Falsche Bewegung. Die digitale Wende in den Literatur- und Kulturwissenschaften [1. ed.] 9783835391499, 9783835397460


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German Pages 175 [176] Year 2022

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Inhalt
Einleitung: Falsche Bewegung
1. Die Wege nach Rom. Literaturwissenschaft, Hermeneutik, Quantifizierung
2. Ausnahmen, Normen, Extremfälle, Carlo Ginzburg
3. Simulation dramatischer Netzwerke. Morphologie, Geschichte, Literaturwissenschaft
4. Totentanz. Die Operationalisierung von Aby Warburgs ›Pathosformeln‹ (mit Leonardo Impett)
5. Gut sichtbar verborgen. Datenvisualisierung in den Humanwissenschaften (mit Oleg Sobchzuk)
6. Das Quantitative als Verheißung und Problem. Ein persönlicher Rückblick
Literatur
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Falsche Bewegung. Die digitale Wende in den Literatur- und Kulturwissenschaften [1. ed.]
 9783835391499, 9783835397460

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Falsche Bewegung

Franco Moretti FALSCHE BEWEGUNG Die digitale Wende in den Literaturund Kulturwissenschaften Aus dem Englischen übersetzt von Bettina Engels

Konstanz University Press

Gefördert aus Mitteln der DFG (Leibniz-Preis für Prof. Dr. Juliane Vogel) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Konstanz University Press 2022 www.k-up.de | www.wallstein-verlag.de Konstanz University Press ist ein Imprint der Wallstein Verlag GmbH Vom Verlag gesetzt aus der Chaparral Pro Umschlaggestaltung: Eddy Decembrino isbn (Print) 978-3-8353-9149-9 isbn (E-Book, pdf) 978-3-8353-9746-0

Inhalt

Einleitung Falsche Bewegung 7 1 Die Wege nach Rom Literaturwissenschaft, Hermeneutik, Quantifizierung 13 2 Ausnahmen, Normen, Extremfälle, Carlo Ginzburg 3 Simulation dramatischer Netzwerke Morphologie, Geschichte, Literaturwissenschaft 4 Totentanz Die Operationalisierung von Aby Warburgs Pathosformeln (mit Leonardo Impett) 71 5 Gut sichtbar verborgen Datenvisualisierung in den Humanwissenschaften (mit Oleg Sobchzuk) 111 6 Das Quantitative als Verheißung und Problem Ein persönlicher Rückblick 153 Literatur

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Einleitung: Falsche Bewegung Die Theorie ist das Rückgrat für die Entwicklung einer jeden Wissenschaft. L. L. Cavalli-Sforza und M. W. Feldman¹

Falsche Bewegung*: ein Film von Wim Wenders, aus dem Jahr 1975, nach einem Drehbuch von Peter Handke, das Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre zur Vorlage hat. Wilhelm, der Schriftsteller werden möchte, fährt aus dem norddeutschen Glückstadt Richtung Bonn; aus dem Zugfenster sieht er eine Frau, die ihn anschaut; ein Mann und eine junge, stumme Akrobatin setzen sich zu ihm ins Abteil, später folgen sie ihm in sein Hotel; auch die Frau aus dem Zug, Therese, stößt zu ihnen, und noch ein junger Dichter, der sie alle in das Landhaus seines Onkels einlädt. Sie fahren hin, doch es ist das falsche Haus; der Besitzer heißt sie willkommen, und dann  – während die fünf einen unvergesslichen, langen Spaziergang unternehmen – erhängt er sich. Die Gruppe flieht nach Frankfurt, in Thereses Wohnung, löst sich nach und nach auf, am Schluss ist Wilhelm allein, auf dem Gipfel der Zugspitze. Von einem Ende Deutschlands zum anderen: reichlich viel Bewegung. Die Skepsis des Adjektivs aber ist ebenfalls von Bedeutung. »Es kam mir vor, als hätte ich etwas versäumt«, sinniert Wilhelm in der Schlussszene, »und als versäumte ich immer noch etwas, mit jeder neuen Bewegung«. v  Luigi Luca Cavalli-Sforza / Marcus W. Feldman, Cultural Transmission and Evolution: A Quantitative Approach, Princeton (NJ) 1981, S. V. * Deutsch im Original – so wie alle im Folgenden mit Sternchen gekennzeichneten Begriffe, Anm. d. Ü.

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Als ich vor zwanzig Jahren an Kurven, Karten, Stammbäume arbeitete,² ging ich eine Art Wette ein: Auf einer noch schmalen empirischen Basis vertrat ich die Hypothese, dass Statistik, Geografie und Evolutionstheorie – die im Untertitel genannten »abstrakten Modelle«  – das Studium der Literatur radikal verändern könnten. Im Laufe eines Jahrzehnts folgten dem schmalen Bändchen zwei Sammlungen mit empirischen Forschungsergebnissen; und inzwischen lieferten auch viele andere wissenschaftliche Beiträge zu diesem neuen Feld. Die quantitative Literaturwissenschaft, die als Hypothese begonnen hatte, war in der Zwischenzeit Realität geworden. Allerdings waren die abstrakten Modelle verschwunden, und die Literaturgeschichte hatte sich nicht merklich verändert. Falsche Bewegung. Wie bei allen Roadmovies hatte das Ziel im Vergleich zu allem, was im Laufe der Reise auftauchte, an Bedeutung verloren. Nun ist es an der Zeit, sich zu fragen, ob dabei – bei dem, was die quantitative Wende ursprünglich ausgelöst hat – etwas Wertvolles verloren gegangen ist. Es geht nicht um Nostalgie oder gar um Schuldzuweisung. Es geht darum, zu verstehen. v Auf den folgenden Seiten wird die Diskontinuität zwischen der ursprünglichen Phase und der gegenwärtigen Situation zuweilen als Gegensatz zwischen »der quantitativen Literaturwissenschaft« und »den digitalen Humanwissenschaften« ausgedrückt. Ich muss nicht eigens betonen, dass sich beide in hohem Maße überschneiden. Doch es ist auch zu einer wichtigen Aufspaltung gekommen. Innerhalb der digitalen Humanwissenschaften hat die statistische Komponente eine Präzision gewonnen, die noch vor wenigen Jahren un Franco Moretti, Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte, Frankfurt a. M. 2009.

8 Einleitung

denkbar schien; die Verbindung zur großen theoretischen Tradition des 20.  Jahrhunderts aber, die in der früheren Phase noch vorhanden war, ist mittlerweile abgebrochen. Ein Aspekt der Forschung hat sich verbessert; ein anderer verschlechtert. So werden etwa in einem jüngst erschienenen Artikel die Vor- und Nachteile des »Kosinusabstands«, der »Kullbach-Leibler-Abweichung« sowie »Vorhersagemodelle« für die Kulturanalyse erörtert; das ist großartig; was dem allen aber zugrunde liegt, was dabei fraglos vorausgesetzt wird, ist das Topic Modelling, das Texte einfach wie »Wortsäcke« analysiert und damit alle formalen Konzepte als vollkommen bedeutungslos verwirft.³ Nun ist »Form« nicht irgendein wichtiger Begriff der Literaturwissenschaft; es ist der Begriff, der sie als Fach definiert. Er ist es, der die ästhetische Sphäre als ein Feld der Arbeit kennzeichnet – als einen Eingriff in die historische Realität. Verliert man die Form, so verliert man die wahrhaft soziale Dimension der Literatur und landet stattdessen bei einer langweiligen Betrachtung dessen, was es schon gibt. Und genau das ist mit Topic Modelling, Text Mining, Inhaltsanalyse, Stimmungsanalyse und so weiter geschehen: All diese Untersuchungsverfahren wurden aus Fachgebieten importiert, in denen der Formbegriff keine Rolle spielt und die genau aus diesem Grund sehr wenig zum literarischen Verständnis beitragen konnten. v Datengetrieben: Weniges ist so repräsentativ für das neue Forschungsfeld geworden wie dieser Ausdruck, den es bis 1980 praktisch nicht gab und der heute allgegenwärtig ist –  Ted Underwood / Richard Jean So, »Can We Map Culture?«, in: Journal of Cultural Analytics 6, 3 (2021), S. 32–51; https://doi.org/10.22148/ 001c.24911. Dass einer der Autoren Ted Underwood ist, einer der kreativsten und nüchternsten Wissenschaftler, die auf diesem Gebiet arbeiten, macht die Austreibung der Form nur umso signifikanter.

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vom Ingenieurswesen über die Finanzwissenschaft bis zum storytelling, in Recht, Stadtplanung, Werbung, Human Ressources, Marketing, Schulpädagogik … Es bedeutet zweierlei: dass eine große Datenmenge ein mächtiger Forschungsantrieb sein kann, was richtig ist; und dass sich Forschung selbst von Daten leiten lassen kann, was nicht richtig ist. Wie wir mit Daten arbeiten, ist immer theorieabhängig;⁴ wenn die Theorie fehlt, wird ihre Leerstelle unvermeidlich durch umhergeisternde nebulöse Gemeinplätze besetzt. Und damit kommt man nicht weit. Eine Theorie braucht man also immer. Nur sind nicht alle Theorien von derselben Art. Lange waren für mich die Naturwissenschaften das Vorbild, wie gute Erklärungen der Welt auszusehen haben. »Wenn wir eine Maschine studieren«, schrieb ein Physiker aus dem vergangenen Jahrhundert, so begnügen wir uns nicht damit, über die sichtbaren Teile nachzudenken, obwohl diese die einzigen sind, die für uns Wirklichkeit besitzen, solange wir die Maschine nicht auseinandernehmen können. Gewiß beobachten wir nach besten Kräften diese sichtbaren Bestandteile, aber wir suchen auch eine Ahnung davon zu erlangen, welche verborgenen Getriebe und Organe die sichtbaren Bewegungen erklären könnten. Dieses Ahnen der Existenz oder der Eigenschaften von Gegenständen, welche sich noch außerhalb unseres Wahrnehmungsvermögens befinden, diese Erklärung des komplizierten Sichtbaren durch das Einfache und Unsichtbare, das ist die Form der intuitiven (anschauenden) Intelligenz, […] die [...d]ieses Buch […] zum Gegenstand haben [soll].⁵  Zu einem wahren Feuerwerk gerät die Verbindung von Konzepten, Werkzeugen und Daten in Bruno Latours Artikel »Der Pedologenfaden von Boa Vista. Eine photo-philosophische Montage«, in: Hans-Jörg Rheinberger / Michael Hagner / Bettina Wahrig-Schmidt (Hrsg.), Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997, S. 213–263.  Jean-Baptiste Perrin, Die Atome, Dresden, Leipzig 1914, S. VII.

10 Einleitung

Das Komplexe und Sichtbare durch das Einfache und Unsichtbare erklären. Da haben wir ein gutes Motto für die künftige Arbeit. v Nicht, dass die Dinge immer so einfach wären. Drei der folgenden Aufsätze enden mit der gleichen erstaunlichen Entdeckung: dass zwischen zwei Dimensionen, die für das literarische Wissen gleichermaßen wichtig zu sein schienen – Morphologie und Geschichte in »Simulation dramatischer Netzwerke«, Quantifizierung und Hermeneutik in »Die Wege nach Rom«, Normen und Anomalien in »Ausnahmen, Normen, Extremfälle, Carlo Ginzburg«  – offenbar keine Synthese möglich war. Versuchte ich, das eine zu bestimmen, entglitt mir das andere, und umgekehrt. Es war so, als sei ich in eine vereinfachte Form der Heisenberg’schen Unschärferelation hineingeraten. Dieses Ergebnis überraschte mich jedes Mal; in einigen Fällen stand es in krassem Gegensatz zu meinen ursprünglichen Hoffnungen (und Erwartungen). Sollte sich das weiter bestätigen, würde man auf die theoretische Forschung »eine hübsche Wette abschließen«⁶ können, wie George Eliot – in ihrer unnachahmlichen Mischung aus Ironie und Melancholie – über den angehenden jungen Wissenschaftler in Middlemarch schrieb. Und es wäre nett, die Wette ausnahmsweise einmal zu gewinnen.

 George Eliot, Middlemarch, Zürich 1962, S. 210.

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1 Die Wege nach Rom Literaturwissenschaft, Hermeneutik, Quantifizierung

Wie verhält sich die quantitative Literaturgeschichte der letzten zwanzig Jahre zur älteren hermeneutischen Tradition? Darauf hat es üblicherweise zweierlei Antworten gegeben: Für viele aus dem interpretierenden Lager sind die beiden Ansätze unvereinbar, und der jüngere von beiden besitzt für sie nur geringen oder gar keinen literaturtheoretischen Wert; für die meisten quantitativen Forscher hingegen sind sie absolut vereinbar, ja komplementär. Ich möchte hier eine dritte Möglichkeit in Erwägung ziehen, die sich Schritt für Schritt aus dem Vergleich der beiden Strategien ergeben wird, aus dem Vergleich, wie die beiden Strategien funktionieren – oder im buchstäblichen Sinne arbeiten (work); in der Überzeugung, dass (wie Oleg Sobchuk und ich kürzlich schrieben) »Praktiken – das, was wir beim Tun bzw. durch professionelle Gewohnheit zu tun lernen, ohne uns des Getanen vollkommen bewusst zu sein – oft Implikationen haben, die theoretisch weitreichender sind als theoretische Aussagen selbst«.¹ In jenem Aufsatz bezogen sich die »Praktiken« auf verschiedene Formen der Datenvisualisierung; hier beziehen sie sich auf die Kette mit Franco Moretti / Oleg Sobchuk, »Gut sichtbar verborgen. Datenvisualisierung in den Humanwissenschaften« (2019), in diesem Band, S. 111–152. »Gut sichtbar verborgen« und der vorliegende Aufsatz sind Teil einer Reihe von Studien zur quantitativen Erforschung der Kultur, zu der auch die auf Deutsch in Literatur im Labor (Franco Moretti et al., Konstanz 2017) erschienenen Texte »›Operationalisieren‹ oder die Funktion des Messens in der modernen Literaturwissenschaft« (2013), »Muster und Interpretation« (2016) und »Die vermessene Literatur« (2016) gehören; ebenso wie »Simulation dramatischer Netzwerke« (in diesem Band, S. 47–70).

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einander verknüpfter Entscheidungen, die zusammen eine Erklärungsstrategie bilden. Das Ziel aber bleibt dasselbe: zu verstehen, was ein Forschungsparadigma tut, und nicht so sehr, was es zu tun behauptet. Mit einer Schwierigkeit allerdings: Da sowohl der quantitative als auch – und sogar mehr noch – der hermeneutische Ansatz de facto viele Ansätze sind, die einander oft vehement widersprechen (denn eine lacanianische Interpretation hat nichts mit einer des New Historicism oder des Ecocriticism usw. gemein), werde ich mich, um die Variablen unserer Gleichung zu reduzieren, auf Arbeiten beschränken, an denen ich selbst beteiligt war. Diese Entscheidung ist nun keinesfalls selbstverständlich (bei »Gut sichtbar verborgen«, wofür wir über sechzig Artikel von mehr als hundert Autoren untersucht haben, entschieden wir uns für den gegenteiligen Weg), und ich treffe sie aus zwei verschiedenen Gründen: zunächst einmal, weil vieles von dem nun Folgenden recht kritisch geraten ist und ich es leichter finde, mich selbst zu kritisieren als andere; zweitens, weil es mich in den vergangenen zwanzig Jahren immer wieder erstaunt hat, wie unterschiedlich meine Arbeiten in diesen beiden Registern am Ende ausgefallen sind. In gewissem Maße mussten sie sicher unterschiedlich ausfallen (sonst hätte es überhaupt keinen Sinn gehabt, mehr als eine Methode zu verwenden), doch es hatte auch etwas Unheimliches, wie ich nach und nach von meiner eigenen Arbeit abdriftete; vielleicht nur eine Frage der persönlichen Inkonsistenz, vielleicht ein Zeichen von etwas Größerem mit objektiver Bedeutung für das gesamte Feld.

1 Zuerst zur Hermeneutik. Nick Adams, der Protagonist aus Hemingways Kurzgeschichte »Großer doppelherziger Strom« (1926) bereitet sich darauf vor, fischen zu gehen: 14 Die Wege nach Rom

Nick saß mit der Angel auf den Knien und nahm ihn aus seinem Hakenbuch. Er probierte den Knoten und die Elastizität der Rute aus, indem er die Schnur straff zog. Es fühlte sich richtig an. Er gab acht, daß der Haken ihm nicht in den Finger ging. Er machte sich zum Fluß auf, in der Hand die Angelrute. Um seinen Hals hing die Flasche mit Grashüpfern an einem Riemen, den er mit Schluppen um den Flaschenhals befestigt hatte. Sein Kescher hing an einem Haken an seinem Gürtel. Über seine Schulter hing ein großer Mehlsack, dessen Ecken zu Schweinsohren abgebunden waren. Die Schnur lief über seine Schulter. Der Sack schlug gegen seine Beine. Nick fühlte sich unbeholfen und fachmännisch stolz mit der ganzen Ausrüstung, die an ihm herunterhing. Die Grashüpferflasche schlug gegen seine Brust. Die Brusttaschen seines Hemdes, in denen sein Essen und sein Fliegenbuch steckten, bauschten sich.² Zunächst einmal: Muss man diese Stelle überhaupt interpretieren? Nicht wirklich, sofern »interpretieren« bedeutet, die »Dunkelheit« eines Textes aufzuklären: Hier scheint alles denkbar klar zu sein. Doch ist es das tatsächlich? Die Idee, »daß sich das Verstehen von selbst ergiebt« wie Friedrich Schleiermacher, der Begründer der modernen Hermeneutik, schrieb, ist typisch für die »laxere Praxis« der Auslegung; ihre »strengere« Version hingegen »geht davon aus, daß sich das Mißverstehen von selbst ergiebt und daß Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden« (Hervorh. F. M.).³  Aus: Ernest Hemingway, Die Nick Adams Stories, Reinbek bei Hamburg 1972, S. 192.  Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, »Entwürfe zur Hermeneutik. III. Die kompendienartige Darstellung von 1819«, in: ders., Hermeneutik, nach den Handschriften neu hrsg. u. eingel. von Hans Kimmerle, 2. Auflage, Heidelberg: Winter 1974, S. 73–110, hier: S. 82. Diese Stellen

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Auf jedem Punkt gewollt … Beginnen wir also damit: dass diese Handvoll Sätze zwanzig (im Englischen sogar fünfundzwanzig, Anm. d. Ü.) Präpositionalphrasen enthält (also Wortverbindungen, die mit einer Präposition beginnen: »auf den Knien«, »aus seinem Hakenbuch« und so weiter).⁴ 20 auf 147 Wörter (im Englischen 25 auf 149): eine Menge. werden auch zitiert von Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik. Studienausgabe der Vorlesungen, Band 5, Frankfurt a. M. 1975, S. 164 f. »Fraglich ist«, wie Szondi in seinem Buch an früherer Stelle in Bezug auf eine weitere Gründungsfigur der Hermeneutik, den evangelischen Theologen und Historiker Johann Martin Chladenius, richtigerweise feststellt, »ob nur die Dunkelheit Gegenstand der Auslegung sein kann«. Vgl. Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 44.  Nick saß mit der Angel / auf den Knien und nahm ihn aus seinem Hakenbuch. Er probierte den Knoten und die Elastizität der Rute [of the rod] aus, indem er die Schnur straff zog. Es fühlte sich richtig an. Er gab acht, daß der Haken ihm nicht in den Finger ging. Er machte sich zum Fluß auf, in der Hand die Angelrute. Um seinen Hals hing die Flasche mit Grashüpfern / an einem Riemen, den er mit Schluppen / um den Flaschenhals [around the neck / of the bottle] befestigt hatte. Sein Kescher hing an einem Haken / an seinem Gürtel. Über seine Schulter hing ein großer Mehlsack, dessen Ecken [at each corner] zu Schweinsohren [into an ear] abgebunden waren. Die Schnur lief über seine Schulter. Der Sack schlug gegen seine Beine. Nick fühlte sich unbeholfen und fachmännisch stolz mit der ganzen Ausrüstung, die an ihm herunterhing. Die Grashüpferflasche schlug gegen seine Brust. Die Brusttaschen seines Hemdes [in his shirt the breast pockets], in denen sein Essen und sein Fliegenbuch steckten, bauschten sich [bulged against him].« »Nick took it from his hook book, sitting with the rod / across his lap. He tested the knot and the spring of the rod by pulling the line taut. It was a good feeling. He was careful not to let the hook bite into his finger. He started down to the stream, holding his rod, the bottle of grasshoppers hung from his neck / by a thong tied in half hitches / around the neck / of the bottle. His landing net hung by a hook / from his belt. / Over his shoulder was a long flour sack tied at each corner / into an ear. The cord went over his shoulder. The sack flapped against his legs. Nick felt awkward and professionally happy with all his equipment hanging from him. The grasshopper bottle swung against his chest. In his shirt the breast pockets bulged against him / with his lunch and his fly book«. Siehe Ernest Hemingway, »Big Two-Hearted River«, in: ders., The Nick Adams Stories, New York 1981, S. 190.

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Doch sind sie da, weil sie für die Geschichte eine wesentliche Funktion erfüllen: um disparate Elemente aller Art aneinander zu kleben. Um seinen Hals hing die Flasche mit Grashüpfern / an einem Riemen, den er mit Schluppen / um den Flaschenhals befestigt hatte.« Wie ein Schweizer Taschenmesser: eine unglaublich komprimierte und wohlorganisierte Welt. Eine Welt aus Dingen: Mit der Axt spaltete er ein helles Kiefernscheit von einem der Stümpfe ab und schnitt daraus Pflöcke für sein Zelt. Er brauchte lange, starke, die fest in der Erde staken. […] Er pflöckte die Seiten straff aus und schlug die Pflöcke mit der flachen Axt tief in den Boden, bis die Seilschlingen mit Erde bedeckt waren und die Plane stramm wie ein Trommelfell war.⁵ Eine Welt aus Dingen, aber nicht nur. Nick brauchte Pflöcke »für sein Zelt«, und zwar »lange, starke, die fest in der Erde staken« (»long and solid to hold the ground«), ferner schlägt er sie, »bis die Seilschlingen mit Erde bedeckt waren«. Alles ist ausgesprochen zweckdienlich: getan, um etwas anderes zu tun. »Knowhow« (oder »Können«) nennt Gilbert Ryle diese Ketten geräuschlos ineinandergreifender Bewegungen.⁶ Nick »spaltete […] ein helles Kiefernscheit […] und schnitt daraus«; er »zog das Zelt […] vom Boden hoch und band es an der zweiten Kiefer fest«. Immer in aller Ruhe, immer effizient. Aber: Das ist eine Geschichte. Ist Ruhe nicht das Gegenteil dessen, was eine Geschichte verlangt?  Hemingway, Die Nick Adams Stories, S. 185. »With the ax he slit off a bright slab of pine from one of the stumps and split it into pegs for the tent. He wanted them long and solid to hold the ground. […] He pegged the sides out taut and drove the pegs deep hitting them down into the ground with the flat of the ax until the rope loops were buried and the canvas was drum tight.« Hemingway, The Nick Adams Stories, S. 183.  Vgl. Gilbert Ryle, »Können und Wissen«, in: ders., Der Begriff des Geistes, Stuttgart 1969, S. 26–77.

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Das stimmt. Doch Hemingway schrieb unter sehr speziellen historischen Bedingungen. In der Regel greifen wir zu Geschichten, weil in unserem Leben nicht genug passiert; wenn nun aber das Schlüsselerlebnis einer ganzen Generation der Erste Weltkrieg gewesen ist? Dann ist viel zu viel passiert: So entsteht der Wunsch nach einer anderen Form des Erzählens, bei der Ruhe eine Rolle spielt. In der Kriegsliteratur, so beobachtete Eric Leed, geht es um »Menschen, die in der Regel wenig oder gar keine Kontrolle über die ihr Leben bedrohenden Ereignisse hatten«.⁷ Keine Kontrolle: Das ist das Entscheidende. In Hemingways Stil geht es dauernd um Kontrolle: von Raum, Zeit, Gesten, Worten. »Nick fühlte sich unbeholfen und fachmännisch stolz mit der ganzen Ausrüstung, die an ihm herunterhing«: Es ist der Schnappschuss eines jungen Soldaten – vor dem Krieg. Und dasselbe gilt für seinen Marsch durch die Wälder, seine Erkundung des Geländes, sein Zelt, sein Lager  – er ernährt sich auf der Reise sogar von Konserven. Auch wenn er nicht Krieg »spielt«, so reinszeniert er ihn doch. Schreibt ihn um. Das Leben im Schützengraben war ein ständiges Wechselbad zwischen Eintönigkeit und Grauen; tagelang ereignete sich nichts, und dann die Apokalypse. Hemingways Prosa ist nie langweilig und nie furchteinflößend; steril und bedächtig, der ideale Stil für die Rekonvaleszenz (drei Jahre später die zentrale – und glücklichste – Episode in seinem ersten großen Erfolgsroman In einem anderen Land). Es ist Kriegsliteratur in dem Sinne, dass sie sich vom Krieg erholen oder – um eine Metapher aus Lukács’ Theorie des Romans zu verfremden – die Grunddissonanz der historischen Erfahrung auflösen will.⁸ Dazu später mehr.

 Eric J. Leed, No Man’s Land, Cambridge 1981, S. 33.  Vgl. Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik [1920], Berlin, Neuwied 1971, S. 52.

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2 Von wenigen Sätzen einer einzigen Kurzgeschichte zur offensichtlichsten Neuerung des quantitativen Ansatzes: seiner Ausweitung der Literaturgeschichte weit über den Bereich des schmalen Kanons bedeutender Werke hinaus. Früher griff sich ein Literaturwissenschaftler einen Text heraus  – Don Quichotte, Robinson Crusoe, Der Idiot  – und baute darauf eine ganze Theorie des Romans. »Typologisches Denken« nannte es der Evolutionsbiologe Ernst Mayr: »Tristram Shandy ist der typischste Roman der gesamten Weltliteratur«, schrieb Viktor Šklovskij in Theorie der Prosa.⁹ In Anbetracht des Schwarms englischer Romane aus dem 19.  Jahrhundert (Abbildung 1) allerdings führt typologisches Denken nicht weiter: Hier muss man über eine ganze »Population« von Romanen Rechenschaft ablegen. In diesem Fall keine sehr große Population  – bestehend aus 1117 Individuen, um genau zu sein –, und doch lässt sie sich nicht auf einen einzigen Text reduzieren. Der Text: Hier ist die Unstimmigkeit zwischen alt und neu am größten. Er war einmal der Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Forschung; im Diagramm ist er nicht mehr als ein Punkt. Er wurde zu einem Punkt gemacht. Auf diese Größe reduziert, so wie es vor siebzig Jahren im Zuge der großen quantitativen Wende auch den »Ereignissen« ergangen war. Ereignisse waren für die Historiographie früher von ebenso grundlegender Bedeutung wie Texte für die Literaturwissenschaft, und gleichermaßen – wegen ihrer Einzigartigkeit. »Die Haltung des Historikers gleicht […] der des Sammlers«, schrieb Krzysztof Pomian in seiner Rückschau auf die Schule der Annales, »beide tragen seltene, ungewöhnliche Dinge zusammen [und übergehen alles, was banal, alltäglich, normal aussieht …]«. Kaum hatte man aber  Viktor Šklovskij, Theorie der Prosa, Frankfurt a. M. 1966, S. 162; Hervorhebung F. M.

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Gruppe: Kanon Archiv

Median der Type-Token-Relation der 1000-Wort-Sequenzen eines Textes

0.50

0.48

0.46

0.44

0.42

0.40

0.38

0.36

0.34 1795 1800

1805

1810

1815

1820

1825

1830

1835

1840

1845 1850 1855 Erscheinungsdatum

1860

1865

1870

1875

1880

1885

1890

1895

1900

Abbildung 1: Mark Algee-Hewitt / Sarah Allison / Marissa Gemma / Ryan Heuser / Franco Moretti / Hannah Walser, »Kanon / Archiv. Großflächige Dynamiken im literarischen Feld«¹⁰

begonnen, Ereignisse als »Elemente einer Reihe« zu studieren, da verlor ihre Einzigartigkeit an Bedeutung; Ergebnis war schließlich »die entschiedene Entwertung […] der Rolle der [einzelnen, F. M.] Ereignisse«.¹¹ Eine Geschichtsschreibung, die Ereignisse außer Acht lässt: Voilà die quantitative Wende. Eine Kunstgeschichte ohne Namen, schrieb Wölfflin einmal. Eine Literaturgeschichte ohne Texte. Ohne Texte – natürlich in dem Sinne, dass es zu viele von ihnen gibt und sie folglich nicht mehr als Einzelfälle studiert werden können: So wie es in der Tat für die 250 kanonischen  In: Franco Moretti et al., Literatur im Labor. Unter der Leitung von Franco Moretti, Konstanz 2017. Was nun folgt, ist lediglich eine äußerst verkürzte Zusammenfassung des Originals.  Krzysztof Pomian, »Die Geschichte der Strukturen«, in: Jacques Le Goff / Roger Chartier / Jacques Revel (Hrsg.), Die Rückeroberung des historischen Denkens. Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft, Frankfurt a. M. 1990, S. 166–200, hier: S. 175, 177, 187.

20 Die Wege nach Rom

und 850 vergessenen Romane von Abbildung 1 der Fall gewesen ist. Wir wollten wissen, ob sprachlicher Reichtum zum Überleben oder Vergessen eines Romans beiträgt, deshalb unterteilten wir alle Texte in 1000-Wort-Sequenzen und errechneten ihre Type-Token-Relation.¹² Es stellte sich heraus, dass das Segment mit dem höchsten Wert zu Edward Hawkers Arthur Montague: or, An Only Son at Sea (1850) gehörte und das mit dem niedrigsten zu George Eliots Adam Bede (1859).¹³ Dass ein Roman, von dem keiner von uns je gehört hatte, lexikalisch so viel abwechslungsreicher sein sollte als ein  Die Type-Token-Relation ist ein Standardmaß für lexikalische Vielfältigkeit, die das Verhältnis zwischen der Anzahl unterschiedlicher Wörter, die verwendet werden, (Types) und der Anzahl der de facto verwendeten Wörter (Token) beziffert. »Guten Morgen, mein guter Freund« hat vier Types und fünf Token, womit die Type-Token-Relation einen Wert von 4 /5 oder 0,8 hat. »Guten Morgen, Jim, guten Morgen« hat auch fünf Token, aber nur drei Types, daraus ergibt sich eine Type-Token-Relation von 3 /5 oder 0,6.  Hier sind zwei Abschnitte aus jenen Ausreißer-Segmenten, wobei der Hashtag ein Wort anzeigt, das in dem Segment schon einmal vorkam, und das Sternchen ein Wort, das nicht Teil des ursprünglichen, von Ryan Heuser erstellten »Wörterbuchs« der Sprache des englischen Romans war (etwa 230000 Wörter); Heuser hatte das Programm für diesen Teil des Experiments geschrieben. Arthur Montague: »then cut through some acres of refreshing greensward, studded with the oak, walnut, and hawthorn, ascended a knoll, skirted an expansive sheet of water; afterwards entering an avenue of noble elms, always tenanted* by a countless host of cawing* rooks, whose clamorous conclaves* interrupted the stillness that reigned around, and whose visits to adjacent corn-fields* of inviting aspect raised the ire and outcry of the yelling urchins employed to guard them from depredation.« (»überquerte dann ein paar Hektar frischer Grasnarbe, übersät mit Eichen, Walnussbäumen und Weißdorn, erklomm eine Anhöhe, umrundete eine ausgedehnte Wasserfläche, um anschließend in eine Allee stattlicher Ulmen einzubiegen, die stets von einer Schar unzähliger krächzender Saatkrähen bevölkert war, deren lärmende Konklaven die rundum herrschende Stille unterbrachen und deren Ausflüge in die einladend wirkenden angrenzenden Kornfelder den Zorn und das Geschrei

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kanonischer Roman wie der Eliots, war das Gegenteil dessen, was wir erwartet hatten, und so lasen wir die beiden Segmente mit aller Aufmerksamkeit. Hawkers Segment war eine Beschreibung: Das war einsichtig, denn Beschreibungen sind auf Einzelheiten angewiesen, und Einzelheiten erhöhen den lexikalischen Reichtum. Eliots Segment war vollkommen anders: eine junge Frau, die beichtet, wie sie ihr Kind dem Tod überlassen hat, und dieselben Worte immer und immer wieder sagt (und damit den redundantesten Absatz des gesamten Jahrhunderts von sich gibt), so als wäre sie an diese traumatische Szene festgekettet – »ich konnte nicht fortgehn«. Zum damaligen Zeitpunkt lasen wir die anderen Segmente, die die beiden Spitzenreiter an den Enden des Spektrums wie Cluster umgaben (aus Maria Edgeworths Ennui, William Scargills Tales of a Briefless Barrister, Marius der Epikureer von Walter Pater, Mary Christies Lady Laura und Dutzenden anderer), und fühlten uns berechtigt, johlender Rangen hervorriefen, deren Aufgabe es war, letztere vor Plünderungen zu bewahren.«) Edward Hawker, Arthur Montague, or, an Only Son at Sea (1850). Adam Bede: »And I made haste out of the wood, but I could hear it crying all the while; and when I got out into the fields, it was as if I was held fast-- I could n’t* go away, for all I wanted so to go. And I sat against the haystack to watch if anybody ’ud* come: I was very hungry, and I’d only a bit of bread left; but I could n’t* go away.« (»Und ich beeilte mich, aus dem Wald zu kommen, doch ich konnte es die ganze Zeit schreien hören, und als ich auf die Felder hinauskam, da war es, als würde ich festgehalten – ich konnte nicht fortgehn, obwohl ich so gern gehn wollte. Und ich setzte mich an den Heuschober, um aufzupassen, ob jemand käm’; ich war sehr hungrig, und ich hatte nur noch ein Stückchen Brot übrig, doch ich konnte nicht fortgehn.«) George Eliot, Adam Bede (1859), Stuttgart 1987. Dass der niedrigste Punkt des Schaubilds nicht auf das Jahr der Veröffentlichung von Adam Bede (1859) fällt, ist dem Umstand geschuldet, dass die zitierte Stelle zwar das redundanteste aller untersuchten 1000-WortSegmente war, der Roman als ganzer aber – all seine 1000-WortSegmente gemittelt – an Redundanz noch von einem anderen Roman übertroffen wurde.

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den allgemeinen Schluss zu ziehen: Eine hohe Type-TokenRelation korrelierte regelmäßig mit der Prosa des Romanerzählers: schriftlich, analytisch, unpersönlich und nahezu zeitlos; eine niedrige Type-Token-Relation mit der Stimme von Romanfiguren in Momenten großer Gefühlsintensität. So ist es, wenn man Texte als Elemente einer Serie liest: Wir wollten nicht mehr von dem Adam-Bede-Segment zur Darstellung des Kindsmords und seiner Rolle in der viktorianischen Kultur gehen (wie ich es bei Hemingway gemacht hatte); wir wollten von diesem Segment zu vielen anderen Segmenten gehen, um eine Reihe von Begriffspaaren zu konstruieren  – Erzähler / Romanfigur, schriftlich /mündlich, analytisch /gefühlsbetont und so weiter –, mit deren Hilfe sich der Raum narrativer Möglichkeiten kartieren ließe. Idealerweise der gesamte Raum. Das war nicht ganz einfach, wie wir merkten – wir versuchten, uns einen Reim auf die Segmente im Zentrum des Diagramms zu machen, was uns nicht gelang¹⁴ –, doch die Richtung war klar: Wir untersuchten nicht mehr Texte, sondern Serien von Texten. Anders.

3 Zwölf Sätze*; 1100 Romane. Die Interpretation eines Textes; die Vermessung eines Korpus. Und erneut stellt sich die Frage: Wie verhalten sie sich zueinander? Zunächst einmal stellen beide absolut legitime Formen des Wissens dar: Die Breitseiten aus dem interpretierenden  Es gelang uns nicht, weil extreme Fälle wie Arthur Montague oder Adam Bede eine epistemologische Klarheit besitzen, die den durchschnittlichen Fällen fehlt. Ein ähnliches Zusammenspiel zwischen dem Extremen und dem Durchschnittlichen, wobei letzteres hier mit etwas mehr Erfolg analysiert wurde, findet sich in: Mark Algee-Hewitt / Ryan Heuser / Franco Moretti, »Über Absätze. Ebene, Themen und narrative Form«, in: Moretti et al., Literatur im Labor, S. 133–162. * Dreizehn in der deutschen Übersetzung, Anm. d. Ü.

