Exemplarische Vergangenheit: Valerius Maximus und die Konstruktion des sozialen Raumes in der frühen Kaiserzeit [1 ed.] 3525252811, 9783525252819

English summary: Valerius Maximus' collection of memorable deeds and sayings is to be regarded as a key source for

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Exemplarische Vergangenheit: Valerius Maximus und die Konstruktion des sozialen Raumes in der frühen Kaiserzeit [1 ed.]
 3525252811, 9783525252819

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Ute Lucarelli

Exemplarische Vergangenheit Valerius Maximus und die Konstruktion des sozialen Raumes in der frühen Kaiserzeit

Vandenhoeck &■ Ruprecht

V&R

Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben

Herausgegeben von Albrecht Dihle, Siegmar Döpp, Dorothea Frede, Hans-Joachim Gehrke, Hugh Lloyd-Jones, Günther Patzig, Christoph Riedweg, Gisela Striker

Band 172

Vandenhoeck & Ruprecht

Ute Lucarelli

Exemplarische Vergangenheit Valerius Maximus und die Konstruktion des sozialen Raumes in der frühen Kaiserzeit

Thomas J. Bata Library

TRENT" UNIVERSITY PETERBOROUGH, ONTARIO

Vandenhoeck & Ruprecht

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Verantwortlicher Herausgeber: Hans-Joachim Gehrke

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN: 978-3-525-25281-9 Hypomnemata ISSN 0085-1671

Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf

© 2007, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co.KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte Vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorhe¬ rigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nut¬ zung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Umschlagabbildung: Ausschnitt aus »Togatus Barberini« Bildquellennachweis: akg-images / Electa

Druck und Bindung: ® Hubert & Co, Göttingen

Statue eines römischen Aristokraten mit Ahnenbildnissen, 1. Jahrhundert v. Chr. (Togatus Barberini) Foto: © Araldo de Luca

Inhalt

1

Vorwort.

9

Einleitung: Exempla und soziale Bedeutung.

11

1.1

Warum soziale Beziehungen bei Valerius Maximus? .

11

1.2 Exempla.

24

1.3

2

Methodik: Die diterarische Präsenz< der sozialen Beziehungen .

35

Väter und Söhne: zwischen Norm und Realität.

37

2.1

Väter und Söhne in den Forschungen zur römischen Familie.

37

2.2 Väter und Söhne bei Valerius Maximus: einleitende Bemerkungen .

44

2.3

Die Inszenierung der Vater-Sohn-Beziehung.

47

2.3.1

Klare Verteilung der Handlungskompetenzen.

47

2.3.2 2.3.3

Die Überordnung der res publica. Moderate usus adfectibus suis: kein Handeln im Affekt. Die Besonderheit der Vater-Sohn-Beziehung und das Ideal der Konfliktvermeidung.

56

2.4 Das Gegenbild? Erwähnungen en passant.

110

2.3.4

2.4.1

89

Keine klare Verteilung der Handlungskompetenzen.

111

Umkehr des Postulats der Überordnung der res publica.

115

Inszenierung versus Kontingenz: Deutungen und Folgerungen.

118

2.4.2 2.5

77

2.5.1 2.5.2

Zwei Bilder der Vater-Sohn-Beziehung. Die explizite Normativität der inszenierten Beziehungen.

2.5.3

Zum Quellenwert von exempla und Exemplasammlung.

118 120 121

Inhalt

6

2.6 Orientierung durch exempla zwischen Kontinuität und Wandel . 2.6.1 2.6.2

3

124

moderatio und Konfliktvermeidung. Handlungs- und Begründungsmuster für neue Spielräume.

125

2.7 Abschließende Bemerkungen.

128

Die weiteren Verwandtschaftsbeziehungen.

130

3.1

131

Die Rolle der römischen Frau als Mutter. 3.1.1

124

Funktionen der Mutter im Rahmen von domus und Familie. Die Macht derpietas.

132 135

Emotionen und Konflikte: Das Gegeneinander verschiedener Beziehungen. Zusammenfassung.

137 138

3.2 Die Stellung der Tochter .

140

3.1.2 3.1.3 3.1.4

3.2.1

Flandlungsräume der Töchter.

141

3.2.2 3.2.3

Die Tochter als zukünftige Ehefrau. Abschließende Bemerkungen.

146 154

3.3 Die römische Ehe im Wandel der Zeiten .

155

3.3.1

3.4

3.5

Zwischen pudor und severitas: die römische Frühzeit.

15g

3.3.2

Kontinuität und Wandel: Die Bedeutung

3.3.3

der Ehe nach 200 v. Chr. Abschließende Bemerkungen.

177

Brüder und Schwestern: Bindeglieder der Familie .

179

3.4.1

Der Bruder als Bezugspunkt des Handelns.

181

3.4.2 3.4.3

Die Schwester als Bindeglied innerhalb der Familie. Die Beziehung zu Geschwisterkindern und die Bedeutung sozialer Rollen.

187 1 g9

3.4.4

Geschwister bei Valerius: Abschließende Bemerkungen.

195

Die Großeltern.

3.6 Propinquitas — adfinitas: Die weiter entfernten Verwandten .

164

19^

j 99

3.6.1

Verecundia und concordia: institutionalisierte Nähe und Distanz.

201

3.6.2

Die Verantwortung der Verwandtschaftsgruppe für den Einzelnen.

203

Inhalt

7

4

Verwandtschaft bei Valerius: zusammenfassende Bemerkungen ....

210

5

Amicitia, fides, gratia: Die übrigen Nahbeziehungen.

214

5.1

Die Relevanz der weiteren sozialen Beziehungen und das Problem der Begrifflichkeit .

214

5.2 Zwischen familia und Klientel: Sklaven und liberti .

219

5.2.1

Sklaven in der römischen Gesellschaft das valerische Bild. Defide servorunr. Die inszenierte Aufopferung. Die Stellung der liberti.

220 225 229

Das dandi et accipiendi beneficii commercium als Voraussetzung menschlichen Lebens .

230

5.2.2 5.2.3 5.3

5.3.1

Gratia zwischen symbolischer Unterordnung und sozialer Hierarchie... Das Problem der ingratia — ein Strukturmerkmal der Krisenzeit?.

235

5.4 Die absolute amicitia.

245

5.3.2

5.4.1 5.4.2

Das aw/czY/a-Konzept des Valerius Maximus. Laelius de amicitia und die Dichotomie der späten Republik. Parteiengeschichte versus exemplum: Valerius und die Aufhebung der Dichotomie.

253

Gratia statt Machtzuwachs? Die Entproblematisierung kollektiver Klientel.

258

5.6 Der Umgang mit Konflikten und das Ideal der moderatio .

264

5.4.3 5.5

5.6.1

245 248

Die Inszenierung von Konflikten als Folge von Affekthandlungen.

266

moderatio, iustitia, humanitas: die >gezähmte< Feindschaft. Die Aufhebung von inimicitiae.

267 273

5.7 Amicitia im Alltag? Rat, Trost und Unterstützung.

280

5.6.2 5.6.3

5.8

6

231

Die weiteren sozialen Beziehungen bei Valerius: abschließende Bemerkungen.

282

Soziale Beziehungen in exemplis: Folgerungen und Ausblick.

286

6.1

Zum Funktionieren der valerischen Exemplasammlung.

286

6.2 Soziale Beziehungen und Erinnerung: die valerische Sinnstiftung in ihrem zeitgenössischen Kontext .

292

8

Inhalt

Anhang: Die Einteilung der exempla.

300

Literatur- und Quellenverzeichnis.

315

Index.

328

Vorwort

Dieses Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommer 2006 von der Philosophischen Fakultät der Albert-LudwigsUniversität Freiburg angenommen wurde. Nachdem das Promotionsverfahren abgeschlossen ist, bleibt mir die ange¬ nehme Pflicht des Dankens: meinem Doktorvater, Professor Hans-Joachim Gehrke, für seine Offenheit, sein Vertrauen und seine stete Gesprächsbe¬ reitschatt; Professor Jochen Martin, in dessen Seminaren ich vor vielen Jahren die Alte Geschichte >entdeckt< habe, für die Übernahme des Zweit¬ gutachtens; Ulrich Götter für intensive und immer anregende Diskussionen, die meine Auseinandersetzung mit exempla und Erinnerung geprägt haben; sowie schließlich Dorothea Rohde und Götz Distelrath, die diese Arbeit ganz oder teilweise gelesen und mit wertvollen Anregungen und Kritik begleitet haben. Der Gerda Henkel Stiftung danke ich für das mir gewährte Promotions¬ stipendium. Für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe Hypomnemata danke ich den Herausgebern. Ein besonderer Dank geht an Stefano, meinen Mann. Er hat die für uns beide belastende Kombination von Vollzeitstelle, Promotion und Wochen¬ endbeziehung nicht nur mitgetragen, er hat mich auch in jeder Hinsicht unterstützt. Sein Humor und seine Gelassenheit waren mir gerade in schwierigen Phasen eine große Hilfe. Gewidmet ist die Arbeit meiner Mutter, die mir durch ihr Vorbild und ihr Vertrauen die Freude am Lernen und Forschen vermittelt hat. Sie durfte das Entstehen dieser Arbeit leider nicht mehr erleben.

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1. Einleitung: Exempla und soziale Bedeutung

1.1

Warum soziale Beziehungen bei Valerius Maximus?

In der römischen Republik bildeten die sozialen Beziehungen das Zentrum des Staates. Jedes Mitglied der römischen res publica war in klar struktu¬ rierte Beziehungssysteme eingebunden (familia, Klientel), an deren Spitze die patres familias und mobiles standen. Sie übernahmen weitreichende Kontroll- und Integrationsfunktionen, die nach heutigem Verständnis die gesellschaftliche wie die staatliche Ebene betrafen.1 Ihre besondere Stellung lag maßgeblich darin begründet, dass es kein staatliches >Gewaltmonopol< gab, und dass viele der aus heutiger Sicht dem Staat zugeschriebenen Funk¬ tionen von gesellschaftlichen Institutionen wahrgenommen wurden. Da gesellschaftliche Bindungen und Institutionen somit als Teil des politischen Systems gelten konnten, ließ sich die politische Ordnung nicht von der sozialen Ordnung trennen. Diese Auffassung kann in der Forschung als Konsens gelten und war zugleich im römischen Selbstverständnis verankert, das der sozialen Ordnung eine konstitutive Bedeutung für das Funktionieren der res publica zuschrieb.2 3 Soziale Beziehungen können grundsätzlich aus zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden: Die eine gründet in einer anthropologi¬ schen Herangehensweise, deren Interesse auf grundlegende Strukturen und Konstellationen innerhalb einer Gesellschaft zielt, zeitlich bedingte Verän¬ derungen dagegen in den Hintergrund rückt.1 Die andere unterzieht soziale 1 Hierzu und zum Folgenden vgl. Martin, Zur Stellung des Vaters, S. 95ff. und Martin, Zwei Alte Geschichten, S. 3ff. und S. 18. Der Unterscheidung zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Organisation kam indes für die >Verfasstheit< der römischen res publica keine der heutigen Zeit vergleichbare Bedeutung zu. 2 So bildete die Familie aus Ciceros Sicht »gleichsam die Pflanzstätte des Gemeinwesens« (quasi seminarium rei publicae; Cic. off. 1,54), während Seneca den maßgeblich über den Austausch von benejicia konstituierten und gepflegten amicitia- und Klientelbeziehungen eine wichtige Rolle für den Zusammenhalt der menschlichen Gemeinschaft zusprach (de beneficiis dicendum est et ordinanda res, quae maxime humanam societatem adligat', Sen. benef. 1,4,2). Zur politischen Bedeutung der sozialen Ordnung in Rom vgl. auch Martin, Zwei Alte Geschichten, S. 3ff. und S. 18 sowie Martin, Zur Stellung des Vaters. 3 Zwar werden diese Strukturen und Konstellationen ihrerseits als historisch >geworden< verstan¬ den, doch steht in der Untersuchung nicht das Werden, sondern die gegenwärtige Form im Mittel-

12

Exempla und soziale Bedeutung

Beziehungen einer dynamischen Betrachtung, indem sie ihr Augenmerk auf den Wandel der Beziehungs- und Interaktionsmuster richtet und diesen in den weiteren Kontext der historischen Entwicklung einordnet. Die vorliegende Untersuchung nimmt die von Seiten der historischen Anth¬ ropologie erarbeiteten Strukturen als Hintergrund für eine Betrachtung der sozialen Beziehungen unter dem Gesichtspunkt ihrer dynamischen Verän¬ derung. Als Valerius Maximus seine Exemplasammlung - die in der Regie¬ rungszeit des Tiberius entstandenen Factoruni et dictorum memorabilium libri - verfasst, blickt Rom auf mehrere Jahrzehnte politischen und gesell¬ schaftlichen Umbruchs zurück. Die Bürgerkriege der späten Republik hat¬ ten nicht nur eine grundlegende Transformation des politischen Makrosys¬ tems eingeleitet, sondern zugleich radikale Eingriffe in das Gefüge und den Normenbestand der römischen Sozialbeziehungen mit sich gebracht. So¬ wohl auf der familiären Ebene wie auch hinsichtlich der amicitia- und Klientelbindungen wurden diese Beziehungen vielfach nicht mehr als stabil betrachtet, sondern in erster Linie in ihrem Wandlungspotential wahrge¬ nommen, das durchaus bedrohliche Formen annehmen konnte.* * 4 5 So zogen sich die Fronten zwischen den Bürgerkriegsfaktionen bis in die Familien hinein.6 Zwar hatte es auch in früherer Zeit Situationen gegeben, in denen politische amicitia über verwandtschaftliche Bindungen gesetzt wurde, doch im Rahmen der Bürgerkriege wurde der Vorrang der factio häufig auf Dauer gestellt und konnte durch die Proskriptionen zudem einen existentiellen und endgültigen Charakter erhalten.7 Einen proskribierten punkt (vgl. etwa Martin, Zwei Alte Geschichten, S. 2; Martin, Zur Stellung des Vaters, S. 97-98; Bettini, Antropologia, S. 16-17). 4 Zwar ist der exakte Zeitpunkt der Abfassung nicht völlig unumstritten - vielfach werden die Jahre 27-32 n. Chr. angeführt, wohingegen etwa Bellemore mit den Jahren 14-16 n. Chr. eine sehr frühe Datierung annimmt. Doch die Entstehungszeit unter Tiberius, den Valerius im Prooemium seines Werkes anruft, kann als sicher gelten. Für eine ausführliche Diskussion dieser Thematik s. Weileder, S. 27f., der mit Recht darauf hinweist, dass die Erstellung einer so umfassenden Samm¬ lung vermutlich »enormer, jahrelanger Anstrengung« bedurft habe. 5 Zu den gesellschaftlichen Umbrüchen dieser Zeit immer noch grundlegend Syme, Roman Revolution und Gruen. Kierdorf, S. 223f. weist darauf hin, dass sich der »fundamentale[ ] gesellschaftliche[ ] Wandel« zum einen in der Zusammensetzung der römischen Führungsschicht aus¬ drückte, in der die republikanische Nobilität v.a. infolge des »gewaltigen Aderlasses« durch Bürgerkrieg und Proskriptionen kontinuierlich abgenommen hatte (ebd., Zitate S. 223). Zum anderen führten diese Entwicklungen zu »grundsätzlichen Verschiebungen im System der sozialen Beziehungen« (ebd. S. 224), die für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse sind. 6 Vgl. etwa Syme, Roman Revolution, S. 64 sowie Hinard, Solidarites familiales. Zu den Pros¬ kriptionen insgesamt s. Hinard, Les proscriptions de la Rome republicaine. 7 Eindrücklich vor Augen geführt wurde der Vorrang der politischen factio von den Triumvim des Jahres 43, die ihre Abmachungen durch die >Opferung< naher Verwandter festigten: Lepidus setzte seinen Bruder Paullus, Antonius seinen Onkel Lucius Caesar auf die Proskriptionslisten (App. civ. 4,12 und Veil. 2,67,3).

Warum soziale Beziehungen bei Valerius Maximus?

