der größten unbewiesenen Vermutungen unserer Zeit, der Riemannschen Vermutung: »Es wäre sehr entmutigend, wenn es irgendwann soweit kommen würde, daß man einen Computer fragen kann, ob die Riemann-Hypothese

korrekt ist, und dann die Antwort erhält: ›Ja, sie ist richtig, aber du wirst den Beweis nicht verstehen‹.« Der Mathematiker Philip Davis schildert in einem gemeinsam mit Reuben Hersh verfaßten Buch seine ähnliche Reaktion auf den Beweis des Vierfarbenproblems: Als erstes dachte ich: »Wunderbar! Wie haben sie’s geschafft?« Ich erwartete eine brillante neue Erkenntnis, einen Beweis, in dessen Kern eine Idee steckte, an deren Schönheit ich mich noch den ganzen Tag würde freuen können. Doch als ich die Antwort erhielt: »Sie haben das Problem in tausend Fälle zerlegt und sie dann alle durch den Computer gejagt, einen nach dem ändern« da war ich enttäuscht. Meine Reaktion war: »Da sieht man eben, daß es letztlich doch kein gutes Problem war.«

Der Preis Wiles’ Beweis des letzten Fermatsatzes beruht auf der Bestätigung einer Vermutung aus den fünfziger Jahren. In seiner Argumentation macht er sich eine Reihe mathematischer Verfahren zunutze, die in den letzten zehn Jahren entwickelt wurden, manche von ihm selbst. Es handelt sich um ein Meisterstück der modernen Mathematik, und der Schluß läßt sich nicht umgehen, daß der von Wiles erbrachte Beweis mit dem Fermats übereinstimmen kann. Fermat schrieb, sein Beweis passe nicht auf den Rand seines Exemplars der Arithmetica von Diophantos. Wiles’ hundert Seiten dichtgedrängter Mathematik erfüllt dieses Kriterium ganz gewiß, doch sicher hatte der Franzose nicht schon vor allen ändern die Modulformen, die Taniyama-Shimura-Vermutung, die Galois-Gruppen und die Kolywagin-Flach-Methode erfunden. Wenn Fermat nicht Wiles’ Beweis hatte, was dann? Die Mathematiker sind hier in zwei Lager gespalten. Die hartnäckigen Skeptiker glauben, Fermats letzter Satz sei einem seltenen Moment der Schwäche des Genies aus dem siebzehnten Jahrhundert entsprun-

gen. Bei Fermat heiße es zwar: »Ich habe einen wahrhaft wunderbaren Beweis«, doch in Wirklichkeit sei dieser fehlerhaft gewesen. Wie genau der Beweis aussah, ist eine offene Frage, doch es ist durchaus möglich, daß Fermats Gedankenführung den Arbeiten von Cauchy oder Lamé ähnelte. Andere Mathematiker, die romantischen Optimisten, glauben, Fermat könnte einen echten Beweis besessen haben. Wie auch immer er ausgesehen haben mochte, er hätte auf den Verfahren des siebzehnten Jahrhunderts beruht und ein so ausgeklügeltes Argument in Anschlag gebracht, daß es, angefangen bei Euler bis hin zu Wiles, allen ändern entgangen sei. Wiles hat nun zwar seine Lösung veröffentlicht, dennoch glauben etliche Mathematiker, Fermats ursprünglichen Beweis entdecken und damit Ehre und Ruhm ernten zu können. Obwohl Wiles auf die Methoden des zwanzigsten Jahrhunderts zurückgreifen mußte, um ein Rätsel aus dem siebzehnten Jahrhundert zu lösen, hat er nach den Regeln des Wolfskehl-Komitees Fermats Aufgabe gelöst. Am 27. Juni 1997 versammelten sich die angesehenen Mitglieder der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen in der Aula der Göttinger Universität, um den von Paul Wolfskehl zu Anfang des Jahrhunderts ausgesetzten Preis zu verleihen. Professor Heinz Wagner, der Vorsitzende des Komitees, erklärte, der Wolfskehl-Preis sei viel wichtiger als alle Nobelpreise – diese würden jedes Jahr verliehen, der Wolfskehl-Preis hingegen habe neunzig Jahre seiner Verleihung geharrt. Umgeben von Porträts der hannoveranischen Könige nahm Wiles den Preis im Wert von 70 000 Mark entgegen – das Wolfskehl-Komitee hatte seine Pflichten nun erfüllt. Das Fermatsche Problem war offiziell gelöst. Doch welches Problem wird Wiles’ Denken als nächstes in Bann ziehen? Es überrascht nicht, daß ein Mann, der sieben Jahre unter völligem Stillschweigen gearbeitet hat, nicht über seine gegenwärtigen Forschungen sprechen möchte, doch an was immer er auch arbeitet, zweifellos wird ihn nichts mehr dermaßen fesseln wie Fermats letzter Satz. »Es gibt kein anderes Problem, das mir so viel bedeuten wird. Es war die Leidenschaft meiner Kindheit. Nichts

kann an seine Stelle treten. Ich habe es gelöst. Ich werde es mit anderen Problemen aufnehmen, da bin ich sicher. Manche davon werden sehr schwierig sein, und ich werde wieder das Gefühl haben, etwas zustande gebracht zu haben, doch es gibt kein anderes Problem in der Mathematik, das mich so fesseln könnte wie das Fermatproblem. Ich hatte dieses ganz seltene Privileg, im Erwachsenenleben den einstigen Kindheitstraum verfolgen zu können. Ich weiß, es ist ein seltenes Privileg, doch wenn man als Erwachsener etwas in Angriff nehmen kann, was einem so viel bedeutet, kann man sich gar keine dankbarere Aufgabe vorstellen. Das Problem gelöst zu haben bedeutet gewiß eine Art Verlust, zugleich allerdings verspürt man ein überwältigendes Gefühl der Freiheit. Ich war so besessen von dem Problem, daß ich acht Jahre lang unablässig darüber nachgedacht habe – von morgens, wenn ich aufwachte, bis nachts, wenn ich schlafen ging. Das ist eine lange Zeit, um über eine einzige Sache nachzudenken. Diese Odyssee ist nun zu Ende. Mein Denken ist zur Ruhe gekommen.«