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Lager sind insofern vollkommen unbegründet. Beide legitim – und sogar mit einem Moment der Überschneidung. Mitten im Vermessen war es zu einer Interpretation gekommen: Wir hatten Hawkers »paar Hektar frischer Grasnarbe, übersät mit Eichen, Walnussbäumen und Weißdorn« genommen und sie zur »unpersönlichen, analytischen Prosa des Romanerzählers« erklärt  – mit anderen Worten, sie als solche interpretiert. Umgekehrt war die Deutung von »Großer doppelherziger Strom« durch eine (sehr einfache) Form des Messens in Gang gekommen: Weil Präpositionalphrasen so absurd häufig vorkamen, waren sie mir aufgefallen und hatten, in Anlehnung an Schleiermacher gesagt, »meinem Verstehen eine Intention bzw. Richtung des Wollens gegeben (willed my understanding)«. In gewissem Maße hatte sich jede Methode auf die andere verlassen, was zu jenem »Oszillieren« führte, für das einige Wissenschaftler aus dem quantitativen Feld plädierten: eine Art von Tätigkeit, die »sich zwischen genauen und ›distanten‹ Formen des Lesens hin und her bewegt, um sich einem imaginären begrifflichen Zentrum zu nähern«.¹⁵ Sich hin und her bewegen  … War es das, was hier geschehen war? Ich hatte bei meiner Arbeit über Hemingway bis 25 gezählt – kein Hexenwerk; und doch schien es alles an Messung zu sein, was ich brauchte. Dasselbe bei Adam Bede: Hettys Beichte war für die Deutungsarbeit ein außergewöhnlicher Textabschnitt; wir stellten praktisch nichts mit ihm an, und das wiederum schien alles an Interpretation zu sein, was wir brauchten. Dieser Eindruck entstand,  Andrew Piper, »Novel Devotions: Controversial Reading, Computational Modeling and the Modern Novel«, in: New Literary History 46, 1 (2015), S. 63–98, hier S. 76 f. In ähnlichem Sinne haben Hoyt Long und Richard Jean So »eine Methode des Lesens gefordert, die zwischen humaner und maschineller Deutung oszilliert oder pivotiert, damit sich beide in dem Bemühen des Literaturwissenschaftlers, den Texten Bedeutung zu entnehmen, Feedback geben«. Hoyt Long / Richard Jean So, »Literary Pattern Recognition: Modernism between Close Reading and Machine Learning«, in: Critical Inquiry 42, 2 (2016), S. 235–267, hier: S. 267.

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weil es bei beiden Untersuchungen eine klare Hierarchie zwischen den zwei Methoden gab: Im Falle Hemingways war die Messung das Mittel und die Deutung das Ziel, und bei den 1100 Romanen verhielt es sich gerade umgekehrt. In »Großer, doppelherziger Strom« war das Ziel, zu verstehen, wie eine Geschichte über das Forellenfangen selbst für Leser, denen Forellen herzlich egal sein dürften (die Beliebtheit dieser Kurzgeschichte an amerikanischen Universitäten war legendär), so bedeutsam werden konnte. Es musste darin um noch irgendetwas anderes als nur ums Fischen gehen, und als ich all diese Präpositionalphrasen sah, dachte ich, sie könnten mir vielleicht helfen, dieses Irgendetwas zu entdecken. Ich konzentrierte mich allerdings auf die Grammatik dieser Satzteile: ob es 25 oder 20 oder 30 von ihnen gab, war völlig egal.¹⁶ Andersherum bei Adam Bede; wir maßen Type-Token-Relationen, und diese unausstehlichen Hashtags waren das ideale Zeichen für unsere Prioritäten: Sie zeigten auf den ersten Blick Wiederholungen an; genau das, was wir wollten, auch wenn sie das Lesen zu einem Alptraum machten – nun, um Lesen ging es hier ja auch nicht. So bestand unser nächster Schritt dann nicht von ungefähr aus einer Serie von Zuordnungen der Type-Token-Relation zu abstrakten grammatikalischen Kategorien, die endgültig nichts mehr mit Text, Lesen und Deutung zu tun hatten.¹⁷  Besser gesagt: Es musste, wie immer bei der Stilkritik, genügend viele von ihnen geben, damit sie sichtbar wurden; wie viele genau aber als »genügend« galten, blieb ungewiss. Vgl. im Gegensatz dazu die Genauigkeit, mit der Sarah Allison und Marissa Gemma die Verbindung vom Register der Konversation in der Longman Grammar of Spoken and Written English (mittlere Type-Token-Relation von 30 Prozent) und den 500 Segmenten unseres Korpus mit den niedrigsten Werten herstellten, bei denen die Type-Token-Relation zwischen 27 und 33 Prozent schwankte: Moretti et al., »Kanon / Archiv«, S. 198. In ihren Reflexionen war das Forschungspathos unauflöslich mit einer Genauigkeit verknüpft, die für die hermeneutische Tradition unvorstellbar ist.  Vgl. Abbildung 6.3–6.5 in: »Kanon / Archiv«, S. 205–207.

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Ich werde beschreiben, wie Forschung wirklich funktioniert, sagte ich zu Beginn, und nun sehen Sie, was ich damit meinte: Mit den konkreten Entscheidungen, die in dem Moment, in dem sie getroffen werden, rein »taktisch« zu sein scheinen – Hashtags einfügen, nicht so genau auf die konkrete Zahl der Präpositionen achten, sich historischen Ereignissen zuwenden, eine andere Variable des Korpus messen –, mit diesen scheinbar unwesentlichen Entscheidungen nehmen »strategische« Forschungsprioritäten Gestalt an. Prioritäten und Ausschlüsse: Ja, es gab einen Moment, in dem sich die beiden Methoden überschnitten – und dann war er vergangen. Genauer gesagt, man ließ ihn vergehen. Im Fortgang der Arbeit wurde die Interpretation immer interpretierender und die Quantifizierung immer quantifizierender. Als das theoretische Pendel erst einmal in die eine Richtung ausgeschlagen war, kam es nicht wieder zurück. Von Oszillation konnte hier keine Rede sein, und auch nicht von einem begrifflichen Zentrum. Vielleicht aber wäre doch beides möglich? Weil diese Untersuchungen von Anfang an ein einseitiges Ziel hatten, ordneten sie jeweils die eine Methode der anderen unter. Könnte man nicht eine Studie entwerfen, in der beide genau dasselbe Gewicht hätten? Von einer solcher Studie habe ich noch nie gehört; im Prinzip ist sie natürlich vorstellbar. Wir können Eliots Sätze selbstverständlich so eingehend interpretieren wie die Hemingways oder die genaue Häufigkeit von Präpositionalphrasen in allen amerikanischen Kurzgeschichten der 1920er Jahre auszählen. Nichts hält die beiden Methoden davon ab, Seite an Seite zu arbeiten. Können sie auch miteinander arbeiten? Das ist die Frage. Die Quantifizierung kann der hermeneutischen Tätigkeit neue Gegenstände erschließen, und Interpretationen eignen sich für eine quantitative Überprüfung: So viel wissen wir.¹⁸ Worum es hier aber geht,  Vgl. hierzu meinen Aufsatz »Muster und Interpretation«, in: Moretti

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ist etwas anderes: Es sind die Kategorien der literarischen Analyse. Können quantitative und hermeneutische Kategorien so ineinandergreifen, dass sich die beiden Ansätze dadurch begrifflich vereinigen? Aby Warburgs Pathosformeln*, Jakobsons Neukonzeptualisierung von Poesie und Prosa im Lichte der Aphasie, Bourdieus »Feld«, Roberto Schwarz’ »Schulden« als Schlüssel zur Literaturgeschichte: Eine ganze Reihe gewagter begrifflicher Querverbindungen sind in der Vergangenheit schon zwischen entlegenen Fachdisziplinen geschlagen worden. Warum fällt es diesmal so schwer? Zugegeben, keiner von uns ist ein Warburg oder ein Jakobson. Ist das der einzige Grund?

4 Bestimmte Eigenschaften, so schreibt George Canguilhem in seiner großartigen Untersuchung über die medizinische Epistemologie des 19. Jahrhunderts, gelten als normal, sofern sie durchschnittliche Merkmale sowie die häufigsten der in der Praxis zu beobachtenden Fälle bezeichnen. Aber sie gelten auch deshalb als normal, weil sie als Idealvorstellung jene normative Tätigkeit mit dem Namen Therapie leiten […] der Normalzustand [bezeichnet] sowohl den üblichen wie den Idealzustand der Organe […].¹⁹ Das Normale als das Häufige-Übliche-Durchschnittliche und das Normale als das Ideale-Normative: ein Signifikant und zwei verschiedene Konzepte. Wie verhalten sich et al., Literatur im Labor; Sarah Allison, Reductive Reading: A Syntax of Victorian Moralizing, Baltimore (MD) 2018, bes. S. 19 ff.; sowie Ted Underwood, Distant Horizons, Chicago 2019, passim.  Georges Canguilhem, Das Normale und das Pathologische, Berlin 2013, S. 124 ff.

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quantitative und hermeneutische Kategorien zueinander? Genauso: Erstere sind auf die häufig-durchschnittlichen Aspekte der Literatur ausgerichtet und letztere auf ihre normative Seite. Normativ in dem Sinne, wie es Panofsky vorschwebte, der die Kunst als eine »auf gültige Ergebnisse abzielende, verwirklichende und objektivierende Auseinandersetzung einer formenden Kraft mit einem zu bewältigenden Stoff« bezeichnete.²⁰ Bewältigen*: Historische Stoffe beherrschen, umgestalten, überwinden, indem man sich der Kraft* der ästhetischen Form bedient. Das ist die normative Seite von Kunst und Literatur: Man nimmt das Vorhandene und macht es zu etwas anderem. Und es ist auch das, woran sich die Interpretation abarbeitet oder besser: wogegen sie arbeitet. Gegen – weil die Interpretation immer ein Kampf mit dem Text ist: Sie benötigt diese »definitiven Ergebnisse« und gibt sich die größte Mühe, die Arbeit der Form rückgängig zu machen: sich mit Hilfe ihrer Techniken von dem Text, so wie er ist, wieder zu der ihn umgebenden Welt und zu der »Grunddissonanz«, die er adressiert, zurückzubewegen. In diesem Sinne ist Interpretation ein Verständnis von Literatur, das immer Gefahr läuft, über Literatur hinauszugehen: Wie die Essayisten, die Lukács in Die Seele und die Formen beschreibt, so tun, als äußerten sie sich nur über Bücher, während sie in Wirklichkeit »immer von den letzten Fragen des Lebens« sprechen.²¹ Nicht, dass die Interpretation immer so weit geht. Aber sie kann: Während der quantitative Ansatz es nicht kann. Mit dem einzelnen Text als typischem Gegenstand der Hermeneutik kann das Reverse Engineering empfehlen, auf welchen der zahllosen Aspekte der historischen Wirklichkeit wir uns konzentrieren sollten; die Morphologie  Erwin Panofsky, »Der Begriff des Kunstwollens«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 14, 4 (1920), S. 321–339, hier: S. 339.  George Lukács, Die Seele und die Formen. Essays (1911), Berlin, Neuwied 1971, S. 20.

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fungiert hier als Katalysator für die historische Intuition.²² Mit Hunderten von Texten – oder gar noch mehr – ist das nicht länger möglich, und so wird die »vertikale« Verbindung zwischen Text und Welt durch eine »horizontale« Verbindung zwischen Texten ersetzt, die alle auf derselben Ebene liegen. Hemingways Sätze hatten mich zum Krieg geführt; Eliots Segment zu anderen Segmenten. Es ist erstaunlich, als wie literaturgebunden sich der quantitative Ansatz erwiesen hat. Quantifizierung, gefangen zwischen Büchern. Ein Mangel? Keineswegs. Wenn durch den Wechsel von der Hermeneutik zur Quantifizierung eine Dimension verloren geht, so kommt eine neue hinzu: Bis heute wissen wir fast nichts darüber, wie literarische Systeme funktionieren, und genau dafür schärft die Logik des Messens unseren Blick. In diesem Sinne war das Cluster morphologischer Merkmale, das aus jenen 1000 Punkten hervorging, ein kleiner, aber handfester Schritt in die richtige Richtung: Ein paar Sterne wurden am unendlichen Nachthimmel des literarischen Felds fixiert. Für diese Aufgabe hat sich die hermeneutische Tradition bei all ihrer Kreativität nie interessiert.

 Die Liste wichtiger Phänomene (ganz zu schweigen von den unwichtigeren), die für ein beliebiges Werk der Literatur als »die Welt« gelten könnte, ist praktisch unendlich. Für einen Amerikaner, der sich in den 1920er Jahren in Europa aufhielt, hätten die Schützengräben des Ersten Weltkriegs tatsächlich dazugehört, ebenso allerdings eine sozialistische Revolution, Autos und Flugzeuge, ein Jahrzehnt unerhörter sexueller Freiheit, Bürgerkriege, rationalistische Architektur, das Radio, erstaunliche Experimente in Malerei und Musik, der Beginn der Hyperinflation … Eine einzelne Form reagiert normalerweise nur auf einige dieser Phänomene, die eine Interpretation möglicherweise zu isolieren vermag; mit einem umfangreichen Korpus hingegen multiplizieren sich die formalen Mechanismen in allen Richtungen, und die roten Fäden zwischen Werken und Welt verheddern sich heillos.

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5 Wie verhalten sich Hermeneutik und Quantifizierung zueinander? Als ich meine Untersuchungen für diesen Aufsatz begann, wusste ich noch nicht, wie die Antwort lauten würde. Da ich jetzt seit vielen Jahren mal mit der einen, mal mit der anderen Methode gearbeitet hatte – aber nie mit beiden zugleich  –, träumte ich davon, ein Buch zu schreiben, das irgendeine Form von Synthese präsentieren würde: eine »zukünftige« Literaturtheorie, in der die Begegnung von Mikro und Makro mehr wäre als die Summe ihrer Teile. Dann fing ich an zu beschreiben, was ich tatsächlich gemacht hatte, und der Traum zerplatzte: Die kurzzeitige Überschneidung zwischen den beiden Praktiken, oder die lexikalische Nähe zwischen dem Normativen und dem Häufigen, war für jede Form von echter, belastbarer Synthese eine allzu fragile Grundlage. Vielleicht hätte es mir auch die ganze Zeit klar sein müssen. Die Interpretation transformiert alles, was sie anrührt: »Dies bedeutet das«. Die Quantifizierung ist stolz auf den unbedingten Respekt vor ihren Daten. Es sind entgegengesetzte Impulse. Dionysos, Apollo. Man bedenke, in welcher Beziehung sie zur Form stehen. Die Interpretation bewegt sich zwischen Form und Welt; die Quantifizierung bewegt sich zwischen Form und Form und versucht dabei, die Koordinaten eines noch unerforschten Atlas der Literatur zu bestimmen. Hier ist die Form eine Kraft: eine »Überwindung« historischer Stoffe, der man mit Misstrauen zu begegnen und etwas entgegenzusetzen hat und die letztlich demaskiert werden muss. Dort ist sie ein Produkt, das mit kühlem Kopf zu vermessen und im Rahmen eines vielseitigen Beziehungssystems zu verorten ist. Die Interpretation führt zur Geschichte und ist vom Pathos des Kampfes erfüllt; die Quantifizierung führt zur Morphologie und ist vom Pathos der Entdeckung getragen. Beides große Leidenschaften. Doch zu exklusiv, um ihre Kräfte auf ein gemeinsames Ziel 30 Die Wege nach Rom

hin zu bündeln. Gewiss können sie – das sei noch einmal gesagt  – Seite an Seite arbeiten und dem jeweils anderen Feld neue Forschungsgegenstände erschließen. Doch sie können nicht wechselseitig in ihre jeweilige Arbeit eingreifen. Nacht und Tag; das eine beginnt, das andere vergeht. Immer jagt das eine das andere, nie werden sie eins. Für manche ist das gut genug; für manche sogar mehr als genug; für mich … nicht das, was ich mir erhofft hatte. Doch es gibt eine Logik der literaturtheoretischen Arbeit, und wir sollten versuchen, sie zu verstehen – zu verstehen, was wir eigentlich tun, wenn wir Literatur erforschen –, statt eine Synthese zu beschwören, von der bislang noch niemand etwas gesehen hat. Unterm Strich ist es durchaus legitim, einen so komplizierten Gegenstand wie die Literatur auf zwei unterschiedliche und voneinander vollkommen unabhängige Weisen zu studieren. Zumindest ist das meine Sicht der Dinge. Selbstverständlich kann ich mich irren, und irgendjemand könnte eine gute Synthese finden – morgen. Dann werden die Karten neu gemischt. Bis dahin aber bleibt, wie Arnold Schönberg einmal gesagt hat, der Mittelweg der einzige Weg, der nicht nach Rom führt.

2 Ausnahmen, Normen, Extremfälle, Carlo Ginzburg

Singolarità – die Hypothese der Einmaligkeit Für jeden, der auf dem Feld der quantitativen Kulturgeschichte arbeitet, ist Carlo Ginzburgs – in seiner Ablehnung derartiger Modelle so kompromissloses  – Werk die ideale Herausforderung. »Die italienische Mikrogeschichte«, schrieb er in dem Aufsatz-Manifest »Mikrogeschichte: Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß«, ist »aus dem Widerstand gegen das […] Geschichtsmodell [der Annales] erwachsen […]. Mit Braudel als Rückhalt war eben jenes Mitte der siebziger Jahre zum Höhepunkt des Strukturfunktionalismus erhoben worden«.¹ Der Käse und die Würmer dagegen, Ginzburgs großes Buch über den Müller Menocchio aus dem 16. Jahrhundert, der von der Inquisition verurteilt und hingerichtet wurde, »hat seinen Ursprung in der Leidenschaft für die Anomalie«² und war »einer wissenschaftlichen Erkenntnis der Einmaligkeit [singolarità, F. M.]« verpflichtet, deren Möglichkeit für Braudel ausgeschlossen blieb: »Der fait divers konnte sich allenfalls dadurch rehabilitieren, weil er als repetitiv galt – [als] ›typisch‹«.³ Das Einmalige vs. das Typische. »Wir können [Menocchio] nicht als ›typischen‹ Bauern (im Sinne von ›Durchschnitt‹  Carlo Ginzburg, »Mikrogeschichte: Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß«, in: ders., Faden und Fährten. Wahr, falsch, fiktiv, Berlin 2013, S. 89–112, hier: S. 95.  Carlo Ginzburg, »Nachwort 2019«, in: ders., Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, 8. Aufl., Berlin 2020, S. 187–194, hier: S. 188. Die Zitate aus dem Buch werden im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl in Klammern im Text nachgewiesen.  Ginzburg, »Mikrogeschichte«, S. 92.

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oder ›statistischer Häufigkeit‹) betrachten«, liest man in der Einleitung zu Der Käse und die Würmer, und Ginzburg hebt im gesamten Buch immer wieder Menocchios »außergewöhnliche moralische und intellektuelle Energie«, seine »originelle Verarbeitung«, seine »außergewöhnliche Freiheit« und »unerhörten Behauptungen« hervor. Dieser »außergewöhnliche Prozess«, so bilanziert er, endet »mit einem Urteil, […] das gleichfalls außergewöhnlich war« (S. 16, 58, 87, 105, 139). »Ich habe gesagt, dass […] alles ein Chaos war, nämlich Erd’, Luft, Wasser und Feuer durcheinander«, erklärte Menocchio dem Inquisitor. »Und jener Wirbel wurde also eine Masse, gerade wie man den Käse in der Milch macht, und darinnen wurden Würm’, und das waren die Engel […]. Und unter dieser Zahl von Engeln, da war auch Gott, und der wurde zur selbigen Zeit erschaffen aus jener Masse, und er ward zum Herrn gemacht mit vieren Hauptleut« (S. 30). Unerhörte Behauptungen, wohl wahr. Die Frage ist, wie man über das Außergewöhnliche denkt. Eine wissenschaftliche Erkenntnis der singolarità. Wie gewonnen? »Inwieweit wird man eine Gestalt, die so ungewöhnlich ist wie jener Müller […], als repräsentativ betrachten können?«, fragt sich Ginzburg; »und dann: wofür repräsentativ?« (S. 64). Seine Antwort ist eine ausgefeilte Metaphorik der Tiefe: Durch Menocchios Reden sähen wir, »wie durch einen Erdspalt eine tief unten verlaufende Kulturschicht aufleuchten, die so außergewöhnlich ist, dass sie sich als beinahe unbegreifbar erweist«; »[d]ie Wurzeln jener Aussagen und jener Wünsche haben weit entfernte Quellen in einer unbekannten, fast nicht entschlüsselbaren Schicht entlegener bäuerlicher Traditionen«, »eine Tiefenschicht volkstümlicher Glaubensformen, die grundlegend autonom und unabhängig waren« (S. 97, 19, 14 f.) und so weiter.

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Normen der Form Ich werde am Ende auf diese Formulierungen zurückkommen; wenden wir uns zunächst der Zielscheibe von Ginzburgs Polemik zu  – dem »typischen« Phänomen, im Sinne von »Durchschnitt« oder »statistischer Häufigkeit«, das mit den Annales und anderen Formen der quantitativen Kulturgeschichte im Allgemeinen assoziiert wird. »Die gründliche Lektüre [lettura approfondita, F. M.] einer kleinen Anzahl von Dokumenten«, schreibt er in »Der Inquisitor als Anthropologe«, »kann wesentlich mehr hergeben als eine riesige Menge sich wiederholender Dokumente«.⁴ Eine riesige Menge sich wiederholender Dokumente … nein, das ist nicht der Forschungsgegenstand der quantitativen Kulturwissenschaft. Sie konstruiert Reihen von Dokumenten, das schon, und sie sucht tatsächlich nach Wiederholungen in der Reihe; das bedeutet aber nicht, dass die Dokumente selbst repetitiv wären – es heißt nur, dass man qua Wiederholungen nach irgendeiner Art von Ordnung sucht. Man untersucht 7000 Titel englischer Romane  – wie in einer Studie, die ich selbst durchgeführt habe und die mit einer so extremen Reduktion einherging, dass es fast wie eine Karikatur wirkte:⁵ was gut war, denn die Grundfragen schälen sich heraus, wenn ein Denkmodell zugespitzt wird  – und so stößt man darauf, dass der englische Titel in der Epoche zwischen 1790 und 1850 im »Durchschnitt« »statistischer Häufigkeit« konsistent sechs Wörter lang ist. Die Geschichte ist »nur eine ›kleine spekulative Wissenschaft‹ […], solange es um einzelne Individuen oder um einzelne Ereignisse geht«, sagte Braudel in der Vorlesung, die  Carlo Ginzburg, »Der Inquisitor als Anthropologe« (1986), in: Freibeuter. Vierteljahreszeitschrift zu Kultur und Politik 49 (1991), S. 3–12, hier: S. 11.  Vgl. Franco Moretti, »Style, Inc.: Überlegungen zu 7.000 Titeln (Britische Romane, 1740–1750)«, in: ders., Distant Reading, Konstanz 2016, S. 163–190.

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er vor seinen Mitgefangenen in einem Lager nahe Lübeck hielt, doch »sehr viel rationaler in ihrem Vorgehen und in ihren Ergebnissen, wenn sie von Gruppen handelt und von wiederholten Ereignissen«.⁶ Wiederholungen: Genau das hatte ich gefunden. Nun, was sich in der Literatur wiederholt, ist normalerweise – die Form. Das Reimschema ABBA der ersten Strophe eines Sonetts oder die Abfolge Verbrechen-Indizien-Lösung in klassischen Kriminalromanen.⁷ Die Schwierigkeit besteht darin, dass diese sechs Titel-Wörter nicht dieselbe Art von Ding sind wie ein Reimschema oder ein Handlungsablauf; sie sind ein Messergebnis, definitiv keine Form. Ihre Wiederkehr deutet auf die Existenz eines Musters hin, wahrscheinlich, Muster selbst aber sind flüchtige Objekte, eher Wirkungen als autonome Wirklichkeiten – gewissermaßen die Schatten, die von etwas anderem über die Daten geworfen werden.⁸ Und bei den auf eine einzige Variable reduzierten Titeln sozusagen eindimensionale Schatten. Da es kein Wissen ohne Reduktion gibt, habe ich im Prinzip nichts dagegen, mit einer einzigen Variablen zu arbeiten. Doch eine Form ist immer ein kleines System von Elementen, und wenn wir nur eines von ihnen messen, verschafft uns das zwar ein sehr präzises Wissen über diese eine Variable (sechs Wörter und nicht sieben oder fünf), man weiß  Fernand Braudel, Geschichte als Schlüssel zur Welt. Vorlesungen in deutscher Kriegsgefangenschaft 1941, Stuttgart 2013, S. 42.  Es sind Formen in dem Sinne, dass es keine Rolle spielt, ob dort miei und morrei oder pare und guardare steht; was eine Rolle spielt, ist, dass dieselbe phonetische Gruppe am Ende des ersten und des vierten Verses von Dantes Gedichten wiederkehrt. Entsprechend kann ein flüchtiger Blick oder ein Orangenkern oder ein mit Blut an die Wand geschmiertes Wort ein Indiz sein – drei Beispiele aus Sherlock Holmes; entscheidend ist nicht der Inhalt des Indizes, sondern seine Fähigkeit, Verbrechen und Lösung zu verbinden.  Näheres hierzu in: Franco Moretti et al., »Quantitativer Formalismus. Ein Experiment«, in: ders. et al., Literatur im Labor. Unter der Leitung von Franco Moretti, Konstanz 2017, S. 17–48.

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aber nicht so genau, was das zur Erkenntnis des Ganzen beiträgt. Die mittlere Titellänge war sechs. Ja und? Wissen wir dadurch irgendetwas darüber, wie Titel funktionieren? Nicht wirklich, es sei denn, wir wären in der Lage, eine konzeptuelle Brücke von den Häufigkeiten (die wir herausgefunden haben) zur Form (die wir verloren haben) zu schlagen. Für mich bildete Das Normale und das Pathologische, George Canguilhems Untersuchung zur medizinischen Epistemologie des 19.  Jahrhunderts, diese Brücke. In seinen Reflexionen über die beiden Hauptbedeutungen des Ausdrucks »normal« – normal im Sinne von »weitverbreitet« und normal im Sinne von »gut« – verwies Canguilhem auf folgenden Umstand: »Beim Menschen wäre ein Merkmal nicht normal, weil es häufig ist, sondern es wäre häufig, weil normal, das heißt normativ innerhalb einer bestimmten Lebensweise«.⁹ Ein bestimmter Blutdruck wird nicht für gut befunden, weil ihn eine Menge Menschen haben; eine Menge Menschen haben ihn, weil er für das Überleben in einer gegebenen Population und einem gegebenen Lebenssystem gut ist. Und das gilt auch für die Literatur: Die Häufigkeit eines bestimmten Merkmals hängt von seinem normativen Potential ab: das heißt von seiner Fähigkeit, ein spezifisches Darstellungsproblem zu lösen. Die Literatur ist »Lebensausstattung«, so formulierte Kenneth Burke einmal: Wenn sie eine gute »Strategie für den Umgang mit einer Situation« findet – eine Form, die in der Lage ist, die vorgegebenen Materialien erfolgreich zu organisieren  –, dann kristallisiert sich die Strategie heraus, verwandelt sich in eine implizite Norm und wird fortan immer wieder reproduziert.¹⁰ Die Form wird zur Norm wird zum Häufigen-Durchschnittlichen.  Georges Canguilhem, Das Normale und das Pathologische, Berlin 2013, S. 165.  Kenneth Burke, »Literature as Equipment for Living«, in: ders., The Philosophy of Literary Form, Baton Rouge (LA), S. 293–304 [nicht in der deutschen Ausgabe enthalten, Anm. d. Ü.].

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Es versteht sich von selbst, dass Ausstattungen, Strategien und ästhetische Formen nicht neutral sind: Das Normative stand meist auf Seiten der Macht, und Ian Hacking hat sehr zu recht darauf hingewiesen, dass »das gutartig und steril klingende Wort ›normal‹ zu einem der mächtigsten ideologischen Instrumente des 20. Jahrhunderts geworden ist […]; es bedient sich einer Macht, die so alt ist wie Aristoteles, um den Unterschied zwischen Tatsachen und Werten zu vertuschen, indem es uns einflüstert, dass das Normale auch das Gute und Richtige ist.«¹¹ Wohl wahr, aber es geht mir hier nicht um eine Kritik der Formen – so wichtig sie ist –, sondern um etwas Vorläufiges und Begrenzteres, nämlich um die Frage, ob es dem quantitativen Ansatz in den vergangenen zwanzig Jahre gelungen ist, den Faden aufzunehmen, der Durchschnitt, Norm und Form zu Gliedern einer Kette macht. Für andere kann ich an dieser Stelle nicht sprechen, mir mindestens ist es nicht gelungen. Nicht nur hatte ich keine Ahnung, warum der Sechs-Wort-Titel so lange Zeit so gut funktionierte; ich hatte nicht einmal das Gefühl, dass es da irgendetwas zu verstehen gab. Man ermittelte Durchschnittswerte als Grundlage für die grafische Darstellung historischer Trends  – »Trend« war das Schlüsselwort der quantitativen Literaturwissenschaft  –, aber man analysierte diese Durchschnittswerte nicht weiter. Jetzt wollte ich es natürlich anders machen. Nur – wie? Wie ließ sich eine in ihrer statistischen Asche liegende Form zu neuem Leben erwecken, nachdem sie auf einen einzigen Messwert heruntergebrannt war?

 Ian Hacking, The Taming of Chance, Cambridge (MA) 1990, S. 162 f., 160.

38 Ausnahmen, Normen, Extremfälle

Extremfälle Ginzburg schrieb Der Käse und die Würmer aus Leidenschaft für die Anomalie. In den elf großen quantitativen Studien, an denen ich beteiligt war, taucht das Wort »Anomalie« einmal auf (in Zusammenhang mit Canguilhem) und »Ausnahme« ganze viermal, stets in Wendungen höflichen Abwiegelns (»mit wenigen Ausnahmen«, »war die einzige Ausnahme« und so weiter). Man nimmt die Anomalien zur Kenntnis – schließlich betreibt man empirische Forschung et noblesse oblige  – und macht dann so weiter, als wäre nichts geschehen. Etwas vorsichtiger sind wir mit einem Phänomen umgegangen, das Anomalien und Ausnahmen mindestens auf den ersten Blick ähnelt, nämlich statistische Ausreißer oder, besser gesagt, Extremfälle.¹² Der mittlere Titel im Jahr 1800 war sechs Wörter lang; manche Titel aber hatten eine Länge von sechzig Wörtern – oder von nur einem. Einerseits also: The Adventures of a Speculist, or, A Journey through London, Compiled from Papers […] Exhibiting a Picture of Manners, Fashion etc. etc. (Die Abenteuer eines spekulativen Geistes oder Eine Reise durch London,  Da Fallstudien für Ginzburgs Arbeit mittlerweile immer wichtiger geworden sind, möchte ich hinzufügen, dass das in dem Ausdruck »Extremfälle« steckende Adjektiv »extrem« stärker ist als das Substantiv (»Fälle«), das es bestimmt, und zwar so viel stärker, dass es dessen Kernbedeutung verzerrt. Die Eigentümlichkeit »der Form Kasus« [»Kasus oder Fall«] liegt nun nach André Jolles darin, »daß sie zwar die Frage stellt, aber die Antwort nicht geben kann«, was eine Moral (und auch eine Epistemologie) impliziert, die »verschiedene Normen gegeneinander wägt […] mit beweglichen Wertungen, eine […] balancierende Moral«. (André Jolles, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz [1930], 7. Aufl., Tübingen 1999, S. 179, 191, 198). Beim Fall »wird das Singuläre zum Problem«, ergänzte Paolo Tortones kürzlich, insofern er »einen Konflikt zwischen dem Universellen der Norm und dem Singulären des Gegebenen« begründe (Paolo Tortonese, »Introduction«, in: ders., Le cas médical. Entre norme et exception, Paris 2020, S. 8, 10). Im Extremfall ist die Situation, wie wir noch sehen werden, eine vollkommen andere.

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zusammengetragen in Dokumenten […] welche ein Bild der Sitten, der Mode […] zeichnet […]); andererseits: Indiscretion; Discipline; Fatality; Self-Denial (Indiskretion; Disziplin; Verhängnis; Selbstverleugnung). Zur damaligen Zeit waren diese Titel gewiss ungewöhnlich, es waren aber keine Anomalien. Auch wenn sie weit vom Zentrum der Verteilung entfernt lagen, blieben sie trotz allem Teil eines aus zahlreichen Übergangsformen bestehenden Kontinuums: Also mussten sie wie jeder andere Dateneintrag erklärt werden, und das geschah oft in Form einer »Warnung«, wie wir es nannten: Ausreißer rufen uns in Erinnerung, dass die zentrale Messgröße zwar eine Realität darstellt, aber auch kein getreues Abbild des Ganzen liefert; dass man sich der Tatsache bewusst sein sollte, wie unordentlich die Wirklichkeit ist, usw. All das ist wahr. Weil Extremfälle unsere Aufmerksamkeit auf die Grenzen der Verteilung lenken, so möchte ich dem nur hinzufügen, führen sie in jene Region, in der die Literatur Kräften anderer Art ausgesetzt ist. Warum diese Sechzig-Wort-Titel um 1800? Weil die Lektüre von Romanen in den vorhergehenden Jahrzehnten zu einer Art Kulturkonsum »light« geworden war, und bei einem Titel in Form einer Zusammenfassung ließ sich auf den ersten Blick das Unterhaltungspotential des Buches abschätzen. Hinter dem Ein-Wort-Titel steckte der gegenteilige Imperativ: nicht so sehr ein Anspruch an die Geschichte als an die Moral der Geschichte: Die Forderung nach einer einheitlichen und unveränderlichen Idee, deren ursprüngliche Form stark von der konservativen Reaktion auf die Französischen Revolution geprägt war (Disziplin! Verhängnis! Selbstverleugnung!), betraf eher das Ende als den Handlungsverlauf. Zusammenfassung und Moral: Die Zusammenfassung kann uns in die Adventures of the Speculist  … oder in The Strange Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe, of York, Martiner, Who lived Eight and Twenty Years all alone (Die wunderbare Lebensbeschreibung und Erstaun40 Ausnahmen, Normen, Extremfälle https://doi.org/10.5771/9783835397460

liche Begebenheiten des berühmten Helden Robinson Crusoe, welcher acht und zwanzig Jahr auf einer einsamen Insel lebte, die er nachher bevölkert hat) etc. etc. einführen; die Moral kann die erstarrte »Disziplin« (Discipline) oder die raffinierte »Verführung« (Persuasion) sein; der Inhalt ist veränderlich, was aber gleich bleibt, ist die »Strategie« – mit anderen Worten, die Form –, die von den Extremfällen gewählt wird, um den Lesern einen Roman zu präsentieren. In beiden Fällen ist es eine vollkommen einseitige und damit durchsichtige Strategie. Hierin liegt der epistemische Wert der Extremfälle: Sie sind so klar. Sie servieren uns die Formen auf dem Silbertablett. Noch wichtiger: Sie zeigen, dass die Untersuchung der Formen niemals nur eine Untersuchung der Formen ist, sondern immer auch der sozialen Kräfte, die auf sie wirken und ihnen ihre Gestalt geben. Die Formulierung, die ich in diesem Zusammenhang immer einprägsam fand, stammt nicht von einem Literaturtheoretiker, sondern von D’Arcy Thompson, der in Über Wachstum und Form schrieb: »Die Form eines jeden Teiles von Materie, ob lebend oder tot […], kann also in allen Fällen gleichermassen als Einwirkung von Kraft bezeichnet werden. Kurz, die Form eines Gegenstandes ist ein ›Kräftediagramm‹, zumindest in dem Sinn, dass wir aus ihr die Kräfte beurteilen oder ableiten können, die auf den Gegenstand wirken oder gewirkt haben.«¹³ Aus der Form der Extremfälle schließen wir auf die Kräfte eines sorglosen Konsumismus und eines konservativen Denkens.¹⁴ Und aus dem Durchschnitt? Warum diese Sechs D’Arcy Wentworth Thompson, Über Wachstum und Form, Basel, Stuttgart 1973, S. 32.  Auch wenn sie zur gleichen Reihe gehören, haben entgegengesetzte Extremfälle nicht unbedingt dieselben historischen Koordinaten: In unserem Fall reagiert der Sechzig-Wort-Titel immer noch auf den für das 18. Jahrhundert üblichen Erwartungshorizont, weshalb er der Mehrheit der anderen Fälle ein paar Jahrzehnte »hinterherhinkt«, während die Ein-Wort-Titel ihrer Zeit voraus sind und die Verwandlung des Romans in etwas vorwegnehmen, das »mehr als nur eine Geschichte« ist.