13

Vater oder Ehemann zu verraten, war Ausdruck der Zerstörung eines fami¬ liären Zusammenhaltes, der in Rom - auch auf einer normativen Ebene, etwa als pietas oder fides — von konstitutiver Bedeutung war.8 Und selbst Familien, deren innerer Zusammenhalt erhalten blieb, sahen ihre Kontinui¬ tät vielfach materiell wie personell gefährdet. Nicht nur forderten blutige Auseinandersetzungen und Verfolgungen viele Opfer, wie es auch auswär¬ tige Kriege taten. Auch war die Proskription eines pater familias mit weit¬ reichenden Folgen für die Stellung der übrigen Familienmitglieder verbun¬ den. Seine Söhne und Enkel wurden von öffentlichen Ämtern ausgeschlos¬ sen und standen zudem materiell vor einer prekären Zukunft, denn das Vermögen der Proskribierten — zugleich die materielle Grundlage ihrer Söhne - wurde eingezogen. Auch hinsichtlich anderer sozialen Beziehungen brachten die Bürger¬ kriege grundlegende Veränderungen mit sich. Hatten amicitia-Bindungen bislang vielfach den Charakter von pragmatischen und zeitlich begrenzten Beziehungen gehabt, die zur Durchsetzung bestimmter Anliegen stets neu geschlossen und aufgelöst wurden,9 so bedeutete die Einordnung in eine Bürgerkriegsfaktion in der Regel ein dauerhaftes und zugleich exklusives Engagement. Amicitia - wie auch inimicitiae - erhielten durch diese Ent¬ wicklung einen grundsätzlichen, ja existentiellen Charakter, der bislang unbekannte Probleme zur Folge hatte.10 Diese Erfahrung fundamentaler Instabilität der engsten Nahbeziehungen muss für die frühe Kaiserzeit in mindestens zweierlei Hinsicht als prägen¬ der Hintergrund betrachtet werden. Erstens war die Beschäftigung mit dieser Zeit schon insofern problema¬ tisch, als die Erinnerung an die Schrecken der Bürgerkriege noch sehr prä¬ sent war. Insbesondere die Proskriptionen des Jahres 43 v. Chr. wurden von Zeitgenossen und Nachwelt geradezu als Paradigma einer Katastrophe angesehen, die gerade im Bereich der sozialen Beziehungen weitreichende 8 Vgl. etwa die Schilderungen bei Velleius Paterculus (2,67,2) und Appian (4,5f.; 4,12-30; 4,36-51). Als Gründe für den Verrat werden bei Appian bei den Söhnen insbesondere Profitgier (App. civ. 4,17f.) sowie auf Seiten der Ehefrauen das Bestehen einer außerehelichen Beziehung (App. civ. 4,23f.) angeführt. 9 S. hierzu unten Kapitel 5.4.2 sowie Götter, Cicero und die Freundschaft, der die »enorme Flexibilität der Allianzen« als ein wesentliches Kennzeichen der republikanischen Politik be¬ schreibt. Daneben habe es allerdings auch »lang andauernde intensive Beziehungen« gegeben (Götter, Cicero und die Freundschaft, S. 342-346, Zitate S. 343f.). 10 Ähnliches galt für die Beziehung zwischen Sklaven und ihren Herren. Indem Sklaven durch das Versprechen der Freiheit dazu gebracht wurden, ihre proskribierten Herren zu verraten, wur¬ den in doppelter Hinsicht Linien gezogen, die quer zu den traditionellen römischen Beziehungen standen: Quer zu der einem Sklaven geziemenden fides gegenüber seinem Herrn, zugleich aber auch quer zu dem grundsätzlich nur dem Herrn zukommenden Recht, einem Sklaven die Freiheit zu gewähren (s. unten Kapitel 5.2.1, bes. Anm. 616; s. auch Schumacher, S. 95-100 und passim).

14

Exempla und soziale Bedeutung

Zerstörungen mit sich gebracht hatte.11 Auch standen in der frühen Kaiser¬ zeit die Nachkommen derer, die in den Bürgerkriegen Besitz oder gar Le¬ ben verloren hatten, den Söhnen der >Sieger< und >Täter< gegenüber: Die Thematisierung der jüngsten Vergangenheit riskierte daher nicht nur, alte Wunden aufzureißen, sondern die Spaltung der Bürgerkriegszeit in die Gegenwart zu perpetuieren.12 Die Bürgerkriege bildeten zudem nur den Höhepunkt einer bereits mit den Auseinandersetzungen um die Gracchen begonnenen problematischen Entwicklung. Zunehmende und mit der Bil¬ dung von Faktionen einhergehende Konflikte hatten dazu geführt, dass der Erinnerungsraum, der in Rom den traditionellen Bezugspunkt für die Identitäts- und Standortbestimmung der aristokratischen Oberschicht bildete, im Verlauf des ersten vorchristlichen Jahrhunderts an Einheit und Verbindlich¬ keit verlor. Dies äußerte sich nicht zuletzt in der Bezugnahme auf den Ver¬ gangenheitsraum über das traditionelle Medium der exempla, die im Laufe der späten Republik vielfach polyvalent verwendbar und in ihrem Bedeu¬ tungsgehalt strittig wurden.13 Mit den Bürgerkriegen wurde der Verlust eines identitätsstiftenden normativen Gesamtrahmens endgültig besiegelt. Eine zweite Folge der beschriebenen Erfahrung von Instabilität war ein weitreichendes Bedürfnis nach Orientierung: Welche Bedeutung kam sozia¬ len Beziehungen angesichts der Bürgerkriegserfahrungen überhaupt noch zu? Welchen Stellenwert hatten traditionelle normative Handlungsrahmen, gegen die in einer so fundamentalen Weise verstoßen worden war? Diese doppelte Herausforderung von problematischer memoria einerseits und unklarer Nonnativität sozialer Beziehungen andererseits wurde in der

11 Zur Zerstörung der Familienbeziehungen s. Vogt, S. 86f. sowie Götter, Cicero und die Freundschaft, S. 193f., der daraufhinweist, dass »die detaillierten Berichte von persönlichen Schick¬ salen, die offenbar noch zur Zeit Appians und Dios kursierten, [...] die von den Proskriptionen ausgelöste Erschütterung« deutlich spiegelten (ebd. Anm. 147). 12 Zur Problematik der Behandlung der Bürgerkriege, die natürlich auch mit der Person des Augustus zu tun hatte, siehe z.B. Bloomer, Valerius Maximus, S. 53, S. 183f., S. 223ff. und passim und M.-L. Freyburger, Valere Maxime, S. 111 und S. 117. 13 Bereits seit dem Beginn des 2. Jh.s v. Chr. hatte die Homogenität der Aristokratie durch die zentrifugale Dynamik des Kampfes um Macht und Prestige zu schwinden begonnen (vgl. unten Kapitel 5.5 sowie Blösel, mos maiorum, S. 85f. und Hölkeskamp, Exempla und mos maiorum, S. 327). Zum populären Zugriff auf eine bisher »exklusiv von der Nobilität verwaltete Geschichte mit ihren Sinnbildern« vgl. Stemmler, Auctoritas exempli, S. 183f. (Zitat S. 183), Martin, Die Popu¬ lären, S. 217f. sowie Götter, Cicero und die Freundschaft, S. 356 und passim. Aus einer anderen Perspektive vgl. Braun, der seine Aufmerksamkeit auf den spätrepublikanischen Umgang mit dem mos maiorum richtet, sowie Keller, bes. S. 201-208. Zur Bedeutung dieses normativen Gesamt¬ rahmens s. Moatti, La raison de Rome, S. 30-33, die daraufhinweist, dass das katalogisierende, aut exempla basierende kollektive Gedächtnis eine wichtige Rolle für den römischen Normenkos¬ mos spielte. Es durfte jedoch weder kraftlos, noch verdächtig, noch gespalten sein (»encore fallaitil qu’elle ne fut ni defaillante, ni suspecte, ni divisee«; ebd. S. 33).

Warum soziale Beziehungen bei Valerius Maximus?

15

frühen Kaiserzeit in vielfältiger Hinsicht aufgegriffen. Von zentraler Bedeu¬ tung ist in diesem Zusammenhang das Anliegen des Augustus, der die Wie¬ derherstellung der gesellschaftlichen und politischen Einheit der res publica nicht nur mit einer Neukonstruktion der sozialen, besonders der familiären Beziehungen verbinden wollte,14 sondern darüber hinaus auf die Schaffung eines Einheit stiftenden und positiv konnotierten Erinnerungsraumes zielte. Maßgeblich für die Neukonstruktion der sozialen Beziehungen waren die augusteischen Ehegesetze, die einen radikalen Eingriff in die familieninter¬ ne Entscheidungspraxis (Heirat, Scheidung, Familienplanung, Erbschaft) und Konfliktregelung (Ehebruch) darstellten und die patres familias wie auch das Beziehungsgefüge zwischen diesen und ihren Frauen, Kindern, Sklaven und Freigelassenen grundlegend beeinflussten.15 Die damit verbun¬ denen Eingriffe in das testamentarische Erbrecht hatten zudem erhebliche Auswirkungen auf die amicitia- und Klientelbeziehungen (vgl. Kapitel 5.3.2). Der augusteische Entwurf eines Identität und Einheit stiftenden Erinne¬ rungsraumes wird im Statuenprogramm des Augustusforum sichtbar. Geehrt wurden Sueton zufolge die Feldherren (duces), »die das Reich des römi¬ schen Volkes aus kleinsten Anfängen zum größten gemacht hatten«. Indem Augustus die Personen ausschließlich nach ihrer Größe und Leistung aus¬ wählte und organisierte, konnte er den historischen Kontext und mit ihm kritische Verhaltensweisen weitgehend ausblenden. Auf diese Weise gelang es ihm, problematische Gestalten der Vergangenheit - etwa Marius und Sulla - in das Forum aufnehmen und dennoch ein einheitliches, durch virtus charakterisiertes Gesamtbild der römischen Geschichte evozieren.16 Indem 14 Auch in anderen Bereichen wurden Versuche einer normativen Fundierung sozialer Bezie¬ hungen vorgenommen. So machen etwa die Controversiae des älteren Seneca deutlich, dass die sozialen - insbesondere die familiären - Beziehungen ein zentrales Thema der in den Rhetorik¬ schulen geübten Deklamationen bildeten. Vor allem das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern sowie zwischen Geschwistern, verbunden mit Themen wie Adoption und Enterbung wird in den Controversiae immer wieder aus ganz unterschiedlichen Perspektiven erörtert, ebenso Ehebezie¬ hungen im Hinblick auf Treue und Ehebruch. In einigen Fällen wird sogar die Beziehung zwi¬ schen patronus und servus bzw. libertus thematisiert. (Zu den Deklamationen und ihrer Funktion s. Beard sowie unten Anm. 42.) Ebenfalls zu nennen ist in diesem Zusammenhang die etwas später verfasste Abhandlung De beneficiis des jüngeren Seneca, in der vor allem die sozialen Normen von gratia und ingratia aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und diskutiert werden. 15 Mette-Dittmann, S. 29; vgl. auch Bellen, S. 330ff. sowie Raditsa, S. 310-329 und passim. Zur augusteischen Gesetzgebung insgesamt s. Bellen, bes. S. 329-348. 16 Zitat Suet. Aug. 31,5. Zum Augustusforum sowie insbesondere zur Galerie der summi viri vgl. Spannagel, bes. S. 317-344, Walter, Memoria und res publica, S. 417f£, bes. S. 420 und Zänker, Forum Augustum, S. 81 ff, bes. S. 88f. sowie ders., Die Macht der Bilder, S. 196ff. und S. 213ff; vgl. auch Moatti, La raison de Rome, S. 30, Gowing, S. 138-145 und Sage, S. 192ff. Zänker, Die Macht der Bilder, S. 213f., betont die doppelte Funktionalität der summi viri: Auf der einen Seite ermöglichte die Orientierung an einzelnen Männern die Eliminierung problematischer Episoden, denn die Aneinanderreihung großer Persönlichkeiten stellte kein Kontinuum dar, in dem

16

Exempla und soziale Bedeutung

Augustus die römische Geschichte hier auf ihre Exempelhaftigkeit zurückfdhrte und gleichzeitig darauf verzichtete, sie in bona und mala exempla zu unterteilen, schuf er im Zentrum des öffentlichen Raumes einen gemeinsa¬ men und positiv konnotierten Ort der Erinnerung, in dem die Polarisierun¬ gen der Vergangenheit aufgehoben wurden.17 Die unter Tiberius entstandene Exemplasammlung des Valerius Maximus lässt sich ebenfalls in diesen Kontext einordnen. Die in neun Büchern zu¬ sammengestellte Kompilation stellt nicht nur wegen ihres Umfanges von rund 1000 exempla, sondern auch aufgrund ihrer spezifischen Struktur eine außergewöhnliche Quelle dar. Die einzelnen Bücher dieser Sammlung gliedern sich in Kapitel, die in der Regel aus zwei Teilen bestehen: einer Gruppe römischer und einer Gruppe »externer«, vor allem griechischer, aber auch etwa persischer oder karthagischer exempla. Nur in Ausnahme¬ fällen fehlen externe Beispiele, wobei dies meist aus der Thematik des jeweiligen Kapitels erklärt werden kann.18 Vor dem Hintergrund der gerade beschriebenen Entwicklungen ist das valerische Werk darüber hinaus in zweifacher Hinsicht von besonderem Interesse: Zum einen nehmen die sozialen Beziehungen in den Facta et dicta memorabilia einen breiten Raum

eine Lücke aufgefallen wäre. Zugleich habe die Aufstellung der Statuen dennoch ein »Gesamt¬ bild« der römischen Geschichte suggeriert, denn »vereint standen die Gegner von einst in den nationalen Ruhmeshallen: Marius neben Sulla, Lucullus neben Pompeius« (ebd. 214). Ähnlich formuliert Bleicken in seiner Augustus-Biographie, jede der großen Gestalten verliere durch diese Aneinanderreihung »ihren besonderen, mit ihrem historischen Ort, in dem sie stand, unauflösbar verbundenen Charakter«. So könne »Marius neben seinem Erzfeind Sulla und Angehörigen der Nobilität stehen, denen er so verhaßt war.« (Bleicken, Augustus, S. 531). Vgl. auch Coudry / Späth, S. 414. 17 Dass Augustus der Verwendung von exempla als Argument und konkrete Handlungsanwei¬ sung eine nicht unerhebliche Bedeutung zusprach, ist uns aus unterschiedlichen Quellen bekannt. So berichtet etwa Sueton (Aug. 89,2), Augustus habe beim Lesen griechischer und römischer Autoren »Regeln und Beispiele] ], die heilsam waren für das öffentliche oder private Leben« (pmecepta et exempla publice vel privatim salubria) herausgeschrieben und »an die Angehörigen seines Hauses, an die Befehlshaber der Heere und die Statthalter der Provinzen oder die Beamten in der Hauptstadt [geschickt], an alle ohne Ausnahme, so wie sie seiner Meinung nach eine Erinnerung brauchten.« In seinem Tatenbericht betont Augustus: »Durch neue, von mir veranlaßte, Gesetze habe ich viele Verhaltensbeispiele der Vorfahren, die schon aus unserem Zeitalter zu verschwin¬ den drohten, zurückgeholt und selbst auf vielen Gebieten Beispiele als Richtschnur des Verhaltens der Nachfahren überliefert.« (legibus novi[s] m[e auctore IJatis m[ulta ejxempla maiorum exolescentia iam ex nostro [saecul] o red[uxi et ipse] multdrum rer [um exejmpla imitanda pos[teris tradidi], R. Gest. div. Aug. 8). Zur augusteischen Bezugnahme auf exempla sowie auf die mores maiorum vgl. Bellen, S. 317ff. (mit einer ausführlichen Diskussion der gerade zitierten Stelle aus den Res Gestae), S. 329ff. und S. 344ff, Zänker, Die Macht der Bilder, S. 161-170 sowie Weileder

S. 40f. 18 Zu der überlieferten Struktur der neun Bücher vgl. Faranda, S. 13ff. Einen guten Überblick über den Aufbau sowie über den Inhalt der einzelnen Bücher bietet Combes, S. 25-45. Zum Fehlen externer exempla vgl. etwa unten Anm. 138.

Warum soziale Beziehungen bei Valerius Maximus?

17

ein. Bereits ein Blick auf die Kapitelüberschriften zeigt, dass sich zahlreiche Kapitel dem Verhältnis zwischen Eltern und Kindern sowie der Ehe wid¬ men, während andere soziale Beziehungen durch Themen wie gratia, fides und amicitia präsent sind. Zum anderen ist der Normenkosmos, der durch die in den Facta et dicta memorabilia angeführten Beispiele entsteht, nicht als Ergebnis einer einfachen Aneinanderreihung exemplarischer Erzählun¬ gen, sondern als Produkt bewusster Schöpfung zu betrachten, die mindes¬ tens drei zentrale Ordnungshandlungen voraussetzt: (1) die Festlegung von Rubriken, die in diesem Werk als strukturierende Kapitel fungieren,19 (2) die Auswahl der exempla sowie (3) die Zuordnung der einzelnen exempla zu den thematisch geordneten Kapiteln.20 Vor diesem Hintergrund lässt sich die valerische Exemplasammlung auf die Arbeit der Konstruktion und Struktu¬ rierung des römischen Normen- und Erinnerungsraumes beziehen. Durch die Wahl seiner Gattung und die inhaltliche Schwerpunktsetzung seines Werkes verbindet Valerius somit zwei zentrale Themen der frühen Kaiserzeit. Er bietet auf diese Weise zum einen wertvolle Hinweise über die Konstruktion und Strukturierung eines in exemplis entworfenen Vergangen¬ heitsraumes. Zum anderen bildet sein Werk eine hervorragende Quelle für die Frage nach den Veränderungen, denen die häufig über den Erinnerungs¬ raum kommunizierten nonnativen Vorstellungen und Bilder sozialer Bezie¬ hungen im Übergang von der späten Republik zur frühen Kaiserzeit unter¬ worfen waren. Eine qualitativ wie quantitativ zentrale Stellung kommt dabei der Bezie¬ hung zwischen Vätern und Söhnen zu. Sie ist nicht nur mit Abstand am häufigsten - mit über 100 exempla - vertreten, sondern wird zudem in zahlreichen Kapiteln explizit zum Thema gemacht. Diese herausgehobene Position entspricht ihrer Bedeutung in der römischen Gesellschaft, die sich in einer umfangreichen Forschungsliteratur spiegelt (s. Kapitel 2.1). Die Vater-Sohn-Beziehung bildete das Rückgrat der römischen Sozialordnung und spielte eine zentrale Rolle für die Vermittlung von Status. Die mit der beschriebenen Kontroll- und Integrationsfunktion des pater familias einher¬ gehende >politische< Relevanz verschaffte ihrer Beziehung im römischen Selbstverständnis ebenfalls eine besondere Stellung, die trotz vielfältiger

19 Dass die Anordnung der Kapitel keine von sich aus evidente Struktur aufweist, zeigt der bis heute dauernde Streit um eine plausible Gesamtordnung der Sammlung (s. hierzu Anm. 34). 20 Da exempla im gesellschaftlichen und politischen Leben der römischen Republik in sehr vielfältiger Weise verwendet wurden, lag ihre Einordnung keineswegs automatisch fest, sondern beinhaltete eine bewusste und sinnstiftende Entscheidung, die - wie im Verlauf der Arbeit deutlich werden wird - bis hin zu einer Umdeutung des exemplarischen Inhalts gehen konnte. Zur Bedeu¬ tung der vor allem seit der späten Republik aufkommenden Ordnungs- und Klassifizierungsbemü¬ hungen s. Moatti, La raison de Rome, S. 217-226, S. 230ff. und S. 243ff.