Anhang

1. Der Beweis für den Satz des Pythagoras

x x+y x

z z y

y

y x

Ziel des Beweises ist es, zu zeigen, daß der Satz des Pythagoras für alle rechtwinkligen Dreiecke gilt. Das oben abgebildete Dreieck könnte jedes beliebige rechtwinklige Dreieck sein, denn die mit den Buchstaben x, y und z bezeichneten Seitenlängen sind nicht bestimmt. Daneben sind vier identische rechtwinklige Dreiecke abgebildet, die zusammen mit einem gekippten kleineren Quadrat ein großes Quadrat ergeben. Die Fläche dieses großen Quadrats ist der Schlüssel zum Beweis. Die Fläche des großen Quadrats kann auf zwei Weisen berechnet werden. Methode 1: Messe die gesamte Fläche des großen Quadrats. Die Länge jeder Seite ist x + y. Daher ist die Fläche des großen Quadrats = (x + y)2. Methode 2: Messe die Fläche jedes Elements des großen Quadrats. Die Fläche 1 1 der Dreiecke beträgt jeweils 2 xy, d. h. ( 2 × Grundlinie × Höhe). Die Fläche des gekippten Quadrats ist z2. Daraus folgt: Fläche des großen Quadrats = 4 × (Fläche jedes Dreiecks) + Fläche des gekippten Quadrats 1 = 4( 2 xy) + z2. Die Methoden 1 und 2 ergeben zwei verschiedene Ausdrücke. Diese Ausdrükke müssen jedoch gleichwertig sein, da sie dieselbe Fläche bezeichnen. Deshalb gilt: Fläche aus Methode 1 = Fläche aus Methode 2 1

(x + y) 2 = 4( 2 xy) + z2. Wir können die Klammern auf beiden Seiten auflösen und die Ausdrücke vereinfachen. Dann ergibt sich: x2 + y2 + 2xy = 2xy + z2.

Das 2xy auf beiden Seiten läßt sich wegkürzen. So erhalten wir: x2 + y2 = z2, und das ist der Satz des Pythagoras! Das Argument beruht auf der Tatsache, daß die Fläche des großen Quadrats, mit welcher Methode man sie auch berechnen mag, immer dieselbe bleiben muß. Wir erzeugen also auf logisch korrekte Weise zwei verschiedene Ausdrücke für dieselbe Fläche, setzen diese dann gleich und gelangen zur unvermeidlichen Schlußfolgerung, daß x2 + y2 = z2. Das Quadrat über der Hypotenuse, z2 ist gleich der Summe der Quadrate über den beiden anderen Seiten, x 2 + y 2. Dieses Argument gilt für alle rechtwinkligen Dreiecke. Die Seiten des Dreiecks in unserem Beispiel werden durch x, y und x bezeichnet und können daher die Seiten jedes beliebigen rechtwinkligen Dreiecks darstellen.

2. Euklids Beweis, daß

2 irrational ist

Euklids Ziel war es, zu beweisen, daß 2 nicht als Bruch geschrieben werden kann. Da er den Beweis durch Widerspruch verwendete, ging er zunächst einmal davon aus, das Gegenteil sei wahr, nämlich 2 könne tatsächlich als ein noch unbekannter Bruch geschrieben werden. Dieser hypothetische Bruch wird durch den Ausdruck p dargestellt, in dem p und q ganze Zahlen sind. q Bevor wir uns an den eigentlichen Beweis machen, müssen wir uns noch einige elementare Eigenschaften von Brüchen und geraden Zahlen vor Augen führen. (1) Wenn wir eine beliebige Zahl nehmen und sie mit 2 multiplizieren, muß die sich ergebende Zahl gerade sein. Das ist praktisch die Definition einer geraden Zahl. (2) Wenn das Quadrat einer Zahl gerade ist, muß auch die Zahl selbst gerade sein. 16 8 (3) Schließlich können Brüche vereinfacht werden: 24 ist das gleiche wie 12 ; wir 16 teilen nur die obere und die untere Zahl des Bruchs 24 durch den gemeinsa8 4 4 men Teiler 2. Weiterhin ist 12 das gleiche wie 6 , und 6 wiederum ist das gleiche 2 2 wie 3 . Allerdings kann 3 nicht weiter vereinfacht werden, weil 2 und 3 keine gemeinsamen Teiler haben. Es ist unmöglich, einen Bruch unendlich oft zu vereinfachen. Erinnern wir uns nun daran, daß Euklid glaubt, 2 könne nicht als Bruch dargestellt werden. Weil er jedoch den Beweis durch Widerspruch verwendet, geht

er von der Annahme aus, daß der Bruch p q die Folgen, die sich daraus ergeben: 2=

tatsächlich existiert, und untersucht

p . q

Wenn wir beide Seiten quadrieren, ergibt sich 2 =

p2 . q2

Diese Gleichung kann auf einfache Weise umgeformt werden zu 2 q2 = p2 Nun wissen wir von Punkt (1) her, daß p 2 gerade sein muß und wegen Punkt (2) dann auch p. Doch wenn p gerade ist, dann kann es als 2 m geschrieben werden, wobei m eine andere ganze Zahl darstellt. Das folgt aus Punkt (1). Setzen wir 2 m in die Gleichung ein, erhalten wir 2 q2 = (2 m) 2 = 4 m 2 . Teilen wir beide Seiten durch 2, erhalten wir q2 = 2 m 2. Doch demselben Argument wie oben zufolge wissen wir, daß q2 gerade sein muß und q selbst ebenfalls. Wenn dies der Fall ist, dann kann q als 2 n geschrieben werden, wobei n eine weitere ganze Zahl ist. Gehen wir zurück zum Ausgangspunkt, dann erhalten wir 2=