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Wörter-Norm im frühen 19. Jahrhundert? Weil die meisten Leser aller Wahrscheinlichkeit nach sowohl eine Geschichte als auch eine Moral haben wollten und die sechs Wörter eine gute Methode waren, einen Ausgleich zwischen diesen gegenläufigen Kräften zu schaffen  – typischerweise mittels der ungeheuer beliebten Formel »oder /or«: The Monk’s Daughter: or, Hypocrisy Punished (Die Tochter des Mönchs oder Die bestrafte Scheinheiligkeit); Vivonio: or, The Hour of Retribution (Vivonio oder Die Stunde der Vergeltung). Sie waren ein Mittleres, diese sechs Wörter, und auch eine Vermittlung; sie waren ein Mittleres, weil sie eine Vermittlung waren: ein Diagramm symbolischer Kräfte, um die herum sich die Form des Titels herauskristallisierte und dann immer wieder wiederholte.¹⁵ Kraft wird zur Form(el) wird zur Norm wird zum Häufigen-Durchschnittlichen.

fälle sind, mit anderen Worten, ausgezeichnete historische Indikatoren, die Hinweise auf die Entwicklung eines morphologischen Raums in seiner Gesamtheit geben.  Wie im letzten Satz angedeutet, entwickelt sich das Verhältnis zwischen Form und Kraft in zwei unterscheidbaren und doch zusammengehörigen Schritten. In der ersten Phase – die von D’Arcy Thompsons Wendung eingefangen wird – geht die Form aus einem Konflikt zwischen verschiedenen Kräften hervor, dessen Ergebnis unterschiedlich – etwa als Kompromissbildung (Freud), Lösung oder Auflösung (Lukács, Althusser) oder als Vermittlung (Lévi-Strauss) – beschrieben wurde. Der Bildungsroman* als Austragungsort des Konflikts zwischen den im 19. Jahrhundert rivalisierenden Geboten der Individualisierung und der Sozialisierung ist ein gutes Beispiel für diesen ersten Aspekt der Sache. Sobald dann eine Kompromissbildung-Auflösung stattgefunden hat, wird ihre besondere Form wieder zu einer dem historischen Material, das sie gestalten will, gegenüberstehenden Kraft – der Bildungsroman* wird zu einer Vorlage für Generationen von Romanschriftstellern, um politische Konflikte, großstädtischen Aufstiegswillen, ästhetische Ambitionen, Bündnisse zwischen sozialen Klassen u. v. a. darzustellen. In dieser zweiten Version ist die Form nicht mehr das Ergebnis bereits existierender Kräfte, sondern eine Kraft für sich, wie in Warburgs »antichaotischer« Funktion der Kunst oder in Panofskys Kunstwollen*.

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Explosive Mischungen »Folglich kann auch ein Extremfall (und Menocchio ist bestimmt einer) sich als repräsentativ erweisen«, schrieb Ginzburg in der Einleitung zu Der Käse und die Würmer (S. 16). Menocchio  – ein caso limite? Der Ansicht bin ich nicht. Extremfälle mögen oft bizarr sein, sind aber leicht zu verstehen und halten sich im Rahmen eines morphologischen Kontinuums. Menocchios Weltsicht war kompliziert und oft undurchsichtig, und das metaphorische Feld, das Ginzburg für ihre Beschreibung mobilisiert – der »Erdspalt«, die »tief unten verlaufende Kulturschicht […] beinahe unbegreifbar«, »unbekannt«, »fast nicht entschlüsselbar«, »grundlegend autonom«  –, verdeutlicht, wie radikal fremd sie ihrer Umwelt blieb. Dafür spricht schon die Häufigkeit, mit der Ginzburg auf kognitive Metaphern zurückgreift. Zur Erklärung von Extremfällen brauchen wir keine Metaphern. Wir brauchen sie angesichts des Unbekannten – wenn wir versuchen, aus einer echten Anomalie schlau zu werden. Und damit zurück zu Carlo Ginzburgs »Leidenschaft für die Anomalie«. Manchmal klingt er wie Carl Schmitt: »Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall«, lesen wir in Politische Theologie: »Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles«. Für Schmitt aber ist das so, weil in der Ausnahme »die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik [durchbricht]«¹⁶  – und dieser Vitalismus hat mit Ginzburgs Denkweise wirklich nichts gemein. »Die Bedeutung der Anomalien« – schreibt er in der Einleitung zu Hexensabbat, dem Buch, das auf Der Käse und die Würmer folgte, eher als Widerhall auf Benjamins Geschichtsphilosophische Thesen und definitiv nicht auf Carl Schmitt –, »der Risse, die sich manchmal (sehr sel Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922), 11. Aufl., München, Leipzig 2021, S. 21.

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ten) im Belegmaterial öffnen und dessen Geschlossenheit aufbrechen«, habe mit dem Entschluss zu tun, »sich nicht damit [zu] begnügen […], zum abertausendsten Mal die Geschichte aus der Perspektive der Sieger zu schreiben«.¹⁷ Der Käse und die Würmer war das fruchtbare Ergebnis dieses Entschlusses. Alles hatte sich verschworen, der Anomalie des Menocchio für immer den Garaus zu machen: Ginzburgs Arbeit holte ihn ins Leben zurück. Mehr kann historische Forschung nicht leisten. Doch woher rührte Menocchios Einmaligkeit überhaupt? Das entscheidende Element war für Ginzburg, dass »der gedruckte Text des Buches mit der [mündlichen, F. M.] Kultur zusammen[prallte], deren Träger Menocchio war« (S. 65). Zu den Höhepunkten von Der Käse und die Würmer gehören die Schilderungen der Bücher, die Menocchio gelesen hatte, und insbesondere der Art und Weise, wie er sie gelesen hatte – mit einer »angriffslustigen Originalität«, einem Raster, das »gewisse Abschnitte beleuchtete, während es andere verdeckte, und das die Bedeutung eines Wortes zuspitzte, indem es vom Kontext abgesondert wurde« (ebd.). Auf diese Weise hatte Die Welt eines Müllers um 1600 – so der Untertitel des Buches – Gestalt angenommen. Es war eine Welt, weil die »Meinungen, die so aus seinem Hirn geschöpft waren« und die Menocchio dazu trieben, »zunächst bei sich selbst, dann vor den Dorfgenossen, schließlich vor den Richtern zu formulieren« (ebd.), eine kühne, allumfassende Geschlossenheit besaßen. Zugleich bildete »das Aufeinandertreffen von schriftlichem Text und mündlicher Kultur in Menocchios Kopf eine explosive Mischung [miscela explosiva, F. M.]« (S. 88). Miscela: Mischung, Gemisch, Amalgam, Beimischung. Ein wichtiger Unterschied zwischen Kultur- und Naturgeschichte: In der Kultur, insbesondere in der Phantasiearbeit, lassen sich Elemente  Carlo Ginzburg, Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichen Geschichte, Berlin 1990, S. 17.

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vollkommen verschiedener Klassen oder Epochen im Prinzip zusammenfügen – und oft entstehen daraus Anomalien. Zugleich kann sich die Mischung als explosiv erweisen: eine Idee, die in den Jahren von Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen und Schmitts Politischer Theologie in der Luft lag. »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«, wie Ernst Bloch sie in Erbschaft dieser Zeit nannte; Trotzki sprach in Die Geschichte der Russischen Revolution von »ungleicher und kombinierter Entwicklung«. Beide sahen die Koexistenz historischer Zeitlichkeiten in der Tat als explosiv an  – und bei ihnen ging es nur um die unmittelbar benachbarten Realitäten von Ancien Régime und bürgerlicher Gesellschaft. Der historische Bogen in Menocchios Kopf war unvergleichlich viel weiter gespannt. Das war es, was ihn einmalig machte. Anomalien können »die Existenz von Welten, die man sich in herkömmlichen Versionen der Vergangenheit nicht zu träumen vermag, enthüllen und dadurch deren leichtfertiges Hinnehmen in Frage stellen«, so hat es Perry Anderson in seinem Überblick über Ginzburgs Werk zusammengefasst; »dennoch bleibt die logische Frage: Verändert die Anomalie die Regel, bringt die mikrohistorische Entdeckung die makrohistorische Normalität zu Fall? Das ist weniger ausgemacht.«¹⁸ Es ist weniger ausgemacht und, wie Anderson selbst unterstreicht, ist es in den Humanwissenschaften viel unwahrscheinlicher als in den Naturwissenschaften, dass Anomalien zu einem Paradigmenwechsel führen. Doch vielleicht ist das nicht der entscheidende Punkt, vielleicht liegt ihr Wert in Andersons erster Feststellung. Wenn Normen die »zentrale« Strategie eines Systems verkörpern und Extremfälle die Kräfte, die unmittelbar auf das System einwirken, dann bringen Anomalien Kräfte zum Vorschein, die mit ihm grundsätzlich unverbunden sind. Dieser Umstand mag unser Wissen verändern oder auch  Perry Anderson, »The Force of the Anomaly«, in: London Review of Books 34, 8 (26. 4. 2012).

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nicht, in jedem Fall aber stellt er eine kognitive Herausforderung dar. Wenn jemand eine Anomalie entdeckt und sie uns vor Augen hält, dann zeigt diese einfache Tatsache die Grenzen unseres Wissens auf. Und das ist nicht nur eine wichtige Lektion, es ist die Lektion der empirischen Forschung. Ein halber Aufsatz über Der Käse und die Würmer, ein halber über quantitative Geschichtsschreibung. Bilden diese beiden Hälften ein Ganzes – gibt es eine Möglichkeit, Anomalien aus dem quantitativen Bezugsrahmen heraus zu »sehen«? Ich persönlich glaube das nicht: Im statistischen Boden tut sich kein Spalt auf, und die Homogenität der historischen Zeit ist gerade die Existenzbedingung dieses Bodens. Bestimmt könnte man ein kleines Experiment durchführen: ein Korpus von Inquisitionsprozessen aus dem späten sechzehnten Jahrhundert erstellen, Menocchios Prozess einfügen und sehen, ob man die richtigen Variablen findet, um seine singolarità sichtbar zu machen. Ich bin überzeugt, dass das Experiment scheitern würde, denke aber auch, dass ein solches Ergebnis keine wissenschaftliche Niederlage wäre. Heutzutage gibt es so unendlich viel Forschung, die verschiedene Felder und Ansätze miteinander verbindet: Interdisziplinarität ist nicht mehr das skurrile Wagnis von einst, sondern das Mantra der Kulturbürokraten. Es wird also Zeit für einen Kurswechsel. Wenn wir verstehen, warum sich bestimmte Forschungsrichtungen hartnäckig gegenseitig ausschließen, wird uns das weiterbringen als tausend erzwungene Versöhnungen.

3 Simulation dramatischer Netzwerke Morphologie, Geschichte, Literaturwissenschaft

»Alternative Realität« »Ja, interessant«, sagte jemand aus dem Publikum, als ich das erste Mal etwas zu dramatischen Netzwerken vorstellte; »aber als Mathematiker habe ich das Gefühl, dass ich etwas erst verstehe, wenn ich weiß, wie ich es ›machen‹ kann. Also wie machen Sie ein dramatisches Netzwerk? Welche Elemente sind dafür erforderlich, welche Regeln, welche Phasen?« Damals hatte ich keine Ahnung, was ich ihm antworten sollte; in einem Fach wie unserem, in dem die Untersuchungsgegenstände im ausgezeichneten Sinne gegeben sind  – sorgsam, oftmals voller Hochachtung von einer Generation an die nächste weitergegeben –, klang die Idee, Hamlet zu »machen«, halb absurd, halb blasphemisch. Doch das genau ist hier mein Gegenstand: weder die realen Stücke noch gar die Netzwerke, die sich aus ihnen extrahieren lassen, sondern ihre »Simulationen«.¹ Ein Begriff,  Ursprünglich waren Mark Algee-Hewitt, Zephyr Frank, Ryan Heuser und ich selbst an dieser Arbeit beteiligt. Später wurde die Untersuchung grob in zwei Hälften aufgeteilt: Algee-Hewitt, Frank und Heuser (der auf unterschiedliche Weisen das Programm und die statistische Architektur für die Studie entwickelt hatte) verfolgten die experimentelle Seite des Projekts weiter, währen sein Verhältnis zur Literaturtheorie auf den folgenden Seiten untersucht wird. In dieser Hinsicht reiht sich »Simulation dramatischer Netzwerke« in eine Folge von Reflexionen über das Wesen der quantitativen Kulturwissenschaften ein, zu der ebenfalls gehören: »›Operationalisieren‹ oder die Funktion des Messens in der modernen Literaturwissenschaft« (2013), »Die vermessene Literatur« (2016), »Muster und Interpretation« (2017); alle drei auch in: Franco Moretti et al., Literatur im Labor, Konstanz 2017;

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der lange Zeit abwertend klang, in den letzten Jahren aber, wie Evelyn Fox Keller bemerkt hat, »seinen früheren Sinn einer ontologischen Minderwertigkeit, seinen Status eines ›Heuchlers‹ verloren hat und schließlich zu ›einer alternativen Realität‹ geworden ist.«² Eine alternative Realität. Darum geht es bei Simulationen: Mit ihrer Hilfe können wir uns Alternativen ausmalen und fast schon Experimente mit der Wirklichkeit durchführen. Wie, das werden wir noch sehen.

Parameter Die Perser: Die älteste Tragödie, die vollständig überliefert ist (Abbildung 1). Fünf Figuren oder »Knoten«, verbunden durch Verknüpfungen (»Kanten«), deren Breite (»Gewicht«) und Pfeilspitzen der Menge und Richtung des Dialogs proportional sind: Der Bote spricht viel zu Atossa, sehr wenig zum Chor und überhaupt nicht zu Xerxes und Dareios; Dareios spricht mehr zu Atossa als sie zu ihm usw. Das war die Art von Netzwerk, die wir »machen« mussten; und zu Beginn kalkulierten wir mehr oder weniger wie folgt: Lasst uns angesichts der Tatsache, dass der Bote im Stück 19,1 Prozent der Figurenrede äußert, Xerxes 6,1 Prozent usf., das digitale Äquivalent zu einem Würfel mit hundert Seiten entwerfen, bei dem auf 19 Seiten »Bote« steht, auf 6 Seiten »Xerxes« und so weiter für die restlichen Figuren.³ Franco Moretti / Olek Sobchuk, »Gut sichtbar verborgen«, ebenso wie Franco Moretti, »Die Wege nach Rom«; beide im vorliegenden Band, S. 111–152 u. S. 13–31.  Evelyn Fox Keller, »Models, Simulation, and ›Computer Experiments‹«, in: Hans Radder (Hrsg.), The Philosophy of Scientific Experimentation, Pittsburgh (PA) 2003, S. 198–215, hier: S. 202.  Wenn diese Zahlen niedrig erscheinen, so liegt es daran, dass in dem Stück 47 Prozent der Figurenrede vom Chor gesprochen wird und sich wiederum die Hälfte davon – der Chorgesang, angezeigt durch den Kreis, der über den Chor gesetzt wird – an keine konkrete Person richtet. In

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Abbildung 1: Die Perser. Aischylos Die Reduzierung dramatischer Dichtung auf Dialog als Grundlage für dieses Netzwerk und alle anderen wurde in einem früheren Aufsatz diskutiert.⁴ In der Geschichte der dramatischen Dichtung und ihrer Theorie gibt es zahllose entsprechende Äußerungen, angefangen mit D’Aubignacs »parler, c’est agir« aus dem siebzehnten Jahrhundert bis zu Hölderlins »Anmerkungen zur Antigone« einhundert Jahre später (»[d]as griechischtragische Wort ist tödlichfaktisch, weil der Leib, den es ergreifet, wirklich tötet«);⁵ von der »lutte entre personnages parlantes«, von der Eugène Vinaver in Bezug auf Racine sprach, bis zu Peter Szondis Feststellung in seiner Theorie des modernen Dramas: »Von der Möglichkeit des Dialogs hängt die Möglichkeit des Dramas ab«.⁶

späteren Stücken (Hamlet, Macbeth, Nora oder Ein Puppenheim etc.) werden Selbstgespräche ebenfalls durch Kreise angezeigt, obwohl der Umstand, dass sie eine andere Funktion haben als die Chorgesänge, dafür spricht, sie in Zukunft vielleicht besser durch einen anderen optischen Marker zu kennzeichnen.  Franco Moretti, »Netzwerktheorie. Handlungsanalyse« (2011), in: ders., Distant Reading, Konstanz 2016, S. 191–218.  Friedrich Hölderlin, »Anmerkungen zur Antigone«, in: Sophokles, Tragödien. Deutsch von Friedrich Hölderlin, Frankfurt a. M. 1957, S. 249–257, hier: S. 254.  Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas. 1880–1890 (1956), 22. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 19.

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Dann werfen wir den Würfel hundert Mal und schauen, was passiert. Wahrscheinlich hätte der Würfel eine recht gute Annäherung an das Netzwerk der Abbildung 1 produziert, allerdings nur, weil das gewünschte Ergebnis dem ganzen Prozess von Anfang an als Prämisse eingeschrieben gewesen wäre; das Experiment hätte, mit anderen Worten, das Netzwerk der Perser kopiert, ohne irgendetwas zu erklären. Letzteres hingegen war genau, was wir wollten: Aischylos’ Netzwerk reproduzieren, um seine Logik besser zu verstehen. Alles andere wäre sinnlos. Eine alternative Realität sollte die »wirkliche« Realität aufklären, nicht wiederholen. Die Realität gibt es schon: Wir haben keinen Grund, sie zu kopieren, es sei denn, dadurch wird etwas Neues zutage gefördert. Wir legten also den hundertseitigen Würfel beiseite und wandten uns in die entgegengesetzte Richtung: einem Algorithmus zu, der einen einzelnen Austausch nach dem anderen berechnen würde, ohne im Vorfeld auch nur das Geringste darüber zu wissen, wie die endgültige Struktur des Netzwerks aussehen sollte.⁷ Und da Dialog die Grundlage unserer Netzwerke war  – parler, c’est agir  –, beginnt der Algorithmus mit der Auswahl des ersten Sprechers. Am Anfang ist die Wahrscheinlichkeit, ausgewählt zu werden, für alle Figuren gleich groß: Im Falle der Perser liegt sie bei 20 Prozent. Sobald der Algorithmus die einem Würfelwurf  Der Algorithmus wurde mit drei Datenreihen aus dem Stück selbst gefüttert: der Anzahl der Figuren, der Anzahl der Szenen und der Gesamtmenge der Äußerungen. Aber er wusste überhaupt nicht, wer zu wem sprach und wie häufig – also hatte er keine Ahnung von der Gesamtgestalt des Netzwerks. Der Algorithmus generierte dreißig unterschiedliche Netzwerke für jedes Stück; auf dieser Basis wurden die Parameter angepasst und daraus entstand eine neue Reihe von dreißig Netzwerken. Im Laufe des Experiments wurde uns klar, dass die Simulation der in Fußnote 3 erwähnten Chorgesänge und Selbstgespräche sowie des durch die Pfeilspitzen dargestellten Dialogflusses für unser Modell immer noch zu komplex waren; das Gewicht der Kanten allerdings blieb ein zentrales Anliegen der Studie.

50 Simulation dramatischer Netzwerke

entsprechende Operation durchgeführt und einen von ihnen, sagen wir A, ausgewählt hat, kommt unser erster Parameter ins Spiel und gewährt A einen zusätzlichen Wert; wenn man den Parameter beispielsweise auf 1,1 festsetzt, dann werden As ursprüngliche 20 Prozent nun mit 1,1 multipliziert, und bei der nächsten Sprecherauswahl hat A eine minimal größere Chance  – 22 vs. 19 Prozent  – als die anderen vier. Da der Wert des Parameters für die gesamte Simulation festgelegt wird, beeinflussen vergangene Ereignisse zukünftige Ereignisse, und so könnte ein hoher Wert das Netzwerk schnell aus dem Gleichgewicht bringen: Den Parameter zum Beispiel auf 2 festzusetzen hieße, dass A schon in der zweiten Runde mit 40-prozentiger Wahrscheinlichkeit wieder ausgewählt würde, im Gegensatz zur 15-prozentigen Wahrscheinlichkeit der anderen vier Kandidaten. (Die Sache ist in Wirklichkeit noch ein wenig komplizierter, aber im Kern ist das die Idee.) Würde man umgekehrt den Wert verkleinern – von 1,1 auf 1,05 oder 1,01 –, dann bliebe die Wahrscheinlichkeit, ausgewählt zu werden, für alle Figuren mehr oder weniger dieselbe, wodurch ein grundsätzlich einförmiges Netzwerk entstünde. Da dieser erste Parameter bestimmt, wie zentralisiert ein Netzwerk am Ende sein wird, beschlossen wir, ihn »Zentralität« zu nennen, und gingen zum nächsten Schritt über: Nachdem wir einen Sprecher ausgewählt hatten, brauchten wir nun einen Empfänger der ersten Äußerung. Hier kommt unser zweiter Parameter ins Spiel  – »Loyalität«, aufgrund der Tatsache, dass sich jede Figur eines Theaterstücks öfter an bestimmte Figuren als an andere wendet. Und auch hier ist die Wahrscheinlichkeit, von A angesprochen zu werden, für alle möglichen Empfänger ursprünglich gleich groß; sobald das Modell die Würfel geworfen und B ausgewählt hat, ordnet »Loyalität« B einen zusätzlichen Wert zu, der die Wahrscheinlichkeit erhöht, als Empfänger zukünftiger Äußerungen von A ausgewählt zu werden, was wiederum die Verknüpfung zwischen A Morphologie, Geschichte, Literaturwissenschaft

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und B stärker machen würde als die zwischen A und C oder A und D. So wie »Zentralität« die Hierarchie zwischen Knoten gestaltet, so gestaltet »Loyalität« diejenige zwischen Kanten: Der erste Parameter legt fest, dass Hamlet mit größerer Wahrscheinlichkeit sprechen wird als Claudius; der zweite, dass er wahrscheinlicher mit Horatio als mit Laertes sprechen wird. Zusammengenommen steuern sie die strukturelle Ungleichheit, die für die meisten dramatischen Netzwerke kennzeichnend ist. Sind ein Sprecher und ein Empfänger ausgewählt, bestimmt der dritte Parameter – »Reziprozität« – die Wahrscheinlichkeit, dass B auf As Ansprache antwortet. Da die Figuren in den meisten Stücken tatsächlich antworten, wenn sie angesprochen werden, muss die »Reziprozität« mit einem nahe 100 Prozent liegenden Wert beginnen, der allerdings auch schnell auf null fallen können muss, da A und B früher oder später (in der Regel eher früher als später) aufhören müssen, miteinander zu sprechen, damit das Stück weitergehen kann. (Endlose Zwiegespräche, wie zwischen Becketts Wladimir und Estragon, gewinnen ihre Bedeutung gerade aus ihrer Unwahrscheinlichkeit.) Um vom einen Extrem in das andere wechseln zu können, wird »Reziprozität« nicht – wie »Zentralität« und »Loyalität« – starr für die gesamte Simulation festgelegt, sondern immer dann, wenn eine Figur spricht, neu berechnet, und ihr Wert ist umgekehrt proportional zur Anzahl der Figuren auf der Bühne: Wenn A und B allein sind, wird ihr Austausch wahrscheinlich länger dauern als wenn noch andere Figuren in der Szene auftreten, und der Parameter versucht, diesen Umstand zu modellieren – also zu berücksichtigen, dass selbst Wladimir und Estragon in Warten auf Godot ein paar Takte auslassen, wenn Pozzo und Lucky auftauchen. Wir wollten das gesamte Netzwerk ausschließlich auf der Basis individueller Interaktionen simulieren, und die ersten drei Parameter beruhten tatsächlich alle strikt auf 52 Simulation dramatischer Netzwerke

diesem Prinzip. Da »Reziprozität« allerdings von der Anzahl der Figuren abhing, die sich auf der Bühne befinden, war dieser Parameter über den Eins-zu-eins-Rahmen eigentlich schon hinausgegangen, und der letzte Parameter – »Besetzung« – adressierte diesen Umstand direkt. Der Einsatzpunkt für »Besetzung« ist mit der Abklingkurve der »Reziprozität« gegeben: Sobald sie bei null ankommt und der Austausch zwischen A und B beendet ist, muss eine Wahl zwischen drei grundlegenden Möglichkeiten getroffen werden: Eine sich schon auf der Bühne befindende Figur beginnt zu sprechen; jemand, der noch nicht auf der Bühne war, tritt auf und spricht; oder die Szene endet und eine neue beginnt. »Besetzung« kontrolliert diese Möglichkeiten über eine Gleichung, die  – wie die der »Reziprozität« – ein dynamisches Zusammenspiel mit den bereits auf der Bühne befindlichen Figuren impliziert; wenn nur zwei Figuren da sind, ist es normalerweise recht wahrscheinlich, dass eine neue dazukommt (selbst Godot schickt am Ende den Jungen, um mit Wladimir und Estragon zu sprechen); wenn die Szene allerdings immer bevölkerter wird, muss die Wahrscheinlichkeit auf null fallen, weil das Stück andernfalls im Chaos enden würde. »Das Wort ›Morphologie‹ bedeutet Formenlehre«, schrieb Wladimir Propp auf der ersten Seite der Morphologie des Märchens, also »die Lehre von den Bestandteilen […] [sowie] deren Verhältnis zueinander und zum Ganzen«.⁸ Der Versuch, dramatische Netzwerke durch eine Reihe miteinander verbundener Parameter zu »machen«, erforderte in der Tat, darüber nachzudenken, wie sich die Bestandteile zueinander und zum Ganzen verhielten; die Matrix von Tabelle 1 rekapituliert schematisch den ursprünglichen Teil des Experiments.

 Vladimir Propp, Morphologie des Märchens, München 1972, S. 9.

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Beeinflusst Knoten

Beeinflusst Kanten

Konstant

Variabel

Zentralität Loyalität Reziprozität Besetzung

Tabelle 1: Eine Matrix der vier Parameter Wie die Matrix zeigt, wirken Zentralität und Besetzung beide auf Knoten und nicht auf Kanten, allerdings bleibt der Zentralitäts-Wert über den gesamten Handlungsverlauf hinweg konstant und hat folglich eine starke Wirkung auf zentrale Knoten (das heißt auf die Hauptfiguren) – während Besetzung vor allem Auswirkungen auf die Nebenfiguren an den Rändern des Netzwerks hat. Eine Gemeinsamkeit von Loyalität und Reziprozität wiederum ist, dass sie auf Knoten und auf Kanten wirken, während sie sich darin unterscheiden, dass Loyalität auf dem Langzeitgedächtnis des gesamten Handlungsverlaufs beruht und Reziprozität auf dem Kurzzeitgedächtnis der einzelnen Szene. Insofern sie sowohl an der paradigmatischen Ordnung teilhat (die Figuren in wiedererkennbare Gruppen clustert) als auch an der syntagmatischen (die sie in zeitliche Sequenzen kombiniert), entpuppt sich besonders Loyalität als möglicher Grundpfeiler der dramatischen Architektur: in der – als eine Folge des strukturellen Vorrangs des Dialogs – die »Kante« oder das »Figuren-Paar« vielleicht am Ende die individuelle Figur als Grundeinheit ersetzt. Der Frage wird später, im Rahmen der Diskussion um das »Kanten-Gewicht« bei Ibsen und im Hinblick auf Racines »Vertraute und Mitwisser«, noch weiter nachgegangen. Doch für eine Neukonzeption der Tragödientheorie, die hier zur Debatte zu stehen scheint, wird man klarerweise einen eigenen Hauptartikel benötigen.

Netzwerktypen Um die Validität des Modells zu prüfen, wählten wir vier Momente in der Geschichte der tragischen Form: Sophokles, Shakespeare, Racine und Ibsen. Ein gutes Beispiel für den am einfachsten zu simulierenden Typ von Netzwerk – man hält alle Parameter sehr niedrig, und es materialisiert ganz von selbst – ist Alexander der Große (Abbildung 2), eines der frühen Stücke Racines: eine kleine Struktur mit Knoten, die fast alle miteinander verbunden sind, und Kanten von ganz 54 Simulation dramatischer Netzwerke

Abbildung 2: Alexander der Große. Racine

ähnlichem Gewicht: ein nahezu perfektes Gleichgewicht, das sich wahrscheinlich dem – für den französischen Klassizismus typischen – extrem homogenen gesellschaftlichen Universum (drei Könige, eine Königin, die Schwester eines Königs und ein General) des Dramas verdankt. Im nächsten Typ  – Ibsens bürgerlichem Zyklus  – bleiben die Netzwerke immer noch klein und in hohem Maße verknüpft, einige Interaktionen aber (bei denen es auch oft um verbotene Aktivitäten geht) treten sehr viel deutlicher hervor als die anderen: Solness und Hilda in Baumeister Solness (Abbildung 3a), Pastor Manders, Frau Alving und Oswald in Gespenster (Abbildung 3b) oder Noras vier intensive Beziehungen in Nora oder Ein Puppenheim (zu ihrem Mann, einem enttäuschten Liebhaber, einer alten Freundin / Rivalin und einem Erpresser); ein Muster, das sich fast identisch in Hedda Gabler wiederholt (Abbildung 3c). Es ist das auffälligste Alleinstellungsmerkmal dramatischer Netzwerke: Das Gewicht der Kanten ist wichtig. In den Morphologie, Geschichte, Literaturwissenschaft

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Abbildung 3a: Baumeister Solness. Ibsen

Abbildung 3b: Gespenster. Ibsen

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Abbildung 3c: Hedda Gabler. Ibsen

meisten anderen Netzwerk-Typen ist es das nicht: und zwar in einem solchen Maße nicht, dass es eigentlich fast nie berechnet wird. Hier dagegen ist es unentbehrlich: Sprechen heißt Handeln, ja  – und zwar auf bestimmte Figuren hin handeln. Man denkt an Antigone und hat ihre Auseinandersetzung mit Kreon vor Augen; an Othello, wie er Jago zuhört; an Faust, der Gretchen verführt und den Pakt mit Mephisto schließt. Erste Herausforderung für das Modell: Es muss den Wert einiger Parameter erhöhen (hier: der »Loyalität«), um eine gute Annäherung zu schaffen. Dritter Netzwerk-Typus, Shakespeare: wo sich der Umfang dramatisch verändert, von den sechs-bis-zehn Figuren bei Racine und Ibsen⁹ zu den zwanzig, dreißig oder mehr in Macbeth (Abbildung 4a) oder Hamlet (Abbildung 4b). Diese so viel größeren Netzwerke sind zum einen weit weniger verknüpft als die ersten beiden Typen und zum anderen wesentlich unausgewogener. Weniger verknüpft, wie in dem  »Pour Racine, la moyenne du nombre des personnages de ses pièces de la Thébaide à Phèdre est inférieure à huit«. Jacques Scherer, La dramaturgie classique en France, Paris 1959, S. 37.

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Abbildung 4a: Macbeth. Shakespeare

Ausschnitt der Peripherie des Macbeth (Abbildung 5) zu sehen, wo dessen Figuren mit dem Hauptkorpus des Netzwerks durch einen einzigen Faden verbunden sind. Und unausgewogener, wie im Histogramm von Abbildung 6, das zeigt, dass Macbeth fast ein Drittel der Worte des Stücks spricht, während die 23 Figuren am gegenüberliegenden Ende des Spektrums alle zusammen nur halb so viel sagen wie Macbeth allein. Diesmal musste man die »Zentralität« anheben, um ein solches Ungleichgewicht zu simulieren – auch wenn der Versuch (wie tatsächlich bei Macbeth) oft nur von einem partiellen Erfolg gekrönt war. 58 Simulation dramatischer Netzwerke

Abbildung 4b: Hamlet. Shakespeare Komplexe Netzwerke entstehen nicht mit einem Schlag, und synthetische Bilder wie diese vereinfachen unweigerlich die Konstruktion des Handlungssystems – oder, um es unverblümter zu sagen: Sie annullieren seine zeitliche Dimension (einschließlich des Umstands, dass am Ende von Hamlet und Macbeth fast alle Figuren im Zentrum des Netzwerks tot sind). Einige der Gründe für die Einklammerung der dramatischen Zeit werden in meinem Aufsatz »Netzwerktheorie, Handlungsanalyse« (Moretti, Distant Reading, S. 191–218) thematisiert, doch eine ernsthafte Erörterung des Verhältnisses von Synchronie und Diachronie in literarischen Netzwerken bleibt einstweilen Zukunftsmusik.

Abbildung 5: Macbeth. Die Peripherie des dramatischen Netzwerks

Morphologie, Geschichte, Literaturwissenschaft

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Abbildung 6: Macbeth. Shakespeare, Anteil der Dialoge pro Figur Während Kreon und Phädra in Antigone oder in Phädra 40 bis 50 Prozent mehr sprechen als die zweitgesprächigste Figur, steigt die Zahl in Macbeth oder Hamlet auf 150 bis 200 Prozent. Diese sprachliche Unverhältnismäßigkeit erklärt vielleicht, warum so viele von Shakespeares Protagonisten das Werk, in das sie gehören, transzendieren und fast ein Eigenleben zu führen scheinen.

Letzter Typ von Netzwerk, Sophokles’ Ödipus der Tyrann (Abbildung 7a) und Antigone (Abbildung 7b). Der letzte, weil es die seltsame Mischung aus geringer Größe (wie bei Racine und Ibsen) und geringer Dichte (wie bei Shakespeare) am schwersten gemacht hat, diese Stücke zu simulieren: Das Modell ließ Sophokles’ Netzwerke durchgängig als stärker verknüpft erscheinen, als sie es in Wirklichkeit waren.¹⁰ Oder anders gesagt: Es machte Fehler. Und damit kommen wir zum Wesentlichen.

 Soweit ich es beurteilen kann, hat die Literaturwissenschaft der relativ »kargen« Struktur der griechischen Tragödie keine Aufmerksamkeit gewidmet. Externe Beschränkungen wie Mythen oder Legenden oder die extrem begrenzte Anzahl der Darsteller haben sicherlich zu dieser Konfiguration beigetragen; andererseits mag man diese Beschränkungen unhinterfragt gelassen haben, weil die sich daraus ergebende Struktur ideal zu der Face-to-face-Konvention passte, die in der griechischen Tragödie vorherrschend war. Die quantitative Forschung hat das Problem aufgedeckt, seine Lösung aber wird man vermutlich in der historischen Morphologie finden.