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Veränderungen ihrer Funktion und Rolle im Grundsatz erhalten blieb.'1 Aufgrund dieser besonderen Bedeutung und Präsenz der Vater-Sohn Beziehung im valerischen Werk wie im Kontext der römischen res publica wird sie im Folgenden in einem eigenen Kapitel behandelt (2).22 Einen zweiten Schwerpunkt meiner Untersuchung bilden die amicitiaBeziehungen, die im Rahmen des valerischen Werkes ebenfalls eine promi¬ nente Stellung einnehmen. Auch in diesem Falle entspricht ihre werkimma¬ nente Präsenz der herausragenden gesellschaftlichen und politischen Bedeu¬ tung. Amicitia-Bindungen strukturierten maßgeblich den auf die res publica bezogenen Raum und waren daher infolge der beschriebenen Entwicklun¬ gen einem besonderen Veränderungsdruck ausgesetzt. Dies äußerte sich nicht zuletzt in intensiven Auseinandersetzungen und Diskussionen über ihre inhaltliche Ausgestaltung und Funktion, deren Dynamik in der vorlie¬ genden Arbeit einer genauen Analyse unterzogen werden soll (5.4). Zum Einstieg in die Untersuchung des valerischen Werkes wird ein kurzer Überblick über die bisherige wissenschaftliche Beschäftigung mit den Fac¬ ta et dicta memorabilia gegeben. Sie lässt sich in drei Phasen unterteilen, die durch jeweils spezifische methodische Fierangehensweisen charakteri¬ siert sind.23 In ihren Anfängen wies die Valerius-Forschung eine vorwiegend philologi¬ sche Ausrichtung auf. Ausgehend von einer stilistischen Betrachtung der

21 S. etwa Bonnefond, bes. S. 84ff. und S. 95f.; Thomas, Droit domestique und ders., Parricidium sowie Martin, Zur Stellung des Vaters, S. 95ff.; zur politischen Relevanz der Vater-Sohn-

Beziehung vgl. auch unten Kapitel 2, bes. 2.3.2. Mit zunehmender Institutionalisierung der öffent¬ lichen Aufgaben verlor die väterliche Kontrollfunktion seit der späten Republik an Bedeutung. Dies äußerte sich z.B. in der Konstituierung fester Geschworenengerichtshöfe und in der Auswei¬ tung dieser quaestiones perpetuae besonders unter Sulla (Kunkel, Kriminalverfahren, S. 134f.; Fröhlich, S. 1561). Ein grundsätzlicher Wandel erfolgte im Prinzipat, als infolge der Gesetzgebung des Augustus viele Bereiche unter >staatliche< Regulierung fielen, wobei v.a. die Ehegesetze zu einer massiven Einschränkung der Rechte des pater familias führten (vgl. Mette-Dittmann, bes. S. 29f., S. 81f. und S. 203, Baltrusch, S. 162ff. und S. 187ff„ Stahlmann, S. 19ff. und Raditsa, S. 320f.). 22 Eine Einordnung in das Verwandtschaftskapitel (3) wäre zwar aus systematischen Gründen richtig, hätte jedoch zur Folge, dass die spezifischen, aus der Analyse der Vater-Sohn-Beziehung resultierenden Ergebnisse keine hinreichend prominente Darstellung erhielten. Eine Zusammen¬ führung der Ergebnisse zu den Verwandtschaftsbeziehungen insgesamt wird im Kapitel 4 vorge¬ nommen. 23 Da seit dem Beginn der 1990er Jahre mehrere, zuweilen mit ausführlichen Forschungsüber¬ blicken versehene Untersuchungen zu Valerius Maximus entstanden sind, konzentriert sich das vorliegende Kapitel auf eine analytische Diskussion der zentralen Phasen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem valerischen Werk. Für einen detaillierten Forschungsüberblick bis 1997 s. Weileder, S. 9-20; vgl. auch Bloomer, Valerius Maximus, S. 59ff„ Truschnegg, S. 360ff. sowie Thum, S. 79ff.

Warum soziale Beziehungen bei Valerius Maximus?

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römischen Literatur einerseits sowie von ersten theoretischen Überlegungen zur Form und Funktion von exempla andererseits wurde das Werk von den meisten Forschem als minderwertige und mimetische Literatur be- und damit zugleich verurteilt.24 Im besten Falle galten die Facta et dicta memorabilia als einfache Aneinanderreihung mehr oder weniger bekannter Ge¬ schichten, zuweilen wurde Valerius sogar unterstellt, lediglich eine bereits existierende, uns nicht überlieferte Exemplasammlung kopiert zu haben ein Vorwurf, der von Seiten der Quellenkritik indes schon früh zugunsten einer direkten Verwendung von Cicero, Livius und anderen Autoren wider¬ legt wurde.25 Die eher historiographische Frage nach der Funktion des Wer¬ kes wurde in dieser ersten Phase einhellig beantwortet: Unter Verweis auf das Prooemium, in dem Valerius seine Absicht beschreibt, ein praktisches Kompendium für Redner zu verfassen, galt sein Werk als bloßes Handbuch, dessen einzelne exempla als voneinander praktisch unabhängige Einheiten behandelt werden konnten.26 Die Facta et dicta memorabilia wurden auf diese Weise zu einem Quellen-Steinbruch der althistorischen Forschung, die sich einzelner Episoden zur Untermauerung ihrer jeweiligen Thesen bediente - und aufgrund der Vielfalt der valerischen exempla auch für bei¬ nahe jede These fündig werden konnte.27 Auch erschien es aus dieser Per¬ spektive für die meisten Historiker folgerichtig, die exemplarischen Erzäh¬ lungen praktisch unhinterfragt als Belege für Verhaltensweisen und Sitten der in den Beispielen thematisierten republikanischen Zeit zu verwenden.28 24 S. etwa Carter und Alewell, S. 86 (»Die Exemplaliteratur war [...] wohl von jeher etwas Min¬ derwertiges«), Komhard, Bosch (»dieser litterarisch [!] so wertlose Autor«, ebd. 57), Helm, Valerius Maximus, sowie Litchfield. 25 S. etwa Helm, Exemplasammlung, der sich damit gegen Klotz, Zur Litteratur der Exempla, (vgl. auch die Replik von Klotz, Studien zu Valerius Maximus) und Bosch wendet; vgl. auch Bliss und Fleck. Differenziert hierzu Weileder, S. 11-13. Eine recht ausführliche Diskussion dieser Thematik findet sich bei Sinclair, S. 176-214. Zum Einfluss Ciceros auf das valerische Vorgehen vgl. Bloomer, Valerius Maximus, S. 5ff. und S. 60ff. Auch Sallust wird mittlerweile als eine wichtige Quelle betrachtet (s. hierzu etwa Jacquemin, Salluste, S. 102f., Bloomer, Valerius Maxi¬ mus, S. 108ff. sowie Guerrini, Modelli sallustiani, S. 152ffi). 26 Siehe bspw. Litchfield, S. 67; Helm, Valerius Maximus, S. 93f. und S. 97 sowie Bosch und Alewell, S. 36ff.; Noch 1988 spricht von Moos von einer »rhetorischen Vorratsliteratur« (von Moos, S. 14; s. auch ebd. S. 359, Anm. 710). Die unhinterfragte Übernahme der Aussage des Prooemiums, das per definitionem einer gewissen rhetorischen Überformung unterliegt, ist problematisch. Die von Valerius hier angeführten Beschränkungen hinsichtlich seiner Intentionen sind nicht als konkrete Absichtserklärung, sondern vielmehr als Bestandteil einer verbreiteten Bescheidenheitstopik zu betrachten (s. Loutsch, S. 31 und Curtius, S. 93). Einen frühen Versuch, die Facta et dicta memorabi¬ lia als Einheit zu betrachten, bietet Comes (S. 19f.), dessen Analyse jedoch zu sehr an der Oberfläche verbleibt. 27 Zu dieser bis heute verbreiteten Verwendung des valerischen Werkes s. auch Bloomer, Va¬ lerius Maximus, S. lf., der daraufhinweist, dass Valerius im Mittelalter und bis in die Zeit der Renaissance als Historiker betrachtet und dementsprechend intensiv rezipiert wurde. 28 Zweifel an der Historizität der valerischen exempla richteten sich lediglich auf etwaige chronologische Ungenauigkeiten oder auf offenkundig falsche Darstellungen (Verwechslung von

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Erst seit der Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts nahm sich die althis¬ torische Forschung der Facta et dicta memorabilia in einer systematische¬ ren Weise an. Diese zweite Phase lässt sich durch zwei neue Ansätze cha¬ rakterisieren, die in den vergangenen zwanzig Jahren maßgeblich zu einem besseren Verständnis des valerischen Werkes beigetragen haben. Erstens wurde die Reduzierung der Facta et dicta memorabilia auf die Funktion eines reinen Handbuchs für Rhetoren (-schulen) in Frage gestellt. Schon 1977 hat Honstetter in einer wichtigen, aber lange Zeit kaum rezi¬ pierten Untersuchung herausgearbeitet, dass das Werk beachtliche literari¬ sche und moralische Intentionen beinhaltet. So deuten offensichtliche Strukturierungsbemühungen sowie die praefationes, Überleitungen und Kommentare daraufhin, dass die Facta et dicta memorabilia auch für einen >literarischem Feser konzipiert waren, der das Werk im Zusammenhang lesen wollte.29 Während der Aspekt der Fiterarizität und die damit verbun¬ dene Konzentration auf die Komposition des valerischen Werkes lange Zeit vergleichsweise wenig Beachtung gefunden haben, wurde die Frage der moralischen Intentionen einige Jahre später von zahlreichen Forschem aufgegriffen und mündete schließlich in einen weiteren Perspektivenwech¬ sel.30 Die Frage nach einer - wie auch immer gearteten - moralischen Intenti¬ on zu stellen, hieß nämlich zweitens zugleich, den formenden und deuten¬ den Beitrag des Valerius einerseits und seine potentiellen Adressaten ande-

Personen u. ä.), die unter Rückgriff auf andere uns (für manche exempla) bekannte Darstellungen korrigiert wurden und dem wohlbekannten Bild der valerischen Unzulänglichkeit nur weitere Pinselstriche hinzufugten. 29 Honstetter. Von der Einschränkung auf die Funktion eines Handbuchs distanzieren sich auch Maslakov, S. 437; Bloomer, Valerius Maximus; von Albrecht, S. 853; Skidmore, Practical Ethics, S- XVII und S. 53fF. (er streitet diese Funktion gänzlich ab; vgl. bereits Skidmore, Teaching by examples, S. 168ff); Weileder, S. 16ff.; David, Les enjeux de l’exemplarite, S. 17; Loutsch, S. 32 und Lehmann, S. 19f. Ein weiteres Argument liegt zudem in der Existenz zweier Epitomai, die daraufhinweisen, dass das valerische Werk den Erfordernissen eines Handbuches gerade nicht in ausreichendem Maße entsprochen zu haben scheint. So wurden in beiden Epitomai erhebliche Kürzungen vorgenommen (alle Kommentare sowie die einleitenden Bemerkungen wurden entfernt). Der Verfasser der zweiten Epitome, Ianuarius Nepotianus, äußert sich in seiner Widmung explizit über das Problem der valerischen Ausführlichkeit: Igitur de Valerio Maximo mecum sentis opera eius utilia esse, si sint brevia (zitiert nach der Werkausgabe von R. Faranda). Dass die Überschriften der (von Valerius konzipierten) Kapitel vermutlich Hinzufügungen eines späteren Bearbeiters sind (s. unten Anm. 74), spricht ebenfalls gegen die Verwendung als Handbuch, da ein so umfangreiches Werk ohne eine solche Strukturierung nicht zur kurzen und zielgerichteten Konsultation geeignet war (so auch Wardle, S. 15). 30 So etwa Maslakov, S. 437ff und S. 454, der von einer »morally charged collection« spricht (ebd. 437); vgl. Bloomer, Valerius Maximus und Skidmore, Practical Ethics (ähnlich bereits Skidmore, Teaching by examples) sowie Gowing, S. 56 und passim. Die Frage der Literarisierung wuide erst von Römei sowie insbesondere von Thum, die sich mit Konzeption und Aufbau der valerischen Sammlung beschäftigten, wieder systematisch aufgenommen (s. unten Anm. 34).

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rerseits neu zu bewerten. Während in Bezug auf die Adressaten sehr unter¬ schiedliche Meinungen geäußert wurden - richtete Valerius sich an die provinzialen Eliten im Aufstieg in die Reichselite (Bloomer), an den wohl¬ situierten pater familias (Skidmore)31 oder doch eher an die römische Aris¬ tokratie insgesamt, deren Wertesystem im Übergang zur frühen Kaiserzeit einem tiefgreifenden Wandel unterlag (David, Weileder)? -32 so werden diese neueren Ansätze durch die Überzeugung geeint, dass die Facta et dicta memorabilia in erster Linie als eine Quelle für das Selbstverständnis und das Geschichtsbild ihrer Entstehungszeit, das frühkaiserzeitliche Rom, zu betrachten sind, und nicht für die Zeit der Republik. Vor diesem Eiinter¬ grund gewann die valerische Sammlung das Interesse weiterer Historiker, die sie als Quelle für das frühkaiserzeitliche Selbstverständnis zu nutzen begannen.33 Mit dem Beginn der 1990er Jahre intensivierte sich darüber hinaus die Beschäftigung mit dem Aufbau des valerischen Werkes, für den

31 Bloomer bezieht das Werk auf die Akkulturation der provinzialen Aufsteiger der frühen Kai¬ serzeit (Bloomer, Valerius Maximus, S. 12f. und S. 259) und schließt den Adel sowie die »traditionally literate classes« (S. 12) explizit als Adressaten aus. Seine Argumentation, einem wirklichen Aristokraten stünden andere, traditionelle Methoden zur Vermittlung der richtigen gesellschaftlichen und politischen Verhaltensweisen zur Verfügung (S. 259), übersieht, dass in der seit den Bürgerkrie¬ gen beträchtlich dezimierten Führungsschicht die überlieferten Formen der Vermittlung von Traditi¬ on nur noch selten zur Verfügung stehen konnten (zur Rolle, die der Familie in diesem Zusammen¬ hang zukam, s. auch Clemente, S. 602f.; vgl. auch Plinius, unten Anm. 43). Skidmore, Practical Ethics, S. 105, bestimmt den Leser des Werkes sehr konkret als »property-owning Roman paterfamiHas«, der darin moralische Anleitung für das alltägliche Leben - etwa im Umgang mit Testamenten oder mit seinen Kindern - gefunden habe. Die Bedeutung der moralischen Komponente ist auch durch die von Loutsch, S. 30ff. vorgenommene Neuinterpretation des Prooemiums nochmals ein¬ drücklich bestätigt worden. Er arbeitet in überzeugender Weise heraus, dass der im Prooemium verwendete Begriff documentum (ut documenta sumere volentibus longae inquisitionis labor absit) nicht im Sinne von »Dokumentation« oder »Material« zu verstehen sei: »Le documentum est un exemple docendi causa et designe ce qui dans Texemple en constitue la legon. [...] D’oü la traduction correcte de P. Constant: >aux lecteurs qui desirent puiser des enseignements dans Fhistoirei.« (Loutsch, S. 31; vgl. ähnlich Römer, S. 99) Zu dem Ausdruck documentum s. auch unten Anm. 43. Zitate aus Valerius Maximus sind im Folgenden - soweit nicht anders angegeben - der im Jahre 2000 von D. R. Shackleton Bailey herausgegebenen Ausgabe entnommen 32 Weileder hat deutlich gemacht, dass Valerius sich in vielen Bereichen in das moralische und politische Programm von Augustus und Tiberius einordnet (Weileder, S. 38-44 und passim). Vgl. ähnlich Loutsch, S. 32: »Ainsi, Valere Maxime inscrit explicitement son ouvrage dans la politique de restauration morale dont il credite Tibere.« David, Les enjeux de l’exemplarite, setzt sich von den bisherigen Versuchen einer direkt funktionalen Bestimmung des valerischen Werkes ab und regt an, dieses in den weiteren Rahmen der Strukturierung aristokratischer Meinungen zu setzen: »C’est dans le cadre plus vaste mais aussi plus complexe de la structuration des opinions aristocratiques qu’il faut la replacer.« (David, Les enjeux de l’exemplarite, S. 17; vgl. Langlands); ähnlich Wardle, S. 14f. 33 S. etwa Truschnegg, die am Beispiel des Valerius das Frauenbild in der Exemplaliteratur untersucht, sowie Mueller, der Valerius für die Rekonstruktion der religiösen Erfahrung frühkai¬ serzeitlicher Bürger verwenden möchte. Keine der beiden Untersuchungen konnte jedoch überzeu¬ gende Ergebnisse formulieren.