p 2m = q 2n

Das 2m kann vereinfacht werden, indem man den oberen und den unteren Aus2n druck durch 2 teilt. Damit erhalten wir 2= m

m . n p

Wir haben nun einen Bruch der einfacher ist als . n q m Allerdings können wir nun genau dasselbe Verfahren auf anwenden, wobei n g wir schließlich einen noch einfacheren Ausdruck, etwa , erhalten. Dieser Bruch h kann dann wieder durch die Mühle gedreht werden, und der neue Bruch, etwa e f , wird noch einfacher sein. Auch ihn können wir wieder durch die Mühle drehen, und so weiter ohne Ende. Freilich wissen wir aus Punkt (3), daß Brüche nicht unendlich oft vereinfacht werden können. Es muß immer einen peinfachsten Ausdruck geben. Doch unser ursprünglicher hypothetischer Bruch q gehorcht dieser Regel offenbar nicht. Deshalb können wir berechtigterweise sa-

gen, daß wir zu einem Widerspruch gelangt sind. Wenn 2 als Bruch geschrieben werden könnte, dann wäre das Ergebnis absurd, und deshalb ist die Aussage wahr, daß 2 nicht als Bruch geschrieben werden kann. Also ist 2 eine irrationale Zahl.

3. Das Rätsel um das Alter des Diophantos Nennen wir L das Alter, das Diophantos erreicht hatte, als er starb. Das Rätsel gibt uns Auskunft über die Dauer jedes Lebensabschnitts: 1 L 6 seines Lebens, 6 , verbrachte er als Knabe, L verbrachte er als Junge, 12 L verbrachte er vor der Heirat, 7

5 Jahre später wurde ein Sohn geboren, L betrug die Lebensspanne seines Sohnes, 2

4 Jahre verbrachte Diophantos in Trauer, bevor er starb.

Die Länge von Diophantos’ Leben ergibt sich aus der Summe des obigen: L =

L L L L + + + 5 + + 4. 12 7 2 6

Wir können den Ausdruck folgendermaßen vereinfachen: L =

25 L + 9, 28

3 L + 9, 28 L =

28 3

x

Diophantos starb im Alter von 84 Jahren.

9 = 84.

4. Bachets Wiegeproblem Um ein beliebiges ganzzahliges Gewicht von 1 bis 40 Kilogramm wiegen zu können, werden die meisten vermuten, braucht man sechs Gewichte: 1, 2, 4, 8, 16, 32 kg. Damit können auf einfache Weise alle Gewichte zusammengestellt werden, indem man die folgenden Gewichte einzeln oder zusammen auf die Waagschale legt: 1 2 3 4 5

kg kg kg kg kg

= 1, = 2, = 2 + 1, = 4, = 4 + 1, ... 40 kg = 32 + 8. Wenn jedoch Gewichte in beiden Waagschalen zugelassen sind, also auch ben dem zu wiegenden Gegenstand, kann man, wie Bachet, mit nur vier wichten auskommen: 1, 3, 9, 27 kg. Ein Gewicht in derselben Waagschale der gewogene Gegenstand nimmt praktisch einen negativen Wert an. Die wichte können somit folgendermaßen zusammengestellt werden: 1 2 3 4 5

neGewie Ge-

kg kg kg kg kg

= 1, = 3 - 1, = 3, = 3 + 1, = 9 – 3 - 1, .. . 40 kg = 27 + 9 + 3 +1.

5. Euklids Beweis, daß es eine unendliche Anzahl pythagoreischer Tripel gibt Ein pythagoreisches Tripel ist eine Menge aus drei ganzen Zahlen, wobei die Quadrate zweier Zahlen zusammen gleich dem Quadrat der dritten sind. Euklid konnte beweisen, daß es eine unendliche Anzahl solcher pythagoreischer Tripel gibt. Sein Beweis beginnt mit der Feststellung, daß die Differenz zwischen aufeinanderfolgenden Quadratzahlen immer eine ungerade Zahl ergibt:

11 1

21 4

\

32 9

/ \ 3

42 16

/ \ 5

52 25

/ \ 7

62 36

/ \ 9

72 49

/ \ 11

82 64

/ \ 13

92 81

/ \ 15

102 100

/ \ 17

/ 19

Jede einzelne Zahl aus der Unendlichkeit der ungeraden Zahlen kann zu einer bestimmten Quadratzahl addiert werden, so daß sich eine weitere Quadratzahl ergibt. Ein Bruchteil dieser ungeraden Zahlen besteht selbst aus Quadratzahlen, doch ein Bruchteil des Unendlichen ist ebenfalls unendlich. Deshalb gibt es auch eine unendliche Anzahl von ungeraden Quadratzahlen, die zu einer Quadratzahl addiert eine weitere Quadratzahl ergeben. Mit anderen Worten, es muß eine unendliche Anzahl pythagoreischer Tripel geben.

6. Beweis der Punktevermutung Die Punktevermutung lautet, daß es unmöglich ist, ein Punktediagramm zu zeichnen, bei dem jede Gerade mindestens drei Punkte durchläuft. Obwohl dieser Beweis nur ein Mindestmaß an mathematischem Aufwand verlangt, beruht er auf ein wenig geometrischer Gymnastik, weshalb ich empfehle, über jeden Schritt sorgfältig nachzudenken. Betrachten wir zunächst ein zufälliges Punktemuster und die Geraden, welche jeden Punkt mit jedem anderen verbinden. Dann stellen wir den Abstand fest, den jeder Punkt zur nächsten Geraden hat, die ihn nicht durchläuft. Damit stellen wir auch fest, welcher Punkt einer solchen Geraden am nächsten hegt. Unten abgebildet ist die Umgebung eines solchen Punktes D, der einer Geraden L am nächsten liegt. Der Abstand zwischen dem Punkt und der Geraden ist als gestrichelte Linie eingezeichnet, und dieser Abstand ist kleiner als jeder andere Abstand zwischen jeder anderen Geraden und einem Punkt.

