Ewiges Leben: Ende oder Umbau einer Erlösungsreligion? 9783161553707, 9783161563713, 3161553705

Für die christliche Idee von Erlösung zentral ist der Begriff eines 'ewigen Lebens'. Als Übergang von einem de

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German Pages 348 [349] Year 2018

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Table of contents :
Ewiges Leben. Umbauten der Idee von Erlösung
Inhaltsverzeichnis
Günter Thomas und Markus Höfner: Ende oder Umbau einer Erlösungsreligion? Eine Problemexposition
I. Historische Perspektiven und Analysen: Erlösung und ‚ewiges Leben‘ in der christlichen Tradition
Jan-Dirk Döhling: Gottes Fülle in menschlicher Lebensnot Alttestamentliche Wahrnehmungen zwischen Erfahrung, Zuschreibung und Konstruktion am Beispiel der Wurzel ????
Friedrich Avemarie: Erlösungshoffnung und Lebensgestaltung im Neuen Testament
Katharina Greschat: „Teilweise auferstehen wäre eine Strafe, keine Erlösung“ Tertullians Verteidigung der fleischlichen Auferstehung und des göttlichen Gerichts als Beginn des ewigen Lebens
Rochus Leonhardt: Vollkommenheit und Vollendung Theologiegeschichtliche Anmerkungen zum Verständnis des Christentums als Erlösungsreligion
II. Gegenwärtige Zugänge: Systematische und religionsphilosophische Perspektiven auf Umbau oder Ende der Erlösung
Günter Thomas: Vom ewigen Leben zur Lebensbewältigung. Umbauten der Tauftheologie
Gregor Etzelmüller: Vom eschatologischen Dualismus zur Hoffnung auf eine Allerlösung Ein neuzeitlicher Umbau in der Eschatologie des Christentums
William Schweiker: Redemption and Basic Goods
Michael S. Hogue: The American Redeemer Symbolic
Willem B. Drees: Finite Lives: Science and the view sub specie aeternitatis
Markus Höfner: Ist ‚ewiges Leben‘ inhuman? Philosophische Augustin-Lektüren bei Martin Heidegger und Paul Ricoeur
III. Resonanzräume: Religion – Diakonie – Literatur – Biomedizin
Alexander-Kenneth Nagel: Redemption Now! Moderne Heilsversprechen zwischen Prosperity Gospel und Endzeit-Buße
Peter Zimmerling: Pfingstlich-charismatisches Christentum: Gott allein im Hier und Jetzt – Verlust von Vergangenheit und Zukunft?
Lisa Wevelsiep: Entwicklungspolitische Arbeit als religiöser Weg? Buddhistische Entwicklungszusammenarbeit zwischen materieller und religiöser Transformation
Johannes Eurich: Professionalisierung statt ‚ewiges Leben‘? Diakonische Zielvorstellungen der Gegenwart
William Franke: Unsayability and the Promise of Salvation An Apophatics of the World to Come
Hans-Jörg Ehni: Die medizinische Manipulation des Alterns und ethische Endlichkeitsargumente
Autorinnen und Autoren
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Ewiges Leben: Ende oder Umbau einer Erlösungsreligion?
 9783161553707, 9783161563713, 3161553705

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Dogmatik in der Moderne herausgegeben von

Christian Danz, Jörg Dierken, Hans-Peter Großhans und Friederike Nüssel

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Ewiges Leben Ende oder Umbau einer Erlösungsreligion? Herausgeben von

Günter Thomas und Markus Höfner

Mohr Siebeck

Günter Thomas, geboren 1960; Studium der Ev. Theologie, Philosophie und Soziologie in Tübingen, Princeton/USA und Heidelberg; 1997 Dr. theol. Heidelberg; 1999 Dr. rer. soc. Tübingen; 2004 Habilitation; seit 2004 Professor für Systematische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum; 2015–17 in Kooperation mit der University of Chicago (mit William Schweiker) Principal Investigator des Enhancing Life Projektes; Koordinator (mit Peter Opitz) der jährlichen Karl-Barth Konferenz (Leuenberg/Schweiz). orcid.org/0000-0002-4719-7010 Markus Höfner, geboren 1972; Studium der Ev. Theologie und Philosophie in Frankfurt, Berlin, Jerusalem und Heidelberg; 2009 Dr. theol. Heidelberg; 2004–05 wissenschaftlicher Assistent in Heidelberg bei Prof. Michael Welker, 2005–15 in Bochum bei Prof. Günter Thomas; 2015–17 Koordinator des Enhancing Life Projekts (Chicago/Bochum); seit 2017 geschäftsführender Oberassistent am Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie, Universität Zürich, Schweiz. orcid.org/0000-0002-0334-850X

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung ISBN 978-3-16-155370-7 / eISBN 978-3-16-156371-3 DOI 10.1628/978-3-16-156371-3 ISSN 1869-3962 / eISSN 2569-3913 (Dogmatik in der Moderne) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von epline in Böblingen gesetzt, von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.

Ewiges Leben. Umbauten der Idee von Erlösung Der theologische Begriff eines ‚ewigen Lebens‘ ist ein wesentlicher Kristallisationspunkt für die christliche Idee von Erlösung. Versteht man Erlösung formal als Übergang von einem defizitären zu einem vollendeten Zustand, so bezeichnet ‚ewiges Leben‘ dieses Zweite: Erlösung geschieht auf ewiges Leben hin. Umbauten der Idee von Erlösung, wie sie sich in der Moderne angesichts gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Herausforderungen christlicher Tradition vollziehen, lassen sich daher am Begriff des ewigen Lebens prägnant beobachten. Dabei zeigen sich sowohl charakteristisch unterschiedliche Optionen als auch übergreifende Entwicklungen. In Orientierung am Begriff des ewigen Lebens gehen die Beiträge des vorliegenden Bandes diesen Umbauten nach – mit Rückblicken in die christliche Tradition, konstruktiven Zugängen gegenwärtiger Theologie und Religionsphilosophie und mit dem Blick auf Resonanzräume der Idee von Erlösung im religiösen Feld, in Diakonie, Literatur und Biomedizin. Wir danken den Autorinnen und Autoren sehr für ihre Beiträge. Der Fritz Thyssen Stiftung und der Ruhr-Universität Bochum danken wir für die großzügige Förderung der Tagung, deren Ergebnisse der vorliegende Band dokumentiert. Für die Aufnahme dieses Bandes in die Reihe ‚Dogmatik in der Moderne‘ danken wir herzlich den Herausgebern Prof. Dr. Christian Danz, Prof. Dr. Jörg Dierken, Prof. Dr. Hans-Peter Großhans sowie Prof. Dr. Friederike Nüssel. Die Drucklegung dieser Beiträge wurde durch einen namhaften Druckkostenzuschuss der Fritz Thyssen Stiftung gefördert. Die Erstellung des Bandes wurde möglich innerhalb des weiteren Rahmens des von der John Templeton Foundation geförderten Forschungsprojektes ‚Enhancing Life‘ – wofür wir der Stiftung sehr danken möchten. Ein besonderer Dank geht auch an Dr. Henning Ziebritzki, der den Band mit der richtigen Mischung aus Geduld und Hartnäckigkeit begleitet und betreut hat. Annika Dahm, Hanna Degener, Tobias Friebe und Friederike Nordholt haben die Manuskripte Korrektur gelesen und formal vereinheitlicht, Benedikt Friedrich hat darüber hinaus für die Koordination dieser redaktionellen Arbeiten Sorge getragen. Virginia White hat ihre linguistische Kompetenz den englischsprachigen Beiträgen zu Gute kommen lassen. Die Firma epline sorgte für einen professionellen Satz. Dominika Zgolik vom Verlag Mohr Siebeck hat den Band mit kundigem Blick gestalterisch in Form gebracht. Ihnen allen sei für ihren engagierten und umsichtigen Einsatz gedankt. Günter Thomas / Markus Höfner

Bochum, April 2017

Inhaltsverzeichnis Günter Thomas und Markus Höfner Ende oder Umbau einer Erlösungsreligion? Eine Problemexposition  . . . . 1 I.  Historische Perspektiven und Analysen: Erlösung und ‚ewiges Leben‘ in der christlichen Tradition Jan-Dirk Döhling Gottes Fülle in menschlicher Lebensnot Alttestamentliche Wahrnehmungen zwischen Erfahrung, Zuschreibung und Konstruktion am Beispiel der Wurzel ‫  עבׂש‬. . . . . . . . . . . 21 Friedrich Avemarie Erlösungshoffnung und Lebensgestaltung im Neuen Testament  . . . . . . . . 39 Katharina Greschat „Teilweise auferstehen wäre eine Strafe, keine Erlösung“  Tertullians Verteidigung der fleischlichen Auferstehung und des göttlichen Gerichts als Beginn des ewigen Lebens  . . . . . . . . . . . . . 57 Rochus Leonhardt Vollkommenheit und Vollendung Theologiegeschichtliche Anmerkungen zum Verständnis des Christentums als Erlösungsreligion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 II.  Gegenwärtige Zugänge: Systematische und religionsphilosophische Perspektiven auf Umbau oder Ende der Erlösung Günter Thomas Vom ewigen Leben zur Lebensbewältigung. Umbauten der Tauftheologie 105 Gregor Etzelmüller Vom eschatologischen Dualismus zur Hoffnung auf eine Allerlösung Ein neuzeitlicher Umbau in der Eschatologie des Christentums  . . . . . . . . . 119 William Schweiker Redemption and Basic Goods  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

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Inhaltsverzeichnis

Michael S. Hogue The American Redeemer Symbolic  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Willem B. Drees Finite Lives: Science and the view sub specie aeternitatis  . . . . . . . . . . . . . . . 181 Markus Höfner Ist ‚ewiges Leben‘ inhuman?  Philosophische Augustin-Lektüren bei Martin Heidegger und Paul Ricœur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 III. Resonanzräume: Religion – Diakonie – Literatur – Biomedizin Alexander-Kenneth Nagel Redemption Now!  Moderne Heilsversprechen zwischen Prosperity Gospel und Endzeit-Buße  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Peter Zimmerling Pfingstlich-charismatisches Christentum: Gott allein im Hier und Jetzt – Verlust von Vergangenheit und Zukunft?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Lisa Wevelsiep Entwicklungspolitische Arbeit als religiöser Weg? Buddhistische Entwicklungszusammenarbeit zwischen materieller und religiöser Transformation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Johannes Eurich Professionalisierung statt ‚ewiges Leben‘? Diakonische Zielvorstellungen der Gegenwart  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 William Franke Unsayability and the Promise of Salvation An Apophatics of the World to Come  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Hans-Jörg Ehni Die medizinische Manipulation des Alterns und ethische Endlichkeitsargumente  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Autorinnen und Autoren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339

Ende oder Umbau einer Erlösungsreligion? Eine Problemexposition Günter Thomas und Markus Höfner I.  Fragestellungen und Grundprobleme: Verschiebungen in der religiösen Semantik und Symbolik 1.  Erlösung als historisch verankerter Begriff Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte der Soziologe Max Weber noch mit großer Selbstverständlichkeit davon ausgehen, dass das Christentum eine Erlösungsreligion ist.1 Bei dieser Diagnose konnte er sich nicht nur auf eine Analyse der Struktur des Christentums, sondern auch auf reichhaltige Spuren in der Selbstbeschreibung der christlichen Frömmigkeit wie auch der wissenschaftlichen Theologie stützen. Noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts konnte Theodor Adorno in der Philosophie mit dem Begriff der Erlösung eine zentrale Rahmenfunktion identifizieren.2 Einen geradezu klassischen Status erlangte die von Friedrich Schleiermacher vorgenommene Bestimmung des Christentums als eine teleologische Richtung der Frömmigkeit, die ganz wesentlich durch ihren Bezug auf die durch Jesus Christus vollbrachte Erlösung charakterisiert ist.3 Schon eine kursorische Sichtung der protestantischen Theologie in westlichen Gesellschaften der Gegenwart lässt erkennen, dass die Semantik der Erlösung für die religiöse Selbstbeschreibung der traditionellen Glaubensgemeinschaften immer weniger Prägekraft hat und zunehmend durch Semantiken der Lebensbegleitung und eines innerweltlichen Heil- und Ganzwerdens ersetzt wird.4

1  Zu Max Weber siehe Hanke, Erlösungsreligion, mit reichen Verweisen auf die Quellen bei Weber. 2 Siehe Adorno, Minima Moralia, der die Philosophie auffordert, „alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten“ (S. 283). 3 Prägnant Schleiermacher, Glaubenslehre, § 11, Leitsatz. 4  Für das 19. Jahrhundert und die reformatorische Vorgeschichte grundlegend Osthövener, Erlösung. Ein sprechender Indikator ist die Entwicklung im Bereich des sogenannten neuen Liedgutes. Lieder sind Texte, die einer rekursiven Resonanzprüfung unterliegen und zugleich Sediment der Frömmigkeit einer bestimmten Zeit sind. Eine Theologiegeschichte der Liedgeschichte ist jedoch weitgehend ein Desiderat der Forschung. Umbauten einer temporalen Eschatologie beschreiben auch die Beiträge in Stock, Zukunft der Erlösung. Zur Prominenz der Themen Lebensbegleitung und Lebenskunst in der Gegenwart vgl. die philosophischen Beiträge Schmid, Philosophie der Lebenskunst, und Thomä, Glück in der Moderne.

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Günter Thomas und Markus Höfner

2.  Erlösung als Übergang Um die an dieser Stelle sichtbaren Umbauten zu erfassen, ist von der Beobachtung auszugehen, dass Erlösungsreligionen in verschiedenen Varianten ein komplexes religiöses Übergangsmanagement offerieren: Die Semantik von „Erlösung“ beschreibt, formal betrachtet, einen Übergang von einem notvollen Zustand A zu einem besseren Zustand B.5 Der Übergang kann sowohl in temporaler wie auch in sachlicher Hinsicht sehr verschieden gestaltet sein.6 Dies jedoch nötigt zur Bearbeitung der Fragen, was Zustand B vom Zustand A letztlich unterscheidet, wie man von A nach B gelangen kann, wie hart und diskontinuierlich der Übergang zu denken ist, ob es eine Überschneidung von Zustand A zu Zustand B gibt, etc. Inwiefern ist eine Gleichzeitigkeit von A und B möglich? Können an dem Zustand B so viele Menschen partizipieren wie an Zustand A? Innerhalb der christlichen Traditionsströme ist der prominenteste Titel für den „Zustand B“, d. h. für das Ziel der Erlösung, der Begriff des „ewigen Lebens“. Mit ihm ist im Christentum sowohl ein Kontinuitätsbruch wie auch eine Konstellation der Gleichzeitigkeit verknüpft. Aufgrund dieser differenzierten Verbindung von Kontinuität, Gleichzeitigkeit und Bruch dient die Rede vom „ewigen Leben“ im vorliegenden Band als konzeptioneller Kristallisationspunkt für Verschiebungen im Verständnis der Erlösung. Die Variationen in der religiösen Vorstellung des „ewigen Lebens“ dienen in methodischer Hinsicht darum als Indikatoren für Verschiebungen des Erlösungsverständnisses.7 „Ewiges Leben“ markiert die klassische theologische Antwort auf die Frage, wozu und woraufhin theologisch von Erlösung zu sprechen ist. Zugleich impliziert der Begriff des „ewigen Lebens“ von vornherein einen – Überschneidungen aus- oder einschließenden – Kontrast zum „endlichen Leben“ und verweist damit auf den Ausgangspunkt religiöser Erlösung.8 Dieser Ausgangspunkt oder Zustand A kann gemäß den prägenden Modellen der christlichen Tradition im Vollzug der Erlösung unterschiedlich beansprucht werden. Der Ausgangspunkt kann im Übergang zum Zustand B in verschiedener Weise affirmiert, verwandelt oder abgestoßen werden. Kontinuität und Diskontinuität zwischen endlich-irdischem und ewigem Leben werden dabei je spezifisch austariert. 5  Ähnlich formal die religionswissenschaftliche Definition in Höhn, Erlösung: „Erlösung ist der Vorgang der ‚Befreiung‘ aus einem existentiellen Notstand zu einem Zustand ersehnter Freiheit“ (S. 302). 6  In der Theologie des Westens wurde dieser Übergang im langen Schatten Augustins mit der Metapher der Pilgerschaft erfasst. Exemplarisch Scholz, Glaube und Unglaube; Ritter, Gottesbürgerschaft. 7  Stark an Übergängen orientiert bleibt auch noch ein Kritiker wie Helmut Schelsky, der, von Max Weber herkommend, einen massiven Umbau der Erlösungsvorstellung von einer persönlichen und transzendenz­bezogenen hin zu einer sozialen und immanenzbezogenen Vorstellung diagnostiziert. Siehe Schelsky, Arbeit tun die anderen. 8  Aus diesem Grund erwächst die hier vorliegenden Publikation aus einem zurückliegenden Forschungsprojekt zu „Endlichkeit“. Siehe Höfner/Schaede/Thomas, Endliches Leben.



Ende oder Umbau einer Erlösungsreligion? Eine Problemexposition 

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Idealtypisch lassen sich zumindest drei Modelle von Erlösung unterscheiden: i.) Erlösung als Vollendung: Zustand B wird hier zugleich als Erfüllung und Ende von Zustand A gedacht, womit Kontinuität (Erfüllung) und Diskontinuität (Ende) von endlich-irdischem und ewigem Leben gleichermaßen zur Geltung kommen. ii.) Erlösung als heilsame Transformation: Der Übergang zu Zustand B impliziert eine Verwandlung von Zustand A, die diesen nicht beendet, aber von „erlösungsbedürftiger“ Negativität befreit. Je nachdem, wie letztere bestimmt wird (Sünde und/oder Tod), wird die Kontinuität oder die Diskontinuität von endlich-irdischem und ewigem Leben betont. iii.) Erlösung als Substitution: Zustand B ersetzt in diesem Modell Zustand A, das ewige Leben steht in Diskontinuität zum endlich-irdischen Leben, das entsprechend religiös negativ qualifiziert werden muss.9 In dieses typologische Raster lassen sich weitere Differenzierungen einzeichnen. So können Zustand A und Zustand B einander zeitlich verschieden zugeordnet werden: Wie präsentisch oder futurisch wird die zum Zustand B führende Erlösung gedacht? Während Erlösung als Substitution primär futurisch operieren muss, lassen die Modelle von Erlösung als Vollendung und heilsame Transformation primär präsentische und primär futurische Varianten zu. Auch im Rekurs auf räumliche Metaphorik eröffnen sich alternative Profilierungen in der Zuordnung von Immanenz und Transzendenz, Diesseits und Jenseits. Die Modelle von Erlösung als Vollendung und als heilsame Transformation können sowohl immanente als auch transzendente Aspekte betonen, während das Modell von Erlösung als Substitution auf den radikalen Kontrast von Diesseits (des endlich-irdischen Lebens) und Jenseits (des ewigen Lebens) festgelegt ist.10 Weitere Differenzierungen ergeben sich aus der in allen Modellen von Erlösung möglichen Verknüpfung oder Trennung von individuellen, sozialen und kosmologischen Dimensionen des Übergangs von Zustand A zu Zustand B. 3.  Motive des Übergangs Dass die christlich-theologische Tradition hinsichtlich der idealtypischen Modelle von Erlösung unterschiedlich optieren und diese in differenter Weise ausgestalten konnte, scheint nicht zuletzt auf unterschiedlich deutliche Differenzierungen zwischen menschlicher Endlichkeit und menschlicher Sünde zurückzuführen zu sein: Wird die menschliche Sünde und dezidiert nicht die 9  Diese idealtypischen Modelle sind nicht deckungsgleich, stehen aber in enger Berührung mit möglichen Zuordnungsmodellen von „alter Schöpfung“ und „neuer Schöpfung“, die sich in der christlich-theologischen Tradition beobachten lassen. Vgl. zu letzteren Thomas, Neue Schöpfung, v. a. S. 22–25. 10  Hier berührt sich die Thematik der Erlösung mit Vorstellungen der Transzendenz und eines Jenseits. Zu den Veränderungen in der Moderne vgl. Hölscher, Jenseits, mit weiterer Literatur. Religionswissenschaftlich wird hier zu Recht der Begriff der Gegenwelt aufgerufen. Siehe Stolz, Paradiese und Gegenwelten, und Zander, Gegenwelten. Bemerkenswerterweise sind die Entwicklungen in der populären audiovisuellen Kultur gegenläufig – verschiedenste Formen des Jenseits und die Imaginationen um den Himmel sind überaus präsent und erfolgreich.

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Günter Thomas und Markus Höfner

Endlichkeit als Grund menschlicher Gottesferne und Erlösungsbedürftigkeit behauptet, so wird die Erlösung zum ewigen Leben exklusiv als Erlösung von der Sünde gedacht, als eine Erlösung also, die menschliche Endlichkeit gerade nicht hinter sich lassen will. Werden aber Sünde und Endlichkeit in der Diagnose menschlicher Erlösungsbedürftigkeit nahezu unterschiedslos verbunden, dann kommt die Erlösung zum ewigen Leben als eine solche Erlösung zu stehen, die in der Befreiung von der Sünde zugleich das endliche Leben negiert.11 So stellt, wie Micha Brumlik beschrieben hat, die gnostische Verbindung von Weltablehnung und Selbsterlösung einen langen, bis in die jüngste Vergangenheit reichenden Motivstrang des abendländischen Denkens dar – auch jenseits spezifisch religiöser Semantiken.12 Motive für den beobachtbaren Umbau von der Erlösung zur Lebensbegleitung in christlicher Religion lassen sich zum einen in einer kulturell auf breiter Front vollzogenen „Rehabilitierung der Endlichkeit“ verorten, zum anderen in der Krise traditioneller Vorstellungen von Sünde und der ihr korrespondierenden Erlösungsbedürftigkeit. Ohne Zweifel stellt der sich im Zuge der Religionskritik und im Horizont naturwissenschaftlicher Erkenntnisbildung einstellende Umbau der christlichen Eschatologie einen weiteren Faktor dar. Zu denken ist dabei an die religionskritische Infragestellung religiöser Ewigkeits- und Jenseitseschatologien zugunsten einer Affirmation endlichen Lebens und an die Problematisierung traditioneller religiöser Erwartungen einer „Verwandlung des Kosmos“ durch naturwissenschaftliche Einsichten in die physikalische Verfasstheit der erfahrbaren Welt. Im Horizont der idealtypischen Modelle von Erlösung und ihrer möglichen Feinabstimmungen lässt sich der modernitätstypische Umbau „von der Erlösung zur Lebensbegleitung“ daher so beschreiben, dass das Modell der Erlösung als Substitution weitgehend aufgegeben wird und – falls überhaupt noch von einer religiösen Erlösung geredet wird – die Akzente innerhalb der Modelle von Erlösung als Vollendung und heilsame Transformation entschieden auf das Präsens und das Diesseits verschoben werden. Wird in diesem Rahmen am Begriff des ewigen Lebens festgehalten, so erscheint dies in enger Kontinuität und Gleichzeitigkeit zum irdisch-endlichen Leben. Aufschlussreich und sprechend ist an diesem Punkt die gegenwärtige Diskussion um das Werk des kanadischen Philosophen Charles Taylor.13 Dieser vertritt die Auffassung, dass mit der christlichen Religion notwendig eine Vorstellung einer Transzendenz im Sinne eines „jenseitigen“ Lebenszieles und eines „jenseitigen“ Akteurs verbunden ist. Vorstellungen von Erlösung, die auf ein Endziel des menschlichen Lebens in der Transzendenz verzichten oder hier starke Modifikationen vornehmen, können so als Prozesse der Säkularisierung wahrgenommen werden. Hierin bestätigt die religionsphilosophische und 11 

Vgl. zu dieser Problematik Höfner, Sünde und Endlichkeit. Brumlik, Gnostiker. 13  Taylor, Säkulares Zeitalter. Zur Diskussion um Taylor siehe Zemmin/Jager/Vanheeswijck, Secular age. Für ein gegenwärtiges (ganz analog klassisch katholisch-theologisches) Plädoyer für ein temporal ewigkeitsbezogenes ewiges Leben vgl. Hoye, Eternal life. 12 



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kulturwissenschaft­liche Diskussion seines Werkes den analytischen Zugang des vorliegenden Bandes. 4.  Indikatoren der Verschiebung Dass sich der beschriebene Umbau in der theologischen Selbstbeschreibung christlicher Religion im späten 20. und beginnenden 21. Jahrhundert tatsächlich vollzogen hat und noch vollzieht, lässt sich an vielen Einzelphänomenen und verschiedenen Feldern des religiösen Lebens festmachen. Zu nennen wären i.) Verschiebungen in der Tauftheologie, die sich zunehmend im Horizont von Schöpfungsdank und Bitte um Lebensbewahrung vollzieht und damit ihren traditionellen Rahmen von (Erb)Sünde, Erlösung und ewigem Leben verlässt.14 Dem entspricht ii.) eine relative Abschwächung von Konversionsvorstellungen und ein hohes Maß an Irritation innerhalb der universitären Theologie und in den Volkskirchen gegenüber Praktiken der Mission.15 iii.) Auch in der kirchlichen Fürsorge für Kranke, der Hospizarbeit und der theologischen Reflexion dieser Handlungsfelder lässt sich eine Krise „starker“ Erlösungsvorstellungen und damit verbunden futurischer Eschatologie beobachten, die oft zu einer Profilierung christlicher Religion als innerweltliche Coping-Strategie führt.16 iv.) Nicht zuletzt lässt sich auch in den Entwürfen einer ökologisch sensiblen Theologie und in weiten Teilen feministisch-theologischer Theoriebildung eine entsprechende Orientierung am diesseitigen Leben wahrnehmen, die die traditionelle Rede von Erlösung und „ewigem Leben“ zumindest problematisiert.17 Eine offene Frage ist dabei, ob und inwieweit die Rückbauten temporaler Erlösungsvorstellungen durch Vorstellungen einer Intensivierung des Lebens aufgefangen werden und in welchen Semantiken diese sich manifestieren. 5.  Ansätze der Beobachtung Die Essays in diesem Band zielen nicht auf eine pauschale modernitätskritische und kulturpessimistische Krisendiagnose, die letztlich auf ein Narrativ des Verfalls und Verlustes abstellen würde. Bei klarem Blick für die Probleme, die sich aus dem Umbau und einer teilweisen Verabschiedung traditioneller Erlösungsvorstellungen für die christliche Religion und ihre theologische Selbstbeschreibung ergeben, soll vielmehr zugleich gefragt werden, inwiefern die beobachtbaren Umbauten auch als theologisch plausible und notwendige Korrekturen an abstrakten Vorstellungen des „ewigen Lebens“ in der christlichen Tradition verstanden wer14  Siehe den Beitrag von G. Thomas und Thomas, Taufgeschehen, aber auch Grethlein, Taufpraxis in Geschichte; und Grethlein, Taufpraxis heute. 15 Diese Verschiebungen zeigen sich sehr gut in Wrogemann, Missionstheologien der Gegenwart, und Wrogemann, Glanz widerspiegeln. 16 Diese Spannungslage zeigt sich deutlich, wiederum pars pro toto in Taylor/Dell’oro, Human flourishing. 17  Exemplarisch die Beiträge in Falk/Möller/Raiser/Wollrad, Mein Leib.

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Günter Thomas und Markus Höfner

den können. Denn eine gegenüber der Tradition verstärkte Diesseitsorientierung christlicher Frömmigkeit und Theologie kann und muss auch als Reaktion auf die produktiven Zumutungen gesehen werden, denen Kirche und Theologie seit der Aufklärung und dem Erstarken naturwissenschaftlicher Erkenntnisbildung ausgesetzt sind. Und wie sich am theologischen Beispiel Dietrich Bonhoeffers zeigen ließe, kann ein Fokus auf diesseitige Lebensgestaltung und -begleitung auch als angemessene theologische Antwort auf die Kritik am christlichen „Hinterweltlertum“ im Namen einer „Treue zur Erde“ erscheinen – eine Kritik, die nicht nur Friedrich Nietzsche wirkmächtig formuliert hat.18 Doch zugleich ist angesichts des breiten Phänomenbestandes im Feld der Diakonie auch mit scheinbar paradoxen Konstellationen zu rechnen: Starke, bis in die Regionen der Weltverneinung und Weltflucht reichende Erlösungsvorstellungen scheinen in der Lage zu sein, zugleich die Sensibilität für die Verwerfungen und Negativitäten des Lebens und der Gesellschaft zu steigern.19 Dies lässt sich umgekehrt als Frage formulieren: Erfordert eine moralische wie politische Sensibilität für die Negativitäten der Welt eine wie auch immer konzipierte Erlösungshoffnung und eine religiös vitale Gewissheit „ewigen Lebens“? Ist daher die Wiedergewinnung eines realistischen Verständnisses von „ewigem Leben“ nicht eine zentrale Aufgabe der christlichen Frömmigkeit? Die differenziert zu betrachtenden Entwicklungen vollziehen sich parallel zu drei außertheologischen Problemfeldern, mit denen sie – so die These – in einem schwer lesbaren Resonanzverhältnis stehen. Die folgenden drei exemplarischen Resonanzfelder ermöglichen eine Konturierung der Umbauten im religiösen Feld und stellen zugleich wichtige kulturelle Kontexte solcher Umbauten dar.

II. Resonanzfelder 1.  Politische Utopien Einen wichtigen Resonanzraum der Frage nach den Umbauten innerhalb der Symbolik der christlichen Religion bilden spätestens seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert die Veränderungen säkularer Erlösungsvorstellungen. Nicht nur, aber auch aus der Kritik der klassischen christlichen Erlösungsreligion erwuchsen im späten 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert vielfältige Konzeptionen politischer Utopien, die in diesem Fragehorizont als „diesseitige Erlösungskon18 Siehe Nietzsche, Zarathustra, S. 280: „Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht. Verächter des Lebens sind es, Absterbende und selber Vergiftete, deren die Erde müde ist: so mögen sie dahinfahren!“ Kritisch zum Scheitern einer konsequent antieschatologischen Haltung Birus, Apokalypse aller Apokalypsen. Zu „Hinterwäldlertum“ vgl. Bonhoeffer, Dein Reich komme, hier S. 264–267. Für eine prozesstheologische Verarbeitung der Anklage Nietzsches siehe Howe, Faithful. 19 Diese Spannungslage ist vielfach sichtbar. Exemplarisch für den Fall der von Bodelschwinghschen Anstalten Benad, Diakonie als Aufbruch.



Ende oder Umbau einer Erlösungsreligion? Eine Problemexposition 

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zeptionen“ gelesen werden können und müssen.20 An die Stelle eines letztlich positiv konnotierten Übergangs in ein religiöses Jenseits traten im 19. Jahrhundert Vorstellungen eines Übergangs in eine bessere Welt dieser Welt.21 An die Stelle der Verheißung auf ein „ewiges Leben“ trat das Versprechen eines guten Lebens. Die politischen Geschichten des 20. Jahrhunderts offerieren zweifellos kein wirkliches Ende der Geschichte, aber doch ein Ende dieser starken kollektiven Utopien, die in einer religions- und kulturgeschichtlichen Betrachtungsweise als Nachfolgeeinrichtungen religiöser Erlösungsmodelle betrachtet werden können. Das Besondere der gegenwärtigen Frageposition des Projektes tritt im historischen Vergleich deutlich hervor: Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat die Krise der religiösen Erlösung auch die wirkmächtigen Ideen der politischen Erlösung erfasst.22 Die Versprechungen einer Entwicklung hin zu einem besseren Leben wurden auch in den westlichen Staaten – nicht zuletzt auch in den USA, dem „Land der Verheißungen“ – zunehmend ersetzt durch vage Hoffnungen auf ein Abwenden ökologischer, sozialer und ökonomischer Katastrophen. Negative Utopien scheinen zumindest in den Gesellschaften des Westens die langfristigen „Hoffnungen“ zu prägen.23 Selbst die gegenwärtige Konjunktur einer Philosophie des Glücks markiert auf ihre Weise die Krise gemeinschaftstragender und gemeinschaftsmobilisierender politischer Utopien. Das religiöse ewige Leben scheint zumindest auf den ersten Blick so irreal wie das politische Leben in einer Gemeinschaft des sicheren Wohlstands, des ungefährdeten Friedens und der uneingeschränkten Freiheit.24 2. Ästhetische Gegenwelten Wie schon für die politischen Transformationen und Rezeptionen religiöser Erlösungsvorstellungen stellt das 19. Jahrhundert auch für die ästhetischen Gegenwelten eine entscheidende Prägephase dar. Mit einer gewissen Zeitver20  Die Umbauten und Rezeptionen traditioneller christlicher Imaginationen in den Philosophien des 19. Jahrhunderts wurden von Claus-Dieter Osthövener schon beschrieben. Zum Diskursfeld der Utopien in der Literatur vgl. die luzide Studie von Jameson, Archaeologies of the future; zur Verbindung von Utopie, Politik und radikal-moralischen Erlösungsprogrammen erhellend Weitz, Century of genocide. Die Rezeption von Fragmenten einer religiösen Erlösungsvorstellung in Politik, Kunst und Literatur beschreiben luzide die Beiträge in Lehmann/ Thüring, Rettung und Erlösung. 21 Die Zurücknahme einer transzendenten Zukunft führt zu einer Intensivierung und Verbreiterung kultureller Zukunftstechniken. Vgl. hierzu das weite Spektrum der Beiträge in Bühler/Willer, Futurologien. 22 Die Debatte um das Motiv der Erlösung in den politischen Religionen der Neuzeit ist enorm breit. Zur aktuellen Diskussion Rohgalf, Jenseits; Vondung, Wege zur Erlösung; Maier, Totalitarianism; Maier, Political Religions; stärker anthropologisch Küenzlen, Der neue Mensch; historisch breit angelegt Haring, Verheißung und Erlösung. 23  Prägnant die Traditionsstränge herausarbeitend: Vondung, Apokalypse in Deutschland. 24  Zu den paradoxen Versuchen eines utopiefreien Kampfes für eine markant bessere Welt in weltweit agierenden NGOs siehe Razsa, Bastards of utopia.

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zögerung folgt auf die Krise einer temporal und transzendent akzentuierten Erlösung auf Seiten der Philosophie und Kunst eine Betonung des Augenblicks als Moment der die Endlichkeit und Bindungen überwindenden Ewigkeit in der Zeit.25 Allerdings erlebten diese im Zuge der technischen Entwicklung der audiovisuellen Medien eine dynamische Entwicklung. Dabei dürfte das Besondere der literarischen, performativen und audiovisuellen Imaginationsprodukte darin liegen, dass sie drei Aspekte vereinen: i.) Sie beobachten selbst differenzorientiert Religion und bieten ii.) selbst einen impliziten oder expliziten Diskurs zur Frage nicht nur nach gutem, sondern nach gültigem und „ewigem Leben“ und entfalten also Narrative zum Problem der Erlösung.26 iii.) Zugleich bieten sie performativ und entsprechend gerahmt Übergänge in andere Zeiten, Räume, Wahrnehmungen und „Erlebniswelten“ an, die affektiv verdichtet selbst schon Erfahrungen des Übergangs ermöglichen. Ästhetische Gegenwelten werden so zu symbolisch verdichteten Räumen der Darstellung und Erfahrung eines „anderen Zustands“. Die im Alltag zugänglichen Außeralltäglichkeiten der ästhetischen Gegenwelten der Gegenwart fordern die Reflexion der Religion dazu heraus, gegenwärtig valide Konzeptionen von Erlösung weder in weichen Vorstellungen einer Transzendenz noch in einem abstrakten Theismus zu suchen. 3. Biotechnologie Die Biotechnologie dürfte neben der Computertechnologie eines der aktuell wirkmächtigsten Felder sein, auf denen starke säkularisierte Erlösungshoffnungen noch gepflegt werden.27 Vorstellungen einer ausgreifenden Lebensverlängerung durch eine Verlangsamung der Alterungsprozesse wie auch eine Befreiung von Krankheiten berühren nicht nur punktuell traditionell religiöse Motive.28 Die Besonderheit dieses gesellschaftlichen Feldes ist darin greifbar, 25  Klassisch und prägnant an dieser Stelle Goethe: „Und Schlag auf Schlag! Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zugrunde gehn! Dann mag die Totenglocke schallen, Dann bist du deines Dienstes frei, Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen, Es sei die Zeit für mich vorbei!“ Die bemerkenswerte Facette der Faustschen/Goetheschen Problemfassung ist, dass der Augenblick als Moment der höchsten Lebensintensität so erlösend ist, dass er entspannt der Begegnung mit dem Tod entgegengehen lässt. Siehe Goethe, Faust, 1698–1705 (Zählung der Frankfurter Ausgabe FA I 7/2). Für das Feld der Kunst kartographiert Thomsen, Augenblick und Zeitpunkt; für die Philosophie Ward, Augenblick. Bei einer genügenden Beobachtungsdistanz ist auch die Zeit/Ewigkeit-Dualität der frühen dialektischen Theologie sowie Paul Tillichs Theologie des Kairos in dieser Linie zu sehen. 26 Wiederum äußerst exemplarisch Deacy, Screen christologies; Deacy, Redemption; Kirsner, Erlösung im Film. 27  Die Diskussion um Erlösungsvorstellungen in den Debatten um Entwicklungen in der Biotechnologie ist enorm weitgefächert. Zum aktuellen Thementableau siehe Stapleton/Byers, Biopolitics and Utopia; und Lustig/Brody/McKenny, Altering nature, Vol. 1 und Vol. 2; ebenso kritisch Parens, Goodness of Fragility. 28  Zu diesen Fragestellungen siehe den Beitrag von Hans-Jörg Ehni in diesem Band; ebenso Gillick, Denial of aging. Für eine auch hier erforderliche historische Perspektivierung siehe Gruman, History of ideas.



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dass sich in ihm starke Hoffnungen nicht weniger starken negativen Utopien und Bedrohungsszenarien gegenübergestellt (Bewahrung der Natur bzw. der Schöpfung) sehen. Diese Konfliktkonstellation führt zurück zu den Implikationen des (thesenhaft unterstellten) Umbaus des Christentums zu einer Lebensbegleitungsreligion: Welche Vorstellungen eines gelingenden endlichen Lebens werden durch die Religion gestützt? Welche Formen eines durch kulturelle, technische, soziale und spirituelle Möglichkeiten vorangetriebenen „Enhancement of Life“ werden durch das Christentum befördert, welche primär kritisch flankiert? Wie positionieren sich die verschiedenen Strömungen des Christentums in diesem spannungsreichen, durch starke positive wie negative Utopien dominierten Problemfeld? Die Vorstellungen eines nicht nur biotechnischen, aber eben auch biologischen „Enhancement of Life“, eines technisch gestützten „Flourishing of Life“ dürften nicht zu trennen sein von religiösen Vorstellungen des endlichen wie auch des ewigen Lebens.29 Dabei zeigen die Entwicklungen in den Biowissenschaften, dass der in Erlösungsvorstellungen eingebettete Impuls einer dynamischen Grenzüberschreitung auch in verschiedenen Formationen in der Gegenwart weiter wirksam ist.30

III.  Erlösung – 3 Problemkreise der Debatte Die Beiträge in diesem Band bieten zu dem beschriebenen Problemtableau Befunde, die zu signifikanten weiteren Differenzierungen nötigen. Drei Problemkreise lassen sich umreißen: 1.  Erlösung und „ewiges Leben“ im langen Schatten der Religionskritik Die Debatten um Erlösung und ewiges Leben finden in einem sehr bestimmten Kontext statt, der – und dies muss einschränkend eingestanden werden – zumindest für europäische und nordamerikanische Theologie prägend ist. Alle theologischen Suchbewegungen ereignen sich nach und angesichts der langen Tradition philosophischer, soziologischer und psychologischer Religionskritik. Dieser Kritik an manifest weltflüchtigen und letztlich schöpfungsnihilistischen Gestalten christlicher Religion unterstellt sich die Theologie durchgängig selbst.31 29  Dies zeigt sich noch in den Debatten um einen „Transhumanism“. Wiederum exemplarisch: Cole-Turner, Transhumanism, und Moos, Reduced Heritage, mit weiteren Verweisen auf die Diskussion. 30  Vgl. hierzu die Studie Rücker, Gesetz der Überschreitung, der eine Sukzession von Ordnungsformen des Überschreitens im Ausgang von religiösen Immanenz/Transzendenz-Ordnungen entwickelt. 31  Das Programm einer theologischen Religionskritik vereint in gewisser Weise weite Bereiche der liberalen und einer nach-barthianischen Theologie, wenngleich dezidiert differente Wege beschritten werden: auf Seiten der liberalen Theologie eine Kombination aus Kirchenkritik und Religionsapologetik, auf Seiten der Barthschen Theologie die Entwicklung einer differenzierten Dialektik. Die Gemeinsamkeiten werden sichtbar, vergleicht man diese Verarbeitungsweisen

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Fragwürdige Gegenbeispiele finden sich zum Beispiel in dem Material, das Alexander Nagel bearbeitet hat. Im Angesicht dieser Religionskritik hat sich in der Theologie des 20. Jahrhunderts fast durchgängig ein Wandel vollzogen, der die schon erwähnte Mahnung Friedrich Nietzsches, der Erde treu zu bleiben, in der Tat sehr ernst nimmt und konzeptionell verarbeitet. Hierzu gehört eine theologisch tiefgreifende Würdigung leiblich-irdischen Lebens, die – wie die Position von William Schweiker zeigt – bis zu einem christlichen Humanismus ausgebaut werden kann.32 Stärker jenseitig orientierte Erlösungsvorstellungen, die in ihren Grenzlagen Rachephantasien einschließen, vermögen nur noch als negatives Vorbild dienen.33 Wenn die Theologie sich von stark Jenseitsorientierten eschatologischen Erlösungsvorstellungen noch etwas rettend aneignen möchte, dann scheint dies nur unter zwei Bedingungen möglich: a) Eschatologische Vorstellungen werden radikal und mutig entdualisiert – eine Entwicklung, die, wie Gregor Etzelmüller in seinem Beitrag darlegt, sich schon über zwei Jahrhunderte hinweg entfaltet.34 Nur so kann eschatologische Imagination jeglichen Verdacht endzeitlicher Racheimpulse zurückweisen und auch im Angesicht von Geschichte von der Gerechtigkeit Gottes sprechen. b) Eine angemessene Würdigung leiblicher Existenz verschiebt die Akzente in Richtung einer leiblichen Auferstehung im Kontext einer Neuschöpfung von Himmel und Erde – ein Vorstellungskomplex, der nicht nur ein Moment der Attraktivität der Theologie Tertullians ist, sondern zugleich gegenwärtig kulturell wenig anschlussfähig ist. Gegenläufig zu dieser kritisch differenzierten Wiederaneignung der Tradition kann aber auch aus einer ehrlichen Bilanzierung heraus für eine radikale und kompromisslose Konzentration auf dieses geschöpfliche Leben votiert werden.35 Neben dieser theologisch-philosophischen Kritik jeglichen Überschusses steht aber auch der nüchterne und religionskritische Verweis eines theologischen Naturalismus, für den es letztlich nur die naturalen Prozesse und deren subjektive Deutung gibt. Wissenschaftlich gestützt findet sich dieses Plädoyer in dem Essay von Willem Drees. Das Leben ist endlich und wenn Erlösung das Versprechen einer Flucht aus dieser Endlichkeit in ein ewiges Leben ist, dann ist sie Teil eines – zumindest in einer naturwissenschaftlichen Betrachtung des Lebens – mit den grundlegend modernitätskritischen Impulsen der sogenannten „Radical Orthodoxy“. Vgl. Milbank/Pickstock/Ward, Radical orthodoxy; und Smith, Introducing radical orthodoxy. 32  Klemm/Schweiker, Human future; und Schweiker, Dust that breathes. 33 Dass diesbezüglich beliebte Feindbilder bei näherer Betrachtung ihrer theologischen Intentionen nicht mehr so leicht karikiert werden können, zeigt der Beitrag von Katharina Greschat in diesem Band. Eine aktuelle Entwicklung unter US-amerikanischen konservativen Christen ist die sogenannte Rapture-Theologie und -Literatur. Sie kombiniert offensichtlich starke Jenseitsvorstellungen mit Momenten des Revanchismus. Dazu kritisch Rossing, Rapture exposed. 34  Die Entdualisierung unüberbietbar konsequent fortführend: Janowski, Allerlösung. Zur Diskussion der damit verbundenen Probleme siehe Heß/Leiner, Alles in allem. 35  Hierin konvergieren in diesem Band die Beiträge von William Schweiker und Willem Drees.



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Illusionszusammenhangs. „Belief in redemption as if one might escape from this mortality, is not a live option for those, who have accepted the science-informed naturalistic view of our own existence.“36 Und auch im Blick auf die (politische) Wirkungsgeschichte christlicher Erlösungsvorstellungen ist eine kritische Analyse die unabdingbare Voraussetzung jeder produktiven Aneignung, wie der Beitrag von Mike Hogue in diesem Band eindrücklich zeigt. 2.  Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen Obgleich die Umbauten in der Theologie von Erlösung und ewigem Leben unstrittig sind – für die Reformation zeigt dies das Essay von Günter Thomas, mit Blick auf die Eschatologie thematisiert dies Gregor Etzelmüller und für die neuere Zeit entfaltet dies breit angelegt Rochus Leonhardt –, gilt es doch dieses Narrativ aus Reformations-und Neuzeit zu differenzieren. Auf der einen Seite ist die oben dargestellte Transformationsgeschichte nicht nur eine Erfindung einer Theologie, die von Sehnsüchten nach vormodernen Zeiten geprägt ist. Auf der anderen Seite gilt es auch für die Gegenwart die Zumutungen, die von den exegetischen und den historischen Wissenschaften ausgehen, anzunehmen. Solche weitergehenden Differenzierungszumutungen werden z. B. von Seiten der hebräischen Bibel formuliert, erfordert doch beispielsweise die Erfahrung und die Zuschreibung einer Lebensfülle nicht notwendig einen Ausgriff auf lebenstranszendente Realitäten. Auch dann, wenn zum Beispiel in der Apokalyptik andere Akzente gesetzt werden, können diese nicht generalisiert werden. Während dies der Beitrag von Jan-Dirk Döhling offenlegt, macht der Aufsatz von Friedrich Avemarie Ähnliches im Neuen Testament sichtbar. Für die neutestamentliche Theologie erwachsen aus einem Erlösungsbewusstsein sehr verschiedene Sprachbilder und Begriffe, mit denen sie der irdischen Lebenszeit Bedeutung, aber auch eine spezifische Rahmung gibt. Der von einer göttlichen Lebensbegleitung bis hin zur Wiedergeburt reichende metaphorische Raum lässt sich weder mit abstrakten Diesseits/Jenseits-Dualen, noch mit ausschließlich disjunktiven Auffassungen vom Leben und ewigem Leben vergegenwärtigen. Deutlich wird, dass selbst in den theologischen Diskursen, die sich nicht vollständig als Plädoyer für eine entspannte Diesseitsreligion verrechnen lassen, Würdigungen dieses Lebens und Erlösungserwartungen in produktiver Spannung gehalten werden. Eine theologische Akzentverschiebung hin zu einer göttlichen Präsenz im leiblich gelebten Leben muss daher nicht nur religionskritischen Impulsen der Neuzeit geschuldet sein, sondern kann auch theologische Traditionen des Alten und Neuen Testaments aufnehmen.

36  So Willem Drees in diesem Band. Siehe auch Drees, Religion, science, and naturalism; und Drees, Naturalism. Dass seine evolutionäre Weltsicht selbst wiederum von religiösen Motiven und nicht zuletzt auch erlösungsanalogen Zukunftshoffnungen geprägt sein kann, zeigt eindrücklich die britische Philosophin Midgley, Evolution as a religion.

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3.  Umstellungskrisen und Transformationen Die aus den biblischen Traditionen erwachsenen Differenzierungszumutungen können in die Interpretation frömmigkeits- und theologiegeschichtlichen Wandels eingespielt werden. So wird die von Günter Thomas beschriebene, sich im Übergang von Martin Luther zu Johannes Calvin vollziehende Akzentverschiebung in der Tauftheologie als Entdeckung einer so konfliktreichen wie trostbedürftigen und ganz und gar diesseitigen geistlichen Lebensgestaltung sichtbar. Die Umstellung von einer Jenseitsorientierung auf ein präsentisch zu erfahrendes Heil und eine Lebensbewältigung, die Rochus Leonhardt als Grundimpuls der Reformation rekonstruiert, trägt daher ohne Zweifel den Charakter einer Bereicherung und Wiederentdeckung von Verschüttetem.37 Bemerkenswert ist, wie diese Umstellung sich auch als beschleunigter Wandel innerhalb nur eines Jahrhunderts ereignen kann. Wie die Studie von Peter Zimmerling zu der charismatischen Bewegung aufweisen kann, wendet sich die Pfingstbewegung, die ihre Entstehung einer intensiven Endzeitstimmung und einer in ein Jenseits ausgreifenden Erlösungsvorstellung und Erlösungsbedürftigkeit verdankt, heute intensiv einer Suche nach einer diesseitigen Lebensfülle zu und inkorporiert hierin deutlich Elemente einer präsentischen Eschatologie. Nicht minder bemerkenswert sind die Beobachtungen zum Umbau innerhalb bestimmter Strömungen des Buddhismus, die Lisa Wevelsiep präsentiert. Ohne dass die Verbindungen zu Schlüsseltraditionen des Buddhismus aufgegeben werden, lassen sich in diesen Traditionen deutliche Suchbewegungen zu einer Sorge und Fürsorge hinsichtlich dieses ganz irdischen Lebens entdecken. Mit diesem exemplarischen Hinweis auf Umbauten von Erlösungsvorstellungen in nicht-christlichen religiösen Traditionen, in denen sich Strukturanalogien zu modernitätsspezifischen Umstellungen in der christlichen Vorstellungswelt erkennen lassen, markiert der Beitrag von Lisa Wevelsiep zugleich das Desiderat einer im vorliegenden Band nicht zu leistenden religionsvergleichenden Untersuchung.38 Im Horizont dieser Umstellungsprozesse lässt sich auch die zumindest für das europäische Christentum des 20. und 21. Jahrhunderts charakteristische Expansion einer hoch professionalisierten und unternehmensförmigen Diakonie neu in den Blick nehmen. Die Diakonie, die in Europa aus der tief pietistisch geprägten inneren Mission hervorgegangen ist, muss, wie Johannes Eurich in seinem Beitrag aufzeigt, heute der Tatsache ins Auge sehen, dass rund 90 % der Beschäftigten sich als kirchendistanzierte Menschen begreifen. Diese Situation kann, jenseits von Beschönigung oder Klage, doppelt betrachtet werden: als 37 Dass diesen Umstellungen innerhalb der universitär-akademischen Theologie nicht notwendig Veränderungen innerhalb der praktischen Frömmigkeitspraxis entsprechen, zeigt eindrücklich der Band von Freytag/Sawicki, Wunderwelten. 38 Vgl. exemplarisch für Ansätze einer solchen Untersuchung klassisch Werblowsky/ Bleeker, Types of Redemption, und aus der neueren Diskussion exemplarisch Schmid/Renz/ Sperber, Heil in Christentum.



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problematische Distanzierung von stark religiös kirchlich geprägten Motivlagen, die sich auch in einer Kirchenbindung niederschlagen würden, aber auch als eine Ausdehnung eines auf die Daseinspflege ausgerichteten Fürsorgeethos. Es wäre jedoch zu einfach gedacht, nur mit verächtlicher Distanz und repressiver Toleranz auf schwierige Grenzlagen dieser Umbauten zu reagieren. So begrüßenswert die Diesseitsorientierung des neuzeitlichen Christentums vor dem Hintergrund biblischer Traditionen und einer machtvollen Religionskritik auch ist, führen Umstellungen diese auch – wie der Beitrag von Alexander Nagel eindrücklich vor Augen führt – in ein religionswissenschaftlich interessantes, aber doch theologisch auch problematisches Terrain. Ausgeprägte Gestalten eines Wohlstandsevangeliums verkörpern nicht nur eine radikale Diesseitsorientierung und eine präsentische Eschatologie, sondern rufen offensichtlich im religiösen Feld nicht weniger radikale Gegenreaktionen hervor. Diese durchaus konsequenten Diesseitsorientierungen lassen die Frage nach den Kriterien einer verantwortbaren Glaubensgestalt aufbrechen, einer Glaubensgestalt, die nicht ein hoffnungsbeflügeltes Jenseits (Avemarie) sucht. Eine akademische Theologie, die auf diese Entwicklung in sogenannten Megachurches, aber auch in Teilen der Ökumene, nicht nur mit Gesten der Entrüstung und des Despektierlichen reagiert, muss theologische Kriterien für eine realistische Rede von einer wirksamen und kräftigen Präsenz des ewigen Lebens in diesem Leben entwickeln. Nur so kann einer Banalisierung des Erlösungsgedankens produktiv begegnet werden. Nicht zuletzt ist – auch hier stellt Charles Taylor eine kritische Stimme dar – zu fragen, ob die radikale Umstellung von einer transzendenzgestützten Erlösung auf eine Religion des Enhancement nicht letztlich doch eine pfadabhängige Fehlentwicklung ist. Endet eine die Endlichkeit des Lebens ernst nehmende Interpretation des Christentums notwendigerweise unter dem theologischen Vorzeichen vom Segen Gottes in einer hoch ambivalenten Affirmation leiblichen Lebens, die das Christentum schlicht zu einem kulturellen Instrument der Lebensermächtigung macht? Wie ist auf diese selbstkritische Frage zu reagieren? Wie die Ausführungen von Markus Höfner deutlich machen, erfordert gerade die theologische Akzentsetzung auf der Endlichkeit des Lebens eine intensive philosophische und theologische Arbeit am Begriff der Endlichkeit und möglichen Zuordnungen von endlicher Zeitlichkeit und Ewigkeit.39 Denn nur so kann es gelingen, ewiges Leben zugunsten endlichen Lebens zu denken und auf diese Weise eine in der theologischen Tradition wirkmächtige, aber letztlich inhumane Vorstellung von Erlösung zu überwinden, der gemäß ewiges Leben auf Kosten endlich-menschlichen Lebens gedacht werden müsste. Im Überschneidungsfeld von Theologie, Philosophie und Ästhetik kann eine Theologie in dieser Situation der gegenwärtigen Suche nach einer bestimmten Rede von Erlösung und ewigem Leben auch auf eine sehr spezifisch bestimmte Unbestimmtheit setzen. Die Frage, welche reflektierte und ver39 Das weitere Problemumfeld reflektiert der Band Höfner/Schaede/Thomas, Endliches Leben.

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antwortbare Gestalt die Erlösung oder das ewige Leben im endlichen Leben finden kann, kann auch qualifiziert zurückgewiesen werden. Die apophatische Theologie und Frömmigkeit, für die Franke plädiert, geht diesen Weg. Die stets als Unbestimmtheit mitgeführte Ewigkeit scheint an den Grenzen der Sprache momenthaft in der apophatischen Erfahrung auf. Hier eröffnen sich überraschende Strukturanalogien und prägnante Differenzen zu den von Alexander Nagel beschriebenen erfahrungs- und ereignisfixierten Frömmigkeitsformen des Predigers Joel Osteen. Auf Bestimmtheitsgewinn setzt dagegen das Essay von William Schweiker. Gegenläufig zu religiösen oder nichtreligiösen Strategien einer Verleugnung endlichen Lebens entfaltet William Schweiker eine ethische Theorie grundlegender Güter. Diesen stärker allgemein anthropologischen Ansatz entwickelt er zu einem letztlich christlichen Humanismus. Das Tableau elementarer Güter führt zu einem wahrhaft gewürdigten endlichen Leben, das sich entfalten kann, ohne weltflüchtige Transzendenz zu kultivieren oder in Räuberei zu enden. Komplementär dazu ist auf Überlegungen Michael Welkers zu verweisen, der sich wie Schweiker kritisch gegen eine theologische Verleugnung endlichen Lebens wendet. Bei aller Distanzierung gegenüber weltflüchtigen Frömmigkeiten hebt Welker jedoch hervor, dass eine der Erde verpflichtete Religion die Kommunikation mit Gott und eine Bezugnahme auf das göttliche Leben erfordert und dass die theologische Rede vom ewigen Leben gerade diese heilvolle Beziehung zur göttlichen Lebendigkeit akzentuiert.40 Welker geht dabei von der Beobachtung aus, dass Jürgen Moltmann in seiner wirkmächtigen Theologie der Hoffnung eine Transzendentalisierung christlicher Eschatologie vollzieht und damit die moderne Skepsis gegenüber jeglicher Ewigkeitseschatologie konstruktiv aufnimmt: Als christliche Hoffnungslehre thematisiert christliche Eschatologie nach Moltmann nicht abstrakt jenseitige „letzte Dinge“, sondern Gottes Zukunft für diese Welt und dieses menschliche Leben – und ist darin transzendentales, formgebendes Medium aller christlichen Theologie. Trotz der bei Moltmann zugleich manifesten Moralisierung christlicher Hoffnung ist sein Ansatz nach Welker als Artikulation der Lebendigkeit ewigen Lebens zu würdigen und kann durch biblisch-theologische Einsichten weiterentwickelt werden. Dafür greift Welker auf die biblische Konzeption des Leibes (soma) zurück, der sowohl physisch („sarkisch“) bedingt als auch psychisch und pneumatisch bestimmt ist. Der Leib kann daher Welker zufolge als Schnittstelle zwischen irdisch-endlichem und ewigem Leben fungieren. Im Aufbau eines sozial verfassten geistigen und geistlichen Leibes (soma pneumatikon) gewinnt dabei nach Welker das ewige Leben im irdischen Leben Gestalt, und dies geschieht sowohl durch Akte der Liebe, schöpferische Selbstzurücknahme zugunsten anderen Lebens, als auch durch die prophetische Suche nach Wahrheit und Gerechtig40  Michael Welker hat diese Überlegungen auf der Forschungstagung „Ende oder Umbau einer Erlösungsreligion?“ vorgetragen. Sie wurden inzwischen an anderer Stelle publiziert. Siehe Welker, Ewigen Leben.



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keit und in liturgisch-gottesdienstlicher Kommunikation. Das ewige Leben als Gestalt der Erlösung findet sich so in einem Handeln einschließenden, aber auch übergreifenden Formzusammenhang.41 Auf sehr unterschiedliche Weise beschreiben und bearbeiten die Beiträge dieses Bandes somit ein doppeltes Problem: Einerseits ist ein nihilistischer Erlösungssupranaturalismus, wie ihn Nietzsche dem Christentum vorgeworfen hat, auch für den christlichen Glauben und seine theologische Reflexion in der Moderne fragwürdig geworden, weil er ewiges Leben auf Kosten und nicht zugunsten endlichen Lebens artikuliert. Auf der anderen Seite droht eine schlichte Affirmation endlichen Lebens zum vitalistischen Evangelium rücksichtsloser Lebenssteigerung zu werden, womit das irdische Leben in seiner Fragilität ebenso negiert würde. So unstrittig die Transformationsimpulse der Reformation und die Umbauten in der Moderne sind, so sehr bestand in der Frage nach der Erlösung und dem ewigen Leben im breiten Strom der jüdisch- und christlichtheologischen Tradition stets eine Optionenvielfalt, die zu einlinige Narrative grundsätzlich infrage stellt. Auch bei aller deutlichen Distanz zu der Vorstellung eines Pilgerlebens aus einem diesseitigen Jammertal in ein herrliches Jenseits markieren die mit den metaphorischen Räumen Erlösung und ewiges Leben zur Sprache gebrachten Sachverhalte auch für eine der Erde treu bleibende Theologie eine kritische Erinnerung. Sie hilft, jenseits einer Theologie der trivialreligiösen Lebensbegleitung und jenseits einer vitalistischen Affirmation des starken Lebens die Konturen der Erlösung neu zu bestimmen.

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I.  Historische Perspektiven und Analysen: Erlösung und ‚ewiges Leben‘ in der christlichen Tradition

Gottes Fülle in menschlicher Lebensnot Alttestamentliche Wahrnehmungen zwischen Erfahrung, Zuschreibung und Konstruktion am Beispiel der Wurzel ‫ׂשבע‬ Jan-Dirk Döhling 1.  Sattheit als Maß der Fülle – Eine alttestamentliche Perspektive „Ich spüre übrigens immer mehr, wie alttestamentlich ich denke und empfinde, so habe ich in den vergangenen Monaten auch viel mehr Altes als Neues Testament gelesen: Nur wenn man die Unaussprechlichkeit des Namens Gottes kennt, darf man auch einmal den Namen Jesus Christus aussprechen, nur wenn man das Leben und die Erde so liebt, dass mit ihr alles verloren und zu Ende zu sein scheint, darf man an die Auferstehung und eine neue Welt glauben, nur wenn man das Gesetz Gottes über sich gelten lässt, darf man wohl auch einmal von Gnade sprechen und nur wenn der Zorn und die Rache Gottes über seine Feinde als gültige Wirklichkeiten stehen bleiben, kann von Vergebung und Feindesliebe etwas unser Herz berühren. Wer zu schnell und zu direkt neutestamentlich sein will, der ist m. E. kein Christ. Man kann und darf das letzte Wort nicht vor dem ersten sprechen. Wir leben im Vorletzten und Glauben das Letzte. Ist es nicht so?“1

Mit diesen Briefzeilen aus der Tegeler Gestapo-Haft vom 5. 12. 1943 profiliert sich Dietrich Bonhoeffer als ‚alttestamentlicher‘ Denker und das Alte Testament als Buch gesteigerten Diesseitsbezugs. Er findet in ihm seine Feindschaft zu den lebensverschlingenden Mächten seiner Zeit, seine Scheu, das Wort Gott auszusprechen, seinen Hunger nach Recht und Gerechtigkeit und seine Liebe zum irdischen Leben, ohne das „alles verloren und zu Ende“ scheint, als biblisch begründet. Christsein wird ihm zur konstitutiv alttestamentlichen Haltung. Zu Bonhoeffers Text wäre Manches anzumerken: (Fast) alles, was er als alttestamentlich benennt, prägt auch das Neue Testament, umgekehrt wurzeln die seines Erachtens wohl spezifisch neutestamentlichen Gegenpole Vergebung, Gnade, Feindesliebe und Auferstehung alle in der Bibel Israels. Auch klingt bei aller Hochschätzung des Alten Testaments ein heilsgeschichtliches Defizit an, das fragen lässt, wie es wohl in Christologie und Gotteslehre ‚aufgehoben‘ werden würde. Doch mahnt die existentielle Tiefe der Sätze auch zum Respekt und ihre große Wirkung auf die christlich-theologische Rezeption des Alten Testaments sogar zur Dankbarkeit. Wird ‚ewiges Leben‘ theologisch und kirchlich meist dem Neuen Testament zugeordnet und vom Alten Testament eher Auskunft zu diesseitiger Lebensfülle 1 

Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, S. 226.