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indes bis heute keine völlig überzeugende Lösung gefunden werden konn¬ te.34 Die dritte Phase der Valerius-Forschung wurde mit einem von Jean-Michel David herausgegebenen Sammelband begründet.35 In den darin enthaltenen, von unterschiedlichen französischen Historikern verfassten Aufsätzen wird erstmals der Versuch unternommen, die inhaltliche Analyse der Facta et dicta memorabilia als einer Quelle für das Selbst- und Vergangenheitsverständnis der frühkaiserzeitlichen Aristokratie konsequent mit Fragen der Komposition dieses Werkes zu verbinden.36 Auf diese Weise gelingt es etwa den Untersuchungen von Coudry zum Bild des Senats oder von David zur valerischen Darstellung der republikanischen Geschichte herauszuarbei¬ ten, dass dem Zusammenspiel von exempla und Exemplasammlung eine 34 Römer und Thum haben vorgeschlagen, das valerische Werk als eine systematische Be¬ handlung der vier Kardinaltugenden (Römer) bzw. der vier Lebensalter (Thum) zu deuten. Wäh¬ rend der Ansatz von Thum wenig überzeugend ist, bietet Römers Vorschlag wichtige Anregungen, zumal er explizit darauf hinweist, dass die Ordnung der Facta et dicta memorabilia nicht als »starres Schema« zu begreifen sei (Römer, S. 101; vgl. ähnlich Combes, S. 25ff, der zusätzlich zu den Kardinaltugenden auf die Anweisungen der Rhetorikbücher hinweist). In der Tat deutet vieles darauf hin, dass Valerius kein geschlossenes System bieten, sondern in einer lebendigen und praktikablen Darstellung alle jenen Bereiche behandeln wollte, die er für die mores seiner Zeit als bedeutsam erachtete. Zwar lassen sich einige (z. T. auch von Römer beschriebene) Strukturele¬ mente ausmachen: Im 1. und 2. Buch behandelt Valerius die göttliche Welt und die menschliche Ordnung, die Grundlage allen menschlichen Lebens. Die Bücher 3 bis 7 befassen sich mit römi¬ schen virtutes und positiven Verhaltensweisen, während die beiden letzten Bücher (8 und 9) wiederum abweichende Inhalte aufweisen: Das 8. Buch thematisiert den Bereich von Rhetorik und Prozesswesen, im 9. Buch werden mala exempla dargestellt. Im Mittelpunkt der Bücher 3-7 wie auch des Gesamtwerkes steht das 5. Buch, das sich mit wichtigen sozialen - in der Mehrzahl verwandtschaftlichen - Beziehungen beschäftigt. In den darum hemm gruppierten vier Büchern lassen sich einige Aspekte der Kardinaltugenden finden, die indes nur bedingt als Strukturelemen¬ te gelten können: Während Buch 3 den Bereich fortitudo thematisiert, dominieren im 4. Buch deutlich jene Wertvorstellungen, die sich durch temperantia auszeichnen. Im 6. Buch folgen Elemente von iustitia und im 7. Buch einige wenige Kapitel, die sich mit sapientia befassen. Doch scheinen die direkten Zusammenhänge zwischen Kapiteln und Büchern sowie die umfassende Behandlung der von ihm als zentral erachteten Themen für Valerius wichtiger zu sein, als die Betolgung einer schematischen Struktur. So verwendet er in Einleitungen und Kommentaren viel Soigtalt darauf, die Verbindung zwischen einzelnen Kapiteln, auch über Büchergrenzen hinaus, zu verdeutlichen. Daher sollte der Aufbau des valerischen Werkes - noch stärker als Römer dies tut als flexible Umsetzung eines Konzeptes gedeutet werden, für das direkte, der Illustration wie der Rezeption dienliche Zusammenhänge einen höheren Stellenwert einnehmen, als die Kohärenz der Gesamtstruktur (vgl. ähnlich Wardle, S. 7-9). 35 David, Valeurs et memoire ä Rome. 36 Eine wichtige Ausnahme bildet das bereits genannte Werk von Honstetter. Zwar gab es in der Vergangenheit schon andere Versuche, die inhaltliche Analyse mit Fragen der Struktur und Gattung zu verbinden. Diese richteten sich jedoch entweder auf das einzelne exemplum (so etwa Guerrini, Studi su Valerio Massimo, der untersucht, in welcher Weise die Struktur der exempla zu einer spezifischen inhaltlichen Aussage beiträgt; vgl. hierzu Wardle, S. 1 lf.) oder aber ausschlie߬ lich auf die Struktur des Gesamtwerkes (vgl. Anm 34).

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zentrale Bedeutung für das Verständnis der Facta et dicta memorabilia zukommt.' Nicht die Analyse eines einzelnen Exempels oder Kapitels, sondern eist der Blick aut das Gesamtwerk eröffnet den Blick auf den Pro¬ zess der Konstruktion konkreter >Bilder< — und damit indirekt auf die valerischen Intentionen —, die sich diesem Werk mit Hilfe einer sorgfältigen Analyse entnehmen lassen. Diese Beiträge bieten eine Reihe von Hinweisen und Ergebnissen, mit denen die Modi der Konstruktion von Bedeutung im Rahmen des valerischen Werkes erhellt werden können.1S Was fehlt, ist die Systematisierung der Ergebnisse auf die Breite des valerischen Werkes. Was bedeutet es für ein exemplum, in eine solche Sammlung - statt wie früher in eine Rede integriert zu werden? Welche Funktion kommt den die valerische Samm¬ lung strukturierenden Kapiteln in diesem Zusammenhang zu, und welche Folgen hat diese Untergliederung für die Analyse der Facta et dicta memorabilia‘1 Welche Rolle spielen diese Kontexte für die Funktion und das Funktionieren von exempla7 Die vorliegende Untersuchung wird diesen Fragen nachgehen. Dazu wird in einem ersten Schritt der Versuch gemacht, Funktion und Funktionieren von exempla auf der Grundlage der antiken Quellen einerseits und der bisheri¬ gen Forschungen zu dieser Thematik andererseits theoretisch genauer zu bestimmen (Kapitel 1.2). Gemeinsam mit einigen methodischen Überle¬ gungen zur Analyse der valerischen Exemplasammlung (Kapitel 1.3) bildet dies die theoretische Basis für die daran anschließende Untersuchung der sozialen Beziehungen im valerischen Werk, die zugleich die inhaltliche (die Bilder sozialer Interaktionsmechanismen) und die theoretische Ebene (ex¬ empla und Exemplasammlung) im Blick haben wird (Kapitel 2 bis 5). Vor dem Hintergrund der gerade skizzierten Fragestellung, die sich auf die römischen Sozialbeziehungen richtet, konzentriert sich die vorliegende Arbeit auf die Analyse der römischen exempla. Nicht-römische (»externe«) Beispiele werden nur dann einbezogen, wenn sie für römische Beziehungen relevante Aussagen enthalten. Ein Vergleich mit den nicht-römischen >Bil-

37 Coudry; David, Valere Maxime et l’Histoire de la Republique romaine. 38 S. hierzu etwa das Kapitel 1 (»Les procedes de construction et de mise en forme de l’image«) im Beitrag von M. Coudry (S. 131 ff.), sowie den Aufsatz von J.-M. David zur Ges¬ chichte der römischen Republik bei Valerius (Valere Maxime et l’Histoire de la Republique romaine). Beide untersuchen - ausgehend von einem Vergleich mit potentiellen Quellen - die Konstruktion exemplarischer Bilder im valerischen Werk. Dabei arbeiten sie den formgebenden Einfluss des Valerius heraus, dem es mit Hilfe unterschiedlicher Instrumenten - u.a. durch die exklusive Konzentration auf jene Elemente einer Episode, die den exemplarischen Aspekt illustrie¬ ren, sowie durch falsche Zuschreibungen von Handlungen an bestimmte Personen oder Gruppen gelingt, ein spezifisches Geschichtsbild zu konstruieren, das seine Aussagekraft jedoch erst durch den Kontext der gesamten Exemplasammlung gewinnt.

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Exempla und soziale Bedeutung

dem< wäre interessant, würde jedoch über die hier entworfene Fragestellung hinausreichen und aufgrund des umfangreichen Materials zudem den Rah¬ men der vorliegenden Arbeit überschreiten. Angesichts der in der vorliegenden Untersuchung praktizierten doppelten Herangehensweise an das valerische Werk — einerseits die Frage von Gat¬ tung und memoria betreffend, andererseits auf die >Bilder< sozialer Bezie¬ hungen und die damit einhergehende Sinnstiftung bezogen - werden die Ergebnisse der Analyse abschließend in zwei getrennten Kapiteln zusam¬ mengefasst. In einem ersten Teil wird die Zusammenführung der exemplatheoretischen Ergebnisse die grundlegenden Konstruktionsprinzipien des valerischen Werkes verdeutlichen (6.1). Abschließend wird die valeri¬ sche Darstellung der sozialen Beziehungen in den historischen Kontext der frühkaiserzeitlichen Entwicklungen eingeordnet, wobei insbesondere nach den spezifischen Formen normativer Sinnstiftung zu fragen sein wird (6.2).

1.2

Exempla

Funktionen und Funktionieren von exempla werden von römischen Autoren in unterschiedlichen Kontexten reflektiert. So existieren zum einen vielfäl¬ tige theoretische Abhandlungen, die in erster Linie auf die rhetorischen Aspekte bezogen sind und danach fragen, auf welche Weise exempla zur Wirkung einer Rede beitragen können.39 Andere Überlegungen gehen dage¬ gen stärker auf die lebensweltliche Bedeutung exemplarischer Darstellung ein. Exempla stehen zwischen Rhetorik und Lebenswelt. Als zentrale Funktionen von exempla im Rahmen einer Rede werden von antiken Autoren vor allem ornare / delectare, movere und probare /persuadere angeführt.40 Ausgewählte Beispiele sollten eine Rede schmücken, den Zuhörer emotional berühren und ihn durch ihre Überzeugungskraft für die Position des Redners einnehmen. Die Kontexte einer Rede waren in repub¬ likanischer Zeit vielfältig. Sie umfassten den politischen Raum (Senat,

39 Dies gilt insbesondere für die Schriften von Cicero, die Rhetorica ad Herennium sowie die Ausführungen von Quintilian, die im Rahmen der Erörterung von Kunstmitteln der Rede ausführ¬ lich auf die Funktion des exemplum Bezug nehmen. Für eine ausführliche Diskussion des rhetori¬ schen exemplum in der Antike ist neben den vielfach zitierten Werken von Alewell (vor allem für die römische Kaiserzeit) und Komhardt auch auf die sehr umfassende Studie von Price zu verwei¬ sen. Für die späte Republik vgl. Stemmler, Auctoritas exempli, S. 150-167 und passim sowie Walter, Memoria und res publica, bes. S. 51-70 und Bücher, Verargumentierte Geschichte. 40 S. etwa Cic. inv. 1,49; de orat. 3,204f.; part. 55 und orat. 120. Vgl. auch Quint, inst. 12,2,11 sowie 5,11,6 und Rhet. Fier. 4,62.

Exempla

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Volksversammlung) ebenso wie etwa das Gericht.41 Mit dem Beginn der Kaiserzeit wurde der politische Handlungsraum römischer Aristokraten massiv eingeschränkt. Zugleich gewann der Kontext der Rhetorenschulen als Bestandteil römischer Erziehung insgesamt sowie konkret für die Vor¬ bereitung auf das Auftreten vor Gericht — zunehmend an Bedeutung.42 In nicht-rhetorischen Schriften wird in erster Linie die Vorbild- und Erzie¬ hungsfunktion exemplarischen Erzählens hervorgehoben, die für den Sozia¬ lisationsprozess von großer Bedeutung war. Schon Quintilian erkannte, dass Römer - im Gegensatz zu den Griechen - weniger durch (theoretische) praecepta als vielmehr anhand von (praktischen) exempla lernten, und auch andere antike Ausführungen machen deutlich, welche zentrale Rolle dem Lernen durch exempla in der römischen Gesellschaft zukam.43 Exempla zeichneten sich nicht nur durch eine besondere Anschaulichkeit aus,44 son41 Vgl. Fantham, Roman public rhetoric. 42 Neuere Untersuchungen schreiben den Rhetorikschulen bzw. der römischen Deklamation insgesamt weiter reichende soziale Funktionen zu. Während Bloomer im Zusammenhang mit der Untersuchung des valerischen Werkes auf die Notwendigkeit verweist, die neuen (provinzialen) Eliten in den Kontext der römischen Gesellschaft und Tradition einzufiihren und die valerischen exempla als »vehicle of instruction, of acculturation into a new elite of Tiberian Rome« bezeichnet (Bloomer, Valerius Maximus, S. 4 und S. 259; vgl. auch ders., Roman Education und ders., Latinity and literary society, bes. S. 137ff.), rücken Beard und Gunderson den Aspekt der Selbstverge¬ wisserung der römischen Aristokraten in den Mittelpunkt. Nach Auffassung von Beard boten Deklamationen einen mytho-fiktionalen Rahmen, in dem Fragen der römischen Identität sowie zentrale gesellschaftliche Probleme stets neu debattiert und ausgehandelt werden konnten (Beard, S. 59f. und passim; zur Fiktionalität der Deklamationen s. auch Bloomer, History of Declamation, S. 211 ff.): »they offer an arena for leaming, practising and recollecting what is to be and think Roman« (Beard, S. 56; Hervorhebung im Original). Auch Gunderson ist der Auffassung, dass eine genaue Analyse der Deklamationen unter diesem Aspekt einen zentralen Beitrag zu unserem Verständnis des römischen Selbstverständnisses leisten kann (Gunderson, S. 6ff., S. 22ff. und passim; vgl. ferner Walker, S. 108f. und passim). 43 Quint, inst. 12,2,29f. Horaz (sat. l,4,105ff.) beschreibt, wie sein Vater ihn anhand von konkre¬ ten exempla zum richtigen Handeln anleitete: Insuevit pater optimus hoc me, ut fugerem exemplis vitiorum quaeque notando. cum me hortaretur, parce, frugaliter, atque viverem uti contentus eo quod mi ipseparasset, »nonne vides Albi ut male vivatfilius utque Baius inops? magnum documentum, ne patriam rem perdere quis velit.« Zum Begriff documentum s. auch oben Anm. 31. Plinius (epist.

8,14,4ff.) bittet dagegen einen Freund, ihm Auskunft über das richtige Verhalten im Senat zu geben. Er begründet seine mangelnde Kenntnis mit dem Fehlen einer traditionellen, an exempla orientierten Erziehung: Erat autem antiquitus institutum, ut a maioribus natu non auribus modi uerum etiam oculis disceremus, quae facienda mox ipsi ac per uisces quasdam tradenda minoribus haberemus. [...] inde [adulescenti U. L.] honores petituri adsistebant curiae foribus, et consilii publici spectatores ante quam consortes erant. Suus cuique parens pro magistro, aut cui parens non erat maximus quisque et uetustissimus pro parente. [...] omnem denique senatorium morem (quod fidissimum percipiendi genus) exemplis docebantur. (vgl. hierzu Val. Max 2,1,9). Zum Lernen über exempla s. auch Walter, Memoria und res publica, S. 42-51. 44 Auch Valerius argumentiert in seinen exempla wiederholt mit dem Aspekt der visuellen Wahrnehmung. So erklärt er in der praefatio zu 5,2 {De gratis), er wolle Zeichen bzw. Handlun¬ gen von Dank und Undank vor Augen stellen {oculis subicere). In 5,4,3 macht er dagegen implizit