60 Simulation dramatischer Netzwerke

Abbildung 7a: Ödipus der Tyrann. Sophokles

Abbildung 7b: Antigone. Sophokles

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»Nahe oder fern stehen« Simulationen; Parameter; Netzwerke; und nun  – Ergebnisse. Nicht alle so wie in der experimentellen Studie später, zumindest aber diese hier: schlechte Ergebnisse. Ergebnisse, die keiner haben will und die man zunächst einmal kleinzureden versucht; ja, das Modell hatte die Tendenz, Sophokles zu stark zu verknüpfen – nicht aber die anderen; es hatte zwar Probleme mit Shakespeares Hauptfiguren, kam aber gut mit dessen Nebenfiguren zurecht. Und so weiter. Man bemerkt, dass irgendetwas nicht stimmt, tut es aber als »lokales« Problem ab, das nicht wirklich gelöst werden muss. Das macht man einmal, zweimal, dreimal  … am Ende aber setzt sich die Realität durch. Für uns war dies mit Ibsens Baumeister Solness der Fall: Während die Parameter auf die für Ibsen typischen Werte festgesetzt wurden, waren die vier Knoten auf der linken Seite von Abbildung 3a mit einer einzigen Verknüpfung zum Netzwerk – vier namenlose Figuren, die erst in den letzten Minuten auf die Bühne kommen – regelmäßig viel stärker in das Netzwerk integriert. Aus irgendeinem Grund traten wir diesmal einen Schritt zurück und fragten uns: Was wollten wir eigentlich von unseren Simulationen? Wenn es eine bessere Annäherung an Baumeister Solness war, dann würden wir natürlich weiterhin die Parameter optimieren und vielleicht sogar ein paar neue hinzufügen müssen. Sicher würde die Simulation dann besser werden, der Preis dafür aber wäre ein komplexeres Modell mit undurchsichtigeren Operationen. Bei einem einfacheren Modell andererseits blieben die Ergebnisse bescheiden, aber seine Logik transparenter. Also: eine bessere Annäherung oder größere Transparenz? In einer idealen Welt – beides. Wenn man sich allerdings entscheiden muss, dann Transparenz. Der Wert alternativer Realitäten besteht darin, dass sie uns dazu bringen, über die Wirklichkeit nachzudenken  – nicht darin, sie zu duplizieren. Die Wirklichkeit existiert bereits: Wir müssen 62 Simulation dramatischer Netzwerke

sie nicht kopieren. Wir brauchen etwas anderes. »[F]ür die historische Arbeit«, schreibt Weber in »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, »erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht, inwieweit also der ökonomische Charakter der Verhältnisse einer bestimmten Stadt als ›stadtwirtschaftlich‹ im begrifflichen Sinne anzusprechen ist«.¹¹ Es ist das Entscheidende: dass das Idealbild [der Realität, Anm. d. Ü.] einer bestimmten Stadt »nahe oder fern stehen« kann – dass das Modell Baumeister Solness »ferner steht« als den Gespenstern –, ist für Weber kein Rückschlag, sondern eine Erkenntnisbedingung. Der Abstand zwischen Begriff und Wirklichkeit  – der variable Abstand zwischen einem einzelnen Begriff und einer pluralen Wirklichkeit – ist unvermeidlich: Wir sollten nicht versuchen, ihn zu beseitigen, sondern sein explanatorisches Potential freizusetzen. Woher kam der Abstand zwischen Ibsens Baumeister Solness und dem Solness des Modells  – und warum war er so viel größer als bei den Gespenstern? Vermutlich weil das Modell sein Netzwerk auf das gründete, was man die »Physiologie« von Ibsens Theaterstücken nennen könnte, die generell nicht vorsah, dass neue Figuren erschaffen und nur für ein paar Minuten eingesetzt werden, so wie es am Ende des Baumeister Solness geschieht. Bei Shakespeare wäre das kein Problem: Mit einer Besetzung von dreißig oder mehr Figuren wurden die »Neben-Nebenfiguren«, wie Alex Woloch sie genannt hat,¹² selbst physiologisch, und dem Modell gelang es, letztere einigermaßen gut zu simulieren. Nicht in Ibsens guter Stube: In einer kleinen Welt, die aus vertrauten Gesichtern und wiederholten Begegnungen besteht, war es  Max Weber, »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis« (1904), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 6. Aufl., Tübingen 1985, S. 146–214, hier: S. 191.  Alex Woloch, The One vs. the Many: Minor Characters and the Space of the Protagonist in the Novel, Princeton (NJ) 2003, S. 116.

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unlogisch, dass jemand einen Satz sagen und anschließend wieder verschwinden sollte. Das Modell war logisch – und es verstand falsch. Oder war es Ibsen, der falsch verstand? (Das Entscheidende an der alternativen Realität ist: nicht die wirkliche Realität zu kopieren, sondern sie zu verfremden.) Neben Baumeister Solness gibt es in den zwölf Stücken, die zwischen 1877 und 1899 entstanden sind, drei weitere Szenen, in denen ungenannte Charaktere vorkommen, die nur einige wenige Worte sprechen: der »Fahnenzug« am Ende der Stützen der Gesellschaft, die versammelten Bürger in Ein Volksfeind und die Abendgesellschaft, mit der Die Wildente beginnt. Alles Szenen nicht nur mit mehreren »Neben-Nebenfiguren«, sondern auch mit einem ausgeprägten Hang zur Melodramatik, der in starkem Kontrast zur dem für Ibsen sonst so typischen nüchtern-analytischen Blick steht. Die quantitative »Divergenz«, die das Fast-Scheitern unserer Simulationen ans Licht brachte, deckte sich, anders gesagt, mit einer rein dramaturgischen Divergenz. Und woher kam diese zweite Divergenz? Ibsens bürgerlicher Zyklus hat ein überaus klares Ziel: die dunkle Seite des modernen Privatlebens einzufangen und ihr, wie es sich für das Theater gehört, eine »öffentliche« Bedeutung zu geben. Doch das ist nicht so einfach. Nehmen wir das Ende von Nora oder Ein Puppenheim, wohl das Meisterwerk des »politischen« Ibsen: eine grandioses J’accuse gegen öffentliche Gewalten wie das Recht, die Erziehung, die Ehe, die Gerechtigkeit usw.; doch ein J’accuse, das sich vollständig innerhalb der vier Wände eines bürgerlichen Salons hält. (Ingmar Bergmans Geniestreich war, die Dissonanz noch weiter zuzuspitzen, indem er die Handlung in Noras Schlafzimmer verlegte). Woher kommt die Abweichung dieser vier Szenen von der Zentralachse des Ibsen’schen Zyklus? Sie ist der Schwierigkeit geschuldet, der modernen Privatsphäre öffentliche Bedeutung zu verleihen, was den Wunsch nach einer einfacheren Lösung auf den Plan ruft: 64 Simulation dramatischer Netzwerke

nach einer Abkürzung: Figuren ohne Eigenleben, ohne Namen oder sogar ohne Körper, die die Öffentlichkeit an sich zu repräsentieren vermögen  – gewissermaßen ohne die Komplexitäten der privaten Dimension. Auch wenn diese Lösung verheißungsvoll aussieht, fügt sie sich doch nie so ganz in Ibsens bürgerliches Universum. Die Szenen sind da, aber sie gehören dort nicht hin. Hat sich das Modell geirrt, oder irrte Ibsen? Racines Andromache (Abbildung 8). Hier wird die Symmetrie von Alexander der Große (Abbildung 2) durch diverse Kanten (Orest-Pylades, Andromache-Cephisa, Pyrrhus-Phoenix, Hermione-Cleone) verkompliziert, die aus dem Netzwerk »herausstehen«, mehr oder weniger so wie jene an den Rändern des Macbeth oder eben des Baumeister Solness. Doch sofern Figuren mit dem restlichen Netzwerk nur durch eine einzige Kante verbunden sind, ist diese bei Shakespeare und Ibsen, wie wir gerade gesehen haben, normalerweise extrem dünn – oft nur ein einziger Satz. Bei Racine hingegen gehören die Kanten zwischen Orest und Pylades oder zwischen Hermione und Cleone zu den stärksten des Stückes. Es entspricht einer wohlbekannten Konvention der tragédie classique, wo die Hauptfiguren oft »Vertrauenspersonen« haben, mit denen sie lange Dialogszenen austragen. In anderen Theatertraditionen gibt es das nicht, weshalb es zunächst schwer zu simulieren war; eine Erhöhung der Loyalitäts- und Reziprozitätsparameter verbesserte dann die Situation. Die eigentliche Lehre aber war nicht der Erfolg der besseren Annäherung an Andromache, sondern die Erkenntnis, wie weit man die Parameter von ihrem üblichen Spektrum entfernen musste, um das zu erreichen. Die Einheit der Variation war Zeichen dafür, wie groß die »Verzerrung« war, die Vertrauenspersonen in die Physiologie der dramatischen Struktur einführten.¹³ (Und tatsächlich hat die  Mit dem Ausdruck »dramatische Physiologie« beziehe ich mich auf zwei verschiedene Schichten, die ineinander verschränkt sind: die Physio-

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Abbildung 8: Andromache. Racine

Beschimpfung von Vertrauenspersonen eine lange Tradition in der Theaterwissenschaft.) Lag das Modell falsch oder Racine? »[I]n jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht«, hatte Weber geschrieben. Das Maß der Abweichung bestimmen: Darum geht es. Die alternative Realität der Simulationen muss nicht jedem Stück gleich »nahe stehen«, vielmehr muss sie den Abstand messbar logie eines bestimmten Autors (wie Ibsen) und die einer tragischen Form an sich. Was im ersteren Falle von Bedeutung ist, ist die Abweichung der Schlussszene des Baumeister Solness von der Norm der Ibsen’schen Netzwerke; im zweiten Fall ist es die Abweichung der Kanten der Vertrauenspersonen vis-à-vis allen anderen Netzwerken des Korpus. Obwohl sich die Bezugsrahmen offensichtlich unterscheiden, bleibt die Logik des Arguments dieselbe.

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und dadurch im Prinzip verstehbar machen. Messbar: weil er sich exakt auf Variationen in den Werten der Parameter zurückverfolgen lässt. Und verstehbar: weil, wie Massimo Paci betont, »das Maß an Abweichung vom Idealtypus zu beobachten« in der historischen Forschung der erste Schritt in Richtung einer »Kausalzuschreibung« ist.¹⁴ Was in einer Struktur am meisten von der Norm abweicht, ist zugleich das, was am dringendsten einer Erklärung bedarf – weil es unseren Erwartungen widerspricht – und was eine Erklärung am ehesten ermöglicht, weil es ein Zeichen dafür ist, dass etwas interveniert hat, um die Abweichung zu verursachen. Es ist eine Spur, ein Hinweis. »Die Form eines jeden Teiles von Materie«, schrieb D’Arcy Thompson in Über Wachstum und Form, ob lebend oder tot […], kann also in allen Fällen gleichermassen als Einwirkung von Kraft bezeichnet werden. Kurz, die Form eines Gegenstandes ist ein »Kräftediagramm«, zumindest in dem Sinn, dass wir aus ihr die Kräfte beurteilen oder ableiten können, die auf den Gegenstand wirken oder gewirkt haben.¹⁵ Historische Kräfte – wie die Nichtübersetzbarkeit von privat und öffentlich bei Ibsen – aus historischen Transformationen abzuleiten, die durch Messungen zutage getreten sind. Formen und Geschichte in harmonischem Einklang. Fast.

»Alle Formen, die man sich theoretisch vorstellen kann« »In einem sehr weiten Bereich der Morphologie«, noch einmal D’Arcy Thompson, »liegt unsere Hauptaufgabe mehr im Vergleich verwandter Formen als in der genauen Defi Massimo Paci, Lezioni di sociologia storica, Bologna 2013, S. 123.  D’Arcy Wentworth Thompson, Über Wachstum und Form, Basel, Stuttgart 1973, S. 32.

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nition einer jeden einzelnen«.¹⁶ Der Vergleich verwandter Formen ist bekanntlich Gegenstand des einzigen in Der Ursprung der Arten aufgenommenen Bildes: das »merkwürdige Diagramm«, wie Darwin es nennt, in dem das Vergehen der Zeit (die Tausenden von Generationen, die entlang der vertikalen Achse eingetragen sind) mit der zunehmenden morphologischen Divergenz (auf der horizontalen Achse) der am unteren Bildrand aufgelisteten Arten korreliert wird (Abbildung 9). Hier sind Morphologie und Geschichte buchstäblich die beiden Dimensionen – x-Achse und y-Achse – desselben Bildes. Es gibt keine Formen ohne Geschichte: Sie sind, was sie sind, weil sie im Laufe der Zeit dazu geworden sind. Das lehrt Darwins Diagramm. Unser Experiment ging andere Wege. Das Modell wurde an der Geschichte der Tragödie getestet, ja, und es gelang ihm zum Teil sogar, ihrer Zickzack-Bewegung zu folgen. Doch das Vergehen der historischen Zeit blieb den Veränderungen der Form äußerlich: In unserer Arbeit gab es kein Äquivalent zu den Tausenden von Generationen bei Darwin. Oder eigentlich noch schlimmer: Es gab ein Äquivalent. Da das Modell dreißig verschiedene Versionen jedes Stücks produzierte, hatten wir damit eine potenzielle »Generation« jedes Werks aus dem Korpus; und da die Parameter angepasst wurden, um bessere Ergebnisse zu erzielen, normalerweise mehrere Generationen. Für uns aber blieb all das lediglich ein Spektrum statistischer Variationen, das wir nie aus einer evolutionären Perspektive betrachteten. Die verschiedenen Versionen nahmen natürlich in der Zeit Gestalt an  – oft unmittelbar vor unseren Augen  –, doch war das ein Paradebeispiel für die »Laborzeit«: eine von der historischen Zeit vollkommen abgekoppelte mechanische Abfolge.¹⁷ Nehmen wir die Sequenz, mit der ich unsere Ergebnisse  Thompson, Über Wachstum und Form, S. 328.  Zur »Laborzeit« vgl. Franco Moretti / Olek Sobchuk, »Gut sichtbar verborgen. Datenvisualisierung in den Humanwissenschaften«, im vorliegenden Band, S. 111–152.

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Abbildung 9: Der Ursprung der Arten. Charles Darwin

präsentiert habe: Racine, Ibsen, Shakespeare, Sophokles: Von einem historischen Standpunkt aus ist das absurd. Das Prinzip zunehmender morphologischer Komplexität, auf dem sie beruhte, war ein Zeichen für die Entkopplung von Formen und Geschichte, nicht für ihre Verbindung. Für eine materialistische Konzeption der Literatur ist eine möglichst enge Verzahnung von Morphologie und Geschichte wohl das wichtigste Ziel. Was war hier geschehen? Das, was bei der Laborarbeit so oft geschieht: Die »Praxis« hatte die Führung übernommen, und diese kleinen Entscheidungen, die halb selbstverständlich und halb unwesentlich zu sein schienen, waren in Wirklichkeit weder das eine noch das andere, sondern kanalisierten letztlich das Nachdenken, setzten seiner Bewegung äußere Grenzen. Mit der Konstruktion des Modells zu beginnen und historische Werke einzuführen, um es zu »testen«, waren Entscheidungen, die sich fast automatisch ergeben hatten; de facto hatten sie eine vollständige Unterordnung der Geschichte unter die Morphologie zur Folge gehabt. Die Morphologie war das Modell, die Hypothese, die Idee; sie war unser Werk; die GeMorphologie, Geschichte, Literaturwissenschaft

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schichte – ein Test. Das (nicht realisierte) Projekt, ein »Periodensystem dramatischer Netzwerke« zu erstellen, wie wir es schließlich nannten, war ein Hinweis darauf, wohin uns die Logik des Experiments getragen hatte: Wenn wir schon von irgendetwas träumen wollten, dann von einer Tabelle aller möglichen morphologischen Ergebnisse  – aller »Formen, die man sich theoretisch vorstellen kann«, um mit D’Arcy Thompson zu sprechen.¹⁸ Aller Formen, unabhängig davon, ob es sie jemals gegeben hat oder nicht. Die morphologische Vorstellungskraft war alles; die historische Wirklichkeit äußerst wenig. Vielleicht lagen wir einfach vollkommen falsch. Dann ist es ganz einfach: Andere werden lesen, schmunzeln und versuchen, unsere Fehler zu vermeiden, und damit ist die Sache erledigt. Vielleicht ist unser Missgeschick symptomatisch für eine objektive Antinomie: wie radikal sich die Morphologie, wenn sie ihrem Dämon folgt  – und was ist Forschung anderes, als dem eigenen Dämon zu folgen? –, aus der Geschichte zurückziehen kann. Ihre Begegnung, alles andere als eine Vorsehung, mag durchaus ein ziemlich unwahrscheinliches Ergebnis sein. Aber doch einen Versuch wert. Was man dafür allerdings brauchen wird, sind Intelligenz, Geduld und eine gute Portion Glück.

 Thompson, Über Wachstum und Form, S. 326.

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4 Totentanz Die Operationalisierung von Aby Warburgs Pathosformeln (mit Leonardo Impett¹)

Mnemosyne Gegenstand dieser Studie ist eines der ehrgeizigsten Projekte der Kunstgeschichte des 20.  Jahrhunderts: Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne, konzipiert im Sommer 1926 – als der »Bilderatlas« erstmals in Warburgs Tagebuch auftaucht  – und drei Jahre später wegen seines überraschenden Todes im Oktober 1929 abgebrochen. Mnemosyne bestand aus einer Reihe großer schwarzer Tafeln, ungefähr 170 mal 140 cm, an denen Schwarz-Weiß-Fotografien von Gemälden, Skulpturen, Buchseiten, Briefmarken, Zeitungsausschnitten, Tarotkarten, Münzen und Bildern anderer Art angepinnt waren (Abbildung 1). Bis zum Schluss änderte Warburg immer wieder die Reihenfolge der Tafeln und die Position der Bilder. Drei Hauptversionen des Atlas sind überliefert: eine von 1928 (die »1–43 Version« mit 682 Bildern), eine aus den frühen Monaten des Jahres 1929 mit 71 Tafeln und 1050 Bildern und diejenige, an der Warburg zur Zeit seines Todes arbeitete, bekannt als die »1–79 Version« mit 63 Tafeln und 971 Bildern. Doch Warburg plante mehr Tafeln – möglicherweise viel mehr² –, und es besteht  Ursprünglich in: New Left Review 107 (2017), S. 2–31; »Pathosformeln« hier und im Folgenden Deutsch im Original, deshalb auch im Deutschen kursiviert, Anm. d. Ü.  In einem seiner letzten Tagebucheinträge, aus dem Oktober 1929, spricht Warburg von einem »Atlas von circa 200 Tafeln«. Siehe Aby Warburg, Tagebuch der kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg. Gesammelte Schriften. Studienausgabe, Siebte Abteilung, Bd. 7, Berlin 2001, S. 543.

Die Operationalisierung von Aby Warburgs Pathosformeln

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Abbildung 1: Bilderatlas Mnemosyne, Tafel 46

kein Zweifel, dass Mnemosyne ein dramatisch unvollendetes und instabiles Studienobjekt ist. »Ninfa«, notierte Warburg am Rand der Tafel und meinte damit die junge Magd, die auf Domenico Ghirlandaios Die Geburt Johannes’ des Täufers einen Korb trägt (drittes Bild in der oberen Reihe der Tafel). Mit ihren 28 Bildern ist diese Tafel fast doppelt so voll wie die Tafeln des Bilderatlas im Durchschnitt, der bei knapp über 15 Bildern liegt. Für Warburg waren die tausend Bilder alle miteinander verbunden, und das Ziel des Atlas bestand darin, die mor72

Totentanz

phologische Ähnlichkeit – durch den Schock einer gigantischen Montage – über die Epochen hinweg sichtbar werden zu lassen. Genau das ist der Atlas: das Aufeinandertreffen von Form und Geschichte. Zwei Begriffe, die normalerweise im Widerspruch zueinander stehen und die Warburg zusammenführen wollte. Wie genau aber sollen wir diese Verbindung verstehen – wie zum Beispiel sollen wir diese Tafeln lesen: von links nach rechts, von oben nach unten, vom Zentrum zur Peripherie?³ Die Größe und Position der einzelnen Bilder variiert, und damit auch ihre Relevanz; den Tafeln sind äußerst lakonische, teils kryptische Bildunterschriften beigegeben; Warburg hat nur wenige, oft stark komprimierte Texte für den Bilderatlas geschrieben  – so dass Gombrich sicherlich nicht falsch lag, als er Mnemosyne in seiner intellektuellen Biographie Warburgs mit »gewissen Formen der Dichtung, die auch aus dem zwanzigsten Jahrhundert vertraut sind«, verglich – er muss dabei etwa an Pounds Cantos oder Eliots Waste Land gedacht haben –, »in denen eine Menge von historischen und literarischen Anspielungen immer neue Schichten von Privatdeutungen sowohl verhüllen wie bloßlegen«.⁴ Ein rätselhaftes Werk also, oft verglichen mit Benjamins Passagenwerk, doch in Wahrheit weitaus schwerer zu fassen. Was sich allerdings wie ein roter Faden durch sein Labyrinth zieht, ist Warburgs größte begriffliche Leistung: die Pathosformel, eine Formel für den Ausdruck von Pathos. Leidenschaft, Emotion, Leid,  »Unklar ist, warum manche Bilder durch ihre relative Größe oder zentrale Position bevorzugt werden«, schreibt beispielsweise Christopher Johnson, »und warum andere durch ihre geringe Größe und marginale Position scheinbar abgewertet werden«. Vgl. Johnson, Memory, Metaphor, and Aby Warburg’s Atlas of Images, Ithaca (NY) 2012, S. IX. In Abbildung 1, zum Beispiel, ist die Magd in der rechten unteren Ecke des dritten Bildes der oberen Reihe das »zentrale« Bild, was für den Betrachter keineswegs offensichtlich ist. Und die Regel ändert sich fortwährend von einer Tafel zur anderen.  Ernst H. Gombrich, Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt a. M. 1981, S. 404.

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Erregung – Pathos ist ein Begriff mit vielen (und vielleicht zu vielen) semantischen Facetten,⁵ obwohl sie alle »Superlative« (Warburgs Wort) des damit verbundenen Gefühls sind. »Die echt antiken Formeln gesteigerten körperlichen oder seelischen Ausdrucks«, so schrieb er in dem Essay über Dürer, in dem er den Begriff einführte;⁶ ein »äußeres Kennzeichen« für den Zustand »erregter oder auch nur innerlich bewegter Menschen«, wie es in seinem Botticelli-Aufsatz heißt.⁷ Ein Bild des Körpers, das zugleich eine besonders intensive Emotion heraufbeschwört. Die Pathosformel ist ein starker Begriff, weil es ihr gelingt, semantische Gegensätze zu verbinden.⁸ Pathos und  »Charakteristisch [für die historische Semantik von ›Pathos‹] ist eine massive Polyvalenz in Begriff und Sache«: Ulrich Port, Pathosformeln. Die Tragödie und die Geschichte exaltierter Affekte (1755–1888), München 2005, S. 23.  Aby Warburg, »Dürer und die italienische Antike (1905)«, in: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der Europäischen Renaissance (1932), Reprint als: Gesammelte Schriften. Studienausgabe, Erste Abteilung, Bd. 1.2, Berlin 1998, S. 443–449, 623–625 (Anhang), hier: S. 447.  Aby Warburg, »Sandro Botticellis ›Geburt der Venus‹ und ›Frühling‹. Eine Untersuchung über die Vorstellungen von der Antike in der italienischen Frührenaissance (1893)«, in: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der Europäischen Renaissance (1932), Reprint als: Gesammelte Schriften. Studienausgabe, Erste Abteilung, Bd. 1.1, Berlin 1998, S. 1–59, 307–328 (Anhang), hier: S. 54. Es gibt eine auffällige Ähnlichkeit zwischen Warburgs Formulierungen und T. S. Eliots berühmter Passage über das »objektive Korrelat« in dessen Aufsatz »Hamlet« (1919): »Der einzige Weg, ein Gefühlserlebnis künstlerisch zu gestalten, besteht im Auffinden einer ›gegenständlichen Entsprechung‹, mit anderen Worten: einer Reihe von Gegenständen, einer Situation, einer Kette von Ereignissen, welche die Formel dieses besonderen Erlebnisses sein sollen, so daß, wenn die äußeren Tatsachen, die sinnlich wahrnehmbar sein müssen, gegeben sind, das Erlebnis unmittelbar hervorgerufen wird.« Vgl. T. S. Eliot, Werke Teil 3: Essays – Teil 2, Literaturkritik, Frankfurt a. M. 1969, S. 98.  Vgl. hierzu insbesondere Salvatore Settis, »Pathos und Ethos, Morphologie und Funktion«, in: Wolfgang Kemp et al. (Hrsg.): Vorträge aus dem Warburg-Haus, Bd. 1, Berlin 1997, S. 39–74. Die Analogie zwischen der

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Formel*: eine plötzliche, überwältigende Kraft – und ein stabiles Muster, das sich im Laufe der Zeit reproduziert, und so das Nachleben* (ein weiteres von Warburgs Schlüsselwörtern) der Antike im frühneuzeitlichen Europa ermöglicht. Die »dynamischen Pathosformeln all’antica [Hervorh. F. M.]«, schreibt Warburg in der »Einleitung« zum Atlas (S. 4 f.), erlangten unter den künstlerischen Konventionen eine »aufdringliche Vorherrschaft«; der Begriff kehrt in den Anmerkungen zu Tafeln 40 (»Kindermord […] Exzess der Pathosformel«, S. 70) und 57 (»Pathosformel bei Dürer«, S. 104) wieder, während Pathos auf unterschiedliche Weise mit den Tafeln 41, 41a, 42, 44, 49, 52, 70 und 73 in Verbindung gebracht wird. Wenn der Atlas ein Zentrum hat, dann ist es die Pathosformel. Zu den Pathosformeln sind viele ausgezeichnete kulturwissenschaftliche Arbeiten verfasst worden; soweit wir wissen, hat aber noch niemand versucht, den Begriff zu »operationalisieren«  – das heißt, ihn in eine Reihe quantifizierbarer Operationen zu zerlegen und dadurch in ein Instrument zu verwandeln, das die Gegenstände, auf die es sich bezieht, tatsächlich misst. Dass die Pathosformel offenbar nicht zu diesem Zweck konzipiert wurde, macht den Versuch natürlich schwieriger, aber auch umso aufschlussreicher: Da uns praktisch alle Grundbegriffe der Kunstgeschichte, der Literaturtheorie, der Ästhetik etc. vor dasselbe Problem stellen, muss die quantitative Erforschung der Kulturgeschichte entweder alle bestehenden Begriffe ignorieinneren Spannung des Warburg’schen Begriffs und Nietzsches Polarität dionysisch /apollinisch ist ebenfalls oft bemerkt worden. Ein jüngeres Beispiel hierfür ist Colleen Becker, »Aby Warburg’s Pathosformel as Methodological Paradigm«, in: Journal of Art Historiography 9 (2013), S. 1–25. In der »Einleitung« zum Atlas hatte Warburg selbst ironisch bemerkt, dass es »keiner revolutionierenden Attitude« mehr bedürfe, »um das Wesen der Antike im Symbol einer Doppel-Herme des ApolloDionysos zu erblicken«. Aby Warburg, Der Bilderatlas MNEMOSYNE, in: Gesammelte Schriften. Studienausgabe, Zweite Abteilung, Bd. 2.1, Berlin 2000, S. 4.

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ren, was eine Barbarei wäre, oder einen Weg finden, sie zum »Messen« der Realität zu verwenden. Die Rede vom »Operationalisieren eines Begriffs« ist allerdings etwas irreführend, denn sie suggeriert, man könne am gesamten Begriff auf einmal arbeiten, während der erste Schritt des Prozesses doch in Wirklichkeit darin besteht, den Begriff aufzubrechen, um herauszufinden, welche seiner Elemente sich sowohl für eine Quantifizierung eignen  – denn darum geht es ja beim Operationalisieren – als auch für die Begriffsarchitektur wesentlich sind.⁹ Man möchte den Kern des Begriffs operationalisieren, nicht irgendeinen äußerlichen Aspekt, der zufälligerweise leicht zu quantifizieren ist. Bevor das Zählen irgendwie beginnt, muss man den Begriff ernsthaft analysieren: ihn auseinandernehmen und sich den Wert seiner verschiedenen Elemente vergegenwärtigen. Und dabei fällt als Erstes auf, wie unausgewogen die Pathosformel ist. Pathos und Formel bilden nicht nur einen semantischen Gegensatz, sie haben auch eine ganz unterschiedliche begriffliche Gewichtung: Pathos ist sehr viel wichtiger als Formel. Warburgs Kreativität beim Schreiben über Ersteres ist außergewöhnlich: In der »Einleitung« zum Atlas, einem sehr kurzen Text von vier oder fünf Seiten, finden wir »orgiastische Hingabe«, »phobische Engramme«, »maximales inneres Ergriffensein«, »leidenschaftliche Erfahrung«, »heidnische Ergriffenheit«, »ungehemmte Entfesselung«, »hilflose Versunkenheit«, »mörderischer Taumel«, »hinreißender Enthusiasmus«, »rauschende und bestechende Eloquenz« – und mehr. Das ist eindeutig eine Vorstellung, die seine Phantasie beflügelt. Formel keineswegs. Wir begannen also mit unserer Arbeit, indem wir den Begriff aufspalteten und nach Möglichkeiten suchten, das Pathos zu »messen«.  Vgl. entsprechend den Versuch, der zur Operationalisierung des Begriffs der »tragischen Kollision« in Hegels Ästhetik unternommen wird in: Franco Moretti, »›Operationalisieren‹ oder die Funktion des Messens in der modernen Literaturwissenschaft«, in: ders. et al., Literatur im Labor, Konstanz 2017, S. 85–102.

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Anatomie des Pathos Ein wenig Sekundärliteratur. Bei Pathosformeln »vermitteln die äußeren Bewegungen des ganzen Körpers […] ein inneres Gefühl«, schreibt David Freedberg: »Schwankende Körper, wild wallende Stoffe und im Wind wehende Haare vermittelten innere Zustände der psychischen Erregung.« Der Begriff »eröffnete der Kunstgeschichte einen Zugang zu einer grundlegenden anthropologischen Dimension  – der Dimension des Symptoms […], [die] hier als Bewegung in Körpern verstanden werden muss«, fügt Georges DidiHuberman hinzu; und Philippe-Alain Michaud in Aby Warburg et l’image en mouvement: »Es ist nicht der unbewegte und wohlbalancierte Körper, der als Vorbild für die Nachahmung der Antike diente, wie die Winckelmann’sche Kunstgeschichte meinte, sondern der dem Spiel überwältigender Kräfte ausgelieferte Körper«. Ein »hysterischer« Körper, folgert Sigrid Schade in einem Artikel, in dem sie eine Patientin Charcots als Person beschreibt, die ein »Alphabet leidenschaftlicher Gesten mit ihrem Körper« aufführt.¹⁰ Bewegungen des ganzen Körpers  … schwankende Körper … hysterischer Körper … der dem Spiel überwältigender Kräfte ausgelieferte Körper … Und das Gesicht? Stille. Merkwürdig. Noch merkwürdiger, wenn man bedenkt, welche Rolle das Gesicht in jenem entscheidenden Text spielt – in Darwins Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei  David Freedberg, »Memory in Art: History and the Neuroscience of Response«, in: Suzanne Nalbantian et al. (Hrsg.), The Memory Process: Neuroscientific and Humanistic Perspectives, Cambridge (MA) 2011, S. 349; Georges Didi-Huberman, »Préface: Savoir-mouvement (l’homme qui parlait aux papillons)«, in: Philippe-Alain Michaud, Aby Warburg et l’image en mouvement. Suivi de Souvenir d’un voyage en pays Pueblo, 1923, [et] Projet de voyage en Amérique, 1927, Paris 2012, S. 16–29, hier: S. 25; PhilippeAlain Michaud, Aby Warburg et l’image en mouvement, S. 31; Sigrid Schade, »Charcot and the Spectacle of the Hysterical Body«, in: Art History 18, 4 (1995), S. 499–517, hier: S. 509.

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dem Menschen und den Tieren: »Endlich ein Buch, das mir hilft«¹¹  –, der Warburg auf dem Weg zur Entwicklung der Pathosformel begegnete. Warburg wird daran arbeiten, wie Bilder innere Gefühle ausdrücken; Darwins Buch enthält 34 Abbildungen von menschlichen Emotionen – und in 32 davon konzentriert sich die Analyse auf das Gesicht.¹² Die »rund um die Augen herum liegenden Muskeln« werden gleich auf der ersten Seite der Einleitung thematisiert; »Augenbrauen«, »Mundwinkel«, »Gesichtsmuskeln«, »Stirnrunzeln« und »Erröten« folgen auf den nächsten Seiten; dass »ich häufig […] die Muskeln des menschlichen Gesichts zu erwähnen haben werde«, kündigt Darwin an – und in der Tat sind die ersten drei Abbildungen des Buches anatomische Zeichnungen dieser Muskeln.¹³ Die Bedeutung von Darwins Buch für Warburgs Werdegang bekräftigend, hat Carlo Ginzburg eine Seite hervorgehoben, die sich insbesondere mit dem »Lachen«, dem »Lächeln«, dem »tränen Der Ausruf »Endlich ein Buch, das mir hilft« wurde erstmals von Gombrich zitiert, ohne Datumsangabe (Aby Warburg, S. 99). In einem Vortrag am Warburg Institute hat Sigrid Weigel 2016 gezeigt, dass der Ausruf in Warburgs Tagebuch erstmals am 26. November 1888 auftauchte – und dann wörtlich in die deutsche Ausgabe von Darwins Text übertragen wurde, die Warburg 36 Jahre später, 1924, mit nach Kreuzlingen nahm.  Die beiden Ausnahmen beziehen sich auf das Gefühl von Ohnmacht, das durch Achselzucken ausgedrückt wird – die wohl schwächste aller Emotionen in diesem Buch. Fotos von Emotionen bei Kindern zeigen oft den ganzen Körper, die Analyse konzentriert sich aber üblicherweise auf die Gesichter, und sogar die Typografie des [englischen] Buches lenkt Leser in die gleiche Richtung: Dort wird auf den Seiten über den »Leidensausdruck« bei Kindern in der Kopfzeile auf das »Weinen« hingewiesen; später ist [auch in der deutschen Ausgabe, Anm. d. Ü.] in Bezug auf Bilder des »Kummers« von der »schrägen Stellung der Augenbrauen« die Rede. Bei den Emotionen Erwachsener zeigen 14 von 19 Bildern nur das Gesicht; der Körper ist nicht einmal zu sehen – geschweige denn bedeutsam. Vgl. Charles Darwin, Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren (1872), Frankfurt a. M. 2000.  Zitiert nach: Darwin, Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren, S. 7, 9 f., 12, 31–33.

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überströmten Gesicht« und dem »raschen Übergang vom Lachen zum Weinen« befasst.¹⁴ Darwin konzentrierte sich »vor allem auf die Mimik«, folgert Philip Fisher in The Vehement Passions – und wir können ihm nur zustimmen.¹⁵ Ein Buch, das mir hilft. Und dann tut Warburg das Gegenteil dessen, was Darwin getan hatte. Nicht aus mangelndem Interesse an der Mimik als solcher: Bildniskunst und florentinisches Bürgertum (1902), mit seiner eindrucksvollen Analyse von sechs Gesichtern, die aus der ›Unterwelt‹ auftauchen, macht dies deutlich. Aber Warburg interessierte die Mimik in Verbindung mit Pathos nicht. Seine Beobachtungen über die »äussere Beweglichkeit« der Haare bei Botticelli als Zeichen »erregter oder auch nur innerlich bewegter Menschen« sind in dieser Hinsicht ideal: Das Haar bringt Pathos so nah wie möglich an das Gesicht heran – heftet es buchstäblich ans Gesicht  – ohne es tatsächlich einzubeziehen.¹⁶ Diese Vermeidung hat etwas Extremes, das Wichtigste aber ist, dass Warburg recht hatte: Durch die Fokussierung auf den Körper statt auf das Gesicht betonte er die Diskontinuität zwischen seinem Pathos und Darwins Gemütsbewegungen. Die Bedeutung von Pathos und dessen Beziehung zum modernen Begriff der Emotionen sind natürlich Fragen von größter Wichtigkeit; aber Pathos ist, grob gesagt, zu gewaltig, um durch die notwendigerweise sehr subtilen  Carlo Ginzburg, »Le forbici di Warburg«, in: Maria Luisa Catoni (Hrsg.), Tre figure: Achille, Meleagro, Cristo, Mailand: Feltrinelli 2013, S. 116.  Philip Fisher, The Vehement Passions, Princeton 2002, S. 23.  »Die äussere Beweglichkeit des willenlosen Beiwerks, der Gewandung und der Haare«, schreibt Warburg, »die […] Polizian [Botticelli] als Characteristikum antikischer Kunstwerke nahelegte, war ein leicht zu handhabendes, äußeres Kennzeichen, das überall da angehängt werden konnte, wo es galt, den Schein gesteigerten Lebens zu erwecken, und Botticelli machte von dieser Erleichterung der bildlichen Wiedergabe erregter oder auch nur innerlich bewegter Menschen gern Gebrauch.« Warburg, »Sandro Botticellis ›Geburt der Venus‹ und ›Frühling‹«, S. 54 (Hervorh. F. M.).

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Bewegungen der Muskeln »rund um die Augen« oder die »Mundwinkel« vermittelt zu werden; es ergreift den ganzen Körper – es übernimmt die Kontrolle über den Körper. Man wird von ihm »übermannt«; von Angst »gelähmt«, durch Wut »entflammt«, wird »überflutet«, »erdrückt«, »überwältigt«: alles Passive.¹⁷ Im Gegensatz dazu »spüren« wir normalerweise ein Gefühl – und verhalten uns, zumindest grammatikalisch, als aktive Subjekte. Wir »haben« ein Gefühl –, während eine Leidenschaft von uns Besitz ergreift. Und das Gesicht ist Teil des Unterschieds: Einen inneren Zustand durch subtile kleine Bewegungen auszudrücken ist bereits ein Zeichen von Beherrschung – und Beherrschung steht im Gegensatz zur Idee des Pathos. Im Einklang mit der impliziten Logik von Warburgs Arbeit und der kritischen Literatur über die Pathosformeln schlossen wir Gesichtsausdrücke aus unserem Modell aus, weil sie nicht Teil des begrifflichen Kerns zu sein schienen. Wir können damit natürlich falsch liegen, aber die Entscheidung erhellt einen wesentlichen Aspekt des Operationalisierungsprozesses: Er fordert absolute Klarheit über die eigene Interpretation eines Begriffs. Entweder man schließt das Gesicht in die Messungen ein, oder man tut es nicht. Klarheit ist nicht optional, sie ist keine Stilfrage: sondern eine logische Bedingung. Und die Epistemologie der Humanwissenschaften hat durch etwas mehr Bedingungen vermutlich viel zu gewinnen. Also: kein Gesicht und eine Konzentration auf die »äußeren Bewegungen des ganzen Körpers«, wie Freedberg  »Im Altertum und lange darüber hinaus hatte passio (ǀƬƸƿǂ) seinem Ursprung gemäß eine rein ›passive‹ Bedeutung, während die moderne Vorstellung passion-Leidenschaft wesentlich aktiv ist […], da ja eben paqoz und passio ›Leiden‹ bedeuten; sodann in der stoischen und christlichen Auffassung der Leidenschaften […] Krankheiten der Seele«. Erich Auerbach, »Passio als Leidenschaft (1941)«, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, hrsg. von Matthias Bormuth und Martin Vialon, Tübingen 2018, S. 158–171, hier: S. 158.