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und -bewältigung erwartet, so hat die kontrastive Zuordnung wohl wenigstens phänomenologisch Plausibilität. Sie trifft religionsgeschichtlich darin etwas Richtiges, dass Konzepte von Auferstehung und ewigem Leben in der hebräischen Bibel eher spät belegt sind. Im Folgenden suche ich Fragen der Lebensfülle – mit Bonhoeffer gesprochen – „im Vorletzten“ auf und frage nach Erfahrungen, Zuschreibungen und Konstruktionen der Gottes-Fülle in menschlicher Lebensnot in der Bibel Israels. Der Genitiv Gottes Fülle betont dabei den Gottesbegriff als Horizont diesseitiger Fülle-Erfahrungen, -Zuschreibungen und -Konstruktionen. Es wird sich zeigen, dass das Alte Testament eben dort durchaus „letzte“ Fragen wachhält. Aus der Breite möglicher Bezugstexte fokussiere ich ein Hauptwort alttestamentlicher Fülle-Semantik, die Wurzel ‫( ׂשבע‬satt sein, satt werden, sich sättigen). Der Beitrag skizziert dazu die Formel vom ‚alten und lebenssatten Sterben‘ als narrative Fülle-Zuschreibung an Einzelne (2.2) und das Konzept des Landes der Sattheit in Dtn 8 als Konstrukt kollektiver Füllewahrnehmung (2.3) und ordnet diesen mit Ps 91 und Jes 65 je einen weiteren für individuelle (2.3) und kollektive (2.4) Füllekonzepte einschlägigen Kontext zu und blickt abschließend auf ein besonderes Fülle-Motiv im Psalter (3.). Verbindend ist jeweils das Leitwort der Sättigung. Wo im Deutschen „Fülle“ etymologisch-semantisch zwischen Vielheit, Vollheit und Überfließen oszilliert,2 kennt auch das Hebräische mit ‫מלא‬ (voll sein) einen Begriff, der wie im Deutschen vom Füllen eines Hohlmaßes aus gedacht ist.3 Mit der Wurzel 4‫( ׂשבע‬satt sein) tritt aber ein somatisch qualifiziertes Konzept hinzu. Wenn der Systematiker R. Miggelbrink einen theologischen Fülle-Begriff der „Mangelobsession“ gegenwärtiger Anthropologie, Ökonomie und Soziobiologie entgegenhält, die Leben bis in die Zellstruktur hinein nur als ad infinitum fortgesetzten Kampf um wesenhaft begrenzte und also unbegrenzt zu hortende Güter darstelle,5 so bestimmt die biblische Wurzel ‫ ׂשבע‬Fülle weder als Gegensatz zur Leere, noch – wie Miggelbrink – direkt aus Gottes unerschöpflicher Fülle. Als Sattheit wurzelt Fülle in der positiven Leibwahrnehmung der Genüge. Ihre Gegenpole sind Hunger und Übelkeit (vgl. Prov 25,16), die somatische Grenzen als wohlbegründet und Wohl begründend zeigen. Maßloses Essen ist entsprechend im Alten Testament Indiz von Inhumanität, im altorientalischen Ugarit ein Wesenszug des Todes.6 Nun könnte man freilich im Blick auf diesen Leibbezug auch fragen, ob die Wurzel ‫ ׂשבע‬überhaupt ‚Fülle‘ im inhaltlich qualifizierten Sinne meine, da doch in den Belegen der „Nahrungsaspekt nicht verloren sei“.7 Dieser Kritik eines vermeintlich zu diesseitigen Füllebegriffs aber steht entgegen, dass naefaesch, die 2 

Grimm, Fülle. Snijders, ‫מלא‬, Sp. 876–877; Bezzel, Fülle. 4  Gerleman, ‫ ;ׂשבע‬Warmuth, ‫ ;ׂשבע‬Bezzel, Fülle. 5  Miggelbrink, Fülle, S. 216–261. 6 Vgl. Gulde, Der Tod als Herrscher; Döhling, Gott und die Gier. 7  Warmuth, ‫ׂשבע‬, Sp. 703, anders Gerleman, ‫ׂשבע‬, Sp. 819 f. 3 Vgl.



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Kehle Organ des Hungers, der Sättigung (vgl. u. a. Prov 13,25) und des Atems, als Leibzentrum und zugleich die verletzlich-empfindsame auf Gott bezogene Person und in diesem Sinne die ‚Seele‘ des Menschen ist,8 sodass eine konzeptionelle Trennung von physischer Sättigung und personaler Erfüllung das alttestamentliche Fülle-Konzept gerade verfehlt. Ergänzt sei ein Diktum Th. W. Adornos,9 der im Wunsch nach diesseitiger Lebenssteigerung eine spezifische Ewigkeitssignatur sieht, nämlich die der ins Anthropologische diffundierten Effektivitäts- und Steigerungslogik der Warenproduktion, auf deren Rückseite permanente Konkurrenz und strukturelle Gewalt als ein Stück „gesunder Ewigkeit“ gelten. Dieser „Sterilität des Immergleichen“ stellt Adorno nun aber keine jenseitige Kompensation hier demütig zu ertragenden Mangels entgegen, sondern ein höchst diesseitiges Ziel gesellschaftlicher Dynamik: „Zart wäre einzig das Gröbste, das niemand mehr hungern soll.“10 Die Sattheit aller ist dabei nach Adorno die Bedingung der Möglichkeit einer Haltung, die angesichts globaler ökologischer und monetärer Ressourcenkrisen an Bedeutung eher gewonnen haben dürfte, dass nämlich Gesellschaften und Individuen nicht länger alles wollen müssen, was sie können.11 Zur Frage nach dem Konnex ökonomischer und kulturell-sozialer Dynamiken der Lebenssteigerung und theologischer und religiöser Ewigkeits-Erwartungen und Transformationen bietet in diesem Sinne das alttestamentliche Ideal der Sattheit als Maß der Fülle wichtige Distinktionen.

2.  Sattheit als Fülle Zwischen narrativer Zuschreibung und Gebetssprache, konstruierter Erfahrung und eschatologischer Vor-Gabe 2.1 „… alt und satt an Tagen“ – Zuschreibung und Wahrnehmung erfüllten Lebens „Alt und lebenssatt“ zu sterben gilt oft als typisch für alttestamentliches Lebensverständnis und als vorbildlich für eine Kultur des Alterns in getroster Endlichkeit und achtsamer Diesseitigkeit.12 Doch wird die Wendung mit Abraham (Gen 25,8), Isaak (Gen 35,29), David (1Chr 23,1; 29,28), Hiob (Hi 42,17) und dem eher unbekannten Priester Jojoda (2Chr 24,15) biblisch nur fünf Personen zugeschrieben. Verankert in späten Texten, aber auch außerbiblisch belegt, gilt die Formel als einem frühen königszeitlichen Idealkonzept zugehörig.13 8 

Schroer/Staubli, Körpersymbolik, S. 61–73; Wolff, Anthropologie, 25–48. Adorno, Minima Moralia, S. 206 f. 10 Ebd. 11  Adorno, Minima Moralia, S. 207. 12  So der Duktus bei Rüegger, Altern im Spannungsfeld, S. 162 f. 13  Leuenberger, Gott in Bewegung, S. 80. 9 

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„Alt und satt an Tagen“ (‫ )זקן וׂשבע ימים‬zu sterben impliziert große Zeiträume:14 Abraham lebt 175 Jahre, Isaak 180, Jojada 130 und Hiob lebt weitere 140 Jahre nach der Wende seiner Not. Gen 6,3 nennt als gottgewolltes Höchstalter ‚nur‘ 120 Jahre. Daten der Königebücher ergeben für die wohl gutgenährten Könige Judas ein Durchschnittsalter von 44 Jahren15 und Paläoanthropologen errechnen für die eisenzeitliche Levante eine Lebenserwartung,16 die mit ca. 35 Jahren etwa der im heutigen Swasiland entspricht.17 Vor diesen antiken und gegenwärtigen Daten sind die o. g. Zahlen immens. Dennoch sind sie mehr als Mengenangaben. Auch David stirbt „satt an Tagen“ (1Chr 29,27), aber nach 2Sam 5,7 ‚nur‘ 70jährig; Ps 90,17 nennt dagegen 80 Jahre als hohes Alter. Wie die runden Zahlen andeuten, tritt zur Dauer eine Art Rundung des Lebens.18 Was aber rundet sich im alten und lebenssatten Sterben? Gen 25,7–11, die Notiz zu Abrahams Tod, zeigt exemplarisch:19 Zur Lebenssattheit (V. 8bα) treten die Altersangabe (V. 7), die Sterbensnotiz (V. 8aα, das „Versammelt-Werden zu den Vätern“ (V. 8bβ), die Bestattung durch die Söhne (V. 9 f.) und deren Fortleben (V. 11f). Doch sind auch Fehlanzeigen zu notieren: Angesichts des in Israels Umwelt prominenten Jenseitsglaubens fällt auf, dass nichts über ein eigenständiges Fortleben des Verstorbenen verlautet. Auffällig im Kontrast zur altorientalisch oft in höfischen Gebeten stehenden Sattheits-Aussage ist ferner, dass sie hier nicht explizit auf Gott zurückgeführt ist. Für die Gegenwart, die oft zwischen Verleugnung („Das ist doch kein Alter.“) und Ersehnen des Todes („Das ist doch kein Leben.“) schwankt, ist ferner bedenkenswert, dass nichts über das Wie des Sterbens, etwa ein friedliches Einschlafen, verlautet.20 Auch ein gesundes Alter ist nicht betont.21 Schließlich meint Lebenssattheit, obwohl dies semantisch möglich wäre (vgl. Ps 123,3 f.; Prov 21,12), auch nie Lebensüberdruss. Hervor stechen dagegen Aspekte der Sozialität: Der Tote geht zu den Vätern (Gen 25,8b); im Begräbnis kommen die Söhne einer altorientalischen Grundpflicht 14  Zu anderen alttestamentlichen Wendungen für hohes Lebensalter vgl. Liess, Sättigung, S. 333 f. 15 Vgl. Wagner, Alt und Lebenssatt, S. 255–272. 16  Lang, Alter, vgl. jedoch Pola, Priesterliche Auffassung, S. 403 ff. 17  A. Wagner, Vorstellungen, S. 260. 18  Neumann-Gorsolke, Tod, S. 111–136, bes. S. 111–113. 19  Vgl. ebd. 20  Das Verb ‫‚ גוע‬verscheiden‘ in der Aussage „und er starb und verschied“ meint anders als teils vorgeschlagen kaum friedliches Einschlafen, wenn es in der Fluterzählung den Massentod bezeichnet (Gen 6,17; 7,21, vgl. Num 17,27). Allenfalls ließe Hi 14,10 f.; 34,15 f. an eine Art Auszehrung der Lebenskraft denken. 21  Die babylonische Königsmutter Adad-guppi beschreibt dagegen die Lebens-Sättigung folgendermaßen: „Ich nun – der Blick der Augen ist hell, und überragend bin ich an Gehör, Hand und Fuß sind gesund und erlesen meine Worte, Speise und Trank bekommen mir, mein Leib ist gesund und fröhlich mein Herz. Meine Kindes-Kindes-Kindes-Kinder, bis zur (von) mir abstammenden vierten Generation, sah ich gesund und munter und sättigte mich an Alter. Sîn der König der Götter, zum Wohle hast du mich angeschaut und meine Tage lang gemacht.“ Zitiert nach: Kaiser (Hg.), Texte aus der Umwelt des AT, S. 482 f. zur Übersetzung Liess, Sättigung, S. 335.



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nach (25,9 f.);22 ihr Fortleben ist im Fokus (25,11–17). Das ordentliche Begräbnis ist im Alten Orient und im Alten Testament als Teil der Passage ins Totenreich hochbedeutsam; nicht oder falsch bestattet zu werden, ist für Lebende und Tote bedrohlich (Dtn 21,22 f., 2Sam 21,10–14).23 Der Blick auf die Nachkommen betont zugleich einen Kontinuitätsaspekt und markiert den Tod nicht als Abriss des individuellen, sondern als Station im kollektiven Lebensfluss. Isaak und Ismael, Jakob und Esau setzen die Nachkommensverheißung fort, Salomo das Werk Davids und Serachja die vorbildliche Amtsführung Jojadas. Artikuliert lebenssattes Sterben die Anerkenntnis individueller Endlichkeit, so ist es zugleich Teil der corporate identity, in die der Tote einbezogen bleibt. Lebenssattheit wird als Phänomen intakter Sozialität am Lebensende wahrgenommen. In diesem Rahmen heißt es in Gen 25,8, Abraham (vgl. David 1Chr 29,28) sei in ‚guter Grauheit‘ (‫ )בׂשיבה טובה‬und ‚alt und satt an Tagen‘ gestorben. Wie das Adjektiv ‫( זקן‬alt, wörtlich bärtig) schließt die Grauheit phänotypisch vom Haar aufs Alter (1Kön 14,4; Jes 46,4; Ps 71,18; u. ö.). Doch ist Lebenslänge nicht per se gut. Wenn Jakob aus Angst um Benjamin fürchtet, seine ‚Grauheit fahre mit Qual in die Grube‘ (Gen 42,38), und wenn David, den Tod der Feinde befehlend, sagt, ‚ihre Grauheit‘ möge ‚mit Blut (‫ )בדם‬ins Totenreich gehen‘ (1Kön 2,6.9), deutet die gute Grauheit in Gen 25,8 und 1Chr 29,28 auf ein von Sorge und Gewalt freies Alter als qualitativen Vorhof der Lebenssattheit.24 Was dies näherhin heißt, verlautet nicht, sondern ist aus den erzählten Biographien zu erschließen. Bei David und Hiob klingen parallel zur Sättigung an Tagen auch Reichtum und Ehre an; Jojada erhält als Folge des gottgefälligen Handelns ein Ehrengrab. In Hiob 42 rahmt das Sehen von zehn Kindern und drei Enkelgenerationen die ‫ׂשבע‬-Aussage. So lässt sich zunächst festhalten: Das Lebens-Sattheitsmotiv weitet ein Grundwort der Nahrungsaufnahme auf die Person aus. Dem somatischen factum brutum tritt gewissermaßen ein somatisches interpretamentum bonum zur Seite. Wie der Leib satt sein kann, so kann auch ein Leben ‚genug haben‘, ohne temporale Fortdauer zu wollen. Das Motiv ist frei von Gedanken des Überdrusses, steht aber als somatische Metapher auch Konzepten prinzipieller Unstillbarkeit des Lebensdurstes oder jenseitiger Erfüllung fern. Zur somatischen Dimension aber gehört die soziale. Lebenssattheit ist keine isolierte Individualaussage, sie impliziert soziale Kohärenz und generationelle Integrität des Lebensflusses über die physische Existenzgrenze hinaus. Im ‚Fortleben‘ in den Kindern und im Eintritt ins Schattenreich der Toten herrscht Kontinuität, ohne Orte jenseitig gesteigerten Lebens nennen zu müssen.

22 vgl.

Assmann, Tod und Jenseits, S. 59–72; sowie Krüger, Auf dem Weg, S. 137–150. E. Zenger, Israel und seine Toten, S. 134.138 f. Zu irregulär bestatteten und darum friedlosen Toten vgl. Abusch, Etemmu, sowie Veijola, Fluch. 24  Neumann-Grosolke, Tod, S. 123–125. 23 Vgl.

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Dies ist bemerkenswert, sei es, dass man das Motiv der frühen Königszeit zuordnet oder auf die weit spätere Textgestalt rekurriert. Denn jeweils gab es – besonders ausgeprägt etwa in Ägypten – parallel zur gesamten Religionsgeschichte Israels eine elaborierte Jenseitstheologie. Wenn es zudem im Glauben Israels etwa seit der mittleren Königszeit eine sukzessive Ausweitungen der Macht Jhwhs im Totenreich gibt,25 lässt sich das Jenseits-Schweigen der Sattheitsaussage kaum als bloße religionsgeschichtliche Vorstufe sehen. Zu bedenken ist überdies, dass die in den Erzähltexten personalisierte Sattheitsaussage, die festhält, dass es ein diesseitiges Maß an Leben geben kann, über das hinaus nicht mehr gelebt werden muss, eine Fremdzuschreibung ist. Lebende sagen sie beendetem Leben nach. Die Erzählstimme weiß ex post und post exitum Einzelne seien alt und lebenssatt verstorben. Ihr Ausnahmestatus und ihr hohes Alter spiegelt zuerst die o. g. Realität vor- und frühzeitigen Sterbens im Alten Orient. Schon dies warnt davor, die Wendung zum Ideal bewundert-wunderlicher Akzeptanz menschlicher Endlichkeit zu (v)erklären. Hinzu kommt eine literarische Spannung. Sie wird deutlich im Vergleich zu altorientalischem Material mit Aussagen zur Lebens-Sattheit. Dieses formuliert inhaltlich teils analog, stellt sich aber meist als direkte Lebenssattheits-Bitte oder gar als die Erhörung dieser Bitte rühmende Selbstbeschreibung dar.26 Biblisch dagegen ist Lebenssattheit nie direkter, personaler Wunsch oder Selbstaussage. Mehr noch, folgt man den erzählten Biographien gilt die Zuschreibung solchen, die in den Erzählungen gerade kein bruchlos ruhiges Alter in sozialem Frieden haben: Hiob bleibt im erneuten Lebensglück trostbedürftig, Abraham und Isaak führen Fremdlings-Existenzen in beschädigten Familienkontexten. David, den die Chronik lebenssatt sterben lässt, verliert nach 2Sam im Alter zwei Kinder, versagt in den Thronfolgewirren und ist schwächlich und impotent. Serachja wird ermordet, statt Jojadas Lebenswerk fortzusetzen.27 Was heißt dies theologisch? Muss man die Fremdzuschreibung der Lebenssattheit unter Kompensationsverdacht stellen? Wird umgekehrt das Fragmentarische des Lebens, wie es in den erzählten Biographien der als ‚lebenssatt gestorben‘ bezeichneten Figuren zu greifen ist, unter eine Fülle-Perspektive gestellt? Oder wird gerade diese Alternative in der Schwebe gehalten, indem zwar vorausgesetzt ist, dass Gott Urheber der Sattheit ist,28 er aber in den Erzähltexten als solcher nicht explizit wird? In jedem Fall halten die personalisierten narrativen Sattheitsnotizen fest, dass innerweltliche Lebenserfüllung möglich sein kann, bzw. sein sollte.

25 Vgl.

Eberhardt, Jahwe, sowie Leuenberger, Gnade, S. 353–358, siehe Anm. 21. Vgl. oben Anm. 21 und Liess, Sättigung, S. 334–336. 27  Vgl. Hi 42, 11; 2Sam 193–1Kön; Gen 16–22; 27,1–47; 2Chr 24,21. 28  ‫ ׂשבע‬im Hifʾil hat in über 80 % der Fälle Gott als Subjekt. 26 



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2.2 „Ich will ihn sättigen mit langem Leben“ – Fülle als (in)direkte Zusage der Gotteswirklichkeit im Leben des Beters Anders erscheint der Modus der Sattheits-Zuschreibung in Ps 91,16a. Der Psalm, der kompositionell mit der Altersthematik in Ps 90,10 und 92,13–15 verknüpft ist,29 hat die beständige Todesgefahr im Blick. Er ist wirkungsgeschichtlich prominent und von V. 11 her mit der Zusage schützender Lebensbegleitung durch Gottes Engel bei Taufeltern äußerst beliebt; Pfarrern und Pfarrerinnen gilt er dagegen oft als (tauf)theologisch unterkomplex. Er wird just im den Eltern wichtigen Engelsbezug in der Erzählung über die Taufe Jeus rezipiert (Mk 1,13b; Mt 4,6.11 || Lk 4,10 f. vgl. 10,19). Analog zum Taufakt ist im PsalmKontext die Lebensfülle, die sich in der Sattheitsaussage artikuliert, mit dem Gottes-Namen verknüpft.30 Die Sprache des Psalms zeigt Nähe zum Kult; er ist als literarische Liturgie lesbar.31 Der Psalm gliedert sich in eine Vertrauensanrede der Beterin (V. 1 f.), korrespondierende Du-Zusagen (V. 3–13) und direkte Ich-Sätze Gottes über den Beter (V. 14–16). Dort erscheint das Sattheitslexem: „Mit Länge der Tage will ich ihn sättigen und ihn meine Rettung/mein Heil sehen lassen.“ ‚Sattheit‘ meint hier, wenn V. 3–13 Krankheit, Feindschaft und Gefahr einspielt, kein schlichtes Wohlergehen am Lebensende, sondern das Bestehen in diesen Nöten. Sie erscheint als eine von sieben Gottestaten in V. 14–16, die mit sieben Verben die nominal gehaltene Grundzusage des Mit-Seins (V. 15aβ) rahmen. Die Vollmaß und Vollkommenheit anzeigende Siebenzahl fungiert dabei als Interpretament des Gottesnamens Jhwh, sodass in den Verben der V. 14–16 die Fülle des Gott-Seins-Gottes aufscheint.32 Entsprechend verknüpft das menschliche Kennen Jhwhs (V. 2. 9. 14) die Teile des Psalms und begründet Gottes Handeln (V. 14–16) am Beter: „Weil er sich an mich hing und meinen Namen kennt, will ich ihn retten …“ (V. 14a). Dieser Konnex akzentuiert die Lebenssättigung neu. Sie korrespondiert in ihrem durativen Akzent eng mit der nominalen Aussage des Mit-Seins Gottes, während die anderen Verben eher Einzeltaten insinuieren. Als eine von sieben Gott namentlich prägenden Taten ist Lebenssatt-Werden in Ps 91 mehr als etwas, das Gott einigen manchmal gibt. Sie ist eine Gott wesentliche Gabe. Dann aber wird, was bisher nicht gesehen wurde, auch die lexematisch phonetische Nähe von Sattheit und Siebenzahl (‫ׂשבע‬/‫ )ׁשבע‬wichtig. Die Wurzeln sind phonetisch so nah verwandt,33 dass Symbolzahl und Lebens-Sättigung für einander trans-

29 

Liess, Sättigung, S. 337–342. Vgl. zur Taufe Jesu in systematisch-theologischer Perspektive: Thomas, Taufe, 44–50. 31  Liess, Sättigung, S. 336; Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, S. 619, vgl. Seybold, Psalmen, S. 362. 32  Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, S. 618 ff. 33  Zur Phonetik der S‑Laute im Nordwestsemitischen vgl. Golinets, Elischeba, passim und Knauf, Midian, S. 161 ff. 30 

28

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parent werden und menschliche Fülle-Sattheit und Gottes Vollkommenheit in Beziehung treten. Ist, wie E. Zenger und K. Koenen zeigen, Ps 91 ein „summarium biblischer Theologie“, das „letztlich allen Frommen“ gilt,34 so kommt Lebenssattheit, die die o. g. Erzählnotizen nur wenigen zuschreiben, als Spiegel der Gottesfülle am Leben des Beters allen zu, die Jhwh namentlich beanspruchen. Wieder aber ist die so qualifizierte Sattheitsaussage keine direkte-personale Zusage, sondern Sprechakt Gottes über den Beter in der dritten Person („Ich will ihn …“). Ist dies ein offiziöser Schlussakkord, der im Verlautbarungsstil die vorigen Du-Zusagen umso sicherer macht?35 M. E. lässt sich die Indirektheit der Verse, die als im Gebet belauschtes Selbstgespräch Gottes lesbar sind,36 auch anders deuten. Sie zeugt von dem Wissen, dass Gottes um seines Namens willen zu hoffende, volle Manifestation in bewahrtem und langem Leben sich nicht bruchlos in die personalisierte Gewissheit der Du-Anrede fügt. Dem entspricht kompositionell, dass die Dynamik der Altersbewertung, die die Ps 90,10f; 91,11 und 92,13–15 überspannt, auch wo das betende Ich zur Zuversicht auf ein „hohes Alter voller Lebenskraft“37 durchdringt, sprachlich in der dritten Person verbleibt (92,15f). Der Riss zwischen Lebenssattheit und Todesrealität, der als das grausame Sterben von Zehntausenden auch im Psalm aufklafft (V. 5–7), bleibt somit bewusst; er tangiert im Geben und Verwehren des Lebens den Namen Jhwhs, das Gottsein Gottes selbst. 2.3 „… wenn Du isst und satt geworden bist “ – Das Konstrukt des guten Landes und die Vergegenwärtigung entzogener Fülle (Dtn 8) Erfahrene und entzogene Sattheitsfülle prägen auch Dtn 8,7–12. Doch weitet sich dort die o. g. Sozialität ins Kollektive. Wieder begegnen die Wurzel 38‫ׂשבע‬, ein somatischer Bezug und eine prägnante Siebenzahl. Das gute Land in Dtn 8 steht textlich in multiplen Kontexten der Lebensnot.39 In der Erzähllogik des Deuteronomiums gehört es zu Moses Abschiedspredigt. Sie blickt voraus aufs Land und zurück auf Wüste und Exodus. Letzteren erlebten Moses Adressaten nach der Erzähllogik des Dtn nämlich nicht mit, da die Auszugsgeneration (Num 14,22 f.) in der Wüste starb. Mose erinnert also im Mangel der Wüste Geborene an Befreiung und Tora als Vorgaben für das Leben im Land der Fülle; zugleich wissen sie: unsere Vorfahren haben diese Gaben einst verspielt.

34 

Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, S. 619 mit Zitat Koenen, Jahwe, S. 33. Belege bei Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, S. 618.624. 36 Ebd. 37  Liess, Sättigung, S. 342. 38  Vgl. Dtn 6,11; 11,15; 14,29; 26,12; 31,20. 39 Vgl. Geiger, Gottesräume, S. 189–192; dies., Erinnerung, S. 15–32. 35 



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Dem fiktiven Wüstensetting korrespondiert in den nachexilischen Entstehungszeiten40 des Dtn.s. auch eine reale Entzogenheit des Landes. Die dtr. Endgestalt blickt zurück auf den Verlust des Landes im frühen 6. Jhdt. Zwar lebten während und nach dem sog. babylonischen Exils Juden und Jüdinnen im Land, doch gab es große Diasporen in Babylon und Ägypten. Auch steht die persische Oberhoheit in latenter Spannung zum Konzept der Gabe des Landes an Israel.41 Das Bild des Landes (Dtn 8,7–10), in dem Israel ist, war und in das es kommt, wird nun zentriert durch Apelle zum Erinnern und Nicht-Vergessen Gottes (‫ׁשכח‬ vgl. mit 6,11 ‫ ׂשבע‬f.) und seiner Gebote (Dtn 8,1. 11. 19 f.). Es ist gerahmt von Gehorsamsmahnungen und Erinnerungen an die Wüste (Dtn 8,2–5.14b–16), an die Versorgung mit Nahrung und Kleidung durch Jhwh und die Demütigung abhängiger Existenz.42 Im guten Land wird Israel von eigener Hände Arbeit satt (‫)ׂשבע‬. Entsprechend schildert V. 12–14 wachsenden Wohlstand, zuvor aber zeichnen V. 7–10 die Vorgaben einer Überflusstopographie.43 Quellen, Flüsse und Seen garantieren dauerhafte Wasserversorgung. Weder muss Israel Brunnen graben, noch sich um Regen sorgen. Die Ebenen sind geradezu „essbare Landschaft[en]“.44 Äcker und Fruchtbäume sind da (vgl. Dtn 6,11) und müssen nicht angelegt werden. Die Steine sind Eisen. Das Land ist eines des Weizens, der Gerste und vieler weiterer Gaben. Zur Alltagskost Weizen und Gerste treten Wein, Öl, Granatäpfeln, Feigen und Honig, die Freude (Ps 104,29; Jes 24,11; Sir 31,27 f.), Gesundheit (Ps 104,15), sakrale Würde (1Kön 17,8–6; Ps 133,2), sinnlich-festliche Süße (Ri 9,10 f.; Hld 4,13; Ps 19,11; 1Chr 12,41) und hohe Seltenheit ausdrücken (Ri 14,18; Hld 4,11). Im ‚guten Land‘ also herrscht nicht nur kein Mangel an Brot, sondern Überfluss an Feinkost. Auffällig korrespondiert dabei das siebenfache Leitwort Land (‫ )ארץ‬mit der Siebenzahl der Güter (8,8).45 Erneut weist die Siebenzahl (‫ )ׁשבע‬auf Fülle und Vollkommenheit, hier des Landes.46 Dort bzw. hier kann man nicht hungern, sondern nur Essen (‫ )אכל‬und Sattwerden (‫( )ׂשבע‬V. 11.12). Näheres Zusehen aber zeigt, dass die beschriebene Überflusstopographie nicht einfach ‚die‘ Realität ist. Trotz der in Dtn 8 erwähnten Wasserfülle, sind wie Dtn 11,11.14 zeigen Niederschläge essentiell für den altorientalischen Re40 

Zur Textgenese: Veijola, Deuteronomium, S. 211. nachexilischen Hörer bzw. Leser sind somit chronologisch und im Blick auf die Gesamtheit Israels zugleich im und außerhalb des Landes. Dieses zeitlich und emotional multivektorielle Setting spiegeln die Anreden im Text: Moses Zuhörer sind außer Landes, werden aber in Dtn 1,5 als die angeredet, die jenseits des Jordans waren, nun also im Land gedacht sind (vgl. Geiger, Erinnerung, S. 16 f.). 42 Vgl. Geiger, Gottesräume, S. 189. 43  Geiger, Erinnerung, S. 18 f. 44  Geiger, Erinnerung, S. 18. 45  Zur Siebenzahl im Blick auf das Land schon in 7,12–16 (V. 13b) und zu 6,10–12 als Vorbereitung des Landthemas in 8,7–12 vgl. Leuenberger, Segenstheologien, S. 311–319. 46  Braulik, Siebenergruppierungen, S. 20. 41  Die

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genfeldbau und 15,11 (gegen und trotz V. 4) notiert nüchtern es werde immer Arme im Land geben. Auch qualitativ konstruiert das Dtn dialektisch, wie schon bei der doppelten Verortung der Zuhörer im und zugleich außerhalb des guten Landes. Die Ebenen von Fülle-Konstruktion und Mangelwissen kommen aber im Dtn zusammen in der Figur des Tora-Gehorsams und hier primär in der sog. Armenethik, die kompositionell die meisten ‫ׂשבע‬-Belege prägt (Dtn 11,14; 14,29; 23,25). Nach Dtn 11,11.14 bleibt Regen aus, wenn Israel die Gebote überhört; ebenso ist in Dtn 15,5.9 die Zusage, es werde keine Armen geben, durchs Hören auf Jhwh und das Handeln danach konditioniert. Das dtn. Armenrecht47 also koppelt agrarische Fülle an das Recht der Armen auf Teilhabe und Sattwerden und sieht den soziotheologischen Segenskreislauf zerrissen, wo Bedürftige aus ihm herausfallen (23,25 ;14,29 ;11,14 ‫)ׂשבע‬. Gott, der über den Gaben des Landes gelobt, bzw. gesegnet werden soll, ist explizit in diesen Kreislauf einbezogen (8,11).48 Die Realität, in der Regen ausbleibt, es Arme gibt und nicht alle immer alles in Fülle haben, wird damit massiv ethisiert. Als entzogene Fülle ist sie Folge von Ungehorsam und Vergesslichkeit. Diese Ethisierung impliziert umgekehrt aber auch eine Potentialität, denn zwischen Realität und Konstrukt öffnet sich ein Weg, der im Tora-Gehorsam begehbar ist. Für den Konnex von Fülle-Potential und ethisch geprägter, utopischer Konzeption sozialer Gerechtigkeit ist dabei zweierlei essentiell. Erstens steht in Dtn 8 (vgl. 6,10 f.) die Fülle-Gabe unkonditioniert vor den späteren Forderungen. Zweitens fußt die ethische Forderung auf einer konkreten somatischen Wahrnehmung, die die Überflusstopographie und menschliche Körperräume verbindet: Hierzu hat M. Geiger gezeigt, dass im Dtn mit Augen, Herz und Hand der Angeredeten spezifische Körperkonzepte verbunden sind, die im Beurteilen und Bezeugen der Taten Gottes (Auge), im Entscheiden und Erinnern des Gottes- und Gebotsbezuges (Herz) und im bewahrenden und bewährenden Handeln (Hand) bestehen.49 Essen und Sattheit in Dtn 8 sind nicht nur mit diesen Konzepten verbunden (vgl. Herz V. 14 und Hand V. 18), sie sind m. E. in sie einzuzeichnen, da Sattwerden die sinnliche Erfahrungsdimension der potentiell allumfassenden Gottes-Güte repräsentiert. Hierauf deutet erneut ein phonetisch-semantischer Konnex von Sattheit und Siebenzahl. Die siebenfältigen Gaben (‫ )ׁשבע‬in V. 7–10 zielen aufs Sattwerden (‫ׂשבע‬ V. 10.12) und so verbinden sich die konkrete Leiberfahrung des Sattseins mit der utopischen Konstruktion der essbaren Landschaft. Entsprechend folgt auf den für alle dtn. Belege konstitutiven Dual von Essen und Sattsein (‫ )וׂשבע אכל‬in 8,11 als einziger konkreter Impuls aus der Fülle-Schil-

47 

Crüsemann, Tora, S. 212–325; Kessler, Rolle. Frettlöh, Segen, S. 326–334. 49  Geiger, Gottesräume, S. 322–324. 48 Vgl.



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derung ein streng theologischer Auftrag: Israel wird, bzw. soll Jhwh loben, genauer, segnen.50 Somit berühren sich am somatischen Haftpunkt des Satt-Seins die Realität(en) der Fülle, des Mangels und des Gottesbezugs. Bleibt dieses segnende Gotteslob und gesättigte Gottsegnen in selbstbezüglicher Sattheit aus, haben sich die Gottes- und die Gebotsvergessenheit, vor der V. 11b. warnt, eingestellt. So werden in der nachexilischen Erzählzeit (utopische) Fülle und konkrete Sattheit füreinander transparent: Die in toto entzogene Fülle ist in jedem konkreten Sattwerden erfahrbar. In diesem Sinne wurde schon in Qumran die Pflicht des Tischsegens bei jedem Mahl von Dtn 8,10.12 her begründet51 und der Talmud expliziert: Jeder, „der ohne Segensspruch von dieser Welt genießt, begeht eine Veruntreuung“ (bBer 35a). Die sog. Realität tritt damit in ein erhellendes Zwielicht. Zwischen der Konstruktion einer so nie erfahrenen Wüstenzeit und der Konstruktion eines so gegenwärtig nicht erfahrbaren Landes materialisiert sich im Essen, Satt-Werden und Gott-Segnen (etwas von) dessen Fülle. Der Konnex von Fülle und Sattheit in Dtn 8 ist dabei ethisch und zugleich aisthetisch geprägt. Der moralischen Kodierung der Realität zur entzogenen Fülle entspricht in jeder verdankten, gott-segnenden Mahlzeit die somatische Kodierung als erfahrene Fülle. Die Erfahrung ist zwar weit entfernt von der beschriebenen (Über-)Fülle des konstruierten Landes, doch wird sie in der dtn Erinnerungslogik für die, die in ihrer Realität satt werden, als je gegenwärtige Fülle somatisch wahrnehmbar noch bevor die Sattgewordenen für die Teilhabe aller in die Pflicht genommen werden. Auch deuteronomisch also kommt das Essen vor der Moral. Konstruiert das Dtn den Konnex zwischen Sattheits-Fülle und Mangelrealität also dergestalt somatisch-ethisch, so adressiert es den Riss zwischen Ideal und Realität gleichsam von unten. Er ist essend, segnend und teilend unter der Vorgabe der vergegenwärtigten Segensfülle je konkret überwindbar. 2.4. „Die Tage meines Volks werden sein wie die Tage eines Baumes …“ – Die Eschatologisierung der Fülle-Erfahrung Die Vision eines neuen Himmels und einer neuen Erde aus Jes 65,17–25, die wirkungsgeschichtlich über Offb 20 bis in zeitgenössische Beerdigungsagenden ausstrahlt, dreht dieses Verhältnis um. Sie enthält nicht das Sattheits-Lexem, nimmt aber deutlich die dtn/dtr. Beschreibung des Landes (vgl. Dtn 6,10–13 und Jes 65,21 f.) und die oben besprochene Figur des langen, erfüllten Lebens auf. Sie führt also die beiden Fülle-Stränge eschatologisch zusammen.

50 Zu ‫ ברך‬als Gott-Segnen vgl. Frettlöh, Segen, S. 384–404 und Leuenberger, Segenstheologien, S. 320. 51  Weinfeld, Deuteronomy 1–11, S. 482.

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Jes 65 denkt trotz der totalen Neuschöpfung individuelles, erfülltes Leben als temporal begrenzt (V. 20) und, wie die Thematik der Gebetserhörung (V. 25) zeigt, als bedürftig. Mit über 100 Jahren, aber nicht früher, gibt es ein LebensGenug, das in seiner Fülle nicht durch Kindersterblichkeit, Gewalt und Hunger vereitelt wird. Die Ich-Rede (17–25) profiliert die dann kollektiv hohe Lebenserwartung und Nahrungsfülle aus Gottes umfassendem, neuschöpferischem Handeln als seine Antwort auf eine vorangehende tiefe Klage (Jes 63 f.). Wohl in früh-hellenistischer Zeit fasst dieser kompositorische Schlussstein des JesajaBuches die neue Welt nach dem Gericht an den Frevlern ins Auge (65,1–16).52 Gottes Handeln reicht vom Kosmos über die Sozialität, symbolisiert im erneuerten Jerusalem, bis zum Individuum; es setzt sich fort im utopischen Tierfrieden, im gelingenden Erwirtschaften des Lebensnotwendigen und einer die ganze Schöpfung betreffenden Unfähigkeit zum Bösen. Was als dann mögliches Leben in sozialer, ökonomischer und ökologischer Sicherheit gilt, spiegelt das, was der Gegenwart fehlt. Die Heilung des o. g. Risses zwischen Utopie und Realität aber wird hier ganz von oben erwartet. Statt des dtr./dtn ethischen Apells, die im Segnen erfahrbare Gaben-Fülle zu teilen, wird eine eschatologische Wende artikuliert, die die ersehnte Fülle einzig von Gott erhofft und auf ihn konzentriert. Der historische Anlass für diese spätnachexilische Konzeption ist strittig. Die einen verbinden ihn mit einer konkreten militärischen Aktion der hellenistischen Hegemonialmacht im Land, andere sehen als Movens der theologischen Zuspitzung nicht äußere Ereignisse, sondern ein inneres Erschöpfungssyndrom der Diesseitshoffnungen angesichts des Ausbleibens der (dtjes und tritojes.) Verheißungen.53 Theologisch bemerkenswert ist, wie V. 18 ff. menschliches Weinen, Klagen und spätere Freude mit Gottes Tun und Empfinden verknüpfen: die Angeredeten sollen sich freuen, dass sich Jerusalem und Gott freuen werden. Der Kontrast zur menschlichen Haltung in V. 19b lässt fragen, ob dies derzeit beide nicht tun. Ähnlich ist im Kontrast zur gesteigerten Unmittelbarkeit der Gebetserhörung (V. 24) zu vermuten, dass die Träger der Vision derzeit solche Erhörung gerade vermissen. Angesicht dieser Signale der Korrespondenz zwischen Welt und Gott und den Hinweisen auf eine entsprechende Transformation beider, wird die Wendung vom neuen Himmel (V. 17) nochmals relevant.54 Sie ist im Alten Testament singulär und verlängert zumindest auf der Bildebene die Transformation der Erde ins ‚Oberirdische‘. Da V. 17 die Einheit eröffnet, wäre genauer zu formulieren: Sie lässt die irdische von einer himmlischen Transformation ausgehen. Nun zählen die Himmel im altorientalischen Weltbild zunächst zum Kosmos und sind somit im Alten Testament Teil der von Gott unterschiedenen Schöpfung 52 

Berges, Jesaja, S. 485–509. Abgrenzung und Datierung, s. Steck, Abschluß, S. 91–96; Leuenberger, Gott in Bewegung, S. 216 f., Berges, Jesaja, S. 481–485. 54 Vgl. Ebach, Utopie, S. 34–56. 53 Zu



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(vgl. Ex 20,4). Man muss also nicht folgern, Jes 65,17 deute eine Transformation Gottes an. Doch wird der Himmel in nachexilischer Zeit auch immer mehr zum distinkten und stabilisierenden Gegenüber des Kosmos. Als dem Ort des weltbegründenden Thrones der Gottheit geht von hier die Konstitution und Erhaltung des Kosmos aus, der sich entlang der axa mundi über Gottesstadt, Gottesberg und Tempel vertikal aufbaut und horizontal stabilisiert, wobei aus dem Innerem, wörtlich dem ‚Herzen‘ des Himmels, aber auch grundstürzenden irdische Veränderungen hervorgehen (Dtn 4,11).55 Ist der Himmel seit nachexilischer Zeit dergestalt fundamental für eine Weltordnung, die sich nach Jes 65 ihrerseits aber fundamental erneuern soll, und deutet – wie gesehen – V. 18 f. ferner die emotionale Partizipation Gottes an der künftigen irdischen Transformation an und konzipiert schließlich das vorangehende Klagegebet explizit einen geschlossenen Himmel (63,19), so lässt sich zwischen der Transformation des Himmels und der ihn bestimmenden göttlichen Macht kaum sauber trennen. Wie immer dies konkret vorzustellen ist, legt Jes 65 m. E. nahe, dass Gott selbst in seinem Gott-Sein in das Erneuerungsgeschehen einbezogen ist, das den Durchbruch der Fülle bewirkt.

3.  „Sattwerden an Gottes Fülle“ – Fazit und Ausblick Die skizzierten Belege der Wurzel ‫ ׂשבע‬profilieren Fülle im Dreieck von individueller Leiblichkeit, Sozialität und Gottesbeziehung. Geht schon die Zuschreibung der Lebens-Sattheit an Einzelne als Wahrnehmung gelingender Sozialität über die Einzelnen hinaus, so gewinnen mit Ps 91, Dtn 8 und Jes 65 die individuelle und kollektive Hoffnung auf erfülltes Leben im Diesseits distinkt theologisches Gewicht. Die Sattheitszuschreibung an einzelne Verstorbene hält gegen Züge der erzählten Biographien und gegen die antike Realität frühen Todes fest, dass es ein Vollmaß an Leben geben kann, über das hinaus nicht mehr gelebt werden muss. Solche Fülle wurzelt real-metaphorisch in der somatischen Wahrnehmung des Sattseins und hat einen sozialen Hof, der die soziale Kohärenz und Kontinuität des ‚beendeten‘ Lebens betont. Ist Gott in den Erzählnotizen zur Lebenssattheit nur impliziter Geber, so ist Fülle in Ps 91,16a nahezu Teil des Gottesbegriffs. Sie erwächst aus der Gottesbeziehung, genauer der Kenntnis des Namens Gottes und dessen Reaktion darauf. Lebens-Sättigung ergibt sich als Summe des Mit-Seins Gottes in diversen Lebensnöten und ist über den Konnex zum Gottesnamen eine Gott selbst definierende Gabe. Im Spiel der Wurzeln seba und scheba (‫ׂשבע‬/‫ )ׁשבע‬manifestiert sie die Fülle Gottes am (im) Leben des betenden Ichs. Das Konstrukt des Landes der Sattheit in Dtn 8 weitet den Sozialbezug von ‫ ׂשבע‬ins Kollektive. Die agrarische Fülle-Vorgabe des guten Landes ist im dtr. 55 

Zum Zusammenhang vgl. Hartenstein, Bilderverbot, S. 29–37.

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Geschichtskonzept und angesichts der ökologisch-ökonomischen Realität der nachexilischen Hörenden entzogene, schuldhaft verlorene Fülle. Das Wortspiel zum siebenfach begüterten Land mit dem Leitwort ‫ ׂשבע‬betont die somatische Wahrnehmbarkeit der Fülle in jedem den Gabe-Charakter des Landes erinnernden sättigenden Mahl. Der mnemotechnisch-somatische Konnex von Fülle und Sattheit überbrückt die Differenz zwischen Füllekonstruktion und Realität ethisch-aisthetisch. Eine nochmalige Weiterung und zugleich eine theologische Zuspitzung hinsichtlich der Erfahrung von Lebensfülle findet sich in der spätprophetisch-frühapokalyptischen Vision in Jes 65,17–25. Sie hält an der Endlichkeit individuell erfüllten Lebens und an der Fülle ökologisch-sozialer Lebensperspektiven für alle (Frommen) fest, erwartet diese aber erst nach einer grundlegenden Neuschöpfung durch und von Gott selbst. Unter der temporalen Verschiebung und der Ausweitung ins Kosmische tritt die anthropologisch aktive Seite der Sattheit zurück und spitzt sich zu auf eine Dynamik in oder an Gott selbst:56 Wo sich das Diesseits ändern und in ihm Erfüllung möglich sein soll, kann es im Himmel nicht bleiben wie es ist. Hoffnung auf Sattheit im und am Diesseits muss die Transformation des Himmels, Gottes Eins-Werden mit seinem Namen, zu denken wagen. Die alttestamentliche ‫ׂשבע‬-Semantik hält somit am Diesseitsaspekt der Fülle fest und weitet im Festhalten an ihrer Geltung für alle den Horizont der Fülle bis in den Gottesbegriff und zur Erwartung kosmischer Neuschöpfung aus. Damit freilich verschärft sich theologisch die Frage nach den gegenwärtigen Erfahrungs- und Erwartungsmodi solcher Fülle. Hinweise, die hier nur skizziert werden können, geben Belege des Psalters, die mit der Wurzel ‫ ׂשבע‬von einer Sättigung an bzw. bei Gott wissen (Ps 16,11; 17,15; 63,6; 65,5) und damit über Formulierungen, die Gott als Geber von sättigender oder erfüllender Gaben zeichnen, hinausgehen.57 Eindrücklich zeigt dies Ps 63,6, der vom Gottes-Durst (V. 2–3) zur Sättigung fortschreitet und überraschend wieder in Bilder der Not mündet (V. 10–12). Der Psalm ist u. a. durch die naefaesch, das Organ bedürftiger Leiblichkeit, gegliedert. Gott ist zunächst im Durst des Beters in V. 2 „im Modus des Begehrtwerdens gegenwärtig“58; in V. 9 aber „hängt“ die Seele an Gott (V. 9) in quasi leiblicher Nähe. Dazwischen konstatiert V. 6 die Sättigung (‫)ׂשבע‬: „Wie mit Fett und Mark sättigt sich meine naefaesch und mit jubelnden Lippen preist dich mein Mund.“ Die Bildebene speist sich aus dem semantischen Feld luxuriöser Nahrung und 56  In diesen weiteren Horizont gehören die hier nicht behandelten Belege der Apokalyptik, die jenseitige Fortexistenz bzw. Auferstehung erhoffen. Vgl. hierzu etwa Fischer, Tod und Jenseits, S. 177–236. 57 Gott sättigt mit Brot, Weizen, Manna oder Wasser (Ps 104,13; 81,17; 78,29; 104,16) oder abstrakter mit Güte, Gnade und Wohlgefallen (Ps 103,5; 104, 28; 107,9), doch ist Gott demgegenüber in den o. g. Belegen syntaktisch direktes (Ps 17,15) oder logisches Objekt der Sättigung (Ps 65,5; 63,5). 58  Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, S. 194.



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vergleicht diese mit dem oralen Vorgang des Gotteslobs. Kaum klar zu entscheiden ist, ob die in Kultsprache formulierte Erfahrung auch auf den Kult als Erfahrungsort weist.59 Es ist undeutlich, was den Umschwung ins Lob bewirkt; doch Hinweise auf neue äußere Umstände fehlen. Eher scheinen der Gotteskontakt und seine Gegenwart im Gebet die ‚Sättigung‘ zu bewirken. Dabei kann die Höherbewertung der Gottesgüte vor dem Leben (V. 4) eine über den Tod hinausweisende implizite Umwertung des Lebensbegriffs andeuten (vgl. jedoch V. 5a).60 Deutlich aber ist das ‚Wie‘ der Transformation, da die Hunger, Bedürftigkeit und Sättigung passiv erfahrenden Leibregionen Mund, Lippen und Kehle als Organe des Gotteslobes (V. 4b8.6b) zugleich höchst aktiv sind und werden. Was sich als spirituelle Erfahrung beschreiben ließe, hat wiederum eine explizit somatische Dimension. Im zentralen Sättigungsmotiv in V. 6 sind diese Modi der Leiblichkeit gezielt aufeinander bezogen. Die Grunderfahrungen von Mangel und Erfüllung, Bedürftigkeit und Aktivität kommen in einem LeibRaum zusammen, der zum Lob-Raum wird: „Der Lobpreis Gottes“, so Erich Zenger, „ist […] die ‚Sättigung‘ der nach Gott dürstenden und hungernden ‚Seele‘.“61

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Gottes Fülle in menschlicher Lebensnot

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Erlösungshoffnung und Lebensgestaltung im Neuen Testament Friedrich Avemarie Problemstellung Der Titel der Bettlektüre einer meiner Töchter verkündete mir jüngst, das Leben sei kurz, und forderte mich auf, ich solle erst mal den Nachtisch essen – eine hübsche Neufassung des alten Carpe diem, von der Botschaft des Neuen Testaments Welten entfernt. Aber das Bewusstsein von der knappen Zeit hat der Sinnspruch mit dem Neuen Testament gemeinsam; ihr biblisches Gegenstück ist die prägnante Kurzformel, auf die der Evangelist Markus die Botschaft Jesu gebracht hat: „Das Reich Gottes ist nahe; tut Buße und glaubt dem Evangelium“ (Mk 1,15). Wo dagegen nicht das drängende Ende und ein hoffnungsbeflügelndes Jenseits, sondern die Gestaltung und Bewältigung der Gegenwart die Inhalte religiöser Praxis bestimmen, klingen solche Parolen der radikalen Hingabe an das einzig Wesentliche dissonant. Nur, so wenig Verlockendes von der Einsicht auszugehen vermag, dass das Leben ja noch lange dauert und deshalb jetzt noch nicht Zeit für den Nachtisch ist, sowenig wartet auch das Neue Testament mit entsprechenden Abwandlungen der Botschaft von der nahen Gottesherrschaft auf. Die bevorstehende Wende, die alles Bisherige relativiert, ist nun einmal das beherrschende Grunddatum des urchristlichen Geschichtsbildes. Die Frage, wie „die Zeit, die bleibt“1, verantwortlich gestaltet werden kann, hat das älteste Christentum zwar durchaus beschäftigt, und hier liegt auch der Ansatzpunkt für das, was sich im Folgenden zum Thema sagen lassen wird; doch fast nirgends im Neuen Testament tritt die gelebte Gegenwart so sehr in den Vordergrund, dass die Perspektive der Erlösung darüber bedeutungslos würde und es dahin käme, dass sich die Sinnstiftung des christlichen Glaubens in der Lebensbegleitung erschöpfte. Bezeichnend ist nicht nur, dass die älteste Christenheit nach allem, was wir wissen, keine Kasualien praktizierte2 und dass die einzige regelmäßig stattfindende Kultfeier, das Herrenmahl (κυριακὸν δεῖπνον, 1Kor 11,20), im Gedenken 1  So der vielzitierte Titel der Römerbrief-Auslegung von Giorgio Agamben; vgl. Agamben, Zeit. 2  Die bereits seit den Anfängen christlicher Mission praktizierte Bekehrungstaufe macht hiervon keine Ausnahme, denn bei ihr fehlt die für Kasualien charakteristische „Anbindung […] an die lebensgeschichtlichen Knotenpunkte“ (Albrecht, Fest und Feier, S. 284). Und über

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an Jesu Heilstod und in der Erwartung seiner Wiederkehr gleich doppelt auf Erlösung ausgerichtet war.3 Bezeichnend ist ebenso, dass spätere Generationen, wenn sie ihr Verständnis von christlichem Lebenswandel auf neutestamentliche Begriffe bringen wollten, ihre Sprachbilder in aller Regel aus dem Kontext der Erlösung und gerade nicht aus dem der Lebensgestaltung gewannen: Nach M. Luther sollte das ganze Leben der Gläubigen eine „Buße“ sein4 – der Versuch, die von Jesus geforderte Sofortreaktion auf die Ankunft der Basileia zu einer Lebenshaltung zu verstetigen. Ph. J. Spener wählte als Komplement zur Rechtfertigung den Begriff der „Wiedergeburt“,5 eine Erlösungsmetapher aus neutestamentlichen Spätschriften wie dem Johannesevangelium (3,3) und dem 1. Petrusbrief (1,3.23).6 A. Ritschl stellte im Titel seines dogmatischen Hauptwerks der Rechtfertigung die „Versöhnung“ zur Seite, einen Grundbegriff der paulinischen Soteriologie (Röm 5,1–11; 2Kor 5,18–20), bei dem er jedoch, anders als bei dem rein passiven Geschehen der Rechtfertigung, bereits das subjektive Moment der Zustimmung der Erlösten zu Gottes Heilsabsicht miteinbezogen sah.7 Und der Gedanke der Gottebenbildlichkeit, wie er gegenwärtig in der Religionspädagogik zur Fundierung eines christlichen Bildungsbegriffs in Anspruch genommen wird, ist, über die priesterschriftliche Urgeschichte hinaus, biblisch ebenfalls bei Paulus verankert,8 und bei ihm gehört auch er in die Soteriologie: Christus als Abbild Gottes ist nach dem Verständnis des Apostels Inhalt und Ermöglichungsgrund der Erleuchtung zum Glauben (2Kor 4,4–6), und implizit ist

die in 1Kor 15,29 erwähnte Vikariatstaufe „für die Toten“ ist zu wenig bekannt, als dass es für Mutmaßungen über eine Art rudimentäre Kasualpraxis Anhalt bieten könnte. 3  Vgl. 1Kor 11,24 f. und Lk 22,19 bzw. 1Kor 11,26 und Didache 10,6. 4  So die erste der 95 Wittenberger Thesen von 1517. 5  Vgl. z. B. Spener, Wiederholungs-Predigten II, S. 202: „Solche wiedergeburt besteht nicht nur allein in der rechtfertigung / wiewol sie sie freylich in sich fasset / oder in gewisser maaß nach sich zeucht […] sondern sie ist auch in uns ein neues geschöpff Gottes / da etwas wahrhaftig in uns gebohren wird / und darnach in uns ist / was vorhin nicht in uns gewesen war […]“. Zu den subjektiv erfahrbaren Kennzeichen der Wiedergeburt vgl. Spener, Wiederholungs-Predigten II, S. 205. In welchem Verhältnis Spener die Wiedergeburt und die Rechtfertigung zueinander stehen sah, wird in der Forschung allerdings kontrovers beurteilt; s. Wallmann, Wiedergeburt; Burkhardt, Wiedergeburt. 6  Zu diesen Stellen s. Lichtenberger, Neuschöpfung, 321–325. Vgl. ferner Tit 3,5. 7 Vgl. Ritschl, Lehre, Bd. 3, S. 76; ders., Unterricht, § 46. Als den Endzweck der Erlösung betrachtete Ritschl die durch sittliches Handeln bestehende Gemeinschaft der Gläubigen, die er mit dem jesuanischen Begriff des Reiches Gottes bezeichnet sah; vgl. Unterricht, § 6. Aus exegetischer Sicht sind diese beiden Ritschlschen Begriffsadaptationen zweifellos mit Problemen behaftet, doch lässt sich nicht leugnen, dass beide in ihrer Grundintention mit neueren Positionen neutestamentlicher Forschung konvergieren: Zur ethischen Dimension von Jesu Reich-Gottes-Predigt vgl. z. B. Merklein, Gottesherrschaft, passim; zur subjektiven Zustimmung als Vollendung des Versöhnungsgeschehens s. Breytenbach, Versöhnung, S. 135–137 (zu 2Kor 5,19 f.). 8  Das zeigt sich etwa, wenn Biehl die Gottebenbildlichkeit des Menschen im Anschluss an J. A. Comenius nicht als natürliche Ausstattung des Menschen, sondern als „Gnade“ und „Aufgabe“ versteht, s. Biehl, Gottebenbildlichkeit, S. 142. Vgl. auch Dressler, Unterscheidungen, S. 70 (mit Hinweis auf E. Jüngel).



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er wohl auch der Fluchtpunkt der endzeitlichen Gleichgestaltung der Gläubigen mit dem Ebenbild Christi (2Kor 3,18; Röm 8,29). Soweit ich sehe, ist es unter den theologiegeschichtlich prominenteren Etikettierungen für christliche Lebensgestaltung allein der Begriff der Heiligung, der auch schon im Neuen Testament in diesem Sinne begegnet. Die wichtigsten Belege liefert auch hierfür wieder Paulus, der von Heiligung allerdings in wesentlich breiterer Bedeutung spricht, als es die einseitig ethische Akzentuierung, die der Ausdruck in den modernen Heiligungsbewegungen erlangt hat,9 vermuten lässt; denn Paulus bezeichnet damit nicht nur Modus und Ziel einer christlichen Lebensführung (1Thess 4,3–8; Röm 6,19.22), sondern auch einen Zustand, der für die Glaubenden durch ihr Sein in Christus bereits verwirklicht ist und dementsprechend im Perfekt Passiv beschrieben werden kann (1Kor 1,2; 6,11; 7,14).10 Ein weiterer Begriff, von dem man erwarten könnte, dass er bereits im Neuen Testament eine deutliche Affinität zu Kontexten der Lebensbegleitung aufweist, ist der des Segens. In der heutigen volkskirchlichen Praxis als Ausdruck einer lebenserhaltenden Zuwendung Gottes11 überaus geschätzt und von seinen alttestamentlichen Wurzeln her auf eine solche Verwendung auch zweifellos angelegt,12 bettet das Neue Testament ihn allerdings regelmäßig in soteriologische Zusammenhänge ein und ordnet ihn diesen unter: Den Kindern, die Jesus segnet, spricht er das Gottesreich zu (Mk 10,13–16); Abrahams Segen bildet nach paulinischem Verständnis die heilsgeschichtliche Grundlage für die Rettung der Völker (Gal 3); die Eucharistiefeier wird vom Segensgestus begleitet, hat aber nicht ihn, sondern die heilvolle Gemeinschaft mit dem Herrn Jesus Christus zum Ziel (Mk 14,22 parr.; vgl. 1Kor 10,16).13 In 1Petr 3,9 wird „Segen“ selbst zu einem „Ausdruck für das eschatologische Heil“.14 Der Gesamteindruck, den dieser Befund vermittelt, rät davon ab, die Frage nach dem Verhältnis von Erlösung und Lebensbegleitung von neutestamentlichen Begriffen her anzugehen. Es empfiehlt sich vielmehr, anhand von aussage9 Vgl. Faupel, Heiligungsbewegungen, Sp. 1576  f. Der Geschichtsabriss von Holthaus bietet zwar keine inhaltliche Klärung des Heiligungsbegriffs, von dem sich die Bewegung leiten ließ, kommt aber immer wieder auf das programmatische Interesse ihrer Vertreter an Ethos und Lebensführung zu sprechen; vgl. Holthaus, Heil. 10 Vgl. Riches, Heiligung, S. 720 f.; Schnelle, Heiligung, Sp. 1572; ausführlich: Schmidt, Heilig. 11 Vgl. Wagner-Rau, Segensraum, passim u. bes. S. 160: „Im Segen wendet sich Gott seiner Schöpfung freundlich zu. […] Der Segen zeigt sich in dem, was Leben gelingen läßt […], in allem, was das Leben grundlegend erhält“. 12 Vgl. Leuenberger, Segen, S. 476: Beim „Gehalt der Segensvollzüge“ geht es „allermeist im Rahmen von ‚Diesseitsreligion‘ um lebenssicherndes und -steigerndes vitales Wohlergehen“, mit einem „primär und hauptsächlich […] materiellen Grundzug, der um ‚geistige‘ Dimensionen ergänzt werden kann.“ Insofern lassen sich „Segensvollzüge […], in denen gelingendes Leben aufscheint, als fragmentarische Erfahrungen des (eschatologischen) Heils bezeichnen.“ (Im Original z. T. kursiv.). 13 Eine christologische Indienstnahme des Segensmotivs begegnet darüber hinaus in Benediktionen über Jesus, die gelegentlich in die Evangelienerzählungen eingestreut sind (Mk 11,9 f. parr.; Lk 1,42; 2,28.34). Vgl. den Überblick bei Heckel, Segen, S. 53–247. 14 So Heckel, Segen, S. 186.

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kräftigen Texten zu beleuchten, wie das Neue Testament auf Fragen der Lebensbegleitung eingeht und inwieweit es Erlösungserwartungen dabei ausblendet oder auch nicht. Geeignete Beispiele bieten Paulus mit dem Römer- und dem 2. Korintherbrief, sodann der 1. Petrusbrief, der Jakobusbrief, das Vaterunser und schließlich das Johannesevangelium. Im Zusammenhang mit letzterem wird allerdings doch noch einmal ein charakteristischer neutestamentlicher Heilsbegriff ins Blickfeld treten, der Begriff des „ewigen Lebens“.