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Exempla und soziale Bedeutung

dem sie luden auch zur imitatio ein, die sich sowohl auf konkrete Verhal¬ tensweisen (etwa das Handeln im Senat) als auch auf spezifische virtutes (wie pietas erga patriam) beziehen konnte. Denn ein Teil der exempla stellte Sinnbilder für normative Vorstellungen bereit, welche die konkrete Ebene des einzelnen Beispiels transzendierten.45 Zwar gründeten die berühmten exempla republikanischer Aristokraten in dem Bedürfnis der großen republikanischen Familien, die ruhmreichen Taten ihrer Vorfahren an die Nachwelt zu überliefern und auf diese Weise ihr eigenes Ansehen zu steigern.46 Seit dem Beginn des vierten vorchristli¬ chen Jahrhunderts setzte jedoch eine grundlegende Ausweitung ihrer Gel¬ tung ein, die in engem Zusammenhang mit der von Hölkeskamp analysier¬ ten Herausbildung der Nobilität zu sehen ist.47 Die Entwicklung einer neuen Adelsfonnation setzte zugleich die Ausbildung einer neuen diskursiven Formation voraus. Indem die exempla zunehmend auch von den adligen Standesgenossen als verbindliche Handlungsmuster akzeptiert wurden, erfuhr der Wertekodex der Nobilität eine entscheidende Stabilisiemng. Die Beispiele entwickelten sich - gleichsam »entindividualisiert« und »enthistorisiert« - zu konkreten Trägem abstrakter Werte, die eine Bezugnahme auf die neu entstehende Gemeinschaft der nobiles ermöglichten.48 Zugleich erlangten sie in diesem Zusammenhang ein hohes Maß an Verbindlichkeit, die ihre Wirksamkeit als Argument im Kontext von Reden und Diskussio¬ nen erst begründete. Als Sinnbilder der vorbildhaften virtutes und mores der maiores insgesamt wurden sie Teil eines Orientierungswissens, dessen normative Kraft sich auf die Gesamtheit der Nobilität ausweitete und ihr Selbst- und Vergangenheitsverständnis entscheidend prägte.49 Die Bezug¬

deutlich, dass >gesehene< Beispiele herausragenden Verhaltens einen stärkeren Eindruck hinterlas¬ sen, als >gehörte< (Auribus ista tarn praeclara exempla Romana civitas accepit, illa vidit oculis.). 45 S. Walter, Memoria und res publica, S. 47ff., S. 51 ff. (zum imitativen Verhalten s. ebd. S. 56); Hölkeskamp, Exempla und mos maiorum, S. 327 und passim; Stemmler, Auctoritas exempli sowie Stemmler, Institutionalisierte Geschichte. 46 S. hierzu Blösel, mos maiorum; vgl. Kornhardt, S. 13-24, bes. S. 15 sowie von Moos, S. 70. 47 Hierzu und zum Folgenden s. Hölkeskamp, Entstehung der Nobilität, sowie Blösel, Die memoria der gentes, S. 53-62, bes. S. 61 f. Vgl. Beck, Ruhm, bes. S. 86ff. 48 Hölkeskamp, Exempla und mos maiorum, S. 310-314 und S. 319, Zitate S. 314; Blösel, mos maiorum, S. 45 und Blösel, Die memoria der gentes, S. 61; s. auch Stierle, S. 359 und Haltenhoff,

Römische Werte, der in diesem Zusammenhang von der »Handlungsgebundenheit« römischer Werte spricht (ebd. S. 86-96 und S. 99-100, Zitat S. 86). Wie wichtig die Vergegenständlichung abstrakter Werte für die Römer war, macht Hölkeskamp am Beispiel des Tempelbaus deutlich. Vor allem im Laufe des 3. Jh.s v. Chr. wurden zahlreiche Tempel errichtet, die »neuen, ausschlie߬ lich >staatstragenden< Gottheiten« wie etwa Fides, Honos, Victoria oder Liberias geweiht waren. (Hölkeskamp, Exempla und mos maiorum, S. 324). 49 Walter zufolge lag die Prägekraft der exempla in ihrem Doppelcharakter begründet: »Sie waren Tiaditionsmedium geschichtlichen >Wissens< und Methode geschichtlicher Sinnbildung in

Exempla

27

nähme auf diese exempla war somit für römische Aristokraten zugleich ein Akt der sozialen Selbstverortung. Diese Überlegungen machen deutlich, dass Forschungen über exempla aus unterschiedlichen Perspektiven vorgenommen werden können. Zusammen¬ fassen lassen sich für die Zeit der römischen Republik fünf zentrale und miteinander vielfach verbundene Aspekte von exempla formulieren: -

Ausschmückung von Reden und Verwendung als Argument Versinnbildlichung von Nonnen

-

Konstitution des Geschichtsbildes, Selbstverortung der römischen Oberschicht

-

Handlungsleitung Sozialisation

Doch wie lässt sich ein exemplum definieren? Welches sind die Elemente, die ein Ereignis oder ein bestimmtes Verhalten zu einem exemplum ma¬ chen? Wie >funktioniert exemplarisches Erzählen? Ein Blick auf die Quel¬ len zeigt, dass die antiken Autoren die konstitutiven Aspekte eines Exem¬ pels auf unterschiedlichen Ebenen ansiedelten. In vielen Definitionen wird der auctor exempli bzw. seine auctoritas als entscheidender Bestandteil des Exempels genannt. Tatsächlich zogen viele exempla einen großen Teil ihres Einflusses aus der Präsenz eines berühmten auctor, und auch die maiores insgesamt verfügten über eine erhebliche auctoritas, die man durch den Rekurs auf entsprechende exempla geltend machen konnte.50 In berühmten einem.« (Walter, Memoria und res publica, S. 53; s. auch Walter, Familientradition und Familien¬ profil, S. 257f.). An anderer Stelle spricht er von »Mechanismen ritueller Selbstvergewisserung« (Walter, Memoria und res publica, S. 69); s. auch ebd. S. 66-70 sowie Hölkeskamp, Exempla und mos maiorum, S. 314; vgl. Haltenhoff, Institutionalisierte Geschichte und Bücher, Verargumentierte Geschichte, S. 318-322; s. auch Stemmler, Auctoritas exempli, der sich mit den Veränderun¬ gen der späten Republik befasst. Zur Tradierung des mos maiorum über unterschiedliche Prakti¬ kern, zu denen u.a. der Gebrauch von exempla zählte, vgl. Bettini, Die Erfindung der >Sittlichkeitöffentliche< Interesse zu wahren, wobei er den Sohn je nach Art der Verfehlung entweder bestrafen oder im Hinblick auf die Befolgung der

110 S. etwa die im Weiteren noch ausführlich zu erörternde Bemerkung publica instituta privata pietate potiora iudico im Beispiel 2,2,4 (De institutis antiquis).

46

Väter und Söhne: zwischen Norm und Realität

Regeln belehren muss. Auch der Umgang mit dem Tod von Söhnen muss mit der Verfolgung staatlicher Pflichten in Einklang gebracht werden. 3. Reflexion statt Handeln im Affekt: Sowohl bei Strafen als auch in po¬ sitiven Gesten gilt es für den Vater, affektgeleitetes Verhalten zu vermei¬ den. Dies bedeutet, dass die Bestrafung eines Sohnes nur dann als angemes¬ sen und legitim beurteilt wird, wenn durch die Einbeziehung eines Consili¬ um amicorum et propinquorum oder durch die Reflexion des väterlichen Verhaltens ein mäßigendes Element in die Handlung einbezogen wird.111 Interessant ist, dass impulsives Handeln sich selbst im Hinblick auf die Unterstützung von Söhnen als problematisch erweist und sowohl für den Vater als auch für den Sohn negative Folgen haben kann. Auch hier gilt das Postulat des reflektierten Verhaltens.112 4. Das Ideal der Konfliktvenneidung: Die eben skizzierte Notwendigkeit, konfliktuelles Handeln in gemäßigte und akzeptierte Bahnen zu lenken, deckt jedoch nur einen Teil der Handlungsoptionen ab. Als die eigentlich wünschenswerte und in den meisten Fällen auch mögliche Lösung erweist sich die Vermeidung von Konflikten durch praktizierte moderatio. Dieses Verhalten erscheint nicht nur bei kleineren Vergehen eines Sohnes als be¬ vorzugte Reaktion, sondern sogar bei einem den Vater in seiner Existenz bedrohenden Akt wie die Planung von parricidium. Hintergrund für dieses Ideal ist die Überzeugung, das Verhältnis zwischen Vätern und Söhnen sei >von Natur aus< besonders und schützenswert.113 Besonders deutlich wird dieser Aspekt in Erbschaftsfragen thematisiert. Hier liegt die Betonung auf der leiblichen Abstammung, während rechtliche Fragen wie die (Nicht-) Zugehörigkeit zur familia (etwa durch Adoption) zunächst keine Rolle spielen. Das Bild, das sich aus der Analyse der en passant erwähnten Vater-SohnBeziehungen ergibt (Kapitel 2.4), steht in vieler Hinsicht in Kontrast bzw. sogar im Widerspruch zu dem eben skizzierten. Zunächst ist auffällig, dass Konflikte hier nie erwähnt werden. Auch eine eindeutige Verteilung der Handlungskompetenzen lässt sich nicht ausmachen: Die unterschiedlichen

111 Ein wichtiger Aspekt ist in diesem Zusammenhang die reflektierte Übernahme von be¬ stimmten sozialen Rollen (s. unten Kapitel 2.3.3.2). 112 Für Söhne lässt sich eine vergleichbare Forderung nur im Bereich der Verfehlungen festmachen, und auch dort nur bedingt. Zwar entspringt ihr Konfliktpotential in vielen Fällen einer Affekthandlung, die kritisiert und bestraft wird, doch nicht immer ist Bestrafung die notwendige Folge. Es mag sein, dass man der jüngeren Generation auch im Vertrauen auf ihre Lernfähigkeit eine größeie Freiheit zubilligte bzw. angesichts ihrer Jugend mit einer gewissen Nachsicht vor¬ ging. 1 13 Zu den Vorstellungen einer »natürlichen Ordnung« (ordo naturae) bzw. eines »natürlichen Rechts« (ius naturae) bei Valerius s. unten Kapitel 2.3.4.2.

Die Inszenierung der Vater-Sohn-Beziehung

47

Arten gegenseitiger Unterstützung gehen gleichermaßen von Vätern und Söhnen aus und werden nur in Ausnahmefallen mit hierarchisch konnotierten Begriffen wie moderatio, clementia oder indulgentia bezeichnet. Beide Partner scheinen vielmehr gleichsam aut einer Ebene miteinander zu agie¬ ren. Der grundlegende Unterschied zu dem inszenierten Bild betrifft jedoch die Bedeutung, die der res publica gegenüber dem Verhältnis zwischen Vater und Sohn zugesprochen wird: Selbst bei schwerwiegenden Verstößen eines Sohnes gegen die res publica gilt die Umkehr der bisherigen Forde¬ rung: Anstelle einer Strafe besteht die angemessene Reaktion des Vaters nun darin, die Partei des Sohnes zu ergreifen und für diesen um Gnade zu bitten. Auch das ansonsten absolut dominierende Postulat der Überordnung der res publica kehrt sich gleichsam in sein Gegenteil um. Der Tod eines Sohnes ist für den Vater hier in erster Linie Grund zu tiefer Trauer, und statt - wie in den inszenierten Beispielen - scheinbar ungerührt diversen öffent¬ lichen Aufgaben nachzugehen, kann er - so Valerius - von der res publica und ihren Repräsentanten sogar Rücksichtnahme auf seinen Schmerz erwar¬ ten. Im Folgenden werden die zwei eben skizzierten Bilder anhand der kon¬ kreten exempla einer ausführlichen Analyse unterzogen. Daran anschlie¬ ßend ist zu klären, welche Folgerungen sich aus diesen Ergebnissen für Intention und Rezeption, für die spezifische Form sowie für den Quellen¬ wert des valerischen Werkes ergeben (Kapitel 2.5 und 2.6).

2.3

Die Inszenierung der Vater-Sohn-Beziehung

Die hier angesprochenen Beziehungen umfassen die beiden Ebenen, die in Kapitel 1.3 als unmittelbare und mittelbare Inszenierungen vorgestellt wor¬ den sind. Obgleich die Art der Inszenierung und damit auch der jeweilige Kapitelkontext bei der Untersuchung berücksichtigt werden müssen, ist eine gemeinsame Auswertung sinnvoll, da beide Ebenen im Hinblick auf die formale Konstruktion und das jeweils dargestellte Bild große Ähnlichkeiten aufweisen.

2.3.1

Klare Verteilung der Handlungskompetenzen

Eine erste Bestandsaufnahme aller exempla, die das Verhältnis zwischen Vätern und Söhnen inszenieren, weist einen zunächst widersprüchlichen Befund auf: Einerseits lassen sich viele potentiell konfliktträchtige Situatio-

48

Väter und Söhne: zwischen Norm und Realität

nen ausmachen, doch andererseits ist die Anzahl der tatsächlich durchge¬ führten Auseinandersetzungen relativ gering.114 Ein Grund für diesen ver¬ meintlichen Widerspruch liegt in spezifischen Handlungskompetenzen und Verhaltensmustern, die das Handeln von Vätern und Söhnen bestimmen. Sowohl für Konflikte als auch für positive Gesten besteht eine sehr eindeu¬ tige Verteilung der Handlungskompetenzen, die für das Verständnis der hier dargestellten Vater-Sohn-Beziehungen von zentraler Bedeutung ist. 2.3.1.1 Das Konfliktpotential der Söhne Träger von Konfliktpotential sind bei Valerius in erster Linie die Söhne. Von über 30 potentiell konfliktträchtigen Situationen gehen nur 6 auf ein väterliches Fehlverhalten zurück, während alle übrigen ihren Ursprung in Verfehlungen des Sohnes haben.115 Diese in ganz unterschiedlichen Kapi¬ teln thematisierten Handlungen lassen sich in drei Kategorien zusammen¬ fassen: (1) Angriffe gegen den Vater, (2) das Problem von luxuria und libido sowie (3) Verstöße gegen die Sicherheit oder die Interessen der res publica. 1. Das direkt gegen den Vater gerichtete Fehlverhalten, das in der For¬ schung - v.a. in seiner extremen Ausprägung des parricidium - große Be¬ achtung gefunden hat,116 ist im valerischen Werk sehr präsent: Neben den häufig wiederkehrenden, hier jedoch nicht näher erörterten parricidiumAnklagen gegen die Caesarmörder spielt die Planung oder Durchführung von parricidium in sechs exempla eine zentrale Rolle. Auffällig ist jedoch, dass es nur in zwei Fällen tatsächlich zur Ermordung des Vaters kommt,117 114 Die Auseinandersetzungen werden im Kapitel 5,8 unmittelbar, in einigen anderen exempla (2,7,6; 9,11,5-6; 6,1,5) dagegen mittelbar in Szene gesetzt. Vgl. hierzu das folgende Kapitel 2.3.1.1. 115 Verfehlungen von Vätern finden sich in folgenden exempla: 5,4,3 (De pietate erga parentes)', 6,1,5 {Depudicitia); 7,7,2-3 {De testamentis quae rescissa sunt); auch 8,6,1 (Qui quae in aliis vindicarant ipsi commiserunt) und 9,1,9 {De luxuria et libidine) haben väterliches Fehlverhalten

zum Thema. Kein selbstverschuldetes, sondern auf falschen Informationen beruhendes falsches Vorgehen wird in dem ebenfalls auf Testamente bezogenen Beispiel 7,7,1 thematisiert. 116 Zu dem von Yan Thomas entworfenen, sehr konfliktgeprägten Bild der Vater-SohnBeziehung s. oben Kapitel 2.1. Unter die direkt gegen den Vater gerichteten Handlungen fallen darüber hinaus die impietas des Sohnes von Q. Hortensius (5,9,2) sowie die Enterbung des Terentius durch einen seiner Söhne (s. unten Kapitel 2.3.4). 117 9,11,5-6 {Dicta improba aut facta scelerata) nehmen eine Sonderstellung ein. Sie sind in¬ nerhalb des valerischen Werks die beiden einzigen exempla, in denen ein Fehl verhalten von Söhnen weder verhindert noch bestraft wird. Bezeichnenderweise handeln sie während der Bür¬ gerkriege, deren Problematik in Bezug auf die Solidarität der engsten Nahbeziehungen bereits ausführlich erörtert worden ist (s. oben Kapitel 1.1). Beide Episoden thematisieren die Proskripti¬ on zweier Männer von Rang (C. Toranius wird als praetorius und ornatus vir bezeichnet (9,11,5), wohingegen der Rang des L. Villius Annalis nicht zuletzt aus seiner Position als patronus hervor¬ geht (9,11,6). Zunächst gelingt es ihnen, sich vor den Häschern zu verstecken, doch dann werden sie von ihren Söhnen verraten und durch Soldaten der Triumvim getötet. Obgleich die Söhne nicht