L

D

Nun kann gezeigt werden, daß die Gerade L immer nur zwei Punkte durchläuft und die Vermutung daher zutrifft, d.h., daß es unmöglich ist, ein Diagramm zu zeichnen, in dem jede Gerade drei Punkte durchläuft. Um zu zeigen, daß die Gerade L nur zwei Punkte durchläuft, überlegen wir, was wäre, wenn sie einen dritten durchlaufen würde. Wenn dieser dritte Punkt, D A , außerhalb der beiden ursprünglich gezeigten liegen würde, dann wäre der als gepunktete Linie gezeichnete Abstand kürzer als die gestrichelte, welche den kürzesten Abstand zwischen einem Punkt und einer Linie darstellen sollte. Deshalb kann D A nicht existieren.

DA

L

D Wenn nun der dritte Punkt D B zwischen den beiden ursprünglich gezeigten Punkten liegen würde, dann wäre der als gepunktete Linie gezeichnete Abstand wiederum kürzer als die gestrichelte Linie, die den kürzesten Abstand zwischen einem Punkt und einer Linie darstellen sollte. Deshalb kann auch D B nicht existieren.

L

DB

D Zusammengefaßt heißt dies, jede Anordnung von Punkten muß einen Mindestabstand zwischen einem Punkt und einer Geraden aufweisen, und die fragliche Gerade kann nur zwei Punkte durchlaufen. Deshalb gilt für jede Anordnung, daß es zumindest diese eine Gerade geben muß, die nur zwei Punkte durchläuft: die Vermutung ist richtig.

7. Irrweg ins Absurde Im folgenden wird auf klassische Weise demonstriert, wie leicht es ist, mit einer sehr einfachen Aussage zu beginnen und nach einigen auf den ersten Blick schlichten und logischen Schritten zu zeigen, daß 2 = 1. Beginnen wir mit der harmlosen Feststellung a = b. Dann multiplizieren wir beide Seiten mit a und erhalten a 2 = ab. Addieren wir nun auf beiden Seiten a 2 -2ab: a 2 + a 2 - 2 ab = ab + a 2 - 2ab. Diese Gleichung kann vereinfacht werden zu 2(a 2 - ab) = a 2 - ab. Teilen wir schließlich beide Seiten durch a 2 - ab, und wir erhalten 2 = 1. Die ursprüngliche Aussage scheint – und ist – völlig harmlos, doch an irgendeinem Punkt der schrittweisen Umformung der Gleichung unterlief uns ein unscheinbarer, aber katastrophaler Irrtum, der dann zum Widerspruch in der letzten Aussage führte. Tatsächlich passiert der fatale Fehler im letzten Schritt, wenn beide Seiten durch a 2 -ab geteilt werden. Wir wissen aus der ersten Aussage, daß a=b , und daher bedeutet eine Division durch a 2 -ab eine Division durch Null. Etwas durch Null zu teilen ist ein riskanter Schritt, denn Null geht unendlich oft in jede beliebige endliche Menge. Wir haben auf beiden Seiten eine unendliche Größe erzeugt und damit praktisch die beiden Hälften der Gleichung auseinandergerissen. Deshalb konnte sich ein Widerspruch in den Argumentationsgang einschleichen. Dieser subtile Irrtum ist typisch für jene Sorte von Patzern, die vielen Einsendern für den Wolfskehl-Preis unterlaufen waren.

8. Die Axiome der Arithmetik Die folgenden Axiome sind alles, was für die Grundlegung des kunstvollen Gebäudes der Arithmetik nötig ist: 1. Für beliebige Zahlen m, n gilt: m+n =n + m

und

mn = n m.

2. Für beliebige Zahlen m, n, k gilt: (m + n) + k = m + ( n + k)

und

( mn)k = m( mk)

3. Für beliebige Zahlen m, n, k gilt: (m + n) + k = mn + mk. 4. Es gibt eine Zahl 0 mit der Eigenschaft, daß für jede Zahl n gilt: n + 0 = n. 5. Es gibt eine Zahl 1 mit der Eigenschaft, daß für jede Zahl n gilt: n

×

1 = n.

6. Für jede Zahl n gibt es eine weitere Zahl k, so daß gilt: n + k = 0. 7. Für beliebige Zahlen m, n, k gilt: wenn

k≠0

und

kn = km,

dann

m = n.

Anhand dieser Axiome können weitere Regeln bewiesen werden. So können wir ohne jede zusätzliche, allein durch strenge Anwendung der Axiome, die scheinbar selbstverständliche Regel beweisen, daß wenn

m + k = n + k,

dann

m = n.

Beginnen wir mit der Feststellung, daß m + k = n + k. Gemäß Axiom 6 sei nun l eine Zahl, für die gilt, daß k + l = 0, so daß (m + k) + l = ( n + k) + l. Dann gilt gemäß Axiom 2: m + ( k + l) = n + ( k + l).

Erinnern wir uns, daß k + l = 0, so ergibt sich m + 0 = n + 0. Wenden wir darauf Axiom 4 an, dann können wir schließlich verkünden, was wir ursprünglich beweisen wollten: m = n.