1.  Paulus: Dienst an der Gerechtigkeit, Wandel im Geist, Licht im Tongefäß Die Paulusbriefe werden seit jeher, zumal in protestantischer Tradition, in erster Linie als Basistexte christlicher Soteriologie wahrgenommen, gewiss mit Recht. Doch sollte das nicht den Blick dafür verstellen, dass sich in diesen Briefen zugleich auch ein höchst reflektierter Ethiker zu Wort meldet, einer, der nicht nur mitteilt, was seine Adressatinnen und Adressaten tun oder lassen sollen, sondern immer wieder auch detailliert die Gründe darlegt, aus denen das anempfohlene Verhalten das richtige ist.15 Dass er dieses Begründen offenbar sehr wichtig nahm, ist wohl nicht zuletzt dadurch bedingt, dass ihn der programmatische Verzicht auf eine Judaisierung seiner heidenchristlichen Missionsgemeinden dazu nötigte, die gewohnte Verhaltensorientierung durch die Tora durch überzeugende Alternativen zu ersetzen. Wie dringend der Bedarf war, zeigt besonders der 1. Korintherbrief: Rund zwei Drittel des Schreibens sind Problemen christlicher Lebensgestaltung gewidmet, der Ertrag ließe sich allerdings leicht auf ein knappes Dutzend Regeln wie „keine Ehescheidung“, „keine Exzesse beim Herrenmahl“ oder „Zungenrede nur mit Auslegung“ eindampfen; was die paulinischen Erörterungen so ausführlich macht, sind tatsächlich die Begründungen. Im Römerbrief, der theoretischsten seiner erhaltenen Schriften, geht Paulus über den 1. Korintherbrief noch hinaus, indem er abstrahierend die Bedingungen der Möglichkeit eines christlichen Lebenswandels zu klären versucht. Er tut das in zwei Anläufen, in Kap. 6 und Kap. 8.16 In Kap. 6 fasst er zunächst einige schon früher gemachte Andeutungen (vgl. 3,8; 5,20) in der Frage zusammen, ob denn Christinnen und Christen bei der Sünde bleiben sollen, damit die Gnade desto 15 Die Paulusforschung in Deutschland nimmt dies aber zunehmend zur Kenntnis; s. Zimmermann, Jenseits, Sp. 260; ders., Logik; Landmesser, Begründungsstrukturen, S. 177–180. Einen Rückblick auf die Forschung seit 1872 und eine Analyse ihrer Grundprobleme bietet Schnelle, Begründung, S. 109–116. Betont anders noch Käsemann, Römer, S. 167: „Als ersten christlichen Ethiker kann man ihn [sc. Paulus] schlechterdings nicht bezeichnen“. 16 Vgl. Haacker, Römer, S. 151: Röm 6 hat als „Ziel“ die „Grundlegung der Ethik“; Dunn, Romans 1–8, S. 325: Im Anschluss an die universale soteriologische These von Röm 5,12–21 verspürte Paulus „evidently […] the need to say something about the basic perspective from which believers should see their lives as a whole (and from which they can go on to approach particular ethical issues)“.



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größer werde – was er natürlich verneint. Und dann erläutert er, wie es ihnen möglich ist, ein Leben zu führen, das nicht von der Sünde bestimmt ist: Es ist möglich, weil sie durch ihre Taufe mit dem Tod und der Auferstehung Christi verbunden sind; denn das Mitgekreuzigtwerden mit Christus entreißt sie der Macht der Sünde (6,6; vgl. 6,3), und die Teilhabe an Christi Auferstehung befähigt sie, „in Lebensneuheit“ zu wandeln (6,4; vgl. 6,11). Die Bildsprache des „Herrschaftswechsels“17 wird im Folgenden noch intensiviert: Wem man dient, dessen Sklave ist man (6,16), und wenn man vormals ein Sklave der Sünde war, jetzt aber ein Sklave der Gerechtigkeit ist, so darf man mit Leib und Gliedern nicht länger der Sünde, sondern muss nun der Gerechtigkeit dienen (6,17.19). In gewissem Maße hat Paulus den Perspektivwechsel von der Erlösung zur Lebensbegleitung damit vollzogen. Zumindest liegt der Schwerpunkt der Ausführungen hier eindeutig nicht mehr auf der These von der Rechtfertigung aus Glauben, sondern auf der Frage, wie die Gottesgerechtigkeit im künftigen Lebensvollzug der Gerechtfertigten zur bestimmenden Wirklichkeit werden kann. Das Nomen δοῦλος („Sklave“), das in 6,16–20 im Zentrum steht, verweist nicht mehr auf einen Vorgang, sondern auf einen Status und ein diesem Status entsprechendes, dauerhaftes Tätigsein.18 Zugleich allerdings – und das ist im Blick auf unsere Leitfrage das eigentlich Bedeutsame – behält Paulus seine soteriologische Begrifflichkeit unverändert bei: Sünde und Gerechtigkeit sind als die polaren Bezugsgrößen des Sklavendienstes ständig präsent; am Anfang stehen die Taufe und in ihr als Heilsgrund der Tod und die Auferstehung Christi, wohingegen den Abschluss – und auch das ist für Paulus bezeichnend – ein Ausblick auf die Alternative zwischen dem Tod als dem „Sold der Sünde“ und dem „ewigen Leben in Christus Jesus, unserem Herrn“ (6,23) bildet. In Röm 8,1–13 liegen die Dinge sehr ähnlich. Den Mittelteil des Abschnitts bilden Aussagen, die den christlichen Wandel (8,4) als geleitet vom heiligen Geist beschreiben: gemäß (κατά) dem Geist leben, nach Dingen des Geistes trachten (φρονεῖν), im (ἐν) Geist sein, den Geist in sich wohnen (οἰκεῖν) haben usw. (8,5–11). Es sind Aussagen, die ähnlich wie das Motiv des Sklavendienstes in Röm 6 auf eine dauerhafte Gestaltung des christlichen Daseins zielen. Der Geist selbst wird dabei allerdings wiederum soteriologisch bestimmt, nämlich als „der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckte“ (8,11). Und auch Anfang und Ende des Abschnitts sind soteriologisch flankiert: Das „Gesetz des Geistes“ hat die Befreiung vom „Gesetz der Sünde“ gebracht (8,2); Gott hat durch die Sendung seines Sohnes „die Sünde im Fleisch gerichtet“ (8,3), das Leben „nach dem Fleisch“ führt zum Tod, das Abtöten der verkehrten Werke führt zum Leben (8,13). Auch in der Fokussierung auf die Lebensgestaltung bleibt also das Vorzeichen der Soteriologie stets präsent.19 17 Vgl.

Stuhlmacher, Römer, S. 83; Lohse, Römer, S. 191 und 200. Furnish, Theology, S. 194 f. 19 Vgl. Käsemann, Römer, S. 210: Paulus stellt „unüberhörbar das opus alienum heraus und nimmt dafür in Kauf, daß seine Argumentation durch Motive aus einem anderen Zusammenhang überfremdet wird“. 18 Vgl.

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Von der Perspektive der Erlösung geradezu durchdrungen ist im übrigen Paulus’ Wahrnehmung seines eigenen Lebensschicksals.20 Besonders deutlich wird das in 2Kor 4, wo er sein missionarisches Wirken in V. 10 f. als ein Zurschaustellen des Sterbens Christi am eigenen Leibe beschreibt, an dem aber paradoxerweise zugleich auch Christi Leben offenbar wird. Den Anstoß dazu gab nach V. 6 eine Initialerleuchtung – wahrscheinlich meint er damit seine Damaskusvision21 –, die er mit der Erschaffung des Lichts am ersten Schöpfungstag vergleicht. Doch schränkt er sofort ein, er besitze diesen Lichtschatz nur in einem tönernen Gefäß (4,7), und zur Auflösung dieses Gegensatzes wird es, wie er am Ende des Kapitels ausführt, nur dadurch kommen, dass der „äußere Mensch“, das tönerne Gefäß, vergeht, während der „innere“ täglich erneuert wird. An der künftigen Herrlichkeit gemessen sind freilich die gegenwärtigen Drangsale Kleinigkeiten, da ja das (jetzt noch) Sichtbare vergeht, das (jetzt noch) Unsichtbare aber ewig ist (4,16–18). Chr. Strecker hat im Blick auf diesen Text (und verwandte Stellen bei Paulus), terminologisch an A. van Gennep angelehnt, von „permanenter Liminalität“ gesprochen,22 was mir die Sache ziemlich gut zu treffen scheint: Paulus sieht sich in einer Art Schwebezustand, in dem seine eigentlich schon überwundene Vergangenheit noch andauert, seine auf Durchbruch drängende Zukunft aber bereits Gestalt gewinnt, wobei sich in der einen Christi Sterben und in der anderen Christi Auferstehungsherrlichkeit manifestiert. Eine Entgegensetzung von Erlösung und Lebensbegleitung wäre hier schlicht fehl am Platz; vielmehr ist das, was das Leben begleitet und vorantreibt, die Erlösung selbst.

2.  Der 1. Petrusbrief: Die fremde Welt als Freiraum christlicher Entfaltung Der 1. Petrusbrief, ein pseudepigraphisches Schreiben aus deutlich jüngerer Zeit als die Briefe des Paulus,23 lässt von dem apokalyptischen Äonen-Dualismus des Apostels nichts mehr spüren; die drängende Naherwartung der Frühzeit weicht hier einem weit weniger dynamischen Gegensatz zwischen dem im Himmel für die Gläubigen bereitgehaltenen Heil und ihrem von Leid und Prüfung geprägten gegenwärtigen Erdendasein. Zu den Eigentümlichkeiten des Briefs gehört, dass er diese irdische Existenz metaphorisch als Aufenthalt in der Fremde beschreibt. Schon im Präskript spricht er seine Leserinnen und Leser als „Fremdlinge“, παρεπίδημοι, an (1,1), eine Wortwahl, die nach R. Feldmeier zum Ausdruck bringt, dass die so Angeredeten am Ort ihres Aufenthalts „nicht be20 

Vgl. hierzu auch Avemarie, Heilsgeschichte, S. 372–382. Schmeller, Korinther, S. 248 (Lit.). 22  Strecker, Die liminale Theologie, S. 145 f. (und passim). 23  Zur Ansetzung des Briefs zwischen 70 und 100 n. Chr. s. Feldmeier, Petrus, S. 26 f. Reichert, praeparatio, S. 95, vertritt angesichts der Erwähnung von Christenprozessen bei Plinius d. J. eine Datierung auf „die frühe Zeit Trajans“. 21 Vgl.



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heimatet sind und auch nicht dauerhaft ansässig zu werden beabsichtigen“;24 sie sind, mit F. Prostmeier gesprochen, „aufgrund ihres Christseins die existential ‚Deplazierten‘ in der Welt“.25 Der Gegenpol zur Fremde ist der Himmel als das Ziel der Hoffnung, wo ein „unvergängliches Erbe“ auf die Entfremdeten wartet (1,3 f.), die „Rettung“ (σωτηρία), die ihnen durch Propheten verheißen ist und auf die selbst Engel sehnsüchtige Blicke werfen (1,10–12). Auf die Herausforderungen, vor die die Gläubigen durch ihre vorläufige Fremdlingschaft gestellt sind, wären im Prinzip sehr verschiedene Antworten denkbar: Man könnte sich aus der Umwelt zurückziehen, um seine Andersartigkeit möglichst unbemerkt wahren zu können; man könnte sich im äußeren Verhalten der Umwelt anpassen und sein Christsein als innerliches Hoffnungsgut pflegen; man könnte die Umwelt auch einfach ignorieren und das eigene Verhalten exklusiv an Gottes Gebot ausrichten. Der 1. Petrusbrief indessen vermeidet die Reibung mit der Umwelt nicht, er sucht sie vielmehr.26 Er sieht in der Fremde das Forum, vor dem die Gläubigen sich und ihre Hoffnung behaupten müssen, 2,11 f.: Meine Lieben, ich ermahne euch als Außenseiter (πάροικοι)27 und Fremdlinge (παρεπίδημοι) […], führt unter den Völkern einen guten Lebenswandel, damit sie, wenngleich sie euch als Übeltäter verlästern, in Anbetracht von guten Werken Gott am Tag der Heimsuchung lobpreisen.

Christen werden zwar des Verbrechens bezichtigt, doch indem sie Gutes tun, beweisen sie das Gegenteil und damit die Richtigkeit ihres Glaubens – ein Muster, das in den folgenden Partien des Briefs in Variationen mehrfach wiederkehrt: Ungläubige Ehemänner werden durch den sittsamen Wandel ihrer christlichen Frauen überzeugt (3,1); von christlicher Hoffnung wird jederzeit bereitwillig Rechenschaft gegeben (3,15); guter Wandel beschämt die Verleumder (3,16); und wenn schon Anfeindung, dann lieber wegen guter Taten als wegen böser (2,20; 3,17; 4,15 f.). Die Erfolgschancen dieser Strategie scheinen umso größer, als das Haustafelethos, das der Brief vertritt, sachlich weithin den Werten und sozialen Rollenmustern der antiken Oikonomik entspricht.28 Soteriologie allerdings spielt in diesen Zusammenhängen nur indirekt eine Rolle. So wird zwar der Appell an die Leidensbereitschaft der Adressatinnen und Adressaten mit dem Hinweis bekräftigt, dass Christus „für uns“ gelitten hat (2,21), „als Gerechter für Frevler“ (3,18), doch nur an einer Stelle blitzt kurz der Gedanke auf, dass auch das Leiden der Gläubigen selbst auf ihre Erlösung 24 

Feldmeier, Christen, S. 11. Prostmeier, Handlungsmodelle, S. 386 (mit Hinweis auf N. Brox). 26 Ebenso Prostmeier, Handlungsmodelle, S. 388: Die „Distanz“ der Christen von ihrem „einstigen Lebenshorizont“ bedeutet nicht „Weltflucht“, sondern hebt „auf die Weltkompetenz der Christen ab“. Wagner, Dissidenten, hat dieses für den 1. Petrusbrief charakteristische Weltverhältnis auf den Begriff der „Dissidenz“ gebracht. 27  Übersetzung nach Feldmeier, Petrus, S. 97. 28  Auch wenn das dem Verfasser des Briefes so sicherlich nicht bewusst war; s. Prostmeier, Handlungsmodelle, S. 472 u. passim. 25 

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hin ausgerichtet ist: „[…] denn wer im Fleische leidet, hat mit der Sünde abgeschlossen“ (4,1).29 Und wenn auch hier und da warnende Hinweise auf das bevorstehende Gericht und das nahe Ende eingestreut sind (2,11; 4,5. 7. 17), so ist doch der Lauf der Welt, vor der die χριστιανοί (4,16) ihr Christsein verteidigen, von diesem Ende offenbar unabhängig; wann es eintreten wird, ist im Grunde gleichgültig; der Äonen-Dualismus, der das Weltbild des Paulus bestimmte, geht – wie gesagt – dem 1. Petrusbrief gänzlich ab. Entsprechendes gilt schließlich auch für das künftige Heil im Himmel: Es begleitet das Leben der Gläubigen wie ein Polarstern, der beständig Orientierung gewährt (vgl. 3,7.15; 4,13), es ist aber nicht die treibende Kraft, die dieses Leben auf sein Ziel hinbewegt. So wird die Fremde, in der sie sich aufhalten, zu einem säkularen Freiraum, der ihnen durch unaufhörlich wechselnde Widerstände und Herausforderungen immer wieder neu Gelegenheit zur Bewährung ihrer Hoffnung gibt. Wenn diese Analyse des Weltverhältnisses, in dem der 1. Petrusbrief sich und seine Adressaten vorfindet, im Kern zutrifft, so steht sein Programm einer Religion der Lebensbegleitung bedeutend näher als das der Paulusbriefe. Nur zielt die Begleitung, die er gewährt, nicht auf die Steigerung einer Erfahrungswirklichkeit, die er im Grunde gutheißt („enhancement“), sondern der Bewältigung von Anfeindungen und Krisen („coping“), wie es seiner Wahrnehmung der Welt als Fremde entspricht. Im Jakobusbrief ist das – wie wir sehen werden – anders.

3.  Der Jakobusbrief: Erfüllung irdischer Existenz durch Gottes Mitsein Der Jakobusbrief, ein paränetisch ausgerichteter Diasporabrief,30 irritiert die Forschung bis heute durch die stupende Planlosigkeit der Abfolge seiner einzelnen Themen. Schon „innerhalb von Abschnitten“, so Chr. Burchard, scheint „der Zusammenhang oft locker oder sprunghaft“ und für den „Fortschritt von Abschnitt zu Abschnitt“ gilt das „erst recht“.31 Das erste Kapitel thematisiert in raschem Wechsel die Geduld in der Versuchung (1,2–4), das vorbehaltlose Gebet um Weisheit (1,5–8), Armut und Reichtum (1,9–11), Gott als den Ursprung des Guten und nicht der Versuchung (1,12–18), das Zügeln von Rede und Zorn (1,19 f.; 1,26 f.) und den Zusammenhang von Hören und Handeln (1,18–25). Die folgenden Kapitel behandeln etwas weniger kurzatmig das angemessene Verhalten gegenüber Reichen und Armen (2,1–13), die Werke, die den Glauben erst vollkommen machen (2,14–26), die Bezähmung der Zunge (3,1–12), die Unvereinbarkeit der Weisheit mit Streitsucht (3,13–18), Demut vor Gott im Gegensatz zu Begierde und Freundschaft mit der Welt (4,1–10) sowie die Fürbitte für Kranke (5,13–18). Sie warnen vor Verleumdung (4,11 f.), Selbst29 Nach Feldmeier, Petrus, S. 142, steht hier der paulinische Gedanke der Christusteilhabe im Hintergrund. 30  Zur Gattung des „Diasporabriefs“ s. Niebuhr, Jakobusbrief, passim. 31  Burchard, Jakobusbrief, S. 10.



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sicherheit (4,13–17) und dem Vertrauen auf Reichtum (5,1–6), und sie mahnen zur Geduld (5,7–12) und zum fürsorglichen Umgang mit Sündern in den eigenen Reihen (5,19 f.). Häufig ist dabei auch von den Heils- oder Unheilsfolgen des menschlichen Handelns,32 von Gottes Gericht33 und von der Rettung des Menschen34 die Rede. Wo es also um die Motivierung paränetischer Anliegen geht, ist der Brief mit soteriologischen Topoi durchaus bei der Hand.35 Was er dagegen offenbar nicht voraussetzt, ist, dass sich der Mensch grundsätzlich in einer Lage befände, die nach Erlösung verlangt.36 Besonders aufschlussreich ist in dieser Hinsicht 1,18, wo es heißt, dass Gott „uns nach seinem Ratschluss durch das Wort der Wahrheit geboren“ habe, „damit wir gleichsam zur Erstlingsgabe seiner Geschöpfe würden.“ Man könnte das wohl auch schöpfungstheologisch verstehen; wahrscheinlicher ist aber, dass der Brief hier mit der 1. Person Plural die Christinnen und Christen aus der übrigen Menschheit heraushebt und folglich nicht von ihrer Erschaffung, sondern vom Eintritt in ihr Christsein, ihrer Bekehrung, handelt.37 Umso bemerkenswerter ist aber gerade dann, dass er der Bekehrung keinerlei Konsequenzen zuschreibt, die über die ohnehin gegebene Geschöpflichkeit der Bekehrten wesentlich hinausgehen. Er redet nicht von ewigem Leben, von endzeitlicher Neuschöpfung38 oder der Überwindung von Tod und Vergänglichkeit. Was er den Bekehrten zuspricht, der Status einer „Erstlingsgabe“ der Schöpfung, ist lediglich ein neues, noch exponierteres39 Verhältnis zu dem, was bereits war und ist. Zweifel an der Güte und Vollkommenheit von Gottes Schöpfung wären dem Jakobusbrief fremd. Auch die moralische Anfälligkeit des Menschen, für die der Verfasser als Seelsorger und Mahner gewiss einen scharfen Blick hat,40 ist für ihn doch kein 32 

Vgl. Jak 1,12.15; 4,7–10; 5,3. Vgl. Jak 2,13; 3,1; 4,12; 5,9.12. 34  Vgl. Jak 1,21; 2,14; 4,12; 5,15.20. 35 Vgl. Konradt, Existenz, S. 287: „der Eschatologie kommt eine die Ethik motivierende Funktion zu“. 36 Anders allerdings Mußner, Jakobusbrief, S. 146 („Daß der Mensch ‚gerettet‘ werden muß, ist für Jak eine Selbstverständlichkeit.“); vgl. auch Backhaus, Condicio, S. 146. Niebuhr, Ethik, S. 332, spricht angesichts der Thematisierung von Zweifel und Begierden in 1,6.14 von der „Einsicht“ des Autors in menschliche „Sündenverfallenheit und Hilflosigkeit“; doch Abhilfe kommt hier nach jakobeischer Auffassung bereits durch Geduld (Jak 1,12) und Gebet (Jak 1,5 f.), nicht erst durch ein endzeitliches Erlösungsgeschehen. Vgl. unten zu Jak 5,13–18. 37 Vgl. Konradt, Existenz, S. 42–44. Das Indiz der 1. Person Plural ist aber wohl kein zwingendes, und wenn es hieße: „Aus freiem Ratschluss gebar er die Menschen durch das Wort der Wahrheit […]“, enthielte der Vers gar nichts, was eher auf Konversion als auf Schöpfung hindeuten würde. 38 Vgl. Burchard, Jakobusbrief, S. 79. 39  Vgl. ebd.: „keine Verwandlung, sondern eine Beförderung“. Zur Aussonderung als Implikat des Begriffs der „Erstlingsgabe“ (ἀπαρχή). 40  Vgl. Jak 1,14 f.; 1,20; 1,26 usw.; Begierde, Zorn, zügellose Rede usw. erscheinen an solchen Stellen als Verhaltensoptionen nicht etwa nur einer besonderen Klasse von Frevlern, sondern grundsätzlich aller Menschen. 33 

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Anlass, die Menschheit für so verloren zu halten, dass ihr nur ein endzeitliches Radikalereignis Rettung bringen kann. Man sieht das sehr schön an den Instruktionen zur Fürbitte für Kranke in 5,13–18. Sie beruhen offenbar auf der Annahme, dass die Erkrankung mit Sünden zusammenhängt, die der Patient begangen hat, weshalb das Gebet, das die Ältesten über ihm sprechen, nach 5,15 auch Vergebung erwirken soll; im folgenden Vers wird das verallgemeinert zu der Aufforderung: „Bekennt also einander die Sünden und betet füreinander, damit ihr geheilt werdet.“ Sünden werden hier ebenso wie Krankheiten als alltägliche Begleiterscheinungen des irdischen Daseins betrachtet, und dem entsprechen die Mittel, mit denen der fromme Mensch und der ihm beistehende Kyrios ihnen begegnen: Bekenntnis, Gebet und Vergebung – typische Ausdrucks- und Erlebensformen einer Religiosität der Lebensbegleitung; mit Erlösung und Ewigkeit haben sie nichts zu tun. Rettung der „Seele“ vor dem „Tod“ jedenfalls, wovon im nächsten Abschnitt (dem letzten des Briefs) die Rede ist, hat nur derjenige nötig, der „von der Wahrheit abirrt“. Und selbst dann ist es nicht Gott, der den Irrenden „retten“ wird (σώσει), sondern der Bruder oder die Schwester, die ihn zur Umkehr bewegen (5,20). An einer Stelle scheint immerhin anzuklingen, dass die Endzeit eine Wende zum Besseren bringen müsse: „Habt nun Geduld, Geschwister, bis zur Ankunft des Herrn […]“ (5,7). Denn der Aufruf zur Geduld impliziert ja, dass die Adressaten ihre gegenwärtige Lage als widrig und unpassend empfinden. Es wird aber nicht gesagt, worin dieses Widrige und Unpassende besteht. Und wie immer man diese Leerstelle vom weiteren Briefkontext her auffüllen möchte – Versuchung und Begierde bieten sich an (1,12.14), aber auch Diskriminierung (2,4), Bruderzwist (4,1 f.) und anderes mehr –, so sind dies doch alles Defizite, die sich nach Ansicht des Verfassers auch durch die moralischen Anstrengungen der Betroffenen selbst überwinden lassen, wobei Gott ihr Gebet selbstverständlich hilfreich erhört. Aber nicht nur die Bewältigung moralischer Schwächen und Defizite („coping“) geschieht mit göttlichem Beistand. Auch der irdische Erfolg, die Steigerung des Daseins („enhancement“), soll sub specie Dei erfahren werden. In der condicio Iacobea von 4,15 findet diese Frömmigkeitshaltung ihren vollendeten Ausdruck: Christen und Christinnen, die „reisen […] und Handel treiben und Gewinn machen“ wollen (4,13), laufen Gefahr, ihre Endlichkeit zu verkennen (4,14), wenn sie ihr Planen nicht der Fürsorge Gottes anheimstellen. Darum sollen sie sich auf Gottes Ratschluss ausdrücklich besinnen: „Wenn der Herr es will, so werden wir leben [ζήσομεν] und dies oder jenes tun“ (4,15).41 Was hier als „Leben“ bezeichnet wird, ist nicht ewiges Leben, es ist endliches Dasein, „je geschenktes Heute“42 in einem profanen, alltäglichen Diesseits. Aber gerade ihm verleiht Gott durch seine Zuwendung Wert und Würde und Kraft, lässt es gelingen, macht es, mit K.‑W. Niebuhr gesprochen, zu einer „verdankten 41 

Zur Syntax des Verses s. Backhaus, Condicio, S. 145. Backhaus, Condicio, S. 149.

42 Vgl.



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Existenz“.43 Mit der Formulierung von 1,18, wonach das Geborenwerden aus Gott die Gläubigen in den höchsten Ehrenrang unter den Geschöpfen versetzt, ohne aber doch ihre Geschöpflichkeit zu negieren, steht dies in vollkommenem Einklang.

4.  Das Vaterunser: Endzeithoffnung, dreimal täglich Gegenüber den bisher angesprochenen Texten zeichnet das Vaterunser sich dadurch aus, dass sein Inhalt in einem eigenartigen Spannungsverhältnis zu seiner Verwendung steht: Die zweite Bitte handelt von der Ankunft der Gottesherrschaft und bringt damit das Herzstück der endzeitlichen Heilsbotschaft Jesu zur Sprache, die sechste Bitte redet ausdrücklich von „Erlösung“ (ῥῦσαι), aber schon zwei bis drei Generationen nach Jesus, auf den das Gebet im Kern wohl zurückgeht,44 empfiehlt die Didache eine dreimal tägliche Rezitation (8,3). Ebenso setzen auch Matthäus und Lukas eine regelmäßige Praxis voraus,45 wenn sie es als Gegenstand einer Belehrung Jesu präsentieren, die sie beide gleichlautend mit einem iterativen ὅταν προσεύχησθε („wenn immer ihr betet“) eröffnen (Mt 6,5; Lk 11,2). Im Kontext der Verkündigung Jesu dürfte der eschatologische Sinn des Gebets im Vordergrund gestanden haben. Doch wie U. Luz hervorhebt, sind die meisten der sechs Bitten nicht nur für eschatologische, sondern auch für – wie er es nennt – „ethische“ Deutungen offen,46 was die Einbindung des Textes in eine regelmäßige Gebetspraxis sicherlich begünstigt hat. Schon ein ganz oberflächlicher Blick auf die einzelnen Bitten zeigt das sehr deutlich: (1.) Gottes Name wird nicht nur geheiligt, indem Gott selbst machtvoll in die Weltgeschichte eingreift, sondern auch dadurch, dass Menschen sich demonstrativ zu ihm bekennen und seinen Geboten gehorchen.47 (2.) Auch Gottes Königsherrschaft realisiert sich – wenn man nach den beherrschenden jüdischen Auffassungen geht, die hier im Hintergrund stehen – nicht nur, indem sie als Endzeitereignis in diese Welt einbricht,48 sondern auch, indem Israel täglich neu die Annahme von Gottes 43 

Niebuhr, Ethik, S. 335, in Anlehnung an R. Bultmann. die meist vorsichtig vertretene Mehrheitsmeinung in der gegenwärtigen Forschung; vgl. z. B. Haacker, Was Jesus lehrte; Heininger, Wende; Ostmeyer, Vaterunser. Eine dezidierte Gegenposition bezieht Mell, Vater-Unser. 45  Ein wesentlicher Grund für die liturgische Institutionalisierung des Gebets dürfte das in den Kontexten aller drei Stellen spürbare Bemühen um eine Abgrenzung von anderen jüdischen Gruppierungen gewesen sein; vgl. Tomson, Het Onze Vader. 46  Luz, Matthäus, Bd. 1, S. 441–454. 47 Nach Steudel, Heiligung, S. 256, legt die alttestamentliche und frühjüdische Rede von der Heiligung des Namens sogar „eine bereits ursprünglich intendierte in beide Richtungen offene Interpretation“ nahe. 48  So besonders im Kaddisch-Gebet, dessen Wurzeln vermutlich noch in der Zeit vor der Zerstörung des 2. Tempels liegen und dessen Anfang in einer mittelalterlichen Fassung etwa so lautet: „Groß gemacht und geheiligt sei sein großer Name in der Welt, die er geschaffen hat nach seinem Willen; er lasse seine Königsherrschaft herrschen und seine Erlösung aufsprießen; 44  So

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Geboten vollzieht.49 (3.) Für die Durchsetzung von Gottes Willen auf Erden gilt Entsprechendes. (4.) Das künftige Brot, das schon für heute erbeten wird, lässt sich als (betont bescheidenes50) metonymisches Kürzel für die Alimentation im Alltag verstehen, zugleich aber auch als (ebenso bescheiden untertreibende) Umschreibung für die sättigende Fülle der Endzeit.51 (5.) Dass Vergebung52 für ein gelingendes Erdenleben nicht weniger wichtig ist als für das Bestehen im Jüngsten Gericht, liegt auf der Hand. (6.) Was schließlich die Bewahrung vor Versuchung und die Erlösung vom Bösen angeht, so liefert einerseits der von Jesus geführte Endzeitkampf gegen den Satan und seine Dämonen für diese Bitte einen historisch höchst plausiblen Ursprungskontext, besonders, wenn man τοῦ πονηροῦ als maskuline Form interpretiert; andererseits aber lässt sich um solche Bewahrung und Erlösung selbstverständlich auch in einem ganz uneschatologischen Alltag sinnvoll beten. Die Deutungsoffenheit der Vaterunser-Bitten zeigt, dass ein großer Teil der Heilsbegriffe des frühen Christentums nicht fest an ein bestimmtes Welt- oder Geschichtsverständnis gebunden war. Die sesshaft gewordenen Gemeinden der ersten Jahrhundertwende konnten ihrer Alltagsfrömmigkeit problemlos in denselben Sprachfiguren Ausdruck verschaffen, deren sich die aus dem apokalyptischen Äonen-Dualismus geborene Erlösungshoffnung des Paulus und der Jesus-Bewegung bediente. Dies bestätigt nicht nur unsere Arbeitshypothese, dass sich erst von den unterschiedlichen Kontextualisierungen dieser Sprachfiguren her das religiöse Weltverhältnis derjenigen erschließt, die sie verwendeten. Es liefert vor allem auch für die scheinbar so unpassenden Aneignungen, die Begriffe wie Buße, Wiedergeburt oder Heiligung im Laufe der Rezeptionsgeschichte erfuhren, den gleichsam kanonischen Präzedenzfall und lässt damit auch entsprechende Umprägungen und Neudeutungen in heutiger Zeit grundsätzlich als legitim erscheinen.

er lasse seinen Messias sich nahen und er erlöse sein Volk in Barmherzigkeit […]“ usw.; zitiert nach Lehnardt, Qaddish, S. 310. Heininger, Wende, S. 4 und 24, vermutet, dass Jesus während seiner galiläischen Wirksamkeit mit dem gegenwärtigen Anbruch der Gottesherrschaft gerechnet habe, dass er sich aber mit zunehmendem Widerstand gegen seine Botschaft wieder der futurischen Erwartung Johannes’ des Täufers annäherte; in der 2. Vaterunserbitte spiegele sich diese spätere Phase seiner Verkündigung wider. 49  Mischna Berakhot 2,2 zitiert einen Gelehrten des mittleren 2. Jahrhunderts (R. Jehoschua ben Qorcha) mit dem Diktum, die Abfolge der ersten beiden Bibelabschnitte des Schma-Jisrael (Dtn 6,5–9; 11,13–21) spiegele wider, „dass man erst das Joch des Himmelreichs […] und danach das Joch der Gebote auf sich nehmen soll“. 50  Auf die Bescheidenheit der Brotbitte und des Vaterunsers überhaupt hat mich zu Recht M. Welker hingewiesen. 51  Das singuläre ἐπιούσιος ist nach Luz, Matthäus, Bd. 1, S. 451, am wahrscheinlichsten von ἐπιέναι herzuleiten und hat dann die Bedeutung „morgig“. 52 Die Diktion der Bitte ist stark von der Wirtschaftssprache geprägt, auch wenn kein Zweifel besteht, dass sie nicht vom Erlass von Geldschulden, sondern von Sündenvergebung handelt; vgl. Bazzana, Basileia.



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5.  Die präsentische Eschatologie des Johannesevangeliums Im Johannesevangelium begegnen wir einer Theologie, die die Erlösung und folglich auch die soteriologische Durchdringung des Erlebens der Gegenwart ähnlich stark akzentuiert wie die Paulusbriefe. Vom paulinischen Erlösungsgedanken unterscheidet sich der johanneische aber auffällig durch das, was man gemeinhin als „präsentische Eschatologie“ bezeichnet. Der markanteste Text zur Sache ist der Schluss der Vollmachtsrede in Kap. 5: In den Versen 27–29 kündigt Jesus in konventioneller apokalyptischer Begrifflichkeit die Totenauferstehung und das Gericht über gut und böse an, das er in seiner Funktion als Menschensohn vollziehen wird; in Vers 24 f. schickt er dagegen voraus, dass die Stunde, in der die Toten seine Stimme hören und dadurch zum Leben erweckt werden, jetzt schon gekommen sei. Nachdruck und Interesse des Evangelisten liegen dabei auf der präsentischen, nicht der futurischen Aussage, weshalb letztere im Gefolge R. Bultmanns meist literarkritisch als sekundär ausgeschieden wurde. Man kann aber problemlos auch an der Einheitlichkeit des Textes festhalten, wenn man sich mit J. Frey klarmacht, dass der Hinweis auf „die traditionell geglaubte Vollmacht des Menschensohns“ ja nur den Zweck hat, „die gegenwärtige endzeitliche Vollmacht des Menschen- und Gottessohns […] verständlich zu machen.“53 Denn gemessen an der Auferweckung der Toten am Jüngsten Tag ist für den Evangelisten „die gegenwärtig in der Verkündigung der Gemeinde geschehende Mitteilung des ‚ewigen Lebens‘“ zweifellos das „größere“ Werk.54 Von diesem „ewigen Leben“, der ζωὴ αἰώνιος, sprechen die johanneischen Schriften häufiger als das ganze übrige Neue Testament zusammengenommen,55 und das dürfte kein Zufall sein. Der Ausdruck ist eine der abstraktesten Heilsbezeichnungen, die das frühe Christentum kennt, vielleicht die abstrakteste überhaupt. Während die Begriffe der Rechtfertigung, Versöhnung und Erlösung mit einer auf Sünde, Gottesferne bzw. die Versklavung unter feindliche Mächte fokussierten Anthropologie korrelieren, während die Auferstehung von den Toten das biologische Lebensende voraussetzt und der Ruf zur Heiligung auf eine verantwortete Gestaltung diesseitiger Lebensführung und damit auf Ethik zielt, nimmt die Rede vom „ewigen Leben“ nichts weiter als den uneingeschränkt positiven Wert des Lebens selbst in Anspruch; auf eine konkrete inhaltliche Füllung der Steigerung, die das Attribut „ewig“ denotiert, ist sie dagegen nicht festgelegt. Um auf den Punkt zu bringen, dass die Fülle des Heils bereits im gegenwärtigen Hören auf den gottgesandten Offenbarer erfahren wird, ist daher der Ausdruck ζωὴ αἰώνιος in seiner Abstraktheit wie kein anderer geeignet.56 So erwecken die 53 

Frey, Eschatologie, Bd. 3, S. 470 (Hervorhebungen von F. A.).

54 Ebd.

55  17 Belegen im Johannesevangelium und sechs im 1. Johannesbrief stehen acht bei den Synoptikern, neun im Corpus Paulinum und einem im Judasbrief gegenüber. Zur Rede vom Leben s. jetzt auch Ueberschaer, Theologie. 56 Vgl. hierzu auch die erhellenden Ausführungen bei Dietzfelbinger, Johannes, Bd. 1, S. 348–350.

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vielen konditional strukturierten Heilszusagen des Evangeliums – wie etwa 3,36: „Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben“ – vermutlich durchaus mit Absicht den Eindruck, dass dieses ewige Leben im Wesentlichen in eben dem besteht, was als seine Voraussetzung genannt wird.57 Und in 17,3 wird diese Gleichsetzung in geradezu definitorischer Form auch ausgesprochen: „Dies aber ist das ewige Leben, dass sie dich als den einzig wahren Gott erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast.“ Zu einer Religion der Lebensbegleitung wird die johanneische Soteriologie durch diese emphatische Rede vom ewigen Leben allerdings nicht, eher im Gegenteil. Denn was das Evangelium über die heilvolle Begegnung mit dem Gottessohn hinaus an gegenwärtiger Lebenswirklichkeit thematisiert, beschränkt sich ganz auf die Konsequenzen, die diese Begegnung für die Glaubenden mit sich bringt. Davon handelt vor allem die Abschiedsrede der Kapitel 13–16; es geht hier um das Bleiben in Jesus und das Fruchtbringen (15,1–8), um die Belehrung durch den Parakleten (14,16 f. usw.), geschwisterliche Liebe (13,34; 15,12), den von Jesus der Gemeinde hinterlassenen Frieden (14,27), die Verwandlung von Leid in Freude (16,20–22) und einiges andere mehr, auch den Hass der Welt (15,18 f.) und die Vertreibung aus der Synagoge (16,2). Auf die materialen Gegebenheiten des menschlichen Alltags wird jedoch mit keinem dieser Inhalte Bezug genommen. Sozialbeziehungen, Arbeit und Erwerbsleben, wirtschaftliche und politische Verhältnisse, kulturelle Betätigungen, zeitliche und räumliche Strukturen, all das spielt keine Rolle. Die Außenwelt kommt nur als Quelle von Negativität in den Blick: sie hasst und verstößt; und selbst dieses Hassen und Verstoßen richtet sich nur auf das, was allein im Zentrum der johanneischen Soteriologie steht, die Erkenntnis Gottes in seinem Sohn und Offenbarer, in der das ewige Leben konkret besteht (17,3; 20,31). Zu einer Religion der „Lebensbegleitung“ trägt das Johannesevangelium daher im Grunde nur insofern bei, als es bewusstmacht, dass das „Leben“, zu dessen Begleitung eine solche Religion sich anschickt, nicht Leben im vollen und eigentlichen Sinne sein kann, weil das wahre und ewige Leben in anderem besteht. Dass das begleitete „Leben“ dadurch in die Gefahr gerät, permanent relativiert oder gar in Frage gestellt zu werden, ist allerdings nicht ohne Reiz. Johanneische Zitate gehören zu den Lieblingsstücken volkskirchlicher Agenden, und das kommt schwerlich von ungefähr.

Schluss Wenn das Leben kurz ist, isst man den Nachtisch natürlich zuerst. Aber wie gelingt es, wenn das Leben lang wird, auf den Nachtisch nicht die Lust zu ver57  Vgl. analog Joh 3,15.16; 4,36; 5,25; 6,40.47.54. Vergleichbares gibt es auch in zeitgenössischer jüdischer Literatur, z. B. in Mischna Avot 2,7: „Hat man Worte der Tora erworben, so hat man sich das Leben der kommenden Welt erworben“.



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lieren? Das Neue Testament hat hierauf sehr vielfältige Antworten. Mit Paulus müsste man das Erdendasein als einen einzi­gen langen Nachtisch auskosten; Jakobusbrief und Vaterunser präsentieren uns den Alltag als großes Menü von vielen kleinen Nachtischen; der 1. Petrusbrief lehrt uns, zur Einstim­mung auch die Vorspeisen und Hauptgerichte zu würdigen, und Johannes will uns bei jedem Bissen bedenken lassen, dass Nachtisch eigentlich anders schmeckt. Alle haben sie aber gemeinsam, dass sie Lebensorientierung nicht ohne die Perspektive der Erlösung gewähren. Ihr Erlösungsbewusstsein ist vielmehr gerade die Quelle für die Begriffe und Sprachbilder, mit denen sie einem christlichen Erdendasein Sinn, Struktur und auch die nötige Relativität einzuflößen vermögen. Bevorstehende innerreligiöse Umbaumaßnahmen kann man deshalb vom Neuen Testament her gelassen angehen.

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„Teilweise auferstehen wäre eine Strafe, keine Erlösung“1 Tertullians Verteidigung der fleischlichen Auferstehung und des göttlichen Gerichts als Beginn des ewigen Lebens Katharina Greschat „Ich glaube an die Auferstehung der Toten und das ewige Leben“, so sprechen Christen mit den Worten des Apostolischen Bekenntnisses in fast jedem Gottesdienst.2 Doch nach einer Umfrage des Magazins DER SPIEGEL aus dem Jahr 2005 beantworten nur noch die Hälfte der Protestanten in Deutschland die Frage: „Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?“ mit Ja.3 Offensichtlich hat das ewige Leben auch bei Protestanten an Bedeutung oder Gewicht verloren und nach der Auferstehung der Toten wird schon gar nicht mehr gefragt. Umso mehr erstaunt es, dass sich dennoch die „Wiederkehr der alten Orientierungsfragen in öffentlichen Debatten, in den Medien, auf dem Buchmarkt und in akademischen Zirkeln“4 beobachten lässt. Zu Ostern 2007 brachte eben dieses Magazin eine Titelgeschichte zum Thema „Unsterblichkeit der Seele“ heraus, die aufgrund des unerwartet großen Erfolgs zu einem essayistischen Buch erweitert wurde, das betont ganz und gar untheologisch von den letzten Dingen handelt.5 Darin zeigt sich der Autor – nach eigenem Bekunden – jenseits einer strikten Beweisbarkeit trotz allem „von der fundamentalen Nicht-Sterblichkeit der Seele überzeugt“.6 Wenn also die zentral christliche Hoffnung auf Auferstehung der Toten und das ewige Leben nicht mehr tragen, so darf es mit dem Tod dennoch kein totales Ende des Lebens geben. Somit bleibt also von der Vorstellung eines ewigen Lebens nur noch das Fortleben der Seele als Chiffre für eine stark verdünnte Konzeption eines letztlich unklaren Weiterlebens übrig, wobei dann allerdings fraglich bleibt, was unter dieser Seele verstanden wird und wie man sich ihren Fortbestand denken soll.

1 

Tertullian, Adv. Marc. I,24,6: […] ex parte resurgere multari erit, non liberari. Vgl. zur komplexen Überlieferung dieser Aussage auch Lehtipuu, Debates, S. 109 f. 3  Kaiser/Kneip/Smoltczyk, Kreuz mit den Deutschen, S. 138. 4  Schreiber, Unsterblichkeit der Seele, S. 10. 5 Ebd. 6  Schreiber, Unsterblichkeit der Seele, S. 13. 2 

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1.  Die Todesverachtung der frühen Christen Blickt man auf das frühe Christentum und nähert sich diesem zunächst einmal mit den Augen der nichtchristlichen Zeitgenossen in den ersten Jahrhunderten, dann fällt die eigenartige Todesverachtung dieser Menschen sofort auf:7 „Die Unglückseligen nämlich haben sich eingeredet, dass sie gänzlich unsterblich seien und in Ewigkeit leben würden, weswegen sie den Tod verachten […]“.8 Auch wenn man von den Ansichten dieser merkwürdigen Leute nicht viel wusste und noch weniger von ihnen hielt, so erregte zumindest ihre unerschütterliche Zuversicht, unsterblich zu sein und in Ewigkeit zu leben, immerhin einige Aufmerksamkeit. Doch was gab den Christen diese Gewissheit, deretwegen sie den Tod nicht fürchteten? Was erhofften und erwarteten sie vom ewigen Leben? Wie stellten sie sich die Auferstehung der Toten überhaupt vor? An dieser Stelle lohnt ein Blick in die Schriften des streitbaren Nordafrikaners Tertullian, der am Ende des zweiten und zu Beginn des dritten Jahrhunderts in Karthago tätig war. In einer Reihe von hitzigen Auseinandersetzungen, gerade auch mit anders denkenden Christen, die davon ausgingen, dass nur die Seele des Menschen weiterlebt,9 betonte er wieder und wieder die unmittelbare und nicht auflösbare Einheit von Seele und Leib, weswegen er gerade auch die Auferstehung des Leibes für entscheidend hielt.10 Ja, für ihn war vielmehr der menschliche Körper – und nicht etwa allein die Seele – der entscheidende Garant dafür, dass es sich wirklich um diesen einen und einzigartigen Menschen handelt.11

2.  Haben denn Christen keine Freude am Leben und sehnen sich deswegen nach dem Tod? In vielen seiner Schriften geht es Tertullian darum, seine christlichen Glaubensbrüder und -schwestern dazu anzuhalten, eine gewisse Distanz zu dieser Welt zu wahren und sich nicht vorbehaltlos all ihren Vergnügungen und Annehmlichkeiten hinzugeben.12 Tertullian weiß selbstverständlich sehr genau, dass 7  Plinius Ep. X,96 wundert sich darüber ebenso wie der Arzt und Philosoph Galen, der den Christen damit als philosophischer Richtung eine gewisse Anerkennung entgegenbringt. Vgl. Walzer, Galen on Jews, S. 15 (fr. 6). 8  Lukian, De morte Peregrini 13: πεπείκασι γὰρ αὐτοὺς οἱ κακοδαίμονες τὸ μὲν ὅλον ἀθάνατοι ἔσεσθαι καὶ βιώσεσθαι τὸν ἀεὶ χρόνον, παρ ὅ καὶ καταφρονοῦσιν τοῦ θανάτου. Vgl. auch Schmidt, Auferstehung der Toten. 9  In De anima stellt er seine Konzeption der menschlichen Seele vor, die deutlich stoisch und damit von einer besonderen, d. h. feinstofflichen Materialität geprägt ist, vgl. Waszink, Tertulliani De Anima und Markschies, Gottes Körper, S. 157–159. 10 Gemeinsam mit Irenaeus war Tertullian einer der deutlichsten Vertreter einer Auferstehung des Fleisches, vgl. auch Lehtipuu, Debates, S. 5. 11  Vgl. auch Walker Bynum, Resurrection, S. 35 f.: „The whole person must be rewarded or punished, he asserts, because it was the whole person (soul and body intermingled) that sinned or behave in virtue“. 12  Vgl. noch immer die grundlegende Studie von Barnes, Tertullian.



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den Christen vorgeworfen wird, sie seien einzig und allein deshalb „ein zum Sterben stets bereiter Menschenschlag“,13 weil sie ja sowieso keinerlei Freude in dieser Welt kennten und die Welt aus diesem Grunde auch verachteten.14 Wer an diesem Leben keinerlei Gefallen findet, der ist gerne bereit, diese Welt für immer zu verlassen. Das gilt aber ganz offensichtlich keineswegs für alle Christen in Karthago: manche von ihnen wollten sich die zeitgenössische Form der Zerstreuung und Unterhaltung – ganz konkret den Besuch der Schauspiele im Theater und den Arenen – nicht so einfach vermiesen lassen15 und argumentierten, „alle Dinge seien von Gott eingerichtet und dem Menschen zugewiesen“,16 und damit eben auch die Vergnügungen der Schauspiele. Die Einzelheiten dieser mit großer Leidenschaft geführten Auseinandersetzung – auch die uns bisweilen komisch anmutenden Argumente der Gegner Tertullians, dass die Werkstoffe, aus denen die Spielstätten seien, schließlich von Gott selbst stammten und die Veranstaltungen ja unter Gottes freiem Himmel durchgeführt werden17 – müssen uns an dieser Stelle nicht näher beschäftigen. Wichtig ist für unseren Zusammenhang vielmehr, dass Tertullian gerade den Christen, die bereit sind, hier und jetzt auf dieses Vergnügen zu verzichten, ein ungleich besseres und großartigeres Schauspiel verspricht, wenn Christus als der Herr wiederkommen wird und dann endlich selbst auf die Bühne tritt, um sein göttliches Gericht zu halten.18 Tertullian berauscht sich geradezu daran, sich die Überraschung seiner Zeitgenossen möglichst plastisch vorzustellen, denn dann bekommen die Christen noch sehr viel mehr geboten, als die Annehmlichkeiten und Vergnügungen dieser Welt ihnen je hätten bieten könnten: „Hier ist, würde ich ihnen dann sagen, der Sohn des Zimmermanns und der Dirne, der Sabbatschänder, der Samariter, der Mensch, der den Teufel haben soll. Das ist er, den ihr dem Judas abgekauft habt, das ist er, den ihr mit dem Rohr und mit Ohrfeigen misshandelt, durch Anspeien besudelt, mit Galle und Essig getränkt habt. Das ist der, den die Schüler heimlich entwendet haben, um nachher sagen zu können, er sei auferstanden, den der Gärtner beiseitegeschafft hat, damit nicht durch die Menge der Besucher sein Salat beschädigt würde. Solches zu schauen und darüber zu frohlocken, das kann dir kein Prätor, kein Konsul, kein Quästor oder Götzenpriester mit all seiner Freigebigkeit gewähren. Und doch haben wir diese Dinge durch den Glauben im Geiste und in der Vorstellung bereits gewissermaßen gegenwärtig. Wie aber mag vollends das beschaffen sein, was kein Auge gesehen, kein Ohr gehört hat, und was in keines Menschen Herz gekommen ist!“19 13 

[…].

Tertullian, De spectaculis 1,5: sunt qui existimant Christianos, expeditum morti genus

14 Ebd. 15 

Vgl. dazu auch Kessler, Tertullian und das Vergnügen. Tertullian, De spectaculis 2,1: omnia a deo instituta et homini attributa […]. 17  Tertullian, De spectaculis 2,2. 18  Vgl. zur Vorstellung des göttlichen Gerichts im Frühjudentum und Christentum auch Kensky, Trying Man. 19  Tertullian, De spectaculis 30,6 f.: Hic est ille, dicam, fabri aut quaestuariae filius, sabbati destructor, Samarites et daemonium habens; hic est quem a Iuda redemistis, hic est ille harundine et colaphis diverberatus, sputamentis dedecoratus, felle et aceto potatus; hic est, quem clam dis16 

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Man kann förmlich die ungeheure Genugtuung spüren, die Tertullian angesichts der Vorstellung von der Wiederkunft Christi und des damit beginnenden ewigen Lebens empfindet. Mit diesem von den gedemütigten Christen herbeigesehnten Moment ist es endlich soweit: als Ausgleich für den hier im hiesigen Leben so häufig erlittenen Spott und Hohn dürfen sich dann endlich auch die Christen nach Herzenslust vergnügen, über die Demütigungen der Anderen frohlocken, ihren Emotionen freien Lauf lassen und dabei eben auch die pure Schadenfreude empfinden!20 Das alles ist in ihrem Geist und in der Vorstellung schon jetzt sehr gegenwärtig. Und darüber hinaus gibt es zugleich noch etwas ganz Anderes, das jegliche Vorstellung übersteigt. Für Tertullian meint das ewige Leben also die Verbindung aus sehr konkreter Veranschaulichung im Sinne von Hoffnungen, Wünschen und Träumen nach einem besseren Leben, nach Gerechtigkeit und einem verdienten Ausgleich für das erlittene Unrecht. Darüber hinaus erwarten sie aber auch etwas gänzlich Unanschauliches, das dem menschlich Erleb- und Erfahrbarem noch nicht zugänglich ist.

3.  Braucht auch der auferstandene Mensch unbedingt einen Körper? Doch wer ist dieser Mensch, der künftig in der Ewigkeit leben wird und gleichsam als Auftakt seines neuen Lebens dieses große und unvergleichliche Schauspiel miterleben darf? Handelt es sich um die endlich von ihrem lästigen Körper befreite Seele, die im Unterschied zum vergänglichen Körper ewig weiterlebt? Auch unter den frühen Christen war das eine sehr weit verbreitete Vorstellung, wie etwa Origenes bezeugt: „Nicht allein bei Christen und Juden, sondern auch bei vielen Griechen und Barbaren herrscht der Glaube, dass die menschliche Seele nach ihrer Trennung vom Körper fortbesteht und lebt.“21

Ihnen allen – Juden, Christen, Griechen und Nichtgriechen – galt der Körper als Ursprung von Sinnlichkeit und Vergänglichkeit, als eine belastende Fessel centes subripuerunt, ut surrexisse dicatur, vel hortulanus detraxit, ne lactucae suae frequentia commeantium adlaederentur. Ut talia spectes, ut talibus exultes, quis tibi praetor aut consul aut quaestor aut sacerdos de sua liberalitate praestabit? Et tamen haec iam quodammodo habemus per fidem spiritu imaginante repraesentata. Ceterum qualia illa sunt, quae nec oculus vidit nec auris audivit nec in cor hominis ascenderunt. Vgl. zu diesem berühmten Kapitel auch Casey, After Lives, S. 126–130. Casey macht darauf aufmerksam, dass Edward Gibbon im 15. Kapitel seines monumentalen Werkes: „The Decline and Fall of the Roman Empire“ diesen Text zum Anlass nimmt, nicht nur Tertullian, sondern dem Christentum insgesamt Unmenschlichkeit vorzuwerfen. 20  Für Friedrich Nietzsches „Genealogie der Moral“ war genau dieses Kapitel ein weiterer Beweis dafür, dass das Christentum eine Religion der Rache und des Hasses sei. Statt der ewigen Seligkeit gehe es vielmehr um den ewigen Hass! Vgl. Nietzsche, Genealogie der Moral, S. 284 f. 21  Origenes, Contra Celsum VII,5: Ἀλλὰ καὶ εἴπερ πεπίστευται οὐ παρὰ Χριστιανοῖς καὶ Ἰουδαίοις μόνοις ἀλλὰ καὶ παρ‘ ἄλλοις πολλοῖς Ἑλλήνων καὶ βαρβάρων ὅτι ζῇ καὶ ὑπάρχει μετὰ τὸν ἀπὸ τοῦ σώματος χωρισμὸν ἡ ἀνθρωπίνη ψυχή.



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für die Seele, die es möglichst vollständig abzustreifen galt, um als reines Geistwesen in die eigentliche Heimat zurückkehren zu können.22 Doch für Tertullian ist diese Vorstellung keineswegs auch nur ansatzweise zufriedenstellend, für ihn müssen sowohl die Seele als auch der Körper auferstehen, um erlöst und in Ewigkeit zu leben.23 „Teilweise auferstehen wäre eine Strafe, keine Erlösung“,24 hält er Marcion25, einem seiner christlichen Hauptgegner entgegen, der als gebildeter Zeitgenosse annimmt, mit dem Tod gehe der vom Demiurgen verfertigte menschliche Leib endgültig zugrunde und Christus als Sohn des vollkommen gütigen Gottes rette daher auch lediglich die menschliche Seele.26 Tertullians Vorwurf, Marcions Ansicht käme einer unzulässigen „Halbierung des Erlösungswerkes“27 gleich, dürfte diesen sicherlich empfindlich getroffen haben, da er – nach allem, was wir wissen – im Gegenteil davon überzeugt war, eine ungleich vollkommenere Erlösung zu verkündigen. Schließlich sei seiner Meinung nach alles, was bisher bestanden habe, verderblich und nichtig, so dass die Erlösung durch Christus eben nicht nur vom irdischen Leib, sondern auch von der materiellen Welt und sogar von ihrem Schöpfer und Herrn befreie.28 Einen Leib habe Christus aber nur deshalb angenommen, um sichtbar zu sein und mit den Menschen in Kontakt treten zu können.29 Höchst ironisch bemerkt Tertullian dazu: „Soviel ich weiß, gibt es bei ihm [Marcion] ja eine Taufe für den Leib, der Leib entsagt der Ehe und erleidet beim Bekenntnis Grausamkeiten“,30 d. h. selbst die unsterbliche Seele eines gläubigen Marcioniten kommt in diesem Leben nicht ganz ohne die Mithilfe ihres ungeliebten und lästigen Körpers aus. Tertullian kann deshalb nicht einsehen, dass sich der überaus gute Gott zwar der menschlichen Seele erbarmt, den Leib bei der Erlösung jedoch schlichtweg übergeht. Um die Absurdität dieser Vorstellung noch anschaulicher zu machen, beruft er sich auf das Gleichnis vom verlorenen Schaf und fragt: 22 

Vgl. auch Emilsson, Platonic Soul; Refoulé, Immortalité de l’âme. Zur Auferstehung des Fleisches vgl. auch 2Clem. 9,1. Tertullian weiß sich diesbezüglich einer alten Tradition verpflichtet, wie er in virg. vel. 1 und auch praescr. haer. 13 deutlich macht, wo er ebenfalls auf eine ihm bekannte regula fidei zurückgreift, die von der Auferstehung des Fleisches spricht, vgl. dazu auch die Untersuchung von Alexandre, L’anthropologie réaliste. 24  Tertullian, Adv. Marc. I,24,6; vgl. Anm. 1. 25  Vgl. zu Marcion jetzt die wichtige Untersuchung von Lieu, Marcion. 26  Vgl. Anm. 24. 27  Tertullian, Adv. Marc. I,24,5. 28  Tertullian, Adv. Marc. I,15 zu Marcions neuer Schöpfung. Vgl. auch von Harnack, Marcion, S. 96. 29  Tertullian, Adv. Marc. III,20,2. Zur Bedeutung Marcions für die frühchristliche Vorstellung von der Auferstehung Christi vgl. jetzt auch Vinzent, Christ’s Resurrection. Der letzte, äußerst pointierte Satz dieser Untersuchung lautet: „Without Marcion, the Christian creed might have ended with the passion, as the earliest baptismal questions did: do you believe in Jesus Christ – who was born and suffered (natum et passum)?“. Allerdings halten eine Reihe namhafter Gelehrter die Bedeutung, die Vinzent den Ansichten Marcions zuschreibt, für stark übertrieben, wie etwa Lionel Wickham in seiner Rezension des Buches. 30  Tertullian, Adv. Marc. I,24,4: quod sciam et caro tinguitur apud illum et caro de nuptiis tollitur et caro in confessione nominis desaevitur. 23 

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„Oder ist etwa das Schaf im Evangelium ohne Leib verloren gegangen und ohne Leib zurückgebracht worden? Wird mit der Seele, weil es eben ein heiles Stück Vieh war, auch sein Leib auf den Schultern des guten Hirten herbeigebracht, so ist es jedenfalls ein Beleg dafür, dass auch der Mensch beiden Bestandteilen nach wiederherzustellen ist.“31

Denn für Tertullian gehört im deutlichen Unterschied zu Marcion der Körper ganz wesentlich zum Menschsein dazu. Mit der Frage: „Was ist der Mensch denn anderes als ein Leib?“32 provoziert er seinen Gegner noch mehr.33 Denn das könne man bereits in der Schöpfungserzählung lesen, wo beschrieben wird, dass der Mensch zuallererst aus Lehm eben als ein Leib geformt und erst danach mit einer lebendigen Seele ausgestattet worden sei.34 Insofern fragt Tertullian, wie jemand auf die Idee komme zu meinen, der Leib als Partner und Genosse der Seele35 könne – wenn er auch hier und jetzt nur zeitlich existiere – nicht auch ebenso wie diese ewig werden.36 Also gehören nicht allein in diesem Leben Leib und Seele des Menschen ebenso untrennbar zusammen wie göttliche Schöpfung und Erlösung.37 Aus diesem Grund weist Tertullian in seiner Schrift über die Auferstehung des Fleisches, die sich vor allem gegen Marcioniten und Gnostiker wendet,38 die Vorstellung von einer Aufteilung des Menschen in eine gute, zur Erlösung fähige Seele und einen das Böse befördernde, nicht erlösungsfähigen Leib mit aller Entschiedenheit zurück.39 Die menschliche Bosheit kann unmöglich auf den Körper beschränkt bleiben, wenn man die sittliche Verantwortung der menschlichen Seele tatsächlich ernst nehmen will. Insofern muss man nach Tertullian unbedingt davon ausgehen, dass der Sündenfall auch den ganzen Menschen mit Seele und Leib betroffen habe.40 Der Leib ist eben gerade nicht nur eine unbeteiligte Masse, an der das Böse auf irgendeine Art und Weise ansetzen kann,41 31  Tertullian, De resurrectione 34,2: nisi si et ovis sine corpore amittitur et sine corpore revocatur. Nam si caro quoque eius cum anima, quod pecus totum est, humeris boni pastoris advehitur, ex utraque utique substantia restituendi hominis exemplum est. Für Tertullian ist der Glaube an die Auferstehung – und gerade auch die Auferstehung des Fleisches – entscheidend, um wahre und falsche Christen voneinander zu unterscheiden, vgl. auch Lehtipuu, Debates, S. 23. 32  Tertullian, Adv. Marc. I,24,5: quid est autem homo aliud quam caro? Dieser Satz bildet auch den Titel des Aufsatzes von Feichtinger, Quid est. 33  Zu Marcions Ansichten über die Fleischlichkeit Christi vgl. Lieu, Marcion, S. 372–380. 34  Tertullian, Adv. Marc. I,24,5. Ganz ähnlich äußert er sich auch in De resurrectione 5,5–9. Vgl. dazu Lehtipuu, Debates, S. 127. 35  Dieser Gedanke kehrt dann auch bei Augustin wieder; vgl. dazu Fuhrer, Geist im vollkommenen Körper. 36  Tertullian, De resurrectione 7,13. 37  Vgl. auch Lehtipuu, Debates, S. 111: „For the defenders of the resurrection of the flesh, belief in resurrection was organically interwined with belief in creation“. 38  Vgl. auch Sider, Structure and Design. 39 Betont provokativ formuliert er deshalb: caro salutis est cardo (8,2); vgl. dazu auch Moreschini, Tertulliano e la salvezza della carne; und Rossin, Caro; Stroumsa, Caro, sieht hier eine entscheidende Abgrenzungslinie auch innerhalb des antiken Christentums. 40  Tertullian, De resurrectione 34,1–12. 41  Tertullian weist darauf hin, dass die Sünde nicht in erster Linie in den Versuchungen des



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sondern eben auch das Medium für die Verwirklichung einer sittlichen Lebensführung, oder, mit Tertullian formuliert: der Leib ist „Gefährte und Miterbe“42 der Seele. In diesem Leben ist er ihr enger Gefährte, um im künftigen dann auch ihr Miterbe zu werden. Insofern leuchtet unmittelbar ein, dass Tertullian auf der Identität des Auferweckungsleibes mit dem irdischen Leib bestehen muss.43 Nur so lässt sich denken, dass eben genau dieser Mensch den Tod überwunden und das ewige Leben hat, der hier auf Erden leiblich gelebt hat und mit seinem Körper gestorben ist. Wenn die Seele nach dem Tod des Menschen nun einen ganz neuen oder einen anderen Leib erhält, ist zugleich eben auch die Identität dieses einen und einzigartigen Menschen verloren gegangen. Das lässt Tertullian gegen die zu seiner Zeit sehr weit verbreitete Vorstellung von der Seelenwanderung polemisieren, wie er es etwa am Ende seines berühmten Apologeticums mit großem rhetorischen Geschick tut.44 Hier beklagt er sich darüber, dass diese absurde Lehre, wonach sich die Seele nach dem Tod vollständig vom Körper löst und je nach Verdienst in ein anderes Lebewesen eingekörpert wird, dennoch von so vielen geteilt und als ganz und gar vernünftig erachtet wird: „Wenn ein Philosoph behauptet […], aus einem Maulesel werde nach dessen Tod ein Mensch und aus einer Frau eine Schlange […], wird er nicht Zustimmung finden und Glauben einflößen?“45

Als wäre diese Vorstellung nicht schon an sich lächerlich genug, wird das Publikum auf Weisung dieses Philosophen sogar voller Überzeugung sofort zu Vegetariern werden, um nicht versehentlich ein Stück der eigenen Vorfahren zu verspeisen.46 Tertullian kann sich gar nicht genug darüber wundern, dass die Leute solch absurden Ansichten ungleich plausibler finden als die so viel vernünftigere christliche Lehre. Wenn nämlich ein Christ verkündet, „dass aus einem Menschen ein Mensch und aus dem Gaius eben der Gaius wiederkehren werde, dann wird er noch eher mit Steinwürfen und nicht bloß mit Rempeleien vom Volk davongejagt“.47

Leibes bestehen, sondern mindestens ebenso in den Versuchungen des Geistes und der Seele, vgl. Tertullian, De resurrectione 15,6 f. 42  Tertullian, De resurrectione 7,12: consors et coheres. Vgl. dazu auch Miggelbrink, Lebensfülle, S. 249 f. 43  Tertullian, De resurrectione 55,4. 44  Vgl. dazu insbesondere Georges, Philosophen in Tertullians Apologeticum. 45  Tertullian, Apol. 48,1: si qui philosophus adfirmet […] hominem fieri ex mulo, colubram ex muliere […] nonne consensum movebit et fidem infigit? 46 Ebd. 47 Ebd.: at enim Christianus si de homine hominem ipsumque de Gaio Gaium reducem repromittat, lapidibus magis nec saltim coetibus a populo exigetur.