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Abbildung 2: Arme und Pathos: Tod des Orpheus (Ovid, Metamorphosen, Venedig 1497)

formuliert. Des ganzen Körpers … hauptsächlich der Arme und Beine. Die »tanzenden« und »rennenden« Nymphen und Mänaden der florentinischen Aufsätze;¹⁸ vor allem der Arme: die erhobenen Arme des venezianischen Holzschnitts, die Warburg in dem Aufsatz, der die Pathosformel einführt, als aufschlussreichstes Bild (Abbildung 2) herausstellte: Vier Mänaden recken ihre Schwerter in die Höhe, bereit zum Schlag, während Orpheus in einer vergeblichen Verteidigungsgeste seinen linken Arm hebt. In seiner Reflexion auf die »menschlich wahren Gesten« der Pathosformeln erwähnt Freedberg »die wehklagende Mutter mit den in Schmerz ausgebreiteten Armen«; im Hinblick auf Goyas »Schrecken des Krieges« bemerkt er die Verlockung, »die  Aby Warburg, »Sandro Botticellis ›Geburt der Venus‹ und ›Frühling‹«; und ders., »Delle ›Imprese Amorose‹ nelle più antiche incisioni fiorentine (1905)«, in: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der Europäischen Renaissance (1932), Reprint als: Gesammelte Schriften. Studienausgabe, Erste Abteilung, Bd. 1.1, Berlin 1998, S. 77–88, 330–339 (Anhang).

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eigenen Arme zu erheben, um die Axt niederzuringen«.¹⁹ Die stärkste Verbindung zwischen Armen und Pathos aber geht auf drei Artikel eines neueren Sammelbandes zurück, in denen Salvatore Settis sein Hauptaugenmerk auf den toten Arm Meleagers und Christi richtet, der jeweils im rechten Winkel vom Körper zur Erde sackt (Abbildung 3); Carlo Ginzburg widmet sich den erhobenen Armen der Mänaden, unter anderem der »Mänade am Kreuz« von Tafel 42 der Mnemosyne (Abbildung 4); und am eindrucksvollsten von allen isoliert Maria Luisa Catoni das unheimliche Bild einer Frau, die vorwärts stürzt, während sie ihre Arme nach hinten wirft (Abbildung 5).²⁰

 David Freedberg, »Empathy, Motion and Emotion«, in: Klaus Herding / Antje Krause-Wahl (Hrsg.), Wie sich Gefühle Ausdruck verschaffen. Emotionen in Nahsicht, Taunusstein 2007, S. 17–51, hier: S. 29, 38.  Vgl. Salvatore Settis, »Ars moriendi: Cristo e Meleagro«, Carlo Ginzburg, »Le forbici di Warburg« sowie Maria Luisa Catoni, »Donna disperata in movimento. Peripezie di un particolare«, in: Maria Luisa Catoni (Hrsg.), Tre figure: Achille, Meleagro, Cristo, Mailand 2013. Nebenbei sei bemerkt, dass zwar die Arme, nicht aber Hände und Finger wichtig für die Pathosformeln sind. Angesichts der Tatsache, wie »expressiv« letztere sein können – und zwar in solchem Maße, dass aus ihren Bewegungen eine vollständige Sprache entwickelt wurde –, klingt das zunächst befremdlich. Doch genau wie zuvor das Gesicht, passt Pathos nicht zur Raffinesse des Ausdrucks. Die Verbindung, die häufig (etwa von Agamben, Michaud und anderen) zwischen den Pathosformeln und Andrea De Iorios La mimica degli antichi investigata nel gestire napoletano (Neapel 1832) hergestellt wird – wo Hände ohne Frage die Hauptrolle spielen –, ist deshalb unseres Erachtens vollkommen falsch. Man muss sich nur das abschließende Verzeichnis der Gesten (»Indice terzo, De’ gesti«) ansehen, um zu erkennen, dass es nur drei Positionen für die Arme gibt (plus jeweils eine für »Ellenbogen«, »Humerus« und »Schultern«), während sich »Finger« und »Hände« zu einer Phänomenologie von etwa 40 unterschiedlichen Positionen addieren (»dita curvandosi obliquamente l’uno dopo l’altro«, »indice e medio rovesci, in diverse posizioni« und »mano e dita aperte, ed accostate al naso« …), bestehend aus insgesamt ungefähr 150 Einzelereignissen. All das ist völlig unvereinbar mit Warburgs Beobachtungen über den menschlichen Körper.

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Abbildung 3: Arme und Pathos: Der tote Arm Christi

Abbildung 4: »Mänade am Kreuz«, Tafel 42 Bertoldo di Giovanni, Kreuzigung, Bronzerelief, um 1485–1490, Museo Nazionale del Bargello, Florenz

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Abbildung 5: Vorwärts stürzende Frau Giuliano da Sangallo (zugeschrieben), Tod des Meleager, Ausschnitt des Flachreliefs am Grab des Francesco Sassetti, letztes Drittel des 16. Jahrhunderts, Kirche Santa Trinità, Florenz

»... und sah den Schädel unterm Haar« Wir werden am Ende des Artikels zu Catonis »verzweifelter Frau in Bewegung« zurückkehren. Nun, da wir zum quantitativen Teil der Studie kommen, müssen wir den grundsätzlichen Unterschied zwischen digitaler Kunstkritik und entsprechenden Arbeiten über Literatur und Musik erläutern. Letztere verfügen über Notationsformen, deren Einheiten leicht zu enkodieren sind und deren Grammatik sich ebenfalls programmieren lässt: Mit ein wenig Aufwand kann ein Algorithmus unzweifelhaft aktive und passive Verbformen im Ulysses bestimmen oder die Vorkommnisse reiner Quinten bei Mahler auszählen. Bei Ghirlandaio und Dürer gibt es keine vergleichbare Untergliederung der Sprache. Nehmen wir Warburgs Einführung der Pathosformel mittels einer Reihe von Bildern vom Tod des Orpheus (Abbildung 6). Man betrachtet sie und erkennt unschwer eine Formel, die sich über eine Zeitspanne von zwanzig Jahrhunderten wiederholt. Wie aber lässt sich diese intuitive Ähnlichkeit wirklich messen? Unsere Antwort darauf entwickelte sich in drei Schritten. Zunächst lösten wir die individuellen menschlichen Figu84 Totentanz

Abbildung 6: Entstehung einer Pathosformel Von links nach rechts: Ausschnitt einer Vase aus Nola, 470 v. Chr., Louvre; Radierung nach einer Vase aus Chiusi, 5. Jahrhundert v. Chr., Gian Francesco Gamurrini, Annali dell’instituto de corrispondenza archeologica, 1879; Holzschnitt aus Ovid, Metamorphosen, Venedig 1497; norditalienischer Stich, spätes 15. Jahrhundert n. Chr., Schule von Mantegna, Hamburger Kunsthalle; Albrecht Dürer, »Tod des Orpheus«, 1494, Hamburger Kunsthalle.

ren aus ihrem Kontext, indem wir jede einzelne von ihnen in eine Art von »Kasten« steckten: Wenn Pathos durch den Körper zum Ausdruck kommt, dann würden wir uns auf nichts anderes als den Körper konzentrieren. Als zweites, drastischer noch, eliminierten wir Farbe, Kleidung, Gesichter, Hände und reduzierten die Körper auf reine Gerippe (Abbildung 7). »[Es] empfiehlt […] sich, zuerst die Knochen des Lebewesens festzulegen, dann seine Muskeln hinzuzufügen«, hatte Alberti in Della pittura geschrieben;²¹ und nachdem wir unsere Arbeit beendet hatten, erfuhren wir, dass Maler und Bildhauer lange mit Gliederpuppen gear Die Stelle wird zitiert von Salvatore Settis, »Ars moriendi: Cristo e Meleagro«, S. 102. Vgl. Leon Battista Alberti, Della pittura. Über die Malkunst, Darmstadt 2002, S. 123.

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Abbildung 7: Ausschneiden und Röntgen Unsere Gerippe bestehen aus zwölf Segmenten – Unter- und Oberschenkel, Rückgrat, Unter- und Oberarm, Schultern und Hals –, was einen Kompromiss zwischen anatomischer Genauigkeit und konsistenter Reproduzierbarkeit darstellt. So haben wir etwa die Schultern genommen, nicht aber die Hüften, weil letztere unter den Kleiderschichten normalerweise gar nicht richtig zu sehen sind – sie liegen, kaum angedeutet, unter Schichten von Kleidern – und weil unsere ursprünglichen Experimente zeigten, dass es im Grunde reiner Zufall war, ob sie erfasst wurden oder nicht. Die Figuren des Bilderatlas sind oft gespiegelt, gedreht und – in der griechischen Keramik oder auf griechischen Sternkarten – sogar auf dem Kopf stehend. Unkorrigiert würde dieses Spektrum an Positionen schnell zum vorherrschenden Merkmal der Daten werden. Aus diesem Grund drehen wir jedes Gerippe immer so weit, bis das Rückgrat senkrecht steht, und spiegeln die Posen in der Horizontalen, damit sich der höhere Arm stets auf der linken Seite befindet. Am Ende haben wir dann einen Winkel pro Körperteil, minus das Rückgrat, das heißt elf Winkel insgesamt. Die Entscheidung, das Rückgrat vertikal auszurichten, lässt sich sicher in Frage stellen – umso mehr, als diverse Pathosformeln (insbesondere Laokoon) eine starke Torsion des Mittelkörpers aufweisen. Eine andere Lösung aber fiel uns nicht ein – und, wie wir gleich noch sehen werden, die Auswirkung auf die Ergebnisse scheint vernachlässigbar gewesen zu sein.

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beitet haben, die unseren Gerippen ziemlich ähnlich sahen. Das waren aber nicht die Gründe, die uns auf die Idee mit dem Gerippe brachten: Die Strichmännchen sollten nicht die realen Arbeitsschritte der Malpraxis reproduzieren (obwohl sie das auch tun mögen); vielmehr waren sie der Notwendigkeit geschuldet, über ein aus einfachen Elementen bestehendes Notationssystem zu verfügen. Und das genau war es, was uns diese Zwölf-Strich-Männchen lieferten: ein Alphabet für die Pathosformeln. Wir wussten, dass uns viel verlorenging. Das Alphabet aber war uns wichtiger.²² In diesem Moment trafen wir unsere dritte und radikalste Entscheidung: Wir wollten nur eine Art von Variablen messen: die elf Winkel der Gliedmaßen des Körpers, um sie zu »Vektoren des Gerippes« zusammenzusetzen. Wenn sich Pathos durch »äußere Bewegungen«, »ausgestreckte Arme« und Ähnliches übermittelt, dann wären die von den Armen und Beinen gebildeten Winkel ein Maß dafür. Nicht »das« Maß – bei einem komplexen Begriff sind immer Alternativen vorstellbar  –, aber mindestens »ein« Maß; ein Stellvertreter für die von den Muskeln unseres Körpers geleistete Arbeit. »In den Raum gereckte Gliedmaßen [verletzen] die aufrechte Haltung […], die Selbstsicherheit und Kontrolle anzeigt«, so wurde jüngst in einem Aufsatz über das Cinquecento festgestellt;²³ und die Winkel machen de Johnson, Memory, Metaphor, and Aby Warburg’s Atlas of Images, S. 129, zitiert eine Stelle von Cassirer, die ziemlich genau in dieselbe Richtung weist. Vgl. im Original: Ernst Cassirer, Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen, Studien der Bibliothek Warburg 6 (1925), in: ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, 8., unveränderte Aufl., Sonderausgabe, Darmstadt 1994, S. 71–167; hier: S. 157: »Soll die Sprache sich zum Vehikel des Denkens ausbilden, soll sie sich zum Ausdruck des Begriffs und des Urteils formen, so kann diese Formung sich nur dadurch vollziehen, daß sie auf die Fülle der unmittelbaren Anschauung mehr und mehr Verzicht leistet. Von dem konkreten Anschauungs- und Gefühlsgehalt, der ihr ursprünglich eignete, von ihrem lebendigen Körper scheint zuletzt nichts anderes als das bloße Gerippe übrig zu bleiben.«  Sharon Fermor, »Movement and Gender in Sixteenth-Century Italian

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ren Verletzung nachvollziehbar. Außerdem erlaubten uns die Winkel, alles am Körper selbst (Größe, Proportionen, lange Beine, breite Schultern – was auch immer) de facto zu übergehen, um uns ausschließlich auf seine Bewegungen zu konzentrieren. Die Winkel stellten die Dynamik des Körpers in den Mittelpunkt; »bewegtes Leben«, das Warburg in einen engen Zusammenhang mit den Pathosformeln gebracht hatte. Auch damit, dass wir auf die Winkel setzen, können wir vollkommen falsch liegen; doch es ist eine begriffliche Festlegung  – eine Interpretation der inneren Architektur der Pathosformel – und nicht einfach eine bequeme Art und Weise, die Dinge zu messen. Elf Winkel: Damit musste der Algorithmus auskommen, um Pathosformeln zu »erkennen«. Aber – was genau ist eine Formel?

»Aus den Formeln zu den Formen« Wir fingen damit an, das innere Ungleichgewicht des Begriffs Pathosformel hervorzuheben; de-montierten ihn in Pathos und Formel, konzentrierten uns auf Pathos und zerlegten ihn weiter in Körper, Gesicht, Beine, Arme … Die Gerippe bringen uns nun in den Bereich der Formel: Konkrete Bilder werden in »ikonographische Schemata« verwandelt, bestehend aus »kleinsten diskreten Einheiten, die wiederholbar und kombinierbar sind«, um aus Catonis Aufsatz zu zitieren. Genau darum handelt es sich bei Segmenten und Winkeln: kleinste, diskrete, kombinierbare und wiederholbare Einheiten. Sind die Gerippe aber ein Beispiel für eine »Formel« – oder für eine »Form«? Auch wenn es so klingen mag, als sei die Painting«, in: Kathleen Adler / Marcia Pointon (Hrsg.), The Body Imaged: The Human Form and Visual Culture Since the Renaissance, Cambridge 1993, S. 141–143.

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Frage etwas an den Haaren herbeigezogen, sind doch beide Begriffe nicht bedeutungsgleich. Der Unterschied scheint darin zu bestehen, dass die Form, um Mnemosynes »Einleitung« zu zitieren, in erster Linie eine »antichaotische[] Funktion«²⁴ hat: Konfrontiert mit dem Wirbelwind der Leidenschaften und Bewegungen, bewirkt die Form eine Auswahl der darzustellenden Materialien und organisiert sie in einer Struktur. Dieser Prozess hat eine antagonistische Qualität: antichaotisch: eine »Auseinandersetzung […] einer formenden Kraft mit einem zu bewältigenden Stoff«, wie Panofsky in seinem Aufsatz über das »Kunstwollen« formuliert.²⁵ Diese Bedeutung von Kampf fehlt bei der Idee der Formel, die zunächst einmal eine weitere Verminderung der Elemente beinhaltet – eine kleinere Form, wie die diminutive Endung nahelegt –, aber dann, noch wichtiger, auch die absolut neue Dimension der Zeit. Eine Formel ist nicht nur eine »mindere« Form, sie ist eine Form, die gelernt hat, sich zu replizieren. Die Replikation gehört stets zum Horizont des Formbegriffs: Sie ist »der wiederholbare Bestandteil von Literatur«, wie einer von uns in einem früheren Aufsatz formuliert hatte;²⁶ Catoni zufolge aus »wiederholbaren Einheiten« aufgebaut. Aber: wiederholbar; nicht schon wiederholt. Formeln aktualisieren, was an Formen noch reine Potenzialität ist; sie sind Formen, die überlebt haben – die ein Nachleben* gefunden haben. Hier verschränken sich die beiden Achsen von Mnemosyne zu einem gemeinsamen begrifflichen Fundament; die das empirische Chaos bemeisternde »Form« geht daraus als Grundbegriff der ästhetischen Morphologie hervor, während die »Formel«, mit ihrer Beständigkeit über die Zeit, zum Eckpfeiler der Geschichte der Ästhetik wird.  Warburg, Der Bilderatlas MNEMOSYNE, S. 3.  Erwin Panofsky, »Der Begriff des Kunstwollens«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 16, 4 (1920), S. 321–339, hier: S. 339. https://doi.org/10.11588/diglit.3620.25.  Franco Moretti, »Die Schlachtbank der Literatur«, in: ders., Distant Reading, Konstanz 2016, S. 63–86; hier: S. 83.

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Letzter Punkt. Die Form generiert die Formel, niemals umgekehrt. Es ist also wenig überraschend, dass Formeln ein dumpfes Gefühl der Sehnsucht nach dem Original erwecken, das in ihrer Wiederholung nur teilweise sichtbar wird. »Man will zurück«, schreibt Nietzsche im Sommer 1885 über das Heimweh, das aus seiner Sicht die deutsche Philosophie auszeichnet: »durch die Kirchenväter zu den Griechen, aus dem Norden nach dem Süden, aus den Formeln zu den Formen«.²⁷ Aus den Formeln zu den Formen.* In Wahrheit aber können wir die Formen nur sehen, weil sie als Formeln überleben: Eine Form, die sich nicht in eine Formel verwandelt hat, ist theoretisch vorstellbar, wäre aber – als eine, die sich nie reproduziert hat – praktisch unerkennbar. Warburg hatte also Recht damit, seine historische Morphologie nicht in Formen, sondern in Formeln zu verankern. Wir wollen uns abschließend ansehen, wie eine Formel aussieht.

Ninfa »Was ist geschehen?«, schreibt André Jolles am 23. Dezember 1900 an Aby Warburg: Cherchez la femme, mein lieber. Es ist eine junge Dame im Spiel die grausam mit mir kokettiert. […] Verfolge ich sie, oder verfolgt sie mich? Ich weiss es wahrhaftig nicht mehr. […] Bald war es Salome, wie sie mit todbringendem Reiz […] angetanzt kommt; bald war es Judith, die stobt und triumfirend, mit lustigem Schritt, das Haupt des ermordeten Feldherrn zur Stadt bringt; dann schien sie sich unter der knabenhaften Gratie des kleinen Tobias versteckt zu haben, so wie er mit Mut und Leicht Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, Bd. 11: Nachgelassene Fragmente 1884–1885, München 1988, S. 679.

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Abbildung 8: »Ces nymphes, je le veux perpétuer« »Ninfa. ›Eilbringitte‹ im Tornobuoni-Kreise. Domestizierung«, lautet Warburgs Beschriftung der Tafel. Auf verschiedenen Bildern der Tafel 46 – manchmal in zentraler Position [46.11], manchmal am Rand [46.6] oder sogar versteckt im Hintergrund [46.5] – wird die Ninfa aus verschiedenen Blickwinkeln gesehen und bewegt sich in unterschiedliche Richtungen; ihre Figur wird (als »Kopfjägerin«) auf Tafel 47 und (als »Fortuna«) auf Tafel 48 weiterentwickelt, und sie wird zu einer zentralen Illustration für Warburgs Begriff des Nachlebens*.

herzigkeit […] marchiert. Manchmal sah ich sie in einem Seraphin […] und dann wieder in Gabriel wie er die frohe Botschaft verkündet. Ich sah sie als Brautjungfer […] in unschuldiger Freude, ich fand sie als fliehende Mutter bei dem Kindermord mit Todesschrecken im Gesicht. Ich versuchte sie wieder zu sehen, wie ich sie das erste Mal getroffen hatte im Chor der Dominicanerkirche, aber sie hatte sich verzehnfacht.«²⁸ Salome, Judith, Tobias, Seraphim, Gabriel, Brautjungfer, Mutter … So sieht eine Formel aus. Immer derselbe Grundtypus, aber in endlos wechselnden Verkörperungen. Von denen eine für Jolles und Warburg besonders fesselnd war: diejenige, der Jolles in Santa Maria Novella begegnet war –  Online unter: https://detroiaaitaca.wordpress.com/miscel·lania/cartadandre-jolles-a-abywarburg/; letzter Zugriff 25. 5. 2022.

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Abbildung 9: Tafel 46: eine synthetische Darstellung der Körperbewegungen Die »Haltungen« in dieser Abbildung finden keine Entsprechung in den realen Haltungen der Arme oder Beine der auf Tafel 46 abgebildeten Körper: Sie sind eine Visualisierung der Hauptkomponente der Daten – das heißt der Richtung ihrer größten Varianz. Dass sich der Arm des Gerippes stärker zu bewegen scheint als sein Bein, ist dem Umstand geschuldet, dass die Variationsbreite der Winkel beim Unterarm größer ist als bei allen anderen Gliedmaßen.

Ghirlandaios Lastenträgerin in der unteren rechten Ecke von Die Geburt Johannes’ des Täufers in der TornabuoniKapelle (Abbildung 8). Die Nymphe, so sollte Warburg sie mit einem Namen nennen, der unmittelbar das Nachleben der Antike* evozierte. Die Nymphe und ihre Tafel wurden für uns zum Test, ob die Gerippe-Vektoren funktionieren. Wir nahmen alle komplett sichtbaren menschlichen Körper der Tafel 46, verwandelten sie in Gerippe-Vektoren, konzentrierten uns auf die erste Hauptkomponente des Datensatzes – das heißt auf die eine Datenreihe mit der größten Varianz (Abbildung 9)  –, und unmittelbar wurde klar, dass diese eine Achse genügte, um alle Nymphen der Tafel, am oberen Ende des Diagramms, von allen anderen Figuren, an deren unterem Ende, abzugrenzen (Abbildung 10). Nun ist die Hauptkomponente kein vom Forscher ausgewähltes Merkmal – sie ist eine statistische Eigenschaft der 92 Totentanz

Nymphen

Hauptkompontene

Andere

Abbildung 10: Tafel 46: Quantitative Daten und Separation der Bilder

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Daten, unabhängig von jeder subjektiven Agenda. Dennoch unterschied sie absolut zuverlässig zwischen Nymphen und Nicht-Nymphen. Waren Striche und Winkel ein guter Stellvertreter für Pathosformeln? Im Falle der Nymphe, ja. Die Gerippe funktionierten wie Fingerabdrücke: Sie isolierten Jolles’ junge Dame von allen anderen Figuren.²⁹ Eine neue Frage wurde damit vorstellbar: Könnten die Gerippe dasselbe auch in größerem Maßstab leisten, also über die einzelne Tafel hinaus, gegebenenfalls alle Pathosformeln Warburgs erfassend? Und könnten sie mehr sein als bloße Fingerabdrücke? Denn ein Fingerabdruck identifiziert, das ist wohl wahr, aber er verrät absolut nichts über die wiedererkannte Gestalt. Identifikation ist etwas anderes als Analyse; vielleicht ist sie in Wirklichkeit gar kein Wissen oder höchstens in einem ganz engen Sinne. Könnten unsere Gerippe mehr leisten? Zuerst die entscheidende Frage. Um zu sehen, ob die Gerippe-Vektoren in einem größeren Maßstab als der einen Tafel funktionierten, extrahierten wir 1665 Körper aus 21 der 63 Tafeln des Atlas und ließen einen k-Means-Algorithmus zur Clusteranalyse durchlaufen, der die Gerippe-Vektoren in 16 Cluster aufteilte.³⁰ Sechzehn war ein pragmatischer  Dadurch belegten die Vektoren-Gerippe auch, dass wallendes Haar und fließende Stoffe, die so häufig von Warburg und häufiger noch von seinen Interpreten hervorgehoben wurden (insbesondere wenn sie über Ghirlandaios Lastenträgerin schrieben), für die Darstellung von Pathos keine wesentliche Rolle spielten: Sie wurden von unserer Messung natürlich überhaupt nicht erfasst – dennoch kristallisierte sich die Pathosformel der Nymphe ganz eindeutig heraus (ein Ergebnis, das alle folgenden Experimente bestätigen sollten. Kleidung und Haare sorgen vielleicht für zusätzliche emotionale Bedeutung, sind aber zum Heraufbeschwören innerer Gefühle nicht notwendig.  Als wir über den Maßstab der Einzeltafel hinausgingen, sahen wir uns mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass die Auflösung der Originalabbildungen oft nicht gut genug war, um die kleinen Menschenfiguren zu identifizieren; es kostete uns einiges an Zeit, um hochauflösendere Versionen der Bilder für die Gerippe-Notierung zu finden; anschließend wurden die menschlichen Figuren ausgeschnitten und die Positionen der

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Abbildung 11: Mnemosynes morphologische Cluster: eine zweidimensionale Ansicht Clustern ist ein digitales Tool, das numerische Werte verwendet, um »nahe« Objekte in dasselbe Cluster zu platzieren, und »ferne« Objekte in ein anderes; wir hofften, der Algorithmus würde die Posen so filtern, dass die Pathosformeln von den übrigen Bildern dadurch getrennt werden könnten und sich im Idealfall mögliche Beziehungen zwischen ihnen abzeichnen würden.

Kompromiss zwischen zwei entgegengesetzten Problemen: Bei zu wenigen Clustern landen unähnliche Posen in einer Gruppe, wodurch die Cluster inkonsistent werden; bei zu Gliedmaßen mittels manueller Annotation gezeichnet; aus Konsistenzgründen benutzten wir pro Körper drei separate Annotationen. Unser Korpus beschränkte sich deshalb auf rund ein Drittel der Tafeln des Atlas. Neuere Experimente lassen aber vermuten, dass menschliche Körperhaltungen von einigen Bilderkennungstechniken mit einiger Zuverlässigkeit automatisch erfasst werden können, was eine Analyse der GerippeVektoren viel größerer Bildersammlungen vorstellbar macht.

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Abbildung 12: Zentrale Gerippe der 16 Cluster Ein Cluster ist gänzlich durch seinen Zentralpunkt definiert, und jeder GerippeVektor »gehört« zu einem bestimmten Cluster, wenn es näher an dessen Zentralpunkt liegt als an allen anderen Zentralpunkten. Umgekehrt definiert sich der Zentralpunkt des Clusters als Durchschnitt aller Mitglieder des Clusters. Der k-Means-Algorithmus zur Clusteranalyse ist eine Rekursion zwischen diesen beiden Definitionen, bis sie vollständig miteinander übereinstimmen.

vielen werden ähnliche Posen künstlich voneinander getrennt, was auch falsch ist. Eine zweidimensionale Auswertung der elf Dimensionen unserer Daten (Abbildung 11), in der die 16 Cluster recht deutlich voneinander geschieden waren, deutete darauf hin, dass sich unsere Entscheidung in einem plausiblen Rahmen bewegte – und so blieb es also bei 16 Clustern. Jedes dieser Cluster bündelte nun morphologisch ähnliche Körper nach Maßgabe ihrer Ähnlichkeit zum »zentralen« Gerippe-Vektor des Clusters (Abbildung 12). Doch jedes einzelne Cluster war komplizierter, als diese 16 Figuren vermuten lassen, da es von einem agglomerativen, hierar96 Totentanz

Abbildung 13: Innere Hierarchie des Clusters 1 Ein Teil von Cluster 1, der das Baumdiagramm der Abstände zwischen den verschiedenen Gerippen zeigt sowie die Bilder, von denen die Gerippe abstrahiert wurden. Die Beziehungen aller Gerippe eines Clusters zu dem »Zentral«-Gerippe aus Abbildung 12 entspricht dem Verhältnis von Formeln und Form: Die neun Gerippe dieser Abbildung (und die anderen 74, die insgesamt das Cluster bilden) sind ebenso viele Variationen derselben Basismorphologie.

chischen Algorithmus verarbeitet wurde, der ein Baumdiagramm der Abstände zwischen den Gerippe-Vektoren und zwischen den zugehörigen Körperhaltungen produzierte (Abbildung 13). Mit diesem Totentanz* der Gerippe – in einigen Cluster gibt es Hunderte von ihnen, scheinbar in einem endlosen Reigen sich vereinend – hatte unsere schrittweise Operationalisierung der Pathosformeln zu ihrem Ergebnis gefunden. Wenn die Logik, der wir folgten, schlüssig war, dann sollten die Winkel, die den Abstand der Gliedmaßen zur Zentralachse des Körpers maßen, in der Lage sein, die »Wiedergabe erregter […] Menschen« – das Pathos – zu identifizieren, die Warburg im Sinn hatte. Um zu prüfen, ob dies der Fall war, kehrten wir von den Gerippen zu den Gemälden zurück. Die Operationalisierung von Aby Warburgs Pathosformeln

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»Bewegtes Leben« Auf den ersten Blick schien Abbildung 12 sieben »unruhige« Cluster zu enthalten: 1, 5, 6, 7, 11, 13, 16. Doch sie zerfielen schnell in sehr unterschiedliche Gruppen. Cluster 6, 11 und 16 waren einfach Fehlablesungen: Obwohl die Gerippe unruhig wirkten, waren die Körper, aus denen wir sie gewonnen hatten, absolut stabil: Sie knieten, lagen, saßen und so weiter. Das war ein Lehrstück über die Mängel unseres Verfahrens: Wir hatten zu Beginn die Körper »in Kästen gepackt« und sie von ihren Kontexten abstrahiert; wann immer Körper und Kontext stark miteinander verbunden waren, klappte das natürlich schlecht. Also schlossen wir Cluster 6, 11 und 16 aus der folgenden Analyse aus. Als nächstes kam Cluster 5. Rein geometrisch gesehen war es das »unruhigste« Cluster von allen; die Unruhe aber erwies sich schließlich als eine Folge sonderbarer Positionen, meist auf Vasen und astrologischen Karten, die nichts mit Pathos zu tun hatten. Zweites Lehrstück, weniger offensichtlich als das erste: Es gibt eine Korrelation zwischen Körperhaltung und innerem Gefühlszustand  – das ist die ganze Idee der Pathosformel: Pathos wird durch Körperbewegungen sichtbar gemacht –, die Korrelation ist aber keine lineare, bei der der »Superlativ des Gefühls«, wie es Warburg nennt, gewissermaßen einem »Superlativ der körperlichen Unruhe« entspricht. Das Pathos verlangt physische Turbulenz, und extremes Pathos scheint eine besondere Position innerhalb des Spektrums möglicher Bewegungen einzunehmen – nicht allerdings die extreme Position. Es ist noch interessanter! Uns blieben drei Cluster, aus denen sich die Pathosformeln schließlich abzuzeichnen begannen: Cluster 7 und 13 (Abbildung 14) und vor allem Cluster 1, in dem die meisten Figuren enthalten waren, die Warburg selbst explizit als Pathosformeln bezeichnet hatte (Abbildung 15): die Kopfjägerin, Ghirlandaios Nymphe, Fortuna, Nymphen bei Botticelli, Laokoon und Orpheus. 98 Totentanz

Figuren des Cluster 7, von links nach rechts: Pädagoge aus der Florentiner Niobidengruppe, römische Kopie einer griechischen Skulptur aus dem späten 4. Jahrhundert v. Chr.; Johannes auf Patmos, portugiesischer Maler, 15. Jahrhundert; Tod des Pentheus, Pompeji 45–79 n. Chr.

Figuren des Cluster 13, von links nach rechts: Atlas Farnese, 50–25 v. Chr., römische Kopie eines griechischen Originals aus dem zweiten Jahrhundert v. Chr.; Heiligenlegenden, Jacopo del Sellaio, zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts; Tod des Petrus Martyr, Domenico Ghirlandaio 1485–1490.

Abbildung 14: Pathosformeln-Cluster

Wenn man nun zu der zweidimensionalen Ansicht der 16 Cluster von Abbildung 11 zurückkehrt, erkennt man sofort die drei Pathosformel-reichen Cluster am rechten oberen Ende des Schaubilds: zugleich nah beieinander und in einer Randposition hinsichtlich der anderen 13 Cluster. Abbildungen 16–21 können die allgemeine Verteilung aufschlüsseln, in einem Crescendo der Bewegung von der unteren Mitte zu den Randbezirken: von den unbewegten Figuren der Abbildung 16 zur breiter gestreuten Verteilung von Bildern gemäßigter Bewegung (halten, grüßen) der Abbildungen 17–18, der scheinbaren Unruhe von Figuren, die in Wirklichkeit knien und sitzen (Abbildung 19), und dem extrem vereinzelten Cluster astrologischer Bilder (Abbildung 20) schließlich zu den drei genuin unruhigen Clustern der Abbildung 21. Der Algorithmus hatte tatsächlich auch oberhalb des Maßstabs einer einzigen Tafel funktioniert, indem er die Pathosformeln identifizierte und sie von den anderen Die Operationalisierung von Aby Warburgs Pathosformeln

99

Abbildung 15: Cluster 1

2

14

Abbildung 16: Cluster 2 und 14

100 Totentanz

3 10

9 15

Abbildung 17: Cluster 3, 9, 10 und 15

4

8

Abbildung 18: Cluster 4 und 8

Die Operationalisierung von Aby Warburgs Pathosformeln

101

11

6

16

Abbildung 19: Cluster 6, 11 und 16

5

Abbildung 20: Cluster 5

102 Totentanz

1

13

7

Abbildung 21: Cluster 1, 7 und 13

Bildern menschlicher Körper abtrennte. Der Weg war geebnet für eine Erweiterung des Mnemosyne-Projekts weit über das hinaus, was Warburg selbst hatte leisten können. Doch an diesen Ergebnissen war etwas seltsam. Wir hofften, dass der Algorithmus Pathosformeln von allen anderen Figuren unterscheiden würde, und das war tatsächlich geschehen. Wir hofften aber auch, dass der Algorithmus die Pathosformeln voneinander unterscheiden würde – und das war offensichtlich gar nicht geschehen. Die Pathosformeln lagen dicht beieinander, in einer kleinen Ecke des Schaubilds. Warum? Warburg spricht normalerweise von Pathosformeln in der Mehrzahl und sagt damit, dass es einen Unterschied zwischen den Formeln für Orpheus, die Kopfjägerin, den imperialen Eroberer gibt. »Jedem Pathos sein Schema«, wie Settis Die Operationalisierung von Aby Warburgs Pathosformeln

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in »Pathos und Ethos« formuliert hatte; und in Warburgs Notizsammlungen gibt es eine frühe Seite, auf der ein Schematismus der Pathosformeln* skizziert ist  – eine große Tabelle, mit einzelnen Zeilen für »Lauf«, »Tanz«, »Verfolgung«, »Triumph«, »Sieg« und so weiter.³¹ Eine solche Differenzierung hatten auch wir erwartet. Und nun stattdessen – das. Warum lagen die Ninfa und Laokoon oder Fortuna und der sterbende Orpheus so dicht beieinander?

Oxymoron Der Algorithmus hatte eindeutig eine Ähnlichkeit zwischen den Gerippe-Vektoren der Pathosformeln »gesehen«, die in Folgendem zu bestehen schienen: Alle Pathosformeln korrelierten mit einer gleichzeitigen Bewegung der Arme und Beine; der Arme normalerweise mehr als der Beine, sowohl aus anatomischen als auch aus kulturellen Gründen  – sie sind leichter zu bewegen und können mehr Dinge tun –, in der Regel aber aus beiden. Dies war das gemeinsame morphologische Merkmal, um das herum der Algorithmus die Pathosformeln geclustert hatte. In Sinn und Deutung in der bildenden Kunst verglich Panofsky diese doppelte Bewegung der Pathosformeln mit dem in der bildenden Kunst des Westens so häufig anzutreffenden Contrapposto oder Kontrapost.³² Das ist eine interessante Intuition, allerdings vor allem wegen der Unterschiede zwischen den beiden Konventionen. Im Kontrapost sind die Arme und Beine üblicherweise sehr gut koordiniert, ob nun in Warteposition oder in Aktion (Abbildung 22); Ober- und  Vgl. Claudia Wedepohl, »Von der ›Pathosformel‹ zum ›Gebärdensprachatlas‹«, in: Marcus Hurttig / Thomas Ketelsen (Hrsg.), Die entfesselte Antike. Aby Warburg und die Geburt der Pathosformel, Köln 2012, S. 33–50, hier: S. 38 ff. Auf dem Foto, das Wedepohl ihrem Aufsatz beigibt, scheint die Seite ziemlich leer geblieben zu sein.  Erwin Panofsky, Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 2022.