9. Die Spieltheorie und das Triell Sehen wir uns die Optionen von Herrn Schwarz an. Herr Schwarz könnte zunächst auf Herrn Grau zielen. Wenn er erfolgreich ist, wird der nächste Schuß von Herrn Weiß abgefeuert. Weiß hat nur noch einen Gegner, Schwarz, und da Weiß ein perfekter Schütze ist, wird Schwarz ein toter Mann sein. Eine bessere Option für Schwarz ist, zunächst auf Weiß zu zielen. Wenn er ihn trifft, wird Grau den nächsten Schuß auf Schwarz abfeuern. Grau trifft sein Ziel nur in zwei von drei Fällen, und daher gibt es die Chance, daß Schwarz überlebt, auf Grau schießt und das Triell vielleicht gewinnt. Dem Anschein nach ist es die zweite Strategie, die sich Schwarz zueigen machen sollte. Allerdings gibt es eine dritte und noch bessere Option. Schwarz könnte in die Luft schießen. Grau hat den nächsten Schuß, und er wird auf Weiß zielen, denn dieser ist der gefährlichere Gegner. Wenn Weiß überlebt, wird er auf Grau zielen, weil er der gefährlichere Gegner ist. Indem Schwarz in die Luft schießt, ermöglicht er es Grau, Weiß auszuschalten oder umgekehrt. Dies ist die beste Strategie für Schwarz. Grau oder Weiß wird sterben, und dann wird Schwarz auf den Überlebenden anlegen. Schwarz hat die Situation so verändert, daß er nun nicht den ersten Schuß in einem Triell, sondern den ersten Schuß in einem Duell hat.

10. Beispiel für einen Beweis durch Induktion Die Mathematiker finden es nützlich, anhand eleganter Formeln die Summen diverser Zahlenreihen auszurechnen. In diesem Falle besteht die Aufgabe darin, eine Formel zu finden, die die Summe der ersten n natürlichen Zahlen liefert. Zum Beispiel beträgt die Summe nur der ersten Zahl 1, die Summe der ersten beiden Zahlen 3 (nämlich 1 + 2), die Summe der ersten drei Zahlen 6 (1 + 2 + 3), die Summe der ersten vier Zahlen ist 10 (1 + 2 + 3 + 4), und so weiter.

Eine Formel, welche dieses Muster zu fassen scheint, ist: 1 2

Summe(n) = n(n + 1) Mit anderen Worten: Wenn wir die Summe der ersten n Zahlen finden wollen, müssen wir diese Zahl bloß in die obige Formel einsetzen und das Ergebnis ausrechnen. Anhand der Induktion läßt sich beweisen, daß diese Formel für jede Zahl bis ins Unendliche funktioniert. Der erste Schritt ist zu zeigen, daß die Formel für den ersten Fall, n = 1, funktioniert. Das ist ziemlich einfach, weil wir wissen, daß die Summe allein der ersten Zahl 1 ist, und wenn wir n = 1 in die Formel einsetzen, erhalten wir das richtige Ergebnis: 1 2

Summe(n) = n(n + 1) Summe(1) =

1 x 1 x (1 + 1) 2

Summe(1) =

1 x 1 x 2 2

Summe(1) = 1. Der erste Dominostein ist gekippt. Der nächste Schritt besteht darin, durch Induktion zu beweisen, daß wenn die Formel für einen beliebigen Wert n gilt, sie auch für n + 1 gelten muß. Wenn 1 2

Summe(n) = n(n + 1) dann, Summe(n + 1) = Summe(n) + (n + 1) 1 2

Summe(n + 1) = n(n + 1) + ( n + 1) Durch Umformung und Neugruppierung der Terme auf der rechten Seite erhalten wir 1 2

Summe(n + 1) = (n + 1) [(n + 1) + 1].

Entscheidend ist hier, daß die Form dieser neuen Gleichung genau dieselbe ist wie die der ursprünglichen, außer daß n bei jedem Auftauchen durch (n + 1) ersetzt ist. Mit anderen Worten, wenn die Formel für n gilt, dann muß sie auch für n + 1 gelten. Immer wenn ein Dominostein umkippt, wird er auch den nächsten kippen. Der Beweis durch Induktion ist abgeschlossen.

Vorschläge zur weiteren Lektüre

Für die Recherche zu diesem Buch habe ich zahlreiche Bücher und Artikel herangezogen. Ergänzend zu den Hauptquellen für jedes Kapitel nenne ich weitere Titel für allgemein interessierte Leser und Fachleute. Wo der Titel der Quelle nicht auf ihre Bedeutung schließen läßt, erläutere ich mit ein paar Worten, worum es geht. (Die mit * markierten Titel wurden für die deutsche Ausgabe hinzugefügt.)

Kapitel l Bell, Eric T., The Last Problem. Washington 1990. Eine allgemein zugängliche Darstellung der Ursprünge des letzten Fermatsatzes. Gardner, Martin, Mathematische Hexereien. Berlin, Frankfurt/Main und Wien 1979. Eine Sammlung mathematischer Rätsel und Knobeleien. Gorman, Peter, Pythagoras. A Life. London 1979. Heath, Thomas, A History of Greek Mathematics. 2 Bde., New York 1981. Ralph, Leslie, Pythagoras. A Short Account of His Life and Philosophy. London 1961. Støllum, Hans-Henrik, »River meandering as a self-organization process«, in: Science 271 (1996), S. 1710-1713.

Kapitel 2 Hoffmann, Paul, Archimedes’ Revenge. Harmondsworth 1988. Faszinierende Geschichten um das Vergnügen an der Mathematik und ihre Gefahren. Mahoney, Michael, The Mathematical Career of Pierre de Fermat. Princeton 1994. Eine detaillierte Untersuchung zu Leben und Werk Pierre de Fermats.

Kapitel 3 Bell, Eric T., Die großen Mathematiker. Düsseldorf 1967. Biographien der größten Mathematiker der Geschichte, darunter Euler, Fermat, Gauß, Cauchy und Kummer. Burton, David, Elementary Number Theory. Boston 1980.