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4.  Das Gericht als Beginn der göttlichen Neuschöpfung, die auch dem Körper gilt Für Tertullian ist es also von großer Wichtigkeit, dass genau der Mensch wiederkehren wird, der gestorben ist, und nicht irgendeiner, der diesem nur irgendwie ähnlich ist.48 Fragt man weiter nach dem Grund dafür, warum in den Augen Tertullians unbedingt eben dieser eine Gaius als genau dieser Gaius auferstehen muss, dann bekommt man von ihm die folgende Antwort: „Da andererseits der Grund für die Wiederherstellung das von Gott bestimmte Gericht ist, muss mit Notwendigkeit ebenderselbe, der einmal war, vorgeführt werden, um für seine guten oder bösen Taten von Gott den Richterspruch zu empfangen.“49

Das göttliche Gericht markiert wie schon im eingangs vorgeführten Schlusskapitel von Tertullians Schrift über die Schauspiele den radikalen Wendepunkt als den Beginn des ewigen Lebens. Ab jetzt geht nicht einfach alles weiter wie vorher, vielmehr wird jetzt endlich das Unrecht aufgedeckt, Gut und Böse endlich beim Namen genannt und von Gott selbst abschließend beurteilt.50 Daher ist es für Tertullian von großer Wichtigkeit, dass hier tatsächlich der echte Gaius anwesend ist,51 eben genau der Gaius, der sich über den erbärmlich erniedrigten Christus lustig gemacht hat, oder eben der Gaius, der um seines Glaubens an diesen Christus willen geschmäht oder von einem weltlichen Gericht zum Tod verurteilt wurde: „Und deshalb werden auch die Körper wieder erscheinen, da einmal die Seele für sich allein ohne eine dauerhafte Materie, d. h. ohne das Fleisch, nichts erleiden kann und da zum anderen überhaupt das, was sie nach Gottes Richterspruch erleiden müssen, die Seelen nicht ohne das Fleisch über sich gebracht haben, in dessen Hülle sie alle ihre Taten verübten.“52

48  Tertullian, De anima 56,5 wird das ebenfalls betont und daraus die Konsequenz gezogen, dass ein Säugling in einem Säuglingskörper, ein alter Mensch dementsprechend eben in einem alten Körper wiederkehren wird. 49  Tertullian, Apol. 48,4: certe quia ratio restitutionis destinatio iudicii est, necessario idem ipse, qui fuerat, exhibebitur, ut boni seu contrarii meriti iudicium a deo referat. 50  Für Marcion gibt es demgegenüber kein göttliches Gericht, weil ein solches Handeln zu einem vollkommen barmherzigen Gott auch gar nicht passt, vgl. Tertullian, Adv. Marc. V,10,14 und dazu Vinzent, Christ’s Resurrection, S. 122. 51  Ähnlich argumentiert er auch in De anima 33,11 gegen die Seelenwanderung: Deus itaque iudicabit plenius, quia extremius, per sententiam aeternam tam supplicii quam refrigii, nec in bestias sed in sua corpora revertentibus animarum […] Anschließend (De anima 34 f.) unterstellt er prominenten Häretikern wie Simon Magus und Carpocrates, die Seelenwanderung zu vertreten. 52  Tertullian, Apol. 48,4: Ideoque repraesentabuntur et corpora, quia neque pati quicquam potest anima sola sine materia stabili, id est carne, et quod omnino de iudicio dei debent animae, non sine carne meruerunt intra quam omnia egerunt. Ganz ähnlich äußert sich Tertullian auch in De resurrectione 14,3.



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Somit kann der Mensch seinen eigenen Leib, der ja der „Gefährte und Miterbe“53 der Seele ist, auch in der Ewigkeit auf gar keinen Fall entbehren.54 Schließlich war der menschliche Leib in diesem Leben für die Taten oder Untaten dieses einen, ganz bestimmten Menschen mitverantwortlich und wird dementsprechend im künftigen Leben auch ewige Freude oder ewiges Leid erfahren. Denn ohne ihr Fleisch – so argumentiert Tertullian – könnte die Seele ja gar nichts erleiden; ohne ihr Fleisch wäre sie voll und ganz empfindungslos. Ohne ihren Körper könnte sich die Seele ja gar nicht darüber freuen, dass die so lang erduldeten Schmähungen nun endlich ein Ende haben und nun endlich diejenigen, die für die Schmähungen verantwortlich sind, ihre gerechte Strafe jetzt auch fühlen und erleiden. Für Tertullian steht deshalb fest: „Christus wird wiederkommen in Herrlichkeit, um den Heiligen das ewige Leben und die versprochenen himmlischen Güter zu geben und um die Unheiligen zum ewigen Feuer zu verurteilen, nachdem er beide Seiten auferweckt und ihr Fleisch wiederhergestellt hat.“55

Natürlich weiß Tertullian auch, dass es nicht ganz einfach ist, sich die Wiederkehr eines Leibes vorzustellen, der sich zuvor aufgelöst hat und in der Zwischenzeit vollständig vergangen ist.56 Auch an dieser Stelle verweist Tertullian einmal mehr auf die anfängliche Schöpfung des einen einzigen Gottes, der alles dereinst aus dem Nichts geschaffen hat, und somit auch in der Lage sein sollte, den vergänglichen menschlichen Leib aus dem Nichts zurückzurufen: „Der du also nicht warst, bevor du wurdest, und ebenso zu nichts wirst, wenn du zu sein aufhörst, warum solltest du nicht wiederum aus dem Nichts werden können nach dem Willen dieses selben Schöpfers, der dich aus dem Nichts hat werden lassen?“57

Hier weitet Tertullian den Blick vom Schicksal des Einzelnen bis hin zur Neuschöpfung Gottes, die mit dem göttlichen Gericht ihren Anfang nimmt. Auch an dieser Stelle geht also nichts einfach nur so weiter, sondern Gott macht mit der Wiederherstellung des vergangenen Körpers noch einmal einen ganz neuen Anfang wie er ihn bei der Schöpfung von Welt und Mensch gemacht hat: „Wo immer du auch zerfallen magst, welches Element dich auch zerstören, verschlingen, vertilgen, ins Nichts verwandeln mag, dies wird dich wieder herausgeben.“58

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Tertullian, De resurrectione 7,12. Lehtipuu, Debates, S. 129. 55  Tertullian, de praescr. 13,5: […] venturum cum claritate ad sumendos sanctos in uitae aeternae et promissorum caelestium fructum et ad profanos adiudicandos igni perpetuo, facta utriusque partis resuscitatione cum carnis restitutione. Ähnlich auch Adv. Marc. V,10,14 und V,12,5. 56  Tertullian, Apol. 48,5. 57  Tertullian, Apol. 48,6: qui ergo nihil fueras priusquam esses, idem nihil factus cum esse desieris, cur non possis rursus esse de nihilo eiusdem ipsius auctoris voluntate, qui te voluit esse de nihilo? 58  Tertullian, Apol. 48,9: ubicumque resolutus fueris, quaecumque te materia destruxerit, hauserit, aboleverit, in nihilum prodegerit, reddet te. 54 Vgl.

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Das Nichts hat also keineswegs das letzte Wort, vielmehr wird es von Gott bei der Wiederherstellung der menschlichen Körper als Auftakt zur Neuschöpfung zur Herausgabe des menschlichen Leibes gezwungen und damit zugleich endgültig überwunden. Und auch diese Neuschöpfung wird keine allein geistige und immaterielle Wirklichkeit sein, sondern eine materiell verfasste, fleischliche Welt, die erfahrbar und den menschlichen Sinnen zugänglich sein wird. Nach Tertullian kann das der menschlichen Vorstellung schon jetzt im Sinne von Hoffnung sehr gegenwärtig sein, während darüber hinaus dann auch noch etwas ganz Anderes hinzukommen wird, das jegliche Vorstellungskraft übersteigt. Tertullians Nachdenken über die fleischliche Auferstehung und das ewige Leben entspringt ganz offenbar der sehr konkreten heftigen Auseinandersetzungen mit zeitgenössischen Ansichten und ebenso sehr der innerchristlichen Polemik im nordafrikanischen Raum.59 Dabei ist der Ausgangspunkt für dieses Nachdenken wohl die Hoffnung, dass die Erfahrungen, die Christen als in dieser Welt Verfolgte und Geschmähte machen, noch nicht alles und auch noch nicht die letztmöglichen Erfahrungen sind und sein werden. Zwar werden Christen hier und jetzt vor weltliche Gerichte gestellt und allein aufgrund ihres Christseins geschmäht, verlacht und verurteilt, und doch betont Tertullian im letzten Satz des Apologeticums: „[…] wenn ihr uns verurteilt, werden wir von Gott losgesprochen“.60 Aus diesem Satz spricht die Zuversicht, dass das hier erfahrene Gerichtsurteil nicht das letzte und auch noch nicht das endgültige ist!61 Die Christen leiden hier und jetzt an den Gegebenheiten dieser Welt und erleben einmal mehr, dass sie für ihre eigenartige „Todessehnsucht“ und das ihnen zugefügte Leid auch noch verspottet und verlacht werden.62 Tertullian legt ihnen in den Mund, behauptet zu haben, dass die Christen ihren Gegnern vielmehr dafür danken sollten, dass sie endlich die Gelegenheit bekommen zu leiden: „Nun also, entgegnet ihr, warum beklagt ihr euch, dass wir euch verfolgen, wenn ihr leiden wollt – lieben solltet ihr die, durch die ihr leidet, wie ihr es wollt.“63

Doch für hiesigen Ruhm oder für weltliches Ansehen – das konstatiert Tertullian einigermaßen verbittert – nehmen auch seine gebildeten Zeitgenossen und Gegner der Christen erhebliches Leiden oder sogar den Tod in Kauf. Auch sie wollen den Ihrigen eine Art von Ewigkeit und Auferstehung zubilligen, halten

59 Für Lehtipuu, Debates gehören die unterschiedlichen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen frühchristlichen Gruppen über die Auferstehung zu den entscheidenden Faktoren für die Ausprägung einer christlichen Identität. 60  Tertullian, Apol. 50,16: cum damnamur a vobis, a deo absolvimur. In Ad martyras 2,4 wird sogar angedeutet, dass die hier verurteilten Märtyrer am göttlichen Gericht beteiligt sein werden. 61 An Swift, Forensic rhetoric, anknüpfend hat darauf insbesondere Georges, Retorsio, aufmerksam gemacht. 62  Bähnk, Notwendigkeit des Leidens. 63  Tertullian, Apol. 50,1: Ergo, inquitis, cur querimini, quod vos insequamur, si pati vultis, cum diligere debeatis per quos patimini quod vultis?



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hingegen die Christen, die eben genau das von einem göttlichen Neuanfang erwarten, für vollkommen übergeschnappt: „Ja, dieser Ruhm ist erlaubt, weil nur menschlich, ihm wird trotz aller Verachtung von Tod und Grausamkeit jeder Art, keine rettungslos dem Untergang verfallene Wahnidee oder Einbildung nachgesagt […] Obendrein gießt ihr diesen allen aus Erz Statuen, gebt ihren Bildern Inschriften und meißelt ihre Ruhmestitel ein für alle Ewigkeit. So weit ihr es, von euch aus, durch Denkmäler vermögt, verschafft ihr selbst in gewisser Weise den Toten die Auferstehung. Und wer die wahrhafte Auferstehung von Gott erhofft, der ist, wenn er für Gott leidet, wahnsinnig!“64

Die Konzeption einer leiblichen Auferstehung des Menschen zum Gericht, verstanden als Beginn der Neuschöpfung und des ewigen Lebens hat vermutlich elementar mit den in diesem Leben gemachten Erfahrungen von Martyrien zu tun.65 Diese wurden von der nichtchristlichen Umwelt wahrgenommen und als eigenartige Todesverachtung von Verrückten gedeutet. Denn im Fokus eines jeden Martyriums steht nun einmal der menschliche Leib – niemand anders als dieser erduldet schließlich die Qualen und die Folter, niemand anders wird verwundet, geschunden und in Stücke gerissen, niemand anders blutet und stirbt am Ende ebenso wie Christus, in dessen Nachfolge sich der Märtyrer sieht.66 Und ebenso wie für Tertullian undenkbar ist, dass ein anderer Christus als der Gekreuzigte auferweckt wurde, so ist es für ihn auch undenkbar, dass ein anderer menschlicher Leib als eben genau dieser, der als Blutzeuge Christi in dieser Welt seinen Dienst geleistet hat, in der künftigen belohnt und verherrlicht wird.67 Für Tertullian ist damit klar, dass „dasjenige, was die Verwesung und das Sterben zu erleiden hat, […] auch die Unverweslichkeit und die Unsterblichkeit an sich erfahren kann“.68 Der Leib bleibt also nach der Auferstehung einerseits derselbe und damit auch leidensfähig, doch zugleich wird er auch leidensunfähig werden, weil es für ihn zukünftig keinen Anlass für das Leid mehr geben wird.69 Und wenn es heißt: ‚Gott wird wegwischen jede Träne von ihren Augen‘, dann sind für Tertullian keinen anderen, neuen oder ganz andersartigen Augen, sondern 64  Tertullian, Apol. 50,10 f.: O gloriam licitam, quia humanum, cui nec praesumptio perdita nec persuasio desperata reputatur in contemptu mortis et atrocitatis omnimodae […] et tamen illis omnibus et statuas defunditis et imagines inscribitis et titulos inciditis in aeternitatem. Quantum de monumentis potestis scilicet, praestatis et ipsi quodammodo mortuis resurrectionem. Hanc qui veram a deo sperat, si pro deo patiatur, insanus est! 65  Vgl. dazu auch Feichtinger, Quid est, S. 19–22; Walker Bynum, Resurrection, S. 43–51 und Perkins, Suffering Self, S. 117. Lehtipuu, Debates, S. 6 f. spricht sich jedoch dagegen aus. 66  Vgl. Tertullians Darstellung des menschlichen Leibes, der um seines Bekenntnisses willen im Gefängnis leidet, gefoltert wird und sich danach sehnt, für Christus zu sterben, De resurrectione 8,1–6. In Ad martyras 4,1 f. wird der menschliche Geist aufgefordert, das Fleisch, das ja schließlich leiden muss, zu trösten und zum Durchhalten zu ermuntern. 67  Tertullian, De resurrectione 56,1 f. Vgl. auch die Diskussion in Tertullian, Ad martyras. 68  Tertullian, De resurrectione 51,10: quae patiuntur corruptelam et mortalitatem, […] ea necesse est patiantur et incorruptelam et immortalitatem. 69 Tertullian, De resurrectione 57,13: Ita manebit idem caro etiam post resurrectionem eatenus passibilis qua ipsa, qua eadem, et tamen impassibilis quia in hoc ipsum manumissa a domino nec ultra pati possit.

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genau dieselben Augen gemeint, die vorher geweint haben und nunmehr von der göttlichen Güte getrocknet worden sind.70

5.  Weiterleben – aber doch ganz anders und verwandelt Damit wird aber auch deutlich, dass es nach Ansicht von Tertullian keine unüberwindlichen Barrieren zwischen dem Hier und Jetzt und dem künftigen Leben geben kann. Vielmehr lässt sich das ewige Leben sogar schon in gewisser Weise als durchlässig für die gegenwärtige Lebensführung in dieser Welt verstehen. Während seine Gegner – wiederum in erster Linie Marcioniten und Gnostiker – ein Leben zu führen suchten, das möglichst wenig mit dem an den Leib gebundenen Leben in dieser Welt gemeinsam haben und im Idealfall dem transzendenten Leben der Engel gleichen sollte,71 hält Tertullian entschieden daran fest, dass zu dem von Gott bereits mit der anfänglichen Schöpfung gewollten Menschen auch sein je eigener Körper gehöre. Die Sünde befleckt und verunreinigt zwar gegenwärtig auch diesen Teil des Menschen, doch werde er durch Christi Mensch- und Leibwerdung ebenso wie die Seele gereinigt und soll dereinst nach dem Vorbild Christi vollendet werden. Diese verherrlichte Leiblichkeit kann Tertullian sich nicht als gebrechliche, der Vergänglichkeit unterworfene vorstellen, sondern sie muss so sein, wie Gott sie ursprünglich gewollt und geschaffen hat: ohne die Zeichen des Alters, ohne körperliche Beschwerden oder gar Verstümmelungen.72 Entsprechend besteht dann auch keine Notwendigkeit mehr, den Körper durch Essen und Trinken zu erhalten, oder ihn fortzupflanzen und zu vermehren.73 Ein solches Leben kann der Mensch aber schon im Hier und Jetzt mittels einer asketischen Lebensweise beginnen, die aber keinesfalls mit der Abtötung der Leiblichkeit einhergehen oder gar zum Ziel haben darf. Vielmehr versteht Tertullian sie im Sinne von Übung und Ertüchtigung zur Stärkung auch des Leibes im Hinblick auf das Zukünftige.74 Die künftigen Märtyrer vergleicht er aus diesem Grunde mit Athleten, die 70  Tertullian, De resurrectione 58,2. Tertullian müht sich immer wieder, auf der einen Seite die Kontinuität und auf der anderen Seite den Wandel zu betonen und beides nicht auseinanderbrechen zu lassen, vgl. auch auch Lehtipuu, Debates, S. 117: „On the one hand, a certain amount of continuity must be secured; if the resurrected ones do not resemble the persons they were while on earth, can we speak of resurrection at all? On the other hand, resurrection intrinsically also emphasizes change. The world to come is not like this world; it will be perfect, without defect. In a similar fashion, the resurrected ones need to be transformed to meet this perfection“. 71  Aune, Cultic Setting und Brown, Keuschheit der Engel, S. 102. 72  Tertullian, De resurrectione 57,1–6 und dazu insbesondere Lehtipuu, Debates, S. 123 f. 73  Tertullian, De resurrectione 61,4. Zu der von Tertullian geführten Diskussion, wozu die einzelnen mensch­lichen Teile und Organe im ewigen Leben dienen werden, vgl. auch Walker Bynum, Resurrection, S. 37. 74  Vgl. auch Stroumsa, Caro, S. 213: „Il suffira de noter que les chrétiens, le plus souvent, concevaient l’ascétisme comme un effort destiné à fortifier et non à affaiblir le corps.“ Vgl. auch Markschies, Körper, der hingegen die Askese in erster Linie als einen Wettkampf gegen den eigenen Körper versteht.



„Teilweise auferstehen wäre eine Strafe, keine Erlösung“

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„sich der Wollust, der anregenderen Speisen, von jedem fröhlichem Trunk“75 enthalten, die sich vielmehr zwingen, sich quälen und abmühen, weil sie einen Sieg erringen wollen. Nur ständige Übung und strenge Disziplin ist dieser besonderen Art von Trainingslager angemessen. Um so mehr sollen die Christen die Tugenden des Geistes und des Körpers üben, weil sie in einem Wettkampf kämpfen, „in dem Preisrichter der lebendige Gott ist, Kampfherold der Heilige Geist, Siegeskranz die Belohnung mit der engelhaften Substanz der Ewigkeit, das Bürgerrecht, die himmlische Herrlichkeit von Ewigkeit zu Ewigkeit“.76 Abgehärtet und sowohl an Leib und Seele durchtrainiert sollen diese Kämpfer dann in der „Rennbahn des Gerichtssaales“77 vorgeführt werden. Nach Ansicht von Tertullian, der sich im nordafrikanischen Karthago sowohl mit Heiden als auch mit christlichen Gegnern auseinanderzusetzen hatte, bedeutet die Vorstellung, dass der von Gott geschaffene Körper mit dem Tod zerfällt, während allein die Seele weiterlebt, keine Erlösung, sondern pointiert und zugespitzt nichts anderes als Strafe.78 Denn eine unkörperliche Seele sei eben nur ein halber Mensch ohne seine eigenen Erfahrungen, ohne jegliches Empfinden und ohne seine eigene Geschichte. Überdies negiere ein ewiges Weiterleben der Seele den Neuanfang, den Gott analog zur anfänglichen Schöpfung versprochen habe und der nicht zuletzt deshalb die Verwandlung des Menschen und der Welt einschließe, weil der Mensch mit seinem von Gott geschaffenen Leib unlösbar mit der gleichfalls geschaffenen Welt verbunden ist. Und genau deshalb könne eben dieser Mensch mittels einer asketischen Lebensführung schon jetzt einen kleinen Vorgeschmack auf die verwandelte Leiblichkeit in der Ewigkeit erfahren und sich unter den Bedingungen der hiesigen Wirklichkeit ganz gezielt darauf vorbereiten. Den geschundenen, verhöhnten und leidenden Christen seiner Zeit, von denen einigen vielleicht sogar das Martyrium bevorsteht, kann Tertullian unmöglich mit einer unspezifischen Aussage, dass das hiesige Leben irgendeine Fortsetzung im künftigen findet, Trost und Hoffnung spenden. Vielmehr setzt Tertullian seine Hoffnung ganz auf das rettende göttliche Eingreifen, das mit dem Gericht einen sehnsuchtsvoll erwarteten Ausgleich und zugleich auch einen neuen Anfang für Welt und Mensch schaffen wird. Um diesen Zusammenhang möglichst anschaulich zu machen, konzentriert sich Tertullian wie kaum ein anderer frühchristlicher Schriftsteller auf den menschlichen Körper, an dem die menschliche Identität und das Bleibende ebenso wie das von Gott gewirkte Neue und grundlegend Verwandelte gleichermaßen sichtbar und erfahrbar werden kann. 75 

Tertullian, Ad martyras 3,4: continentur a luxuria, a cibis laetioribus, a potu iucundiore. Bonum agonem subituri estis in quo agonothetes Deus vivus est, xystarches Spiritus Sanctus, corona aeternitatis brabium angelicae substantiae politia in caelis, gloria in saecula saeculorum. 77  Tertullian, Ad martyras 3,5: […] ut ad stadium tribunalis bene exercitati incommodis producamur […] 78 Zur Entfaltung der Vorstellung von der leiblichen Auferstehung gegenüber philosophischer Kritik im spätantiken christlichen Denken vgl. auch den Beitrag von Kobusch, Auferstehung. 76 Ebd.:

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„Teilweise auferstehen wäre eine Strafe, keine Erlösung“

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Vollkommenheit und Vollendung* Theologiegeschichtliche Anmerkungen zum Verständnis des Christentums als Erlösungsreligion Rochus Leonhardt Dass das Christentum eine Erlösungsreligion ist, galt lange Zeit, spätestens seit den religionsgeschichtlichen und -soziologischen Arbeiten von Ernst Troeltsch und Max Weber, als eine Selbstverständlichkeit.1 So hat, um wenigstens einen der genannten Protagonisten kurz zu Wort kommen zu lassen, Troeltsch zwischen Gesetzesreligionen (Judentum und Islam) auf der einen und Erlösungsreligionen auf der anderen Seite unterschieden. Zu letzteren zählt er etwa den „Typus der indischen Erlösungsreligionen, denen sich in vieler Hinsicht der Neuplatonismus und die im sogenannten Gnostizismus zusammenlaufenden spätantiken Religionsbildungen annähern“. Als Erlösungsreligion par excellence gilt Troeltsch freilich „das auf dem Prophetismus beruhende, aber ihn im Kernpunkt überschreitende Christentum“2, das er bekanntlich als „die stärkste und gesammeltste Offenbarung der personalistischen Religiosität“ charakterisiert hat.3 Deshalb kann, ja muss nach seiner Einschätzung „das Christentum nicht bloß als der Höhepunkt, sondern auch als der Konvergenzpunkt aller erkennbaren Entwickelungsrichtungen der Religion gelten und darf daher im Vergleich zu den übrigen als die zentrale Zusammenfassung und als die Eröffnung eines prinzipiell neuen Lebens bezeichnet werden“.4 In jüngerer Zeit ist die Charakterisierung des Christentums als Erlösungsreligion freilich kritisiert worden. So hat, um auch hier ein Beispiel zu nennen, Theo Sundermeier das Christentum als eine Versöhnungs- und gerade nicht als *  Bei diesem Beitrag handelt es sich um den Wiederabdruck eines unter demselben Titel in der Zeitschrift für Theologie und Kirche publizierten Textes (ZThK 113, 2016, 29–58). 1  Als frühmoderner Klassiker der Auffassung des Christentums als Erlösungsreligion gilt natürlich Friedrich Schleiermacher. Die einschlägige Formulierung bietet der Leitsatz von § 11 der (2. Auflage der) Glaubenslehre: „Das Christenthum ist eine der teleologischen Richtung der Frömmigkeit angehörige monotheistische Glaubensweise, und unterscheidet sich von andern solchen wesentlich dadurch, daß alles in derselben bezogen wird auf die durch Jesum von Nazareth vollbrachte Erlösung“ (Schleiermacher, Der christliche Glaube [KGA I 13/1, 93,15–19]). Auf Schleiermacher wird in Teil 3 dieses Beitrags einzugehen sein. 2  Troeltsch, Absolutheit, S. 193. 3  Troeltsch, Absolutheit, S. 195. 4  Troeltsch, Absolutheit, S. 197 – obwohl „mit keiner strengen Sicherheit zu beweisen [ist], daß es der letzte Höhepunkt bleiben müsse und daß jede Ueberbietung ausgeschlossen sei“.

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eine Erlösungsreligion gelten lassen wollen.5 Dabei definiert er die Erlösungsreligion als eine sich ganz auf Weltflucht kaprizierende Formation: „Es geht“, wie am Buddhismus als dem Paradigma dieses Religionstyps gezeigt wird, „um Loslösung von allen Bindungen, den privat-familiären in gleicher Weise wie den sozialen“.6 Versöhnung und Vergebung würden so hinfällig. Im Gegensatz zu der für Erlösungsreligionen typischen akosmistischen Ethik ist nach Sundermeier in der Versöhnungsreligion „die Welt zentraler Platz des Handelns des Menschen. […] Das Handeln, sofern es gut und gemeinschaftsfördernd ist, ist in sich sinnvoll. Kein zusätzlicher transzendenter Sinn muß das unterstreichen“.7 Im Blick auf die christliche Bibel stellt Sundermeier nun fest, dass sowohl die alttestamentliche Religion wie das neutestamentliche Christentum als Versöhnungsreligionen zu gelten haben. Für das Christentum wird diese Feststellung in wünschenswerter Klarheit formuliert: „Die christliche Religion ist in ihrem Ursprung, dem Werk und der Verkündigung Jesu von Nazareth, und in der theologischen Interpretation seines Sterbens und seiner Auferstehung durch Paulus und seine Schüler Versöhnungsreligion. Die für die Erlösungsreligion kennzeichnenden Merkmale fehlen in der frühen urchristlichen Tradition.“8 Dass das Christentum dennoch „sekundär zur Erlösungsreligion geworden ist“,9 ist nach Sundermeier das Ergebnis eines „Inkulturationsprozesses des Evangeliums in die hellenistische Welt hinein“,10 infolge dessen es „vom neuplatonischen Gedankengut infiziert“ wurde.11 In der nachreformatorischen Christentumsentwicklung sei diese Wesensveränderung des Christentums ihrerseits revidiert worden, was sich etwa im Luthertum und im Calvinismus auf je verschiedenen Wegen vollzogen habe. Die Darstellung kann hier abgebrochen werden. Es liegt auf der Hand, dass Sundermeiers Typologie reichlich grobschlächtig geraten ist. Überdies wird seine Charakteristik der Erlösungsreligion dem, was Weber und Troeltsch damit meinen, keineswegs hinreichend gerecht. So sind nach Troeltsch, um erneut wenigstens einen der beiden Genannten zu zitieren, die Erlösungsreligionen gerade nicht weltflüchtig, sondern in je spezifischer Weise sowohl weltverneinend wie -bejahend. Sie „reißen den Menschen innerlich los von der gesamten vorgefundenen Wirklichkeit, auch von seiner eigenen Seelennatur, um ihn mit göttlichen Kräften erfüllt ihr wieder gegenüber zu stellen und ihm dadurch das Tun des die Welt überwindenden und ihren alleinigen Wert darstellenden Guten zu gewähren, samt der sicheren Hoffnung des Sieges und des Lebens für eine

5 Vgl.

Sundermeier, Religion, S. 48–74. Sundermeier, Religion, S. 52 f. 7  Sundermeier, Religion, S. 57. 8  Sundermeier, Religion, S. 65. 9  Sundermeier, Religion, S. 72. 10  Sundermeier, Religion, S. 67. 11  Sundermeier, Religion, S. 65. 6 



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höhere Welt“.12 Bereits in Troeltschs Konzeption leistet der Erlösungsbegriff also mehr, als Sundermeier ihm zutraut.13 Insgesamt weist der Begriff der Erlösung, mindestens was seine Verwendung im Kontext der christlichen Theologie angeht, einen ambivalenten Charakter auf. Er kann einerseits – insofern hat Sundermeier partiell recht – eine Jenseitsorientierung anzeigen, also für eine Flucht aus (den Verhängnissen) der diesseitigen Welt stehen. Andererseits kann der Erlösungsbegriff auch gebraucht werden, um eine bestimmte Art der Diesseitsorientierung zu beschreiben, eine solche nämlich, die sich daraus ergibt, dass der Erlöste nicht von der diesseitigen Welt insgesamt, sondern von der Verfallenheit an sie befreit ist. Nimmt man die skizzierte Ambivalenz ernst, dann wird sofort deutlich, dass der Erlösungsbegriff an der Zweideutigkeit des christlichen Eschatologie-Begriffs partizipiert. Denn bekanntlich unterscheidet die dogmatische Lehrbildung traditionell zwischen präsentischer und futurischer Eschatologie. Während erstere die gegenwärtige Existenz des getauften Christen in den Blick nimmt, der im Glauben daran lebt, dass mit dem Christusgeschehen das Reich Gottes angebrochen ist, richtet sich letztere auf die erhoffte zukünftige Vollendung des im gegenwärtigen Glauben fragmentarisch Erfahrenen.14 Insofern also die Mehrdeutigkeit des Erlösungsbegriffs mit der Mehrdeutigkeit des Eschatologie-Begriffs zusammenhängt, wird sich der vorliegende Beitrag auf das Verhältnis zwischen präsentischer und futurischer Eschatologie konzentrieren. Dieses Verhältnis soll mit Hilfe zweier anderer Begriffe diskutiert werden; es handelt sich um die in der Themenformulierung bereits genannten Begriffe der Vollkommenheit einerseits und der Vollendung andererseits. Dabei ist die Beobachtung wichtig, dass das lateinische Wort perfectio (ebenso wie sein griechisches Pendant τελειότης) für beide deutsche Wörter stehen kann. Die nun im weiteren Verlauf zu begründende These dieses Beitrags lautet, dass die semantische Differenzierung des einen perfectio-Konzepts in zwei deutsche Begriffe mit bestimmten Entwicklungen der christlichen Religionsgeschichte in der europäischen Neuzeit zusammenhängt. Um dies zu zeigen, wird zunächst die der genannten Differenzierung vorausliegende Situation in Erinnerung gerufen (1). In zwei weiteren Schritten wird das Schicksal des Begriffs der Vollkommenheit im deutschsprachigen Protestantismus der Neuzeit exemplarisch

12 

Troeltsch, Absolutheit, S. 193. Sundermeiers Kritik an Troeltschs Auffassung, die Erlösungsreligion (christlichen Typs) repräsentiere „den Höhepunkt der religionsgeschichtlichen Entwicklung“, ist aus heutiger Sicht freilich berechtigt (Sundermeier, Religion, S. 48). 14 „E. [scil. Erlösung] ist ein eschatologischer Begriff, insofern er die letztgültige Bestimmung der menschlichen Person in und mit der Welt zum Inhalt hat“ (Gunton, Erlösung/ Soteriologie, S. 1456). „Im Glauben an Jesus haben wir bereits die E. und erwarten zugleich ihre Vollendung in der Endzeit durch seine Wiederkunft“ (Schott, Erlösung, S. 717). – Während das erste Zitat stärker am futurisch-eschatologischen Aspekt des Erlösungsbegriffs interessiert ist, berücksichtigt das zweite Zitat gleichwertig auch den präsentisch-eschatologischen Aspekt. 13 

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verfolgt,15 wobei stets der Zusammenhang mit der Verhältnisbestimmung von präsentischer und futurischer Eschatologie im Blick bleiben wird (2/3). Ein kurzes Fazit schließt den Beitrag ab.

1.  Zur vorneuzeitlichen Tradition: Thomas von Aquin und Dante Alighieri Mit Thomas von Aquin und Dante Alighieri kommen nachstehend zwei Vertreter in den Blick, deren Profilierung des perfectio-Gedankens eine wichtige Gemeinsamkeit aufweist: Es geht ihnen darum, mit Hilfe des perfectio-Begriffs eine Verbindung zwischen Gott (dem ens perfectissimum) und Mensch herzustellen. Daneben steht freilich ein wichtiger Unterschied: Während Thomas diese Verbindung vor allem mittels der vita christiana, also gleichsam auf dem Wege der Ethik aufzuweisen sucht, zielt Dante primär darauf, sich der göttlichen perfectio auf ästhetischem Wege anzunähern. 1.1  Thomas von Aquin Dass Thomas von Aquin hier als maßgeblicher Vertreter der vorneuzeitlichen Tradition in den Blick genommen wird, hängt mit seiner Bedeutung für die römisch-katholische Lehrbildung der Neuzeit ebenso zusammen wie mit der Tatsache, dass er lange Zeit von evangelischen wie katholischen Theologen als bevorzugter Gesprächspartner herangezogen wurde, wenn es um die Aufarbeitung von kontroverstheologisch relevanten Lehrdifferenzen ging.16 Hinzu kommt, dass mit dem Ansatz des Thomas, was die maßgeblichen ihm vorliegenden philosophischen (Aristoteles) und theologischen (Augustin) Traditionen angeht, ein Anspruch auf Synthese verbunden ist, genauer: auf eine gelungene Verbindung von Philosophie und Theologie. Das Denken des Aquinaten wird daher gelegentlich als ein Paradigma christlichen Denkens wahrgenommen, in

15  Dabei geht es auch darum, aus evangelisch-theologischer Sicht die Möglichkeit eines spezifisch protestantischen Zugangs zum Vollkommenheitsthema auszuloten. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass man in anderen Disziplinen durchaus von kleineren Konjunkturen des Vollkommenheitsbegriffs reden kann. So sind im Jahre 2010 zwei mit dem Stichwort „Vollkommenheit“ betitelte Aufsatzbände erschienen: Lobsien u. a. (Hg.), Vollkommenheit; Assmann/Assmann, Vollkommenheit. Die darin enthaltenen Beiträge gehen dem Thema aus den unterschiedlichsten kultur- und literaturwissenschaftlichen Perspektiven nach. Auch der an der Katholisch-theologischen Fakultät Fulda lehrende Philosoph Jörg Disse hat im selben Jahr Beiträge publiziert, die dem Verhältnis von menschlichem Vollkommenheitsstreben und der Frage nach Gott gewidmet sind: vgl. Disse, Religion, S. 247–267 sowie Disse, Glück, S. 253–290. Diese Texte stehen im Zusammenhang eines von Disse verfolgten größeren Forschungsprojekts, das auf eine zeitgemäße Reformulierung der älteren Lehre vom desiderium naturale zielt. 16  Vgl. etwa: Kühn, Via Caritatis, bes. S. 224–272: „Thomas im Gespräch mit der evangelischen Theologie“; Vorster, Freiheitsverständnis; Pesch, Rechtfertigung.



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dem Glaube und Vernunft auf eine für beide Größen vorteilhafte Weise ausbalanciert sind.17 Der perfectio-Begriff taucht in Thomas’ theologischem Hauptwerk, auf das sich die nachstehenden Hinweise weitgehend beschränken, in vier Zusammenhängen auf.18 An erster Stelle ist die Lehre von den Eigenschaften Gottes zu nennen (STh I 3–11),19 wo neben der simplicitas, der infinitas, der immutabilitas und der unitas auch die perfectio Dei behandelt wird (STh I 4), als deren Nebenoder Folgeprädikat die bonitas ausgewiesen ist (STh I 5 f.). In diesem religionsphilosophisch-theologischen Kontext ist bemerkenswert, dass nach Thomas das dem menschlichen Vorstellungsbereich entstammende Wort perfectio nur durch eine Veränderung der ursprünglichen Wortbedeutung auf Gott angewendet werden kann. Normalerweise nämlich gelte ein perfectum als Abschlussresultat eines Herstellungsprozesses; in diesem Sinne aber treffe das Wort auf Gott, der gerade kein Verlaufsergebnis ist, nicht zu.20 Aber weil, so Thomas, in den Prozessverläufen etwas dann perfectum genannt wird, wenn es von der Möglichkeit in die Aktualität überführt ist, wird dasselbe Wort im übertragenen Sinne verwendet, um all das zu bezeichnen, dem kein aktuales Sein fehlt, unabhängig davon, ob dieses Aktual-Sein das Resultat eines Herstellungsprozesses ist: Sed quia in his quae fiunt, tunc dicitur esse aliquid perfectum, cum de potentia educitur in actum; transumitur hoc nomen perfectum ad significandum omne illud cui non deest esse in actu, sive hoc habeat per modum factionis, sive non (STh I 4,1 ad1).21

Der zweite wichtige Verwendungskontext ist die beatitudo-Lehre am Beginn der pars secunda (STh I‑II 1–5).22 Die perfectio kommt hier als das Prädikat 17  So hat z. B. der katholische Philosoph Josef Pieper im Blick auf das 13. Jahrhundert im allgemeinen und das Werk des Thomas im besonderen von einem „Augenblick“ gesprochen, in dem „so etwas wie Einklang und ‚klassische Fülle‘ erreicht worden“ sei; und dieser Augenblick, so Pieper weiter, „scheint, obwohl er natürlich vergangen ist und auf keine Weise noch einmal herbeigeführt werden kann, in der Erinnerung der abendländischen Christenheit mit Recht fortzuleben als etwas Paradigmatisches und Musterhaftes, als eine Art Modell-Vorstellung, als eine Norm, die, freilich unter veränderten Bedingungen und also auf neue Weise, ‚eigentlich‘ sollte erfüllt werden, wenn es mit rechten, glücklichen Dingen zugeht. Nun, in diesen kurzen geschichtlichen Augenblick fällt das Werk des Thomas von Aquin. Vielleicht kann man sagen, sein Werk verkörpere diesen Augenblick“ (Pieper, Thomas von Aquin, S. 16 f.). 18 Vgl. Wainwright, Vollkommenheit, S. 277 f. 19  Die Formulierung „Eigenschaften Gottes“ ist eigentlich nicht hinreichend präzise. Der Prolog zur ‚Eigenschafts‘-Lehre macht nämlich deutlich, dass die genannten Prädikate nur Rückschlüsse aus der Erwägung dessen sind, was Gott nicht ist („quomodo non sit“). 20  Videtur quod esse perfectum non conveniat Deo. Perfectum enim dicitur quasi totaliter factum. Sed Deo non convenit esse factum. Ergo nec esse perfectum (STh I 4,1 obj.1). 21  In der „Summa contra Gentiles“ hat Thomas an der entsprechenden Stelle gesagt, der Anwendung des perfectio-Begriffs auf Gott läge eine extensio nominis zugrunde, eine Ausweitung der Wortbedeutung: Sciendum […] est quod perfectio Deo convenienter attribui non potest si nominis significatio quantum ad sui originem attendatur: quod enim factum non est, nec perfectum posse dici videtur. […] Per quandam igitur nominis extensionem perfectum dicitur non solum quod fiendo pervenit ad actum completum, sed id etiam quod est in actu completo absque omni factione. Et sic Deum perfectum esse dicimus (Thomas von Aquin, ScG I 28). 22  Vgl. dazu: Leonhardt, Glück, S. 153–211; Gradl, Deus beatitudo hominis, S. 57–361.

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des menschlichen Letztziels zu stehen. Der Zusammenhang zwischen beatitudo und perfectio war durch die Tradition vorgegeben.23 Im christlichen Denkhorizont konnte die beatitudo perfecta freilich nur als eschatisches Gut aufgefasst werden. Die Perspektive auf eine solche die irdischen Unvollkommenheiten transzendierende vollkommene Glückseligkeit fand Thomas im biblischen Zeugnis formuliert, namentlich in Mt 22,30: promittitur nobis a Deo beatitudo perfecta, quando erimus sicut Angeli in caelo (STh I‑II 3,2 ad 4).24

Gleichzeitig gilt aber, dass die irdische beatitudo ungeachtet ihrer Unvollkommenheit durchaus als Teilhabe (participatio) an der vollkommenen Glückseligkeit bestimmt werden kann: in praesenti vita […] deficimus a beatitudinis perfectione. Est tamen aliqua participatio beatitudinis (STh I‑II 3,2 ad 4).

Die pars secunda der „Summa Theologiae“ zielt dann insgesamt darauf, in der Handlungswirklichkeit des Christenmenschen diejenigen Lebensvollzüge zu identifizieren, in denen die in diesem Leben realisierbare participatio beatitudinis perfectae insofern am deutlichsten sichtbar wird, als sie den Weg zur vollkommenen Glückseligkeit darstellen. Dabei kommt insbesondere die caritas in den Blick; die dieser theologischen Tugend gewidmeten quaestiones (STh II‑II 23–46) bilden den dritten maßgeblichen Verwendungskontext des perfectio-Begriffs. Bereits im amor-Traktat der prima secundae hatte Thomas im Rahmen einer terminologischen Präzisierung als Spezifikum der caritas benannt, dass ihr eine gewisse Vollkommenheit zukomme, eine perfectio, die daraus resultiere, dass der geliebte Gegenstand vom Liebenden hochgeschätzt wird, ihm also teuer (carus) ist.25 Im caritas-Traktat selbst wird dann die höchste der theologischen Tugenden als Ergebnis einer communicatio beatitudinis von Seiten Gottes bestimmt. Dabei handelt es sich um den den Menschen betreffenden Spezialfall jener communicatio perfectionis sive bonitatis, von der bereits in der Schöpfungslehre die Rede war.26 Im caritas-Traktat wird der so gegebene Gottesbezug allerdings christologisch qualifiziert. Schon die in STh II‑II 23,1 sed contra zitierte Stelle Joh 15,15 macht deutlich, dass es der Sohn ist, in dem uns Gott seine beatitudo mitteilt und uns dadurch die Freundschaft zusagt. Durch die Heranziehung des Schlussverses aus dem Proömium des 23  Vgl. insbesondere Boethius, Consolatio Philosophiae, Buch III prosa 2,3: Liquet igitur esse beatitudinem statum bonorum omnium congregatione perfectum (CChrSL 94, 38,9 f.; Hervorh: RL). 24 In der – hier nicht darzustellenden – Auseinandersetzung mit der Nikomachischen Ethik des Aristoteles hat Thomas diese Perspektive auch als unvermeidbare Konsequenz philosophischen Nachdenkens über das Glück behauptet; vgl. dazu: Leonhardt, Glück, S. 108–112. 25  Caritas […] addit supra amorem, perfectionem quandam amoris, inquantum id quod amatur magni pretii aestimatur, ut ipsum nomen designat (STh I‑II 26,3 corp.art.). 26  [Deus] intendit […] communicare suum perfectionem, quae est eius bonitas (STh I 44,4 corp. art.).



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ersten Korintherbriefs (I Kor 1,9) im corpus articuli wird abermals betont, dass Gott den Menschen seine beatitudo in Christus mitteilt, weshalb es die (freundschaftliche) Gemeinschaft mit Christus ist, in die wir von Gott gerufen sind.27 Als Weg zur vollkommenen Glückseligkeit gilt danach eine Existenzform, die von einer christologisch vermittelten Gottesliebe getragen ist. Mit der letzten Formulierung ist bereits der Überschritt zum vierten wichtigen Verwendungskontext des perfectio-Begriffs vollzogen (gemeint ist STh II‑II 179–186), wo es, in Anlehnung an die biblische Bestimmung der caritas als vinculum perfectionis (Kol 3,14), ausdrücklich heißt: secundum caritatem specialiter attenditur perfectio vitae Christianae (STh II‑II 184,1 corp.art.).

Wie aber muss sich die Gottesliebe konkretisieren, damit von einer Vollkommenheit des christlichen Lebens die Rede sein kann? Die Antwort des Thomas besteht im Hinweis auf eine status perfectionis genannte Lebensform, der die Angehörigen geistlicher Orden sowie, jedenfalls nach Auffassung einiger Theologen, auch die Bischöfe entsprechen. Als Ausdruck ihrer Haltung gilt „eine mit Feierlichkeit eingegangene dauerhafte Verpflichtung, nach der Vollkommenheit […] zu streben“.28 Thomas’ Behandlung der menschlichen Lebensformen im Blick auf die perspektivische Erlangung der beatitudo perfecta läuft damit konsequent auf die Betonung der ethischen Überlegenheit (= der größeren Verdienstlichkeit) des monastischen Lebens hinaus.29 Es ist deutlich geworden, dass der perfectio-Begriff bei Thomas zur normativen Charakterisierung des menschlichen Gottesbezuges verwendet wird. Die Vollkommenheit Gottes wird zum Leitbild der christlichen Existenz erhoben. Der Christenmensch soll – und muss um des Heils willen – möglichst vollkommen sein, auch wenn ihm dies notgedrungen nur auf unvollkommene Weise möglich ist.30 Unter Berücksichtigung der eingangs erwähnten Zweideutigkeit des christlichen Eschatologie-Begriffs heißt dies: präsentische und futurische Eschatologie werden verstanden als zwei Stufen des Erreichens der perfectio. Die erste – irdische – Stufe bildet die fides caritate formata als inchoatio vitae aeternae; ihr folgt – postmortal – die visio dei beatifica als completio bzw. pos27  Cum igitur sit aliqua communicatio hominis ad Deum secundum quod nobis suam beatitudinem communicat, super hac communicatione opportet aliquam amicitiam fundari. De qua quidem communicatione dicitur I ad Cor. 1: ‚Fidelis Deus, per quem vocati estis in societatem Filii eius‘ (STh II‑II 23.1 corp.art.). 28  Thomas von Aquin, STh II‑II 184,4 corp.art.: in statu perfectionis proprie dicitur esse aliquis, […] ex hoc quod obligat se perpetuo, cum aliqua solemnitate, ad ea quae sunt perfectionis. Vgl. dazu: Horst, Bischöfe. 29  Vgl. vor allem: STh II‑II 182,2 corp.art.; 184,1 corp.art.; 186,1 corp.art. Nicht unterschlagen werden soll allerdings eine wichtige Präzisierung, die auch das Selbstverständnis des Thomas als Dominikaner zum Ausdruck bringt: Das tätige Leben, das anderen Menschen durch Predigt und Lehre die durch Kontemplation erlangten Wahrheiten vermittelt, ist vollkommener als das ausschließlich kontemplative Leben (vgl. STh II‑II 188,6 corp.art.). 30 Als wichtigster biblischer Beleg dafür galt natürlich Mt 5,48: „Darum sollt ihr vollkommen (teleioi, perfecti) sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“.

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sessio vitae aeternae. Entscheidend ist dabei, dass die futurische Eschatologie ein motivationales Eigengewicht erhält, weil die präsentische fides caritate formata letztlich funktional auf die zukünftige possessio vitae aeternae hingeordnet ist. 1.2  Dante Alighieri Das Hauptwerk des berühmten Florentiner Dichters, die sog. „Göttliche Komödie“, ist in vielfacher Hinsicht von historischer Bedeutung. Dies hängt u. a. damit zusammen, dass es auf der Epochenschwelle vom Mittelalter zur beginnenden Neuzeit steht, die in Italien bekanntlich um einiges früher einsetzte als nördlich der Alpen. Anfang (1) und Ende (2) des „Purgatorio“, des zweiten Teils der „Göttlichen Komödie“, machen die historische Verortung von Dantes Text auf der Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit exemplarisch deutlich: 1. Im 13. Gesang des „Inferno“ hatte Dante in Übereinstimmung mit Augustinus (civ. 1,20) die Selbstmörder in der Hölle angesiedelt. Am Eingang des Fegefeuers treffen Dante und Vergil allerdings auf den greisen Cato von Utica. Dieser hatte sich im Jahr 46 v. Chr. nach Caesars Sieg im Bürgerkrieg das Leben genommen. Zwar war auch Cato, wie der Leser erfährt, zunächst in der Hölle, nun aber fungiert er als Aufseher über das Purgatorio. Damit hat er eine christliche Heilsperspektive erhalten: Wegen seines Engagements für die Freiheit der römischen Republik wird dem als „heiliges Herz“ (purg. 1,80: „o santo petto“) angesprochenen Heiden und Selbstmörder die leibliche Auferstehung in Aussicht gestellt (vgl. purg. 1,74 f.). 2. Gegen Ende des „Purgatorio“ fällt Dante wieder in das Denkkorsett der überlieferten Dogmatik zurück: Dem unverschuldetermaßen ungetauft gebliebenen Vergil bleibt die Cato genehmigte Heilsperspektive verwehrt, er darf das irdische Paradies nicht betreten (purg. 27,115–142). – „Das versteht weder Dante noch wir: dieser noble, einfühlsame, weise Mann kommt nie ins Paradies, die sympathischste Figur der ganzen Komödie bleibt ewig draußen“.31

Diese historische Einordnung lässt sich gerade auch in vollkommenheitstheoretischer Hinsicht nachweisen. Dante selbst hatte sein Werk schlicht „Commedia“ genannt. Dass es im kulturellen Gedächtnis als „Göttliche Komödie“ aufbewahrt ist, liegt an Giovanni Boccaccio. Von diesem ein knappes halbes Jahrhundert nach Dante geborenen Dichter stammt die Prädizierung der Göttlichkeit. Damit wurde einem literarischen Text faktisch das zugesprochen, was vom divinum traditionell galt: die höchste Vollkommenheit. Mit der Hinzufügung dieses hochkarätigen Titelbeiworts ist Boccaccio allerdings gerade Dantes eigener Intention durchaus gerecht geworden. Diese Intention fächert sich in zwei Aspekte auf, einen konventionellen und einen innovativen. Der konventionelle Aspekt lautet: Dantes Werk möchte im Medium menschlicher Sprache auf die göttliche Vollkommenheit verweisen. Dem dient etwa der umfassende Gebrauch, den der Dichter bei der Beschreibung der drei Jenseitsbereiche von der Kreisfigur macht, des Symbols der Vollkom31 

Flasch, Einladung, S. 118.



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menheit.32 Hinzu kommt, dass Dante nicht die irdisch-diesseitige Welt in ihrer Unabgeschlossenheit und Zweideutigkeit zum Gegenstand seines Textes wählt. Er schildert vielmehr „das moralische Fazit der weltlichen Geschichte“:33 Die „Commedia“ behandelt die jenseitige Welt und damit eine Verfassung, in der die göttliche Gerechtigkeit – unveräußerliches Implikat der perfectio divina – durchgängig realisiert ist.34 Neben diesen Verweischarakter der „Commedia“ tritt ihr Manifestationscharakter; dies ist der innovative Aspekt. Dante ist sichtlich bemüht um eine „Vollkommenheit, die in der Immanenz des Kunstwerks selbst liegt“.35 Ein erstes Indiz hierfür bildet die formale Werkstruktur, für die die heiligen Zahlen Drei, Sieben und Hundert von entscheidender Bedeutung sind.36 Weiter wichtig ist, dass Dante selbst in der „Commedia“ in mehreren Rollen auftritt, nicht nur als Erzähler des Geschehens und Autor des Werks, sondern auch als Akteur im Werk – als Wanderer durch Hölle, Fegefeuer und Himmel, der sich einer Selbstreinigung unterzieht, durch die er sich z. B. auf der superbia-Terrasse des Purgatorio von seiner künstlerischen Eitelkeit löst (vgl. purg. 11,18 f.). – So ist der „Weg des Reisenden zum Ursprung der göttlichen Vollkommenheit immer auch der Weg des Dichters zum Ursprung des vollkommenen Kunstwerks“.37 Schließlich ist auf einen Brief Dantes an Cangrande della Scala zu verweisen. Dieses Schreiben, in dem der Florentiner Dichter dem Stadtherrn von Verona das „Paradiso“ widmet, enthält auch eine kommentierende Einführung in das Gesamtwerk.38 Dante bringt hier zum Ausdruck, dass die „Commedia“, analog den Texten der Bibel, neben dem wörtlichen Sinn auch eine (ihrerseits dreigeteilte) allegorische Bedeutung besitzt: „So ist denn der Gegenstand des ganzen Werkes, bloß wörtlich genommen, der Zustand der Seelen nach dem Tode ohne weiteres. […] Im allegorischen Sinne ist aber der Gegenstand der Mensch, je nachdem er vermöge seines freien Willens durch Verdienst oder Unverdienst der belohnenden oder strafenden Gerechtigkeit unterworfen ist“. Dante hat sein Werk also ganz bewußt „nach dem Vorbild von Gottes eigenem Wort verfasst“.39 Es entspricht diesem Befund, dass er seine „Commedia“ im Text selbst zweimal als ein „heiliges Gedicht“ bezeichnet hat (par. 23,62: „sacrato poema“; par. 25,1: „poema sacro“). Verweis- und Manifestationscharakter der Kunst werden bei Dante eng zusammengehalten; die sich in der frühen Neuzeit schließlich vollziehende „Ab32 

Vgl. dazu: Münchberg, Vollkommenheit, S. 92 f. Jauß, Ästhetische Erfahrung, S. 298. 34  Vgl. dazu: Küpper, Petrarcas Replik, S. 110 f. 35  Münchberg, Dante, S. 105. An diesem Punkt unterscheidet sich nach Münchberg Dantes Werk von den sakralen Kunstwerken des Mittelalters; vgl. dazu aber: Claussen, Gottes Häuser, S. 135: „die gotische Kathedrale will nicht nur hinführen, sondern selbst etwas darstellen“. 36  Vgl. dazu: Küpper, Petrarcas Replik, S. 111. 37  Münchberg, Dante, S. 95. 38  Hier verwendete Übersetzung des Textes: Alighieri, Grande Scaliger, S. 234–248. 39  Küpper, Petrarcas Replik, S. 111. 33 

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lösung der Kunst vom Paradigma der göttlichen Vollkommenheit“40 kommt als Option noch nicht in seinen Blick. Bei ihm bleibt die ontologische Vorordnung des göttlichen ens perfectissimum gegenüber der ästhetischen wie der ethischen Vollkommenheit vielmehr unverkürzt erhalten. Dies ist schon daran erkennbar, dass die bleibende Defizienz menschlicher Vollkommenheit ein Thema ist, das das Gesamtwerk durchzieht – von Dantes im Ersten Gesang des „Inferno“ geschilderter Angst vor den eigenen Unzulänglichkeiten (vgl. inf. 1,1–60)41 bis zur Poetik der Unsagbarkeit im 23. Gesang des „Paradiso“ (vgl. par. 23,55–66). Dante zielte also in seiner „Commedia“ neben dem sprachlichen Verweis auf das ens perfectissimum auch auf ein Maximum an ästhetischer Vollkommenheit als einer dem Werk immanenten, sich in ihm manifestierenden Qualität.42 Genau dies freilich nötigte den Autor dazu, gegenüber allem (notorisch unzulänglichen) menschlichen Bemühen um Perfektion die göttliche Prärogative in Sachen Vollkommenheit eingehend zu reflektieren. Dante wollte also ein Werk schaffen, das auf notgedrungen unvollkommene Weise möglichst vollkommen ist; insofern ist die „Commedia“ konzipiert als eine „Asymptote des ens perfectissimum“.43

2.  Alt- und Neuprotestantismus: Martin Luther und Albrecht Ritschl In den der vorneuzeitlichen Tradition zuzurechnenden Werken von Thomas und Dante liegen beeindruckende Synthesen vor, in denen die metaphysischen, ethischen und ästhetischen Aspekte des Vollkommenheitsgedankens zusammengehalten werden. Dagegen lassen sich für die Entwicklung und das Denken der Neuzeit vielfältige Tendenzen zur Differenzierung nachweisen. Was die europäischen Reformationen angeht, so kann vor allem eine Differenzierung als deren gemeinsamer Nenner namhaft gemacht werden; gemeint ist die „fundamentale Unterscheidung zwischen opus Dei und opus hominum“.44 Aus dieser Differenzierung ergaben sich wichtige und tiefgreifende Veränderungen für das Verständnis von christlicher Vollkommenheit. 2.1  Martin Luther Auch Martin Luther ist, wenngleich in anderer Weise als Dante, eine Gestalt des Übergangs. „Sein Geist war zweier Zeiten Schachtgebiet/Mich wundert’s nicht, wenn er Dämonen sieht“ – diese auf Luther gemünzte Formulierung aus dem Gedicht „Huttens letzte Tage“ (1872) von Conrad Ferdinand Meyer macht die Stellung des Reformators auf der Epochenschwelle zwischen Mittelalter und 40 

Münchberg, Dante, S. 105. Münchberg, Dante, S. 105. 42  Er „erhebt das Kunstwerk zum Raum der Inkarnation, indem er dem ästhetischen Schein die Würde einer ontologischen Erscheinung verleiht“ (Münchberg, Möglichkeit, S. 75). 43  Küpper, Petrarcas Replik, S. 114. 44  Fischer, Protestantismus, S. 549,45. 41 Vgl.