104 Totentanz

Abbildung 22: Kontrapost

Unterkörper sind in einer einzigen flüssigen Bewegung begriffen. Diese Körper sind wunderbar einheitlich. Pathos zerbricht die Einheit. Das ist sein Charakteristikum. Arme und Beine beschreiben je eigene Bewegungen: Sie tragen einen Korb und laufen ein wenig zu schnell (Ninfa); sie stützen die Erde und versuchen, nicht unter ihrer Last ins Straucheln zu geraten (Atlas); sie spannen das Segel und bewahren das eigene Gleichgewicht im Wellengang (Fortuna); sie versuchen, den Körper vor tödlichen Schlägen zu schützen und aufzustehen (Orpheus); sie halten sich die Schlangen vom Leib und suchen sich zu bewegen (Laokoon). Es geht hier um Körper, die zugleich an zwei Fronten kämpfen: Die Arme ringen mit der einen Gefahr und die Beine mit einer anderen. Zwischen den oberen und den unteren Teil des Körpers ist eine Dissonanz eingefügt. Wir nahmen diese Bilder mit zu Aminian Kamiar, der an der EPFL Biomechanik unterrichtet, und er bemerkte, dass es sich hier ausnahmslos um äußerst instabile Posen handele, die sich nicht lange halten ließen. Das war durchDie Operationalisierung von Aby Warburgs Pathosformeln

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aus nachvollziehbar, da die Posen schließlich Bewegungen darstellten und es seltsam wäre, auf halbem Wege anzuhalten.³³ In Stanford lenkte uns Tasha Eccles in eine andere Richtung. Sie erwähnte die von Thecla Shiphorst und Merce Cunningham entwickelte »LifeForms«-Software, die es Tanzchoreograph:innen ermöglicht, die spontane Koordination der Körperteile vollkommen kontraintuitiv zu unterlaufen. LifeForms »erweitert das, was wir tun zu können glauben«, erklärte Cunningham. »Am Computer wird der Körper durch Gelenke repräsentiert«, ergänzte Shiphorst (mit einem Satz, der genauso gut für unsere Gerippe-Vektoren gilt), und diese Reduktion ermögliche es, »etwas zu schaffen, was nicht natürlich war«. Nicht natürlich; das ist das Wesentliche. Der »Superlativ des Gefühls« wird nicht durch einen »Superlativ der Körperbewegung« zum Ausdruck gebracht – die Salti von Cluster 5, die wir weiter oben untersucht haben –, sondern durch eine Infragestellung der »natürlichen« Einheit des Körpers. Dissonanz. Passiones werden für Auerbach »zur Unruhe, zum richtungslosen Bewegtund Umgetriebenwerden«.³⁴ Zeichen von Pathos ist, dass der Körper keine Einheit mehr darstellt. Je est un autre.  Das gilt sogar für die Nymphe, die am meisten »domestizierte« (so Warburgs Ausdruck) dieser drei Figuren: Für jemanden, die einen Korb auf ihrem Kopf trägt, ist schnell Laufen keine gute Idee (nicht umsonst wundern sich die meisten Kommentatoren über ihre Geschwindigkeit, ohne eine Erklärung dafür zu haben). Vor dem Hintergrund des Gesagten scheint uns die Beurteilung von Ghirlandaios Figur als einer Pathosformel – wie es Warburg und die meisten seiner Kommentatoren getan haben – die Bedeutung des Bilds zu strapazieren, bei dem es eher darum geht, ein möglicherweise ursprüngliches Pathos zu kontrollieren, als darum, lediglich sein Nachleben auszudrücken. In diesem Sinne ist Ghirlandaios Nymphe einer jener interessanten Fälle, in dem sich die Deutung des Bildes nicht aus seiner quantitativen Morphologie ergibt, sondern irgendwie quer zu ihr steht.  Erich Auerbach, »Passio als Leidenschaft«, S. 160. Vgl. auch Froma Zeitlins Beobachtung zu Körpern in der griechischen Tragödie: »Was das Publikum an der Somatik der Bühne am meisten interessiert, ist der Körper in einem unnatürlichen Zustand des Pathos [Leidens] – wenn er

106 Totentanz

Wir sind nun im Hinblick auf die morphologischen Aspekte unserer Ergebnisse recht zuversichtlich. Was die Interpretation ihrer anthropologischen oder ästhetischen Bedeutung angeht, tappen wir weitaus mehr im Dunkeln. Der beste Ausgangspunkt in diesem Zusammenhang bleiben Catonis »Verzweifelte Frau in Bewegung« von Abbildung 5. »Die widersprüchlichen Bewegungen ihrer Arme auf der einen und ihrer Beine, ihres Körpers und ihres Kopfes auf der anderen Seite bringen eine Art Oxymoron hervor«, schreibt sie: [I]hr Körper hat die narrative Bedeutung eines behauptenden Verbs  – zu Hilfe eilen  –, während das brutale Nach-hinten-Gezogenwerden der Arme deren Unmöglichkeit erklärt, sie mithin verneint. Mit den Armen zu verneinen, was vom restlichen Körper behauptet wird: Oxymoron ist das richtige Wort für diesen Körper in rätselhaftem Konflikt mit sich selbst. Die verzweifelte Frau ist eine Pathosformel der superlativen Art, schreibt Catoni, und daran kann es keinen Zweifel geben; aber man könnte noch weitergehen: Das ist nicht »irgendeine« Pathosformel, sondern der Grenzfall für die Idee der Pathosformel selbst. Und wie alle extremen Fälle ist ihr eine epistemologische Klarheit eigen, die den anderen Beispielen fehlt. Wenn uns Pathosformeln eine Reihe zerrissener Körper vorführen, so scheint die »verzweifelte Frau« ihrerseits das abstrakte Zeichen der Zerrissenheit an sich darzustellen. Das Bild ist nicht Teil von Warburgs Korpus, im Atlas aber am weitesten hinter sein Ideal von Stärke und Vollkommenheit zurückfällt […] zurückgeworfen auf einen hilflosen oder passiven Zustand – hingesetzt, gefesselt oder eingeschränkt […] erfasst von Wahnsinn oder Krankheit«. Froma I. Zeitlin, »Playing the Other: Theater, Theatricality, and the Feminine in Greek Drama«, in: John J. Winkler / Froma I. Zeitlin (Hrsg.), Nothing to Do with Dionysos? Athenian Drama in its Social Context, Princeton 1990, S. 72.

Die Operationalisierung von Aby Warburgs Pathosformeln

107

Abbildung 23: Cluster 12

kommt eine Mänade vor, die ihr wegen der Position ihres Arms ähnelt – und man beachte, zu was für einem absoluten Ausreißer sie dieses Detail macht (Abbildung 23). Oft werden wir nach dem Verhältnis zwischen close reading und distant reading gefragt, zwischen dem Qualitativen und dem Quantitativen, zwischen Einzelfall und großen Mengen. Catonis Arbeit und unsere sind radikale Beispiele für entgegengesetzte Ansätze: ihrer, die konkrete philologische Rekonstruktion, die eines ums andere eine ganze Kette von einzelnen Bildern verbindet; unserer, ein abstraktes geometrisches Muster, das völlig unzusammenhängende Figuren ineinander blendet. Unterschiedlicher könnten sie nicht sein. Widersteht man aber der Versuchung, die beiden Methoden für unvereinbar zu erklären  – achtet man ausschließlich auf das, was Abbildung 23 zeigt, dann zeich108 Totentanz

net sich eine Beziehung ab: Die »verzweifelte Frau« gibt die Richtung vor – das Oxymoron –, in die auch unsere kleine Armee von Gerippen zieht: Zugleich verweist der Umstand, dass wirklich eine kleine Armee hinter ihr steht, darauf, dass der-Körper-als-Oxymoron keine singuläre Anomalie ist, sondern die logische Entfaltung der inneren Struktur der Pathosformeln. Quantität und Qualität bleiben verschieden, doch sie erhellen einander. Und das ist genug.

5 Gut sichtbar verborgen Datenvisualisierung in den Humanwissenschaften (mit Oleg Sobchzuk)

Wenn es ein Merkmal gibt, das die digitalen Humanwissenschaften (DH) automatisch von den »anderen« Humanwissenschaften unterscheidet, dann ist es sicherlich die Datenvisualisierung. Säulendiagramme, Streudiagramme, chronografische Diagramme, Netzwerke … vor zehn, fünfzehn Jahren kam so etwas in film-, musik-, literatur- oder kunstwissenschaftlichen Arbeiten nicht vor. Nun kommt es vor, und wir möchten hier ein paar (unausgesprochene und wahrscheinlich oft unbewusste) Prämissen dieser das Feld definierenden Praxis unter die Lupe nehmen. Sie definieren das Feld, weil die Visualisierung niemals nur Visualisierung ist: Sie setzt auch das Erstellen von Korpora, die Definition und Ausarbeitung der Daten und oft auch eine Art vorläufiger Interpretation voraus. So entstand die Idee zu diesem Artikel: etwas mehr als sechzig Studien auszuwählen, die einen wesentlichen Einfluss auf die digitalen Humanwissenschaften hatten und zu analysieren, wie die visuelle Präsentation ihrer Daten aussah.¹ Was uns interes Das Korpus unsere Metaanalyse ergab sich aus verschiedenen Kriterien. Zunächst konzentrierten wir uns auf jene humanwissenschaftlichen Fächer, die sich erst vor kurzem der Quantifizierung zugewandt hatten; das schloss sowohl die Linguistik als auch die Sozialgeschichte aus, deren quantitative Wende schon viel weiter zurücklag. Ebenfalls ausgeschlossen wurden Arbeiten, die sich ausschließlich mit einem einzigen Text oder Autor auseinandersetzen, sowie Arbeiten, die von einem von uns beiden allein verfasst worden waren (obwohl auf den folgenden Seiten auch einige Artikel analysiert werden, deren Co-Autoren wir sind). Nach Maßgabe dieser Kriterien sichteten wir alle wichtigen literaturwissenschaftlichen und DH-Zeitschriften, beginnend mit dem Jahr 2010. Von

Datenvisualisierung in den Humanwissenschaften

111

siert, ist die Visualisierung als Praxis, in der Überzeugung, dass Praktiken – das, was wir beim Tun bzw. durch professionelle Gewohnheit zu tun lernen, ohne uns des Getanen vollkommen bewusst zu sein  – oft Implikationen haben, die theoretisch weitreichender sind als theoretische Aussagen selbst. Ob das bei den digitalen Humanwissenschaften tatsächlich der Fall gewesen ist, mögen die Leserinnen und Leser entscheiden.²

den 62 Aufsätzen, die wir auf diese Weise herausfilterten, werden etwa die Hälfte im vorliegenden Text explizit behandelt (und in den Fußnoten nachgewiesen), während die andere Hälfte auf der Website der New Left Review zu finden ist. Wir haben uns bemüht, verschiedene Forschungsgebiete zu integrieren – doch da wir beide hauptsächlich im Bereich der Literatur arbeiten, stammt auch ein Großteil unserer Belege von dort, was die Geltung unserer Behauptungen zum Teil einschränkt. Außerdem lassen sich natürlich unsere Kriterien hinterfragen; andere Kriterien hätten zu anderen Samples und insgesamt zu einer anderen Bewertung geführt. Schließlich wurde, als wir im Januar 2019 die Arbeit an unserer Studie beendet hatten, in der Frühjahrsausgabe 2019 der Critical Inquiry eine andere Überblicksarbeit zu Forschungsbeiträgen aus dem Bereich der digitalen Humanwissenschaften publiziert, nämlich »The Computational Case Against Computational Literary Studies« (Das computerbasierte Plädoyer gegen die computerbasierte Literaturwissenschaft) von Nan Z. Da. Da sich die beiden Artikel aber in ihren Zielsetzungen und Methoden grundlegend unterscheiden, haben wir beschlossen, unseren Text unverändert zu lassen.  Nur nebenbei gesagt, sind wir in der Tat der Auffassung, dass es sich so verhält: Da die Humanwissenschaften durch die plötzliche Verfügbarkeit von digitalen Archiven und Computersystemen kalt erwischt wurden, war ein Primat der Praxis über die Theorie im Grunde unvermeidlich. Die Kulturgeschichte hatte nicht auf diese Neuerungen gewartet und, wichtiger noch, sie brauchte sie nicht – um wie die frühmoderne Astronomie (ein in diesem Zusammenhang oft zitiertes Beispiel) ein theoretisches Bedürfnis für so etwas wie das Teleskop zu entwickeln. In Anbetracht dieser Umstände ist es wenig überraschend, dass die konkrete Verwendung neuer Werkzeuge – die Praxis – ihrer theoretischen Rechtfertigung vorausging und diese in den Schatten stellte.

112

Gut sichtbar verborgen

Geschichte

Worthäufigkeit

Wir beginnen mit dem Artikel, der die Einführung des Google Ngram Viewers ankündigte und damit den digitalquantitativen Ansatz in das Rampenlicht einer weit über die Grenzen der kleinen akademischen Nische hinausreichenden Öffentlichkeit stellte: Im Januar 2011 erschien im Fachmagazin Science »Quantitative Analysis of Culture Using Millions of Digitized Books«. Abbildung 1 ist das erste Schaubild, dem man in diesem Artikel begegnet, und es ist die Blaupause für alle folgenden: Die horizontale Achse misst den Zeitverlauf, die vertikale die Häufigkeit des Wortes »slavery« (Sklaverei).

Jahr

Abbildung 1: »Quantitative Analysis of Culture Using Millions of Digitized Books«, 2011 (Quantitative Kulturanalyse auf der Basis von Millionen digitalisierter Bücher) »Erst Mitte des 18.  Jahrhunderts entstand eine neue gemeinsame Bildsprache für chronografische Diagramme, und dieses neue lineare Format war so schnell überall akzeptiert, dass man sich binnen Jahrzehnten kaum noch daran erinnern konnte, dass man jemals etwas anderes verwendet hatte. Wie sich herausstellte, bestand die große Herausforderung der Chronografie […] darin, […] ein visuelles Schema zu schaffen, dass dennoch die Gleichförmigkeit und Unumkehrbarkeit der historischen Zeit unmissverständlich und klar zu kommunizieren vermochte.« Daniel Rosenberg / Anthony Grafton, Die Zeit in Karten³

 Daniel Rosenberg / Anthony Grafton, Die Zeit in Karten. Eine Bilderreise durch die Geschichte, Darmstadt 2015, S. 21.

Datenvisualisierung in den Humanwissenschaften

113

Worthäufigkeit

revolt

unrest Jahr

Abbildung 2: »Content Analysis of 150 Years of British Periodicals«, 2017 (Inhaltsanalyse britischer Fachzeitschriften über 150 Jahre)

Ein chronografisches Diagramm, wie diese Art von Grafik üblicherweise genannt wird: Die Jahre vergehen, und die Worthäufigkeit von »Sklaverei« verändert sich; in den Jahren des Bürgerkriegs verdoppelt sie sich, allmählich sinkt sie wieder auf ihren ursprünglichen Wert, zu Zeiten der Bürgerrechtsbewegung steigt sie wieder an, nicht mehr ganz so steil, etc. In »Quantitative Analysis of Culture« finden sich 33 Grafiken, von denen 27 – 80 Prozent – von dieser Art sind. Auch wenn 80 Prozent für unser Korpus ein hoher Wert war, werden chronografische Diagramme in Arbeiten der digitalen Humanwissenschaften zweifellos sehr gerne verwendet und sind deshalb zu ihrem visuellen »Markenzeichen« geworden.⁴ Ihre Einfachheit hat, wie Rosenberg und Grafton nahelegen, sicherlich dazu beigetragen. Nur zwei Elemente: Geschichte und Semantik. Ein Wort (Abbildung 1), zwei (Abbildung 2), vier (Abbildung 3) oder Hunderte, wie in den »semantischen Feldern« und »Themen« der Abbildungen 4 und 5. Die Zahlen ändern sich und mit ihnen auch die untersuchten Gegenstände (Bücher, Zeitungsartikel, Weltbank In der Literaturwissenschaft etwa fehlen sie niemals in jenen Artikeln, die – durch ihre Publikation in den »wichtigsten« Fachzeitschriften wie Modern Language Quarterly, Poetics Today oder New Literary History – als Brücke zwischen altem und neuem Ansatz fungiert haben.

114 Gut sichtbar verborgen

Worthäufigkeit pro Millionen Wörter

Anteil der Wörter im Korpus

Abbildung 3: »Bankspeak: The Language of World Bank Reports«, 2015 (»Banksprech. Die Sprache der Weltbank-Jahresberichte«, 2017)

Jahr

Anteil der Wörter im Korpus

Abbildung 4: »A Quantitative Literary History of 2,958 Nineteenth-Century British Novels: The Semantic Cohort Method«, 2012 (Eine quantitative Literaturgeschichte von 2958 englischen Romanen des 19. Jahrhunderts. Die semantische Kohorten-Methode)

Publikationsjahr des Artikels

Abbildung 5: »The Quiet Transformations of Literary Studies: What Thirteen Thousand Scholars Could Tell Us«, 2014 (Die stillen Transformationen der Literaturwissenschaft. Was uns 13000 Wissenschaftler sagen könnten)

Datenvisualisierung in den Humanwissenschaften

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Anzahl der Begriffe in Debatten-Titeln

Eigentum im Lauf der Zeit: Anzahl der Autor-generierten Schlüsselbegriffe in Debatten-Titeln

Jahr

Abbildung 6: »Critical Search: A Procedure for Guided Reading in Large-Scale Textual Corpora«, 2018 (Kritische Suche. Ein Verfahren für geführtes Lesen in großen Textkorpora)

Jahresberichte, Romane, wissenschaftliche Publikationen); was sich nicht ändert, ist die Fokussierung auf den Inhalt. »Topic Modeling«, »Inhaltsanalyse«, »Text Mining«: Bedeutung ist wie Rohmaterial, unberührt von der Organisation der Texte. Korpora sind sozusagen »Wortsäcke«. Die Bedeutung muss zutage gefördert werden – Text Mining –, und das ist es dann: Wenn sie erst einmal zutage gefördert wurde, ist alles absolut klar und deutlich: »Änderungen des Diskurses offenbaren allgemeinere historische und soziokulturelle Veränderungen […]«; »Die Modelle […] offenbaren einen starken Abfall positiver Emotionalität im Laufe der Zeit […]«; »Dieser Ansatz offenbart wichtige, aber bislang unausgesprochene Tendenzen«. Die Sprache offenbart; nie verbirgt oder lügt sie oder macht die Dinge komplizierter. Dahinter steht eine Vorstellung von Kultur als einem Siegeszug der Ausdrücklichkeit. 116 Gut sichtbar verborgen

Mittlere Einstellungsdauer (Sek.)

Anteil der von Frauen geschriebenen Bestseller

Abbildung 7: »The Transformation of Gender in English-Language Fiction«, 2018 (Die Transformation des Geschlechts in fiktionalen Texten englischer Sprache)

Ausdrücke für negative Gefühle (%)

Ausdrücke für positive Gefühle (%)

Abbildung 8: »Shot Durations, Shot, Classes and the Increased Pace of Popular Movies«, 2015 (Einstellungsdauer, Einstellungsklassen und zunehmende Geschwindigkeit populärer Filme)

Jahr

Jahr

Abbildung 9: »Birth of Cool: A Two-Centuries Decline in Emotional Expression in Anglophone Fiction« (Geburt der Coolness. Rückgang des Gefühlsausdrucks in der englischsprachigen Fiktion über zwei Jahrhunderte)

Dazu später mehr. Wenn wir jetzt von der vertikalen zur horizontalen Achse übergehen, dann fällt auf, wie häufig sich diese Chronografien über eine historische Zeitspanne von genau einem Jahrhundert erstrecken. Die Romane und wissenschaftlichen Aufsätze der Abbildungen 4 und 5, das Eigentums-Vokabular in parlamentarischen Debatten (Abbildung 6), Bestseller von Frauen (Abbildung 7), Länge der Einstellungen in Filmen (Abbildung 8), Gefühlsausdruck in fiktionalen Texten (Abbildung 9), sprachliche Kontraktionen in amerikanischen Romanen (Abbildung 10), WiederDatenvisualisierung in den Humanwissenschaften

117

Standardkontraktionen in Dialogen vs. Narration Amerikanisch

Britisch

Anzahl der Datensätze

Maß-Bezeichnungen Durchschnitt der dialogischen Kontraktionen pro 1000 Wörter

Dialog

Durchschnitt der narrativen Kontraktionen pro 1000 Wörter

Dialog

Narrative

Jahr

Narrative

Jahr

Redundanz

Abbildung 10: »The Making of Middle American Style«, 2016 (Die Hervorbringung des mittleren amerikanischen Stils)

Abbildung 11: »Canon / Archive: Large-Scale Dynamics in the Literary Field«, 2016 (»Kanon / Archiv. Großflächige Dynamiken im literarischen Feld«, 2017)

holungen im Kanon und im Archiv (Abbildung 11), Rezensionen von Gedichtsammlungen (Abbildung 12)… Thema um Thema entpuppt sich das Jahrhundert als der typische Maßstab für die quantitative Kulturgeschichte. In manchen Fällen ist es eine Frage der äußeren Rahmenbedingungen: Filme gibt es seit einhundert Jahren, daran lässt sich nicht rütteln; Bücher, die zwischen 1800 und 1900 118 Gut sichtbar verborgen

Vorhergesagte Wahrscheinlichkeit aus der rezensierten Reihe

tatsächlich zufällig rezensiert

Abbildung 12: »The Longue Durée of Literary Prestige«, 2016 (Die longue durée des literarischen Prestiges)

publiziert wurden, ermöglichen (anders als ältere Bücher) eine gute optische Erkennung, während sie (anders als jüngere Bücher) gemeinfrei sind – das erklärt unser typisches Überangebot an Studien zum 19. Jahrhundert. Der tiefere Grund für dieses Vorherrschen des Jahrhunderts hat aber wahrscheinlich mit dem Anspruch der DH zu tun, »eine Form der Musterentdeckung und -interpretation in einem anderen historischen Maßstab zu sein« (»The Quiet Transformations of Literary Studies« [Die stillen Transformationen der Literaturwissenschaft]). Anders als die bisherige Forschung, die sich oft auf einen engen historischen Zeitraum beschränkte. Aber wie genau anders? Auf der Suche nach einer Antwort bot sich das Jahrhundert gewissermaßen als die natürliche Alternative an. Intuitiv ist ein Jahrhundert lang; es ist kein Menschenmaß (da wir nur in Ausnahmefällen so lange leben) und passt folglich nicht mit der traditionellen Konzentration auf individuelle Autoren zusammen; es ist das Tempo der Welt, nicht des eigenen Lebens. Die romanischen Sprachen verwenden Datenvisualisierung in den Humanwissenschaften

119

es als informelle Charakterisierung der Epochen (El Siglo de Oro, une dix-neuvièmiste, il Quattrocento), amerikanische Universitäten für viele ihrer Stellenausschreibungen. In den vorhandenen doxa war die Vorstellung schon präsent; eine schöne, runde Zahl, groß genug, um für eine neue Dimension zu sprechen, aber nicht so groß, um unhandlich zu werden. Zugegebenermaßen war das Jahrhundert eigentlich kein Begriff; so war es beispielsweise in der Dreiteilung der historischen Zeit, wie sie die Annales-Schule ausgearbeitet hatte – longue durée, Zyklus, Ereignis –, auch gar nicht vorgesehen; und gewiss lag seiner Einführung keine theoretische Entscheidung zugrunde. Doch auch hier nahm die Praxis der Theorie geräuschlos das Heft aus der Hand: Das Jahrhundert bot intuitiv einen Rahmen für den neuen Maßstab, nach dem wir suchten, und wir machten es zur Basis – zur horizontalen Achse – unserer historischen Befunde.

Trend: ein Schlüsselwort »Ein anderer historischer Maßstab«: insbesondere einer, in dem Trends sichtbar werden. Bis vor wenigen Jahren sprach im Hinblick auf die Humanwissenschaften niemand von »Trends«; solange nur einige wenige Texte untersucht wurden, die wiederum nur eine Handvoll Jahre abdeckten, konnte man das nicht. Mit den Jahrhunderten kann man es nun. Neue Felder erfordern neue Schlüsselwörter, und der »Trend« – mit seiner spezifischen Mischung aus Richtung und Messung – eignete sich ideal für die DH; so war es auch kein Zufall, dass er von Anfang an dabei war, gleich in der Zusammenfassung des 2011 in Science erschienenen Artikels (»Die Analyse dieses Korpus ermöglicht es uns, kulturelle Trends zu untersuchen […]«), und dass er in den Studien über Filmeinstellungen, die Evolution des Jazz, die Literaturwissenschaft, britische Fachzeitschriften, LyrikRezensionen, Gerichtsprotokolle und Gefühlsausdrücke 120

Gut sichtbar verborgen

immer wie eine Art Eröffnungsakkord auf der ersten Seite wiederkehrte; in einem dieser Artikel taucht er gar 68 Mal auf (»Quantitative Literary History of 2,958 Novels«). Und der Trend ist nicht nur ein Wort: In Abbildungen 4, 8, 9, 10, 11, 12 und 13 ist er in Form von Regressionsgeraden und vergleichbaren Datenauswertungen physisch präsent. Wir haben nicht nur von Trends gesprochen; wir haben sie sichtbar gemacht und sie in den Mittelpunkt gestellt. Das Oxford English Dictionary zum Terminus »trend«: »die allgemeine Richtung, die ein Fluss oder Strom, eine Küste, eine Gebirgskette, ein Tal, eine geologische Schicht insgesamt einschlägt«. Soweit das Verständnis gegen Ende des 18. Jahrhunderts. (Zuvor hatte das Wort schon lange – scheinbar seit dem 11.  Jahrhundert  – als Verb existiert: a river trends (»ein Fluss verläuft«), a coastline trends (»eine Küstenlinie verläuft«). Dann, Ende des 19.  Jahrhunderts, bildet sich die metaphorische Bedeutung heraus: Eine Diskussion »trendet«, das heißt, »sie bewegt sich in eine bestimmte Richtung«; sie »hat eine allgemeine Tendenz«, eine »allgemeine Richtung, Tendenz oder Strömung [des Handelns, Denkens etc.]«. Richtung, Tendenz, Strömung … immer im Singular, weil das Denken in Trends bedeutet, die vielen auf eines zu reduzieren: eine Datenwolke auf eine einzige Linie. Während frühere Ansätze versucht hatten, die »vielen Kreuzwege und Schnittpunkte der Geschichte« zu visualisieren, wie Rosenberg und Grafton in Die Zeit in Karten schreiben, »[betonte] die neue Form der Zeitlichkeit […] vor allem die übergreifenden Muster und das big picture«.⁵ Von zahlreichen Kreuzwegen zu einem einzigen big picture: Darin liegt das Geheimnis. Daten sind immer verwirrend und laut: Trendlinien sind absolut eindeutig. Sie machen es leicht, die Daten zu lesen; sie verleihen ihnen einen Sinn. Was für eine unwiderstehliche Versuchung, einen Sinn in der Geschichte zu suchen. Abbildung 13: Häufigkeit von  Rosenberg / Grafton, Die Zeit in Karten, S. 40.

Datenvisualisierung in den Humanwissenschaften

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Mittlere Menge an Zitaten pro 1000 Wörter

Jahr

Abbildung 13: »Dialogism in the Novel: A Computational Model of the Dialogic Nature of Narration and Quotations«, 2017 (Dialogizität im Roman. Ein Computermodell der dialogischen Verfasstheit von Erzählung und Zitaten)

Dialogen in einem Korpus englischsprachiger Romane. Das Schaubild »zeigt, dass [Autorinnen und Autoren] pro 1000 Wörter rund alle 25 Jahre ein wörtliches Zitat hinzufügen, was knapp einem zusätzlichen Zitat pro Seite pro Jahrhundert entspricht […]«. In Wirklichkeit zeigt das Schaubild, dass die Autoren in der ersten Hälfte des Jahrhunderts die Zitate verdoppeln, dann ungefähr fünfzig Jahre lang unentschlossen hin und her schwanken, in den darauffolgenden siebzig bis achtzig Jahren im Wesentlichen nichts verändern, um die Zitate dann in den letzten beiden Jahrzehnten ziemlich abrupt um fünfzig Prozent zu steigern. (Oder vielleicht produzieren sie zwei Achtzig-Jahre-Zyklen mit einem merklichen Anstieg, der in einem steilen Abfall endet, wobei ein dritter Zyklus nun erst in den 1980er Jahren begonnen hat.) Die schreibende Zunft tut also alles andere als alle 25 Jahre ein wörtliches Zitat hinzuzufügen: Diesen Effekt erzeugt die Trendlinie. Oder nehmen wir Abbildung 8 oben, zur durchschnittlichen Einstellungsdauer in Filmen zwischen 1913 und 2013. 122

Gut sichtbar verborgen

»Die Verminderung ist zu keinem Zeitpunkt abrupt oder eindeutig ablesbar«, stellen die Autoren fest; »sie ist über einen Zeitraum von mindestens achtzig Jahren gleichförmig und stetig«. Nicht abrupt, obwohl Stummfilme die Einstellungsdauer in 15 Jahren mehr als halbierten? Über achtzig Jahre lang (1930–2010) gleichförmig, wenn die Einstellungsdauer zwischen 1930 und 1960 eindeutig größer geworden ist? Sehen sie ihre eigenen Daten nicht? Natürlich sehen sie sie; Trendlinien haben aber verändert, wie wir sehen: Sie haben statistischen Abstraktionen eine körperliche Präsenz gegeben, die so real ist wie die Daten selbst – und in der Tat viel sichtbarer als diese Daten. Die Visualisierung kommt unserer Intuition entgegen; wenn sie eine Punktwolke mit einer Linie in der Mitte zeigt, dann achten wir nur auf die Linie. Das ist unvermeidlich. Statt uns die Analyse der Befunde zu erleichtern, haben uns die Durchschnittswerte deshalb oft dazu gebracht, sie zu vergessen. Wir haben uns der Quantifizierung zugewandt, weil wir all diese Dokumente sehen wollten, die durch die Dominanz des Kanons unsichtbar geworden waren – und nun, da sie uns vor Augen stehen, haben wir eine Möglichkeit gefunden, sie zu übersehen!⁶ Zeitreihen; Inhalt; Jahrhunderte; Trends. Schritt für Schritt hat sich eine neue Art von Kulturgeschichte aus den Visualisierungspraktiken entwickelt. Und das gilt auch für ihre polemischen Ziele. Der erste Absatz von »The Quiet Transformations of Literary Studies« (Die stillen Transformationen der Literaturwissenschaft):

 Obwohl Kanons und Durchschnittswerte natürlich nicht dasselbe sind, spielen sie eine vergleichbare Rolle bei der drastischen Vereinfachung des kulturellen Felds: »Durchschnittswerte«, schrieb Ernst Mayr 1959, »sind lediglich statistische Abstraktionen: Nur die Individuen, aus denen Populationen bestehen, sind wirklich«. Siehe Ernst Mayr, »Darwin and the Evolutionary Theory in Biology«, in: Betty J. Meggers (Hrsg.), Evolution and Anthropology: A Centennial Appraisal, Washington, D. C. 1959, S. 29.

Datenvisualisierung in den Humanwissenschaften

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Die Geschichte der Literaturwissenschaft ist hauptsächlich als Erzählung widerstreitender Ideen im Gedächtnis geblieben. Literaturwissenschaftliche Bewegungen prallen aufeinander […] auch wenn die Wissenschaftler es […] durch eine Betonung des sozialen und institutionellen Kampfes verkompliziert haben, bleibt der Generationenkonflikt ein bestimmender Rahmen: Anstelle der einander bekämpfenden Ideen gibt es Kämpfe zwischen vornehmen Laien, professionalisierten Wissenschaftlern usw. Durch ihre Betonung des Konflikts lassen diese Ansätze immer noch wichtige Dimensionen der Wissenschaftsgeschichte unberücksichtigt: Annahmen, die sich stillschweigend, ohne ausdrücklich geführte Debatten ändern; eingefleischte Muster, die die sichtbaren Auseinandersetzungen überleben; langfristige Transformationen des Terrains, die dem sozialen Wandel geschuldet sind [Hervorhebungen F. M.] […]. Ein paar Zeilen weiter erwähnen die Autoren »den ein Jahrhundert umfassenden Trend« ihres ersten Schaubilds (und vieler weiterer, die folgen): Trends, die die alte »Erzählung von widerstreitenden Ideen« als wichtigsten Mechanismus der Geschichte ersetzen. (Nachdem »Konflikt«, »Kampf« und »Aufeinanderprallen« in den 14 ersten Zeilen des Artikels achtmal vorkamen, kehren sie auf den folgenden 25 Seiten nur noch sechsmal wieder; die »ein Jahrhundert umfassenden Trends« wiederum tauchen in 21 der 23 Schaubilder auf.) Und tatsächlich ist es schwer, in Ansehung einer Trendlinie an Kämpfe zu denken – demgegenüber ziemlich leicht, sich eine »stille Transformation« der historischen Landschaft vorzustellen. Damit hat unser übertriebenes Vertrauen auf Trends, auch wenn das wahrscheinlich niemand wollte, den Konflikt de facto aus der DH-Forschung vertrieben und eine auf unbestimmte Weise entmutigende Atmosphäre der Alternativlosigkeit geschaffen. Das hat die Kulturgeschichte nicht verdient. 124

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Scala della ragione Es gibt noch ein Problem mit den Trends. Während die Autoren von »Shot Durations, Shot Classes« behaupten, die Länge der Einstellungen habe sich infolge »intensiverer Anforderungen an die Aufmerksamkeit der Zuschauer« durchweg verringert, berichten sie andererseits, eine Beprobung von drei verschiedenen Genres habe gezeigt, dass »die mittlere Einstellungsdauer für […] Actionfilme 4,64 Sekunden betrug und die für Komödien oder Dramen 8,55 Sekunden«. Die Zahlen leuchten ein: Ein Genre, das von schnellen körperlichen Bewegungen geprägt ist, wird zu kürzeren Einstellungen neigen als Genres, die auf langen Dialogen beruhen. Bei einem zweiten Blick auf Abbildung 8 stellt man sich also die Frage: Könnte die Verringerung der Einstellungslänge nicht in erster Linie auf den höheren Anteil von Actionfilmen an der amerikanischen Filmproduktion zurückzuführen sein? Da wir über keinerlei Informationen verfügen, wie sich das Korpus der Studie im Hinblick auf die Genres zusammensetzt, eine plausible Hypothese, die zudem von der grafischen Auswertung nichtamerikanischer Filme in Abbildung 14 bestätigt wird: Dort, wo mit Sicherheit weniger Actionfilme gedreht werden als in den Vereinigten Staaten, verringert sich die Länge der Einstellungen zwischen 1930 und 2010 nur unwesentlich. Wäre die Länge von der »intensiveren Aufmerksamkeit« abhängig, müssten die Ergebnisse überall dieselben sein (es sei denn, man wollte behaupten, das US-amerikanische Publikum sei das aufmerksamste von allen); da sich die Ergebnisse aber tatsächlich sehr unterscheiden, ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Beliebtheit von Actionfilmen  – mit ihrer rabiaten Vereinfachung der Narrative – der Grund für die allgemeine Veränderung ist.⁷ Anstelle eines Trends mit einer alterna Dasselbe gilt für eine parallele Untersuchung – »Quicker, Faster, Darker: Changes in Hollywood Film Over 75 Years« (2011) (Rasanter,

Datenvisualisierung in den Humanwissenschaften

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mittlere Einstellungsdauer (Sek.)