Cauchy, A. Verschiedene Mitteilungen, in: C. R. Acad. Sci. Paris 24 (1847), S. 407-416, 469-483. Dalmédico, Amy Dahan, »Sophie Germain«, in: Scientific American, Dezember 1991. Ein kurzer Artikel über Leben und Werk Sophie Germains. Edwards, Harold M., Fermat’s Last Theorem. A Genetic Introduction to Algebraic Number Theory. Wien und New York 1977. Eine mathematische Diskussion des letzten Fermatsatzes mit genauen Darstellungen einiger früher Beweisversuche. *Fellmann, Emil A., Leonhard Euler. Reinbek 1995. Kummer, Ernst L. »Extrait d’une lettre de M. Kummer à M. Liouville, in: Journal de Mathématiques pures et appliquées 12 (1847), S. 136. Nachgedr. in: A. Weil, Hg., Collected Papers. Bd. 1. Wien und Berlin 1975. Lamé, G., »Note au sujet de la démonstration du theorème de Fermat«, m: C. R. Acad. Sci. Paris 24 (1847), S. 352. Lines, Malcolm E., A Number for Your Thoughts. Bristol 1986. Fakten und Spekulationen über Zahlen von Euklid bis zu den modernsten Computern, mit einer etwas genaueren Darstellung der Punktevermutung. Lloyd, Monte, und Henry S. Dybas, »The periodical cicada problem«, in: Evolution 20 (1966), S. 466-505. *Maor, Eli, Dem Unendlichen auf der Spur. Basel, Boston und Berlin 1989. Mozans, H. J., Woman in Science, hrsg. von John A. Zahm. London 1991. Osen, Lynn M., Women in Mathematics. Boston 1994. Ein weitgehend nichtmathematischer Text mit Biographien vieler erstrangiger Mathematikerinnen der Geschichte, darunter Sophie Germain. Perl, Teri, Math Equals: Biographies of Women Mathematicians + Related Activities. Menlo Park 1978. *Scheid, Harald, Zahlentheorie. Mannheim 1991. *Wußing, Hans, und Wolfgang Arnold, Hg., Biographien bedeutender Mathematiker. Köln 1985.

Kapitel 4 Davis, P. J., und W. G. Chinn, 3,1416 and All That. Basel, Boston und Stuttgart 1985. Eine Reihe von Geschichten über Mathematiker und die Mathematik, mit einem Kapitel über Paul Wolfskehl. Devlin, Keith, Mathematics: The Science of Patterns. New York 1980. Ein schön illustriertes Buch, das die Konzepte der Mathematik anhand von verblüffenden Bildern vermittelt. Devlin, Keith, Sternstunden der modernen Mathematik. Basel und Stuttgart 1990. Line allgemeinverständliche und detaillierte Darstellung der modernen Mathematik, mit einer Erörterung der mathematischen Axiome.

Hardy, G. H., A Mathematician’s Apology. Cambridge 1940. Eine der größten Gestalten der Mathematik des zwanzigsten Jahrhunderts stellt die Beweggründe dar, die ihn und seine Kollegen zur Mathematik führen. Hodges, Andrew, Alan Turing, Enigma. Wien und New York 1994. Eine Darstellung des Lebens von Alan Turing und seines Beitrags zur Entschlüsselung des Enigma-Codes. Kreisel, G., Kurt Gödel, in: Biographical Memoirs of the Fellows of the Royal Society, 1980. Lodge, David, The Picturegoers. Harmondsworth 1993. Loyd, Sam, Mathematische Rätsel und Spiele, hrsg. von Martin Gardner. Köln 1978. Loyd, Sam (II.), Sam Loyd and his Puzzles. New York 1928. Northrop, Eugene P., Riddles in Mathematics. New York 1975. Ribenboim, Paulo, 13 Lectures on Fermat’s Last Theorem. New York und Heidelberg 1979. Eine Darstellung des letzten Fermatsatzes für Studenten, geschrieben vor Veröffentlichung der Arbeiten von Andrew Wiles. *Russell, Bertrand, Mein Leben. 1872-1914. Zürich 1967. *Russell, Bertrand, Die Entwicklung meines Denkens. Frankfurt/Main 1988. Russell, Bertrand, und Alfred North Whitehead, Principia Mathematica. 3 Bde., Cambridge 1910, 1912, 1913. Stewart, Ian, The Concepts of Modern Mathematics. Harmondsworth 1995. Wells, David, The Penguin Dictionary of Curious and Interesting Numbers. Harmondsworth 1986. Wells, David, The Penguin Dictionary of Curious and Interesting Puzzles. Harmondsworth 1992.

Kapitel 5 Frey, Gerhard, »Links between stable elliptic curves and certain diophantine equations«, in: Ann. Univ. Sarav. Math. Ser. 1 (1989), S. 1 -40. Der wichtige Aufsatz, in dem Frey die Vermutung aufstellte, es gebe eine Verbindung zwischen der Taniyama-Shimura-Vermutung und dem letzten Fermatsatz. Shimura, Goro, »Yutaka Taniyama and his time«, in: Bulletin of the London Mathematical Society 21 (1989), S. 186-196. Eine sehr persönliche Darstellung von Leben und Werk Yutaka Taniyamas.

Kapitel 6 Depuy, Paul, »La vie d’Evariste Galois«, in: Annales Scientifiques de l’École Normale Supérieure 13 (1896), S. 197-266. Dumas, Alexandre, Mes Mémoires. Paris 1967. Rothman, T., »Genius and Biographers: the Fictionalization of Evariste Galois, in: American Mathematical Monthly 89 (1982), S. 84-106. Enthält eine genaue Liste der von Galois’ Biographen verwendeten historischen Quellen und erörtert die Stichhaltigkeit der verschiedenen Interpretationen. Van der Poorten, Alf, Notes on Fermat’s Last Theorem. New York 1996. Eine technische Darstellung von Wiles’ Beweis für Studenten ab den Grundsemestern.