Die Inszenierung der Vater-Sohn-Beziehung

49

während die übrigen Fälle lediglich einen (nicht bestätigten) Verdacht oder die Planung eines Vatermordes thematisieren.118 In vielen Fällen ist es die im weiteren Verlaut der Arbeit noch ausführlich zu behandelnde väterliche moderatio, die eine Eskalation des Konfliktes verhindern kann.119 Eine weitere, etwas weniger spektakuläre Konfliktlage betrifft die Ver¬ pflichtung, die ein erfolgreicher und berühmter Vater für seinen Sohn be¬ deutet: Sich eines solchen ruhmreichen Vorbildes nicht als würdig zu er¬ weisen, sei es im allgemeinen Verhalten, in der Politik oder auf dem Feld, ist ein Affront nicht nur für den Vater, sondern für die ganze Familie. Auch dort, wo Valerius keine explizite Strafe für dieses Versagen erwähnt, wird deutlich, dass derart unrühmliche Söhne in Rom keine Zukunft hatten.120 2. Dem Problemkreis luxuria et libido widmet Valerius ein ganzes Kapi¬ tel (9,1). Diese Thematik wird im antiken Geschichtsdenken spätestens seit Sallust häufig im Zusammenhang mit der Vorstellung eines im Generatio¬ nenverlauf sichtbaren moralischen Niedergangs behandelt, der mit der Zerstörung Karthagos seinen Anfang genommen habe. Es erstaunt daher nicht, dass das Verhältnis zwischen Vätern und Söhnen in diesem Kapitel wie auch in anderen luxuria-exempla von einiger Bedeutung ist.121 Immer selbst Hand anlegen, gilt ihre Tat für Valerius eindeutig als parricidium. In 9,11,6 sieht der Sohn gar bei der Hinrichtung des Vaters zu: occidendum in conspectu suo obiecit und wird damit — so der Kommentar des Valerius - zum bis parricida. 118 S. 5,9,1 und 5,9,3-4 sowie 8,1, absol. 13. Selbst Thomas weist daraufhin, dass es sich häu¬ fig um einen Verdacht handelt, und dass die häufige Thematisierung dieser Angst nicht notwendig der Realität entsprechen musste (Thomas, Paura dei padri, S. 122f. und S. 137fi). 119 S. unten Kapitel 2.3.4.1 und 2.3.4.2. 120 Vgl. hierzu insbesondere die exempla 3,5,1-3 (Qui a parentibus Claris degeneraverunt), wobei das letzte dieser Beispiele eigentlich nur bedingt in diesen Kontext passt (s. unten Anm. 122). 3,5,1 dagegen, das sich mit dem - seiner domestica gloria unwürdigen - Verhalten des Sohnes von Scipio Africanus beschäftigt, macht besonders deutlich, welche Implikationen dies für die gesamte Familie hatte. Dabei ist diese Episode ein gutes Beispiel für die Pluralität der Ver¬ wendungsmöglichkeiten von exempla im valerischen Werk (s. oben Kapitel 1.2, Anm. 66): Wäh¬ rend Valerius diese Episode in 3,5,1 als Beispiel für die degeneratio des Scipio anführt, dessen Versagen er in doppelter Hinsicht - auf dem Feld sowie im Streben um ein Amt - kritisiert (er hatte sich von Antiochos gefangen nehmen lassen, statt sich besser selbst zu töten; bei den Wahlen zur Prätur gewann er lediglich durch den freiwilligen Rücktritt des Schreibers Cicereius; zudem hinderten seine propinquii ihn daran, das Amt auszuüben, damit er es nicht beflecke), nimmt er beide Episoden jeweils einzeln in ganz anderen Kontexten wieder auf, in denen das Versagen des Sohnes nur am Rande von Bedeutung ist: So lobt er in 4,5,3 die verecundia des Cicereius, der aus Rücksicht auf den Sohn des Africanus von seiner Kandidatur zurücktritt. Und in 2,10,2 hebt er den ehrenvollen Empfang hervor, den Antiochos eben diesem Sohn gewährt, bevor er ihn zu seinem Vater zurückschickt: so groß sei die maiestas des Africanus gewesen, dass sogar ein Feind nicht zögerte, ihm die gebührende Ehre zu erweisen. 121 3,5,2-4 (Qui a parentibus Claris degeneraverunt)', 7,3,10 (Vafre dicta aut facta)', 8,6,1 (Qui quae in aliis vindicarant ipsi commiserunt); 9,1,2; 9,1,5-6; 9,1,9 (De luxuria et libidine). Vgl. hierzu Guerrini, Modelli sallustiani, S. 162ff. und passim sowie Bellen, S. 324ff. Zum sallustianischen Geschichtsbild s. etwa Sali. Cat. 5,9-13,5 sowie Sali. lug. 41-42 und Sali. Hist. 1 frag.12; vgl. hierzu auch unten, Anm. 473.

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Väter und Söhne: zwischen Norm und Realität

wieder wird das von Ausschweifungen verschiedener Art geprägte Leben der auctores exempli dem vorbildhaften Verhalten ihrer Väter (und Großvä¬ ter) gegenübergestellt,122 die oft zu den Größen der römischen Republik zählen, wie beispielsweise Q. Fabius Maximus Allobrogicus (3,5,2), der Redner Q. Hortensius (3,5,4) oder die für ihre continentia berühmten Curii (9,1,6). Vielfach wird dabei weniger eine direkte Auseinandersetzung zwi¬ schen Vater und Sohn als vielmehr der Mangel an imitatio durch die Söhne thematisiert, die dem exemplum firugalitatis der Väter nicht mehr folgen.12' In diesem Zusammenhang können exempla auf eine gesamtgesellschaftliche Ebene gehoben und als Illustration des >Sittenverfalls< getadelt werden. Versuche, dieses ausschweifende Verhalten zu korrigieren sind selten,124 und nur einmal wird die Verschwendungssucht eines Sohnes (Q. Fabius Maximus) explizit bestraft.125 3. Söhne, die gegen die Regeln oder das Interesse der res publica versto¬ ßen, stellen ein besonderes, den Vater direkt involvierendes Konfliktpoten¬ tial dar. Die Einordnung der meisten dieser exempla in das Kapitel 5,8 (De severitate patrum) weist daraufhin, dass von Vätern hier eine spezifische strafende - Reaktion erwartet wurde. Des Weiteren findet sich diese The¬ matik in den Beispielen 2,7,6 (De disciplina militari) und 5,4,5 (De pietate erga parentes), sowie in abgeschwächter Form auch in 2,2,4 (De institutis antiquis) und 4,1,5 (De moderatione). Die Bandbreite der Verfehlungen reicht dabei von schlechter Provinzverwaltung (5,8,3) über Verstöße gegen die disciplina militaris (5,8,4 und 2,7,6) bis hin zum Vorwurf des Strebens nach regnum, der häufig im Zusammenhang mit der Verabschiedung von 122 3,5,3 passt insofern nicht wirklich in dieses Schema, als schon der Vater - Clodius Pülcher - mit sehr negativen Zügen gezeichnet wird. Aufgrund der Einordnung dieses exemplum in das genannte Kapitel wird es hier dennoch angeführt. 123 So bspw. in 9,1,5 und 9,1,6. Mangelnde imitatio in anderen Feldern (militärisch, politisch, im Einhalten der Sitten) wird insbesondere im Kapitel 3,5 (Qui a parentibus Claris degeneraverunt) inszeniert. Zur imitatio patris s. auch unten Kapitel 2.3.4.3, besonders Anm. 303. Zum frugalitas-BM der römischen Frühzeit vgl. auch Jacquemin, Salluste, S. 99. 124 Fast wird der Eindruck erweckt, es handele sich hier um eine gleichsam unausweichliche, geradezu schicksalhafte Entwicklung, aut die kaum Einfluss genommen werden kann. Lediglich in 7,3,10 (Vafre dicta aut facta) versucht der Vater, den Sohn durch eine List auf den rechten Weg zurück zu bringen, was von Valerius ausdrücklich gelobt wird. 125 Der praetor urbanus verbietet ihm, die bona paterna - also sein Erbe - zu übernehmen (3,5,2). Eine gerechte Strafe für ihr Tun erhalten Valerius zufolge auch Clodius Pülcher, der an seiner intemperantia stirbt (er isst zuviel Saumagen; 3,5,3) und Catilina, der mit der Strafe für seinen Angriff auf die res publica nach Darstellung des Valerius zugleich für das Flandeln seinem Sohn gegenüber bezahlt (9,1,9). In Ausnahmefallen können luxuria et libido auch von einem Vater ausgehen. Catilina, dei seinen Sohn vergiftet, um der Heirat mit einer neuen Frau den Weg zu ebnen (9,1,9), gilt dabei als malum exemplum schlechthin. Etwas komplexer ist die Sachlage in 8,6,1: C. Licinius bittet den praetor mit Erfolg darum, seinem verschwenderischen Vater die Verwaltung seiner Güter zu entziehen. Doch nachdem der Vater gestorben ist, verbraucht Licinius selbst in kürzester Zeit das gesamte Geld.

Die Inszenierung der Vater-Sohn-Beziehung

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Ackergesetzen angeführt wird (5,8,1-2 sowie 5,4,5).126 Weniger dramatisch, aber ebenfalls von großer Bedeutung sind Verstöße gegen Regeln, die Hie¬ rarchie und Verteilung von Ämtern festlegen.127 23.1.2 Indulgentia patrum und die Inszenierung väterlicher Überlegenheit Wie eingangs erwähnt, finden sich trotz des eben dargestellten Konfliktpo¬ tentials nur relativ wenige tatsächlich durchgeführte Auseinandersetzungen. Ein zentraler Grund für diesen zunächst erstaunlichen Befund liegt im Ver¬ halten der Väter. Statt - wie man erwarten könnte - in erster Linie mit Belehrung und Strafe aul Verfehlungen von Söhnen zu reagieren, greifen sie vielmehr häufig aul gemäßigte und deeskalierende Maßnahmen zurück, die das Konfliktpotential erfolgreich entschärfen. Auch sonst ist Unterstüt¬ zung von Seiten des Vaters sehr präsent, und zwei ganze Kapitel widmen sich moderatem und positivem Handeln von Vätern, während ihre Kontrollfunktion nur in einem Kapitel inszeniert wird.128 Da die Frage nach den Begründungen der väterlichen moderatio im Kapitel 2.3.4 ausführlich zu behandeln ist, sollen im Folgenden lediglich zwei allgemeinere Punkte angesprochen werden. 1. Ein zentrales Charakteristikum der hier behandelten exempla liegt in der Art des Fehlverhaltens, auf das Väter reagieren. Lediglich bei Verstö¬ ßen gegen das Interesse der res publica zeigen sie Strenge, während milde und konfliktvermeidende Reaktionen meist im Zusammenhang mit anderen Delikten nachzuweisen sind, die sich häufig direkt gegen den Vater rich¬ ten.129 2. Auffällig ist weiterhin, dass die meisten exempla sowohl durch ihre Darstellung als auch in ihrer Begrifflichkeit eine hierarchische Beziehung inszenieren. Die positiven Gesten der Väter - oft als moderate Reaktionen auf Verfehlungen der Söhne in Szene gesetzt - entspringen einer Position

126 In diesem Zusammenhang ist auch der Sohn des Senators Aulus Fulvius zu nennen, der die amicitia des Catilina gesucht und sich damit gleichsam des Verrates an der res publica schuldig

gemacht hat (5,8,5). Wie die exempla 5,4,1 und 5,4,5 deutlichen machen, stellt Valerius die Ver¬ meidung einer Eskalation interessanterweise gerade bei so grundlegenden Regelwidrigkeiten wie einem Angriff auf die res publica oder dem Einbringen eines Ackergesetzes als vom Sohn selbst ausgehend dar (s. hierzu unten Kapitel 2.3.4.3). 127 S. dazu das folgende Kapitel 2.3.1.2 sowie Kapitel 2.3.2.2. 128 Die Fälle von Bestrafung und Belehrung werden im folgenden Kapitel erörtert. Positive Gesten von Seiten des Vaters, die Konfliktpotential auffangen, finden sich in 5,7,1-2 (De parentum amore et indulgentia in liberos), in allen exempla des Kapitels 5,9 (De parentum adversus suspectus liberos moderatione) sowie in 7,3,10. Den Überschriften zufolge beziehen die genannten Kapitel sich auf Eltern und Kinder, doch die konkreten Beispiele thematisieren ausschließlich Väter und Söhne. Weitere Beispiele von Unterstützung für Söhne werden in 7,5,3, in 8,1, damn. 8, in 2,4,5 sowie in 9,12,7 erwähnt. Indirekt wird die Schutzfunktion des Vaters auch aus den Episo¬ den 2,10,2 (De maiestate) sowie 5,2,4 (De gratis) ersichtlich (s. unten Anm. 132). 129 S. dazu Anm. 133.

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Väter und Söhne: zwischen Norm und Realität

der Überlegenheit. Sie sind weder selbstverständlich noch erwartbar und somit letztlich vom guten Willen des Vaters abhängig.130 Unterstrichen wird dieser Eindruck auch durch die Begriffe, die das väterliche Verhalten cha¬ rakterisieren und - wie etwa clementia, moderatio und patientia -131 seine Überlegenheit demonstrieren.132 Besonders offensichtlich ist das hierarchi¬ sche Verhältnis im Kapitel 5,9 (De parentum adversus suspectos liberos moderatione), das wirkliche oder geplante Untaten von Söhnen zum Thema hat.133 Doch auch die anderen Beispiele machen deutlich, dass die Unerfah¬ renheit und Fehlerhaftigkeit der Söhne den eigentlichen Hintergrund für die indulgentia der Väter bilden.134 Zumindest teilweise hierarchisch angelegt 130 Dass moderatio für Valerius letztlich häufig als die einzig richtige Reaktion erscheint, ist hier zunächst zweitrangig. Wichtig ist, dass die Väter — im Gegensatz zur pietas der Söhne (s. unten Kapitel 2.3.4.3) - dieser Darstellung zufolge relativ frei über ihr Handeln entscheiden. S. hierzu auch Cotton, S. 265. Cottons Interpretation der indulgentia als »counterpart of the filial pietas« (ebd. S. 26lf.) ist jedoch aufgrund der sehr unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten beider Seiten nur mit Vorbehalt zu akzeptieren. 131 In Bezug auf väterliches Verhalten kommen, ohne die Überschriften zu berücksichtigen, folgende Begriffe vor: indulgentia dreimal (5,7 pr.; 5,7,2 und 7,3,10, dazu indirekt auch für 5,7,1); clementia zweimal (5,9, pr. und 5,9,4), dazu indirekt der Verweis auf 5,9,1-3); patientia zweimal (5,9,2 und 5,10 pr.); moderatio einmal (5,9,2); benevolentia einmal (5,7,3); adfectus zweimal (5,7 pr. und 4,1,5); amor zweimal (7,10,3 und 8,1, damn.8). Pietas (bzw. pius) erscheint nur einmal in der praefatio von 5,7 {pius et placidus adfectus). Die hierarchische Bedeutung von indulgentia ebenso wie seine Verbindung zu dem Begriff der clementia wird auch von H. Cotton hervorgeho¬ ben, die sich mit dem indulgentia-Konzept in trajanischer Zeit befasst (Cotton, S. 266, S. 246 und passim). Zu Recht weist sie jedoch daraufhin, dass indulgentia dabei nicht als terminus technicus zu verstehen ist, sondern als offenes, unterschiedliche Aspekte umfassendes Konzept (ebd. S. 259 und S. 262). 132 Umgekehrt gibt es positive Beispiele, welche die Unterlegenheit des Sohnes betonen, wie etwa 5,2,4 {De gratis), das nur im übertragenen Sinne eine Vater-Sohn-Beziehung zum Thema hat: Der magister equitum Minucius wird durch ein plebiscitum dem Diktator Fabius gleichgestellt und läuft kurz darauf Gefahr, von den Samniten besiegt zu werden. Er wird durch die Hilfe des Fabius gerettet, nennt ihn pater und heißt seine Legionen, ihn als patronus zu grüßen (vgl. hierzu auch die Ausführungen im Kapitel 5.5, bes. Anm. 724). 133 Diese sind alle direkt gegen die Person des Vaters gerichtet, wobei sie ihn in drei Fällen durch die Planung von parricidium sogar existentiell betreffen (5,9,1 sowie 5,9,3-4). Weitere Anklagepunkte sind stuprum mit der Stiefmutter (5,9,1) sowie impietas und nequitia (5,9,2). Während sich die moderatio des Vaters im ersten exemplum (5,9,1) darauf beschränkt, den Sohn nicht einfach aufgrund eines Verdachtes zu bestrafen, sondern zunächst die Schuldfrage zu klären (und den Verdacht damit auszuräumen), geht die moderate Haltung in den anderen drei Fällen darüber hinaus. Obgleich die Schuld — zumindest im Hinblick auf die Planung von Untaten — als erwiesen betrachtet wird, üben sich die Väter in moderatio, indem sie auf eine Bestrafung oder Enterbung des Sohnes verzichten bzw. den Versuch unternehmen, den Sohn wieder auf den rechten Weg zu bringen. 134 Das Moment der Milde angesichts einer Verfehlung des Sohnes zeigt sich insbesondere im Falle des Ritters Caesetius, der von Caesar aufgefordert wird, seinen Sohn zu verstoßen, weil dieser als tribunusplebis Caesar des regnum beschuldigt habe (5,7,2). Die Weigerung des Caeseti¬ us (die in der Epitome des Livius (Per. 116) übrigens nicht überliefert ist) erscheint erstaunlich, da das Vergehen des Sohnes schon beinahe der Kategorie >Verstoß gegen die Interessen der res publica< zuzuordnen und daher eigentlich streng zu ahnden wäre. Doch andererseits kann Valerius

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ist schließlich auch die schütz- und prestigevermittelnde Funktion des Va¬ ters, die Valerius in mehreren exempla inszeniert.135 Da der Ruhm des Va¬ ters sehr direkt zum (Wahl-) Erfolg eines Römers beitragen oder in Ge¬ richtsverfahren eine Entscheidung zu seinen Gunsten herbeiführen konn¬ te,1'6 erstaunt es nicht, dass es immer wieder Versuche gab, fälschlicherweise berühmte Vorfahren für sich in Anspruch zu nehmen. Diese Versuche werden - nicht nur auf den Vater bezogen - im Kapitel 9,15 {De iis qui infimo loco nati mendacio se clarissimis familiis inserere conati sunt) direkt inszeniert und darüber hinaus in verschiedenen anderen Zusammenhängen erwähnt.137 Zwar waren umgekehrt auch Söhne in der Lage, den Ruhm ihres Vaters zu steigern, doch zum einen hatte dies zu¬ meist weniger praktische Auswirkungen und zum anderen handelte es sich dabei häufig um Elandlungen, die erst nach dem Tod des Vaters vollzogen wurden (vgl. Kapitel 2.3.1.4.) 2.3.1.3 Die Kontrollfunktion des Vaters Die Vermeidung von Konflikten ist jedoch nicht in allen Fällen möglich oder wünschenswert. Sobald das Verhalten eines Sohnes das Wohl oder auch nur die Regeln der res publica angreift, ist der Vater nicht mehr als Moderator, sondern vielmehr als strenger Richter und Beschützer der über¬ kommenen Ordnung gefragt - auch gegen die Interessen des Sohnes. Die spektakulärsten und meistzitierten Illustrationen dieser politischen Funktio¬ nalität der Vaterrolle, die häufig unter dem Stichwort patria potestas disku¬ tiert wird, finden sich im Kapitel 5,8 {De severitate patrum in liberos). Die hier geschilderte extreme Machtstellung der Väter, die bis zum »Recht über Leben und Tod« (ius vitae necisque) reicht, ist Teil eines differenzierten gerade hierdurch die geradezu sprichwörtliche clementia Caesaris besonders deutlich in Szene setzen (vgl. zu diesem exemplum auch unten Kapitel 2.3.3.3). 135 Umgekehrt bestand auch die Gefahr, dass unerwünschtes väterliches Verhalten negative Folgen für den Sohn hatte, wie 9,3,5 {De ira aut odio) deutlich macht. Besonders hervorzuheben aber keineswegs immer positiv - war es, wie die Beispiele 2, 4 und 5 des Kapitels 3,4 {De humili loco natis qui clari evaserunt) illustrieren, wenn es dem Sohn eines unbekannten oder rühmlosen Vaters gelang, in der sozialen Hierarchie aufzusteigen. 136 S. etwa 4,5,3 {De verecundia) oder 9,3,2 {De ira aut odio), in dem e negativo deutlich wird, dass der Ruhm eines Vaters dem Fortkommen des Sohnes im allgemeinen dienlich sein sollte. 8,1, absol. 10 {Infames rei quibus de causis absoluti aut damnati sint) inszeniert einen Freispruch, der ausdrücklich propter vetustissimam nobilitatem et recentem memoriam patris erging, und auch in dem Scipio Africanus gewidmeten Beispiel 6,2,3 {Libere dicta aut facta) wird der Kriegsruhm seines Vaters als ein Motiv für den Einfluss des Scipio auf das Volk genannt. 137 Bis auf 9,15,2 rekurrieren alle hier angeführten exempla zumindest auch auf die Beziehung zu einem Vater, daneben werden die Mutter sowie der Großvater als Bezugspersonen genannt. Zwar gelingt es einigen Betrügern zunächst, ihr Vorhaben durchzusetzen, doch schließlich siegt in fast allen Fällen das Recht — zweimal in der Form der aequitas Caesaris, die von Valerius hier in gebührender Weise in Szene gesetzt wird. Weitere Beispiele, die sich auf den berühmt¬ berüchtigten Equitius beziehen, sind 3,8,6 {De Constantia) sowie 9,7,1-2 {De vi et seditione).