Filme in nicht-englischer Sprache

Abbildung 14: »Shot Durations, Shot Classes and the Increased Pace of Popular Movies«, 2015 (Einstellungsdauer, Einstellungsklassen und zunehmende Geschwindigkeit populärer Filme)

tivlosen Richtung – und der optimistischen Diagnose einer unaufhörlich wachsenden Aufmerksamkeit  – sind wir mit einer in gegensätzliche Richtungen weisenden Polarisierung der Filmindustrie konfrontiert: letztlich mit einem Konflikt zwischen unterschiedlichen Kräften. Das ist eine völlig andere Art und Weise, den historischen Wandel zu denken. Ein letzter Punkt noch. Manchmal gibt es zweifellos Trends, die tatsächlich relativ einförmig und stetig sind. Das muss aber nicht unbedingt heißen, dass die hinter ihnen liegenden Kräfte ebenso einförmig sind. Nehmen wir »The Civilizing Process in London’s Old Bailey: A Study of 160 Years schneller, düsterer. Veränderungen im Hollywoodfilm über 75 Jahre) –, die im »Index der visuellen Aktivität« »eine graduelle, im Wesentlichen lineare Veränderung über 75 Jahre« feststellt. In Anbetracht der Tatsachen, dass der Index für Toy Story 15mal höher liegt als der für Barry Lindon und dass Filme wie Toy Story in den vergangenen Jahrzehnten über die Maßen häufiger geworden sind als Filme wie Barry Lindon, ist ziemlich wahrscheinlich, dass sich die fragliche Veränderung am ehesten auf die Zunahme von Kinderfilmen zurückführen lässt.

126

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of Legal Records that Charts the Growing Differentiation of the Language Used for Violent and Non-violent Crimes« (Der Zivilisationsprozess in Londons [Strafgerichtshof] Old Bailey. Eine Studie über 160 Jahre Gerichtsprotokolle, die die zunehmende Differenzierung der für Gewaltdelikte und gewaltlose Delikte verwendeten Sprache erfasst«; Abbildung 15) als Beispiel. Hier gibt es lokale Oszillationen, der Trend aber ist so gleichmäßig, wie man es sich nur wünschen kann. Und dennoch ist, wie die Autoren hervorheben, dieser »profane Anstieg […] nicht einfach die Ausweitung eines bestimmten ursprünglichen Musters; vielmehr verändern sich die Synonymreihen, mit deren Hilfe zwischen Verhandlungen über Gewaltdelikte und solchen über gewaltlose Delikte unterschieden wird«. Was das heißt, verdeutlicht Abbildung 16, die die Worthäufigkeit des der Studie zugrunde gelegten Vokabulars von Jahrzehnt zu Jahrzehnt aufzeichnet. Hier ist nichts gleichmäßig. Manche Reihen, wie die Synonyme für »death« (Tod) bleiben über den gesamten Zeitraum hinweg praktisch unverändert; »arms« (Waffen) und »greatness« (Größe) erreichen ihren Höchststand in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, »remedy« (Gegengift, Abhilfe) (als Zeichen dafür, dass medizinische Beweismittel nun Eingang in das Gesamtbild finden) in der zweiten Hälfte; in der gewaltlosen Gruppe sind »receptacle« (Schlupfwinkel) und »clothing« (Kleidung) bei kleineren Diebstählen in den frühen Jahren von Bedeutung, um dann zu verschwinden; das Gegenteil gilt für »money« (Geld) und »record« (Protokoll, Akte), die Vorboten viktorianischer Wirtschaftskriminalität. Der Trend war stetig und einförmig; die Kräfte, die für ihn verantwortlich waren, disparat und heterogen. »The Making of Middle American Style«: ein gleichförmiger, konstanter Anstieg des umgangssprachlichen Stils über mehr als ein Jahrhundert (siehe Abbildung 10 oben); dahinterstehend fünf unterschiedliche Wellen, die jeweils etwa über den Zeitraum einer Generation anhielten: von irischen, schottischen und Datenvisualisierung in den Humanwissenschaften

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Jensen-Shannon-Divergenz (Bits)

Synonymreihen

Jahr

Abbildung 15: »The Civilizing Process in London’s Old Bailey«, 2014 (Der Zivilisationsprozess in Londons Old Bailey)

englischen Archaismen (»o«, »thee«, »thy«) über höfliche Formen der Anrede (»sir«, »doctor«) und Ausdrücken des afroamerikanischen und Arbeiterklassen-Soziolekts (»fer«, »ter«, »tuh«, »dat«) bis zu den vornamenbasierten Dialogen des 20.  Jahrhunderts (vgl. hierzu die ergänzende Studie »Operationalizing the Colloquial Style: Repetition in 19thCentury American Fiction«, 2017 [Operationalisierung des umgangssprachlichen Stils. Wiederholung in der amerikanischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts]). Der Anstieg war vollkommen gleichmäßig; seine von Generation zu Generation aufeinanderfolgenden Phasen absolut kontingent. Man ändert den historischen Maßstab, und schon ergibt sich ein anderes Bild. Eine Analogie soll das verdeutlichen. In mehreren italienischen Städten findet sich in der Altstadt ein sogenannter Palazzo della Ragione – ein Palast der Vernunft, der in der Frühen Neuzeit Gerichtshöfe, Notare, Justizbeamte und Regierungsbehörden beherbergte. In Verona baute man im 15. Jahrhundert im Cortile del Mercato Vecchio an den Pa128

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(a) Violent

(b) Non-violent

Abbildung 16: »The Civilizing Process in London’s Old Bailey«, 2014

lazzo eine »Scala della Ragione« an: eine prächtige Außentreppe aus rotem Marmor, die auf halber Höhe in einem Winkel von 90 Grad scharf abknickt und dennoch das Bild einer ununterbrochenen, regelmäßigen Steigung bewahrt: Gerade so, wie die Vernunft funktionieren sollte. Diese schöne Regelmäßigkeit aber ruht auf vier abenteuerlich ungleichen Datenvisualisierung in den Humanwissenschaften

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Abbildung 17: Verona, Scala della Ragione, um 1450

Bögen (Abbildung 17) – genau so, wie der stetige Trend der Gerichtsakten des Old Bailey auf einem Flickenteppich einander widerstreitender und ungleicher Kräfte beruhte. Und man fragt sich: Wie sollte die historische Erklärung in solchen Fällen aussehen? Sollen wir uns auf den gleichförmigen, langfristigen Trend konzentrieren oder auf die seltsamen ihn tragenden Bögen? Und wenn letzteres, hieße das, dass der Trend lediglich ein Oberflächenphänomen darstellt, eine Art statistisches Phantom? Oder sollte sich unsere Begriffsarchitektur ein Beispiel an der zugleich geradlinigen und unstimmigen Freitreppe nehmen? Doch was würde das für die historische Kategorisierung überhaupt bedeuten …?

Morphologie Wir haben gesehen, wie sich die chronografischen Diagramme der digitalen Humanwissenschaften um die Größenordnung von etwa einem Jahrhundert scharen. In der 130 Gut sichtbar verborgen

Visualisierung der morphologischen Merkmale allerdings – des Bewusstseinsstroms, des Rhythmus amerikanischer Slapstick-Komödien, der Rolle der Hauptfigur in Dramen, der Blickrichtung in europäischen Porträts – wird die historische Zeitspanne viel variabler: 30 Jahre, 60, 350, 500 …⁸ Und in Studien, die gänzlich auf chronografische Diagramme verzichten, ist die Variationsbreite sogar noch größer: von den drei Jahren der Popmusik-Songs über die zehn der britischen »religiösen Romane«⁹ bis zu den über 2000 Jahren der Warburg’schen Pathosformeln und der völlig unbestimmten Skala – »am Kreuzungspunkt von mündlicher Erzählfolklore und literarischen Stilen und Kontexten«  – der europäischen Märchen.¹⁰ Warum diese Unbekümmertheit mit der Geschichte? Weil sich der Untersuchungsgegenstand verändert hat. Im Zuge seiner Beschreibung des Unterschieds zwischen dem »Evolutionsbiologen« und dem »Funktionsbiologen« stellte Ernst Mayr fest, dass die Konzentration des letzteren auf  »Turbulent Flow: A Computational Model of World Literature« (2016) (Turbulenter Fluss. Ein computergestütztes Modell der Weltliteratur); »Distant Viewing: Analysing Large Visual Corpora« (2018 noch im Peer Review, 2019 erschienen) (Fern-Sicht. Die Analyse großer visueller Korpora); »Distributed Character: Quantative Models of the English Stage, 1550–1900« (2017) (Verteilte Figuren. Quantitative Modelle der englischen Bühne, 1550–1900); »How Portraits Turned Their Eyes Upon Us: Visual Preferences and Demographic Change in Cultural Evolution« (2013) (Wie uns Porträts ansahen. Visuelle Vorlieben und demographischer Wandel in der kulturellen Evolution).  Franco Moretti, Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte, Frankfurt a. M. 2009, S. 28, 44.  »Are Typical Things More Popular?« (2018) (Sind typische Dinge beliebter?); »Advances in the Visualization of Data: The Network of Genre in the Victorian Periodical Press« (2015) (Fortschritte in der Datenvisualisierung. Das Netzwerk des Genres in der viktorianischen Fachpresse); »Totentanz: Operationalizing Aby Warburgs Pathosformeln« (2017) (»Totentanz. Aby Warburgs Pathosformeln operationalisieren«, im vorliegenden Band, S. 71–109); »Computational Analysis of the Body in European Fairy Tales« (2013) (Computergestützte Analyse des Körpers in europäischen Märchen).

Datenvisualisierung in den Humanwissenschaften

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die »Wirkungsweise und […] wechselseitigen Beziehungen struktureller Elemente« eine Situation schuf, in der diese »Elemente« nicht wie in einer evolutionären Studie über die Zeit hinweg verfolgt, sondern vielmehr zeitlich isoliert werden, um »alle Variablen auszuschalten oder unter Kontrolle zu bringen«.¹¹ »Das Wort ›Morphologie‹ bedeutet Formenlehre« – schrieb Vladimir Propp auf der ersten Seite der Morphologie des Märchens –, also »die Lehre von den Bestandteilen […] [sowie] deren Verhältnis zueinander und zum Ganzen«.¹² Für diese Art von Untersuchung braucht man eher einen Seziertisch als die Geschichte. Wir sind nun wieder an den Ausgangspunkt unseres Artikels zurückgekehrt. In den Zeitreihen wurden Texte wie »Wortsäcke« gesehen, die unmittelbar die umgebende Welt »offenbarten«  – ohne jegliche Berücksichtigung von »strukturellen Elementen« oder »Verhältnissen zum Ganzen«. Die Morphologie dagegen konzentriert sich auf die »Wirkungsweise und wechselseitigen Beziehungen« von Strukturen, die sie zwischen dem Beobachter und der Welt verortet. Blicken wir auf das Schaubild zur Lautstärke in Dostojewskis Der Idiot, Abbildung 18: Während sich im ersten Dutzend Abbildungen des vorliegenden Artikels nicht der mindeste Hinweis darauf fand, wie Texte funktionieren, sehen wir hier ausschließlich die innere Organisation des Romans. Der Autor der Studie – ein Pianist und HauptfachStudent der Literaturwissenschaft  – interessierte sich für die »Lautstärke« von Erzähltexten; er fand eine elegante Methode, um sie zu operationalisieren, indem er Verben des Sprechens als laut, neutral und leise kategorisierte.¹³ Natürlich analysierte er auch, was die Figuren sagten, sei Ernst Mayr, Eine neue Philosophie der Biologie, München 1991, S. 37 f.  Vladimir Propp, Morphologie des Märchens, München 1972, S. 9.  Drei Beispiele aus einer berühmten Szene in Alice im Wunderland illustrieren das in jenem Aufsatz verfolgte Klassifikationsprinzip. Lautes Register: »Die Königin […] schrie: ›Schlagt ihm den Kopf ab!‹ Neutral: »›Woher soll ich das wissen?‹, sagte Alice«. Leise: »Es […] wisperte: ›Sie ist

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Abbildung 18: »Loudness in the Novel«, 2014 (Lautstärke im Roman) »Obwohl die Lautstärke von vielen einzelnen Personen hergestellt wird, ist [dieses Bild] kein Schaubild der Kakophonie. Aus den vielen Stimmlinien kann man […] einen kleinen Höhepunkt in Kapitel 7 erkennen; als zweites den dramatischen Höhepunkt in Kapitel 10; als drittes eine Zweiteilung des Dialogs in die Extreme: Rogoschin, Lebedew, Ferdyschtschenko, Darja, Nastassja […] füllen den Raum mit Lautstärke; Myschkin, Iwan Jepantschin, Ptizyn und Tozkij schaffen eine Unterströmung des Flüsterns. [Dies] ist wirklich ein Graph der Polyphonie, der ›künstlerisch organisierten‹ Stimmen.«

nen Schwerpunkt aber legte er darauf, wie sie es sagten. An seinem Schaubild ist abzulesen, dass am Ende der Sequenz Rogoschin schreit und Myschkin flüstert – ohne dass man irgendetwas darüber wüsste, was sie sagen. Diese gewagte Reduktion ermöglichte es nun, Bachtins Metapher von der »Polyphonie des Romans« in eine konkrete und tragfähige analytische Strategie zu übersetzen. Der Idiot war zu einer Partitur geworden. »Das Verhältnis der Bestandteile zueinander«, so lautete Propps Definition der morphologischen Analyse. In »Loudness in the Novel« sind Stimme und Handlungssystem die Bestandteile; in einer anderen Untersuchung, »Computazum Tode verurteilt.‹« Lewis Carroll, Alice im Wunderland, Frankfurt a. M. 2012, S. 88–91.

Datenvisualisierung in den Humanwissenschaften

133

Abbildung 19: »The Body in European Fairy Tales«, 2013 (Der Körper in europäischen Märchen) Die Adjektive in der Mitte der sternförmigen Struktur, wie »poor [arm]« und »good [gut]« werden für drei oder für alle vier Figuren häufig gebraucht; andere stehen nur für zwei von ihnen (wie das »small [klein]«, das die beiden jungen Figuren miteinander verbindet, oder das »ghastly looking [grässlich aussehend]« der beiden alten); während andere sogar nur für eine Figur verwendet werden (»scrawny [vertrocknet]« für die alte Frau, »beautiful-and-virtuous [schön-und-tugendhaft]« für die junge Frau). Insgesamt veranschaulichen die Adjektive die Beschaffenheit von Werturteilen, die diesem Märchen-Korpus zugrunde liegen.

tional Analysis of the Body in European Fairy Tales« (2013) sind die Bestandteile eine Matrix von vier Schlüsselfiguren (jung /alt, männlich /weiblich) und alle Adjektive, die sie im Korpus definieren (Abbildung 19). Die Dicke der Linien ist proportional zur Häufigkeit der Verknüpfung, und sie zeigt, dass männlich und weiblich – im gegebenen Korpus – einander weniger entgegengesetzt sind als jung und alt: Junge Männer und Frauen sind stabil miteinander verbunden, 134 Gut sichtbar verborgen

Mittlere Entropie

Populärliteratur

Liebesromane

Wörter des Denkens/Fühlens

Abbildung 20: »Self-Repetition and East Asian Literary Modernity 1900–30«, 2018 (Selbstwiederholung und die ostasiatische literarische Moderne 1900–1930) »Grafiken zum Verhältnis von Wörtern des ›Denkens / Fühlens‹ zur durchschnittlichen Entropie für Japan und China mit den linearen Regressionslinien der Genres. In beiden Fällen können wir beobachten, dass die mittlere Entropie des Textes in dem Maße abnimmt (vertikale Achse), wie der Anteil von Wörtern des ›Denkens / Fühlens‹ zunimmt (horizontale Achse), was eine größere sprachliche Wiederholung anzeigt.« Die Verbindung zwischen Innerlichkeit und Wiederholung, die aus diesem Diagramm des chinesischen Romans hervorgeht, ist alles andere als selbstverständlich: In ebenjenen Jahren beruhte die innere Landschaft des Bewusstseinsstroms im Ulysses auf dem genau gegenteiligen Prinzip – einem vollständigen Fehlen von Wiederholung und Vorhersagbarkeit.

genau wie die beiden alten Figuren  – während jung und alt relativ unverbunden bleiben. Auf ähnliche Weise zeigt Abbildung 20 die Korrelation zwischen Innerlichkeit und sprachlicher Wiederholung in der ostasiatischen Literatur; und Abbildung 21 (auf S. 138) die zwischen Syntax und Semantik in englischen Romanen des 19. Jahrhunderts.

Datenvisualisierung in den Humanwissenschaften

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Zeit ohne Geschichte Ernest Labrousse bemerkte einmal: »[I]n der Wirtschaftsgeschichte sind im Unterschied zu anderen Bereichen der Geschichte alle wichtigen Phänomene solche, die sich wiederholen«.¹⁴ Dasselbe gilt für die Morphologie: Ihre Lieblingsgegenstände – die Muster – gehen genau aus der normalen Reiteration desselben Prozesses im Laufe der Zeit hervor.¹⁵ Doch diese »Zeit« unterscheidet sich stark von der des Wirtschaftshistorikers oder von den Zeitreihen, denen wir weiter oben begegnet sind. Die 250 Romane in Abbildung 21 wurden alle im 19. Jahrhundert veröffentlich, und es wäre ein Leichtes gewesen, ihre Veröffentlichungsdaten in das Schaubild zu importieren; wir waren aber allzu sehr darauf konzentriert, die inneren Mechanismen dieser Sätze zu verstehen, als dass wir an die Geschichte auch nur gedacht, geschweige denn, irgendetwas mit ihr angestellt hätten. Unsere Studie brauchte »Zeit«, in dem Sinne, dass nur Wiederholung die Korrelationen begründen konnte, nach  Labrousse wird in Krzysztof Pomians rückblickenden Reflexionen auf die Annales zitiert, wo er auch darauf hinweist, dass mit Braudel »die Historiographie sich wiederholender Phänomene das Feld [verlässt], auf das sie scheinbar beschränkt war« […], um am Ende »in alle oder fast alle Zonen und Poren der Geschichte ein[zudringen]«: Krzysztof Pomian, »Die Geschichte der Strukturen«, in: Jacques Le Goff (Hrsg.), Die Rückeroberung des historischen Denkens. Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft, Frankfurt a. M. 1994, S. 166–200, hier: S. 180 f. Den Horizont des Kulturhistorikers auf vergleichbare Weise zu erweitern war eine wichtige Leistung der digitalen Humanwissenschaften; was aber den Neuigkeitswert der Ergebnisse und die begriffliche Klarheit angeht, können wir immer noch viel von dem lernen, was der Gruppe der Annales vor ein, zwei Generationen gelungen ist – mit wesentlich kleineren Archiven und primitiveren digitalen Werkzeugen.  Muster haben innerhalb der Morphologie eine ähnliche Rolle gespielt wie Trends in der Geschichte: Sie werden oftmals als an sich hinreichende Ergebnisse begrüßt, obwohl die wahre Herausforderung darin besteht, die ihnen zugrunde liegenden Ursachen zu entdecken. Eine kritische Auseinandersetzung hierzu findet sich in »Muster und Interpretation«, in: Franco Moretti et al., Literatur im Labor, S. 251–268.

136 Gut sichtbar verborgen

denen wir suchten; es war aber nicht die Zeit des Historikers: Es war die Zeit des Labors. Eine abstrakte Zeit: ein paar Variablen, die man Hunderte Male durchlaufen ließ, um die »Wirkungsweise und wechselseitigen Beziehungen« zu verstehen. Die Zeit des Experiments, die es streng getrennt zu halten hieß von der Zeit der Welt.¹⁶ Zeit, ohne Geschichte. Im nächsten Abschnitt werden wir sehen, dass die Morphologie nicht unweigerlich in die abstrakte Zeit des Experiments eingesperrt bleiben muss; für den Augenblick wollen wir lediglich konstatieren, dass die digitale Wende für morphologische Untersuchungen zugleich großartige Möglichkeiten eröffnet und weitere Probleme geschaffen hat. Neue Möglichkeiten, weil ästhetische Kategorien durch die Operationalisierung greifbarer denn je geworden sind: »Polyphonie«, »Pathosformeln«*, »Nebenfiguren« – heutzutage kann man diese Abstraktionen buchstäblich sehen und einige ihrer Bestandteile exakt messen. Die Digitalisierung hat die Probleme der Morphologie aber zugleich vergrößert, weil sie eine so artifizielle Isolierung der Formen erfordert, dass sich deren historische Bedeutung praktisch in Luft aufgelöst hat. Die Form als der im tiefsten Sinne soziale Aspekt des Kunstwerks: Diese Idee, die vor einem halben Jahrhundert so vielversprechend aussah, hat sich dem computergestützten Arbeiten, das zwischen dem im ersten Teil dieses Artikels geschilderten naiven Historismus und dem zuletzt beschriebenen labormäßig-abstrakten Formalismus hin- und hergerissen gewesen ist, bislang entzogen. Ein alter Fluch ist in neuartigem Gewand wiedergekehrt. »Das Verhältnis der Bestandteile zueinander und zum Ganzen«, schrieb Propp in der Morphologie des Märchens. Abbildungen 18, 19, 20 und 21 mit ihren zwei Variablen, eingetragen auf die beiden Achsen eines cartesischen Dia »Die Haupttechnik des Funktionsbiologen ist das Experiment«, stellte Mayr in Eine neue Philosophie der Biologie fest, »und er geht im wesentlichen genauso an seine Aufgabe heran wie der Physiker und der Chemiker« (S. 37 f.).

Datenvisualisierung in den Humanwissenschaften

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Komp. 2

Komp. 1

Abbildung 21: »Style at the Scale of the Sentence«, 2013 (»Stil auf der Ebene des Satzes«, 2017) Ein Beispiel dafür, was aus der Literatur geworden ist – im neuen Raum der Literaturlabore, in denen Romane für die Analyse auf eine Art »präpariert« werden, die alle Verbindungen zur lebendigen Erfahrung ihrer Lektüre kappt. In diesem Bild werden Sätze und Wörter aus ihrem narrativen Kontext herausgelöst und auf gänzlich abstrakte Weise rekombiniert, um den möglichen Zusammenhang zwischen syntaktischen Sequenzen und semantischen Feldern zu testen.

gramms oder verteilt über ein Hauptkomponenten-Streudiagramm, sind schöne Illustrationen der »Verhältnisse der Bestandteile zueinander«; keiner Grafik aber ist es jemals gelungen, »die Verhältnisse der Bestandteile zum Ganzen« zu visualisieren. Einige Untersuchungen haben ganze 138 Gut sichtbar verborgen

Komp. 2

Komp. 1

Abbildung 22: »Style at the Scale of the Sentence«, 2013 (»Stil auf der Ebene des Satzes«, 2017) »Schauerromane, in schwarz, sind im linken unteren Quadranten versammelt und die Bildungsromane, in weiß, im darüber liegenden Quadranten […] Die in das Schaubild eingetragenen Einheiten (wie z. B. Goth_03_0_1790_Radcl_ASicilianR in der linken unteren Ecke oder Bild_06_1_1874_Eliot_Middlemarc in der linken oberen Ecke) sind Abschnitte der Romane [aus unserer Datenbank], bestehend aus jeweils 200 narrativen Sätzen. Die für die Unterscheidung der beiden Gattungen vor allem verantwortlichen Verbformen sind das Perfekt und das Präteritum Passiv für den Schauerroman, Modalverben und Verlaufsformen für den Bildungsroman.«

Formen zu einem einzigen Merkmal »verdichtet« und sie auf dieser Grundlage miteinander verglichen – so wie beispielsweise mittels der Reduktion des Schauerromans und des Bildungsromans* auf ihre Verbformen in Abbildung 22; die Vergleichsgrundlage ist nach und nach immer belastbaDatenvisualisierung in den Humanwissenschaften

139

Diskontinuität

Fokus

Abbildung 23: »On Paragraphs: Scale, Themes and Narrative Form«, 2015 (»Über Absätze. Ebenen, Themen und narrative Form«, 2017) »In diesem Diagramm misst die x-Achse die Fokussierung der Absätze [das heißt, wie viel eines gegebenen Absatzes sich einem einzigen Thema widmet] und die y-Achse ihre Diskontinuität [das heißt den Unterschied zwischen den Themen aufeinanderfolgender Absätze]. Die Trennung zwischen den drei Diskursarten – und besonders zwischen belletristischen Texten und nichtnarrativen Sachtexten – ist unübersehbar«.

rer und komplexer geworden, wie etwa durch die Kombination verschiedener Metriken zum »thematischen Fokus« von Abbildung 23 oder durch die unterschiedlichen Aspekte der Zentralität im Netzwerk zum »Protagonismus« von Abbildung 24. Unter dem Strich aber haben sich diese Grafiken nicht der Frage gestellt, wie die »Bestandteile« zusammenspielen, um eine komplexe Struktur zu bilden: Durch eine Reduktion des Ganzen auf einige wenige seiner Teile haben sie eine hilfreiche Vereinfachung der Strukturen geboten, nicht aber ihre analytischen Blaupausen. Eine Visualisierung der Morphologie bleibt eine Aufgabe für die Zukunft. 140 Gut sichtbar verborgen

Historiendrama

Tragödie

Verhältnis von Eigenvektor-Gini-Koeffizient zu Figuren im obersten Quartil

Komödie

Abbildung 24: »Distributed Character: Quantitative Models of the English Stage, 1550–1900«, 2017 (Verteilte Figuren. Quantitative Modelle der englischen Bühne, 1550–1900) »Während Historiendrama und Tragödie ähnliche morphologische Beziehungen zwischen ihren Zentren und Peripherien aufweisen, wie es ihre ähnliche Protagonismus-Metrik anzeigt, sind Komödien strukturell anders, weil sie im Verhältnis zu ihrem Zentrum eine viel geringere Peripherie haben.«

Historische Morphologie? Ein Abschnitt über Geschichte und einer über Morphologie. Voneinander getrennt, weil ihre Ziele unterschiedlich und in gewissem Sinne geradezu gegensätzlich sind. Die Morphologie sucht nach Distinktionen und Korrelationen: Merkmale, aus deren Zusammenspiel eine charakteristische Form hervorgeht, bis hin zu dem größeren System von Distinktionen, das wir Taxonomie nennen. Historische Untersuchungen sind auf Kontinuität und Aufeinanderfolge Datenvisualisierung in den Humanwissenschaften

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Abbildung 25: Der Ursprung der Arten, Kap. IV: »Natürliche Selektion« »Sie werden Kap. IV verwirrend & unverständlich finden ohne die Hilfe des beigefügten merkwürdigen Diagramms, von dem ich alten & unnützen Beleg schicke.« Charles Darwin, Brief an Charles Lyell, 2. September 1859.

ausgerichtet: Statt ihre Gegenstände zu erschließen, verfolgen sie deren Schicksale im Laufe der Zeit – normalerweise in Form einer einzigen Trendlinie. Und man fragt sich: Wie würde eine Kombination der beiden Forschungsstrategien aussehen? Abbildung 25 reproduziert das einzige Bild, das in Der Ursprung der Arten enthalten ist. Eingefügt in das Kapitel über »Natürliche Selektion«, hat das Diagramm (Darwins Ausdruck) zum Ziel, den Zusammenhang zwischen dem Vergehen der Zeit (gemessen in Tausenden von Generationen entlang der vertikalen Achse) und der zunehmenden Auseinanderentwicklung der ursprünglichen Spezies A und I, am unteren Ende des Schaubilds angezeigt, sichtbar zu machen. Was das Diagramm zeigt, ist mit anderen Worten die unauflösliche Verbindung von Geschichte und Morphologie, die typisch für die natürliche Welt ist. Strukturen sind, was sie sind, weil sie so geworden sind. Es gibt keine Formen ohne Geschichte. 142

Gut sichtbar verborgen

Keine Formen ohne Geschichte. Doch unter den Hunderten von Schaubildern in unserem Korpus weist nur eine Handvoll eine gewisse Ähnlichkeit mit Darwins Diagramm auf. Eines der Schaubilder, wiedergegeben in Abbildung 26, (auf der nächsten Seite) verfolgt die lexikalische Auseinanderentwicklung von englischer Lyrik, fiktionaler Prosa und Non-Fiction im 18. und 19.  Jahrhundert. Aufgrund des Verhältnisses von Wörtern, die vor oder nach 1150 Eingang in die englische Sprache gefunden haben, zeigt die Grafik, wie die Belletristik und (insbesondere) die Lyrik ihren Gebrauch des alten Vokabulars von vor 1150 in der Zeit von 1750 bis 1900 steigerten, während dies in der nichtfiktionalen Literatur nicht der Fall war. Das sich daraus ergebende Muster erinnert an Darwins Diagramm, an die Auftrennung zwischen Gewaltdelikten und gewaltlosen Delikten im Old Bailey (Abbildung 15 oben) oder an den Verzweigungsprozess, der in Abbildung 27 zu Rückblenden und Vorausblenden (auf der übernächsten Seite) ablesbar wird.¹⁷  Ein paar weitere Aufsätze enthalten Hinweise auf Verzweigungen, doch ihre Autoren verfolgen diese Möglichkeit nicht weiter. In »Quicker, Faster, Darker« zum Beispiel wird der »Index visueller Aktivität« als allumfassender Trend gedeutet, obwohl die Daten in einer der Abbildungen des Aufsatzes (1b) für einen beginnenden Fall von Divergenz sprechen könnten, ganz ähnlich wie in »Broken Time«. Etwas Vergleichbares geschieht auch in »Film Through the Human Visual System« (Film und das visuelle System des Menschen) und in »Now, Not Now« (Jetzt, nicht jetzt), wo sich in ihrer Verwendung der narrativen Rollen Bestseller von preisgekrönten Romanen abspalten. Verzweigungsprozesse in Kriminalromanen der 1890er Jahre und in der freien indirekten Rede zwischen 1800 und 2000 wurden explizit in »The Slaughterhouse of Literature« (2000) (Franco Moretti, »Die Schlachtbank der Literatur«, in: ders., Distant Reading, Konstanz 2016) und in Graphs Maps Trees (2005) (Franco Moretti, Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte, Frankfurt a. M. 2009) behandelt. Beide Studien aber weisen nicht die ausdrücklich quantitative Dimension auf, die wir hier bewerten.

Datenvisualisierung in den Humanwissenschaften

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Abbildung 26: »The Emergence of Literary Diction«, 2012 (Die Entstehung literarischer Diktion) Die Untersuchung misst das jährliche Verhältnis des Wortschatzes von vor 1150 zum Vokabular, das von 1150 bis 1699 ins Englische eingegangen ist. Diese Zahlen wurden für mehr als 4000 Bände errechnet, die im 18. und 19. Jahrhundert erschienen sind.

»The Emergence of Literary Diction«, »The Civilizing Process in London’s Old Bailey« und »Broken Time« haben drei gemeinsame Eigenschaften. Indem sie die morphologische Besonderheit ihrer Gegenstände betonen, unterscheiden sie sich deutlich vom Mainstream der historischen Forschung in den digitalen Humanwissenschaften; dadurch, dass sie strukturelle Merkmale mit dem Verstreichen der Jahre korrelieren, vermeiden sie die »abstrakte« Zeit der meisten morphologischen Untersuchungen; und schließlich sind sie alle von dem geprägt, was Ernst Mayr »Populationsdenken« genannt hat. Man kann »die Ursachen der biologischen Vielfalt nicht allein dadurch erkennen«, schrieb er, »dass man eine einzelne Population zu verschiedenen Zeitpunkten, gewissermaßen ›vertikal‹ untersucht; man muss vielmehr auch verschiedene, zur gleichen Zeit lebende Populationen 144

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US-amerikanische Mystery-Thriller (1970–2009)

Anachronien pro Stunde

40 Anzahl der Zeitschienen 1 2 3 4 5 6 7

30

20 Cluster Konservativ Moderat Extrem 10

0

1970

1980

1990

2000

2010

Abbildung 27: »Broken Time, Continued Evolution: Anachronies in Contemporary Films«, 2017 (Gebrochene Zeit, fortgesetzte Evolution. Anachronien in zeitgenössischen Filmen) In dieser Untersuchung war man zufällig auf den Verzweigungsprozess gestoßen, obwohl das Forschungsteam einen einfachen gleichförmigen Anstieg – einen Trend: die Standardannahme der DH-Studien – bei der Verwendung von Anachronien (Rückblenden und Vorausblenden) erwartet hatte. Dann wurde klar, dass einige Filme (die dunkelgrauen und mittelgrauen Punkte) zwar tatsächlich einen solchen Anstieg verzeichneten, eine andere Gruppe (die hellgrauen Punkte) dagegen fast gar keinen. Noch auffälliger war, dass sich die Unterschiede zwischen den drei Gruppen nicht auf die Anzahl der Anachronien beschränkten, sondern auch auf ihre Stellung im Handlungsverlauf erstreckten und letztlich auf ihre Funktion für die narrative Struktur des Films. In der hellgrauen Gruppe fanden Rückblenden und Vorausblenden in überwältigender Mehrzahl gleich am Anfang oder kurz vor Ende des Films statt, in der Regel mit der ausdrücklichen Funktion, ein Rätsel mittels einer Rückblende zum ursprünglichen Verbrechen aufzuklären. Im Gegensatz dazu waren die Anachronien in der dunkelgrauen und mittelgrauen Gruppe ziemlich gleichmäßig über den Film verteilt und scheinen eine andere Funktion übernommen zu haben, nämlich überall in der Geschichte kleine Rätselhaftigkeiten zu multiplizieren.

Datenvisualisierung in den Humanwissenschaften

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einer Spezies einander gegenüberstellen«.¹⁸ Verschiedene, zur gleichen Zeit lebende Populationen miteinander vergleichen: Statt eine einzige »Population«, beispielsweise die Mörder, herauszugreifen, verfolgt »The Civilizing Process in London’s Old Bailey« den gleichzeitigen Verlauf zweier unterschiedlicher Fall-Klassen; »The Emergence of Literary Diction« den dreier Diskursgattungen; »Broken Time« den von drei Filmformen. Indem diese verschiedenen »kulturellen Populationen« in regelmäßigen Zeitabständen kartiert werden, nimmt ein Verzweigungsmuster vor unseren Augen Gestalt an. Das ist fast so, als wäre man Zeuge der Entstehung einer neuen kulturellen Art.¹⁹  Ernst Mayr, Das ist Evolution, München 2003, S. 217 f. »Für diejenigen, die den Populationsgedanken akzeptiert haben«, schreibt er an anderer Stelle, »stellt die Unterschiedlichkeit von Individuen innerhalb einer Population die Realität der Natur dar, während der Durchschnittswert (der ›Typus‹) nichts weiter als eine statistische Abstraktion ist«. Mayr, Eine neue Philosophie der Biologie, S. 26.  Man muss nicht eigens betonen, dass wir hier nicht behaupten wollen, eine Kombination von Morphologie und Geschichte führe automatisch zu einer evolutionären Verzweigung. Abbildung 11, oben, die Kanon und Archiv über hundert Jahre verfolgt, weist absolut keine Divergenz zwischen den beiden Populationen auf. Zudem ist auch das genaue Gegenteil der Verzweigung – die »retikulate« Evolution oder Verschmelzung von Entwicklungslinien – immer im Rahmen des Möglichen. Die Thematik wird ausführlich behandelt in Oleg Sobchuk, Charting Artistic Evolution: An Essay in Theory, Tartu (Estland) 2018. Um die wichtigsten Punkte zusammenzufassen: Ein Austausch von Merkmalen zwischen unterschiedlichen kulturellen Entwicklungslinien geschieht in der Regel zwischen nahen Verwandten und wird mit zunehmender morphologischer Distanz immer unwahrscheinlicher. Die Entwicklungslinie der Schauerromane kann sich leicht mit der historischer Romane vereinen; weniger leicht mit Courtship novels (obwohl Northanger Abbey [Jane Austen, Die Abtei von Nordhanger] beweist, dass es nicht unmöglich ist); und sogar noch schwieriger mit Schlüsselromanen über die feine Gesellschaft (silver-fork fiction), Industrieromanen usw. Angelehnt an den Mikrobiologen Eugene Koonin könnte man sagen: Wenn wir die Daten aus der Nähe betrachten, sehen wir ein retikulares Netz, wenn wir sie uns aber aus der Ferne anschauen, sehen wir eine Baumstruktur: »Organismen, die sich in Stammbäumen ›nahe‹ zu sein scheinen, tauschen

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Abbildung 28 (auf der nächsten Seite), in der Mayr zwei verschiedene Modelle der Evolution einander gegenüberstellt, hilft vielleicht zu verstehen, worum es in diesem Zusammenhang geht. Bei der stammesgeschichtlichen Evolution (A) entwickelt sich eine Spezies im Laufe der Zeit und durchläuft mehrere Stufen der Anpassung – von a bis f – an eine sich verändernde Umwelt. Bei allen Veränderungen bleibt sie dennoch die ganze Zeit ein und dieselbe Spezies. Es kommt zu keiner Vergrößerung der biologischen Vielfalt. Für dieses »Entwicklungsdenken«, wie es Robert O’Hara genannt hat, »[ist] die Geschichte (history) eine Geschichte (story) der individuellen Entwicklung oder Entfaltung – eine »Evolutions«-Geschichte (story) im ursprünglichen Sinne des Wortes«.²⁰ Ein roter Faden zieht sich durch aufeinanderfolgende Entwicklungsstufen: Australopithecus, Homo habilis, Homo erectus … Klassik, Romantik, Realismus … Keine Verzweigungen, nur ein in Abschnitte unterteilter Stamm – wie bei den Trends, die wir weiter oben diskutiert haben, wo eine einzige Linie genügt, um die Geschichte einer ganzen Population zu abzubilden. Im Falle der Artentstehung dagegen (B) – in dem der Vorfahre a die fünf Nachkommenarten g, n, m, k, e erzeugt … – macht die baumförmige Struktur unmittelbar den Zuwachs an biologischer Vielfalt sichtbar. Die Populationen der Lyrik und der fiktionalen Prosa zweigen sich von jener der Non-fiction ab; Gerichtsprozesse um Gewaltdelikte von solchen um gewaltlose Delikte. Die Geschichte wird zu einem Prozess der schöpferischen Diversifikation.²¹ häufig Gene untereinander aus, und Organismen, die in den Stammbäumen entfernt voneinander erscheinen, sind diejenigen, zwischen denen [ein Genaustausch] selten ist.« Eugene Koonin, The Logic of Chance: The Nature and Origin of Biological Evolution, Upper Saddle River (NJ) 2011, S. 164.  Robert O’Hara, »Population Thinking and Tree Thinking in Systematics«, in: Zoologica Scripta 26, 4 (1997), S. 323–329, hier: 325–327.  Das Argument in diesem letzten Absatz kommt aus einer etwas anderen Perspektive auf das weiter oben in Bezug auf historische Trends

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Abbildung 28: »Stammesgeschichtliche Evolution vs. Artbildung«

Verzweigungen, Stämme, Netzwerke  … doch warum sollten wir uns überhaupt um die Gestalt der Kulturgeschichte scheren? Nun, weil diese Gestalt implizit eine Hypothese über die Kräfte enthält, die in der Geschichte wirken; der tastende, intuitive Anfang eines theoretischen Gerüsts. Wie Thomas Kuhn vor über fünfzig Jahren schrieb, »sind Theorien noch mehr als Laborinstrumente die wesentlichsten Handwerkszeuge des Wissenschaftlers«;²² nur leider haben wir seinen Ratschlag nicht beherzigt. Auch wenn der haarsträubende Antiintellektualismus von Wired  – »Korrelation reicht aus«, »die wissenschaftliche Methode ist überflüssig«²³  – glücklicherweise die Ausnahme geblieben behandelte Thema zurück: In beiden Fällen wenden wir uns gegen eine Art der Visualisierung, die einen einzigen Weg unbewusst als die grundsätzliche Form der historischen Entwicklung voraussetzt.  Thomas Kuhn, »Die Funktion des Messens in der Entwicklung der physikalischen Wissenschaften«, in: ders., Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, S. 254–307, hier: S. 283.  Chris Anderson, »The End of Theory: The Data Deluge Makes the Scientific Method Obsolete«, in: Wired, 23. 6. 2008.