Kapitel 7 Gelbart, Stephen, »An elementary introduction to the Langlands programme«, in: Bulletin of the American Mathematical Society 10 (1984), S. 177-219. Line technische Erläuterung des Langlands-Programms für die mathematische Forschung. Taylor, Richard, und Andrew Wiles, »Ring-theoretic properties of certain Hecke algebras«, in: Annals of Mathematics 141 (1995), S. 553-572. Hier werden die mathematischen Überlegungen vorgestellt, auf deren Grundlage die Mängel des Wilesschen Beweises von 1993 behoben werden konnten. Wiles, Andrew, »Modular elliptic curves and Fermat’s Last Theorem«, in: Annals of Mathematics 141 (1995), S.443-551. Dieser Artikel enthält den Großteil von Wiles’ Beweis der Taniyama-Shimura-Vermutung und des letzten Fermatsatzes.

Kapitel 8 Appel, Kenneth, und Wolfgang Haken, »The solution of the four-color-map problem«, in: Scientific American, Oktober 1977, S. 108-121. Davis, P. J. und R. Hersh, The Mathematical Experience. Harmondsworth 1990. Horgan, John, »The death of a proof«, in: Scientific American, Oktober 1993, S. 74-82. Saaty, T. L. und P. C. Kainen, The Four-Color Problem: Assaults and Conquest. New York 1977. Stewart, Ian, »How to succeed in stacking«, m: New Scientist, 13.Juli 1993, S. 29-32.

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Graphische Illustrationen von Jed Mugford. S. 24: Andrew Wiles; S. 39: Charles Taylor; S. 57: Science Photo Library; S. 58: Mit Erlaubnis des Präsidenten und des Rats der Royal Society; S. 77, 89, 90: Mit freundlicher Genehmigung der John Carter Brown Library der Universität Boston; S. 96: Mit Erlaubnis des Präsidenten und des Rats der Royal Society; S. 129: Archives de l’Académie des Sciences; S. 138: Archives de l’Académie des Sciences; S. 140: Mit Erlaubnis des Präsidenten und des Rats der Royal Society; S. 143: Die Mathematik und ihre Dozenten (Akademie-Verlag, Berlin); S. 148: Dr. Klaus Barner, Universität Kassel; S. 155: Sam Loyd and his Puzzles (Barse and Co., New York); S. 167: Mathematisches Forschungsinstitut Oberwolfach; S. 168: Godfrey Argent; S. 174: Quelle: Royal Society Library, London; S. 183: Godfrey Argent; S. 195: Andrew Wiles; S. 197: Ken Ribet; S. 204: Goro Shimura; S. 206: Universität Princeton, Orren Jack Turner; S. 214: ©1997 Cordon Art, Baarn, Holland; S.216: Goro Shimura; S.218: BBC; S. 232: Catherine Karnow; S. 236: Universität Princeton, Denis Applewhite; S. 246, 256, 258: R. Bourgne und J. P. Azra, Des écrits et des mémoires mathématiques d’Evariste Galois (2. Aufl., Gauthier-Villars, 1976; nachgedr. v. Editions Jacques Gabay, Paris 1997); S. 267: A. J. Hanson und S. Dixon, Wolfram Research Inc.; S. 274: BBC; S. 283: © 1993 by New York Times Co. Abdruck mit Erlaubnis; S. 286: Ken Ribet; S. 300: Richard Taylor; S. 309: Andrew Wiles, »Modular elliptic curves and Fermat’s Last Theorem, in: Annals of Mathematics 141 (1995), S. 443-551. The Johns Hopkins University Press; S. 310: Universität Princeton; S. 331: © 1975 by Scientific American, Inc. Alle Rechte vorbehalten.

Register

Abel, Niels Henrik 27 Adleman, Leonard 122 Adler, Alfred 26 Agnesi, Maria 126–127, 136 Aischylos 25 d’ Alembert, Jean Le Rond 115 Algarotti, Francesco 128 Anglin, W. S. 97 Antonius, Marcus 78 Arago, François 99 Arakelow, S. 266 Archimedes 25, 70, 130 Aristoteles 80 Augustinus 35 Aurillac, Gerbert von 80 Bachet de Méziriac, Claude Gaspar 77, 82–83, 88 Baker, Alan 296 Barnum, P. T. 154 Beaugrand, J. de 62 Bell, Eric Temple 30, 53, 55, 61, 94, 132 Bernoulli, Daniel 99 Bernoulli, Jakob 100 Bernoulli, Nikolaus 99 Bombelli, Rafaello 111 Brahmagupta 80 Cantor, Georg 119–120 Cardano, Girolamo 62 Carroll, Lewis (Charles Dodgson) 154 Cäsar, Julius 78, 81 Cauchy, Augustin Louis 137, 139,

141–142, 144–145, 150, 179, 191, 250–251, 257 Chevalier, Auguste 257, 260 Churchill, Winston 188 Clarke, Arthur C. 46 Clêrot, Alexis-Claude 56 Coates, John 194–195, 203, 223, 237–238, 241, 270, 272, 277–278, 280, 294 Cohen, Paul 177–178 Conway, John H. 299 Coolidge, Julian 61 Dalton, John 45 Darmon, Henri 302, 304 Descartes, René 63–64, 84, 261 Deuring, Max Friedrich 205 Diderot, Denis 102 Diffie, Whitfield 122 Digby, Kenelm 60, 85 Diophantos von Alexandria 76–78, 82, 85, 199 Dirichlet, Johann Peter Gustav Lejeune 133, 144, 202 Dudeney, Henry 154 Dumas, Alexandre, d. A. 253 Eichler, Martin 209 Einstein, Albert 41–42 Elkies, Noam 193, 302–303 Epimemdes 175–176 Escher, Maurits 213 Euklid 36–37, 70–71, 74–75, 78, 80, 82, 85, 118, 132 Euler, Albert 115