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Neuzeit deutlich. Die damit verbundene Ambivalenz von Luthers Denken hat insbesondere Ernst Troeltsch gewürdigt.45 In seiner Darstellung „Protestantisches Christentum und Neuzeit“ (1906/09)46 sowie in dem auf seinen Stuttgarter Vortrag vom 29. April 1906 zurückgehenden Text über „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“ (1906/11)47 hat Troeltsch vor allem die Diskontinuität zwischen der Reformationsepoche und der Moderne herausgearbeitet und durch die Unterscheidung zwischen Alt- und Neuprotestantismus profiliert:48 „Der Altprotestantismus fällt trotz seines allgemeinen Priestertums und seiner prinzipiellen Gesinnungsinnerlichkeit unter den Begriff der streng kirchlich supranaturalen Kultur […] Erst als der Neuprotestantismus die Idee der kirchlichen Gesamtkultur aus den Augen verloren hatte, konnte er die Gewissensforderung der historisch-philologischen Kritik, die staatsfreie, vereinskirchliche Gemeindebildung und die Offenbarungslehre der inneren persönlichen Überzeugung und Erleuchtung als genuin protestantische Prinzipien bezeichnen, während der alte Protestantismus das alles mit den Kategorien des ‚Naturalismus‘ einerseits und des ‚Fanatismus‘, ‚Enthusiasmus‘, ‚Sektiererei‘ andererseits belegte“.49

Als Fazit dieser Differenzierung ergibt sich: „Von einer Erzeugung der modernen Kultur durch den Protestantismus ohne weiteres kann natürlich überhaupt nicht die Rede sein.“50 In gewisser Weise gegenläufig zu dieser Betonung der Diskontinuität fragt Troeltsch in seinem 1908 publizierten Text „Luther und die moderne Welt“ – er geht auf einen am 23. November 1907 in München gehaltenen Vortrag zurück – wesentlich eingehender nach Kontinuitäten zwischen Reformation und Neuzeit. Als Ausgangspunkt dieses Zugangs dient ihm die Persönlichkeit Luthers: „Aus ihr spricht etwas unmittelbar Lebendiges zu uns, das wir zum großen Teil noch verstehen können als zu uns geredet, während die theologische Sprache seiner Genossen und Epigonen uns heute fast unverständlich und fremd ist.“51 45 

Vgl. dazu auch: Leonhardt, Lutherische Ekklesiologie, S. 163–168. Troeltsch, Protestantisches Christentum, (1. Aufl.) S. 253–458, (2. Aufl.) S. 431–755 (im Folgenden ist die 2. Auflage zugrunde gelegt). 47  Troeltsch, Bedeutung des Protestantismus, S. 199–316. 48  Vgl. dazu: Drehsen, Neuprotestantismus, S. 368–375; Drescher, Troeltsch, S. 226–254. 49  Troeltsch, Bedeutung des Protestantismus, S. 226 f. 50  Troeltsch, Bedeutung des Protestantismus, S. 233. Vgl. auch die Hinweise zum „Doppelgesicht“ des Protestantismus „in seiner Ursprungsepoche“: „Faßt man das alles zusammen, so ist deutlich, daß der Protestantismus nicht bloß eine Durchbrechung des katholischen Systems im Kerne ist, sondern daß diese Durchbrechung zugleich in einer Richtung erfolgt, die die religiöse Parallele zu den großen aufstrebenden Grundrichtungen der modernen Welt ist. […] Aber ebenso deutlich ist doch auch, daß alle diese Wahlverwandtschaft mit der modernen Welt und der ganze Zusammenhang mit ihr in engen Grenzen bleibt und daß trotzdem die vom Protestantismus erzeugte konfessionelle Kultur dem mittelalterlichen Typus näher bleibt als dem modernen“ (Troeltsch, Protestantisches Christentum, S. 432 und 470). 51  Troeltsch, Luther, S. 66 f. Vgl. auch: Troeltsch, Protestantisches Christentum, S. 456 (was die vom Protestantismus verursachte „neue Wendung“ angeht, so „tritt hier vor allem die Persönlichkeit Luthers hervor“). 46 

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Die damit angesprochene Ambivalenz lässt sich, wie noch zu zeigen sein wird, gerade an Luthers eschatologischen Aussagen treffend verdeutlichen. Zuvor ist jedoch die vom Reformator vorgetragene Kritik am ‚alteuropäischen‘ perfectio-Gedanken sowie die damit zusammenhängende Tendenz zur Neuprofilierung des Vollkommenheitsbegriffs zu würdigen. Als dafür einschlägiger Hintergrund kann Luthers Irritation angesichts der eben skizzierten mittelalterlichen Erhebung der göttlichen Vollkommenheit zum Leitbild der christlichen Existenz gelten.52 Im Rahmen dieses Partizipations- bzw. Hinordnungsmodells wurde zwar grundsätzlich an der Überzeugung festgehalten, nach der sich der Mensch die – für die Erlangung der beatitudo perfecta erforderliche – Gnade Gottes weder aus eigenen Kräften verdienen noch zu ihrer Entstehung beitragen kann. Aber ungeachtet dessen artikulierte sich zunehmend das Interesse, den ernsthaften Wunsch nach Überwindung der Sünde und Orientierung auf Gott theologisch positiv zu werten. Daraus ergab sich schließlich die Tendenz, das Bemühen des Menschen um eine Ausrichtung an den Geboten Gottes als nicht hinreichende, wohl aber notwendige Voraussetzung der Gnadenerlangung zu verstehen. – Denen, die ihr Bestes geben, wird Gott die Gnade nicht vorenthalten (Facientibus quod in se est Deus non denegat gratiam): Dieser Grundsatz, den Thomas (etwa in STh I‑II 112,6 ad2) nur unter der Bedingung akzeptiert hatte, dass der Impuls zum facere quod in se est nicht vom freien Willen des Menschen, sondern von Gott ausgeht, avancierte im 14. und 15. Jahrhundert zu einem viel behandelten gnadentheologischen Axiom. Auf der Theorieebene sollte damit eine Balance „zwischen Furcht und Hoffnung“ aufrechterhalten werden.53 „Faktisch jedoch wird der Gnadenempfang an die natürlichen Möglichkeiten des Menschen gebunden.“54 Für den jungen Luther, der von einem vitalen Interesse an Heilssicherheit bestimmt war, stellte sich der beschriebene Zusammenhang zwischen christlicher Sittlichkeit und Heilserlangung zunächst als eine Herausforderung dar: Er wollte alle damals zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ausschöpfen, um seines Gnadenstandes (als der Voraussetzung für die Erlangung des Heils) sicher sein zu können. Er ging deshalb ins Kloster und unterzog sich der Disziplin seines Ordens mit exemplarischer Ernsthaftigkeit. Die Erfahrung, die er bei dem Versuch machte, unter den damaligen kirchlichen und theologischen Bedingungen seinen Gnadenstand sicherzustellen, war freilich die des Scheiterns. Ihm wurde einerseits deutlich, dass die teleologische Orientierung des irdisch-menschlichen Handelns auf die Gnadenerlangung und den postmortalen Heilsstand letztlich von einem egoistischen Interesse an der Herstellung, Sicherung und Steigerung der je eigenen Vollkommenheit getragen war. Die sich in diesem Motiv manifestierende menschliche Eigenliebe stellte sich ihm aber als das genaue Gegenteil

52 

Vgl. zum folgenden: Leonhardt, Möglichkeiten, S. 151–161. Oberman, Werden, S. 137. 54  Zur Mühlen, Reformatorische Vernunftkritik, S. 138. 53 



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der von Gott geforderten Hingabe dar, die vielmehr im konsequenten Absehen von allen Eigeninteressen bestünde: „Doch sei angemerkt, daß jene, die […] Gott mit der Liebe der Begehrlichkeit lieben, d. h. um ihrer Erlösung und ihrer ewigen Ruhe willen oder auch um der Hölle zu entrinnen, also (Gott) nicht um Gottes, sondern um ihrer selbst willen (lieben), diese Worte [scil. Röm 9,3] für seltsam, ja für Torheit ansehen […]. Zu dieser Weisheit kommen sie aber deshalb, weil sie nicht wissen, was selig und erlöst sein eigentlich heißt, nämlich wenn es nicht genießen und sich wohl befinden bedeutet, wie sie es sich vorstellen. Dabei heißt selig sein (doch nichts anderes als) Gottes Willen und seine Ehre in allen Dingen zu wollen und nichts für sich selbst zu wünschen, weder hier noch in Zukunft.“55

Ihm wurde andererseits deutlich, dass die Abhängigkeit der Gnaden- und Heilserlangung von menschlichen Bemühungen um einen gottgefälligen Lebenswandel die Unsicherheit über den eigenen Gnadenstand nicht nur nicht verringert, sondern vielmehr ins Unermeßliche steigert, weil der Mensch nie wirklich und dauerhaft sicher sein kann, ob seine – stets von egoistischen Motiven begleiteten – Bemühungen um einen gottgefälligen Lebenswandel ‚in den Augen Gottes‘ tatsächlich ausreichen: „Mein Gewissen würde, wenn ich auch ewig lebte und wirkte, niemals gewiß und sicher, wieviel es tun müßte, damit es Gott genug tue. Denn welches Werk auch immer vollbracht wäre, immer bliebe der beunruhigende Zweifel zurück, ob es Gott gefalle oder ob er irgend etwas darüber hinaus fordere, wie es auch die Erfahrung aller Werkheiligen beweist und wie ich es zu meinem großen Leidwesen so viele Jahre hindurch zur Genüge gelernt habe.“56 Die skizzierten Einsichten führten Luther in ein Dilemma und schließlich in die Verzweiflung: Entweder der Mensch ignoriert, dass er wegen seiner egoistischen Grundmotivation und der potentiellen Unzulänglichkeit seiner Bemühungen zu einem gottgefälligen Lebenswandel prinzipiell nicht in der Lage ist; dann wird er sich – im irrigen Vertrauen auf seine soteriologische Kompetenz – in falscher Sicherheit über seine tatsächliche Situation gegenüber Gott wiegen. Diese Ignoranz gegenüber der eigenen Sünde führt ihn unweigerlich in die ewige Verdammnis. Oder der Mensch erkennt seine soteriologische Inkompetenz an; dann wird er zu einer realistischen Einschätzung seiner tatsächlichen Situation gegenüber Gott gelangen. Die sich dann einstellende Einsicht in die prinzipielle Unüberwindbarkeit der eigenen Sünde führt ihn aber zur Verzweiflung angesichts der deshalb zu 55  Luther, Römerbrief, S. 214. Lateinischer Text: Delius, Martin Luther Studienausgabe Bd. 1, S. 140,26–33 (Notandum autem, Quod hec verba iis, qui […] Deum amore concupiscentiae diligunt i[d] e[st] propter salutem et requiem eternam aut propter fugam inferni, hoc est, non propter Deum, Sed propter seipsos, mira, immo stulta videntur […]. Hoc autem sapient, Quia nesciunt, quid sit Beatum et saluum esse, Nisi scil[icet] voluptari et bene habere secundum phantasiam suam. Cum sit hoc esse Beatum, Voluntatem Dei et gloriam eius in omnibus velle et suum nihil optare, Neque hic neque in futuro). 56  Luther, Vom unfreien Willen, S. 327. Lateinischer Text: LDStA 1, S. 650,7–12 (conscientia mea, si in aeternum viverem et operarer, unquam certa et secura fieret, quantum facere deberet, quo satis Deo fieret. Quocunque enim opere perfecto, reliquus esset scrupulus, an id Deo placeret, vel an aliquid ultra requieret, siut probat experientia omnium iustitiariorum, et ego meo magno malo tot annis satis didici).

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erwartenden ewigen Verdammnis. – Es war also jener mit dem vorneuzeitlichen perfectio-Gedanken verbundene Zusammenhang zwischen christlicher Sittlichkeit und Heilserlangung, der Luther bei seiner Suche nach Heilsgewissheit in Verbindung mit einer ungeschminkten Wahrnehmung der eigenen Motivlage in die Verwerfungsgewissheit getrieben hat. Die durch Luther vorgenommene theologische Verarbeitung der dargestellten Situation lief bekanntlich auf die Zurückweisung jener soteriologischen Aufwertung der christlichen Moralität hinaus, die sich aus der im vorreformatorischen Christentum festgehaltenen normativen Leitbildfunktion der perfectio divina ergeben hatte. Es kam bei Luther zu einer Neubestimmung des Zusammenhangs zwischen dem Gottesverhältnis und der irdisch-moralischen Lebensführung des Menschen; Karl Holl hat diesbezüglich von einem „Neubau der Sittlichkeit“ und Gerhard Ebeling von „Luthers Kampf gegen die Moralisierung des Christlichen“ gesprochen.57 Es ist daher keineswegs ein Zufall, dass sich das reformatorische Rechtfertigungsverständnis mit seiner Tendenz, „das natürliche Gefälle des Vollkommenheitsdiskurses zum ethischen Perfektionismus nachhaltig zu blockieren“,58 sowohl mit einer prinzipiellen Kritik am überlieferten Vollkommenheitsbegriff als auch mit einer deutlichen Polemik gegen die mittelalterliche Zweistufenethik (namentlich: gegen die Betonung einer ethischen Überlegenheit des monastischen Lebens) verband. Zunächst zur prinzipiellen Kritik. Vor allem in seiner Auseinandersetzung mit dem Löwener Theologen Jacobus Latomus von 1521 hat der Reformator unter Berufung auf einschlägige Bibelstellen sowie mit Hinweis auf die religiöse Erfahrung festgehalten, dass die Sünde auch in den Getauften und Heiligen wesenhaft erhalten bleibt. Eine Vollkommenheit des Menschen als Mensch ist deshalb theologisch ein Un-Thema. Die am göttlichen Vollkommenheitsideal gemessene Unzulänglichkeit menschlicher Werke ist nicht gradueller Art, sie ist nicht eine noch verbleibende Unvollkommenheit; sie gründet vielmehr in einer kategorialen Differenz zwischen göttlichem Anspruch und menschlichen Realisierungsmöglichkeiten. Luther hat deshalb den Satz, Gott würde Unmögliches fordern, ebenso vehement verteidigt wie die Feststellung, dass jedes gute Werk Sünde sei.59 Luthers Polemik gegen die Zweistufenethik und seine damit verbundene Kritik am Mönchtum60 begegnen ebenso an zahlreichen Stellen seines Werkes wie die ansatzweise Neuprofilierung des Vollkommenheitsgedankens im Sinne eines von Nächstenliebe getragenen Weltengagements, das an die Stelle der von Werkgerechtigkeit infizierten klösterlichen Weltflucht treten sollte. „Vollkommenheit und Unvollkommenheit“ besteht nach Auffassung des Reformators „nicht in Werken, macht auch keinen besonderen äußerlichen Stand unter den Christen, 57 Vgl.

Holl, Sittlichkeit, S. 287; Ebeling, Luthers Kampf, S. 73. Moxter, Vollkommenheit, S. 1201. 59  Luther, Rationis Latomianae, vgl. bes. S. 212–221 und 227–229. 60 Vgl. Lexutt, Reformation und Mönchtum. 58 



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sondern besteht im Herzen, in Glauben und Liebe, so daß wer mehr glaubt und liebt, der ist vollkommen, er sei äußerlich ein Mann oder Weib, Fürst oder Bauer, Mönch oder Laie“.61 Daher „kann ein Kind von zehen Jahren besser sagen, was ein vollkommener Stand sei, denn alle Mönche und Nonnen. Ursache, sie denken nur auf ihr Klosterleben. Aber ein Christ spricht: Vollkommen sein heißt, Gott fürchten und lieben, und dem Nächsten alles Gute thun“62 – „volkummen sein heißt Gott foerchten und lieben und dem nechsten alles guttes thun“ (WA 52, 489,23 f.).

In einem Text aus dem Jahre 1527 wird dann der Zusammenhang zwischen Luthers Kritik am vorneuzeitlichen perfectio-Verständnis einerseits und der Eschatologie andererseits deutlich.63 Es handelt sich um die Auslegung von I Joh 1,8 („Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns“). Luther versteht diese Formulierung als Rede „wider die eingebildeten Heiligen“, die, insbesondere repräsentiert durch das „Papstthum“, vom „Vertrauen auf die eigene Vollkommenheit“ getragen sind. Der dann folgende Textabschnitt sei nachstehend im Ganzen zitiert, wobei der Übersetzung der Walchschen Ausgabe die zugrundeliegende Passage aus der Weimarer Ausgabe beigegeben ist (WA 20, 599–801: 622,33–39). Die Mönche haben gelehrt, ihr Stand sei die Vollkommenheit. Wir Christen rühmen uns keiner Vollkommenheit, sondern bitten allezeit, daß wir in der Erkenntnis Gottes und Christi wachsen mögen, wie Petrus vermahnt, 2. Ep. 3,18. Denn aller unser Wandel macht uns nicht gerecht. Denn „wir werden ohne Verdienst gerecht, aus seiner Gnade“, Röm. 3,24. Und dieses muß wohl eingeschärft werden, auf daß wir nicht verzweifeln, wenn wir sündigen, wir sündigen bei welcher Gelegenheit es sei. Aber, wie wenn sich die Mönche auf die Väter stützen? Was wollen wir von diesen sagen? Ich pflege zu antworten: Wenn die Väter auf den Grund Christi stoppeln, Heu, Holz gebauet haben, das haben sie endlich im Tode erkannt, sie haben gesagt: Ich werde weder durch die bösen Werke, so ich gethan habe, verdammt, noch durch die guten Werke, so ich gethan habe, selig werden, sondern durch das Blut Christi werde ich erhalten werden.

Monachi docuerunt eorum statum esse perfectiorem, nos Christiani de nulla perfectione gloriamur, sed semper petimus, ‚ut crescamus in cognitione Dei et Christi‘, ut Petrus admonet 2. ep. 3. Omnis enim nostra conversatio non iustificat. Gratis enim iustificamur, Rom. 3. Et hoc oportet inculcari, ne desperemus, quando peccamus, qualicunque etiam occasione peccaverimus. Verum quando monachi Patribus nituntur, quid de illis dicemus? Ego soleo repondere: Si Patres super Christi fundamentum struxerunt stipulas, foenum, lignum, quid tandem in morte cognoverunt? Dixerunt: Neque per haec iustificabor, quae feci bona, neque damnabor per ea, quae feci mala, sed Christi sanguine servabor.

61  Luther, Weltliche Obrigkeit, S. 12. Frühneuhochdeutscher Text: WA 11, 249,18–21 („volkomenheyt unnd unvolkomenheyt steht nicht ynn wercken, macht auch keynen sondern eusserlichen standt unter den Christen, sondern steht ym hertzen, ym glawben und liebe, das wer mehr glewbt unnd liebt, der ist volkomen“). 62  Luther, Am achtzehnten, S. 902, Nr. 4. Dass der status perfectionis nicht in der monastischen Lebensform realisiert wird, sondern „allein im Glauben und in der Liebe steht“, hatte Luther bereits 1521 in „De votis monasticis“ betont: D. Martin Luthers Urteil von den geistlichen und Klostergelübden, in: Luther: Dogmatisch-polemische Schriften, S. 1621 f. (WA 8, 644,28 f.: solius fidei et charitatis). Vgl. insgesamt: Köpf, Mönchtum, bes. S. 53 f. 63  Alle folgenden Zitate entstammen: Luther, Auslegungen, S. 1410.

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Neque per haec iustificabor, quae feci bona, neque damnabor per ea, quae feci mala, sed Christi sanguine servabor.  – Hier kommt die mit Luthers Kritik des vorneuzeitlichen perfectio-Gedankens verbundene Auflösung des Zusammenhangs zwischen dem Gottesverhältnis und der irdisch-moralischen Lebensführung des Menschen in wünschenswerter Deutlichkeit zum Ausdruck. Diese rechtfertigungstheologisch fundierte Ent-Moralisierung des christlichen Glaubens führte unweigerlich dazu, dass die futurische Eschatologie jenes motivationale Eigengewicht einbüßte, das ihr etwa bei Thomas von Aquin noch zugekommen war. Dies wird gerade auch an der Durchführung der materialen Eschatologie in den Schriften des Reformators deutlich. Luther hat zwar, wie Notker Slenczka gezeigt hat, den „Grundbestand der gegenständlichen Aussagen der eschatologischen Tradition […] durchgängig festgehalten“; die dogmatische Eigenständigkeit dieser Aussagen wird aber dadurch relativiert, dass Luther sie „konsequent und facettenreich zur Deutung der gegenwärtigen Existenz im Glauben und für die Bewältigung der dort aufbrechenden Probleme funktionalisiert“ hat.64 Bei der christlichen Hoffnung geht es Luther demnach nicht um ein „Sich-Sehnen nach einer ausstehenden Zukunft, sondern das eigentliche Interesse Luthers haftet an der dadurch begründeten Beurteilung der Gegenwart, und zwar genauer an einer Selbstbeurteilung des Hoffenden“.65 Christian Danz hat diesen Befund kürzlich bestätigt: „Der Gedanke des letzten Gerichts wird […] aller Äußerlichkeit, wie sie in der mittelalterlichen Frömmigkeit ihren Ausdruck fand, entkleidet und strikt auf die Innendimension des Gewissens bezogen.“66 – Infolgedessen hat die Vollkommenheitsthematik ihr dogmatisches Zentrum nicht mehr in der futurischen Eschatologie; durch die Identifizierung von Glaube und Heilsgewissheit im reformatorischen Rechtfertigungsverständnis kommt es vielmehr dazu, dass der Vollkommenheitsgedanke nun das genuine Thema der präsentischen Eschatologie und insofern der Soteriologie wird. Freilich ändert sich nichts daran, dass die im Fiduzialglauben gegebenen Heils- und Vollkommenheitserfahrungen immer nur fragmentarischer Art sind und insofern auf ihre zukünftige Entgrenzung verweisen, eine Entgrenzung, auf die sich die christliche Hoffnung auf Vollendung richtet. Daher bleibt der perfectio-Thematik auch im Horizont der Rechtfertigungstheologie ein futurisch-eschatologischer Brennpunkt erhalten. Von Luthers Abweisung des vorneuzeitlichen Modells einer normativen Hinordnung der christlichen Moralität auf die perfectio divina her konnte sich allerdings letztlich jene semantische Differenzierung des perfectio-Begriffs in Vollkommenheit und Vollendung nahelegen, die Schleiermacher vollzogen hat. Vor der Würdigung von dessen Ansatz ist jedoch noch ein Blick auf die Rezeption des Vollkommenheitsbegriffs bei Albrecht Ritschl zu werfen. 64 

Slenczka, Christliche Hoffnung, S. 435 f. (Hervorh.: RL). Slenczka, Christliche Hoffnung, S. 438 (Hervorh.: RL). 66  Danz, Einführung, S. 136; vgl. auch den ganzen Zusammenhang S. 133–138. 65 



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2.2  Albrecht Ritschl Durch Luthers theologische Neuorientierung wurde die Verwendungsgeschichte des Vollkommenheitsbegriffs im neuzeitlichen und modernen Protestantismus nachhaltig geprägt. Eine umfassende Darstellung dieser Entwicklung, die auf zahlreiche innerprotestantische Spannungen und Kontroversen stoßen würde, muss als Desiderat der Forschung bezeichnet werden. Hier ist deshalb lediglich exemplarisch daran zu erinnern, dass sich mit dem Denken Albrecht Ritschls ein Konjunkturschub des Vollkommenheitsbegriffs in der protestantischen Theologiegeschichte verbindet, der Luthers Ansatz einerseits weitergeführt, dabei aber auch verändert hat. Zunächst eine lexikalische Bestandsaufnahme: In den beiden ersten Auflagen der „Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche“ taucht das Stichwort „Vollkommenheit“ in den 1866 bzw. 1885 erschienenen Bänden nicht auf. Dies ändert sich mit dem 1908 erschienenen 20. Band der 3. Auflage. Der entsprechende Artikel stammt von Ludwig Lemme,67 der dem Vollkommenheitsgedanken bereits in seiner Christlichen Ethik von 1905 einen Paragraphen gewidmet hatte.68 Hier wie auch in zahlreichen um 1900 publizierten Texten zum Vollkommenheitsthema69 steht ersichtlich die Theologie Albrecht Ritschls im Hintergrund.70 Ritschl hat betont, dass der Gedanke einer Vollkommenheit des religiösen sowie des sittlichen Lebens für die ethische Orientierung des Christentums unabdingbar ist und deshalb ganz zu Recht Eingang in die reformatorischen Bekenntnisse gefunden hat.71 Ein biblisch-reformatorisches Verständnis der perfectio christiana muss allerdings den pietistischen Irrweg vermeiden, darf also nicht der Reaktivierung des überwunden vorreformatorischen Vollkommenheitsgedankens dienen. Vollkommenheit im Sinne Ritschls ist deshalb nicht identisch „mit dem vergeblichen Haschen nach effectiver Unsündlichkeit“.72 In quantitativer Hinsicht bleibt unser Gottvertrauen ebenso wie Handeln vielmehr notorisch unvollkommen; ein asymptotischer Charakter kommt ihm grundsätzlich nicht zu.

67 Vgl. Lemme, Vollkommenheit, S. 733–737. Lemme war Nachfolger von Wilhelm Gaß auf Richard Rothes Heidelberger Lehrstuhl; vgl. zur Person: Wesseling, Lemme, S. 1407–1410; Lessing, Geschichte, S. 130–132. 68  Lemme, Christliche Ethik, S. 615–626 (= § 58). 69 Hinweise zu diesen Debatten bietet: Warfield, Ritschl the Rationalist, S.  533–584; Warfield, Ritschl the Perfectionist, S. 44–102. 70  Vgl. zu Ritschl: Schäfer, Ritschl, S. 143–150; Richmond, Albrecht Ritschl, S. 173–206; Mühling, Versöhnendes Handeln, S. 48 ff.; Meireis, Tätigkeit und Erfüllung, S. 92–131. 71  Ritschl verweist auf CA 27, 49: „[C]hristliche Vollkommenheit besteht darin, mit Ernst Gott zu fürchten, und doch darauf zu vertrauen, dass wir um Christi willen einen gnädigen Gott haben, und in solchem Glauben zuzunehmen und ihn zu üben, Gott anzurufen, Hilfe von Gott zu erwarten in allen Sachen, und äußerlich gute Werke, die Gott geboten hat, zu tun, ein jeder nach seinem Beruf“. 72  Ritschl, Die christliche Lehre, 3. Aufl, S. 629 [im Folgenden: RuV3 3].

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Als ein aus der protestantischen Tradition selbst hervorgegangenes Beispiel für den pietistischen Irrweg sei das Vollkommenheitsverständnis von John Wesley genannt;73 das in Ritschls Begriff der christlichen Vollkommenheit gerade ausgeschlossene „vergebliche[n] Haschen nach effectiver Unsündlichkeit“ (RuV3 3, 629) hat den Begründer des Methodismus ersichtlich fasziniert. Dies belegt vor allem seine „Kurze Erklärung der christlichen Vollkommenheit“74, ein Buch, das zuerst 1766 veröffentlicht wurde und bis 1840 (Wesley war bereits 1791 gestorben) insgesamt 17 Auflagen erlebte. Seine Grundthese hatte Wesley bereits in einer 1741 veröffentlichten Predigt formuliert. Ein exegetischer Durchgang durch einschlägige biblischen Stellen, darunter Phil 3,15 und I Joh 5,18, führte ihn zu folgendem Ergebnis: „Ein Christ ist soweit vollkommen, daß er keine Sünde tut“75 – Gerade diese Gleichsetzung der christlichen Vollkommenheit mit Sündlosigkeit war aber das Schibboleth, das den, wenn man so will, orthodoxen mainstream-Protestantismus von seinen kirchlich-theologischen Gegnern unterschied.76

Es ist nicht die quantitative, sondern allein die qualitative Vollkommenheit, die nach Ritschl „mit dem Wesen des Menschen verträglich ist“.77 Als deren religiöse Funktionen bringt Ritschl „den Glauben an die väterliche Vorsehung Gottes, die Demut, die Geduld, das Gebet“ in Anschlag; hinzu kommen „die sittlichen Funktionen des pflichtmäßigen Handelns im besonderen Beruf und der Tugendbildung“.78 Insbesondere im Blick auf die sittliche Funktion des pflichtmäßigen Handelns im besonderen Beruf hat Ritschl den Begriff der Ganzheit verwendet, ein Stichwort, das auch in ästhetischen Diskursen vielfach im Zusammenhang mit dem Vollkommenheitsgedanken auftaucht:79 Der „Begriff der sittlichen Vollkommenheit im christlichen Leben […] hat […] den Sinn, daß die sittliche Leistung oder das Lebenswerk im Zusammenhange des Reiches Gottes bei aller quantitativen Beschränktheit unter der Qualität eines Ganzen in seiner Art begriffen werden darf“ (RuV3 3, 629; vgl. schon 473 und 615). Und „weil wir im Christenthum ein Jeder seinen persönlichen Werth von der ganzen Welt unterscheiden, ist uns auch als Christen die Aufgabe gestellt, jeder ein Ganzes in seiner Art zu werden“ (ChrV2 53); dieses „sittliche Lebenswerk als ein Ganzes“ bringt man nach Ritschl dadurch zustande, dass „man seine Arbeit in dem besondern Beruf auf das Gemeinwohl des menschlichen Geschlechtes richtet“ (ChrV2 56). Religiöse und sittliche Vollkommenheit im beschriebenen – qualitativen – Sinne sind also nach Ritschl durchaus möglich. Diese Feststellung steht nicht im Widerspruch zu der auch von ihm konzedierten „quantitativen Unvollständigkeit und Mangelhaftigkeit […] der Functionen […], in denen man die christliche 73 Vgl.

Ward, Wesley, S. 657–662. Wesley, Christian Perfection, Zum Vollkommenheitsbegriff von Wesley: Williams, Theologie Wesleys, S. 147–167; Gassmann, Erfahrungsreligion, S. 110–139, bes. S. 115–125; Runyon, Neue Schöpfung, S. 104–115. 75  Wesley, Predigten, S. 17. 76  Als repräsentativ für den orthodoxen mainstream-Protestantismus kann gelten: Zedler, Vollkommenheit der Gläubigen, S. 523–533. Vgl. zu diesem Lexikon: Schneider, Erfindung. 77  Ritschl, Christliche Vollkommenheit, S. 50 [im Folgenden: ChrV]. 78  Ritschl, Unterricht, § 59 (vgl. RuV3 3, S. 580 ff.; ChrV2, S. 49 ff.). 79  Vgl. dazu pars pro toto: Oschmann, Die Aporien, S. 249–267. 74 



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Religion ausübt“.80 Gemessen an jenem Vollkommenheitsverständnis, gegen das er sich im Einklang mit der reformatorischen Tradition wendet, hat sein eigener Begriff deshalb geradezu paradoxen Charakter: Die unvermeidliche quantitative Unvollkommenheit kommt in qualitativer Hinsicht gerade als Ausdruck der Vollkommenheit zu stehen: „[D]er Glaube, welcher in die Bitte ausbricht: Herr hilf meinem Unglauben, ist in seiner Art vollkommen“ (RuV3 3, 616; vgl. ChrV2 20). – Nicht darum geht es Ritschl also, dass der Christ, wie in der vorneuzeitlichen Tradition, auf notgedrungen unvollkommene Weise möglichst vollkommen sein soll, sondern umgekehrt darum, dass er unvollkommen sei, dies aber auf vollkommene Weise.

3.  Vollkommenheit und Vollendung bei Friedrich Schleiermacher Bei Luther und Ritschl wurde in je unterschiedlicher Weise die für den vorneuzeitlichen perfectio-Begriff typische Orientierung der christlichen Sittlichkeit am Ideal der perfectio divina (Sündlosigkeit) aufgegeben. Anders formuliert: Vollkommenheit wird zu einem menschlichen Gut – zu Glauben und Liebe (Luther) bzw. zur Ganzheit des Lebenswerks im Zusammenhang des Reiches Gottes (Ritschl). Dieser Vorgang führte, wie insbesondere an Luther gezeigt werden konnte, zu einer Entkoppelung von irdischer Moralität und postmortaler Heilsperspektive. Der damit verbundene Verlust eines soteriologisch relevanten motivationalen Eigengewichts der futurisch-eschatologischen Lehrgehalte soll nun, wie am Ende von 2.1 bereits angedeutet wurde, in Beziehung gesetzt werden zu der semantischen Differenzierung von Vollkommenheit und Vollendung, wie sie bei Schleiermacher vorliegt. Nachstehend wird deshalb der Verwendung beider Begriffe beim ‚Kirchenvater des 19. Jahrhunderts‘ nachgegangen. Zunächst zum Begriff der Vollkommenheit. Was speziell die (2. Auflage der) Glaubenslehre angeht,81 so lassen sich drei Zusammenhänge identifizieren, in denen er in auffälliger Häufung begegnet. Dabei handelt es sich um die Urstandslehre, die Christologie sowie die Soteriologie. Wegen der Vergleichbarkeit mit Ritschl sowie im Blick auf die Abgrenzung vom Vollendungsbegriff wird hier der soteriologische Kontext in den Blick genommen. Nach Schleiermacher besteht der Glaube in der „Aneignung der Vollkommenheit und Seligkeit Christi“ (KGA I/13,2, 171,14 f.: § 108), dessen vollkommenes Gottesbewusstsein das Urbild christlicher Frömmigkeit darstellt. Dieser

80 

Ritschl, Die christliche Lehre, 1. Aufl., S. 579 [im Folgenden: RuV1 3]. Schleiermacher, Der christliche Glaube. Bei Schleiermacher taucht der Vollkommenheitsgedanke auch in mehreren nichttheologischen Kontexten auf, etwa in der philosophischen Ethik und in der Ästhetik; der vorliegende Beitrag nimmt ausschließlich die theologisch-dogmatische und die theologisch-ethische Verwendung des Vollkommenheitsbegriffs in den Blick. 81 

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Gedanke wird in der christlichen Sittenlehre aufgenommen.82 Bereits in seinem Manuskript aus dem Jahr 1809 (SW I/12, Beilage A) hat Schleiermachers als den „Grundzustand“ des Christen die „Gemeinschaft mit Gott durch Christum“ festgehalten (SW I/12, Beilage A, 15: § 44), die sich im menschlichen Bewusstsein als „Seeligkeit“ niederschlägt (§ 45). Diese „Seeligkeit“ gilt nun nach Schleiermacher als eine sowohl lust- wie auch unlusttranszendente Befindlichkeit, die allerdings als „Freude“ bezeichnet werden kann; christliche Seligkeit ist also „Freude am Herrn“ (SW I/12, Beilage A, 16: § 47). – Dieser Zusammenhang steht übrigens auch Ritschl vor Augen, der die Freude ausdrücklich als das „Gefühl der Vollkommenheit“ namhaft gemacht hat (ChrV 63; RuV3 3, 615). Die Lust- und Unlusttranszendenz des Seligkeitsbewusstseins beruht nach Schleiermacher freilich auf einer Abstraktion vom wirklichen Leben. Dessen notorische Zeitlichkeit mache die unumgängliche Prozessualität und Unabgeschlossenheit des Vollkommenheits- bzw. Seligkeitsbewusstseins deutlich; dies führe unweigerlich dazu, dass sich „die Seeligkeit in Lust und Unlust“ spalte (SW I/12, Beilage A, 16: § 48). Einer Bearbeitung des Lust- und Unlustgefühls in der christlich-ethischen Lebenswirklichkeit dienen nun nach Schleiermacher die beiden Varianten des wirksamen Handelns: das verbreitende und das reinigende. Doch auch das Vollkommenheitsbewusstsein als solches begründet eine eigene Handlungsform. Dies ist zwar paradox, denn alles Handeln ist zeitlich, und das Gewahrwerden von Zeitlichkeit hebt die Lust- und Unlusttranszendenz des Seligkeitsbewusstseins gerade auf. Aber nach Schleiermacher hat der Mensch „die Fähigkeit, auch im unmittelbaren Bewußtsein, im Gefühle, von der zeitlichen Bestimmtheit seines Daseins zu abstrahieren“ (SW I/12, Beilage A, 18: § 53); daraus ergibt sich „eine gewisse unbeirrbare Gestimmtheit des Christen“,83 die zum Handlungsimpuls wird. Die daraus folgende zeitliche Manifestation der Zeitlichkeitsabstraktion, wird als darstellendes Handeln bezeichnet. Es ist gekennzeichnet durch ein Desinteresse an Veränderung, denn um verändern zu wollen, müsste der Mensch, so Schleiermacher, „durch Lust oder Unlust die Indication bekommen haben“ (SW I/12, Beilage A, 18: § 53). – Natürlich ist diese Unterscheidung von wirksamem und darstellendem Handeln idealtypischer Art. Die Spezifik des darstellenden Handelns besteht deshalb in concreto darin, dass das auch in ihm unweigerlich vorkommende wirksame Element nur „als Minimum“ (SW I/12, Beilage A, 21: § 61) bzw. „Nebensache“ (SW I/12, Beilage A, 23: § 68) erscheint. Als Paradigma des darstellenden Handelns bringt Schleiermacher bekanntlich den Gottesdienst in Anschlag, den er freilich in einem engeren und in einem weiteren Sinne versteht. Der Gottesdienst im engeren Sinne, die heute eher schwach frequentierte Mitte des christlichen Kultus, gilt als Unterbrechung des Alltagsgeschäfts. Nach Schleiermacher liegt es „in der Natur der christlichen Ge82  Schleiermacher, Die christliche Sitte. Vgl. dazu: Birkner, Schleiermachers Sittenlehre, S. 102–141; Nowak, Schleiermacher, S. 253–260. 83  Nowak, Schleiermacher, S. 255.



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sellschaft, daß sich gemeinsame Pausen bilden in ihrem wirksamen Handeln“.84 Der christliche Kultus lässt sich im Prinzip verstehen wie ein säkulares Fest;85 in beiden Fällen geht es um eine Vergegenwärtigung der geschichtlichen Ursprünge einer durch einen Gemeingeist verbundenen Gruppe von Menschen, die sich dafür der Kunst bedient. Beim Gottesdienst im weiteren Sinne handelt es sich dagegen gerade nicht um eine das Alltagsgeschäft unterbrechende Darstellung des Vollkommenheitsbewusstseins, sondern vielmehr um dessen Manifestation in der Mitte des Alltags. Schleiermacher spricht von der alles wirksame Handeln begleitenden Darstellung des Zustands „der freien Herrschaft des Geistes über das Fleisch“ (SW I/12, 527 u. ö.), einem Zustand, der mit dem Bewusstsein der Seligkeit identisch sei. Die Sicherheit bei der Darstellung dieses Vollkommenheitsbewusstseins im Alltag wird dann tugendethisch profiliert (vgl. SW I/12, 599–618). Genau hier freilich kommt die Unvollkommenheit der christlichen Vollkommenheit zum Ausdruck: Menschliche Tugend ist nämlich immer „Resultat eines Kampfes“ (KGA I/13,2, 50,14: § 93,4); für die Christus beigelegte „stetige Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins“ (KGA I/13,2, 52,11 f.: § 94) gilt dagegen, dass „sie von allem was wir Tugend nennen weit entfernt ist“ (KGA I/13,2, 50,4 f.: § 93,4). Nun zum Vollendungsbegriff. Sein systematischer Ort in der Glaubenslehre ist die futurische Eschatologie, namentlich das Lehrstück „Von der Vollendung der Kirche“ (KGA I/13,2, 456–493: §§ 157–163). Dabei geht es darum, „den Vollendungszustand jenes Prozesses zu beschreiben, der durch die Erscheinung des Erlösers in Gang gesetzt wird“.86 Freilich ist die Durchführung der Lehre von den letzten Dingen nach Schleiermacher von spezifischen Problemen belastet, die im Leitsatz von § 159 angesprochen sind; danach kann „den kirchlichen Lehren von den letzten Dingen […] der gleiche Werth wie den bisher behandelten Lehren nicht […] beigelegt werden“ (KGA I/13,2, 446,1–3). Freilich ist die Frage, wie diese Formulierung genau zu verstehen ist. Eilert Herms hat dezidiert bestritten, dass aus dieser Formulierung abzuleiten sei, „daß diese Aussagen an Wichtigkeit für den Glauben hinter den anderen Glaubensaussagen zurückstehen“.87 Dagegen hat Martin Weeber in seiner Tübinger Dissertation über Schleiermachers Eschatologie genau dies behauptet. Das wesentliche Argument bezieht Weeber aus dem Vergleich zwischen Eschatologie und Schöpfungslehre – in der hier bevorzugten Terminologie: aus dem Vergleich zwischen dem Verhältnis von präsentischer Eschatologie (bzw. Soteriologie) 84 

Schleiermacher, Praktische Theologie, S. 549. Rössler, Unterbrechungen, S. 51–57. Der Zusammenhang zwischen christlichem Kultus und säkularem Fest wird auch von Odo Marquard betont: Marquard, Moratorium, S. 203 f.; Marquard plädiert dafür, „die menschlichen Feste so weitherzig zu pflegen, daß bei ihnen […] alle drei menschlichen Lebensformen […] auf ihre Kosten kommen. Die genießenden Menschen amüsieren sich beim Fest, die praktischen Menschen machen – beim festumgebenden Rummel – ihre Geschäfte; die frommen und beschaulichen Menschen aber begehen das Fest […] beschaulich, bittend und dankend, betend“ (ebd.). 86  Weeber, Schleiermachers Eschatologie, S. 99. 87  Herms, Schleiermachers Lehre, S. 136. 85 Vgl.

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und futurischer Eschatologie einerseits sowie dem Verhältnis von Erhaltungund Schöpfungslehre andererseits. Bekanntlich haben nach Schleiermacher Schöpfungs- und Erhaltungslehre nicht den gleichen dogmatischen Wert, und nach Weeber hat Schleiermacher auf die Exklusion der Schöpfungslehre (als Protologie) lediglich aus Rücksicht „auf den allgemeinen Stand der dogmatischen Arbeit“ verzichtet.88 Entscheidend ist nun: Die „Rede vom geringeren dogmatischen Wert der Sätze der Eschatologie, die an der Stelle ihres Vorkommens merkwürdig unexpliziert bleibt, hat die Funktion, den Leser der Glaubenslehre an genau jenen Zusammenhang zu verweisen, in welchem am Beispiel der Schöpfungslehre detailliert erörtert wird, was es heißen soll, dass ein Lehrstück einen geringeren dogmatischen Wert hat.“89

Einen – m. E. überzeugenden – interpretatorischen Mittelweg zwischen Herms und Weeber ist Henning Theißen gegangen.90 Eine Gleichwertigkeit der futurisch-eschatologischen Aussagen mit dem Bewusstsein „unseres geistigen Lebens als mitgetheilter Vollkommenheit und Seligkeit Christi“ (KGA I 13/2, 468,8 f.: § 159,2) ist nach Theißen ebensowenig im Sinne Schleiermachers wie eine Exklusion der futurisch-eschatologischen Lehrgehalte aus der Dogmatik aufgrund ihres völligen Fehlens im christlich-frommen Selbstbewusstsein. S. E. ist es vielmehr „die irreduzible Zweigleisigkeit der christlichen Zukunftshoffnung“, durch die das Vollendungsbewusstsein vom Vollkommenheitsbewusstsein unterschieden ist. Diese Zweigleisigkeit bestehe darin, dass „die Vollendung entweder die Kirche oder aber die Einzelnen in ihr betrifft“ bzw. darin, dass „die Vollendung entweder in einem allmählichen Übergang oder aber sprunghaft erwartet wird“. In beiden Fällen gilt: Es stehen „zwei im christlichen Selbstbewußtsein als Vorgefühl enthaltene Erwartungen unverbunden nebeneinander“.91 Es gibt, mit anderen Worten, durchaus ein Vorkommen der mit der Vollendung der Kirche zusammenhängenden Vorstellungen im christlichen Bewusstsein, aber es handelt sich dabei lediglich um ein Vorgefühl, das nicht in den für dogmatische Sätze geforderten „höchst mögliche[n] Grad der Bestimmtheit“ (KGA I 13/1, 130,5 f.: § 16 Leitsatz) überführt werden, also nicht in eine „Verbindung mit organisirtem Wissen“ gebracht werden kann (KGA I 13/1, 133,11: § 16,3). 88  Weeber, Schleiermachers Eschatologie, S. 163. Allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied: Während die dogmatische Depotenzierung der Protologie innerhalb der Glaubenslehre durch die Hochstufung der Erhaltungslehre kompensiert wird, geschieht entsprechendes bezüglich der futurischen Eschatologie nicht. Die Glaubenslehre beschränkt sich hier auf eine Problemanzeige, und diese vollzieht sich nach Weeber paradoxerweise gerade dadurch, dass Schleiermacher die „kosmologischen Gehalte der traditionellen Eschatologie“ faktisch fortschreibt, ein Vorgehen, das aber gerade nicht als „Beschreibung der Stärken der traditionellen Fassung der Eschatologie“ zu verstehen ist, sondern als „die Herauspräparierung von deren verwundbarster Stelle“ (Weeber, Schleiermachers Eschatologie, S. 169). 89  Weeber, Schleiermachers Eschatologie, S. 165. 90  Vgl. dazu: Theißen, Evangelische Eschatologie, S. 42–78, bes. S. 56 f.; ferner: Theißen, Berufene Zeugin, S. 146–150. 91  Theißen, Berufene Zeugin, S. 148.



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Die Konsequenzen, die sich daraus für den eschatologischen Charakter von Schleiermachers Erlösungsverständnis ergeben,92 liegen auf der Hand. Präsentische Eschatologie (Vollkommenheitsbewusstsein) und futurische Eschatologie (Vollendungsvorgefühl) liegen auf verschiedenen Ebenen. Dies gilt zunächst in bewusstseinstheoretischer Hinsicht. Das christliche Erlösungsbewusstsein als Bewusstsein „unseres geistigen Lebens als mitgetheilter Vollkommenheit und Seligkeit Christi“ (KGA I 13/2, 468,8 f.: § 159,2) kann dergestalt auf die in der Einleitung der Glaubenslehre beschriebenen subjektivitätstheoretischen Grundlagen bezogen werden, dass die „Überwindung des der Religion Anderen durch Religion […] als Aufhebung des Sünden- ins Gnadenbewußtsein“ explizierbar ist.93 Dies ist im Fall der futurisch-eschatologischen Lehrstücke anders. Was die futurische Universaleschatologie angeht, so kann nach Schleiermacher „auf unserm Standpunkt keine Lehre von der Vollendung der Kirche entstehen, da unser christliches Selbstbewußtsein gradezu nichts über diesen uns ganz unbekannten Zustand aussagen kann“ (KGA I 13/2, 457,18–20: § 157,2). Ähnlich liegen die Dinge im Fall der futurischen Individualeschatologie. Der christliche Erlösungsglaube „ist zwar natürlicherweise von einem Bestreben begleitet, über den Zustand der Persönlichkeit nach dem Tode eine anschauliche Vorstellung zu bilden und festzuhalten; allein wir können durchaus keinen Anspruch darauf machen, dass uns dies bis auf einen gewissen Punkt gelingen werde“ (KGA I 13/2, 464,25–29: § 158,3).

Aus dieser Spezifik der futurisch-eschatologischen Tradition ergibt sich deren mangelnde ‚Dogmatisierbarkeit‘. Zwar sind „beide Elemente die Vollendung der Kirche und die persönliche Fortdauer jedes für sich mit vollkommner Wahrheit in unser christliches Bewußtsein aufgenommen“, aber „weder [will sich] aus dem Zusammenfassen und Aufeinanderbeziehen beider Elemente eine festbegränzte und wahrhaft anschauliche Vorstellung ergeben, noch läßt sich eine solche von dem einen oder dem andern Element aus den Andeutungen der Schrift entwikkeln“ (KGA I 13/2, 492,21–493,1: § 163 Zusaz). – Während die Versprachlichung des Vollkommenheitsbewusstseins durchaus beanspruchen kann, „eine Erkenntniß im eigentlichen Sinne hervorzubringen“, hat die Verbalisierung des Vollendungsvorgefühls stets entweder mythischen oder visionären Charakter, führt also auf die auf die „Formen des profetischen“, das seinerseits lediglich dazu bestimmt ist, „schon erkannte Principien anregend zu gestalten“ (KGA I 13/2, 493,14–17: § 163 Zusaz).

92  Eine eingehende Würdigung der neueren Literatur zu Schleiermachers Erlösungsverständnis ist hier nicht möglich. Lediglich verwiesen sei daher auf die zweifellos höchst einschlägige Monographie von Claus Dieter Osthövener: Osthövener, Erlösung, bes. S. 58–101 („Die Religion der Erlösung – Friedrich Schleiermacher“). 93  Zarnow, Erlösung, S. 15.

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Fazit Mit Luthers Kritik am ethischen Perfektionsideal des mittelalterlichen Christentums, dessen ästhetische Ausformung bei Dante vorliegt, wurde der Prozess einer Anthropologisierung, ja Säkularisierung des Vollkommenheitsbegriffs angebahnt. Der religiöse Hintergrund dieses Vorgangs lässt sich in rechtfertigungstheologischer Terminologie so formulieren: Der Gott, der den Menschen durch das Gesetz notorisch überfordert, ist nach Luther derselbe, der ihn mit dem Evangelium umfassend entlastet und auf die Kultivierung seiner Endlichkeit statt auf deren Transzendierung festlegt. Im modernen Protestantismus wird dementsprechend der status perfectionis nicht als eine Überwindung der conditio humana verstanden, sondern, im Gegenteil, als deren Bewährung unter den Bedingungen ihrer Nicht-Überwindbarkeit: Die Vollkommenheit des Christenmenschen bedeutet zunächst, dass der Gläubige religiös stabilisiert wird. Nach Ritschl beruht die religiöse Stabilität des Christen darauf, dass im Glauben „die Werthschätzung [des Menschen] als eines Ganzen in seiner Art qualitativ und stetig gewährleistet“ ist (RuV1 3, 578) und der Mensch sich dazu bestimmt und befähigt begreift, „in seiner geistigen Art Ein Ganzes zu sein“ (RuV3 3, 615); nach Schleiermacher findet dieses Stabilisiert-Sein im christlichen Kult und im christlichen Alltagsleben als den beiden Ausprägungen des darstellenden Handelns einen empirisch greifbaren Ausdruck. Der Gläubige wird darüber hinaus ethisch orientiert, und dieses Orientiert-Sein manifestiert sich nach Schleiermacher im wirksamen Handeln sowie nach Ritschl in der als Beitrag zum Reich Gottes verstandenen Berufsarbeit (vgl. RuV3 3, 556), wobei erst Ritschl die weltliche Berufsarbeit als solche direkt als Ausdruck der perfectio christiana einstuft. Innerhalb dieses theologischen Horizontes konnte bei Ritschl die Vollkommenheit wieder zu einem Zentralbegriff der christlichen Ethik werden, wobei sich in seiner Unterscheidung von qualitativer und quantitativer Vollkommenheit Schleiermachers Differenzierung von Vollkommenheit und Vollendung teilweise abbildet. Dabei bekräftigen die Differenzierungen von Schleiermacher und Ritschl die bereits bei Luther greifbare Herabstufung des für die vorneuzeitliche Tradition typischen und wichtigen motivationalen Eigengewichts der futurischen Eschatologie, deren biblisch fundierte Zukunftsvisionen seit der Aufklärung ohnehin an Plausibilität eingebüßt hatten und denen in Schleiermachers Glaubenslehre wegen ihrer mangelnden ‚Dogmatisierbarkeit‘ explizit ein niedrigerer Wert zugesprochen worden war. Was folgt nun aus dieser (hier exemplarisch vollzogenen) begriffsgeschichtlichen Befassung mit dem perfectio-Konzept für den christlichen Erlösungsbegriff? Zunächst ein besseres Verständnis dessen, warum und wie die evangelische Version der Erlösungsreligion Christentum, was die Vorstellung vom Vorgang der Erlösung angeht, im Laufe der Neuzeit zunehmend auf die präsentische Eschatologie bzw. die Soteriologie abgestellt und die christliche Jenseitsorientierung zugunsten einer „innerweltliche[n] Gestalt des Erlösungs-



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glaubens“94 zurückgestuft hat – jedenfalls auf der Ebene der dogmatischen Reflexion. Darüber hinaus dürfte deutlich geworden sein, dass und warum die eingangs referierte Gegenüberstellung von Erlösungs- und Versöhnungsreligion unproduktiv ist. Sicher: Der Begriff der Erlösung impliziert stets die Tendenz zu einer Verneinung oder Überwindung der Welt. Dabei ist aber nicht ausgeschlossen, dass, wie im Anschluss an Ernst Troeltsch schon geltend gemacht wurde (vgl. das in Anm. 12 nachgewiesene Zitat), für den Erlösten dieselbe Welt zugleich als „zentraler Platz des Handelns des Menschen“95 aufgefasst wird. Insofern bestätigen die vorstehenden Analysen auch die Einschätzung eines weiteren religionsphilosophischen Vertreters der klassischen Moderne: „Für die christliche Weltanschauung sind Weltüberwindung und Weltflucht verschiedene Dinge“96, und speziell für das protestantische Christentum gilt: Die Überwindung der Welt wird gerade nicht durch Weltflucht gewonnen, sondern „mit und durch das Wirken in der Welt.“97

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94 

Osthövener, Erlösung, S. 48 (das Zitat bezieht sich auf Luther). Sundermeier, Religion, S. 57. 96  Siebeck, Religionsphilosophie, S. 146. 97  Siebeck, Religionsphilosophie, S. 158. Den Hinweis auf Siebecks Religionsphilosophie verdanke ich Georg Neugebauer. 95 

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II.  Gegenwärtige Zugänge: Systematische und religionsphilosophische Perspektiven auf Umbau oder Ende der Erlösung

Vom ewigen Leben zur Lebensbewältigung Umbauten der Tauftheologie Günter Thomas Vorbemerkungen Innerhalb der Erlösungsreligion des Christentums haben sich seit der Reformation grundlegende Umwälzungen ereignet.1 Erstaunlich ist, mit wie großer Selbstverständlichkeit Max Weber an der Wende zum 20. Jahrhundert noch von einer Erlösungsreligion sprechen konnte – stand doch zumindest das protestantische Christentum schon inmitten folgenreicher Umbrüche.2 Um dieser Umbauten ansichtig zu werden, können verschiedene Strategien verwendet werden. Klassisch wäre, in einschlägigen normativen Selbstbeschreibungen, konkret, dogmatischen Texten, nach der Verortung und Interpretation des Topos zu fragen, kurz: begriffsgeschichtlich zu fragen. Man könnte aber auch den größeren eschatologischen Imaginationshorizont abschreiten und fragen, wie die Realisierung von Erlösung in die historischen Verschiebungen der Zukunftserwartungen und -hoffnungen des christlichen Glaubens eingeschrieben oder eingewoben ist. Ein solcher, weiterer ideengeschichtlicher Ansatz erlaubt wohl, die größeren tektonischen Verschiebungen ins Auge fassen zu können. Stattdessen soll in den folgenden Überlegungen ein dritter Weg eingeschlagen werden, der die Systematische Theologie so nahe wie möglich an die gelebte Frömmigkeit heranführt und doch zugleich auf eigenem Terrain arbeiten lässt. Die theologischen Umbauten in Sachen Erlösung sollen an einem realen Indikator abgelesen werden, d. h. an dem für das Christentum als Religion und für die Identität des kirchlichen Glaubens und der christlichen Kirche zentralen Ritual der Taufe.3 Am Gegenstand der christlichen Taufe, so die These meiner Überlegungen im Feld „religiöse Lebensoptimierung versus Erlösung“, lassen sich die erlösungstheologischen Umbauten beispielhaft erkennen.4

1  Für die Verschiebungen im 19. Jh. siehe Osthövener, Erlösung. Einschlägig sind auch die Veränderungen des Transzendenzverständnisses. Exemplarisch Hölscher, Jenseits. 2  Zu Max Weber siehe Hanke, Erlösungsreligion. 3  Zur politischen Bedeutung der Taufe für das christliche Europa siehe Phelan, Formation of Christian Europe. 4 Im Folgenden werden Überlegungen weitergeführt aus Thomas, Taufe. Zur grundlegenden Orientierung Barth, Taufe in frühchristlicher Zeit und Lange, Die Taufe.

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Die große theologische wie kulturgeschichtliche und nicht zuletzt auch ritualtheoretische Bedeutung der Taufe ist schlechterdings nicht zu bestreiten. Die Taufe ist das wichtigste identitätsmarkierende Ritual des Christentums. Sie ist das eine Sakrament, das alle christlichen Kirchen wechselseitig anerkennen. Die Taufe wurde in ihrem sakramentalen Charakter auch in den reformatorischen Kirchen nie infrage gestellt, wenngleich an den Rändern der reformatorischen Bewegung intensive Debatten um die Bedeutung und Praxis der Taufe geführt wurden. Dieses identitätsstiftende Ritual besteht aus der mehr oder weniger über die Zeit gleichbleibenden Handlungssequenz. Anders als beim Abendmahl, bei dem der Deutungstext selbst Teil des Rituals ist, ist die Taufe stärker von den sie rahmenden Deutungen abhängig. An den Verschiebungen innerhalb der Tauftheologie sollen die Umbauten des Erlösungsverständnisses sichtbar gemacht werden. Unter Berücksichtigung von systematisch-theologischen Gesichtspunkten sind es mehrere Aspekte, die die Taufe und die korrespondierenden Tauftheologien zu einem hermeneutisch fruchtbaren Forschungsgegenstand machen – im Besonderen im Hinblick auf die drei hier zu verhandelnden Aspekte Coping, Enhancement und Erlösung: 1. Mit Blick auf die christliche Theologie stellt die Taufe ein Überschneidungsfeld bzw. eine Vernetzung mehrerer Themen dar: Sie verbindet die Themen Schöpfung, Christus, Heiliger Geist, Glaube und christliche Gemeinde bzw. Kirche. Die Taufe ist ein Netzthema und damit ein theologischer Kristallisationspunkt; sie stellt kein Inselthema dar. 2. Die christliche Taufe ist nicht nur ein Thema der Theologie bzw. der Frömmigkeit und ihrer Texte, sondern zugleich ein Ritus, der auf eine relativ distinkte Art und Weise vollzogen wird. Es ist die Praxis der Taufe, die als Ritual und Handlungsabfolge den Wechsel der Deutungen überlebt hat. Gerade diese relative ‚Härte‘ des Rituals eröffnet eine fluide theologische Deutungsaktivität. Die sich über die Jahrtausende erstreckende und immer wieder interpretierte Taufpraxis bietet die Möglichkeit, einen Wandel der Interpretationen zu beobachten.5 3. Die lange und breite Praxis der Säuglingstaufe, aber auch schon die frühe Praxis der Taufe in einem fließenden Gewässer rückt die Taufe sehr nahe an intensive Erfahrungen leiblichen und darin geschöpflichen Lebens. Dies eröffnet für den Topos ‚Erlösung‘ ein spezifisches Spannungsfeld. Die Taufe ist also nicht nur ein religiöser Topos oder lediglich ein ritueller Vollzug, sondern ein Akt der Einschreibung in Körper. Die öffentlichen Debatten um die religiös rituelle Beschneidung erinnern höchst indirekt und doch ganz öffentlich an die Taufe. Das leibliche Leben ist in einem elementaren Sinn präsent in der Taufe. Die hier verfolgte übergreifende These ist, dass sich in der populären Tauftheologie eine Verschiebung von einem ‚Zugang zur Erlösung‘ hin zu einer 5  Deutlich ist, dass die rituelle Ikonographie der Taufe von Anfang an sehr viel pluraler ist als die normative theologische Beschreibung. Vgl. Jensen, Living water.



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Religiosität der Lebensbewältigung beobachten lässt. Es sind nicht die hochkirchlichen und klassisch-dogmatischen Texte, an denen sich diese Beobachtung festmacht, aber auch nicht das fluide Material der Predigten. Die ausgemachte Verschiebung lässt sich vielmehr in sehr wirkmächtigen religiösen Dauergebrauchstexten wie zum Beispiel in Liedern und Predigtanleitungen klar erheben. Es mehren sich die Indizien, dass hier nicht nur eine immer vorhandene und klar erwartbare Divergenz zwischen offiziellen und überkonsistenten dogmatischen Selbstbeschreibungen einerseits und einer relativ selbständigen und vitalen Volksfrömmigkeit andererseits vorliegt – sondern eben substantielle Umbauten, die die Identität des christlichen Glaubens tangieren.

1.  These, Ansatz und Vorgehen Meine leitende Arbeitshypothese ist: 1. Die Verschiebung von Erlösung hin zu Lebensbewältigung ereignet sich schon in der reformierten Tauftheologie Calvins. 2. Die Lebensbewältigung konzentriert sich jedoch auf die Bewältigung des Glaubenslebens – und es stellt sich in Anschluss daran die Frage, wie sich hier Erlösung und Lebensbewältigung verschränken. 3. Die Verschiebung hin zu der Frage, auf welche persönliche Krise die Taufe antwortet, lässt in ihrer psychologischen Kontextualisierung weiter nach der Qualität des hier gelebten Lebens fragen – wenngleich immer noch im Rahmen des spirituellen Lebens. 4. Die reformierte Tauftheologie ist m. E. eine Zwischenstufe zwischen einem Taufverständnis, das auf Erlösung abstellt, und einem, worin sich letztlich nur noch eine Versicherung für das Wohlergehen in diesem Leben wiederfinden lässt.6 Um die entsprechenden Verschiebungen in der Tauftheologie zu erkennen, werde ich mit einem Blick auf die Tauftheologie des lateinischen Kirchenvaters Augustinus einsetzen. In einem zweiten Schritt möchte ich dann die Ausmünzung dieser Theologie bei den Reformatoren, konkret bei Melanchthon, d. h. in der CA, und bei Martin Luther betrachten. In einem dritten Schritt wende ich mich dann einem klassischen Text von Johannes Calvin zu.

2.  Der lange Schatten der Tauftheologie Augustins Für die Kirchen des Westens hat die theologische Arbeit von Augustin in vielen theologischen Themenfeldern so etwas wie eine Tiefengrammatik geschaffen. Dies gilt auch für die Tauftheologie. 6 Gegenläufig zu der These Osthöveners, der die wesentlichen Umbauten im 19. Jahrhundert verortet, wird hier die These vertreten, dass die langfristig folgenreichste Verschiebung sich schon im Übergang von Martin Luther zu Johannes Calvin ereignet. Für eine analoge Rekonstruktion in der Theologie des Gebets vgl. Thomas, Affizierbarkeit Gottes im Gebet.