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ist, so ist offenbar Folgendes geschehen: In dem Maße, wie die uns zur Verfügung stehenden quantitativen Daten zunahmen, verloren unsere umfassenden Erklärungsversuche an Überzeugungskraft. Haftungsausschlüsse, Aufschübe, Ad-hoc-Reaktionen, falsche Bescheidenheit, die Folgerungen »für irgendwann einmal« aufsparen – so sahen viel zu oft unsere nicht wirklich schlüssigen Schlüsse aus. Wir sind so sehr gewohnt, Datenmaterial und Erklärungen als zwei Seiten ein und derselben Medaille anzusehen, dass ein solches Ergebnis schwer zu glauben ist. Doch es lässt sich nicht leugnen. Wenn die überwältigenden Datenmengen irgendwann einmal den Weg zu mutigen Konzepten frei machen werden, statt sie zu verhindern – dann wird die neue quantitative Kulturgeschichte zu sich selbst kommen. Es wird der Anfang einer echten Konfrontation mit den »anderen« Humanwissenschaften sein.

Erwähnte Aufsätze nach Publikationsjahr 2011 James E. Cutting et al., »Quicker, Faster, Darker: Changes in Hollywood Film over 75 Years«, in: i-Perception 2, 6. Jean-Baptiste Michel et al., »Quantitative Analysis of Culture Using Millions of Digitized Books«, in: Science 331, 6014. 2012 Ryan Heuser / Long Le-Khac, »A Quantitative Literary History of 2,958 Nineteenth-Century British Novels: The Semantic Cohort Method«, in: Stanford Literary Lab, Pamphlet 4. Ted Underwood / Jordan Sellers, »The Emergence of Literary Diction«, in: Journal of Digital Humanities 1, 2. 2013 Sarah Allison et al., »Style at the Scale of the Sentence, in: Stanford Literary Lab, Pamphlet 5. (»Stil auf der Ebene des Satzes«, in: Franco Moretti

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et al., Literatur im Labor, übers. von Bettina Engels u. Michael Adrian, Konstanz 2017.) Oliver Morin, »How Portraits Turned Their Eyes Upon Us: Visual Preferences and Demographic Change in Cultural Evolution«, in: Evolution and Human Behavior 34, 3. Scott Weingart / Jeana Jorgensen, »Computational Analysis of the Body in European Fairy Tales«, in: Literary and Linguistic Computing 28, 3. 2014 Jordan E. DeLong / Kaitlin Brunick / James E. Cutting, »Film Through the Human Visual System: Finding Patterns and Limits«, in: J. C. Kaufman / D. K. Simonton (Hrsg.), Social Science of Cinema, Oxford. Andrew Goldstone / Ted Underwood, »The Quiet Transformations of Literary Studies: What Thirteen Thousand Scholars Could Tell Us«, in: New Literary History 45, 3. Holst Katsma, »Loudness in the Novel«, in: Stanford Literary Lab, Pamphlet 7. Sara Klingstein / Tim Hitchcock / Simon DeDeo, »The Civilizing Process in London’s Old Bailey«, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 111, 26. 2015 Mark Algee-Hewitt / Ryan Heuser / Franco Moretti, »On Paragraphs: Scale, Themes and Narrative Form«, in: Stanford Literary Lab, Pamphlet 10. (»Über Absätze. Ebene, Themen und narrative Form«, in: Franco Moretti et al., Literatur im Labor, Konstanz 2017.) James E. Cutting / Ayse Candan, »Shot Durations, Shot Classes and the Increased Pace of Popular Movies«, in: Projections 9, 2. Anne Dewitt, »Advances in the Visualization of Data: The Network of Genre in the Victorian Periodical Press«, in: Victorian Periodicals Review 48, 2. Franco Moretti / Dominique Pestre, »Bankspeak: The Language of World Bank Reports«, in: New Left Review 92, März / April. (»Banksprech. Die Sprache der Weltbank-Jahresberichte, 1946–2012«, in: Franco Moretti et al., Literatur im Labor, Konstanz 2017.)

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2016 Mark Algee Hewitt et al., »Canon / Archive: Large-Scale Dynamics in the Literary Field«, in: Stanford Literary Lab, Pamphlet 11. (»Kanon / Archiv. Großflächige Dynamiken im literarischen Feld«, in: Franco Moretti et al., Literatur im Labor, 2017.) James F. English, »Now, Not Now: Counting Time in Contemporary Fiction Studies«, in: Modern Language Quarterly 77, 3. Marissa Gemma, »The Making of Middle American Style: Narrative Talk in the 19th Century Novel«, Präsentation im Stanford Literary Lab, 15. Februar. Hoyt Long / Richard Jean So, »Turbulent Flow: A Computational Model of World Literature«, in: Modern Language Quarterly 77, 3. Olivier Morin / Alberto Acerbi, »Birth of the Cool: A Two-Centuries Decline in Emotional Expression in Anglophone Fiction«, in: Cognition and Emotion 31, 8. Ted Underwood / Jordan Sellers, »The Longue Durée of Literary Prestige«, in: Modern Language Quarterly 77, 3. 2017 Mark Algee-Hewitt, »Distributed Character: Quantitative Models of the English Stage, 1550–1900«, in: New Literary History 48, 4. Marissa Gemma / Frédéric Glorieux / Jean-Gabriel Ganascia, »Operationalizing the Colloquial Style: Repetition in 19th-Century American Fiction«, in: Digital Scholarship in the Humanities 32, 2. Leonardo Impett / Franco Moretti, »Totentanz: Operationalizing Aby Warburg’s Pathosformeln«, in: New Left Review 107, September / Oktober. (»Totentanz. Aby Warburgs Pathosformeln operationalisieren«, im vorliegenden Band, S. 71–109.) Maria Kanatova et al., »Broken Time, Continued Evolution: Anachronies in Contemporary Films«, in: Stanford Literary Lab, Pamphlet 14. Thomas Lansdall-Welfare et al., »Content Analysis of 150 Years of British Periodicals«, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 114, 4. Grace Muzny / Mark Algee-Hewitt / Dan Jurafsky, »Dialogism in the Novel: A Computational Model of the Dialogic Nature of Narration and Quotations«, in: Digital Scholarship in the Humanities 32, 2.

Datenvisualisierung in den Humanwissenschaften

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2018 Taylor Arnold / Lauren Tilton, »Distant Viewing: Analysing Large Visual Corpora«, [damals] noch im Peer Review [später in: Digital Scholarship in the Humanities 36, 1 (2019)]. Jonah Berger / Grant Packard, »Are Atypical Things More Popular?«, in: Psychological Science 29, 7. Jo Guldi, »Critical Search: A Procedure for Guided Reading in Large-Scale Textual Corpora«, in: Journal of Cultural Analytics, 20. Dezember. Hoyt Long / Anatoly Detwyler / Yuancheng Zhu, »Self-Repetition and EastAsian Literary Modernity, 1900–30«, in: Journal of Cultural Analytics, 21. Mai. Ted Underwood / David Bamman / Sabrina Lee, »The Transformation of Gender in English-Language Fiction«, in: Journal of Cultural Analytics, 13. Februar.

6 Das Quantitative als Verheißung und Problem Ein persönlicher Rückblick¹

Die Welt der Menschen, mit der sich die Geschichtswissenschaft befasst, muss […] wie eine physikalische Wirklichkeit untersucht werden. Wir müssen sie beobachten, daraus deduzieren und unsere Ergebnisse mit Hilfe provisorischer Hypothesen verbinden; wir müssen experimentieren und nach Gesetzen suchen. Fernand Braudel²

Ich falle gleich mit der Tür ins Haus: 2002, in Stanford, begegnete ich Matt Jockers. Jockers war als »Spezialist für Digitales« an den anglistischen Fachbereich gekommen, und ich arbeitete gerade an den Vorlesungen, aus denen später Kurven, Karten, Stammbäume werden sollte;³ eines führte zum anderen, und so boten wir 2004 ein Graduiertenseminar über »Elektronische Daten und Literaturtheorie« an. Wir fürchteten, damit Schiffbruch zu erleiden; vier oder fünf Leute tauchten auf, nur einer blieb  – ein deutscher Student, der gerade frisch für sein Auslandssemester angekommen war und keine Ahnung hatte, wie er sich aus der Affäre ziehen sollte.  Dieser Aufsatz wurde für eine Sonderausgabe der italienischen Zeitschrift Intersezioni geschrieben, deren Auftrag – eine persönliche Bilanz der quantitativen Wende zu ziehen – die sehr subjektive Perspektive der folgenden Seiten erklärt.  Fernand Braudel, Geschichte als Schlüssel zur Welt. Aufsätze in deutscher Kriegsgefangenschaft 1941 (1941–1944), Stuttgart 2013, S. 57.  Franco Moretti, Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte, Frankfurt a. M. 2009.

Ein persönlicher Rückblick

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Doch wir gaben nicht auf. Zusammen mit ein paar Bibliothekar:innen und Promotionsstudent:innen untersuchten wir Beschreibungen; nichts kam dabei heraus; Romananfänge – dasselbe Ergebnis. Eher aus Trägheit als aus irgendwelchen anderen Gründen machten wir weiter, bis die Begegnung mit Mark Whitmore eine Studie auf den Weg brachte, die endlich funktionierte. Das war 2010: Wir klebten einen Zettel mit der Aufschrift »Literaturlabor« an die Tür eines leerstehenden Büros und veröffentlichten unser erstes Pamphlet. Von da an änderten sich die Dinge. Doch an dieser Stelle sollten wir kurz innehalten und einen Schritt zurückgehen – zu der Zeit, als quantitative Forschung noch eine bloße Vermutung war, von vielen belächelt und von fast allen abgelehnt. Vor diesem Hintergrund möchte ich die einfache Frage stellen: Hat die quantitative Wende unser Wissen über Literatur verändert? Und wenn ja, wie?

Great Expectations Den entscheidenden Impuls zur quantitativen Arbeit erhielt ich von dem Ökonomen Nando Vianello, der mir in den 1980er Jahren Braudels Dynamique du capitalisme zu lesen gab.⁴ Demografie, Geografie, die Pluralität historischer Zeitlichkeiten, Antwerpen als Weltstadt: Die Geschichte schien hier raumgreifender und greifbarer zu werden. Braudels Bücher erinnerten an Balzac; mit jeder Fortsetzung verdichtete sich die Handlung; sie war erfahrungsgesättigt, voller Leben – voller Ideen. Es war der industrielle Take-off der Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts,⁵ der mir half, den Aufstieg des Romans neu zu denken; die Randnotiz in  Deutsche Ausgabe: Fernand Braudel, Die Dynamik des Kapitalismus (1977), Stuttgart 1986.  Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts, 3 Bde., München 1985 /86.

154 Das Quantitative als Verheißung und Problem

Das Mittelmeer,⁶ die nach einem Literaturatlas zu rufen schien; die Konjunkturzyklen, die Modell standen für die Genres aus Kurven, Karten, Stammbäume; der Essay über die longue durée, der irgendwie überall präsent war. Eine »harte« Geschichtsschreibung, die Braudel da betrieb, nach dem Vorbild der Sozialwissenschaften (»wissenschaftlicher als die Geschichte«)⁷ und immer offen für quantitative Reihen: Deshalb gefiel sie mir. In den Jahren, als marxistische Literaturwissenschaftler Lacan und Derrida ernster nahmen als Marx und ein zensierender Moralismus um sich griff, war es eine Wohltat, Braudel zu lesen. Lieber eine materialistische Geschichtsschreibung ohne Marxismus, dachte ich, als ein Marxismus, von dem, wie Brecht einmal geschrieben hatte, »wenig mehr als eine Idee« übriggeblieben war.⁸ Die Historiographie der Annales enthielt noch ein weiteres Versprechen: dass sich das Universum der vergessenen Literatur zu neuem Leben erwecken ließe – jene 99 Prozent der realen Produktion, die für die Literaturwissenschaft im Laufe der Zeit unsichtbar geworden war, weil man nur auf den Kanon starrte. »Atlantis«, wie ein früheres Kollektivprojekt in Stanford hieß (Gruppenarbeit war eine der Novitäten des neuen Ansatzes). André Leroi-Gourhan befand in Hand und Wort, »daß man den Prestigeaustausch besser kennt als den täglichen Austausch, […] die Zirkulation der

 Fernand Braudel, Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., 3 Bde., Frankfurt a. M. 1998.  »Vor allem dürfen wir nicht vergessen, dass wir bei diesen Forschungen nicht allein dastehen: Die Wissenschaften des Sozialen leisten uns Gesellschaft […]. Wissenschaftlicher als die Geschichte, besser verbunden mit der Masse der sozialen Tatsachen […], arbeiten [sie] alle über das, was man sehen, was man messen und berühren kann. Das ist ein ungeheurer Vorteil!« Braudel, Geschichte als Schlüssel zur Welt, S. 46 f.  Bertolt Brecht, »Kleines Organon für das Theater« (1948 /49), in: ders., Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 23: Schriften 3. Schriften 1942–1956, Frankfurt a. M. 1993, S. 97.

Ein persönlicher Rückblick

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Brautgelder besser als die von Gemüse […]«.⁹ Das war unsere Idee: Eine Ausweitung der Forschung auf die »Alltags«Literatur würde unerwartete – und grundlegende – Aspekte des kulturellen Ökosystems zum Vorschein bringen, jenseits der exquisiten, aber engen Nische der großen Meisterwerke. Hinter allem stand ein kristallklares, ziemlich unmögliches Ziel: Die Annales der Literatur zu schaffen. In aller Bescheidenheit. Jahre später stellte sich heraus, dass große Zahlen im Bereich der Kultur nicht genauso funktionierten wie im Bereich der Ökonomie.¹⁰ Mittlerweile hatte die Arbeit aber begonnen und fand sich durch eine Idee bestärkt, die dem Geist Braudels nicht fern lag: die Überzeugung, dass wir viel von den Naturwissenschaften zu lernen hatten. Lasst uns das, was wir hier gerade in Angriff nehmen, so sagte ich beim ersten Treffen des Stanford Literary Lab im September 2010, als erweiterte Version dessen vorstellen, was frühere Generationen »Naturwissenschaft und Literatur« oder »Naturwissenschaft der Literatur« oder ähnlich genannt hatten. Bezeichnungen spielten damals keine große Rolle.¹¹ Was eine Rolle spielte, war die Lust am gut formulierten Problem, an einer sauberen Analyse, an Bodenständigkeit; was vor allem zählte, war die permanente Überraschung angesichts dieser neuen Gegenstände, die wir zu entwerfen lernten  – Streudiagramme, Schaubilder, Netzwerke, Formeln … – und die immer abstrakter und komplizierter wurden. Wir wussten nie, was geschehen würde, wenn wir  André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a. M. 1980, S. 191.  Vgl. hierzu: Franco Moretti et al., Literatur im Labor. Unter der Leitung von Franco Moretti, Konstanz 2017, S. 163 ff.  »Digitale Humanwissenschaften« beispielsweise wurde vom National Endowment for the Humanities bürokratisch verordnet: Niemand konnte das als wissenschaftliche Definition ernstnehmen. Vgl. hierzu Matthew Kirschenbaums – wesentlich freundlichere – Stellungnahme in »What Is Digital Humanities and What’s It Doing in English Departments?«, in: ADE Bulletin 2010.

156 Das Quantitative als Verheißung und Problem

ein Schaubild an die Wand des Literary Lab projizierten und alle sagen sollten, was sie dort sahen (beschreiben lernen: eine weitere Novität). Jackson Pollok: Versuche, eine Ordnung in diesem Zeichendschungel zu finden! Wir hatten das Gefühl, eine einzigartige Chance zu bekommen: legendäre Theorietraditionen – den Russischen Formalismus, die Stilkritik*, den Strukturalismus – fortsetzen und ihnen die empirische Basis geben zu können, die sie verdienten. Wir hatten tausend Dinge zu lernen und sogar ein paar zu sagen.

Zukunftsphilologie* »Abstraktion [befreit] den Geist […]«, schreibt Gaston Bachelard in Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes; und der befreite Geist wendet sich gegen sein altes Selbst: »Man erkennt gegen ein früheres Wissen«, wenn man sich nicht scheut, »auf dem Hindernischarakter zu bestehen, den die sogenannte konkrete und reale, natürliche und unmittelbare Erfahrung besitzt«.¹² Das sind passende Worte für die Frühphase der quantitativen Forschung in ihrer Pietätlosigkeit gegenüber dem »natürlichen und unmittelbaren« Akt des Lesens, der einmal die Grundlage der Literaturwissenschaft bildete und sich jetzt durch die unerhörte Dimension der neuen Korpora und die Macht der Algorithmen herausgefordert sah. Es war eine schöne, sorgenfreie Zeit.¹³ Pragmatisch gesehen begann die Arbeit damit, bestimmte Elemente aus ihren Ursprungstexten herauszulö Gaston Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis, Frankfurt a. M. 1978, S. 38 f., S. 46.  Aber kurz: weil der Wunsch, die Brücken zur Tradition des close reading wieder passierbar zu machen, sie als absolut mit dem quantitativen Ansatz vereinbar zu erklären, innerhalb der digitalen Humanwissenschaften schnell allgegenwärtig wurde. Meinen Widerspruch dazu habe ich in »Die Wege nach Rom« eingelegt. Siehe in diesem Band, S. 13–31.

Ein persönlicher Rückblick

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sen, um eine Reihe zu konstruieren – quantitative Literaturwissenschaft heißt serielle Literaturwissenschaft – und sie auf unterschiedliche Weisen zu vermessen. Dabei schien es von den allerersten Schritten im Atlas des europäischen Romans¹⁴ an richtig, möglichst irgendwelche formale Eigenschaften auszuwählen: die Wendepunkte in Austens Handlung, die Korrelationen zwischen Gattung und Geografie, die Weite des »Zwischenraums« in Propps Morphologie des Märchens oder im Schelmenroman, die narrativen Triangulationen von Balzacs Paris und Dickens’ London. Das entsprach der hybriden, sozio-formalistischen Denkweise von einem, auf den die parallele Lektüre von Lukács Theorie des Romans¹⁵ und Todorovs Textsammlung zum Russischen Formalismus¹⁶ vor langer Zeit einen überwältigenden Eindruck gemacht hatte; und da die soziologische Seite nun durch die große Masse untergegangener Literatur radikalisiert wurde, radikalisierte sich auch die formalistische Seite, indem sie ihre Kategorien mittels Datenvisualisierung »objektivierte«: phylogenetische Baumdiagramme von Indizien und freier indirekter Rede, konzentrische Kreise von Dorfgeschichten, die Korrelation von Umfang und Form in Romantiteln. Als wir einen Titel für das erste Pamphlet des Literary Lab suchten, drängte sich der »Quantitative Formalismus« deshalb geradezu auf und wurde zu einem Schlüsselbegriff unserer Arbeit.¹⁷  Franco Moretti, Atlas des europäischen Romans. Wo die Literatur spielte, Köln 1999.  George Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik (1920), Berlin, Neuwied 1971.  Tsvetan Todorov (Hrsg.), Théorie de la littérature. Textes des formalistes russes, Paris 1965.  Dennoch ist in den digitalen Humanwissenschaften, die sich viel öfter auf den Inhalt der Werke konzentriert haben, die Verbindung zwischen Quantifizierung und Form eher selten: von »Inhaltsanalyse« und »Topic Modeling« zur Idee des Textes als eines »Wortsacks« und den Versuchen, eine Theorie der Handlung auf Emotionskurven zu gründen. Ein paar herausragende Gegenbeispiele – die sich insbesondere unter

158 Das Quantitative als Verheißung und Problem

Abbildung 1 Die sieben »Gerippe« der oberen Reihe reduzieren die ihnen zugrunde liegenden Bilder – die »Kopfjägerin« und die »Nymphe« Ghirlandaios, Fortuna, Botticellis Frühling, Laokoon und den sterbenden Orpheus – auf die Winkel, in denen die Extremitäten des Körpers zueinander und zur Wirbelsäule stehen. Dieser rein quantitativen Dimension gelingt es, die Mehrheit der Pathosformeln* zu gruppieren, unabhängig vom Inhalt der Bilder, der sich von Fall zu Fall stark unterscheidet. Das »Gerippe« funktioniert, mit anderen Worten, als formale Abstraktion, als Mittel – um Max Webers Formel zum Idealtypus zu bemühen –, »der Vergleichung und Messung« verschiedener Einzelfälle. Quelle: Leo Impett / Franco Moretti, »Totentanz. Die Operationalisierung von Aby Warburgs Pathosformeln«, in diesem Band, S. 71-109.

Quantitativer Formalismus: Man nehme einen ästhetischen Gegenstand und reduziere ihn – dies ist das richtige Wort – auf grundlegende formale Elemente: einen Roman auf seine Absätze oder ein Theaterstück auf seine Wortwechsel. Ist das getan, sieht man sich mit einer »Form zweiten Grades« konfrontiert, wie Alex Woloch mir einmal schrieb: mit einer Form der Formen, doppelt abstrakt, zweifach von der »konkreten und realen« Literatur abgelöst  – und genau deshalb fähig zu ungewöhnlichen analytischen jüngeren Forscher:innen finden: Sarah Allison, Ryan Heuser, Holst Katsma, Tara Menon und meine beiden Co-Autoren im vorliegenden Band – ändern am Gesamteindruck nicht wirklich viel.

Ein persönlicher Rückblick

159

Phädra

Hippolytos

Œnone

Theseus

Aricia

Wachen

Ismene

Panope

Theramen

Abbildung 2 Das Phädra-Netzwerk ist ein optisches Äquivalent zu Alex Wolochs »FigurenSystem« und zeigt, welche Figuren miteinander verknüpft sind sowie das »Gewicht« und die »Richtung« ihrer Wortwechsel (dargestellt durch die Breite der Kanten und ihre Pfeilspitzen). Jede Messung unterstreicht einen anderen Aspekt der tragischen Handlung: die keinesfalls selbstverständliche Tatsache zum Beispiel, dass Phädra viel mehr mit ihrer »Vertrauten« Œnone als mit ihrem Mann Theseus oder ihrem ersehnten Liebhaber Hippolytos spricht; oder der »anisotrope« Charakter vieler dramatischer Dialoge (Phädra spricht viel mehr zu Hippolytos als er zu ihr, und dasselbe gilt für Hippolytos und Aricia oder für Aricia und Ismene); oder die seltsam abseitige Stellung einer der berühmtesten Passagen der französischen Literatur – der »Bericht des Theramen« –, der auf die Kante zwischen Theramen und Theseus beschränkt ist. In dieser Hinsicht ist das Netzwerk ein guter illustrativer Beleg für Eduard Dijksterhuis’ Behauptung, dass »die Behandlung der Naturerscheinungen in Worten […] zugunsten einer mathematischen Formulierung der darin wahrgenommenen Relationen aufgegeben werden« muss, wenn man – wie im Falle der dramatischen Figuren – »das Benehmen der Dinge in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit feststellen« will.¹⁸ Quelle: Franco Moretti, »›Operationalisieren‹ oder die Funktion des Messens in der modernen Literaturwissenschaft«, in: ders. et al., Literatur im Labor. Unter der Leitung von Franco Moretti, Konstanz 2017, S. 89.

 Eduard Jan Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, Berlin, Heidelberg, New York 1956, S. 557.

160 Das Quantitative als Verheißung und Problem

140

Number of novels published per year

120

100

novels with untitled chapters 80

60

epistolary novels novels with chapter summaries

40

undivided novels 20

0 1700

novels with chapter titles other 1710

1720

1730

1740

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1760

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1780

1790

1800

1810

1820

1830

Year

Abbildung 3 Vom Magma der Texte ohne jegliche inneren Unterteilungen, so wie Robinson Crusoe, entwickelte der englische Roman im Laufe seiner steilen Karriere ein ganzes Spektrum möglicher Segmentierungen: Kapitel, denen kurze Zusammenfassungen vorangestellt waren (1745–1770), Briefe (1760–1810), Kapitel, die durch einfache Zahlen oder einen kurzen Titel angezeigt wurden (beides entstand zwischen 1790 und 1800). Die beiden letzteren Formen beherrschten den Roman des 19. Jahrhunderts und sind bis heute die beliebtesten geblieben. Quelle: Holst Katsma, Morphology of the Novel, Harvard University 2021.

Erkenntnissen. Ich denke an die Gerippe, die Leo Impett aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne herausdestilliert hat (Abbildung 1); an die Verschränkung von Sprechflüssen in dramatischen Netzwerken (Abbildung 2); oder an Holst Katsmas Dissertation mit ihren morphologischen Reihen, die aus der »Beschleunigung« des englischen Romans im 18. Jahrhundert (Abbildung 3) und seiner späteren Stabilisierung (Abbildung 4) hervorgegangen sind. Im besten Falle sind diese Formen von Formen die neuen Gegenstände der literaturwissenschaftlichen Arbeit: Bilder, die »mehr als 1000 Worte sagen«, wie es bei Kartographen gerne heißt, weil sie zu 1000 Worten anregen können. Darin liegt das besondere diagnostische Talent des quantitativen Formalismus mit seiner Konzentration auf »lokale« Interaktionen, wie zum Beispiel unmittelbar aneinanderEin persönlicher Rückblick

161

0

1000

Number of Words 2000

mid-18th century

a.

3000

4000

5000

Narration

i.

Dialogue Letter

j.

Poem

k. l. m.

b.

mid-19th century

n.

o.

p.

q.

r.

a. Joe Thompson, chap. 20 (1750) i. David Simple, chap. 10 (1744) j. Roderick Random, chap. 28 (1748) k. Rasselas, chap. 20 (1759) l. Chrysal, chap. 28 (1760) m. The Vicar of Wakefield, chap. 22 (1766)

b. David Copperfield, chap. 60 (1850) n. Wuthering Heights, chap. 11 (1847) o. Pendennis, chap. 35 (1850) p. North and South, chap. 36 (1854) q. Great Expectations, chap. 19 (1861) r. Lady Audley’s Secret, chap. 30 (1862)

Abbildung 4 In der von diesen zwölf Diagrammen des Gesamtschaubilds repräsentierten »Anatomie des Kapitels« erscheint die indirekte Erzählung grau, die direkte Rede schwarz. Das Bild zeigt eine eindeutige Verschiebung von dem Entweder-oder-Muster, das für die Mitte des 18. Jahrhunderts typisch war (ein Kapitel weist sehr wenige und lange Abschnitte im einen oder anderen Register auf), zu dem unablässigen Hin und Her, dem man ein Jahrhundert später begegnet. In Ermangelung eines »Notationssystems«, das die direkte von der indirekten Rede abgrenzen konnte und das sich erst um 1800 etablierte, mussten die Romanautoren jegliche Verwirrung zwischen einer Darstellung der Welt und dem Ausdruck der Gefühle ihrer Figuren vermeiden; doch als die Unterscheidung zwischen außen und innen leichter zu übermitteln wurde, konnten sie die beiden Dimensionen mit größerer Freiheit mischen. Eine einzige Formkonvention, die entlang zweier paralleler Reihen verfolgt wird, ermöglicht es also, eine wichtige Verschiebung der Art und Weise zu erfassen, wie der Roman die Welt darstellt. Quelle: Holst Katsma, Morphology of the Novel, Harvard University 2021.

162 Das Quantitative als Verheißung und Problem

grenzende narrative Segmente oder die von den Gliedmaßen der Körper gebildeten Winkel. Er werde die einzelnen »Bestandteile sowie deren Beziehungen untereinander und zum Ganzen« untersuchen, schrieb Propp zu Beginn seiner Morphologie des Märchens, und in unseren glücklichsten Momenten hätten wir dasselbe auch von uns sagen können.¹⁹ Nicht, dass wir jemals etwas dem Propp’schen Modell konzeptuell Vergleichbares erreicht hätten; die Richtung aber war dieselbe – ein analytischer Impuls, der mit dem für die Literaturwissenschaft und vielleicht für die gesamten Humanwissenschaften bis dahin charakteristischen Ansatz brach: Der hermeneutische Zirkel, wie Dilthey die Entdeckung nannte, die der romantische Wissenschaftler und Theologe Friedrich Schleiermacher gemacht hatte, dass Erkenntnis in der Philologie nicht nur durch den allmählichen Fortgang von einem Detail zum nächsten gewonnen wird, sondern auch durch eine Vorwegnahme oder Vorhersage des Ganzen – weil »sich das Einzelne nur durch das Ganze verstehen lässt und jede Erklärung von Einzelnem das Verständnis des Ganzen voraussetzt«.²⁰ Das Ganze als Bedingung für das Verständnis jeder Einzelheit; das Ganze als das aus dem Zusammenspiel zahlreicher Einzelheiten hervorgehende Ergebnis. Es könnte keinen schärferen Kontrast und mithin kein besseres Erprobungsfeld für die Behauptungen des hermeneutischen Verstehens auf der einen Seite und der quantitativen Morphologie auf der anderen geben. Was kann die eine Methode sehen, was der anderen verborgen bleibt? Was sind ihre jeweiligen Stärken, ihre Schwächen, ihre Grenzen? Wie entscheidet man sich zwischen ihnen, warum entscheidet man sich …?

 Propp, Morphologie des Märchens, S. 25.  Leo Spitzer, »Linguistics and Literary History«, in: ders., Representative Essays, Stanford (CA) 1988, S. 24.

Ein persönlicher Rückblick

163

Illusions perdues Was für eine großartige Gelegenheit zum intellektuellen Schlagabtausch. Und stattdessen – nichts. Das lag zunächst einmal am geistigen Stillstand der Literaturtheorie und an ihrer Ancien-Régime-haften Verachtung für die quantifizierenden Neuankömmlinge. Doch die Verantwortung trägt nicht eine Seite allein. In ihrer Frühphase war die quantitative Forschung noch in klare konzeptuelle Fragestellungen eingebunden: nach den Machtverhältnissen in dramatischen Dialogen beispielsweise oder der Artikulation menschlicher Erfahrung durch die Konventionen des Romans. Wenige Texte, wenige Daten, einfache Berechnungen, jedoch im Lichte ausdrücklicher Kategorien und von unmittelbarer Auswirkung auf das theoretische Wissen. Mit dem Aufkommen der digitalen Humanwissenschaften im eigentlichen Sinne verschoben sich die Gewichte: Die statistische Komponente wurde immer komplexer  – ihre Verbindung zur Literaturtheorie allerdings verlor sich zusehends. Vor einigen Monaten, als ich diese Rückschau vorbereitete, las ich die Artikel, die in den vergangenen anderthalb Jahren im Journal of Cultural Analytics, der wichtigsten Zeitschrift für die digitalen Humanwissenschaften, erschienen waren: In 17 Artikeln mit fast eintausend Fußnoten wurden Genette und Jameson ein paarmal erwähnt – aber auch wirklich nur erwähnt! Frye, Šklovskij und Benjamin jeweils einmal. Bestimmt ist mir das eine oder andere entgangen, es ändert aber nichts am Gesamtbild. Im Hinblick auf die Sozial- und Naturwissenschaften herrscht ein womöglich noch ausnahmsloseres Schweigen. Woran lag das? Vielleicht daran, dass das Zusammentreffen von Datenbanken und Algorithmen eine Forschungspraxis begründete, die so machtvoll war, dass sie sich selbst zu genügen schien. Jedes Mal, wenn man ein Korpus durchrechnen ließ, fand man irgendetwas. Es war wie ein Wunder. Nicht jeder hätte sich die reaktionären Thesen der Zeit164 Das Quantitative als Verheißung und Problem https://doi.org/10.5771/9783835397460

schrift Wired über »das Ende der Theorie« und »das Veralten der wissenschaftlichen Methode« zu eigen machen wollen; doch viele verhielten sich de facto so. Angesichts eines nicht abreißenden Stroms empirischer Befunde konnten die theoretischen Erklärungen warten. Und warten. Und warten. Und so warten wir heute auf neue theoretische Erkenntnisse. Ein absurdes Ergebnis: Die Literaturforschung wurde mathematisiert  – und verlor darüber alle wissenschaftlichen Ambitionen. Na gut, neue theoretische Erkenntnisse hat es vielleicht keine gegeben, wird dann gerne entgegnet, es sei ja auch noch nicht viel Zeit vergangen! Viel zu viel Zeit aber ist in Wahrheit vergangen. Die wichtigsten Veränderungen in unserem Wissen haben immer mit theoretischen Vermutungen begonnen: mit riskanten Wetten, gefolgt von einer Reihe konkreter Untersuchungen. In den digitalen Humanwissenschaften ist das Gegenteil zu konstatieren: eine Lawine kleinerer Studien ohne jede geistige Synthese. v Hat sich unser Literaturverständnis durch die quantitative Wende verändert? Natürlich hat sich etwas verschoben. Die Abstraktion stellt sicherlich eine große Veränderung dar, ebenso wie die analytische Erkundung des morphologischen Raums oder das Interesse für den Begriff der »Ebene« (scale).²¹ Doch ein paar Veränderungen sind nicht die große Veränderung, die möglich gewesen zu sein schien. Vielleicht waren wir einfach noch nicht bereit für die digitalen Korpora und Instrumente  – nicht aus mangelnder Beherrschung des statistischen Handwerks, sondern in einem tieferen Sinne nicht bereit. Statistik lässt sich  Bzgl. der »Ebene« vgl. das 2016 von James English und Ted Underwood 2016 herausgegebene Sonderheft des Modern Language Quarterly und diverse Pamphlete des Literary Lab in Moretti et al., Literatur im Labor, Konstanz 2017.

Ein persönlicher Rückblick

165

studieren und erlernen; das eigentliche Problem ist, die wissenschaftliche Phantasie zu entwickeln, die den Naturwissenschaften ihre grandiose intellektuelle Verwegenheit verleiht. Wenn wir doch nur so schöne Theorien hätten … Werden wir sie eines Tages haben?

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