Euler, Leonhard 56, 84, 91, 99–102, 104–109, 114–116, 125, 130, 133, 145, 179 Euler, Paul 99 Evens, Leonard 293 Eves, Howard W. 237 Fallings, Gerd 266–268, 307 Fermat, Clément-Samuel de 88 Fermat, Dominique 59 Fermat, Pierre de 30, 55–56, 59–61, 63–64, 67–68, 77–78, 81–86, 88, 91–92, 97, 109, 145, 158, 178–179, 191, 198–199, 240 Flach, Matheus 272, 305 Fourier, Jean Baptiste Joseph 251–252, 257 Frege, Gottlob 165–166, 169–170 Frey, Gerhard 228, 230–231, 235, 242, 278, 303 Friedrich II., der Große 100, 115 Furtwängler, Philipp 172 Galilei, Galileo 61, 63 Galois, Alfred 259 Galois, Evariste 27, 244–245, 247–248, 250, 252, 255–256, 262, 264 Galois, Nicolas-Gabriel 245, 250 Gardner, Martin 83, 161 Gassendi, Petrus 62 Gauß, Carl Friedrich 132–135, 193, 257, 260 Germain, Sophie 125, 128, 130–135, 137, 145, 245, 252 Gibbon, Edward 126 Gödel, Kurt 162, 172–173, 175–178, 181 Goldbach, Christian 109 Gombaud, Antoine 65

Hardy, G. H. 25–27, 71, 93, 180–181, 194, 205 Heiberg, Johan Ludvig 70 Hein, Piet 287 Heinsius, Nicholas 60 Heisenberg, Werner 176–177 Hellman, Martin 122 d’ Herbinville, Pécheux 255, 259 Hermite, Charles 27 Hubert, David 119–121, 127, 162, 164–166, 171–172, 178, 182, 239, 279 Hippasus 75 Hodges, Andrew 190 Hypatia 126–127 Hypsikles von Alexandria 76 Iamblichos 38 Illusie, Luc 288, 291 Iwasawa, Kenkichi 304 Jacobi, Carl Gustav 257, 260 Kanada, Yasumasa 72 Katharina die Große 100, 102, 115 Katz, Nick 273, 275, 279, 288–291 Kleopatra 78 Kolywagin 272, 280, 305 Kowalewski, Sonja 128 Kronecker, Leopold 72 Kummer, Ernst Eduard 139, 141, 144–145, 149–151, 162, 179, 191 Kylon 50 Lagrange, Joseph Louis 115, 131, 251 Lamé, Gabriel 134, 137, 139, 141–142, 144–145, 150, 191, 250 Landau, Edmund 127, 159 Langlands, Robert 225–226 Le Blanc, Antoine-August (Sophie Germain) 131

Legendre, Adrien-Marie 133 Leibniz, Gottfried Wilhelm 113 Leon 33–34 Libri-Carucci dalla Sommaja, Guglielmo 130, 252 Liouville, Joseph 139, 141, 260 Lipman, Joseph 292 Littlewood, John Edensor 194 Lodge, David 192 Louis-Philippe 252–253 Loyd, Sam 154, 156–157, 179, 233 Ludwig XVIII. 245 Mazur, Barry 224–225, 233, 276–277, 280, 287 Medon, Bernard 60 Mersenne, Marin 62–64 Milner-Barry, Stuart 189 Milon 33, 50–51 Mirimanoff, Dimitri 191 Miyaoka, Yoichi 265–268, 284, 296 Montucla, Jean-Etienne 130 Moore, L. T. 68 Motel, Stéphanie-Félicie Poterine du 255, 257, 259 Mozans, H. J. 137 Napoleon I. 139, 245 Neumann, John von 173, 181 Newton, Isaac 41, 68, 100, 116, 129–130 Nixon, Richard 68 Noether, Emmy 127 Olbers, Heinrich 132 Omar I. 79, 81 Paganini, Nicolò 84 Pascal, Blaise 62, 64–65, 67 Penrose, Roger 210 Pernety, Joseph-Marie 134 Phalaerus, Demetrius 69–70

Pinch, Richard 294 Platon 38, 126 Poges, Arthur 59, 94 Poincaré, Jules Henri 213 Polycrates 32 Ptolemaios I. 69 Pythagoras 31–44, 47, 49–51, 55, 69–71, 74–75, 80, 82, 125 Pythagoras, Schüler des Pythagoras 32 Ramanujan, Srinivasa 27 Raspail, François 254–255 Reidemeister, Kurt 158 Ribenboim, Paulo 160 Ribet, Ken 233–235, 237, 241–242, 278, 280–282, 291, 297 Richelieu 61 Riemann, Bernhard 93 Rivest, Ronald 122 Roberval, Giles Persone de 62 Rossi, Hugo 68 Rubin, Karl 279–280, 308 Russell, Bertrand 45, 65, 162, 166, 169, 171, 173 Sarnak, Peter 294, 301 Schlichting, F. 161 Shamir, Adi 122 Shimura, Goro 205, 207–208, 212, 215, 219, 222–223, 284 Silverman, Bob 293 Skewes, S. 194 Sokrates 126 Somerville, Mary 130 Stewart, Ian 162 Stølum, Hans-Henrik 40 Suzuki, Misako 220–221 Taniyama, Yutaka 205, 207–208, 212, 215, 217, 219, 221–222, 284 Tartaglia, Niccolò 62

Taylor, Richard 294, 301, 304–305 Weyl, Hermann 164 Thales 49 Whitehead, Alfred North 171 Theano 33, 125 Wiles, Andrew 26, 28–30, 42, 53, Theodosius I. 78 55–57, 86, 97–98, 145, 180, Theon von Alexandria 76 194–195, 199, 202–203, 215, Theophilus 78, 81 227, 237, 240–242, 244, 263, Thomson, J. J. 46 265, 270, 272, 275, 281, 284, Titchmarsh, E. C. 181 287–288, 290, 295–296, 301, Turing, Alan 182, 184, 186, 188–190 304 Wiles, Nada 242, 276, 291 Wagstaff, Samuel S. 191 Wolfskehl, Paul 149–151, 279 Wallis, John 60, 64, 85 Weil, André 175, 223 Zagier, Don 266