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Die entscheidende Schrift Augustins zur Taufe ist das im Jahr 413 veröffentlichte Traktat mit dem Titel „Über Folgen und Vergebung der Sünden und über die Kindertaufe“ (De peccatorum meritis et remissione et de baptismo paruulorum).7 Dieser knappe Text erwies sich nicht nur als eine der wichtigsten Veröffentlichungen für Augustins Erbsündenlehre. Im historischen Rückblick muss er auch als eine kultur- und theologiegeschichtlich äußerst wirksame Schrift betrachtet werden, die für Jahrhunderte die thematische Einbettung der Taufe prägt. Die Schrift ist in den theologischen Konflikten im Nordafrika des beginnenden 5. Jahrhunderts zu verorten, d. h. in dem sogenannten pelagianischen Streit. Die Taufe wird von Augustin als tiefgreifende Antwort auf die unausweichlichen Folgen der Sünde Adams gesehen. Zumindest indirekt geht es Augustin auch um das leibliche Leben, insofern nach seiner Auffassung der Mensch ohne Sünde zumindest potenziell nur sterblich war und erst durch die Sünde Adams faktisch biologisch-leiblich sterblich geworden ist. Diese peccatum originale des Adam, welche Augustin in eine Adam-Christus-Typologie einordnet, findet sich auch faktisch schon in jedem Neugeborenen. Durch Adam ist die originale peccatum über die gesamte Menschheit gekommen. So wurde die gesamte menschliche Konstitution fundamental verändert. Die abstrakte Möglichkeit des biologischen Todes wurde, so Augustin, zur unausweichlichen Realität für jeden Menschen. Diese enorm tiefgreifende Krise benötigt zu ihrer Überwindung eine nicht weniger tiefgreifende Veränderung. Eine Reorientierung der menschlichen Imitation würde nicht ausreichen. Das Gewicht, das Augustin der Taufe zuschreibt, wird deutlich an der von ihm abgelehnten Auffassung: dass nämlich die Taufe – zumindest im Falle von Kindern – nur einen Zugang zum Himmelreich verschaffe, ohne dass sie vor dem Zorn Gottes retten müsste. Dagegen ist Augustin überzeugt, dass es ohne die Taufe keinen Übergang von der Hölle zum Himmel und keinen Übergang in die Seligkeit des ewigen Lebens gebe. „Die Taufe ist also der einzige Weg zur Erlösung.“8 Über jedem getauften Menschen, egal welchen Alters, bleibt der Zorn Gottes stehen. Die Unumgänglichkeit der Taufe zeigt sich darum in der Notwendigkeit der Kindertaufe, wie sich umgekehrt für Augustin am Verhalten des Säuglings schon phänomenologisch ausweist, dass er nicht frei von Sünde ist. Weil Adam so geschaffen wurde, dass er Gottes Gebote verstehen kann und Gott in der Tat erkennen kann, gibt es keinen unschuldigen und natürlichen Urzustand. Die Taufe ist es, die so tief intervenierend eingreift, dass der Schuldzustand der peccatum originale verändert wird und dem gelebten Leben dann nur noch die Aufgabe bleibt, gegen die tief eingewickelte Begehrlichkeit (concupiscientia) anzugehen. Vergegenwärtigt man sich den weiteren theologischen Horizont, so adressiert Christus die durch die Sünde erzeugte Störung der Schöpfungsordnung. Nichts anderes als die Taufe ermöglicht eine 7 

Augustin, pecc. mer. die pointierte Zusammenfassung der Augustinschen Position durch Drecoll. Siehe Drecoll, De peccatorum meritis, S. 324. 8 So



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participatio in Christus. Fragt man nun danach, was die Taufe effektiv mit sich bringt, so ist auf ein Doppeltes zu verweisen. Durch die Taufe geschieht eine Veränderung dieses Lebens, welches durch die concupiscientia geprägt ist und in einem lebenslangen Prozess im Hier und Jetzt verändert wird. Insofern trägt auch für Augustinus die Taufe auch etwas für das Emotions- und Persönlichkeitsmanagement in diesem irdisch gelebten Leben bei. Doch viel mehr ist die Taufe die damit anhebende Anteilnahme am ewigen Leben und die Erlangung von Erlösung. Beide Elemente, die Lebensveränderung und die Erlösung, sind auch mit einem Gefälle final hingeordnet auf die Erlösung.9 Ohne die in der Taufe eröffnete und verheißene Erlösung gibt es keinen Pilgerweg in das himmlische Jerusalem als letzte Heimat des Menschen.10

3.  Die Tauftheologie Philipp Melanchthons in der Confessio Augustana und deren Verschiebung bei Martin Luther In diesem ‚langen Schatten Augustins‘ formuliert Philipp Melanchthon, in der für viele Kirchen noch heute offiziell maßgeblichen Confessio Augustana (CA 9), dass die Taufe heilsnotwendig sei (necessarius ad salutem), und fügt – allerdings nur in der lateinischen Fassung – der Verdammung der sogenannten Wiedertäufer gleich hinzu, dass zu bestreiten sei, ungetaufte Kinder könnten das Heil haben.11 Ganz in der Fluchtlinie Melanchthons kann auch Martin Luther formulieren: Fragt man, was die Taufe nützt, so geht es auch für ihn um die Zueignung von Heil, Seligkeit und Rettung aus der Verlorenheit. Die Taufe ist zweifellos, wie Luther im Großen Katechismus formulieren kann, „not zur Seligkeit“ (698) und „bringet: Überwindung des Teufels und Tods, Vergebung der Sünde, Gottes Gnade, den ganzen Christum und heiligen Geist mit seinen Gaben“ (699).12 Luther fordert dazu auf, zu begreifen, „daß dies der Taufe Kraft, Werk, Nutz, Frucht und Ende ist, daß sie selig mache“ (695). Im Kleinen Katechismus ist die schlüssige Antwort auf die Frage: „Was gibt und was nützet die Taufe? […] Sie wirket Vergebung der Sünden, erlöset vom Tod und Teufel

9  Sprechend ist auch, dass Augustin es ausschließt, dass eine so elementare Verwandlung des Menschen sich hier in diesem Leben ereignet, dass bei Christen nach der Taufe die Weitergabe der Sünde an die Kinder durch die Zeugung nicht mehr stattfinden würde. 10  Anzumerken ist, dass es die von Augustin ins Auge gefasste enge Verbindung von Taufe, Erlösung und Kirche ist, die den Hintergrund des berühmten Satzes von Cyprian von Carthago darstellt: Extra ecclesiam salus non est, d. h. außerhalb der Kirche gibt es kein Heil – weil eben die Taufe in die Kirche führt. Gäbe es außerhalb der Kirche Heil, dann wäre dies unter Umgehung der Taufe vermittelt. Cyprian, Ep. 73, S. 793. 11  Damnant Anabaptistas, qui improbant baptismum puerorum et affirmant sine baptismo pueros salvos fieri (CA 9). Zur Tauftheologie Phillip Melanchthons siehe Melanchthon, Iudicum de Anabaptitis, S. 931–933. Zur Kindertaufe siehe Melanchthon, Loci praecipui theologici, S. 860. 12  Zitat nach Deutscher Evangelischer Kirchenausschuss, Bekenntnisschriften.

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und gibt die ewige Seligkeit allen, die es gläuben, wie Wort und Verheißung Gottes lauten“ (515 f.). So unstrittig es ist, dass Luther in seinen Katechismen in der Fluchtlinie der Theologie Augustins argumentiert, so auffallend ist doch eine Verschiebung, die sich in einem Seelsorgeratschlag an reformatorische Hebammen und Mütter mit Totgeburten und früh sterbenden Säuglingen findet. Im Jahr 1542 erscheint in Wittenberg eine kleine Schrift mit dem Titel: „Der 29. Psalm ausgelegt durch Doktor Johan Bugenhagen Darinnen auch von der Kinder Tauffe. Item von den ungeborn Kindern und von den Kindern, die man nicht teuffen kan. Ein trost Dr. Martini Luthers für die Weibern, welchen es ungerat gegangen ist mit Kindern geberen.“13 Das Ausgangsproblem der Schrift ist ein Doppeltes: Zunächst ist die Frage: Was geschieht mit den Kindern, die schon tot geboren werden oder unmittelbar nach der Geburt sterben. Es ist im seelsorgerlichen Kontext eine Abwandlung der Augustinischen Frage nach der Notwendigkeit der Taufe für Säuglinge, d. h. für Menschen, die ihr Sündersein noch nicht bewusst leben und erleben – und somit auch noch kein Bußbewusstsein erfahren konnten. Doch eine Fixierung auf diese klassische Frage der Erlösung würde, und dies ist die Pointe der Schrift, zu kurz greifen. Was Bugenhagen und dann Luther beschäftigt, ist die seelsorgerliche Notlage, d. h. die Sorge um die Erlösung in der Erfahrung einer schweren Krise des leiblich kreatürlichen Lebens, welche eine Totgeburt für alle Beteiligten darstellt. Wir haben zwei Krisen: Nicht die freudige Geburt, sondern die Totgeburt und die Furcht um die Erlösung des toten Kindes auf Seiten der Mutter und des Seelsorgers. Es ist eine Krise, in der die Religion bzw. der christliche Glaube die menschliche Tragödie noch verstärkt und vertieft. Es ist eine Situation, in der die Krise endlich-kreatürlichen Lebens religiös intensiviert wird. Luthers Ratschlag in dieser Situation lautet: Die christlichen Mütter sollen ihre Kinder in Seufzen und Gebet der Gnade Gottes anbefehlen – denn letztlich geht es nicht um das Sakrament, sondern um das Wort des Trostes. Entscheidend ist, dass die Mütter nicht verschreckt werden, sondern Mut fassen zu ihrem Leben und ihrem Glauben; mit den Müttern sei also tröstlich zu reden. Wie im Verlauf der lutherschen Schrift die Verweise auf die Heiden und Türken deutlich machen: Es geht ihm immer noch um Heil oder Unheil der Kinder. Allerdings lässt die Macht der Fürbitte und die bundestheologisch verankerte Treue Gottes (insbesondere bei Bugenhagen) auf die Barmherzigkeit Gottes hoffen – und genau dies soll der Trost in der leiblich ganz realen Not der Mütter sein. Was Luther und Bugenhagen vorschlagen, ist eine eigentümliche Kopplung und zugleich Entkopplung von Erlösung und Lebensbewältigung – zum einen auf Seiten des Kindes und zum anderen auf Seiten der Mutter. Das Ziel menschlicher Fürsorge in Situationen akuter Gefährdung ist dieses Leben – nicht das ewige Leben. Martin Luther vollzieht – für ihn nicht untypisch – eine seelsorgerliche Transformation der Melanchthonschen Position: In der akuten Notsituation ist 13 

Luther, Ein Trost den Weibern, S. 203 ff.



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die Taufe kein notwendiges Heilsmittel, kein medium salutis. Stattdessen blitzt situationsbedingt auch bei Martin Luther die Erkenntnis auf: Unter der Gnade Gottes geht es auch zentral um die reale Lebensbewältigung dieses mühevollen leiblichen Lebens.

4.  Die Sakramenten- und Tauftheologie des Genfer Katechismus – Sorge für das geistliche Leben Mit dem Genfer Katechismus Johannes Calvins, der 1545 nur drei Jahre später als die Seelsorgeschrift Martin Luthers veröffentlicht wurde, wird eine anders akzentuierte theologische Welt betreten.14 Im Genfer Katechismus von 1545 kommen die Sakramente in einem prägnant re­formierten Gefälle ins­gesamt nach Glaube, Gesetz und Gebet an vierter Stelle zu stehen. Alle Sakramente sind nicht selbst der Vollzug, sondern primär äußere Zeugnisse des göttlichen Wohlgefallens, wodurch die göttlichen Gnadengaben abgebildet („figurat“) werden – als solche Zeugnisse haben sie einen starken Verweischarakter.15 Sie vermitteln nicht die Erlösung im Sinne einer hierdurch ermöglichten Anteilgabe. Dass an diesem Punkt die Souveränität der göttlichen Gabe und Freiheit der Gnade auch ‚ausscheren‘ kann, hat sich schon im Seelsorgeratschluss Martin Luthers gezeigt. Der bei Calvin nun im Vordergrund stehende Zeugnischarakter hat in der Vergangenheit oft zu der Annahme verleitet, sie seien als Zeugnisse stark kognitiv ausgerichtet und in ihrem Verweischarakter würden sie die transformativ-performative Kraft im Ereignis des Rituals theologisch abblenden. Doch dieser Eindruck lässt sich an den Texten nicht bestätigen. Vielmehr offeriert Calvin eine theologisch, psychologisch und ritualtheoretisch überaus faszinierende Konzeption, die eine klare Zwischenstellung und Gelenkstelle zwischen der eher lutherischen Heilsvermittlung und der gegenwärtig die Tauf­ theologie prägenden Lebensbewältigung einnimmt. Die Sakramente zielen in ihrer Äußerlichkeit und zugleich ihrer Konkretheit nicht auf ein kognitives Verstehen, sondern auf ein ‚Versiegeln‘ der Herzen. Die Sakramente, die auf die Einheit von Wille und Gefühl ausgerichtet sind, sind zugleich Werkzeug des Heiligen Geistes, d. h. Gottes sich der Nöte der Menschen annehmendes Werk an ihnen. Die Sakramente, Taufe und Abendmahl, reagieren auf im menschlichen Leben konstante Problemkonstellationen, die sich in der Verflechtung unseres leiblich-endlichen und zugleich unseres geistlichen, auf Erlösung ausgerichteten Lebens ergeben. Zugespitzt formuliert: Die Taufe und Abendmahl sind als Sakramente keine Heilsmittel, sondern dienen 14  Textgrundlage ist die Ausgabe Calvin, Genfer Katechismus. Die Nummerierungen im Text beziehen sich auf die entsprechenden Abschnitte des Katechismus. Eine knappe historische Skizze bietet Janse, Sacraments, für einen Überblick siehe Bromiley, Baptism. 15  Hierin korrespondiert der Genfer Katechismus der Frage 65 des Heidelberger Katechismus. Vgl. auch Freudenberg, Reformierte Theologie, S. 284–299 und Neuser, Tauflehre.

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dem geistlich-spirituellen Coping in der leiblichen Existenz.16 Die Taufe und das Abendmahl sind Mittel der göttlichen Barmherzigkeit zugunsten eines Bleibens im Glaubens und gegenüber den so manifesten wie problematischen Grenzen des Menschseins. Als Zeichen der schon geschehenen Erlösung sind sie Zeichen, welche die Erlösung sinnenfällig zugänglich machen und affektiv zugänglich halten. Sie adressieren einen Evidenzkonflikt zwischen dem Glauben, der sich an der göttlichen Gabe ausrichtet, und einer geschichtlich-leiblichen Existenz in all der Komplexität ihrer psychischen und physischen Verfasstheit. Im Imaginationshorizont von Luthers Theologie formuliert: Es geht in ihnen nicht um die Tatsächlichkeit und ‚Jemeinigkeit‘ der Erlösung und Rettung, sondern um die Daueraktualität der Anfechtung im Umgang mit der geschehenen Erlösung. Die Sakramente und auch die Taufe sind notwendig aufgrund der menschlichen Schwachheit (infirmati nostri, 314). Als Engel bräuchten wir, wie Calvin betont, keine Sakramente. Für reine Geistwesen ohne die irdisch-leiblich-endliche Existenzform wären sie überflüssig. Man kann unumwunden formulieren: Die leibliche Verfasstheit des Lebens ist das Problem, auf das die Sakramente reagieren, ja auf welches das göttliche Fürsorgehandeln eingeht. Der Ort der Verflechtung des geschöpflichen Lebens und des geistlich-spirituellen Lebens ist der Leib als psychophysiologische Einheit. Calvin verschiebt damit die Grundproblematik, auf welche die Sakramente eingehen, so, dass von einer Akzentverschiebung von einer eschatologisch orientierten Soteriologie hin zu einer religiös-spirituellen Anthropologie gesprochen werden muss. Die von Calvin diagnostizierte grundlegende Problemstellung sollte nicht dazu verführen, Calvin Leibfeindlichkeit vorzuwerfen. Man würde dann die Pointe seiner Konzeption übersehen, denn die von Calvin diagnostizierte Schwachheit des Leibes lässt ihn die Lösung nicht in einer Vergeistigung oder einer Entleiblichung suchen, sondern gerade umgekehrt in einer konkreten Adressierung des Leibes, in und mit dem Glaube gelebt wird. Die Leiblichkeit des Lebens ist nicht nur Ort der Problementstehung, sondern auch der Ansatzpunkt der Problemlösung, denn, so die implizite These Calvins, unsere Schwachheit lässt sich nicht einfach durch Belehrung, Information und das richtige Denken bzw. Verstehen bearbeiten. Wer so denkt, erliegt, so Calvin, einer gefährlichen Selbsttäuschung. Zentral ist, dass sich durch die tröstende Kommunikation wirklich „Gottes Verheißung mit all unseren Sinnen befasst“ (in Dei promissionibus exerceri sensus omnes nostros, 314). Die Problemlösung wird im gleichen medialen Substrat gesucht wie die Problementstehung. Das leibliche Leben wird gewürdigt als Adresse und Medium des Trostes. Überhaupt sind die Sakramente Ereignisse der fürsorglichen Anpassung Gottes an die spezifischen geschöpflichen, konkreten und darin anthropologischen Schwächen und Bedürfnisse. Sie sind Abbilder und Spiegelbilder himmlischer Gaben in leiblich-irdischen Erfahrungsfeldern. Sie kommunizieren kein Heil, sondern stellen tröstende Krisenkommunikationen dar. Anders als in 16 

So gegen die stark lutherische Lesart von Scheld, Media salutis.



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gegenwärtigen praktisch theologischen Konzeptionen ist es allerdings nicht die lebensgeschichtliche Krise, sondern eine leiblich-geistliche Dauerkrise, die die Sakramente nötig macht. Wollte man die johanneische Nikodemuserzählung mit ihrer Metaphorik der doppelten Geburt aus Fleisch und Geist heranziehen, so müsste man von der Krise des aus dem Geist geborenen, aber in und mit unserem leiblichen Leben gelebten ‚geistlichen‘ Lebens sprechen. „Es genügt eben nicht, dass der Glaube einmal in uns angefangen hat, wenn er nicht dauernd genährt wird; er soll von Tag zu Tag wachsen. Um ihn zu nähren, zu stärken und zu fördern, hat daher der Herr die Sakramente eingesetzt“ (319). So sehr Calvin die Sinnenfälligkeit des sakramentalen Aktes und die Adressierung des Körpers betont, so sehr gilt es zwei Missverständnisse zurückzuweisen. Der Leib ist nicht der letzte Zielpunkt, sondern das Interface. Sakramente sind nämlich Zeichen, die auf die Herzen, d. h. auf die umfassende Lebensbestimmung, zielen. „Die Herzen zu bewegen und erfassen, die Gemüter zu erleuchten und unsere Gewissen fest und ruhig zu machen“ (312) – d. h. die kognitiv-affektive Dimension verbindend, soll das voluntative Zentrum des Menschen adressiert und mobilisiert werden. Die Sinne sollen sich „mit Gottes Verheißungen befassen“ und so werden wir in unserem Leben bestärkt (confirmentur). Ein weiteres Missverständnis wäre, anzunehmen, dass Calvin angesichts der Wahrnehmung des großen Gewichts der Leiblichkeit der Macht der Performanz vertraut und dann diese Macht mit der Rede vom Heiligen Geist religiös vertieft oder überhöht. Dies ist der Weg, der bei einer Sakralisierung der Leiblichkeit beschritten wird. Jede Suche rituell inszenierter religiöser Unmittelbarkeit geht diesen Weg. Jeder Versuch, ‚Karten‘ als ‚Territorien‘ zu behandeln und zu bewohnen, zielt auf die religiöse Codierung dichter, performativ vermittelter Unmittelbarkeit – eben auf Differenzaufhebung. Calvin insistiert vielmehr darauf, dass es der Geist Jesu Christi ist, der uns nicht auf falsche Weise an den Zeichen hängenlässt, sondern die Zeichenhaftigkeit der Zeichen bleibend erkennen lässt – denn nur so werden wir von den Zeichen auf Christus geführt. Die Dichte und Wucht der leiblichen Erfahrung, die Evidenz der Sinnlichkeit in der Partizipation und der Beobachtung des Rituals sollen eine Differenzerfahrung eröffnen, welche eben selbst auf Christus verweist. Die Erlösung ist nicht im Jenseits oder einfach in einem Diesseits, sondern in der Christusperson, d. h. in den durch den Geist vermittelten Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünften des Christus. Die repetitive Feier des Abendmahls ist zweifellos leichter als göttliches Fürsorgehandeln zu beschreiben als das einmalige Geschehen Taufe. Und doch ist auch die Taufe selbst ein Abbild. Aber in welchem Verhältnis steht im Fall der Taufe das Abbild zum Abgebildeten? Hier vertritt Calvin die Auffassung, dass die ‚Sache‘ mit dem Abbild verknüpft ist (Sic figuram esse sentio, ut simul annexa sit verita, 328) – allerdings im Modus einer verheißenen Gabe, die wiederum an die ewige Prädestination rückgebunden ist. Hier leuchtet im Hintergrund auch für Calvin ein Moment der Heilsvermittlung auf, wenngleich in einer deutlich distanzierteren Positionierung.

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Die direkte Adressierung des Körpers findet sich faktisch-operativ auch in dem begründeten Rückverweis auf das Vorbild der Taufe, die Beschneidung. Analog zur Beschneidung wird in der Taufe „die Verheißung des Heils“ (salutis promissionem) mit einem sichtbaren Zeichen ihren Körpern eingeprägt (in eorum corporibus inisculptam esse). Die Sache der Taufe, d. h. „die Kraft und die Wirklichkeit der Taufe“ (338) ereignet sich dann im gestalteten Leben der Gemeinde und der Glaubenden. Mit Christus in der Taufe verbunden zu werden, bedeutet, „mit Christus bekleidet und mit seinem Geist beschenkt“ (331) zu werden. Dabei stellt die Taufe – anders als in der eher lutherischen Akzentuierung einer Taufe in den Tod Jesu (Röm 6,9) – auf ein neues Leben ab. „Daß wir aber zu einem neuen Leben im Gehorsam gegen Gott wi[e]dergeboren werden, ist die Wohltat seiner Auferstehung“ (330). Dieser pneumatologischen Orientierung korrespondiert eine Hervorhebung der ethischen Bedeutung der Taufe. Der Umstand, dass „sein Geist in uns wohnt“, zeigt sich „mit Taten gegenüber unseren Mitmenschen“ (332). In all dem ist auch die Taufe letztlich ein Zeichen „zur Bezeugung von Gottes Barmherzigkeit und Verheißungen“. Ohne dieses „müßten wir einen hervorragenden Trost vermissen“ (consolatio, 337). Die Taufe ist, dies wurde schon deutlich, nicht einfach eine Affirmation des geschöpflichen Lebens in einem neuen Erdenbürger. Für die Taufe ist vielmehr eine dreifache Bewegung charakteristisch, deren Aspekte alle drei ein Werk des Heiligen Geistes sind. Die sinnliche Adressierung der leiblichen Erfahrung, die auf das Herz abzielt, ist eine Bewegung hin auf den des Trostes bedürftigen Menschen. Zugleich bezieht der Geist Gottes dieses empirische Leben auf das Christusereignis, bezieht dieses leibliche Leben auf die geschehene Versöhnung und die Erlösung. Damit wird der Geist die Macht, die diesen Augenblick der Erfahrung oder Beobachtung der sakramentalen Feier auf die Zeiten des Christus bezieht. In dieser Bewegung wird das subjektive und gemeinschaftliche Jetzt mit den Zeiten, d. h. den Vergangenheiten und Zukünften Christi verbunden. Der Geist vollzieht eine Art ‚Reframing‘ in der Gegenwart. Das Sakrament macht hierin nicht einfach Abwesendes ganz gegenwärtig, reißt aber auch nicht eine Kluft zwischen der leiblichen Gegenwart und einem ganz Anderen, einem Mysterium o.ä., auf. Es macht eine im Geist überbrückte Differenz gegenwärtig – und so stellt sich eine Transformation der Gegenwart ein. Damit stellt sich die dritte Bewegung einer Transformation der Gegenwart in der Erfahrung Jesu Christi im Geist ein. Die starke Zumutung Calvins ist die Zurückweisung aller Unmittelbarkeitsvorstellungen (auch die einer ‚Gegenwärtigkeit‘) und die theologische Überzeugung, dass die Verwandlung dieses Lebens durch die performative Vergegenwärtigung von „Abbildern“ (figura esse sentio, ut simul annexa sit veritas, 328) geschieht – indem der Geist uns wegverweist von der gegenwärtigen Erfahrung auf Christus. Wir werden leiblich adressiert, aber um uns von uns wegzuwenden, um so wiederum durch Gottes Zuwendung verwandelt zu werden.



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Abschließende Überlegungen In der deutschsprachigen protestantischen Theologie ist zum Ende des 20. Jahrhunderts die Tauftheologie weithin aus dem zweiten und dritten Artikel des Glaubensbekenntnisses in den ersten Artikel ausgewandert. Die Taufe wird in diesem Prozess im Grunde ein geburtsorientiertes Lebensbegleitungsritual. Diese empirischen Beobachtungen lassen die Frage nach den ‚Vorgeschichten‘ dieser Verschiebungen aufwerfen. Zugleich bilden sie den Hintergrund des Ausgangspunktes der hier vorgelegten Entwicklungsskizze, d. h. der Annahme, dass sich der Umbau von Erlösungsverständnissen paradigmatisch an den Umbauten der Tauftheologie zeigen lässt. Innerhalb der Gesamtentwicklung öffnet sich ein Spannungsbogen von einer Interpretation der Taufe als ‚Tor zur Erlösung‘ bis hin zu einem Taufverständnis, in dem die Taufe eine lebensbejahende Feier eines neuen und vitalen geburtlichen Lebens ist. Deutlich wurde, dass der Blick auf die ‚Vorgeschichten‘ zeigt, wie sich auch innerhalb der Konzeptionen, die sich im Raum des zweiten und dritten Artikels des Glaubensbekenntnisses verorten lassen, welche also mit christologischen und pneumatologischen Begründungen arbeiten, signifikante Verschiebungen ereignen. Sie legen zumindest die Hypothese nahe, dass die Ausrichtung der Taufe an der geistlichen Lebensbegleitung die Orientierung am geschöpflichen Leben vorbereitet. Wichtig ist jedoch zu sehen, dass auch schon bei Augustinus, dem die Folgezeit prägenden Vater der westlichen Tauftheologie, das leiblich-biologische Leben einen spezifischen Ort innehat: Als Todverfallenheit des Lebens aufgrund der Sünde ist es sozusagen die negative Voraussetzung bzw. Notwendigkeit der Taufe. Deutlich wurde, wie weit Luther wie auch Melanchthon im langen Schatten von Augustinus ihre Tauftheologie entwickeln. Allerdings zeichnet sich in den seelsorgerlichen Randlagen der Theologie Luthers schon ein Umbau ab, in dem im Fall des frühen Todes ungetaufter Kinder die freie Gnade Gottes und die seelsorgerliche Notlage ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. In dem hier vorgeschlagenen Entwicklungsnarrativ nimmt nun Johannes Calvin eine Schlüsselstellung ein. Das Sakrament der Taufe ist nun nicht mehr ein medium salutis, ein Ort und eine Technik der Vermittlung des Heils und der Rettung aus ‚Sünde, Tod und Teufel‘. Es ist vielmehr ein Medium des Trostes, des Trösters und der kritischen göttlichen Fürsorge für das geistliche Leben inmitten des leiblich verfassten geschöpflichen Lebens. Die Taufe ist ein Instrument des Lebensmanagements – wenngleich des geistlichen Lebens inmitten des diesseitigen geschöpflichen Lebens. Hierin vollzieht sich eine doppelte und, so die implizite These, äußerst folgenreiche Wende. 1.) Calvin vollzieht eine tauftheologische Wende hin zur theologischen Psychologie. Diese ist aber nicht eine Psychologie des kreatürlichen Lebens, wie sie z. B. auch in der Summa von Thomas von Aquin im Kontext der Ethik zu finden ist. Es ist vielmehr eine Psychologie des spirituellen Lebens, man könnte sagen, des Beieinanders der alten und der neuen Schöpfung. Die Taufe ist nicht mehr

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wie bei Augustin Krisenkommunikation gegenüber dem geschöpflichen Leben (als Überwindung der das physische Leben einschließenden Todverfallenheit), sondern Krisenkommunikation für das unausweichlich leibbasierte spirituelle Leben. Gemeinsam mit dem Abendmahl dient die Taufe dazu, den Glauben der Menschen unter den Bedingungen endlichen Lebens „zu nähren, zu stärken und zu fördern“ (319). 2.) Dieser ersten Wende hin zur Psychologisierung der Tauftheologie korrespondiert eine zweite Wende, die einer Entkopplung der Taufe von der Partikularität des Erlösungsereignisses. Im Horizont der Augustinischen Tauftheologie war die Taufe das ‚Interface‘ zwischen der Universalität des Heils und der Partikularität der Kirche bzw. der Nicht-Universalität des Glaubens. In Martin Luthers Theologie machte sich die Tatsache der Rettung und die Gewissheit individueller Erlösung an dem Faktum der Taufe fest. Dagegen ist für Calvin die Taufe ein Nachvollzug des Erwählungshandelns Gottes. Insofern entkoppelt Calvin Taufe und Erlösung. Doch zugleich verschieben sich auch die Akzente in der Erlösungsvorstellung: Es geht auch, aber nicht nur um das ewige Heil. Die Sache der Taufe und die Pointe des ‚Christus Anziehens‘ ist die Verwandlung des gelebten Lebens. Was Johannes Calvin vor Augen hat, ist eine aus der Taufe erwachsende Tiefenprägung dieses Lebens durch den Geist Gottes – hin zu einer erbarmenden Hinwendung zum Nächsten. Man kann also neben der Psychologisierung auch eine damit einhergehende Ethisierung erkennen. Eine wie immer geartete jenseitsorientierte Erlösungsvorstellung rückt in den Hintergrund der Taufe. Sie wird Lebensmanagement im Schnittpunkt von leiblich-kreatürlichem Leben und dem Leben des Glaubens. Darum wäre es kurzschlüssig, Calvin einen Verfall einer hohen Tauftheologie oder einer Erlösungsvorstellung zu unterstellen. Es ist die Akzentuierung der Trostnotwendigkeit und die realistische Unterstützung der Umgestaltung des Lebens eines luzide psychologisch beobachtenden Theologen, welcher die leiblich-soziale Verfasstheit des Lebens doppelt würdigt. Die Glaubenden werden nicht aus einem Gefängnis der Leiblichkeit, sondern in die geistlich gestaltete Leiblichkeit hinein erlöst. Man würde über Calvin hinausgreifen, aber doch in der Fluchtlinie seiner Tauftheologie denken, würde man Erlösung als ein von Christus bestimmtes Hineingenommenwerden in die Kommunikation von Glaube, Liebe und Hoffnung fassen, welche in der leibseelischen Verfasstheit des Menschen Raum greift. Doch zugleich öffnet Calvin die Türe weit für eine psychologisierende Interpretation, in der die Erlösung sich in ein gutes Lebensmanagement auflöst – ohne dass die Taufe in der Kraft des Geistes mit der Vergangenheit und Zukunft Jesu Christi verbindet. Insofern ist Calvins Umbau der Verbindung von Taufe und Erlösung – zumindest im ideen- und theologiegeschichtlichen Rückblick – nicht weniger als eine problemschaffende Lösung.



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Vom eschatologischen Dualismus zur Hoffnung auf eine Allerlösung Ein neuzeitlicher Umbau in der Eschatologie des Christentums Gregor Etzelmüller Problemstellung Im modernen Christentum vollzieht sich ein Umbau, der für dessen Verständnis als Erlösungsreligion zentral ist: An die Stelle der die mittelalterlichen Kirchenportale prägenden Erwartung eines doppelten Ausgangs des Jüngsten Gerichts und damit der gesamten Geschichte scheint zunehmend die Hoffnung auf eine umfassende Erlösung aller Menschen, in diesem Sinne: die Erwartung einer Allerlösung1 zu treten. Entsprechende Verschiebungen, die vor allem von reformierten Theologen angestoßen worden sind, lassen sich auch in der lutherischen Theologie beobachten. Dieser Umbau soll im Folgenden nachgezeichnet werden. Dabei soll zugleich gefragt werden, was er für das Christentum als Erlösungsreligion bedeutet. Man kann diesen Umbau zumindest auf zweifache Weise lesen: Eine Religion, die von einem eschatologischen Dualismus auf die Erwartung einer Allerlösung umstellt, kann ihre Funktion auf Lebensbegleitung und -beratung reduzieren, da es in religiöser Kommunikation und Praxis nicht mehr um Heil oder Unheil geht. Andererseits hält auch ein Allerlösungsmodell die kritische Einsicht wach, dass diese Welt ihrer Erlösung harrt. Eine Religion, die diese kritische Einsicht bewahrt, kann nie allein der Kontingenzbewältigung dienen, sondern erhöht vielmehr die Kontingenz, indem sie (in einer Erinnerung nach vorne) die erlöste Welt imaginiert und so daran erinnert, dass alles auch ganz anders sein könnte. Insofern könnte also auch ein Christentum, das in seiner Hoffnung auf ein Allerlösungsmodell umstellt, weiterhin als Erlösungsreligion erkennbar sein.

1  Die in der Alten Kirche verworfenen Allerlösungsmodelle wurden primär deshalb verworfen, weil sie die Erlösung des Teufels und der Dämonen einschlossen. Insofern existieren Allerlösungsmodelle, die noch über die Erwartung der Erlösung aller Menschen hinausgehen. Dieses Problem (vgl. dazu Janowski, Allerlösung, S. 379: „Das Problem der Apokatastasis des Teufels ist seit der Alten Kirche eindeutig das primäre Apokatastasis-panton-Problem, d. h. auch dessen primäre Blockade“) kann hier übergangen werden.

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1. Der Umbau der Eschatologie in der reformierten Theologie der Neuzeit Obwohl gerade der reformierten Tradition von ihren Genfer Anfängen her mit der Betonung der Prädestinationslehre die Erwartung eines doppelten Ausgangs der Geschichte eingeschrieben ist2, kommt es in der Neuzeit gerade in der reformierten Theologie zu einem wirkmächtigen Umbau der Eschatologie zugunsten der Erwartung einer Allerlösung hin. Dieser Umbau gründet sowohl bei Friedrich Schleiermacher als auch bei Karl Barth in ihrer jeweiligen Revision der überlieferten Erwählungslehre.3 1.1. Schleiermachers Lehre von der Wiederbringung aller Seelen in das Reich der Gnade Indem Schleiermacher in seiner Glaubenslehre Gottes Erwählung in den Kontext der Entstehung der Kirche stellt, versteht er das erwählende Handeln Gottes als ein geschichtliches Handeln. Dieses Verständnis entspricht dem biblischen, ja gerade auch alttestamentlichen.4 Im Interesse des geschichtlichen Prozesses der Ausbreitung des Reiches Gottes erwählt Gott bestimmte Menschen und Menschengruppen. Weil das Reich Gottes sich aber auf geschichtlichem Wege ausbreiten soll, werden dabei von Gott bestimmte Menschen und Menschengruppen notwendig übergangen. In der Zeit der geschichtlichen Entwicklung der Kirche wird es immer auch solche geben, die noch dort stehen, „wo die ganze Kirche vorher auch war“.5 Wenn das Reich Gottes sich geschichtlich ausbreiten soll, dann können nicht alle Völker gleichzeitig vom Evangelium erreicht werden. Insofern sich die Erwählung auf den geschichtlichen Prozess der Ausbreitung des Reiches Gottes bezieht, ist freilich nicht gesagt, dass die in der Geschichte Übergangenen auch in Gottes Ewigkeit verworfen sein müssen. Die geschichtliche Erwählung wird in Schleiermachers Theologie von der ewigen Verwerfung 2  Vgl. nur Inst. III,21,7: „Gott hat in seinem ewigen und unwandelbaren Ratschluss einmal [nämlich vor Grundlegung der Welt] festgestellt, welche er einst zum Heil annehmen und welche er andererseits dem Verderben anheimgeben will.“; zur Genese und Vielschichtigkeit von Calvins Prädestinationslehre vgl. Freudenberg, Ewige Erwählung, S. 53–69. 3  Vgl. dazu Gockel, Barth and Schleiermacher. 4  Die meisten biblischen Überlieferungen, die von Gottes Erwählung sprechen, bezeichnen mit der Erwählung ein geschichtliches Handeln Gottes: die Berufung Abrahams, die Erwählung Jakobs, die Herausführung Israels aus Ägypten, die Erwählung Davids bzw. die Erwählung von Juden und Heiden zum Gottesvolk im Neuen Testament. Das erwählende Handeln Gottes richtet sich dabei auf die Aussonderung des Volkes Gottes. Auch dort, wo von erwählten Individuen die Rede ist, stehen diese entweder für das Volk, so Abraham und Jakob, oder aber einzelne, wie etwa die Könige, werden in einer spezifischen Funktion für das Volk erwählt. Gerade die Erwählung der Könige verdeutlicht dabei, dass Erwählung auf eine geschichtliche Funktion des Erwählten zielt. Schon Abraham wird berufen, zum Segen für die Völker zu werden. 5  Schleiermacher, Der christliche Glaube. Zweite Auflage [fortan: CG2], 261, 25.



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entkoppelt.6 Doppelte Prädestination im Blick auf die Geschichte und alleinige Vorherbestimmung zur Seligkeit im Blick auf deren Vollendung können so einhergehen. In seiner Abhandlung über die Erwählung nennt Schleiermacher vier Gründe für die Annahme einer endlichen Erlösung aller.7 Zunächst nennt er als theologisches Argument, dass sich die ewige Verdammnis „mit der ewigen Vaterliebe Gottes nicht reimen will“ (216,32 f.). Sodann verweist er darauf, dass das Wissen um die ewige Verdammnis anderer das Mitgefühl der Seligen als Gattungswesen affizieren und so deren Seligkeit, die ja gerade in der Abwesenheit des Gefühls der Verwerfung besteht, trüben würde: „könnten sie etwa selig sein, wenn sie das Mitgefühl für alles was ihrer Gattung angehört, verlieren müssten?“ (218,34 f.). Diejenigen, die weder mit Schleiermachers Gottesbild noch mit seiner Frömmigkeit übereinstimmen können, verweist er (drittens) an die Schrift und (viertens) an die Vernunft. Nach Schleiermacher findet sich die Vorstellung einer schlussendlichen Allerlösung „eben so gut in der Schrift begründet als jene“ der ewigen Verdammnis (218,36 f.), wobei freilich jene Überlieferungen, die von einer ewigen Verdammnis reden, bei genauerer Betrachtung in immer „größere Schwierigkeiten“ führen würden (218,40). Letztlich könne auch die Vernunft nur dann ihre Ruhe finden, wenn sie die göttliche Allmacht der Liebe so denke, dass Gott selbst keine Ordnung schaffen könne, die die Allmacht seiner Liebe begrenze.8 Während Schleiermacher sich in seiner Abhandlung über die Erwählung zu der Ansicht, dass schließlich alle in das Reich Gottes aufgenommen würden, bekennt,9 vertritt er in der Eschatologie seiner Glaubenslehre die Lehre von der Allerlösung nicht mit letzter Bestimmtheit. Er fordert freilich auch dort, der Vorstellung von der „Wiederherstellung aller menschlichen Seelen“ gegenüber der orthodoxen Lehre vom doppelten Ausgang „wenigstens gleiches Recht einzuräumen“ (CG2 II,492,15–18). Freilich lassen auch Schleiermachers Ausführungen in der Glaubenslehre erkennen, dass Schleiermacher einem Allerlösungsmodell zuneigt.10 In Kontinuität zu seiner Abhandlung über die Erwählung führt er erneut aus, dass die ewige Verwerfung einiger unser Gattungsbewusstsein affizieren und deshalb die Seligkeit der Seligen aufheben würde.11 6 

Vgl. CG2 II,261,9–25. Schleiermacher, Erwählung, S. 216–219; zu Schleiermachers Umstellung auf ein in seiner Gewissheit freilich problematisiertes Allerlösungsmodell vgl. Janowski, Allerlösung, S. 586–595. 8 Vgl. Schleiermacher, Erwählung, 218 f. 9 Vgl. Schleiermacher, Erwählung, 219,3–6: „Und indem ich mich zu dieser Ansicht bekenne, stelle ich es als ein Zeichen meiner Unpartheilichkeit auf, daß ich nicht behaupte, die kalvinische Theorie dränge uns zu derselben stärker hin als die lutherische.“. 10  Vgl. nur CG2 II,491,13–15: „Betrachten wir nun die ewige Verdammniß in Bezug auf die ewige Seligkeit: so ist leicht zu sehen, daß diese nicht mehr bestehen kann wenn jene besteht.“. 11 Vgl. Schleiermacher, Der christliche Glaube [fortan: CG1] II,167,24–29 (Leitsatz zu § 137); 254,10–14; 275,25–30; CG2 II,249,1–7 (Leitsatz zu § 118); 254,10–14; 275,25–30. 7 

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Doch auch Schleiermachers Darstellung der Lehre vom Jüngsten Gericht lässt seine Tendenz zugunsten eines Allerlösungsmodells erkennen. Anders als Adele Weirich und Martin Weeber in ihren Tübinger Dissertationen nahelegen, nach denen Schleiermacher den Gedanken einer inneren Scheidung als Auslegung der Rede vom Jüngsten Gerichts ad absurdum führen will,12 meine ich, dass Schleiermacher sich in seinem Lehrstück „Vom Jüngsten Gericht“ zu diesem Verständnis bekennt. Die Argumentation läuft dabei wie folgt: Der nicht-orthodoxe Gedanke einer inneren Scheidung erweckt zunächst den Eindruck, als würde die innere Scheidung nicht durch den Eindruck der Persönlichkeit Jesu bewirkt, sondern auf magische Weise zustande kommen.13 Demgegenüber lässt sich aber nach Schleiermacher unter Rückgriff auf 1Joh 3, 2 argumentieren, dass die innere Scheidung durch die mit Christi „Wiederkunft verbundene vollkommne Erkenntniß Christi“ bewirkt werde (CG1 II,330,18 f.).14 Soll aber die innere Scheidung in allen als gleichzeitig konzipiert werden,15 dann darf sie nicht von der unterschiedlichen Empfänglichkeit abhängig sein. Wirkt aber die Erscheinung des Parusie-Christus unabhängig vom Grad der Empfänglichkeit, dann wird sie auch in denen, die in der Geschichte nicht zum Glauben gekommen sind, die innere Scheidung wirken.16 Soll heißen: Die Deutung des Jüngsten Gerichtes auf eine innere Scheidung hin lässt sich nur aufrechterhalten bei Aufgabe des Gedankens einer zwischenmenschlichen Scheidung.17 Damit ist der Gedanke nicht widerlegt, sondern von Schleiermacher vielmehr dessen Konsequenz aufgezeigt. Von Schleiermachers Erwählungslehre her und angesichts seiner Ausführungen zur ewigen Verdammnis18 kann die Interpretation des Jüngsten Gerichtes als einer inneren Scheidung als die von Schleiermacher bevorzugte Auslegung des Bekenntnisses angesehen werden. Für Schleiermacher führt eine sachangemessene Interpretation der Erwartung des Jüngsten Gerichtes zum Gedanken der „Wiederbringung aller Seelen in das Reich der Gnade“ (CG2 II,483,12 f.). 1.2. Barths Ablehnung des Gedankens der Apokatastasis und der Glaube an Christus, den Allversöhner19 Karl Barth hat die auch von Schleiermacher vertretene Lehre der Apokatastasis zunächst, etwa in seiner Münsteraner Eschatologie-Vorlesung aus dem Wintersemester 1925/26, verworfen. Das überrascht insofern, als Barth in früheren Veröffentlichungen ebenfalls betonen konnte, dass Gottes richtendes Handeln 12 Vgl.

Weirich, Kirche, S. 164; Weeber, Schleiermachers Eschatologie, S. 138 f. Vgl. CG1 II,330,10–16; CG2 II,482,14 14  Vgl. CG1 II,330,17–20; CG2 II,482,16–20 15  Vgl. CG2 II,483,3–7 16  Vgl. CG2 II,482,5–11 17  Vgl. CG2 II,483,11–14 18 CG1 II,335,24 – 337,27; CG2 II,490,1 – 492,18 19  Vgl. zum Folgenden Etzelmüller, Er kommt, S. 243–249. 13 



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als eines, das alle Menschen zurechtbringt, zu verstehen sei. So hatte Barth in der zweiten Auflage seines Römerbriefkommentars zu Röm 2, 16 ausgeführt: „‚Durch Christus Jesus‘ beurteilt Gott den Menschen. Das bedeutet Krisis: Verneinung und Bejahung, Tod und Leben des Menschen. Ein Ende ist im Christus erschienen, aber auch ein Anfang, ein Vergehen, aber auch ein Neuwerden, und immer beides der ganzen Welt, allen Menschen.“20 Diesen Universalismus der Hoffnung hat Barth dabei nach eigener Auskunft von den beiden Blumhardts übernommen.21 Auch in der Münsteraner Eschatologie-Vorlesung kann Barth in Anlehnung an den älteren Blumhardt ausführen: „Man muß alle, aber auch alle Vorstellungen von dem Heiland als ‚Kaputtmacher‘ (Blumhardt) fallen lassen und verstehen lernen, daß er wirklich der Seligmacher, der Erretter ist dessen, was verloren ist“.22 Wenn Barth in seiner Münsteraner Eschatologie-Vorlesung zwei Tage später ausführt, dass die Verworfenen „von der Erlösung ausgeschlossen“ bleiben (UCR III, 493), stellt sich die Frage, wie sich diese Aussage zu der christologisch begründeten Hoffnung für alle Menschen verhält. Was innerhalb der EschatologieVorlesung als Bruch erscheint, ist im Kontext der gesamten Göttinger Dogmatik, die von Barth in Münster mit der Eschatologie-Vorlesung abgeschlossen wird, freilich nur konsequent, genauer: paradox konsequent. Denn im Licht der gesamten Göttinger Dogmatik betrachtet erscheint die dualisierte Eschatologie als Konsequenz einer Annäherung an eine nicht-dualisierte Prädestinationslehre. In der Darstellung der Prädestinationslehre hat Barth es in der Göttinger Dogmatik als „Loch im Mantel (s)einer Orthodoxie“ bezeichnet, dass er die Aufteilung der Verworfenen und der Erwählten auf zwei getrennte Chöre von Individuen für einen sachlichen Fehler hält.23 Entsprechend hatte Barth schon in der Calvin-Vorlesung von 1922 ausgeführt: „Calvin hat tausendmal recht, wenn er bei der Beschreibung des Glau­bens bei Gott und nur bei Gott anfangen will. Ob er ebenso recht hat, wenn er Glauben und Unglauben auf zwei getrennte Menschengruppen verteilt, das ist eine andere Frage. Ich meinerseits verneine sie. Konsequent in der Linie würde es m. E. liegen, laut und kräftig von Gottes freiem Erwählen und Verwerfen zu reden, von den Erwählten und Verworfenen aber kräftig und bedeutsam zu schweigen.“24 Entsprechend konzentriert Barth sich in der Prädestinationslehre der Göttinger Dogmatik allein auf das Handeln Gottes und bestimmt Prädestination streng theozen­ trisch-aktualistisch als Gottes „gegenüber jedem Menschen in jedem Augenblick aktuelles freies Gebrauchmachen von der Möglich­keit, Ja oder Nein zu ihm zu sagen“ (UCR II,

20  Barth, Römerbrief, S. 101; vgl. auch Barth, Auferstehung der Toten, S. 122: „Die Auferstehung, die alle Menschen aller Zeiten an­gehende Krisis, so gewiß sie eben Gottes entscheidendes Wort an die Menschen ist, sie bedeutet: Ihm leben sie alle“. 21  Barth, Vergangenheit und Zukunft, S. 45. 22  Barth, Unterricht. Dritter Band [fortan: UCR III], S. 480. 23  Barth, Unterricht. Zweiter Band [fortan: UCR II], S. 183. 24  Barth, Theologie Calvins, S. 372 f.

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186).25 Die Rede von zwei getrennten Chören von Individuen ist damit zwar ausgeschlossen, nicht ausgeschlossen ist aber die Möglichkeit, dass Gott auch im letzten Augenblick von seiner Freiheit Gebrauch macht, zu einem Menschen Nein zu sagen. Eben deshalb schließt Barth seine Eschatologie in der Münsteraner Vorlesung mit der Lehre von der ewigen Verdammnis.26 Weil Barth also in Göttingen noch keine andere Alternative zur klassischen Prädestinationslehre denken konnte, als diese konsequent zu aktualisieren – aus einem vorzeitlichen Handeln Gottes also ein stets gegenwärtiges zu machen –, deshalb gewinnt er im Blick auf die Zukunft keine Gewissheit. Da Barth in der Erwählungslehre der Kirchlichen Dogmatik27 die Erwählung und damit das Gericht Gottes streng christologisch verstanden und die dort gewonnen Einsichten zur Grundlage seiner Christologie des gerichteten Richters in KD IV/1 gemacht hat, hätte man von der Erlösungslehre der Kirchlichen Dogmatik eine prinzipiell anders begründete und ausgeführte Lehre von Gottes Gericht erwarten dürfen: Wenn Christus in seinem Tod das auf Verwerfung lautende Urteil über die Menschen auf sich genommen hat, dann kann das über die anderen Menschen ergehende Urteil nur noch auf Leben lauten.28 Das hat Barth in der Erwählungslehre sowohl kreuzestheologisch als auch von der Auferstehung Christi her begründet. Am Kreuz Jesu Christi hat Gott „das Gericht über die Sünde nicht nur selber vollzogen, sondern auch […] selber erlitten […], sodaß sein Erleiden durch uns nicht mehr in Frage kom­men kann“ (KD II/2, § 35, 549). Entsprechend wird an der Auferstehung Jesu Christi offenbar, „daß Gott sein Recht gegen den Satan und gegen uns selbst […] in der Weise behauptet und durchsetzt, daß er […] unser eigenes Lebensrecht gegen den Satan und gegen uns selbst in Schutz nimmt und zu Ehren bringt“ (KD II/2, § 39, 848 f.). Unter diesen erwählungstheologischen Voraussetzungen hat sich Barth in der Versöhnungslehre der Kirchlichen Dogmatik der von Schleiermacher vertretenen Deutung des Jüngsten Gerichts als innerer Scheidung angenähert. Um dieses Geschehen darzustellen, hat sich der späte Barth wiederholt im Anschluss an 1Kor 3,12–15 des Bildes eines Reinigungsfeuers bedient:29 „Nur eben durchs Feuer hindurch und also – was die jetzt nicht sichtbare Gestalt seines Seins und Wirkens betrifft – bestimmt nicht ohne ‚Schaden zu erleiden‘ (1Kor 3,15), nicht ohne schärfste Reduktionen und Subtraktionen, aber durch dieses Feuer hindurch wird er […] gerettet werden.“ (KD IV/3, § 73, 1065). Die Rettung – eine Verwerfung kann es für den, der in diesem Gericht steht, sowohl nach Paulus 25  Vgl. das Urteil von Gockel, Barth and Schleiermacher, S. 155: „Barth’s doctrine of election in the Göttingen Dogmatics becomes more actualistic and less speculative, while it is still not christocentric.“ 26  Vgl. UCR III, S. 491–493 27  Zitate aus Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. I/1 – IV/3 werden im Folgenden mit dem Kürzel KD und der Angabe des Bandes und des Paragraphen zitiert. 28  Zu Barths erwählungstheologisch begründeter Umstellung auf ein Allerlösungsmodell und dessen Konsequenzen für die Lehre vom Nichtigen vgl. Janowski, Allerlösung, S. 360–372. 29  Vgl. KD IV/2, § 64, 203, 353; § 67, 721; § 68, 950; KD IV/3, § 73, 1056–1060, 1063–1066, 1070



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als auch nach Barth nicht mehr geben30 – vollzieht sich also durch eine innere Scheidung hindurch.31 Dabei weitet Barth die Vorstellung, die in 1Kor 3 ja auf das Geschick der Gemeindemitarbeiter bezogen ist, auf alle Menschen aus: „alle die Menschen, in deren Mitte die Gemeinde in dieser Zeit das Evangelium von der Gotteskindschaft zu verkündigen hatte, werden dann in das verzehrende, sichtende, läuternde Feuer des gnädigen Gerichtes dessen, der da kommt, hinein und – was das auch für sie bedeuten möge – durch dieses Feuer hindurchgehen dürfen und müssen […]: allen Menschen, ja aller Kreatur widerfährt dann die große Veränderung damit, daß aller Widerspruch, in welchem sie jetzt existieren, gebrochen werden wird, daß sich dann die Knie Aller im Namen Jesu Christi werden beugen, Aller Zungen ihn als den Herrn werden bekennen müssen und dürfen.“ (KD IV/3, § 73, 1070). Insofern also auch nach Barth der Gedanke der inneren Scheidung zur Erwartung führt, dass alle Christus als Herrn bezeugen und also Glieder im Reich Christi sein werden, stimmt Barth im Ergebnis mit Schleiermachers Lehre von der „Wiederbringung aller Seelen in das Reich der Gnade“ überein. Dass Barth sich dennoch auch in der Kirchlichen Dogmatik nicht zur Lehre von der Apokatastasis bekannt hat, hängt mit seinem Verständnis dieser Lehre zusammen: „Aus einer optimistischen Beurteilung des Menschen in Verbindung mit einem […] Postulat der unendlichen Potentialität des göttlichen Wesens pflegt die unter dem Namen der Lehre von der ‚Apokatasta­sis‘ bekannte Behauptung von einer endlichen Erlösung Aller und Jeder ihre Anregung und ihre Kraft zu ziehen.“ (KD II/2, § 34, 325). Demgegenüber komme die biblische Hoffnung nicht von allgemeinen Voraussetzungen her, sondern sei im konkreten, zeitlichen Vollzug der Erwählung Jesu Christi in Kreuz und Auferstehung begründet. Weil aber die christliche Hoffnung in Jesus Christus gründet, hat „das Ende, dessen sie wartet, universalen und nicht irgendeinen partikularen, einen verbindenden und nicht irgendeinen scheidenden Charakter“ (KD IV/1, § 62, 812). Die christliche Hoffnung unterscheidet sich nach Barth also in ihren Fundamenten von der Lehre der Apokatastasis, auch wenn sie im Wortlaut mit ihr übereinstimmen kann. In einem Gespräch hat Barth diese Differenz 1961 einmal auf die persönliche Formel gebracht: „Ich glaube nicht an die Allversöhnung, aber ich glaube an Jesus Christus, den Allversöhner.“32 Bei aller Differenz zwischen Schleiermacher und Barth haben beide zusammen wirkungsgeschichtlich zum Umbau der Eschatologie zugunsten der Erwartung einer Allerlösung beigetragen. Die Wirkung dieses Umbaus lässt sich 30  Vgl. KD IV/2, § 67, 721: „Mit einem Verlorengehen derer, die da als solche, die unnütz und verkehrt gebaut haben, offenbar sein werden, deren mit Holz, Heu und Stroh Gebautes dann also verbrennen wird, hat Paulus nach 1. Kor 3, 15 nicht gerechnet.“ Denn der erwartete Richter, Jesus Christus, ist „der Gnädige, der um des Menschen Übertretung und Ohnmacht wohl weiß, dessen Zorn wohl brennt, aber als das Feuer der Liebe, die nicht des Menschen Tod, sondern sein Leben, die seine Errettung will.“ (§ 64, 81). 31  Vgl. KD IV/1, § 61, 666: Lautet Gottes „Urteil über den Menschen dahin, daß er von dessen Makel nichts wissen will, dann ist er eben als solcher ausgetilgt und erledigt“. 32  Barth, Gespräche 1959–1962, S. 189.

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freilich nicht allein in der reformierten, sondern auch in der lutherischen und der römisch-katholischen Theologie beobachten.

2.  Die Umstellung auf ein Allerlösungsmodell in der lutherischen Eschatologie des 20. Jahrhunderts Die von Schleiermacher und Barth forcierte Umstellung der Eschatologie auf die Erwartung einer Allerlösung hat im 20. Jahrhundert auch die lutherische Theologie erfasst und sich weithin, zumindest im deutschen Sprachraum, durchgesetzt. Es handelt sich dabei sowohl im Blick auf seine Dynamik als auch im Blick auf den sich einstellenden Konsens um einen beachtlichen Prozess.33 Der rasante Umbau innerhalb der lutherischen Theologie imponiert insofern, als sich hier innerhalb weniger Jahrzehnte die Gesamtsituation radikal verändert hat. So einig sich Theologen wie Werner Elert, Regin Prenter, Helmut Thielicke und Gerhard Ebeling in der Annahme eines doppelten Ausgangs des Gerichts und der Geschichte waren, so sehr lässt sich gegenwärtig ein Konsens ausmachen, den man mit Oswald Bayer auf den Begriff bringen kann: „Nichts, gar nichts, was ‚sehr gut‘ geschaffen ist, geht verloren“.34 Zu dieser Erkenntnis ist auch die lutherische Theologie dadurch vorgestoßen, dass sie – wie Barth – das Gericht zunehmend als ein zurechtbringendes Reinigungsgeschehen verstehen gelernt hat. Demgegenüber war Werner Elert noch davon ausgegangen, dass uns das Gericht „auf Inhalt und Ertrag unseres irdischen Lebens unwiderruflich festlegt“.35 Das Jüngste Gericht ma­che die in diesem Leben für oder gegen Christus gefallene Entschei­dung offenbar, d. h. ewig gegenwärtig. In dieser Offen­barung ver­schließe Christus die, die im Widerstand zu ihm gelebt hätten, auf ewig in diesem Widerstand.36 Christi Urteil ist damit durch unsere – wenn auch uns selbst bis zum Tode immer verbor­gene – Entscheidung prädestiniert. Es ist zwar Christus, der das Urteil spreche, aber das heißt nach Elert eben „auch, daß sie bei dem liegt, der die Begnadigung nicht vollzie­hen kann, wo das Gehör verweigert wird“ (533). Deshalb hat das Ge­richt nach Elert die Form einer endgültigen „Scheidung nach Perso­nen“ (531). Elerts Ausführungen charakterisieren einen Konsens innerhalb der lutherischen Theologie, der bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts reicht. Noch Edmund Schlink kann 1983 in seiner Ökumenischen Dogmatik entsprechend ausführen: „Das bindende Urteil verschließt den Menschen in dem, was er aus sich gemacht hat. […] Es verschließt ihn in dem Tod, den der Mensch mit der 33  Zu den eschatologischen Umbauten der deutschsprachigen lutherischen Theologie vgl. Etzelmüller, Zu richten, S. 10–27; S. 51–77; Beintker, Gottes Urteil, S. 229–233. 34  Bayer, Zukunft Jesu Christi, S. 86. 35  Elert, Grundlinien der lutherischen Dogmatik, S. 506. 36 Vgl. Elert, Grundlinien der lutherischen Dogmatik, S. 532 f.