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Väter und Söhne: zwischen Norm und Realität

Systems väterlicher Kontroll- und Handlungskompetenzen, das im Laufe der vorliegenden Arbeit herausgearbeitet werden soll.138 Die Handlungs¬ spielräume eines Vaters hängen dabei zum einen von der konkreten Verfeh¬ lung des Sohnes und zum anderen von der eigenen Machtposition ab. Eine Bestrafung des Sohnes, die auch als solche von Valerius inszeniert wird, findet sich ausschließlich bei Vergehen, welche die Grundfeste der res publica in Frage stellen. Dies betrifft insbesondere das Streben nach regnum und Verstöße gegen die disciplina militaris, aber auch tadelnswerte Provinzverwaltung fällt in diese Kategorie.139 In solchen Fällen kann die Strafe tatsächlich bis hin zur Tötung des Sohnes gehen, wobei dieses durch¬ aus nicht unproblematische Vorgehen durch ein Moment der Reflexion in allen Fällen einer gewissen Kontrolle unterworfen ist.140 Nicht immer muss Fehlverhalten gegenüber der res publica jedoch so hart geahndet werden. Solange die Verstöße gegen >einfache< Regeln der res publica gerichtet sind, kann sich väterliches Eingreifen auf tadelnde Belehrung bzw. Korrek¬ tur des Sohnes beschränken wie dies etwa in 2,2,4 {De institutis antiquis) deutlich wird.141 Diese zunächst relativ überschaubare Zweiteilung der väterlichen Kontrollfunktion gewinnt vor dem Hintergrund römischer Machstrukturen an Komplexität. So stellt sich etwa die Frage, worauf ein Vater sein Vorgehen gegenüber einem Sohn stützen kann, wenn dieser sein Handeln auf die eigentlich unangreifbare potestas des Amtsträgers gründet oder wenn der Sohn der väterlichen potestas gar nicht mehr untersteht.142 Die konkrete Form, die das kontrollierende Vorgehen der Väter jeweils annimmt, wird in den Kapiteln 2.3.2.1 sowie 2.3.2.2 einer eingehenden Untersuchung unter¬ zogen. Dabei wird deutlich werden, dass in einigen Fällen sogar die Kolla¬ boration der Söhne - gleichsam gegen ihr eigenes Interesse - notwendig ist, um die Forderung nach Überordnung der res publica auch in Grenzfällen 138 Vgl. Kapitel 2.3.2. Dabei ist hervorzuheben, dass das Kapitel 5,8 keine externen exempla aufweist. Dieser Umstand lässt vermuten, dass Valerius die hier illustrierte Strenge und ihre weit reichenden, in der patria potestas begründeten Handlungsmöglichkeiten als spezifisch römisch betrachtet (vgl. hierzu auch Gai. inst. 1,55 sowie Dion. Hai. ant. 2,26,1 ff.). 139 Zu regnum s. 5,8,1-2 sowie 5,4,5; zu disciplina militaris vgl. 2,7,6 und 5,8,4. Schlechte Provinzverwaltung ist Thema des Beispiels 5,8,3. Die einzige vom Vater ausgehende Bestrafung eines Sohnes, die keines dieser Delikte betrifft, findet sich in 6,1,5 (De pudicitid) und ist proble¬ matisch (s. unten Anm. 146 und 175). 140 S. unten Kapitel 2.3.3. 141 In dem später noch ausführlich behandelten exemplum 2,2,4 wird der Konsul Q. Fabius Maximus von seinem Vater zurechtgewiesen, weil er die Beziehung zu seinem Vater über die Ehrenrechte des Konsuls gestellt hatte. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass einige Beispiele, die eigentlich von einer >Korrekturöffentlich< bezeichnen kann: Der Sohn kommt seinem Vater im Krieg zur Hilfe, bekämpft gerichtliche Ankläger des Vaters oder setzt sich für dessen Heimkehr aus dem Exil ein.144 Des Weiteren ist von Bedeutung, dass oft weniger der Sohn, als vielmehr die personifizierte Pietas als auctor exempli zu agieren scheint. Natürlich handelt es sich dabei auch um ein rhetorisches Vorgehen mit dem Ziel, die Bildlichkeit der Erzählung zu steigern. Dennoch wirft diese Art der Darstellung zugleich ein interessantes Licht auf die Handlungsmöglichkeiten der Söhne. Indem ihr Verhalten gleichsam durch die personifizierte Pietas selbst gesteuert wird, erscheint es letztlich als eine erwartbare Handlung. Das Moment der Entscheidung und des reflektierten Vorgehens, das als zentrales Charakteristikum des väterli¬ chen Vorgehens ausgemacht worden ist, fehlt in den meisten Beispielen. Damit werden Söhne trotz ihrer bewundernswürdigen Taten letztlich nicht als ebenbürtige Gegenspieler ihrer Väter dargestellt: Die Positionen sind auch hier klar verteilt. Wie die Untersuchung der Verteilung der Handlungsmöglichkeiten deutlich gemacht hat, sehen sich die Akteure der valerischen exempla mit bestimm-

143 Zu nennen sind hier etwa 7,4,2 (Strategemata), 8,1, absol. 3 (Infames rei quibus de causis absoluti aut damnati sint) sowie 2,1,9 (De institutis antiquis). 2,4,7 (De institutis antiquis) sowie

7,1,1 (De felicitate) inszenieren Ehrerweisungen, die nach dem Tod des Vaters vollzogen werden. 144 Hilfe im Krieg wird in 5,4,2, Unterstützung vor Gericht in 5,4,3 sowie 5,4,4 in Szene ge¬ setzt (alle drei aus dem Kapitel De pietate erga parentes). 5,2,7 (De gratis) thematisiert den Einsatz eines Sohnes für die Heimkehr des Vaters. Die nicht mit dem Begriff der pietas bezeichn¬ te Kollaboration zwischen Sextus Tarquinius und seinem Vater bei der Eroberung von Gabii (7,4,2; Strategemata) lässt sich als >halböffentliche< Handlung bezeichnen.

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Väter und Söhne: zwischen Norm und Realität

ten Handlungserwartungen konfrontiert, die ihr Verhalten in hohem Maße prägen. Auf welchen Prinzipien diese Erwartungshaltung basiert und wel¬ che Folgen sie für das Verhalten von Vätern und Söhnen haben, soll in den folgenden Ausführungen herausgearbeitet werden. An erster Stelle steht das Postulat der Überordnung des >öffentlichen< Wohles über eventuelle kon¬ kurrierende Interessen.

2.3.2

Die Überordnung der res publica

Die Forderung nach absoluter Überordnung der Interessen der res publica über alle übrigen Belange richtet sich im valerischen Werk in erster Linie an Väter. Sie betrifft zum einen die bereits erwähnte Kontrollfunktion des Vaters, der bei Verstößen eines Sohnes gegen die res publica jedwede posi¬ tive und affektive Beziehung zu seinem Sohn zugunsten des >öffentlichen< Interesses zurückstellen und diesen korrigieren bzw. bestrafen muss.145 Die konkrete Form des väterlichen Vorgehens hängt dabei sowohl von der Art der Verfehlung als auch von den Handlungsoptionen des Vaters ab.146 Ein zweiter Bereich, in dem diese Überordnung - sogar in einem eigenen Kapi¬ tel - besonders eindrücklich in Szene gesetzt wird, ist das Verhalten, das Väter beim Tod eines Sohnes an den Tag legen.147 Auch hier gilt es, die persönliche Beziehung, d.h. die väterliche Trauer, den öffentlichen Pflich¬ ten unterzuordnen.

145 Ein exemplum scheint gegen diese Forderung absoluter Überordnung der res publica zu widersprechen — zumindest wenn man Caesar als den Vorläufer der kaiserzeitlichen principes betrachtet. In 5,7,2 (De parentum amore et indulgentia) wird ein römischer Ritter von Caesar aufgefordert, seinen Sohn zu verstoßen (abdicare), da dieser Caesar durch den Vorwurf des regnum kompromittiert habe. Der Vater weigert sich, und aufgrund seiner clementia verzichtet Caesar auf eine Bestrafung. Als zentral für das Verständnis dieses Beispiels erweisen sich hier zum einen der Kontext des Kapitels (Thema ist väterliche indulgentia, die konkreten Umstände sind nur von sekundärem Interesse) und zum anderen die Person Caesars: Die sprichwörtlich gewordene clementia Caesaris war ein wichtiges Element in Caesars Panegyrik, und sie wird von Valerius auch in anderen Zusammenhängen gepriesen (s. etwa 5,1,10 und 6,2,11) - doch braucht sie immer ein Fehlverhalten anderer, um in Aktion treten zu können. Dass diese Episode in Liv. Per. 116 thematisiert wird, ohne das väterliche Eingreifen zu erwähnen, ist nur bedingt aussage¬ kräftig, denn es ist durchaus denkbar, dass die Rolle des Vaters im livianischen Werk selbst Erwähnung gefunden hatte. 146 Zur Frage der Handlungsoptionen des Vaters s. oben Kapitel 2.3.1.3 sowie die Ausführun¬ gen in Kapitel 2.3.2.2. Signifikant ist in diesem Zusammenhang, dass das einzige Beispiel, das die Bestrafung eines Sohnes inszeniert, ohne dass eine Verfehlung gegen die res publica vorlag, mit einer freiwilligen Selbstbestrafung des Vaters endet (6,1,5 Depudicitia). 147 Es handelt sich um die Rubrik 5,10 (De parentibus, qui obitum liberorum forti animo tuletunt), die im Kapitel 2.3.2.3 behandelt wird. Der Titel ist hier insofern nicht ganz zutreffend, als

alle exempla die Haltung eines Vaters beim Tod eines oder mehrerer Söhne zum Thema haben.'

Die Inszenierung der Vater-Sohn-Beziehung

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2.3.2.1 Der Angriff auf die Fundamente der res publica und das ius vitae necisque Eine der schlimmsten Verfehlungen, derer ein Römer sich schuldig machen konnte, war ein Angriff auf die Fundamente der res publica, zu denen in der Zeit der Republik insbesondere die aristokratische Regierungsform sowie die militärische Disziplin zählten.I4!< In den Facta et dicta memorabilia finden sich mehrere exempla, die ein solches Verhalten - von Söhnen aus¬ gehend - thematisieren und den Vätern dabei die Pflicht der Bestrafung zuschreiben. Die Strafen werden vor allem im Kapitel 5,8, aber auch in 2,7,6 in Szene gesetzt149 und zeigen die extreme Machtstellung der Väter, die bis zum Recht über Leben und Tod reicht. Dieses auch unter dem Stichwort ius vitae necisque bekannte Konzept ist in der Forschung umstrit¬ ten, wobei in erster Linie diskutiert wird, aus welcher Machtbefugnis heraus ein Vater seinen Sohn töten konnte (aufgrund der hausväterlichen patria potestas! doch eher als Inhaber eines magistratischen Amtes?) und welcher Realitätsbezug dem Konzept des ius vitae necisque zuzusprechen ist.150 Für letzteres sei auf die abschließenden Kapitel 2.5.2 sowie 2.5.3 verwiesen, in denen diese Frage für die Gesamtheit der inszenierten Interaktionen behan¬ delt wird. Zur Frage der Machtbefugnis lässt sich folgendes festhalten: F Valerius führt zwei exempla von Sohnestötung an, in denen die Väter ein Amt innehaben und die Bestrafung auch explizit als Amtsträger - und somit nicht aufgrund des ius vitae necisque - durchführen: 2,7,6 und 5,8,1. Im Falle von 2,7,6 (De disciplina militari) ist dies insofern einsichtig, als das exemplum Teil eines Kapitels ist, das die Durchsetzung der disciplina militaris gegenüber verschiedenen privilegierten Beziehungen inszeniert.151

148 Zur Bedeutung, die Valerius der disciplina militaris zuschreibt, s. die praefatio zum Kapi¬ tel 2,7 (De disciplina militari)', vgl. auch Weileder, S. 209ff., S. 217ff. und passim sowie Leh¬ mann, S. 22. Der Vorwurf des Strebens nach regnum, meist in Verbindung mit dem Einbringen von Ackergesetzen, hatte spätestens seit den Gracchen eine hohe politische Brisanz. S. dazu auch das folgende Kapitel 2.3.2.2. 149 In den Beispielen 1, 2 und 5 des Kapitels 5,8 lässt ein Vater seinen Sohn töten, weil er sich des Strebens nach regnum schuldig gemacht bzw. weil er sich Catilina angeschlossen hatte. Auch in 2,7,6 lassen zwei Väter ihre Söhne hinrichten, die gegen die disciplina militaris verstoßen haben. In 5,8,3 und 5,8,4 beschränkt sich die väterliche Strafe auf ein >Verstoßen< des Sohnes (s. dazu die Ausführungen zur abdicatio im Kapitel 2.3.2.2), das jedoch in beiden Fällen den Selbst¬ mord der Söhne zur Folge hat. 150 Zu ius vitae necisque und patria potestas s. Kapitel 2.1. 151 Es befindet sich an prominenter Stelle im Kapitel über disciplina militaris, deren Bedeu¬ tung von Valerius in der praefatio hervorgehoben wird: die disciplina militaris sei zugleich praecipuum decus und stabilimentum des Römischen Reiches sowie Beschützerin des momentanen pacis Status. Die Darstellung spitzt sich im Verlaufe des Kapitels immer weiter zu, da die militäri¬ sche Strenge gegenüber stetig enger werdenden familiären Beziehungen durchgesetzt wird. Die Linie zieht sich vom Schwiegervater über Blutsverwandte und Brüder bis hin zu Söhnen (2,7,6) und - als zweiter Höhepunkt - zur Durchsetzung militärischer Strenge gegen einen Konsul (2,7,8).