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Abwen­dung von Gott, der Quelle des Lebens, bereits gewählt hat. Insofern führt das bin­dende Urteil nichts Neues herbei, sondern respektiert lediglich die Ent­scheidung, die der Mensch gegen Gott gefällt hat und hält dabei die vom Schöpfer gegebene Unzerstörbarkeit des Menschen fest“.37 Indem das Gericht die Entscheidung eines Menschen für oder gegen Gott offenbart, legt es den Menschen zugleich auf diese Entscheidung fest und führt damit zur ewigen Scheidung38. Ohne diesen Gedanken verliert nach Regin Prenter die Rede vom Gericht ihren Sinn: „Gibt es keinen doppelten Ausgang des Gerichtes, so gibt es auch kein Gericht“.39 Angesichts dieses weitreichenden Konsenses bis in die 80er Jahre hinein, überrascht es, dass sich gegenwärtig ein völlig konträrer Konsens abzeichnet. Die Entwicklung auf diesen neuen Konsens hin beginnt schon bei Edmund Schlink. Entgegen der Reduktion des Gerichtes auf ein allein aufdeckendes und festschreibendes Geschehen in der lutherischen Dogmatik hat Schlink die neuschöpferische Dimension des Gerichtes herausgestellt: „Der kommende Christus wird nicht nur das Vergangene enthül­len und beurteilen, sondern es tiefgreifend ver­ändern. Er wird durch sein Urteil nicht nur Vorhandenes scheiden, sondern Altes abtun und Neues schaffen“.40 Das Gericht ist für Schlink also nicht nur Offenlegung von Vergangenem, sondern hat eine neuschöpferische Funktion. Je stärker aber diese neuschöpferische Funktion wahrgenommen wird, umso mehr tritt der eschatologische Dualismus zurück. Zumindest in der Perspektive der Hoffnung sei die Lehre vom doppelten Ausgang des Gerichts und der Geschichte zu überwinden. Im letzten Absatz der Dogmatik von Wilfried Joest heißt es: Es ist „uns erlaubt, für alle zu hoffen“.41 Diese Hoffnung prägt aber mehr und mehr auch die lutherische Lehre. Eberhard Jüngel versteht das Jüngste Gericht als „das therapeutische Ereignis schlechthin“,42 in dem die Sünde nicht nur aufgedeckt, sondern auch bearbeitet werde. Die Sünde werde „aufgedeckt, um sie für immer zum Vergehen zu bringen“ (236). Zur Verdeutlichung dieses Gedankens greift Jüngel auf das Bild 37 

Schlink, Ökumenische Dogmatik, S. 407. argumentiert auch Ebeling: Da das Gericht nach den Werken offenbare, dass niemand aus seinen Werken gerechtfertigt sei, offenbare es, dass allein der Glaube rechtfertige. Weil der Ausgang des Gerichts aber am Glauben hänge, kommt es in diesem „zu klarer und definitiver Scheidung ohne jeden Rest von Zweifel“. Der Ausgang des Gerichts sei „ein Entweder-oder, ein Angenommen- oder Verworfenwerden“. Im Blick auf die Ewigkeit betrachtet lohnt es sich also zu glauben. Vom Glauben gelte: „Menschlich gesehen lohnt er sich.“ (alle Zitate finden sich bei Ebeling, Dogmatik, S. 470). 39  Regin, Schöpfung und Erlösung, S. 539. Helmut Thielicke will den eschatologi­ schen Dualismus zwar nicht zum Lehrinhalt erheben, meint aber um der „Unbedingtheit des jetzigen Entscheidungs-Kairos“ willen an ihm festhalten zu sol­len. Würde man die Apokatastasis zum Lehrsatz erheben, würde „man sich im Namen des auf alle Fälle zu erwartenden eschatologischen ‚happy end‘ einem entscheidungslosen laisser-faire“ hingeben (vgl. Thielicke, Der evangelische Glaube, S. 609). 40  Schlink, Ökumenische Dogmatik, S. 405. 41  Joest, Dogmatik, S. 682; vgl. Joest, Hoffnung. 42  Jüngel, Die Weltgeschichte, S. 343. 38  Entsprechend

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eines Reinigungsgerichtes zurück, das nur dann recht verstanden sei, wenn das Feuer des Gerichtes als die verzehrende Liebe Gottes gedacht sei.43 Weil Jüngel das Gericht konsequent von dessen positiver Absicht her versteht, sieht er diese tendenziell auch an allen zur Wirkung kommen. Nach Jüngel kommt diese positive Absicht nur dann nicht an einem Menschen zur Wirkung, wenn dieser angesichts der Verbrennung seiner eigenen Sünden im Feuer der Liebe Gottes sich „aufs neue mit seiner zum Vergehen verurteilten Sünde identifizieren und also Gottes Gnade endgültig verachten“ würde (237). Da aber das Gericht in universaler Aufklärung die Lüge überwinden werde, d. h. ein solcher Mensch seine Selbstverurteilung nicht in der Lüge, sondern in der Wahrheit wählen würde, fällt es Jüngel „schwer, sich einen solchen Menschen zu denken, der eine unkorrigierbare Lust am eigenen Ver­derben hat“ (237). Auch Oswald Bayer, Friedrich Mildenberger und Wolfhart Pannenberg denken das Gericht als ein neuschöpferisches Geschehen, in dem die Schöpfung zur Vollendung kommt. Mildenberger erkennt dabei, dass das Gericht nicht nur über einzelne, sondern auch über deren Beziehungen ergehen muss. Im Gericht werde das an Beziehungen offenbar, „was in die kommende vollendete Sozi­al­gestalt des Menschseins eingehen kann. Verbrennen aber müßte, was solche Beziehungen und so das vollendete Leben belastete und erschwerte“.44 Auch Pannenberg vertritt in seiner Systematischen Theologie die sowohl schöpfungstheologisch als auch christologisch begründete Einsicht, dass „das Gericht nicht die Vernichtung der Menschen bewir­ken wird“.45 In einer gewissen Spannung zu dieser Einsicht steht freilich der Hinweis, dass „mit dem auf die Wiederkunft Christi gedeuteten Feuer des Endgerichts ein Spektrum sehr verschiedener Wirkungen ver­bunden werden, von der Reinigung und Läuterung der Glaubenden bis hin zur gänzlichen Vernichtung derer, die darauf beharren, unversöhnlich von Gott abge­wandt zu bleiben“.46 In einem späteren Aufsatz hat Pannenberg freilich dem Gefälle der Darstellung seiner Systematik folgend schöpfungstheologisch für die Erwartung einer Allerlösung plädiert: „Wird es auch Menschen geben, bei denen das reinigende Feuer nichts übrig läßt? Viele biblische Worte legen das nahe, aber doch mehr im Sinne der Drohung an die in ihrer Gottesferne sich sicher Wähnenden. Ist nicht jeder Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen, das in seinem Sohn erschienen ist?47 Bleibt darum nicht in jedem Leben etwas, worin Gott seine Schöpfungsabsicht mit diesem Men­schen wiedererkennen kann?“48 Den neuen Konsens der lutherischen Theologie belegt auch das gegenwärtig wohl verbreitetste Lehrbuch der lutherischen Dogmatik, die Dogmatik von 43  Jüngel, Gericht und Gnade, S. 236, Zitate aus diesem Vortrag werden im Folgenden im fortlaufenden Text nachgewiesen; vgl. auch Jüngel, Anfänger, S. 37–73. 44  Mildenberger, Biblische Dogmatik, S. 280. 45  Pannenberg, Systematische Theologie III, S. 663 46  Pannenberg, Systematische Theologie III, S. 666 f. 47 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie III, S. 660 f. 48  Pannenberg, Aufgabe christlicher Eschatologie, S. 78 f.



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Wilfried Härle. Weil Jesus Christus „der zum Gericht kommende Richter“ sei, deshalb könne „nichts anderes als Gottes Liebe Grund, Maßstab und Ziel dieses Gerichtes sein“.49 Im Anschluss an Jüngel fasst Härle deshalb das Gericht als die Wohltat der Auf­klä­rung, die, indem sie die Sünde aufdecke, deren Macht breche. Der Sünder werde so in die Lage versetzt, den Urteilsspruch zu hören: „Dir sind deine Sünden verge­ben“.50 Indem er das Urteil im Gericht als neuschöpferischen Freispruch versteht, plädiert Härle für eine Allerlösungslehre, die er aber im Anschluss an 1Kor 3 um eine Lehre vom „Fegfeuer“ (663, Anm. 74) erweitert wissen möchte, damit das irdisch-geschichtliche Leben nicht vergleichgültigt wer­de.51 Härles Darstellung der Lehre vom Jüngsten Gericht (658–664) endet mit der begründeten Hoffnung, „daß keines der Geschöpfe Gottes durch das Gericht hindurch ewig verloren geht“ (664).52 Die neuere lutherische Theologie ist demnach nicht allein durch die Umstellung auf die Erwartung einer Allerlösung gekennzeichnet53, sondern zugleich durch ein Allerlösungsmodell, das die Erwartung der Allerlösung mit der Vorstellung des Jüngsten Gerichts als eines Reinigungsgeschehens verbindet. In beidem zeigt sich die Wirkung Barths bis in die lutherische Theologie hinein. Nicht zufällig waren an dem beobachtbaren Umbau der lutherischen Theologie gerade solche lutherischen Theologen beteiligt, die ihrerseits von Barth geprägt waren. Das gilt schon für Schlink, der seit seiner Zeit bei Barth in Münster „eine lutherische Artikulation von Barths Theologie des Wortes […] schaffen“ wollte,54 wohl auch für Wilfried Joest, selbstverständlich für Eberhard Jüngel, aber auch für Wilfried Härle, der sich sowohl in seiner Dissertation55 als auch in seiner Habilitation56 mit Barth auseinandergesetzt hat.

49  Härle, Dogmatik, S. 661 f. Zitate aus dieser Dogmatik werden im Folgenden im fortlaufenden Text nachgewiesen. 50  Vgl. auch Härle, Rede von der Liebe, S. 64: „Kann da im Jüngsten Gericht ein anderes Urteil erwartet werden als: Freispruch wegen erwiesener, aber vergebener Schuld?“. 51 Vgl. Härle, Dogmatik, S. 663 f. 52  Mit der Rede von der Erlösung aller Geschöpfe tritt auch das in der deutschsprachigen Theologie kaum verhandelte Problem der Erlösung der nichtmenschlichen Geschöpfe in den Blick; vgl. dazu (mit Hinweisen auf weitere Literatur) Southgate, Creation, S. 75–79. 53  Jeder sich einstellende Konsens provoziert auch Gegenreaktionen. Als solche Reaktion sind die Ausführungen von Dietz Lange in seiner Glaubenslehre zu werten, der durch die Umstellung auf die Erwartung einer Allerlösung die seines Erachtens für den christlichen Glauben konstitutive Erfahrung der Anfechtung nivelliert sieht (vgl. Lange, Glaubenslehre, S. 464–473). Die spezifische Anfechtung des Glaubens, die auch bei der Umstellung auf ein Allerlösungsmodell bestehen bleibt, dürfte doch die sein, ob es einen Erlöser gibt – oder wir nicht letztlich doch der bitteren Konsequenz unseres eigenen, aller Menschen Handeln ausgeliefert sind (vgl. auch Janowski, Allerlösung, S. 626). 54  Skibbe, Edmund Schlink, S. 29. 55  Härle, Theologie des ‚frühen‘ Karl Barth. 56  Härle, Sein und Gnade.

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3.  Die Revision der Lehre vom Fegefeuer in der katholischen Theologie des 20. Jahrhunderts und eine kontroverstheologische Differenz Dass Barth das Jüngste Gericht als ein den Menschen durch eine innere Scheidung hindurch rettendes Geschehen verstand, ermöglichte ihm einerseits, das Gericht mit dem Bild eines Reinigungsfeuers zu beschreiben, andererseits das Reinigungsgeschehen als ein Werk Christi, des Allversöhners, zu deuten. Die Begegnung mit Christus im Ereignis des Todes bedeute, dass das Leben eines Menschen „jener 1Kor 3, 12 f. beschriebenen Krisis unterworfen, auf jene Feuerprobe gestellt werden wird, in der, was als Gold, Silber und Edelsteine oder als Holz, Heu und Stroh auf das Fundament Christus gebaut ist, an den Tag kommen wird.“ (KD II/2, § 47, 758). Christus setze den Menschen aber nicht nur dieser Feuerprobe aus, sondern sei auch als Herr des Feuers präsent. „So werden wir im Tode nicht mit dem Tode allein und nicht im Reich eines zweiten Gottes sein, sondern mit dem Tod wird auch der Herr des Todes auf dem Plane sein: gewiß als Richter und Rächer, gewiß als der, der uns im Tode ernten läßt, was wir gesät haben, gewiß als der, vor dem wir uns schon jetzt und dann noch viel mehr zu fürchten haben werden – aber er als der Herr auch des Todes“ (740), der nicht zulässt, dass der Tod einen einzigen vollständig nichtet. Die Vermittlung dieser Konzeption in die römisch-katholische Theologie verläuft über Hans Urs von Balthasar, der in den 40er Jahren einer der anregendesten Gesprächspartner Barths war. Balthasar begann in den 50er Jahren, auf der skizzierten Linie Barths die Fegefeuervorstellung zu revidieren. Ähnlich Barths Aussage, dass Gott das Jenseits des Menschen sei, heißt es bei Balthasar: „Gott ist das ‚Letzte Ding‘ des Geschöpfs. Er ist als Gewonnener Himmel, als Verlorener Hölle, als Prüfender Gericht, als Reinigender Fegfeuer“57. Dabei betont Balthasar – wie­derum im Sinne Barths –, dass Gott all dieses ist als der Gott, der sich in Jesus Christus der Welt zugewandt hat.58 Diese christologische „Reduktion“59 leitet Balthasar dazu an, das Fegefeuer vom Christus­geschehen her zu verstehen. Er greift dabei auf die Lehre des Thomas von Aquin zurück, „daß das Feuer der Hölle und das Feuer des Reinigungsortes das gleiche Feuer sind“ (410), und erläutert, dass Christus durch seine Höllenfahrt die Hölle zu einem „Durchgang“ (ebd.) macht. Dadurch wird das höllische Feuer, indem es begrenzt wird, zu einem Reinigungsfeuer. Dieses Reinigungsfeuer ist aber kein anderes als das der Herrlichkeit Jesu Christi, weshalb „das sogenannte ‚Fegfeuer‘ als eine Dimension […] der Begegnung des Sünders mit dem ‚Flam­menblick‘ und ‚Feuerfuß‘ Christi (Apok 1, 14 = Dan 10, 6)“ zu verstehen ist (411). Diese in der katholischen Theologie einflussreiche Revision des Fegefeuer­ gedan­kens, die auch in Joseph Ratzingers Darstellung der Eschatologie Eingang 57 von

Balthasar, Eschatologie, S. 407 Vgl. von Balthasar, Eschatologie, S. 407 f. 59  Vgl. von Balthasar, Eschatologie, S. 406–415. 58 



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gefunden hat60, gehört in das Umfeld der Barthschen Theologie. In dieser Umgebung konnte aber auch die Konsequenz dieses Umbaus der Fegfeuerlehre benannt werden. Wenn Barth und Balthasar allein waren, konnte Balthasar sagen, was er dachte: „Über die Hölle […]: es sei zwar Dogma, daß es eine solche gebe, nicht aber, daß jemand darinnen sei!“61 Für Balthasar folgte aus dem Umbau der Fegfeuerlehre als Konsequenz die Verabschiedung des eschatologischen Dualismus. Balthasars Umbau der Fegfeuerlehre hat selbst Eingang in die Enzyklika Spe salvi des Papstes Benedikt XVI. gefunden: „Einige neuere Theologen sind der Meinung, dass das verbrennende und zugleich rettende Feuer Christus ist, der Richter und Retter. Das Begegnen mit ihm ist der entscheidende Akt des Gerichts, vor seinem Anblick schmilzt alle Unwahrheit. Die Begegnung mit ihm ist es, die uns umbrennt und freibrennt zum Eigentlichen unserer selbst.“62 Die Einsicht, dass die Begegnung mit Christus „alle Unwahrheit“ vergehen lassen wird, führt bei Benedikt XVI. freilich nicht zu einem Allerlösungsmodell. Für uns, ja: für die „allermeisten“ (46) besteht zwar die Hoffnung, dass das Vergehen der Unwahrheit zur eigentlichen Existenz führt. Aber es gebe auch Menschen, „die in sich den Willen zur Wahrheit und die Bereitschaft zur Liebe völlig zerstört haben. Menschen, in denen alles Lüge geworden ist; Menschen, die dem Haß gelebt und die Liebe in sich zertreten haben. Dies ist ein furchtbarer Gedanke, aber manche Gestalten gerade unserer Geschichte lassen in erschreckender Weise solche Profile erkennen. Nichts mehr wäre zu heilen an solchen Menschen, die Zerstörung des Guten unwiderruflich: Das ist es, was mit dem Wort Hölle bezeichnet wird“ (45). Dieser Konzeption entsprechend, nach der es zwar Hoffnung für „uns“ und die „allermeisten“, aber eben nicht für alle gibt, hat Benedikt XVI. die deutschen Bischöfe angewiesen, in der Eucharistie beim Kelchwort das „für alle vergossen“ durch „für euch und für viele vergossen“ zu ersetzen.63 Weil die Begegnung mit Christus nicht für alle als reinigendes Geschehen verstanden wird, bleibt neben der revidierten Lehre vom Fegfeuer die Lehre von der Hölle bestehen. „In Todsünde sterben, ohne diese bereut zu haben und ohne die barmherzige Liebe Gottes anzunehmen, bedeutet, durch eigenen freien Entschluß für immer von ihm getrennt zu bleiben. Diesen Zustand der endgültigen Selbstausschließung aus der Gemeinschaft mit Gott und den Seligen nennt man ‚Hölle‘.“64 Gegenüber der Umstellung auf ein Allerlösungsmodell verweisen also sowohl der Katechismus der Katholischen Kirche als auch Benedikt XVI. auf die Möglichkeit eines eigenen Selbstausschlusses vom ewigen Heil.65

60 Vgl.

Ratzinger, Eschatologie, S. 186–190. Ausspruch Balthasars referiert Barth in einem Brief vom 30. 12. 1948, zitiert bei Busch, Karl Barths Lebenslauf, S. 376. 62  Benedikt XVI., Spe salvi, 47. 63 Vgl. Benedikt XVI., Brief. 64  Katechismus der Katholischen Kirche, 295: Nr 1033. 65  Vgl. auch bereits Ratzinger, Einführung Christentum, S. 249: „Nur noch die gewollte Selbstverschließung ist jetzt Hölle“. 61  Diesen

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Ob dieser Selbstausschluss ewig wirkt, hängt demnach an der Schwere der Sünde. Menschen schließen sich vom Heil aus, wenn sie sich gegen Gott, den Nächsten oder sich selbst „schwer versündigen“66. Damit begegnet aber im Blick auf die Umstellung auf ein Allerlösungsmodell eine kontroverstheologische Spannungslage, die erkennen lässt, warum die reformatorische Theologie nicht nur zufällig, sondern mit innerer Folgerichtigkeit zur Erwartung der Erlösung aller führt. Denn in reformatorischer Perspektive fällt die Unterscheidung bezüglich der Schwere der Sünde mit der Einsicht: Mit „jeder Sünde [fällt] die ganze Menschheit, und keiner von uns unterscheidet sich prinzipiell von Adam, d. h. aber auch jeder ist ‚erster‘ Sünder“.67 Gerade deshalb kann sich aber der Mensch, der sich in dieser Perspektive als Sünder erkennt, seines Heils nur dann gewiss sein, wenn es ihm als Heil für alle Menschen gewiss ist. Insofern tendiert die reformatorische Theologie mit innerer Konsequenz auf die Erwartung der Allerlösung hin, auch wenn diese Kopplung erst nach Jahrhunderten deutlich erkannt worden ist. Der Hinweis des Katechismus der Katholischen Kirche auf die Schwere der Sünde ist demnach soteriologisch irrelevant. Dennoch sollte auch die evangelische Theologie von diesem Hinweis lernen. Indem der Katechismus in seiner Lehre von der Hölle auf 1Joh 3,15: „Kein Mörder hat ewiges Leben“ zurückgreift, erinnert er daran, dass kein Allerlösungsmodell Jesus Christus angemessen ist, das den schlussendlichen Triumph des Mörders über sein Opfer lehrt. Um dieses Aspektes willen hält auch Benedikt XVI. an der Lehre von der Hölle fest: „Die Missetäter sitzen am Ende nicht neben den Opfern in gleicher Weise an der Tafel des ewigen Hochzeitsmahles, als ob nichts gewesen wäre.“68 Es stellt sich freilich die Frage, ob die Hoffnung, dass der Täter am Ende nicht über sein Opfer triumphieren möge, nur in der Erwartung der Hölle seinen Ausdruck finden kann – oder auch in der Erwartung des Vergehens aller Unwahrheit, d. h. auch aller Selbstverschließung gegen das von Gott intendierte Leben, sodass alle Menschen „zum Eigentlichen“ ihrer selbst kommen – freilich auch dadurch „zum Eigentlichen“ ihrer selbst kommen, dass in der Begegnung mit Christus das vergeht, was in ihrer Existenz mit dem von Gott intendierten Leben nicht vereinbar war.

66 

Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1033. Bonhoeffer, Sanctorum Communio, S. 72; vgl. Bonhoeffer, Akt und Sein, S. 145: „in meinem Abfall von Gott fiel die Menschheit“. 68  Benedikt XVI., Spe salvi, 44. 67 



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4.  Kein Allerlösungsmodell ohne Lehre vom Gericht Obwohl in neuerer Zeit auch schöpfungstheologische Begründungen für die Erwartung einer Allerlösung vorgetragen werden,69 war die Umstellung vom eschatologischen Dualismus auf die Erwartung einer Allerlösung primär christologisch begründet. Schon Schleiermacher hatte die Lehre von der Vorherbestimmung aller zur Seligkeit christologisch begründet: Nur „wenn Alle […] in die göttliche Vorherbestimmung zur Seligkeit eingeschlossen sind, beweist […] die hohepriesterliche Würde Christi ihre ganze Wirklichkeit, zu welcher ja gehört daß Gott alle Menschen nur in Christo sieht“ (CG2 II,277,17–21). Ganz entsprechend argumentierte Barth: Weil Jesus Christus das eine Wort Gottes ist, d. h. der eine Beschluss Gottes im ewigen Anfang aller seiner Wege und Werke, den Menschen nicht anders als in Jesus Christus anzusehen, deshalb bedeutet Gottes Gnadenwahl „sicheres Heil für den Menschen“ (KD II/2, § 33, 177). Während es von der Christologie her eine deutliche Tendenz zugunsten der Lehre von der Allerlösung gibt, legt sich von der Pneumatologie her eine andere Zukunftserwartung nahe: So konfrontiert Paulus in Gal 5 die bleibenden Früchte des Geistes mit den vergehenden Werken des Fleisches (Gal 5,19–23). Wer sich allein am Irdischen orientiert, der wird auch dem Gesetz alles Irdischen, der Vergänglichkeit, verfallen und keinen Anteil am Reich Gottes haben. Die Lasterkataloge machen zudem darauf aufmerksam, dass es keine gute Hoffnung wäre, wenn einfach immer alles so bliebe, wie es ist.70 Der vergänglichen Wirklichkeit des Fleisches stellt Paulus das Bleiben des Dienstes des Geistes (2Kor 3,7–11) bzw. der wesenhaft pneumatischen Größen Glaube, Liebe und Hoffnung (1Kor 13,13) gegenüber. Glaube, Liebe und Hoffnung sind Kommunikationsmedien des Geistes, durch die der mit dem Begriff des Reiches Gottes bezeichnete „Kommunikations- und Lebenszusam­menhang […] etabliert und fortgesetzt wird“.71 Durch die Kommunikation von Glaube, Liebe und Hoffnung baut der Heilige Geist beharrlich am Reich Gottes. „Das Reich Gottes ist Ge­rechtigkeit und Friede und Freude im heiligen Geist“ (Röm 14,17). Versteht man das Reich Gottes als den vom Heiligen Geist geschaffenen und erhaltenen Kommunikationszusammenhang des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung, dann wird im Eschaton das bleiben, was an diesem Kommunikationszusammenhang Anteil gehabt hat. „Wer auf den Geist sät, der wird vom Geist das ewige Leben ernten“ (Gal 6,8b; vgl. Röm 8,11). Damit wird die Hoffnung keineswegs wieder auf eine Hoffnung allein für die christliche Gemeinde reduziert: Wir erkennen einen Kommunikationszusammenhang des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung auch in Israel – und wir werden realistisch sagen müssen, dass wir solche Kommunikationszusammen69 Vgl. Bayer, Zukunft Jesu Christi, S. 86: „Nichts, gar nichts, was ‚sehr gut‘ geschaffen ist, geht verloren.“; Pannenberg, Aufgabe christlicher Eschatologie, S. 79; Härle, Dogmatik, S. 664. 70  Vgl. 1Kor 6, 9–11; Gal 6, 19–21. 71  Brandt, Sünde, S. 28.

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hänge zum Wohle der Welt auch außerhalb von Judentum und Christentum erkennen.72 Zugleich muss man umgekehrt selbstkritisch festhalten: Auch christliche Gemeinden und Kirchen können derart degenerieren, dass sie Vertrauen erschüttern, Lieblosigkeit generieren und Menschen ihre Hoffnung rauben. Eben deshalb muss aber auch gelehrt werden: Es ist nicht einfach allem Seienden ein eschatologisches Bleiben verheißen, sondern nur dem, was schon jetzt Anteil am Kommunikationsprozess des Heiligen Geistes hat.73 Eben deshalb ist die Zusammengehörigkeit von Christologie und Pneumatologie in der Eschatologie so zu bewähren, dass man keine Allerlösung lehrt, ohne zugleich vom Gericht zu reden. Die christologisch begründete Allerlösung ist nicht zu denken ohne schärfste und kritische Scheidungen. An einem jeden einzelnen wird zu seiner Freude offenbar werden, was in seinem Leben von Glaube, Liebe und Hoffnung geprägt war, was deshalb bleiben wird und woraus sich die je individuelle eschatologische Existenz aufbauen wird. An einem jeden einzelnen wird aber auch zur eigenen Scham offenbar werden, wo er selbst Vertrauen erschüttert, Lieblosigkeit generiert und Hoffnungslosigkeit verbreitet hat. Diese eschatologische Beschämung vollzieht sich dabei, folgt man der Weltgerichtsrede Jesu aus Mt 25, konkret durch unsere Konfrontation mit jenen, die unter uns gelitten haben: Was ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan. Angesichts dieser zu erwartenden Beschämung wird deutlich, dass die Verewigung des gesamten Lebens und damit auch die Verewigung unserer Schuld keine gute Hoffnung wäre. Die Beschämung im Gericht wird die Täter vielmehr zu der Bitte führen, als jene Täter, als die sie sich dann erkennen müssen, vergehen zu dürfen. Das Gericht befreit Menschen dazu, all das in ihrem Leben, was durch Unglaube, Hass und Hoffnungslosigkeit geprägt war, aufzugeben. Wie man sich eine solche als Gericht zu fassende Konfrontation der Täter mit ihren Opfern vorzustellen hat, beschreibt die Weisheit Salomos: „Dann wird der Gerechte in souveräner Freiheit seinen Bedrängern vor Augen tre­ ten und denen, die seine Mühen zunichtegemacht hatten. Wenn sie das sehen werden, werden sie von schrecklicher Furcht verwirrt werden, und sie werden entsetzt sein über das Wun­der (seiner) Rettung. Sie werden bei sich in Reue sagen und in innerer Enge stöh­nen: ‚Dieser war’s, den wir einst zum Ge­spött machten und zum Gleichnis des Hohns, wir Narren! Sein Leben hielten wir für einen Wahnsinn und sein Ende für ehrlos. Wieso wurde er unter die Söhne Gottes gerechnet, und (warum) ist sein Los unter den Heiligen? Wir irrten tatsächlich vom Weg der Wahrheit, und das Licht der Gerechtigkeit leuchtete uns nicht, und die Sonne ging nicht für uns auf. Wir verwickelten uns in die Disteln von Ge­setzlosigkeit und Untergang, und wir durch­wanderten ungangbare Wüsten, aber den Weg des Herrn erkannten wir nicht. Was nützte uns der 72 Vgl. 73 

Brandt, Sünde, S. 27. Vgl. dazu und zum Folgenden Etzelmüller, Zu richten, S. 288–318.



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Übermut, und was hat uns der Reichtum geholfen, der mit Überheb­lichkeit gepaart war?‘“ (SapSal 5,1–874). Für eine angemessene Rede vom Gericht ist es von höchster Bedeutung, dass die Befreiung der Täter von ihren Taten sich allein durch die beschämende Konfrontation mit ihren Opfern vollzieht.75 Der Rechtfertigung der Täter geht die Aufrichtung der Opfer voraus. Sie werden erkennen müssen, dass sich Christus vorbehaltlos mit denen identifiziert, an denen sie vorübergegangen sind (Mt 25,31–4676). Sie werden entsetzt sein über das Wunder der Rettung ihrer Opfer (SapSal 5). Soll heißen: Der Trennung der Täter von den sie verklagenden Taten geht die Rettung der Opfer voraus. Diese Rettung der Opfer muss dabei radi­kal und umfas­send verstanden werden: Es geht nicht nur darum, dass den Tätern die physi­ sche Macht genommen wird, sondern auch der Einfluss auf ihre Opfer in den Formen der Er­innerung und der Träume. Die das Opfer zerstörende und in diesem Sinne destruktive Bezo­genheit des Opfers auf seine Bedränger soll gänzlich gelöst werden. Die Opfer sollen in der neuen Welt nicht mehr der Übel der vorigen gedenken müssen. Die Schatten, die sich auf ihre Herzen gelegt haben, sollen von ihnen genommen werden. Diese Erwartung gehört zu den großen eschatologi­ schen Verheißungen Israels: „Denn vergessen sind die früheren Nöte und verschwunden vor meinen Augen. Denn siehe: ich schaffe neu den Himmel und die Erde. Des Früheren wird man nicht mehr gedenken, sie sollen nicht mehr in den Sinn kommen“ (Jes 65,16b. 17).77 Es gehört zu jener neuen Erde, das auf ihr aus der Erinnerung alles ausgeschlos­sen bleibt, was noch in der Erinnerung Narben schlagen kann.78 Auch wenn diese Erkenntnis der neuzeitlichen Annahme widerspricht, dass sich letztlich alle Widerfahrnisse ins Leben integrieren lassen müssten, ist sie doch auch säkularer Einsicht zugänglich. So schreibt Jan Philipp Reemtsma am Ende des Berichtes über seine Geiselhaft: „Der Keller bleibt im Leben und ist doch nicht zu einem Teil des Lebens zu machen. Er bleibt der zerstörerische Einbruch, die Vergewaltigung, die Exterri­torialität, die plötzlich wieder da sein 74 

Übersetzung nach Georgi, Weisheit Salomos. Die Bedeutung der Konfrontation des Täters mit seinen Opfern spielt auch in der Strafrechtsdiskussion um den Täter-Opfer-Ausgleich eine Rolle; vgl. Rössner, Wiedergutmachen statt Übelvergelten, S. 23: „Der Teufelskreis der Neutra­lisation des Unrechts […] kann nur durchbrochen werden, wenn die un­mittelbare Konfrontation mit dem Opfer und seinem Leiden vom Strafrecht thematisiert wird. Dann gelingt es dem Straftäter weit weniger, seine Schuldgefühle zu neutralisieren als in einem ausschließlichen Dialog mit dem insoweit unbeteiligten Richter“. 76  Vgl. dazu Etzelmüller, Zu richten, S. 269–282. 77  Übersetzung nach Westermann, Jesaja, S. 322. Westermann kommentiert: „V. 17b hat den gleichen Sinn wie 16b, der früheren Notzeit wird man nicht mehr gedenken“ (Westermann, Jesaja, S. 324). 78  Dass Gottes neuschöpferisches Handeln auch die Erinnerung umfassen muss, betont auch Volf, Exclusion and Embrace, S. 133: „Even remaking the world and removing all sources of suffering will not bring redemption if it does not stop incur­sions of the unredeemed past into the redeemed present through the door of memory“. 75 

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kann“.79 Die erfahrene Gewalttat lässt sich als solche nicht ins Leben integrieren. Neuschöpfung meint deshalb nicht, dass dieses Exterritoriale des Lebens letztlich doch ins Leben integriert werden wird, sondern dass Gott es zur Vergangenheit machen wird, die nicht mehr erinnert werden und zu Herzen steigen wird. Dass die geschlagenen Wunden nicht mehr erinnert werden sollen, bedeutet nun nicht, dass es im Eschaton zu einem endgültigen Triumph der Täter kommen wird. Denn die Befreiung der Opfer von den sie bedrängenden Erinnerungen folgt erst ihrer Rechtfertigung in aller Öffentlichkeit und damit der Beschämung der Täter. Sie gründet zudem darin, dass die Opfer das Angesicht derer nicht mehr sehen müssen, die sich an ihnen vergangen haben. Das Gericht dient freilich nicht dazu, die Menschheit in zwei Gruppen aufzuteilen, sondern zielt konkret darauf, lebensabträgliche Beziehungen zu scheiden. Indem das Gericht Teile eines Lebens zum Weichen bringt, wird denkbar, dass ein Opfer seinen Peiniger vergehen sieht, auch wenn dieser in anderen Relationen erhalten und vollendet wird. Damit die zwischenmenschliche Scheidung als eine relative gedacht werden kann – damit sich also wirklich die in Christus offenbarte Barmherzigkeit Gottes an allen erweisen kann, muss die innerpersönliche Scheidung, die Scheidung zwischen dem, was Anteil hatte am Kommunikationszusammenhang des Geistes, und dem, was von der Macht der Sünde geprägt war, als eine absolute Scheidung gedacht werden. Als der Täter, der Vertrauen erschüttert, Lieblosigkeit verbreitet und Hoffnung geraubt hat, werde ich im Gericht vergehen, um als der Mensch leben zu können, der vom Schöpfer gemeint war. Die Erwartung einer Allerlösung ist nur dann eine gute Hoffnung, wenn wir zugleich realisieren, dass wir im Gericht Teile unseres Lebens werden einbüßen müssen. Alles, was nicht am Kommunikationszusammenhang des Geistes Anteil hatte, verliert im Gericht seine Existenz. Die Sozialität der kommenden Welt wird sich demgegenüber aus jenen – dann: vollendeten – Beziehungen aufbauen, die jenseits der allgemeinen Verlorenheit in der Sünde in der Kraft des Heiligen Geistes gelebt und so bereits schon jetzt von Glaube, Hoffnung und Liebe geprägt waren.

5.  Eine Erlösungsreligion, die auf Allerlösung hofft Die auf vielen Ebenen zu beobachtende Umstellung von einem eschatologischen Dualismus auf die Erwartung einer Allerlösung hat Rückwirkungen auf die Wahrnehmung des Christentums als Erlösungsreligion. Ein Allerlösungsmodell ohne Erwartung eines zurechtbringenden Gerichtes wäre die Erwartung der ewigen Wiederkehr und insofern keine Erwartung einer transformativen Erlösung.80 Demgegenüber vertreten sowohl Schleiermacher 79 

Reemtsma, Im Keller, S. 221. solches Allerlösungsmodell entspräche der Lehre von der ewigen Wiederkehr. So

80  Ein



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und Barth als auch die neuere lutherische und partiell die römische Theologie ein Allerlösungsmodell, das sich mit der Erwartung eines Gerichtes zumindest im Sinne einer inneren Scheidung verbindet. Allein ein solches Modell verhindert jede Form von theologischem Geschichtsnihilismus und wird den biblischen Überlieferungen gerecht. Die Konsequenz eines solchen Allerlösungsmodells wird gerade auch von deren Kritikern richtig erfasst: die Unterscheidung zwischen Glaube und Unglaube verliert ihre Bedeutung für die Zurechnung des Heils.81 Christinnen und Christen glauben nicht um ihres Heils willen – sie glauben also nicht in einem utilitaristischen Sinne jetzt, damit es ihnen dereinst besser geht –, sondern sie glauben um Gottes Willen. Sie glauben, weil der sich in Israel offenbarende und in Jesus Christus offenbare Gott sich ihnen als der imponiert, der sie unbedingt angeht, so dass sie nun eben selbst dort sein wollen, wo dieser Gott ist. Eben deshalb stehen Christinnen und Christen „bei Gott in Seinen Leiden“, wie Dietrich Bonhoeffer formuliert.82 Christinnen und Christen stehen bei Gott in seinen Leiden – und übernehmen seine Perspektive auf die Welt, die Perspektive dessen, der gerade deshalb an der Welt leidet, weil er will, dass allen Menschen geholfen wird – und der durch die Auferweckung seines Sohnes offenbart, dass er an diesem im Leben seines Sohnes offenbar gewordenen Willen auch nach der Kreuzigung, nach der Selbstabschließung der Welt gegen den, der sie retten will, festhält. Weil Christinnen und Christen die Perspektive dieses Gottes auf die Welt übernehmen, hoffen sie für alle Menschen – und können gar nicht mehr wollen, dass ihr Glaube ihnen einen Vorzug verschaffe. Indem Menschen im Glauben mit dem Leben Jesu verbunden werden, leiden sie mit Gott an dieser Welt und erkennen in der Perspektive Jesu Christi deren Erlösungsbedürftigkeit. Ihr Blick wird geschärft für die natürlichen Gefährdungen geschöpflichen Seins. Mit Christus, dem Heiler und Arzt, nehmen die Glaubenden die Leiden des geschöpflichen Lebens wahr.83 Ihr Blick wird aber auch sensibilisiert für die sozialen Konflikte und Ausgrenzungsprozesse. Mit Christus, der bei den Ausgegrenzten einkehrt und mit ihnen Mahlgemeinschaft hält, aber auch mit dem Gekreuzigten, dem von allen Systemen Exkludierten, nehmen sie die lebensabträglichen Dynamiken von Gemeinschaften, Systemen und Kulturen wahr.84 wird Zarathustras Rede von der Erlösung eingeleitet durch seine Verweigerung, Kranke zu heilen. Denn Erlösung heißt nach Zarathustra nicht Transformation, sondern Bejahung dessen, was ist und was war: „alles ‚Es War‘ umzuschaffen in ein ‚So wollte ich es!‘ – das hieße mir erst Erlösung!“ (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 153). 81  So zu Recht, aber in kritischer Absicht Lange, Glaubenslehre II, S. 470. 82  Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, S. 515; vgl. dazu die Auslegung von Thomas, Taufe, S. 77–91. 83  Vgl. dazu Etzelmüller, Christus, Heiler und Arzt, S. 319–337. 84 Vgl. Thomas, Taufe, S. 55: „Die Welt im Lichte der Intentionen Gottes sehend, lässt sich der Getaufte [man könnte auch sagen: die Glaubende] in die Sorgen Gottes mit dieser Welt verwickeln. Die Sensibilitäten Gottes teilend, sieht er oder sie andere, und auch neue Probleme:

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Indem Menschen im Glauben mit dem Leben des Auferstandenen verbunden werden, erhalten sie aber auch an Anteil an den Kräften dieses Lebens, das nach Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Wahrheit suchen und streben lässt. Genau diese Verbindung mit dem Leben des Auferstandenen kann man mit Schleiermacher als die „ursprüngliche Thätigkeit des Erlösers“ verstehen, durch die er uns in die „Gemeinschaft seiner Thätigkeit und seines Lebens aufnimmt“ (CG2 II,105,2 f.). Durch die Erlösung, d. h. im Glauben werden Menschen an das ewige Leben, an den Formzusammenhang von freiwilliger Selbstzurücknahme, Suche nach Gerechtigkeit und öffentlicher Feier der Gottesbegegnung angeschlossen.85 In diesem Sinne lässt sich mit dem Johannesevangelium sagen: Wer glaubt, der hat das ewige Leben – weil er schon jetzt an jenem Leben Jesu Anteil hat, das ewig bleiben wird. Dabei hat Schleiermacher zurecht darauf hingewiesen, dass diese Verbindung mit dem Leben Christi im Glauben keineswegs magisch zu verstehen sei,86 sondern durch das christliche Gesamtleben, den Kommunikations- und Lebenszusammenhang des Heiligen Geistes, vermittelt sei. Eingebunden in diesen Kommunikations- und Lebenszusammenhang des Heiligen Geistes, der nicht einfach mit der kirchlichen Wirklichkeit identisch ist, werden Menschen Christus gleichgestaltet, denn „die Früchte des Geistes sind nichts anders als die Tugenden Christi“ (CG2 II,296,8 f.). Insofern bleibt das Christentum, auch wenn es auf die Erwartung einer Allerlösung umstellt, als Erlösungsreligion erkennbar. Christinnen und Christen erkennen die Erlösungsbedürftigkeit der Welt – und hoffen deshalb, dass nicht alles immer beim Alten bleibt. Christinnen und Christen glauben an Jesus Christus, der sie schon hier und jetzt in sein Leben involviert. Als in das Leben Jesu involvierte Menschen rechnen Christinnen und Christen damit, dass Gott nicht gefangen bleibt in der religiösen Logik, die das Heil an den eigenen Glauben bindet, sondern Wege findet, allen Menschen Anteil am ewigen Leben zu geben. Sie wissen aber darum, dass sie in ihrem Leben hinter den Möglichkeiten des ewigen Lebens immer zurückbleiben, und beten deshalb, als jene zu vergehen, die sich dem ewigen Leben (auch in Gestalt ihrer Nächsten) verschließen, um als jene zu leben, die Gott von Ewigkeit her gemeint hat.

Die Verwerfungen und Risse geschöpflichen Lebens in leiblichen Nöten werden ebenso wie die sozialen Mechanismen der Selektion und der Ausgliederung intensiver wahrgenommen.“. 85 Zu dieser Bestimmung des ewigen Lebens vgl. Welker, Theologische Annäherungen. Beschreibt man das ewige Leben als Formzusammenhang von freiwilliger Selbstzurücknahme, Suche nach Gerechtigkeit und öffentlicher Feier der Gottesbegegnung, wird deutlich, dass das ewige Leben nicht nur in Diskontinuität zum irdisch-leiblichen Leben steht, sondern in diesem bereits zu entdecken ist. Eschatologische Aussagen müssen also nicht eo ipso unter Spekulationsverdacht gestellt werden, sondern haben durchaus einen spezifischen, nämlich identifizierbaren Erfahrungsbezug. 86  Vgl. CG2 II,110,16 – 111,10.



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Gregor Etzelmüller

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Redemption and Basic Goods William Schweiker The reflections that follow are incomplete; I make no pretense to provide a fully developed argument on my topic: “redemption and basic goods.” Yet these reflections are meant to be probative. That is, my intention is to probe the theme of this volume from the perspective of the relation that can and should obtain between theological and ethical reflection. I will do so with respect to the question of redemption and eternal life. On first blush, it might seem that ethics has little to do with eternal life. It might be understood as a post-ethical state of existence devoid of the struggles, choices, and limits that surround our existence as finite, living agents. Conversely, eternal life may designate the highest human good and thus the end and completion of the morally good and just life. Its opposite has been conceived through ideas about hell and damnation. In a more existential perspective, one might explore, as did Soren Kierkegaard, how the eternal enters time in the Christ and the believer’s contemporaneity with Christ through faith thereby existing as a Christian. To be sure, each of these options have been found within strands of Western theological and ethical reflection. In fact, many philosophers in the West admit the enduring impact of claims about redemption and the moral life in our civilization: recall Immanuel Kant’s postulates of God and immortality to stave off moral despair, claims about the “messianic” among postmodern Jewish thinkers like Jacques Derrida, or the religious turn in French phenomenology. Some thinkers, say, the English Deists, thought that fear of hell and hope for heaven were necessary and appropriate motives for moral action. Others, here too Kant is important, found those motives for reward decidedly immoral and thus hardly the grounds or ends of genuine moral action. Even classical theologians insisted that love of God, not fear of damnation, is the motive of a genuinely Christian life. In this essay, I do not what to engage these thinkers, at least not directly. My central focus is what redemption and eternal life would mean for the moral life in ways that do not negate, transcend, or interrupt the domain of our lives as acting beings.1 Let me start with trying to sort out the topic.

1  For another theologian deeply concerned with the relation between our lives as moral agents, questions of good and evil, and Christian claims about redemption, see Farley, Good and Evil. Farley also offers what I call a multidimensional interpretation of the human moral situation, but he draws more heavily than my argument on aesthetic categories.

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1. Probing the Topic As I understand it, the purpose of this book is to examine and test, by various means, the claim that with the dawn of the 21st century we are witnessing a fundamental shift or transformation in the understanding and practice of Christian faith. At issue is the idea of a change from Christianity as a religion of “redemption” to one that provides adherents with the means to navigate the difficulties of finite life. Supposedly this shift – if real – can be charted with respect to beliefs and ideas about “eternal life.” Now, if by this hypothesis one means that at least among the nations of the so-called “first world” belief in a supernatural realm of heavenly reward has waned, that is probably correct. It accords, more or less, with the “secularization theory” indebted to Max Weber, that has dominated much scholarly inquiry for the last century or so and has become the stock-in-trade of the modern sociology of religion. To be sure, there are still ardent secularists; witness, for example, the so-called “new Atheists” in the anglophile academy. But those critics of religion are not only loud but also attack a “straw man” of religion. Conversely, if this idea about a shift in understanding Christianity means that Christianity has ceased to be a religion of redemption as seen and practiced around the world and also among many people in the “first world,” then it is manifestly false. Not only is Christianity spreading in many places in the world (think of China and Africa) in ways that carry a robust vision of redemption, but even in the first world, as Charles Taylor has argued, we are seeing the emergence of a “post-secular” age.2 There are many ways of being religious and being secular. Even the new atheists attack religious faith precisely because they sense a shift in the cultural ethos, a shift back to supernatural religion. What is more, the global flow of movies (e. g., The Matrix), forms of music, new literature (The Life of Pi) is riddled with ideas about redemption, even when that “redemption” is not tied to Jesus Christ as the redeemer of the world. Finally, if our focus is on eternal life (ewigen Lebens) rather than “endless life,” then the concern is to properly understand the eschatological claims in Christian faith, a task found among must 20th century theologians. Yet in that case, it is not clear how this book advances theological reflection. It may seem, then, the claim of this volume appears sociologically dated, culturally wrong-headed, or rehashing previous forms of theological reflection. Is that the case? My contention in what follows is that the thesis of our book is neither narrow, nor wrong-headed, nor a job of rehashing, but, rather, opens a question important for any theologian engaged in ethical and political reflection. That is to say, Christianity – and, in fact, every religion of redemption or enlightenment – has stressed, by definition, the importance of redemption; but also, and importantly, teachings, practices, and moral exemplars (saints) for how to live and live rightly 2 See Taylor, A Secular Age. And Joas, Die Sakralität der Person. Also see Klemm/Schweiker, Religion and the Human Future.



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within the boundaries of finite life. Consider, briefly, classical Buddhism. To be sure, enlightenment means escaping the fires of desire and thus the realm of samsara as the domain of finite life. Yet enlightenment requires one be motivated by compassion for all that suffer and certain moral duties are integral to the path toward enlightenment. As I note below, there are analogous arguments within Christianity, and, further, it is hard to make sense of an “incarnate redeemer” who is not, per definition, a redeemer concerned with human finite, embodied life. The Gospels broadly portray Jesus as the bearer of the Kingdom of God, but precisely as a teacher, feeder of the poor and outcast, and also a healer. Jesus’ actions are centered on what are best called the basic goods of human life. In the remainder of this chapter, I want, first, to isolate some classical paradigms of thought and various forms of nihilism. This will clarify what is at stake for theological ethical inquiry while also indicating the need for new forms of thought. The later sections of the paper address the question of “basic goods” and the motives, found in various senses and sensibilities of human life. In light those goods, I conclude with an outline of a conception of “redemption” that escapes the basic forms of nihilism that continue to bedevil theological and ethical reflection.

2.  Classical Paradigms and Forms of Nihilism Before turning to the core of my argument, it is a crucial to indicate what I take to be the importance of my topic. Friedrich Nietzsche indicated in several works that supernatural and otherworldly Christian faith was “nihilistic.” By this he meant, on my reading, that according to this form of faith what is finite – that is, what is and yet will perish – becomes valued not in its finitude qua finitude, but only relation to what is not finite and thus not “existing” in any usual sense of the term. Nihilism is a value scheme in which finite life gains value by a relation to what is not existent, not finite life. This “slave morality” of the weak is motivated by the weak’s “ressentiment” in the face of the strong, the powerful. And as he concludes the Genealogy of Morals, “man would will nothingness than not to will at all.”3 In a word, supernaturalism voids natural life of value and thereby is a scheme of meaning rooted in the human will to exercise itself. The real task of life, Nietzsche argues, is, contrariwise, to say “yes” to life in its finitude, pain, and suffering and thereby to triumph over nihilism. To challenge Nietzsche’s claim by noting that he seems to be operating within some version of materialism is to miss the point. He is trying to articulate and examine the logic of valuation that remains a task no matter what philosophical outlook one happens to adopt. However, my account isolates another kind of nihilism alongside Nietzsche’s diagnosis of supernaturalism. In fact, we can identify a new nihilism, if I can name 3  Nietzsche, The Birth of Tragedy and the Genealogy of Morals. For a fine recent study of Nietzsche’s thought see Pippin, Nietzsche.

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it such. This is precisely the need to see inner-worldly, finite and bodily existence as ultimate; it is to inflate the value of finite being into infinite value, and, thereby, ironically, to denigrate the finite qua finitude. Various forms of “incarnation theology,” as it is called in the USA, aimed at avoiding the dreaded “dualism” of body and soul, seemed compelled to make the body an ultimate value and thus, I observe, no longer the finite body. Arguments about embodiment and relationality tend in the same direction. These forms of theology – and others as well – enact Nietzsche’s insight yet in the inverse, that is, the finite cannot be valued as finite, it must be made in-finite in order to be valued. How to avoid the old and the new forms of nihilism? Later in this paper my focus on basic goods and redemption is developed in order to counter these forms of nihilism. Before turning to basic goods, we can note two paradigms of classical Christian thought that in different ways sought to avoid the forms of nihilism just noted: one typically Catholic and the other typically Protestant. These forms of thought valued finite life as finite life without the need to relate it to the in-finite (Nietzschean or old nihilism) or to value the finite as if it is of infinite value (the new nihilism, as I am calling it). Of course it will trouble some Catholic and some Protestant theologians to admit that they share an insight, even if they work it out in different ways. But the fact that they share this insight testifies to the realization that both Catholic and Protestant thinkers – at their best – insist on a central claim of the Jewish Torah that was most succinctly put in the Decalogue: the interrelation of obligations to God and obligations to our fellow human beings without the need to confuse them. Indeed, Hillel the Elder, supposedly, was asked to explain the entire Torah while standing on one leg. He answered: “That which is hateful to you, do not do to your fellow. That is the whole Torah; the rest is the explanation; go and learn” (Talmud, Shabbat 31a). This is the socalled “Silver Rule.” The “Golden Rule” of Jesus’ teaching puts it positively: “do unto others as you would have done unto you” (Mt 7:12). Further, the “Second Table of the Law” as well as much of Jesus’ teachings concern the needs and good that characterize human social and also personal relations. Rabbinic Judaism and early Christianity related and yet distinguished relations to God and relations to others. They did not, as the forms of nihilism old and new have done, collapsed one into the other, making duties to others valuable only in relation to duties to God (the nihilism that Nietzsche attacks) or duties to others as a surrogate for duties to God (the new nihilism). The best thinking in Christian thought, on my account, has taken this more nuanced approach found originally in the teachings of Jesus and Hillel. What do I mean? In classical Catholic thought, particularly the work of Thomas Aquinas, there is the concern to interrelate and yet distinguish two ends of human action.4 That is to say, human action always, on Thomas’ account, aims at some end, some 4  It is in the Secunda Pars of the Summa Theologiae that Thomas explore the ends of action as well as law and virtue as principles of human acts.



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telos, that action is to realize. He argued that human beings have natural ends, that is, ends that have to do with the fulfillment of our natures as rational, social, animals. Yet there is another end of human action only attainable through divine grace, the supernatural end of the visio Dei. The salvific end of human life, made through Christ and the infusion of grace by the Holy Spirit, does not destroy human nature, but perfects it to its highest good. Of course, Nietzsche would see this as a form of nihilism and the new nihilists would insist that Thomas does not properly valorize natural ends. And to be sure, the Thomistic scheme of thought can and has been read in those ways. Yet, the Thomistic position, on my understanding, rests on a distinction between ends wherein each has its rule to play in a comprehensive account of goodness. It is no denigration of natural ends to admit they are natural ends, contra-Nietzsche. Against the new nihilists, Thomas could retort that they have distorted the specific difference of the human good by collapsing supernatural ends into natural ends. My point here is not to defend or to advocate Aquinas’ position. It is merely to note one example of a highly differentiated account of the human good. Another classic example of a differentiated axiology, or theory of value, is found among the Reformers, especially Luther and Calvin. For these theologians human beings exist under two governments (Calvin) or in two Kingdoms (Luther).5 Each position insists that one not confuse these distinct but related realms and that there are goods particular to each as well as different duties and vocations. In fact, the real danger is falsely unifying these realms and thus the attempt to rule the civil order by the Gospel and to believe that one’s civic righteousness has redemptive power. Of course, the various kinds of the new nihilism would contend that the “dualism” of the two realms fails to grasp the fullness of embodiment. No doubt some Protestant communities, past and present, have focused exclusively on personal salvation with little interest in or commitment to the realm of natural and civic life. Yet, again, in the classical Protestant theologies there is no denigration of the earthly realm, but simply an insistence that it be seen, valued, and lived as earthly and only as earthly. Interestingly, the Kingdom of Christ protects the goods of finite bodily and civic life by insuring they remain finite and civil. The two classical paradigms just noted ironically protect the goodness of finite existence by limiting the scope and status of its value. The problem facing current theological ethics thereby comes into focus: in our age, how might one articulate what I have called a “differentiated axiology?” How are we to understand the ethical meaning of “redemption” that avoids nihilism (old or new) with respect to an account of the complexity of the domain of goods and motives indexed to those goods? As the next step in outlining a constructive position, let me turn now to what moral theorists mean by the idea of “basic goods.” That discussion in hand, I will turn to the question of redemption and basic goods. 5  John Calvin’s discussion is found in Bk IV, Chapter 20 of the Institutes of the Christian Religion. Luther’s argument is found in various treatises but especially in On Secular Authority.

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3.  Basic Goods, Senses and Sensibilities In the last years, there has been renewed interest in various types of basic goods.6 Basic goods – of which there are different kinds – simply refers to those goods without which it is difficult to conceive of human well-being. Some of these goods are “premoral,” they exist independent of human choice; for example, that we have bodies, or that human period of dependence on parents is extremely long, or that we are social beings. Other basic goods are distinctly moral in the sense that they rely on human choice, so, the kinds of social relations we forge and foster, what we do with our bodies, or the forms of meaning we create in cultural forms. All of these goods can be articulated without appeal to metaphysical or theological backings since they are features of human physical, social, and psychological life.7 Because these goods are needed for the flourishing of human life and their willful destruction or unjustified denial is destructive of life, then a human being qua human being has some claim to them. The violation of these goods are harms which, when intentional, systemic, and extensive, are forms of evil. On my account there are four types of basic goods grasped in various senses and given moral forms in certain settled sensibilities. First, worth – a form of goodness – is experienced most basically, sometimes inchoately, in the sense of pleasure and pain as motivations for human action. We are drawn to what gives pleasure; people recoil from pain. This is the realm of bodily goods, as I call them. Living beings, all creatures situated in life through pleasure and pain, make some claim to be respected and enhanced, even if that claim can, in certain circumstances, and for good reasons, be over-ridden. Bodily goods, then, situate human beings in the world at the most simple level of sensible life and that can give rise to the moral sensibility of sympathy for others even as it is also linked to other levels of goods that must be properly integrated if life is to endure and to flourish. There is also a distinct realm of social goods. Human beings – and the life of many other species – are profoundly social. Social goods include such things as family, economic and political institutions (of whatever form), friendship, patterns of interaction with other species, and even the means to think, speak, and act together with others. As social beings, we are moved by a desire for recognition and are vulnerable to shame. The bonds of our humanity come to rise in the moral sensibility of benevolence for others. But the senses are also open

6  The various theories of basic goods can be found in a host of thinkers each of whom develops a distinct and different argument: John Rawls, Martha Nussbaum, John Finnis, Lisa Cahill, Don Browning, and others. For my own account see Schweiker, Responsibility and Christian Ethics as well as Klemm/Schweiker, Religion and the Human Future, especially Chapter 5. The positioned outlined here follows the lines of my previous argument in those books. 7  For a recent attempt in this way see Glover, Humanity and, differently, Kateb, Human Dignity.



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to distortion, like when racist policy breeds shame for one’s very being or sexism fosters hatred of one’s gender. Benevolence too can be stunted or destroyed. I have isolated the complexity of attunements to the vitality of life that arise experientially in the senses of pleasure, pain, the desire for recognition, and dynamics of shame. And these are linked to sensibilities to our bonds with others through sympathy and benevolence. These “senses” and “sensibilities” situate human beings in a world of interlocking goods and evils that surround actions and relations to others.8 They demarcate the kinds of vulnerability human beings face in the struggle to live and live well, individually and together. Yet, third, people must also take some reflective stance to bodily and social goods and the motivations that arise from bodily and social life. Reflective goods satisfy not only the drive for meaning in human life but also open the possibility for creating new forms and ways of life. These goods denote both a posture of interpretation and assessment toward bodily and social goods, but they bear worth in themselves as well. This level of good aims at truthful life, meaningfulness, self-understanding and social concord. Insofar as reflective goods demarcate a range of personal and social meanings, these goods are linked to the reality of people as individual agents. Pleasure and pain can and do move human beings to act without deliberation; the desire for recognition and fear of shame can provoke action without questions about of the truth of those feelings. Yet human beings are also moved by the question of the truth of their selfunderstanding and the values and goals that orient life. At crucial moments in life – the encounter with someone suffering, the joy of a new child, revulsion at gross injustice – one awakens from the habitual and asks about the truth of one’s life and what is held good and true and sacred. The sensibility of justice, which exceeds sympathy and benevolence, arises. From this awakening to the moral density of the world arise other feelings that situate human life, specifically our senses of guilt and innocence. Fourth, human life always takes place in some community on some bit of earth and during some time in history. Bodily, social, and reflective goods are thereby always located in space and time. Too often and too readily the natural and social locality of human and non-human forms of life have been ignored. The earth is precious and human communities are vulnerable. These are the goods of locality. Our lives are marked by a capacity for empathy in the face of these vulnerabilities and forms of preciousness. This preciousness of the earth and vulnerability of human communities as the space of life are often sensed in the homelessness people feel when their communities break down or are dislocated. Not only do pleasure and pain, recognition and shame, guilt and innocence, situate human beings in their world at the levels of feelings and senses about the range of goods that saturate life, the good of locality, as we will call it, also arises

8  For a related but different account of senses and sensibilities in the moral life see Gustafson, Ethics from a Theocentric Perspective.

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within feelings of participation or alienation amid the various spaces (natural, social, historical) where human life takes place. The “meaning” of goodness is, then, in part respecting and enhancing these basic goods as well as the kind of integration of various goods needed for the flourishing of life. Little wonder that the most heinous forms of evil  – for example, genocide or sexual abuse – aim to destroy these goods and their integration in a life. Further, it would take a good deal more time and space to explore the actual goods in each type of basic good. That is, bodily, social, reflective, and local types of basic goods classify a whole host of premoral and moral goods within each type. There are, for instance, many kinds of reflective goods or bodily goods. Likewise, if time and space allowed, it would be important to show how the sensibilities (sympathy, benevolence, etc.) are related to the senses or feelings on which they depend and also to which they give moral meaning. In other words, the account just outlined implies a conception of motives and action and thus a robust moral psychology, one that I cannot develop in this essay. To note one more question that I must forego answering, it would be crucial to show how those senses and sensibilities are actually forms of moral knowledge. They are the practical mode of perception of the presence of differentiated values that constitute the atmosphere of the moral space of life. We are situated in life and its moral space through these senses and sensibilities. Many forms of modern ethics have focused on right action and also the meaning of moral discourse to the neglect of the importance of moral perception with respect to sensibilities.9 So, much more needs to be argued; that is why my reflections here are a probative draft of a fuller argument. Granting that fact, I formulate the imperative of responsibility like this: in all actions and relations respect and enhance the integrity of life with and for others before God. Rather than explaining the imperative of responsibility in more detail – which I could easily do – and why it takes imperative form, let me turn instead to redemption and basic goods.

4.  Redemption and the Moral Life In Christian faith and thought, redemption as the work of the Redeemer is understandable in terms of some idea of sin and thus the need for redemption. The question, hermeneutically speaking, is where to begin to interpret and to understand the connections among sin, redemption, and the Redeemer. If one begins with the phenomenon of sin, then it will be crucial to develop an account of the meaning of sin, starting, for instance, with human anxiety about existence (Kierkegaard), the abyss of the will and the consequent conflict between will and knowledge (Paul), misdirected love (Augustine), or mistrust and unbelief 9  Some of the first and most decisive challenges to the focus on action was among women philosophers, especially Phillippa Foot, Iris Murdoch, Mary Midgley, and Elizabeth Anscombe. For the most comprehensive of these attempts see Murdoch, Metaphysics. Also see Antonaccio, Picturing the Human and, more recently, Antonaccio, A Philosophy to Live By.



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(Luther). The account of basic goods, senses, and sensibilities outlined above suggests a different, if related, line of thought. The account of basic goods was meant to make two interrelated, but distinct, claims about human life. First, human life is the ongoing struggle to integrate the various basic goods in order for life to continue and, to some extent, to flourish. Because of the character of basic goods and also the sense and sensibilities they evoke and which motivate action, the struggle of and for the integration means that human goods are simultaneously deeply personal and also social. What is more, the distinctive character of human freedom is, as Mary Midgley has noted, the work of the whole self on the self seeking wholeness amid conflicts among motives. She writes: “We exist, in fact, as interdependent parts of a complex network, not as isolated items that must be supported in a void. As for our knowledge, it too is a network involving all kinds of lateral links, a systemin which the most varied kinds of connections may be relevant for helping us to meet various kinds of questions.”10

Death is the weakening of the power of integrating these goods, and thus freedom, and thus their final disintegration. Divine life, we might say, is a power of integration not threatened by disintegration. This is not simply a formulation of “endless,” life which would be, clearly, an instance of “bad infinity,” as Hegel called it. To be sure, current advocates of “trans-humanism” or the “post-human” imagine a future where, through technological means, we can either insure endless human life or bring about a transcendence of our humanity into a post-human mode of being, say, up-loading our brains into computers. While obviously fanciful and utopian visions, these ideas confuse endless with eternal life and also bespeak versions of the old or new nihilism, either valuing current life in relation to what is not finite human life (the trans-human) or seeking to divinize human beings (the post-human). Always and everywhere human life is a struggle for integrity that finally succumbs and cannot sustain itself. For human beings, eternal life cannot just mean endless life and retain any coherent sense. Such a claim would mean that the struggle of human life to integrate basic goods needed to survive and flourish would just be endless struggle, making that struggle itself the end or good of human life. One might imagine, as just noted, the Nietzschean undertones of that claim or that it expresses a version of the new nihilism. Actually, the fact of the struggle of human life, and so the character of finite freedom, is no denigration of the value of finite life because worth or value simply is the integrity of a form of life. It is also not a form of the new nihilism because the value of finite life always entails premoral and moral bodily and social goods, goods (if we use this language) of embodiment and relationality. The first point, then, is that we can understand the worth of forms of life and also the distinction among forms of life in terms of (1) the relative power of a form of life (human, 10 

Midgley, Myths, p. 25.