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Väter und Söhne: zwischen Norm und Realität

Es handelt sich in allen Fällen um Amtsträger, die qua Amt handeln und die Überordnung der res publica demonstrieren. Das exemplum von Postumius Tubertus und Torquatus fügt sich nahtlos in diese Reihe ein und bildet zugleich einen Höhepunkt, und zwar sowohl im Hinblick auf die Besonder¬ heit der hier inszenierten Beziehung als auch durch die Art der Beschrei¬ bung. In zwei emphatischen Apostrophen erinnert Valerius an die bekann¬ ten Ereignisse. Die Söhne von Manlius Torquatus und Postumius Tubertus - Verkörperungen altrömischer virtus - waren ohne einen Befehl ihrer Väter (diese waren respektive Konsul und Diktator) gegen den Feind gezo¬ gen und hatten gesiegt. Daraufhin ließen beide Väter ihre Söhne töten, denn ein solcher Verstoß gegen die militärische Ordnung bedeutete in der Früh¬ zeit der Republik eine existentielle Gefährdung der res publica. Valerius evoziert zahlreiche gefühlsmäßige Bindungen zu den Söhnen, deren unge¬ achtet die Väter - bellicarum rerum severissimi custodes — ihrer Pflicht als militärische Befehlshaber nachgekommen waren. Valerius kommentiert, Torquatus habe seinen Sohn in modum hostiae getötet. Er betrachtet es gleichsam als ein Opfer zum Wohle der res publica. Denn, so Valerius: satius esse iudicans patrem forti ßlio quam patriam militari disciplina carere.152 Im Beispiel 5,8,1 {De severitate patrum in liberos), würde man aufgrund der Kapitelzugehörigkeit erwarten, dass es um die Inszenierung der väterli¬ chen Strenge - mithin um das ius vitae necisque - geht, doch eine genaue Analyse widerlegt diese Annahme. F. Brutus, Träger des summum imperium, lässt seine Söhne hinrichten, weil sie die Monarchie der Tarquinier wieder einführen wollten. Sein Amt alleine ist kein entscheidender Beleg dafür, dass Brutus hier nicht auf der Basis des hausväterlichen Rechts über Feben und Tod handelt, auch wenn diese Argumentation in der Forschung zuweilen zu finden ist.153 Entscheidend für die Bewertung seines Vorgehens ist vielmehr, dass es explizit als magistratisches Handeln beschrieben wird: exuit patrem, ut consulem ageret, orbusque vivere quam publicae vindictae deesse maluit. Diese begriffliche Präzisierung macht deutlich, dass Brutus

Zur Struktui dieses Kapitels s. auch Honstetter, S. 55-63; zur Bedeutung der militärischen Aspekte im Werk des Valerius s. Weileder, S. 217ff. und passim. 152 Hiei wird deutlich, dass die Nahbeziehung zwischen Vater und Sohn notwendige Voraus¬ setzung für die Konstruktion des exemplum ist: Erst durch diese extreme Verdichtung zeigt sich die ganze Bedeutung, die der disciplina militaris zukam. Berichtet wird diese Episode von Valeri¬ us auch im Beispiel 6,9,1 (De mutatione morum aut fortunae). 153 Harris, S. 82ff. zufolge geht es hier nicht um das väterliche Tötungsrecht, sondern um die Anwendung des imperium, denn seiner Ansicht nach liegt in allen Fällen, in denen der Vater ein Amt innehat, kein Fall von ius vitae necisque vor. Sachers, Sp. 1086, möchte hier ein Beispiel für die Anwendung des ius vitae necisque sehen, während sich nach Auffassung von Thomas, Vitae necisque potestas, S. 514f., zumindest eine Vermischung von patria potestas und imperium feststellen lässt.

Die Inszenierung der Vater-Sohn-Beziehung

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aus Sicht des Valerius als Inhaber des konsularischen imperium handelt, wobei durch die Einordnung in die Rubrik väterlicher Strenge zugleich der Verweis auf die politische Funktionalität der Vaterrolle bestehen bleibt.154 2. Dass ein Amt der valerischen Darstellung zufolge jedoch keine not¬ wendige Voraussetzung für das Tötungsrecht darstellt, zeigen zwei weitere Beispiele des Kapitels über strenge Väter. Cassius (5,8,2) lässt seinen Sohn hinrichten, weil dieser das regnum angestrebt habe. Der Senator Aulus Fulvius führt seinem Sohn dem gleichen Schicksal zu, weil dieser sich Catilina angeschlossen hatte (5,8,5). Keiner der beiden Väter hat ein Amt inne - sie agieren vielmehr explizit >als< Väter. So ruft beispielsweise Cas¬ sius ein consilium necessariorum zusammen und erlässt das Urteil domi. Obgleich die patria potestas nicht thematisiert wird, ist davon auszugehen, dass die hausväterliche Gewalt bzw. das ius vitae necisque in diesen Fällen die Grundlage ihres Flandelns bilden. Die eingangs beschriebene Funktiona¬ lität der väterlichen Kontrolle im politischen Bereich wird durch diese Beo¬ bachtung bestätigt. Hervorzuheben ist im Falle des Cassius (5,8,2), dass er abwartet, bis der Sohn sein Amt (er ist Volkstribun, also sakrosankt) nie¬ dergelegt hat - die väterliche potestas ordnet sich hier selbst in der Krise der Amtsgewalt unter, ohne damit jedoch völlig auf ihre Kontrollfunktion zu verzichten.155 Diese Überlegung führt jedoch bereits zu einem weiteren Problem, das im folgenden Abschnitt behandelt werden soll: die Frage nach den Grenzen der väterlichen Handlungsoptionen.

154 Brutus erscheint gleichsam als Träger zweier unvereinbarer > Rollern, die er kontextabhän¬ gig aktiviert. (Zur Frage rollenbezogenen Handelns s. unten Kapitel 23.3.2.) 155 Auch in der Version des Livius (2,41) wird erwähnt, dass die Amtsniederlegung seiner Verurteilung vorausging, wobei Cassius dort nicht Tribun, sondern Konsul ist. Hinsichtlich des genauen Ablaufs bietet Livius zwei Varianten, von denen die erste der eben besprochenen valeri¬ schen Version ähnelt, während die zweite und von Livius als die plausiblere beurteilte Variante sich zu großen Teilen in einem anderen valerischen exemplum (6,3,1b) wiederfmdet, in dem Cassius nicht von seinem Vater, sondern von Senat und Volk verurteilt wird. Maslakov, S. 478ff. zufolge handelt es sich dabei um eine frühere (iudicium domesticum) und eine spätere (iudicium populi) Version (vgl. hierzu Chassignet, S. 91 f.). Indem Valerius die Ausübung väterlicher Macht zur Bewältigung einer politischen Krise in das Zentrum stellte, habe er sich im Falle von 5,8,2 für die Variante entschieden, die von den meisten anderen Autoren vermieden worden sei (s. hierzu auch Panitschek, S. 236f.). Das Beispiel 6,3,1b ziele dagegen auf die Betonung einer einstimmi¬ gen, von Volk und Senat vorgenommenen Verurteilung (Maslakov, S. 482). Die Entscheidung des Valerius, beide Versionen dieser Erzählung aufzunehmen und sie in zwei getrennte und auch in ihrer Aussageintention verschiedene Kapitel einzuordnen, weist darauf hin, dass es sich hier tatsächlich um bewusst konstruierte Bilder handelt. Zudem zeigt sich, dass Valerius eine Episode unter verschiedenen exemplarischen Gesichtspunkten betrachten kann (s. hierzu oben Kapitel 1.2, bes. Anm. 66).

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2.3.2.2 Potestas? pietas? auctoritas? Die Grenzen der väterlichen Kontrollmöglichkeit Die zentrale Frage des vorangehenden Kapitels galt der Machtgrundlage, von der aus ein Vater seine strafende Funktion ausüben konnte, wobei zu¬ nächst die Unterscheidung zwischen einem Flandeln auf der Basis von patria potestas einerseits und durch magistratische Gewalt andererseits vorgenommen wurde. Die Geltung der väterlichen potestas wurde als selbstverständlich angenommen. Es gab indes auch Konstellationen, in denen die Gültigkeit der hausväterlichen Gewalt strittig war: Dies galt ins¬ besondere für die Fälle, in denen sich ihr eine magistratische potestas des Sohnes entgegenstellte und somit die Frage nach einer Hierarchie der bei¬ den Gewalten aufgeworfen wurde. Kaum weniger problematisch war es, wenn der zu strafende Sohn der väterlichen potestas nicht mehr unterwor¬ fen war. Wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, hatten Väter dennoch in beiden Fällen gewisse Handlungsoptionen, die ein kontrollie¬ rendes und gegebenenfalls strafendes Eingreifen ermöglichen. Sie basierten jedoch der valerischen Darstellung zufolge nicht direkt und ausschließlich auf der patria potestas, sondern zeigten vielmehr auch deren Grenzen auf. Auf den ersten Blick weist das Beispiel 5,4,5 {De pietate erga parentes) eine große Ähnlichkeit mit dem bereits besprochenen Exempel des Cassius (5,8,2) auf. Es schildert die Episode des Volkstribunen C. Flaminius, der gegen den Widerstand des Senats ein Ackergesetz einbringt, trotz der Dro¬ hung militärischen Eingreifens bei seinem Vorhaben bleibt und schließlich von seinem Vater von den rostra geholt wird. Bei genauerem Hinsehen werden zwei zentrale Unterschiede zum Cassius-exemplum deutlich. Zum einen die Einordnung dieses Falles in das p/etas-Kapitel und zum anderen der Umstand, dass der Vater noch während der Amtsausübung des Sohnes eingreift, während Cassius die Amtsniederlegung abgewartet hatte. Rein rechtlich gesehen erscheint das Vorgehen des Flaminius als Verstoß gegen elementare Normen der res publica: die sacrosanctitas des Volkstribunen wird offenbar nicht respektiert. Im Bewusstsein um diese Problematik ist in der Forschung verschiedent¬ lich der Versuch gemacht worden, das väterliche Vorgehen mit außeror¬ dentlichen Handlungsmöglichkeiten der patria potestas zu erklären, die bei einer Bedrohung für die res publica in Kraft getreten seien.156 Eine überzeu156 Thomas, Vitae necisque potestas, S. 528, zufolge ist die patria potestas ohnehin eben da¬ durch ausgezeichnet, dass sie sogar der Amtsmacht übergeordnet ist. Bei Valerius findet sich jedoch - außer dem hier behandelten Streitfall - kein einziges exemplum, das eine solche Situation darstellt. Botteri, S. 52ff., argumentiert ähnlich wie Thomas: Zwar geht sie auf die sacrosanctitas und die Überordnung des Tribunen ein, doch dann setzt sie gerade für den hier genannten Fall eine Ausnahme, die sie, ohne zu erklären, warum und in welcher Situation bestimmte Entscheidungen

Die Inszenierung der Vater-Sohn-Beziehung

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gende Deutung bieten diese Ansätze nicht, zumal die bei Cicero überlieferte Version dieser Episode zeigt, dass im vorliegenden Falle ein klarer Konflikt vorlag.1 * * * S. *'7 Auch wird das hier inszenierte Spannungsverhältnis zwischen >privater< und >öffentlicher< potestas nicht nur im valerischen Werk, son¬ dern in der römischen Normendiskussion insgesamt stets von neuem erör¬ tert und durchgespielt. Aufgrund der Quellenlage lassen sich die genauen Umstände dieser Epi¬ sode nicht mehr eindeutig rekonstruieren. Anders als in den bisher dominie¬ renden Ansätzen, die in erster Linie auf die Rekonstruktion des tatsächli¬ chem Geschehens ausgerichtet waren, wird im Folgenden der Versuch gemacht, die valerische Interpretation dieses Ereignisses zu erklären. Dabei soll die valerische Darstellung dieser Episode vor ihrem zeitgenössischen Hintergrund und in ihrem literarischen Kontext gedeutet werden. Ein be¬ sonderes Augenmerk wird in diesem Zusammenhang auf zwei spezifische Darstellungselemente gerichtet, die in der bisherigen Forschungsdiskussion kaum Beachtung gefunden haben. Es handelt sich zum einen um die Ent¬ scheidung des Valerius, dieses exemplum unter die Beispiele von pietas erga parentes einzureihen und nicht etwa - was naheliegend wäre - in das Kapitel 5,8 über väterliche Strenge. Das zweite Element betrifft den Ein¬ gangssatz dieses Beispiels — Apud C. quoque Flaminium auctoritas patria aeque potens fiuit - dem für das Verständnis der valerischen Darstellung eine nicht unerhebliche Bedeutung zukommt. Zunächst jedoch zu dem Geschehen selbst. Die in diesem exemplum geschilderte Situation ist an Dramatik kaum zu übertreffen: Dass ein Volkstribun ein Ackergesetz einbringt, ist an sich fallen, sehr allgemein begründet: »In conclusione, se l’iniziativa di intervenire in qualche misura nella cosa publica, senza l’autorita competente e conferita in forma ufficiale, pone fuori legge il semplice cittadino, e vero invece che una sorta di santa sanzione lo colloca al di sopra del diritto positivo, quando questa iniziativa e volta ad assicurare l’ordine e la pace della communitä.« (ebd. S. 54). Dass die Situation so einfach nicht ist, zeigen das bereits besprochene exemplum 5,8,2 (s. Kapitel 2.3.2.1) sowie Cic. inv. 2,52 (vgl. dazu die folgenden Ausführungen im Text). Auch Wlosok, Vater und Vatervorstellungen, S. 20, bietet keine überzeugende Erklärung für dieses Vorgehen bzw. für den spezifischen Ort dieses Exempels im /»'etas-Kapitel: Er stellt zunächst fest, dass »gegenüber dem Sohn im Amt die patria potestas in der Öffentlichkeit vorübergehend außer Kraft« trat und verweist auf das später zu untersuchende exemplum 2,2,4 (s. Kapitel 2.3.2.3). Mit Blick auf das vorliegende Beispiel des Flaminius fahrt er jedoch fort: »Im Hause blieb der Vater unbestrittener Herr. Zuweilen schien sich sogar das >private imperium< auch in der Öffentlichkeit als stärker erwiesen zu haben. Jedenfalls kennt die römische Überlieferung den Fall, dass ein Volkstribun während einer Amtshandlung [...] von seinem Vater, der das Gesetz missbilligte, gebieterisch zum Schweigen gebracht wurde und gegen diesen Übergriff weder der Sohn noch das Volk aufbegehrten.« 157 Cic. inv. 2,52. Bei Cicero gründet das väterliche Vorgehen auf der patria potestas. Im Zentrum steht daher nicht die pietas des Sohnes, sondern die Frage der Legitimität des väterlichen Vorgehens und damit das Verhältnis zwischen hausväterlicher Gewalt und durch das Amt begrün¬ deter potestas. Zur valerischen Umdeutung dieser brisanten Thematik s. unten Kapitel 2.3.4.3.

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schon ein problematischer Vorgang, der bei den Zeitgenossen des Valerius sogleich die Erinnerung an die (im valerischen Werk sehr präsenten) Gracchen hervorgerufen haben dürfte. Weiter verschärft wird die Situation da¬ durch, dass Flaminius nicht nur gegen den Willen des Senates handelt, sondern sich selbst durch die Androhung militärischer Gewalt nicht von seinem Vorhaben abbringen lässt. Nun greift sein Vater ein, auf den ersten Blick ein dem Cassius in 5,8,2 vergleichbares Vorgehen. Doch während das Eingreifen des Cassius auf seiner patria potestas gründete, die erst nach der Amtsniederlegung des Sohnes geltend gemacht wurde und werden konnte, stützt der Vater des Flaminius sein Vorgehen der valerischen Darstellung zufolge - und anders als bei Cicero - auf seine auctoritas patria. Sein Vor¬ gehen wird mit einer erstaunlichen Begrifflichkeit beschrieben. postquam pro rostris ei legem iam referenti pater manum iniecit, privato fractus imperio descendit e rostris, ne minimo quidem murmure destitutae contionis reprehensus. Die manus iniectio entstammt dem rechtlichen Bereich,158 der Ausdruck privato imperio stellt hingegen ein sonst nicht gebräuchliches Oxymoron dar: imperium bezeichnet die Amtsgewalt eines höheren Beamten mit mili¬ tärischer Kommandobefugnis, d.h. eine >öffentliche< - und gerade nicht >private< - Macht. Thomas interpretiert diese Terminologie als späte Um¬ deutung eines Falles von patria potestas. Im ersten vorchristlichen Jahr¬ hundert sei im Rahmen der populären Richtung der Versuch gemacht wor¬ den, eine Opposition zwischen potestas publica (des Volkes) und potestas privata (der Hausväter) zu konstruieren. Die Begrifflichkeit bei Valerius sei als ein Versuch zu verstehen, eine Fösung für diesen Widerspruch zu fin158 Die manus iniectio war ein förmlicher Akt der Beschlagnahmung, mit dem man den Zugriff auf eine hausfremde Person beanspruchte, die den eigenen Hausverband verletzt hatte. Sie bedurfte der Bestätigung durch die addictio des Prätors, die nur dann erteilt wurde, wenn das Zugriffsrecht unbestreitbar war (Kaser, § 7,1,2 und § 40,11,1). Nach Kasers Darstellung ist die manus iniectio zudem in einem anderen Kontext anwendbar: Wer eine Familiengewalt an einem Menschen beanspruche, könne mit dieser Geste »außergerichtlich an ihn greifen, um ihn mit sich zu fuhren.« Gewaltsamer Widerstand sei unrechtmäßig, (ebd. § 14 (13), III). Die Quellen, auf die Kaser seine Argumentation stützt, sind Quint, inst. 7,7,9 und das hier behandelte Beispiel des Valerius. Quintilian erwähnt im Zusammenhang mit widersprüchlichen Gesetzen folgende Situati¬ on: Si dubium, aut alteri aut invicem utrique de iure fit controversia, ut in re tali: »patri infilium, patrono in libertum manus iniectio sit, liberti heredem sequantur: liberti filium quidam fecit heredem: invicem petitur manus iniectio«: et pater et patronus negat ius patris illifuisse, quia ipsa in manu patroni fuerit. Kasers Interpretation ist vor

diesem Hintergrund zwar grundsätzlich denkbar, doch da diese Stelle keine weiteren Informatio¬ nen über den Kontext gibt (es ist nicht klar, wann und warum ein Vater dieses Recht haben soll), hegt die Gefahr eines Zirkelschlusses auf der Hand: Man interpretiert ein exemplum mit Hilfe einer >Regel