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animal, divine) to continue the project of integrating goods needed to live and to flourish, and (2) the kinds of goods that must be integrated for that form of life. At least from the perspective of theological ethics, the idea of “eternal life” and also “new life” means to preserve that value of finite life as finite life and it does so by insisting on the scheme of basic goods outlined above. The question then becomes twofold: (1) how is one to understand sin and redemption in light of those basic goods and the project of freely integrating them, and (2) how does that account of sin and redemption help clarify the theological and ethical meaning of eternal life? Let me take these questions in order. Now as St. Paul has noted, and Christians have long held, the need for redemption arises in the face of the bondage of human life to the “law of sin and death.” On this first level of reflection, we can readily see what it means to be bound by the law of death; it is the bondage of human freedom to the ever weakening of the power to integrate the goods needed for life to continue and to flourish. The law of death, we can say, is the law or structural dynamics of finite life. But how is this related to the law of sin? Second, sin, we might say, is the denial of a person’s integrity of life related, as it actually is, to the integrity of other’s lives and also to the living God, the integrity of life itself. There are two marks of sin, if we can put it in this way. One mark of this is blindness to the atmospheric presence of goods needed for life to continue – and in some way flourish – and that these are the motives for genuinely moral motives, that is, the sensibilities noted before. In a state of sin, existence seems to be drained of worth and hence meaningless; or, what is usually the case, the life of the self and its struggle to live and live well is taken as the meaning and value of life as such. This is bondage, because freedom is restricted and cannot liberate itself. The second mark of sin is then that human personal and social life sees itself as the source of all value in its struggle against the forces of death, disintegration. As theologians from Augustine onward have noted, we cannot explain or give a causal account of the origin of sin, because sin is the self-binding of the power of life – that is, the power of integration – to forces of disintegration, a binding which also distorts our perception of life as permeated, saturated, with worth. Bondage to the law of sin and death is then the self-binding of human life to death which leads to both the disintegration of a form of life and also the distortion or warping of the capacity to perceive – to sense, feel, and know – the ways in which life is saturated with value, an apprehension of the atmospheric goods of life. We might say, then, that sin is a twofold bondage which undercuts the very possibility of genuine moral agency in both its cognitive, or perceptual, conditions and also capacity to act. It is precisely this double bondage that necessitates a “redeemer” since, in the condition of sin, one does not sense or know of one’s plight, even while one’s plight, when apprehended, would not have the capacity to transcend or escape one’s bondage. In this light, I suggest that some traditional conceptions of redemption and also faith make sense. How might that be so? Recall the famous definition of “faith” in Hebrews 11:1: faith is “the assurance of things hoped for, the conviction (or evidence) of things not



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seen.”11 Faith, on its first level, has a perceptual and evidential meaning. In terms used above, faith is a renewed capacity to perceive the atmospheric goods of the moral space of life and thus to the mode of perception needed to respect and enhance the integrity of life with and for others. The ethical meaning of faith and redemption, on this first level, is awakening to the complex goodness of finite life. It is to apprehend in the midst of the struggle of life not that struggle itself, but, rather, the types of basic goods that saturate life and endow it with worth. This is to suggest that perception and understanding are just as basic to the moral life as is action. Indeed, it is to suggest that we misunderstand the reality of our being agents if we only understand agency in terms of the logic of intention-choice-act-consequence.12 The second level of faith is what is called “saving faith” by traditional theologians. It is trust in God’s saving action in Christ, and this marks a shift in human life from seeing the worth of life only in terms of the self’s struggle for integrity, its struggle against the law of death. The second level of faith is freedom from the bondage to sin and into the assurance that the integrity of life is found in trust in Christ. As traditional Protestant thinkers put it, one is freed for the love and service of finite life in its finitude, e. g., the neighbor. When the integrity of life is apprehended in God, then finite life, despite its struggle of freedom, is known as good in relation to God and the neighbor. To borrow from St. Paul in Romans 12:1–2, what is at stake here is the “renewal” of the mind to prove “what is good and acceptable and perfect.” The apprehension of the integrity of life in the two levels of faith is not old-style nihilism because the integrity of finite life is affirmed in its very finitude; and it is not a version of the new nihilism since finite life remains finite even if one is able to apprehend the saturation of life with forms of goodness and also act with and for others about the integrity of their lives. I must note that the position just sketched has been developed from within a resolute experiential or existential and moral perspective in relation to claims in Hebrews 11:1, and thus, what I would call an ethical hermeneutic of sin and redemption. I realize much more scriptural, exegetical, and conceptual work must be done in order to fill out this ethical hermeneutic of the Christian life. Granting that, the final question I must probe and address is this: how does this account of sin and redemption relate to ideas about “eternal life”? Returning to the passage in Hebrews, we can say that “eternal” life takes the form of hope within finite, human life and our existence as moral agents. But this hope, we should note, is also a conviction or assurance of what is not seen. Of course, hope has been treated extensively by philosophers (I. Kant; E. Bloch) 11  In modern Christian thought it was John Wesley who especially insisted on this kind of an account of faith and to argue, yet again, with John Locke, that knowledge does indeed have an empirical grounds in relation to the human senses but that there is also a spiritual sense of perception in faith. Analogous arguments can be found in the work of the great American Puritan thinker, Jonathan Edwards. 12  On this also see Fischer, Theologische Ethik.

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and theologians (J. Moltmann); we hardly need to rehearse their arguments. What I am suggesting, then, is that the triadic relation of faith (in its two levels), love (whose moral meaning is to respect and enhance the integrity of life with and for others) and hope, arises within the renewal of the mind in which hope sets the moral sensibilities (sympathy, benevolence, justice, empathy) in a context that affirms the worth of finite life precisely as finite. The moral meaning of hope is not the conviction that the moral antinomy (i. e., the tension between the demands of duty and the desire for happiness) can be solved, as someone like Kant holds. Nor is the moral meaning of hope related to the eschatological event of the resurrection of the Crucified God, as Moltmann might say. Hope is, rather, a theological sensibility that affirms the integrity of finite life and the moral project of respecting and enhancing it, with and for others, freed from despair over the struggle of life, the roots of the old nihilism, or the need to divinize embodied life, the agenda of the new nihilism. Hope is the form eternal life takes within the moral space of human existence.

Conclusion The interpretation of redemption and the moral life just outlined is incomplete but probative. In a sense, what I have tried to do is to interpret the idea of “eternal life” within the complexity of the moral life, that is, our existence as finite and yet responsible agents. And, further, I have tried to do so in ways that are a rough analogy with the classical paradigms in Christian thought in such a way that avoids the specter of nihilism, old or new. Finally, I might note, that in our age of the endangerment of the many forms of life on this planet, from the genetic to the planetary, through human action and inaction, something like a theology and ethics of the integrity of life seems sorely needed. By probing and reflecting on the topic of this book, I have tried to indicate directions for developing just that type of theological ethics.13

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See William Schweiker, Dust That Breathes.



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The American Redeemer Symbolic Michael S. Hogue Introduction The ironies of American history noted by Reinhold Niebuhr were many, but not exhaustive.1 Missing from them was perhaps the greatest irony of all, the irony that the redeemer myth, which has defined the idea of America from the Puritans to the present, has become a myth from which American democracy needs to be redeemed. Though rooted in both the biblical imagery and millennialist thinking that shaped the Puritan mission, the redeemer myth has shifted through American history from theological and ecclesiological to secular political and economic registers. In each of these registers, however, it has formatted an ideal of sovereign, oppositional power whose detriment to democracy is evidenced by its incriminating history of effects: it provided the logic that buttressed the colonization and genocide of Native Americans, “savages” who needed to be either converted, civilized, defeated, or “removed;” its Anglo-Saxon racialist imprint continues to mold contemporary forms of American racism, nativism, and xenophobia; it factors into destructive American approaches to the natural environment, from industrial-era exploitation to contemporary climate change denial – the wilderness, along with the natives who occupied it, needed to be tamed; it has provided a plot structure for American militarism, turning wars into crusades, from the Revolutionary and Civil Wars to our misadventures in Vietnam and Iraq; it animated the doctrine of Manifest Destiny in the 19th century and now fuels the neoliberalism of the 21st. This essay in political theology does not argue that the redeemer symbolic has been a direct cause of any particular event in American history, good or bad. The logic of linear causation is too crude for interpreting the complex cultural effects of myth and symbol. Instead, I am concerned with the pragmatics of redemption in American history, with its political and moral imprints, historically and into the present, and with the effects of these imprints on American social and economic life. My claim is that the redeemer symbolic has historically served, and continues to serve, as a primary vector for dominant American values, purposes, and norms and that these dominant values, purposes, and norms support destructive idealities of power and undemocratic forms of social order. While they have been catalysts of U. S. global hegemony, they stand in deep conflict with 1 

Niebuhr, Irony.

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the demands of contemporary democracy and justice in a pluralistic society in a multipolar world. Originally claimed by English Puritans as the basis for their “errand into the wilderness,” the redeemer symbolic has migrated beyond the register of theological meaning to influence the ways Americans imagined and continue to imagine such things as the role of the United States as a nation in the world and the ways they have interpreted the nature and purposes of free market capitalism. Implicit within the theopolitics of redemption is an ideality of unitary, sovereign, invulnerable power – that which has the power to redeem, whether God, state, or market, is one, all-powerful, and unassailable. This ideality sustains and sanctifies concentrations of power, cultural, political, and economic. It shapes an American political, economic, and social ethos that is inherently oppositional and hierarchical and foments the absolutist strains of American political and religious discourse. Part of a larger project in development, this essay is organized primarily around the first of what I take to be the two intrinsic tasks of political theology.2 As I define it, political theology is the critical engagement of the religiously formatted imaginal spaces of reason and desire through which power and social life are negotiated. To refer to this space as “imaginal” is to indicate that it is embedded in political communities in their affective and aesthetic, narrative and ritual dimensions as well as discursively. To claim that this space is “religiously formatted” is to affirm the role of ultimately orienting symbols and rituals in its construction, maintenance and transmission. To indicate that these symbols and rituals influence political reason and desire is to hold that they can be and often are transposed across religious and other registers of life. To suggest that they inflect negotiations of power and social life is to draw attention to their concrete pragmatic effects. Given this definition, political theology as a critical task entails interpreting the forms and migrations of theopolitical symbols, on the one hand, and analyzing their role in the formatting of the imaginal space of the political, on the other – political theology thus understood is about the configuring and reconfiguring of social life and political practice. The critical thesis of this essay is that the ideality of sovereign, concentrated, oppositional power sanctified by the redeemer symbolic establishes the disavowal of vulnerability as American political, economic, and social orthodoxy. The ideality of power projected by the myth of American redemption occludes the vulnerabilities of human life and human systems that a just democracy in a pluralistic global society must learn to work with rather than against. The sanctification of this concept of power formats a political ethos which breeds religious, political, and economic hubris. The dominant American political theology, in other words, is one of radically idolatrous overreaching, an idolatry that deeply infects American society.

2 

Hogue, American Immanence.



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The constructive thesis of my larger project, which can only be intimated here, is that in a globalizing, multicultural society such as the United States, justice and democracy demand a political theology that can invigorate the experiments in pluralistic solidarities needed to meet our contemporary moral and political challenges. Postsecular religious metamorphoses are creating opportunities for this re-imaginative work. The political theology I will argue for will not be concerned primarily with questions at the level of the state, but with smaller scale human communities in medias res, in the fast shape-changing social spaces between the private and the public, the religious and the secular, and the individual and the state. New, spiritually scaled spaces for imagining and enacting democratic community are being opened by the postsecular perforation of mediating institutions, the de-differentiation of public and private spheres, and the increasingly permeable boundaries between the religious and the secular. These spaces are natal spaces, generative of new values and purposes, new conceptions of power and social life, and thus also of new forms of political practice. A political theology of solidarity in medias res eschews the redeemer ideality of sovereign invulnerability and is instead concerned with its inverse, the question of vulnerability. This alternative political theology finds its constructive, normative bearings in the themes of fallibility, fragility, and relational power as articulated through the pragmatist and process lineages of American liberal theology. I argue that fallibility, fragility, and relational power are critical coordinates for a political theology that seeks to shape the more empathic, pluralistic democratic communities that contemporary American social and economic challenges demand. In this essay, however, I focus primarily on the first of the two tasks of political theology, the critical task – tracing the forms, migrations, and effects of the redeemer symbol in American history. The dominance of this symbol, the ideality of power it projects and the oppositional ethos it shapes, helps to explain the increasingly virulent and polarized nature of American public discourse. After all, if the ideal of power is unitary, sovereign, and invulnerable, then the power to solve problems will be thought of in binary terms – either the government is the whole of the problem and the market is the solution, or the economy is the problem and government is the solution; either conservatives have all the answers and liberals are “secularists” and “socialists” in disguise, or liberals have all the answers and conservatives are benighted bigots; either my faith is wholly right and true in all respects and yours is wholly in error, or all people of faith are hoodwinked and “religion poisons everything.”3 The Tea Party and Occupy Wall Street movements and religious and atheistic fundamentalists illustrate these polarities perfectly. The redeemer symbolic, in short, shapes social and cultural systems ordered by the logical fallacy of the excluded middle. It rigidifies partial perspectives into ideological absolutes and polarizes our politics. It divides the 3  I allude here to the late Christopher Hitchens’ book, God is Not Great: How Religion Poisons Everything.

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world into “us” and “them,” “good” and “evil,” “those who are for us” and “those who are against us.” Insofar as this is the case, it corrodes the habits of collaboration, generosity, mutualism, humility, and inclusivism upon which a more robust democracy and more resilient human communities depend.

1.  The Structure and Origins of the Redeemer Symbolic Deeply rooted in American history and identity, the redeemer symbolic is a constellation of biblical and secular images, narratives, and rituals that provide a “structure of experience” in American life. According to Chicago empirical theologian Bernard Meland, a “structure of experience” establishes a “nurturing context of meanings, feelings, and valuations through which the past is transmitted and emerging events are qualitatively formed.”4 As such, the redeemer symbolic accounts for the place of the idea of America, and the United States as a nation, in the history and destiny of the world. Whether manifest in the explicitly sacred register of its settlement and colonial phases, in John Winthrop’s “city upon a hill,” in the doctrine of Manifest Destiny, or in its later secular nationalist and neoliberal economic registers, it constellates around themes shaped by the myths of American innocence and chosenness and prescribes the historical purposes and mission of the nation. These themes are expressed with white racist venom in the infamous Senate speech given by Indiana Republican Senator Albert J. Beveridge at the turn of the twentieth century: “God has not been preparing the English-speaking and Teutonic peoples for a thousand years for nothing but vain and idle self-contemplation and self-admiration. No. He made us master organizers of the world to establish system where chaos reigned. He has given us the spirit of progress to overwhelm the forces of reaction throughout the earth. He has made us adept in government that we may administer government among savage and senile peoples. Were it not for such a force as this the world would relapse into barbarism and night. And of all our race He has marked the American people as His chosen nation to finally lead in the redemption of the world.”5

Beveridge’s quote illustrates the racialist cast of the theopolitics of redemption and its crossing of sacred and secular planes of meaning; it captures its migrations through theological, political, social and economic spheres of American life. Through its crossings and migrations, it is held together by the assumptions that saving power – whether that power is of God, the nation, or a racial group – is sovereign, invulnerable and singular. These assumptions are insulated by an aura of sanctity, epistemic certainty, and historical inevitability. This is why dissent and critique of the myth and efforts to present alternatives to it are maligned as heretical by its apologists. 4  5 

Meland, Faith and Culture, pp.98–116. Quoted in Tuveson, Redeemer Nation, p.vii.



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The redeemer symbolic, in sum, is American theopolitical orthodoxy. It has taken diverse shapes throughout American history, and it has not only and in all cases been destructive. Counter-examples could be cited to show that it has, arguably, served as a catalyst for justice at certain points in American society – such as, for example, its role in the abolitionist and civil rights movements. And yet, as a matter of logic, the fact that the redeemer symbolic has served justice at times does not absolve it from its linkages to injustice, and, to the extent that it has historically functioned, frequently if not always, as an instrument of exclusion, a principle of division, and a justification for oppression, it is inconsistent with the spirit of the American ideals of freedom, equality, and democracy. No doubt there are multiple truths in the history of the United States. The United States is constituted by many myths, and no one of them is definitive of the nation on its own. As historian Ronald Wright has written, “Seen from the inside by free citizens, the young United States was indeed a thriving democracy in a land of plenty; seen from below by slaves, it was a cruel tyranny; and seen from the outside by free Indians, it was a ruthlessly expanding empire. All of these stories are true, but if we know only one without the others, what we know is not history but myth.”6 And yet, from the beginning, it has played a role in the abridgment of democracy and in the legitimation of gross injustices – the banishment of dissenters from Massachusetts Bay, the genocide of native Americans, the enslavement of Africans, the “defense” of democracy through unjust wars in Vietnam and Iraq, the contemporary rise of anti-immigrant xenophobia, the denial of climate change and rampant ecological degradation, to name only some of the most obvious cases. In keeping with Robert Bellah’s argument that, “where a people conceives itself to have started reveals much about its most basic self-conceptions,” it makes sense to begin this analysis of the redeemer myth by considering how thinkers important to the American political tradition have imagined the origins of the United States as a nation.7 Within these formulations of the genesis of the nation, the prominence of the ex nihilo tradition is striking. For example, reflecting on the significance of the founding, Thomas Paine wrote that “the case and circumstance of America present themselves as in the beginning of the world …. We are brought at once to the point of seeing government begin, as if we had lived in the beginning of time.”8 Paine was a severe critic of biblical religion and his comments here reflect most directly his Enlightenment commitments. They reinforce what he and other rationalists of his time viewed as the power of human reason to operate outside of (and against) the authority of tradition. They underline what he takes to be the unassailable rationality of American ideas about government. Well before Paine, John Locke also imagined the origins of America through the ex nihilo tradition. In his Second Treatise of Government, in a clearly biblical 6 

Wright, What is America, p. 13. Bellah, The Broken Covenant, p. 3. 8  Hughes, Myths America Lives By, p. 6. 7 

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cadence, he wrote, “In the beginning all the world was America.”9 Claims such as these mimetically reproduce the theological logic of the ex nihilo motif. While ex nihilo theologically dramatizes God’s sovereignty and provisions history and nature with an eschatological structure, these political allusions do the same for the American experiment. As Bellah interprets, “America stood for the primordial state of the world …. The newness which was so prominent an attribute of what was called the ‘new’ world was taken not just as newness to its European discovers and explorers but as newness in some pristine and absolute sense: newness form the hands of God.”10 The theme of newness reflects the sense among many early European explorers and settlers that America represented a new beginning, not only for their personal lives, but for human civilization and for the Church in particular. It also illustrates the arrogance and blindness with which Europeans discounted the sophistication of the already existing native civilizations in North America. At their most benign, the early European colonizers thought of the Native Americans in terms of pure innocence, naked denizens of an Edenic paradise. More commonly, they were viewed as natural savages who needed to be either converted to Christianity, domesticated into European ways, or cleared entirely out of the way along with much of the rest of the new world wilderness. In this regard, as ethnohistorian Francis Jennings has rightly suggested, American nature in the early phases of colonial settlement was “more like a widow than a virgin. Europeans did not find a wilderness here; rather, however involuntarily, they made one.”11 The earliest European and English settlements, such as Jamestown, Boston, and New Amsterdam, grew upon sites previously occupied by Native American communities. Native Americans, too often, were identified as uncivilized wilderness people that needed to be settled along with the land. Thus the so-called settlement of America was a resettlement, the occupation of a land made waste by the diseases and demoralization introduced by the newcomers. Native Americans thus were doubly invaded. They were decimated by European diseases, against which their immune systems were defenseless, which in turn diminished their cultural resistance to colonial exploitation. Their combined biological and cultural disempowerment cleared the way for Europeans’ physical and ecological conquest of the natural environment. In the background to all of this, the biblical story of ancient Israel’s exodus from Egypt exerted an especially strong influence on Puritan consciousness and behavior. For the early Puritan settlers, the biblical Israelites’ experience of the desert landscape as a wilderness, the site of trial and struggle, served as a metaphor for their own encounter with North American nature as a wilderness against which to struggle and through which to pass. The entire Puritan colonial 9 

p. 5.

Locke, The Second Treatise of Government, 1:49, quoted in Bellah, The Broken Covenant,

10  11 

Bellah, The Broken Covenant, p. 5. Jennings, The Invasion of America, p. 30.



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venture, from departure from England to arrival in the New World, was freighted with the great theme of freeing Christianity from bondage to error. With all of this at stake, nature – both the land and its native inhabitants – played the role of adversarial foil against which the Puritan theological and ecclesiological drama of liberty was plotted. The story of biblical Israel undergirded the sense of national chosenness carried over to the New World by English Puritans. This sense of chosenness was further reinforced by the covenantal theology of the English reformer William Tyndale. Under the influence of Martin Luther, Tyndale presented several translations of books from the New and Old Testaments between 1526 and 1534. The chronology of these translations reflects Tyndale’s increasing conviction that the theme of covenant, especially as crystallized in the blessings and curses pronounced in the book of Deuteronomy, provided the key to understanding God’s will for the Church in general and for England in particular. The second edition of Tyndale’s New Testament translation in 1534 presents his covenantal theology in its strongest form. This translation, along with his 1531 translation of the Old Testament book of Jonah, in which he presented a case that in past times God had sent prophets to England who had been ignored, provided the basis for Tyndale’s theology of national covenant, which implied that England, as Israel of old, was God’s chosen nation. The effects of Tyndale’s translations cannot be understood apart from the Reformation turbulence that roiled the English monarchies. The monarchy of young Edward VI (1547–1553), generally favorable to the cause of Protestant reform, deserves special mention. Seeking counsel on God’s covenantal expectations for England, Edward dispatched his archbishop, Thomas Cranmer, to Zurich to meet with Heinrich Bullinger, the successor to Ulrich Zwingli. Echoing Tyndale’s covenantal translations, Bullinger tasked the monarch and England with the restoration of the Church to its purist primitive form. Corroborating this counsel, Reformed theologian Martin Bucer’s treatise, De Regno Christi, emphatically argued that through its restoration of the original church, England could usher in the Kingdom of Christ. This counsel and the resulting sympathy of Edward for reform were heartening to the growing numbers of Protestants in England. Their hopes were quickly dashed, however, when Mary Tudor (1553–1558) succeeded Edward. The daughter of Henry VIII (1509–1547) and Catherine of Aragon, Queen Mary was resentful of her father in particular and Protestants in general. Seeking to return England to the Church of Rome, she executed hundreds of English Protestants while others fled to Holland and other Protestant havens. Some of these exiles, radicalized by the actions of “Bloody Mary” and influenced by encounters with John Calvin, became some of England’s first Puritans. Puritanism thus emerged in England as a separatist nationalist movement committed to the restoration of the primitive Church. Abandoning the project of reforming England from within, and as a result of increasing royal persecution, some of these separatists carried these commitments with them to the

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New World in 1620, when the Mayflower’s Pilgrims settled Plymouth Colony, and in the later Puritan settlement of Massachusetts Bay Colony in 1630. The early Puritan form of the redeemer myth is nowhere more famously expressed than by John Winthrop in his 1630 sermon, “A Model of Christian Charity.” After pronouncing on the proper Christian relation between individuals and community, the necessity of social inequalities in the face of spiritual equality, the importance of mutually sharing one another’s burdens and joys, and the obligations of the rich to the poor, Winthrop concluded his sermon with an account of the blessings and curses of the covenant and the global and historical importance of the Puritan mission: “The Lord will be our God, and delight to dwell among us, as his own people, and will command a blessing upon us in all our ways, so that we shall see much more of his wisdom, power, goodness and truth, than formerly we have been acquainted with. We shall find that the God of Israel is among us, when ten of us shall be able to resist a thousand of our enemies; when he shall make us a praise and glory that men shall say of succeeding plantations, ‘may the Lord make it like that of New England.’ For we must consider that we shall be as a city upon a hill. The eyes of all people are upon us. So that if we shall deal falsely with our God in this work we have undertaken, and so cause him to withdraw his present help from us, we shall be made a story and a by-word through the world. We shall open the mouths of enemies to speak evil of the ways of God, and all professors for God’s sake. We shall shame the faces of many of God’s worthy servants, and cause their prayers to be turned into curses upon us till we be consumed out of the good land whither we are a going.”12

Winthrop’s sermon crystallizes the meanings of the redeemer symbolic in its earliest phase. The Puritan errand to “New England” to redeem the Church to its purist original form was a grand historical enterprise, to be witnessed by the “eyes of all people”. The redeeming project was embedded within a covenant with the sovereign God of Israel who saves those who are obedient to him and curses those who disobey. God is the singular, omnipotent locus of sovereignty, the sovereign of the covenant to whom fealty and obedience was necessary if the Church was to be redeemed. And as the introductory parts of Winthrop’s sermon specify, covenantal obedience required mutual obligation and service to one another. But this mutualism had boundaries; it was selective and highly exclusive. The plantations were hierarchically ordered, with ministers and magistrates holding positions of greatest power, and then church members, and then others. This inequality was more than political, as well. It was common for those with more power, those held in highest esteem, to be granted sizeable landholdings. In the first generation of Massachusetts Puritans, for example, thirty-two men owned more than 57,000 acres. Winthrop himself, along with other political and ecclesial elites such as John Endicott, Thomas Dudley, and John Cotton were among those who received generous land grants such as these. While the community was to be ordered internally by justice and mercy and love of God and 12 

Winthrop, A Model of Christian Charity, p. 43.



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neighbor, the obligations of mutual love extended only to those who embraced and exemplified the terms of the covenant as determined by those who held greatest ecclesial, political, and economic power. In sum, in this early phase of the redeemer political theology, the redemption in question is the redemption of the Church to be brought about by Providence through Puritan example; the sovereign agent of redemption is the God of Israel who will save those who are obedient to his purposes and damn those who are disobedient; and the medium of redemption is covenant. These symbols formatted a political ethos that was radically hierarchical, with magistrates and ministers exerting their sovereignty over all but God. Socially, morally, and theologically, conformity was prized above all other concerns. The “new world” was no place of freedom. Dissenters such as Roger Williams and Anne Hutchinson, despite their Christian piety, were banished from Massachusetts. The threat of exclusion became a tool of social order. The decimation of native populations and the theft of their land, along with the harsh internal discipline within the early plantations, were theologically justified as means to the redemptive purification of the Church.

2.  Redemptive Nationalism The theopolitics of redemption has also been manifest through American millennialism, expressed in both spiritual and political forms. The spiritual form of millennialism emerged through the powerful effects of the Great Awakening, which reversed the religious decline of the second and third generation Puritans. Inspired by what he saw as the spiritual regeneration of New England, the Great Awakening theologian Jonathan Edwards reflected that, “It is not unlikely that this work of God’s Spirit, so extraordinary and wonderful, is the dawning, or at least a prelude of that glorious work of God, so often foretold in scripture, which, in the progress and issue of it, shall renew the world of mankind.”13 For Edwards and others, the spiritual effects of the Great Awakening confirmed that America was the New World chosen by God to become the site of the birthing of a new heaven and earth. The French and Indian War (1754–1763) further reinforced the millennialist expectations of the Great Awakening. The defeat of the Catholic French, who were aided by Native Americans, justified the idea that not only was America the chosen setting for the thousand-year reign of Christ, but that Anglo-Saxon Protestantism was the purest religious expression of the original church. This explicitly anti-Catholic interpretation of the war presaged two further shifts in American millennialist thinking – the shift from its spiritual to its political form and a shift in the locus of sovereignty from God to nation. These shifts 13  Jonathan Edwards, “Some Thoughts Concerning the Present Revival of Religion in New England,” (1742) quoted in Hughes, Myths America Lives By, p. 98.

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mark a profound migration of the early Puritan vision of a nation chosen by the sovereign God to redeem the Church to a secularized, Enlightenment vision of American democracy in which the United States itself, as a nation, was understood as the sovereign agent of redemption. Ernest Lee Tuvenson insightfully describes these shifts as a reversal of the Augustinian political theology that had predominated up until that point.14 For Augustine, the City of God – the mystical communion of the faithful – would not be fulfilled until the end of time. It was an eschatological promise, manifest in part since the resurrection, but not to be fully realized until the consummation of time. The migration of the redeemer symbolic into its nationalist phase marks a reversal of this Augustinian vision. The Declaration of Independence in 1776 and the Revolutionary War added new layers to American millennialism. Not only was America the national setting chosen by God for the thousand-year reign of Christ, not only was Protestantism the favored expression of the original Church, but now the freedoms and unalienable rights (of some) and the democratic ideals of the new nation were also signs of God’s special favor toward the United States and of the United States’ special burden as an agent of redemption in the larger world. In a 1783 sermon, Ezra Stiles, President of Yale University at the time, expressed the convergence of these millennial themes in a way that simultaneously echoes and politicizes Winthrop’s sermon a century and a half before: “This great American revolution, this recent political phenomenon of a new sovereignty arising among the sovereign powers of the earth, will be attended to and contemplated by all nations[…]. That prophecy of Daniel is now literally fulfilling – there shall be an universal traveling ‘too and fro, and knowledge shall be increased.’ This knowledge will be brought home and treasured up in America: and being here digested and carried to the highest perfection, may reblaze back from America to Europe, Asia and Africa, and illumine the world with TRUTH and LIBERTY.”15

As Richard T. Hughes has argued, Stiles’ reflections represent both a continuation and a transformation of the redeemer symbolic: “What remained constant was the expectation that a millennial age would shortly dawn. What changed was the way Americans conceptualized that age.”16 During the settlement and colonial periods, as during the Great Awakening, millennialist expectations and the promise of redemption were interpreted through the prism of divine sovereignty. But through the Revolutionary and early national period, the locus of redemption began to shift: “The transition from the sovereignty of God to the sovereignty of the people with their unalienable rights marked a radical shift in the thinking of the American populace. Most of all, it tells us that the old Puritan dream of a distinctly Christian state no longer controlled American expectations.

14 See

Tuveson, Redeemer Nation, p.viii–xi. Stiles, United States, p. 90. 16  Hughes, Myths America Lives By, p. 104. 15 



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In its place stood a new vision of liberty and democratic self-government, a vision generated not by Puritanism but by the Enlightenment.”17 As it migrates from the colonial to early national eras, the redeemer symbolic crosses over from an explicitly religious to a secular political register. Correlatively, the locus of sovereignty shifts from God to nation and the symbolic medium is transformed from sacred covenant to social and political contract. As H. Richard Niebuhr describes this crossing, “The old idea of American Christians as a chosen people who had been called to a special task was turned into the notion of a chosen nation especially favored.”18 This calling and task are vividly evident in the doctrine of Manifest Destiny. Manifest destiny was a doctrine of territorial expansion and imperial exceptionalism. In its most straightforward terms, it was about the westward expansion of the new United States. In this sense, it was a doctrine of classic, territorial, expansion. But it was about more than territory, as well. It was premised on the idea of American exceptionalism, a secular cognate of chosenness – that the ordained purpose of the United States was to spread through sovereign example and imperial expansion the ideals of constitutional democracy to the rest of the world. The journalist John L. O’Sullivan was the first to give literal expression to this idea. His argument for the United States as the “nation of futurity” sets the stage: “The American people having derived their origin from many other nations, and the Declaration of National Independence being entirely based on the great principle of human equality, these facts demonstrate at once our disconnected position as regards any other nation; that we have, in reality, but little connection with the past history of any of them, and still less with all antiquity, its glories, or its crimes. On the contrary, our national birth was the beginning of a new history, the formation and progress of an untried political system, which separates us from the past and connects us with the future only; and so far as regards the entire development of the natural rights of man, in moral, political, and national life, we may confidently assume that our country is destined to be the great nation of futurity ….   Yes, we are the nation of progress, of individual freedom, of universal enfranchisement …. We must onward to the fulfillment of our mission – to the entire development of the principle of our organization – freedom of conscience, freedom of person, freedom of trade and business pursuits, universality of freedom and equality. This is our high destiny, and in nature’s eternal, inevitable decree of cause and effect we must accomplish it. All this will be our future history, to establish on earth the moral dignity and salvation of man – the immutable truth and beneficence of God. For this blessed mission to the nations of the world, which are shut out from the life-giving light of truth, has America been chosen; and her high example shall smite unto death the tyranny of kings, hierarchs, and oligarchs, and carry the glad tidings of peace and good will where myriads now endure an existence scarcely more enviable than that of beasts of the field. Who, then, can doubt that our country is destined to be the great nation of futurity?”19

17 

Hughes, Myths America Lives By, p. 105. Niebuhr, Kingdom of God, p. 179. 19  O’Sullivan, The Great Nation, pp.429–430. 18 

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O’Sullivan’s vision of the moral innocence, superiority, and destiny of the United States carries the migration of the redeemer symbolic from its sacred covenantal to its exceptional nationalist form. It is implicit within O’Sullivan’s later arguments for the annexations of Texas and California where he refers to the American “manifest destiny to overspread the continent allotted by Providence for the free development of our yearly multiplying millions.”20 In an editorial later that year for The New York Daily News (December 27, 1845), where O’Sullivan argued for the annexation of Oregon, he provides an explicitly political rather than a merely territorial purpose to the doctrine when he refers to “the right of our manifest destiny to overspread and to possess the whole of the continent which Providence has given us for the development of the great experiment of liberty and federated self-government entrusted to us.” The idea of manifest destiny as articulated by O’Sullivan fully displays the transpositioning of the religious and political registers of the redeemer symbolic. It ties the discourse of rights and liberty from the revolutionary and early national periods to the earlier Puritan covenantal theology. The right to expansion follows from the premise that the continent has been given to white Americans as a gift, as a covenantal blessing merited by the righteousness of their cause. The burden of this blessing is that it is to be used for the purpose of modeling republican democracy to the rest of the world. Implicit within this rendering of manifest destiny is the exculpatory premise that if the providential gift of land is indeed used for the further development of “liberty and federated self-government,” then the young American nation can rest satisfied with the knowledge that what outsiders might condemn and what Native Americans experienced as raw imperial ambition was nothing of the sort, but was instead an inescapable obligation inhering within its exceptional status. Territorial expansion – which led to the displacement, “removal” and slaughter of thousands of Native Americans, and an unprovoked, transparently imperial war with Mexico and the theft of its northern half – was legitimated through the intersecting religious and secular political registers of the redeemer symbolic: expansion was justified simultaneously as a right that inheres within the burden of covenant and as the geopolitical means to the spread of democracy. As the Puritan idea of redemption migrates into the doctrine of manifest destiny, the aspirational virtues of covenant are displaced by claims to special privilege, imperial expansion, and raw force. As predestined salvation was understood by early Puritans to be manifest visibly through the righteousness of the saints, national chosenness was now understood as morally meritocratic – because representative democracy was assumed to be a morally superior form of government, and because the global superiority of American industriousness was taken as self-evident, territorial displacement, occupation and expansion were justified. In this nationalist phase of the redeemer symbolic, the nations of the world were to be redeemed by the witness of the American Republic, the 20 

O’Sullivan, Annexation, p. 5.



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sovereign agent of this redemption is the government of the United States, and the medium of covenant became transubstantiated into the imperial doctrine of manifest destiny.

3.  Redemptive Capitalism In the decades following its birth, the young United States turned its attention to the work of building the nation by settlement, exploitation of its natural resources, and development of a market economy. The view of the wilderness as adversary waned; instead, Americans increasingly regarded the land as a stock of resources and as a metaphor for the nation’s status as a model of enlightened democracy. Though the wilderness came to be valued in these new ways, its original inhabitants, the Native Americans, continued to be exploited. Andrew Jackson, seventh president of the United States, drew a clear connection between the land and a rationale for oppressing peoples regarded as outside the national body politic. Jackson is as infamous for his policy of Indian Removal,21 the forced evacuation of Native Americans from their ancestral lands, as he is famous for heralding the spreading market revolution, with its appetite for natural resources and demand for transport routes. He brought these themes into combination in the rhetorical question he posed in his First Annual Message to Congress (December 8, 1829): “What good man would prefer a country covered with forests and ranged by a few thousand savages to our extensive Republic, studded with cities, towns, and prosperous farms, embellished with all the improvements which art can devise or industry execute?”22 This question was in many ways answered by the powerful rise of American manufacturing and industrialization, a swelling urban population, and westward expansion, all features of the period following Jackson’s election to the presidency. The most explicit connections between the redeemer symbolic and industrial capitalism go back to the years just after the Civil War. Both the South and the North thought their causes divinely favored, but the North won and considered their victory a confirmation of the righteousness of their cause, illustrating the endurance of the moral logic of Puritan covenantalism. The North indeed thought that their victory amounted to the redeeming of the Union. After the war, however, the redeemer symbolic quickly took on an economic shape. While the war devastated the slave-economy in the South, the economy of the North quickly prospered after the war. The infrastructure of the northern militaryindustrial complex paved the way to the postbellum industrial revolution, led to the rise of American manufacturing power, and eventually fueled the global ascendancy of American capitalism. The enslavement of African bodies and the 21  On May 28, 1830, Jackson signed into law the Indian Removal Act, which granted him the authority to negotiate with Native American tribes in the east to exchange their lands for territories in the west then not included within the boundaries of the United States. 22  Jackson, First Annual Message to Congress.

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extraction of value from their labor are the roots of American economic power. Although “[t]he idea that the commodification and suffering and forced labor of African Americans is what made the United States powerful and rich is not an idea that people necessarily are happy to hear,” as Edward E. Baptist writes in his recent book, “it is the truth.”23 Continuing, he writes: “From 1783 at the end of the American Revolution to 1861, the number of slaves in the United States increased five times over, and all this expansion produced a powerful nation. For white enslavers were able to force enslaved African-American migrants to pick cotton faster and more efficiently than free people. Their practices rapidly transformed the southern states into the dominant force in the global cotton market, and cotton was the world’s most widely traded commodity at the time, as it was the key raw material during the first century of the industrial revolution. The returns from cotton monopoly powered the modernization of the rest of the American economy, and by the time of the Civil War, the United States had become the second nation to undergo large-scale industrialization.”24

The migration of the redeemer symbolic into its economic register was aided by two other postbellum historical circumstances. This was the period that gave rise to the concentrations of wealth and income inequality at the turn of the century. It was the time of the Robber Barons – the Carnegies, Vanderbilt’s and Rockefellers – savage industrial personifications of the Gilded Age. It was also a time of massive Southern and Eastern European immigration into the US. Impoverished in their native countries, these immigrants took up many of the low-paying manual labor and factory jobs during this period, thus constituting the ethnic white base of the American working class. Northern European and Anglo-Saxons thought of Southern and Eastern Europeans as ethnic and cultural inferiors already. The division of labor in the industrial North only reinforced this ethnic prejudice. This structure of ethnic and class prejudice mirrored the dynamics in the South, where African slaves had been freed only to find themselves indentured to white landholders, whose racial superiority complex was circularly reinforced by the impoverishment of African Americans produced by the sharecropping system. In both the North and the South, then, affluence and capital were concentrated among ethnically and racially privileged white elites, while poverty and economic struggle became the condition of the ethnically marginalized and the racially oppressed. In these ways, the economic system tautologically justified white supremacist ideology. These dynamics aided and abetted the transformation of the redeemer symbolic into a moralistic economic ideology, prototype of contemporary neoliberalism. According to this ideology, the economic playing field was level and the free enterprise system was an equal opportunity employer. The logical correlate of these assumptions was that poverty and wealth were indices of effort and ingenuity, rather than the effects of economic structures, social prejudices, and political power. This economic moralism was an offshoot of Puritan covenantal 23  24 

Baptist, The Half, p.xxii. Baptist, The Half, p.xxi.



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theology, according to which “business success was a sign of God’s providence and a token of benediction for mastery over others.”25 William Lawrence, the Episcopal bishop of Massachusetts, gave voice to this conviction in 1901, “To seek for and earn wealth is a sign of a natural, vigorous and strong character …. In the long run, it is only to the man of morality that wealth comes …. Godliness is in league with riches.”26 Lawrence’s assertion reflects the persistent prejudice in American society that money is a moral metric and that wealth is convertible with moral worth. Poverty and unemployment, according to this prejudice, are the wages of moral vice and irresponsibility, while riches are sure to flow from righteousness. Lest this sound archaic, consider recent American politics. During his 2012 campaign to become the Republican Presidential nominee, Herman Cain gave some harsh words of advice to Occupy Wall Street protestors. He said that if they did not have jobs and were not rich, they should not blame Wall Street or the big banks, they should blame themselves. “It’s your own damn fault,” he shouted to the cheers of his admirers. Apparently Cain and Lawrence still struggled with one of the oldest moral questions in biblical religion, “Am I my brother’s keeper?” Besides fueling this kind of economic moralism, however, the redeemer symbolic has also fueled the global rise of neoliberalism. This ideology is perhaps nowhere more visible than in the George W. Bush administration’s 2002 National Security Strategy (NSS), now known as the “Bush Doctrine.” The Bush doctrine expresses a militaristic extension of Puritan ecclesiology, gives shape to the economic register of the American redeemer symbolic, and illustrates the shift from the Puritan strategy of changing the world through evangelical witness to the crusader missiology of economic nationalism. The doctrine is best known for its vigorous expression of neoconservative principles – the assertion of American global hegemony, the mission not merely to defend, but to extend, democracy, even by force, and the moral simplicity of an apocalyptic worldview of “us” and “them.” The doctrine synthesizes these into the asserted right of preemption, the policy of “first strike.” Rooted in the long tradition of American exceptionalism, the Bush doctrine, along with the manipulation of supporting “intelligence,” paved the way for the invasion of Iraq. Though the world may indeed be better without Saddam Hussein, the occupation of Iraq stands as one of the most controversial military interventions in American history. But more troubling, according to some foreign policy analysts, is the possibility that a “global strategy based on the first strike doctrine could mean the beginning of the end of the very same international institutions, laws, and norms the United States built and strengthened for more than half a century.”27 Indeed, the doctrine is premised upon the assumption that American global military hegemony justifies the immunity of the United 25 

McCarraher, The Heavenly City, p. 189. Lawrence, Relation, p. 252. 27  Dolan, The Bush Doctrine. 26 

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States from established international norms of war. Global sovereignty is asserted through the doctrine’s implicit invocation of the “state of exception.”28 What is less commonly remarked upon in discussions of the Bush doctrine is that its muscular embodiment of neoconservatism is inspirited by an equally vital neoliberalism. The doctrine presents neoliberalism as proceeding from neoconservatism, which seems mysteriously to be “begotten, not made” of the assertion of American global hegemony. This is illustrated by the way in which the doctrine directly ties a global prescription of free trade, privatization, deregulation, and lower taxes to a vision of the American national interest: “A strong world economy enhances our national security by advancing prosperity and freedom in the rest of the world. Economic growth supported by free trade and free markets … allows people to lift their lives out of poverty, spurs economic and legal reform, and the fight against corruption, and … reinforces the habits of liberty …. We will use our economic engagement with other countries to underscore the benefits of policies that generate higher productivity and sustained economic growth, including … pro-growth legal and regulatory policies to encourage business investment, innovation, and entrepreneurial activity; tax policies – particularly lower marginal tax rates – that improve incentives for work and investment ….”29

The doctrine declares, too, that the faith of Americans and indeed the rest of the world in these redeeming policies need not be blind: “The lessons of history are clear: market economies, not command-and-control economies with the heavy hand of government, are the best way to promote prosperity and reduce poverty. Policies that strengthen market incentives, that deregulate, privatize, and liberate trade, are deemed to be relevant for all economies – industrialized countries, emerging markets, and the developing world.”30 This ideological triumphalism reflects the thesis of Francis Fukuyama’s book, The End of History, which argues that with the collapse of state socialism, liberal democratic capitalism had established itself as the self-evidently superior political economy.31 It is somewhat ironic, then, that the NSS was provoked by an eruption of just the kind of civilizational conflicts that Samuel Huntington, arguing against Fukuyama’s end-of-history thesis, anticipated in his book, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. This irony is tragically compounded, however, when one considers that, far from leading to the end of history, the neoliberal phase of late capitalism has led to the end of any semblance of global economic order, as evidenced by the financial meltdown of 2007, triggered by the collapse of under-regulated, under-taxed multinational financial institutions. The economic argument in the NSS was foreshadowed by some of Bush’s more peculiar personal comments immediately after the attacks of 9/11. Though he never explicitly told Americans to “go shopping,” in a speech on September 27, 2001, he did say that “one of the great goals of this nation’s war is to restore 28 

Schmitt, Political Theology. The White House, The National Security Strategy, p. 17. 30  The White House, The National Security Strategy, p. 17. 31  Fukuyama, The End of History. 29 



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public confidence in the airline industry. It’s to tell the traveling public: Get on board. Do your business around the country. Fly and enjoy America’s great destination spots. Get down to Disney World in Florida. Take your families and enjoy life, the way we want it to be enjoyed.”32 And on October 17, 2001, attempting to enlist political support for his trade policies, Bush said to a group of California business leaders that, “The terrorists attacked the World Trade Center, and we will defeat them by expanding and encouraging world trade.”33 While tailored to its audience with frequent references to the American entrepreneurial spirit, tax rebates, low interest rates, and falling energy prices, the speech was explicitly presented as an argument by Bush to be granted “trade promotion power,” which would allow his administration to impose its trade vision by limiting congress to the passive role of either affirming or denying trade accords. The Bush administration’s argument to combat terror with economic policy is made most explicitly in the NSS. As if recognizing the tenuous nature of this argument, the NSS attempts to preempt critique by suggesting that “‘free trade’ arose as a moral principle even before it became a pillar of economics. If you can make something that others value, you should be able to sell it to them. If others make something that you value, you should be able to buy it. This is real freedom ….”34 William Finnegan writes that this defense of neoliberalism “makes vulgar Marxism look subtle and humane. The only ‘real freedom’ is commercial freedom. Free speech, a free press, religious freedom, political freedom, all these are secondary at best. There is a lockstep logic here, an airbrushed history, that suggests a closed intellectual system – the capitalist equivalent, perhaps, of Maoism or Wahhabism.”35 As sharp as Finnegan’s analysis is, however, it does not acknowledge the Puritan theological roots of the Bush doctrine’s “closed system” of market fundamentalism and its moral and political dualism. But the connections are transparent. For the pious absolutism and ecclesial exclusivism of Puritan theology are simply expressed here in the registers of neoliberal triumphalism and neoconservative apocalyptic – though the context and idiom may be different, the ideological structure is the same. Insofar as this is the case, the Bush doctrine represents the redeemer symbolic come full circle. For in it we see the free market system championed as the agent of global redemption, and the trinity of trade liberalization, deregulation and privatization as the medium of this redemption. As with the early Puritan and nationalistic registers of the redeemer symbolic, that which redeems is understood to be unitary, sovereign, and invulnerable, and, in this case, monetized. This monetization of the redeemer symbolic has played a role in recent debates between Republicans and Democrats. In the midst of the 2012 Presidential campaign, President Barack Obama suggested that a recent conservative 32 

Bush, Remarks on September 27, 2001. Bush, Remarks on October 17, 2001. 34  The White House, National Security Strategy, p. 18. 35  Finnegan, The Economics of Empire. 33 

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Republican budget proposal amounted to a thinly veiled social Darwinism – survival of the fittest. The analogy is accurate. The Republican proposals cut taxes for the rich, slash the social safety net, and further deregulate the business and financial sectors that were responsible for the economic collapse of 2008. The economically powerful would find their power magnified in an environment that selects for their interests – politically as well as economically given the financially driven American electoral system. The economically weak would be further weakened by an environment (economic, social, and political) that selects against their well-being. And given the ferocious financial distortions built into American politics, recently fully unleashed by the Supreme Court’s decision to conflate money with political speech in Citizens United, those who are economically weakened are by necessity weakened politically.36 As Jeffrey Stout accurately writes, “The people retain the right to vote, of course, as well as certain constitutional protections, but their effective political voice appears to be dwindling as rapidly as the average wage earner’s share in the common wealth.”37 In addition to comparing Republican budget priorities to the proverbial “survival of the fittest,” Obama could also have said, with perhaps even greater precision, that those priorities reflect the monetized expression of the American redeemer symbolic. For according to the logic of those priorities, government is the Whore of Babylon, unfettered, unregulated free market exchange provides the keys to the Kingdom of God, affluence is a sign of righteousness, poverty and high taxes are signs of damnation, and the globalization of an unencumbered free-market is a sacred crusade. Though Obama has cited the influence of Reinhold Niebuhr’s Christian realism on his political philosophy, H. Richard Niebuhr’s historical interpretation of American Protestantism in The Kingdom of God in America better describes the roots of the economic ideology against which he has struggled through much of his presidency. According to this Niebuhr, the Calvinist core of the Protestant critical principle helps to explain the structure of American government. From the standpoint of this Calvinist core, God’s absolute sovereignty, and the contingency of all that is good on divine initiative, radically relativizes the value and trustworthiness of all human institutions and systems. This creates a pragmatic political bind. The radical suspicion of human institutions produces a dilemma when it comes to trying to build a nation and establish a government. As Niebuhr puts this, “The dilemma of Protestantism [is that it] had no will to power and in view of its positive principle [divine sovereignty] could have none, for supreme power belonged only to God and evil resulted from every human arrogation of 36  Kennedy, Citizens United. The ruling states: “Political spending is a form of protected speech under the First Amendment, and the government may not keep corporations or unions from spending money to support or denounce individual candidates in elections. While corporations or unions may not give money directly to campaigns, they may seek to persuade the voting public through other means, including ads, especially where these ads were not broadcast”. 37  Stout, Democracy and Tradition, p. 23.



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his dominion …. As a theory of divine construction the Protestant movement was hard put to it to provide principles for human construction [of systems of social and political order].”38 The American system of divided government, and “checks and balances” in particular, is a politically institutionalized means for coping with this Protestant dilemma. Given the theological claim that human power and initiative cannot be trusted and that when unchecked, power tends to absolutize itself, the safest way to establish a government is to diffuse power by dividing the tasks of governing among different branches, limiting their power in relation to one another, and giving to “the people” the right to elect their representatives. Given its undergirding theological anthropology, indeed, given the historical evidence of human behavior, this approach to governance makes good sense. For all of our present complaints about political division and paralysis, it is likely that the United States, and the rest of the world, would be much the worse if not for the internal checking and balancing of American power. What makes less sense, however, is why these principles were not integrated with equal foresight into American economic policy, and why those who champion the political wisdom of democracy do not also advocate for its economic applications. Niebuhr’s explanation for this was that capitalism in the seventeenth and eighteenth century was a minor beast compared to what it has grown into since then. He writes that earlier capitalism was “a relatively modest and harmless thing whose growth toward an absolutism like that which church and state had exercised could not be foreseen.”39 But now that it has grown into its own global Leviathan, vastly exceeding the powers of church and state, it would seem that the free market system is in need of some version of “checks and balances.” It has been argued that the free market incorporates the principle of “checks and balances.” To some degree this is correct. Businesses big and small compete against one another for market share. No one is excluded from participation in the market. Anyone with the will and entrepreneurial creativity, and sufficient start-up capital, can become an economic producer. In these limited ways, each of which is a theoretic ideal, none of which is purely manifest, the free market system appears formally democratic. But given the tendency of power to absolutize itself and to concentrate, tendencies which are economic as well as political and which in fact find their fullest expression today in the market, a more thorough structural integration of the system of “checks and balances” demands the internal democratization of businesses and corporations. In order for the free market to become more truly democratic, workers and stakeholders, not merely executives and shareholders, should be granted power sufficient to “check and balance” the tendency of power to concentrate. Though these changes would be more consistent with the principles of American democracy, and though the greed and the corruptions of power that led to the financial meltdown and the 38  39 

Niebuhr, Kingdom of God, p. 30. Niebuhr, Kingdom of God, p. 84.

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subsequent recession seem to provide ample evidence for the merits of economic democracy, the United States is moving no closer to their implementation. We are as far from an economic democracy as possible. Consequently as former New York Governor Mario Cuomo wisely observed (at the beginning of Ronald Reagan’s second presidential term) “that this nation is more a ‘Tale of Two Cities’ than … a ‘Shining City on a Hill.’”40 By electing Donald J. Trump to the presidency in 2016, the United States has moved even further away from a more democratic economy. Indeed, as journalist Julian Borer observes, Trump is approaching the presidency “in the spirit of a tycoon making a new acquisition, overseeing the merger of Trump Inc and America Inc – a merger in which it is far from clear which would be the senior partner.”41 In this sense, the Trump presidency is the apotheosis of the monetized redeemer symbolic: the free market is revered as sovereign, transcendent, and providential; corporate tax cuts and deregulation provide the keys to the Kingdom of God; government is the Whore of Babylon; affluence is a sign of righteousness; and unfettered American capitalism has become a sacred crusade.

Conclusion I began this essay by gesturing to Reinhold Niebuhr. I would like to do so again in this closing section. According to Niebuhr, in order to overcome “the ironic elements in American history,” American idealism must come “to terms with the limits of all human striving, the fragmentariness of all human wisdom, the precariousness of all historic configurations of power, and the mixture of good and evil in all human virtue.”42 Translated into the terms of this essay, Niebuhr’s insight implies that to be redeemed from the redeemer myth entails coming to terms, as a nation, as political and religious communities, and as individuals, with the intrinsic vulnerabilities of human nature, knowledge, and power. This can be facilitated by a cultural shift led by communities and institutions committed to a theopolitics of vulnerability. A theopolitics of vulnerability is characterized by a relational rather than a sovereign ideality of power, a social rather than atomistic understanding of the self, epistemic fallibilism, and convictional pluralism. I close this essay by reflecting briefly on the nature of vulnerability and outlining the contours of the constructive work in my larger project. What is vulnerability? In what sense can or should we “come to terms” with it, as Niebuhr suggests above? Vulnerability is the condition of being mortal, of being subject to the flux and risk of living in a world of powers and process that 40  Cuomo’s observation in 1985 is even more applicable now, when the top 1 % of Americans owns 35 % of the total wealth, the top 20 % owns about 87 %, the bottom 80 % owns about 13 %, and when the median net worth of whites is about $150,000 while for blacks and Hispanics it is about $10,000. See The Economic Policy Institute, Wealth Holdings. 41  Borger, Recipe. 42  Niebuhr, The Irony of American History, p. 133.



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simultaneously “bear down upon us and sustains us,” as James Gustafson has put this.43 Vulnerability is the condition of finitude and limitation, and of growth and development; it is living with uncertainties and ambiguities and the openness of the future. It is illness, addiction, poverty, oppression, and disability, but is also a catalyst to creative risk taking, an ingredient of intimate friendships. To be vulnerable is to exist in relation to other beings in a broader world subject to these same conditions and affected by the myriad ways in which we respond to them, for good and for ill. Vulnerability is fundamental – ontologically, socially, politically, and epistemically. It is the condition of being a creature in the world. Many of the world’s religious traditions understand vulnerability as a fundamental ontological condition and ascribe spiritual significance to recognizing and embracing it. In Buddhism, for example, a close analogue of vulnerability is affirmed by the doctrine of impermanence (annica). Impermanence is the inescapable condition of all reality, even those things and realities that seem most stable and permanent. Suffering (dukkha) is caused by the desire for permanence in the face of impermanence. In Islam, Judaism, and Christianity, too, vulnerability is a primary condition of all created things – to be a creature is to be finite and contingent and, most ultimately, dependent on God the Creator. To be human is to be a dust creature, a creature made of earth (adamah), a creature of the dirt who will return to the dirt. The story of Jacob in the Hebrew Scriptures wrestling the angel in search of the name of God, and receiving a wound along with his own name in return, can be read, as a figure of the discovery of vulnerability through spiritual quest. In Christianity, the vulnerability of God is expressed by images of the Christ’s natality and mortality, his bastard birth in a barn, his suffering of scorn and crucifixion. Vulnerability is not only emphasized in sacred traditions; it is also a central theme in the modern sciences. In biology, for example, all living things and living systems are dynamic and perishable. To live is to be subject to decay and to be interdependent. Vulnerability is the essence of bios – organic life is intractably perilous, to live is to walk the metabolic razor’s edge between consuming and being consumed. And in physics, the hardest of the hard sciences, regularities have taken the place of laws, patterns, processes and probabilities replace certainties, and relativities rather than absolutes are the name of the game. Beyond science and religion, vulnerability is also a prominent literary trope. The pathos of ancient Greek tragedy pivots around the dialectic of vulnerability, the necessity of vulnerability that inevitably catches up to us when we seek to escape it. Sophocles’ Antigone illustrates the vulnerability of the moral life in a world with competing goods and duties, while the Oedipus cycle illustrates the limitations of human insight and the vulnerability of the present and future to the past. According to the best of human knowledge and imagination, then, vulnerability is built into the nature of reality and human existence. Human doing, being and knowing are all ventures in vulnerability. Vulnerability is an ontological, 43 

Gustafson, Ethics.

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existential, and epistemic condition. To be vulnerable, as the Latin roots vulnus and vulnerare indicate, is to be liable to wounding, in both senses of the word: to being wounded and to being a cause of others’ wounding. To be human is to be a wounded and wounding creature in a wounded and wounding world. Vulnerability is a difficult reality. Americans have been awakened to this fundamental vulnerability at various moments in our national history. In most recent memory, of course, the events of 9/11 and the 2007 financial meltdown stand out. 9/11 showed us that although we shared no borders with enemy states and had the most powerful military the world has ever known, we were still not safe from a few well-organized Islamic fundamentalists who had taken flying lessons. Though the Twin Towers were monuments of architectural achievement, directly affronting the law of gravity, it turned out that they too were vulnerable. 9/11 was for most Americans a shattering wake-up call to our national vulnerability. The 2007 financial meltdown has shown us other sides of our vulnerability. As it turned out, some of our biggest, most reputable investment firms and banks had been baking their books for years, eluding or colluding with regulators, and gambling wildly with their investors’ money. When reality caught up with them, millions of Americans lost out. The game was rigged. While the winnings were privatized and concentrated, the losses were socialized. While the profits went to those who needed it least, the losses were suffered by those who could least afford it. The Great Recession dramatically brought to public attention the vulnerability of our whole economic system to the whims and whiles of traders, bankers, and hedge fund managers. For many Americans, and for our elected representatives, the national vulnerabilities revealed by 9/11 and the financial meltdown have been very difficult to comprehend. This essay has attempted to show why this is the case. It has argued that the very idea of “America” and our dominant national self-images – the ideas and images that shape our civic consciousness and which are conserved and transmitted through our institutions – have historically been constructed around the exceptionalist themes of the redeemer symbolic. In other words, the denial of vulnerability is the creed that gives shape to American theopolitical orthodoxy. But this is not to suggest that the United States has some sort of monopoly on this creed. Indeed, the denial of vulnerability seems to be intrinsic to the experience of vulnerability – the desire for invulnerability is as basic to being human as is the experience of vulnerability. One can read much of human history, the histories of religion, politics, science and technology, as a chronicle of the human effort to transcend vulnerability. And yet the tragic lesson of this history is that the effort to avoid vulnerability leads to its multiplication. For most of human history we have tried to insulate ourselves from the risks of nature, endeavoring to master our environments with knowledge and technological innovation. But now, rather than insulating us from risk and vulnerability, human industry and technology have become the primary sources of human, biological, and ecological vulnerability. Efforts to circumvent, con-



The American Redeemer Symbolic

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tain and deny vulnerability are foundational to human civilization – perhaps they are the impulse of civilization. The irony, about which the ancient Greek tragedians and religion have been trying to warn us for millennia, is that the aim to transcend vulnerability, to deny our limits, is itself one of humanity’s greatest vulnerabilities. By maintaining the illusion that American power and American society are exempt from the fundamental condition of vulnerability the theopolitics of redemption has functioned in American history to justify past injustices, to legitimate existing ones, and to pre-emptively sanctify new ones. Americans do not have a monopoly on these tendencies, but we do have a particular tale to tell about it, and that tale is the myth of America as a redeemer nation.

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Finite Lives: Science and the view sub specie aeternitatis Willem B. Drees 1.  Is death a mystery? Queen Beatrix of the Netherlands’ 1996 Christmas address was about coping with losses. It was a pastoral speech, and open to the richness of multiple religious traditions. Let me quote a brief passage which combined her empathy with a remark about intelligibility: Death remains a mystery; no philosophy of life can explain dying. Just as each birth brings wonder at the beginning of new life, so signifies death an incomprehensible end.1

These words triggered a Dutch scientist, Ronald Plasterk (who a decade later became a politician, and a cabinet minister) to write that Her Majesty had forgotten about one view of life, accepted by about half of her subjects, namely science. Evolutionary theory might not be of much help in coping with a loss, but death is not inexplicable or incomprehensible.2 Let me further introduce my topic with an example from popular spirituality. In November 2009, the Dutch novelist known as Kluun (Raymond van de Klundert) published a small book for the ‘month of spirituality’. He asked people whether they believed in God and in life after death. The second topic was of great importance to him, as he had lost his first wife to cancer, and early in 2009 claimed to have been in contact with her through the medium known as Char. Char informed him that his wife had forgiven him his infidelity during her illness, the topic of his debut novel. In his interviews for the ‘month of spirituality,’ he focused on three groups: those who did believe in God and in life after death (considered traditional believers), materialist atheists who denied both, and the spiritually minded – like Kluun himself – who believed in life after death but weren’t so sure about God. He seemed surprised that I considered belief in God to be the Ground of our existence a genuine option, without believing in life after death.3 This volume is primarily about a shift within Christianity from an emphasis on redemption, towards religious beliefs and practices that help us to cope with

1 

http://www.kersttoespraak.nl/1996.htm, accessed January 30, 2017. Reprinted as “Sterven verklaard” (engl.: Dying explained), in: Plasterk, Leven, pp.177–179. 3  Kluun, God is Gek; a trace of the interview can be found on p. 32. His first novel appeared in German as Kluun: Gesicht. 2 

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the challenges of earthly existence.4 However, this shift with its demythologization of belief in life after death co-exists with a revival of belief in life after death, and in reincarnation. In the following section, I will speak of the scientific understanding of our finitude and the understanding of science. I will argue that the scientific perspective should not be dismissed as ‘just a perspective,’ even though it is provisional. Within a science-inspired naturalistic perspective, the third section will consider the possibility of seeing finite existence sub specie aeternitatis, as if from a transcendent perspective. The final section will argue for the legitimacy of such a transformation in the understanding of images of redemption, by pointing to the way in which ontologies of scientific theories might change.

2.  Finite lives in the light of science Mountain peaks do not flow unsupported; they do not even rest upon the earth. They are the earth in one of its manifestations.5

The image of mountains not hovering above the earth was used by the American pragmatist philosopher, psychologist and educationalist, John Dewey, in 1934. Too often, we might think of remarkable features of reality as if they stand on their own. Slightly more adequate would be to concede that mountains rest upon the earth. However, an integral view requires a further step: mountains are manifestations of the earth. 2.1  Humans as material beings Like mountains, humans too are manifestations of the earth. We are atoms and molecules. But we are highly structured collections of molecules. It is due to the way matter is organized that a violin can produce a sound, an airplane can fly, and a can human live. Reality allows for a rough division of phenomena into levels of complexity, from quarks to atoms, from molecules to organisms and cultures.6 To understand higher levels of organization, we need concepts specific to those levels. Personhood is the most complex level of existence, but it is realized in and through bodily processes, as testified by the sensitivity of moods to alcohol and drugs. This, in brief, is a naturalistic understanding of humans. It is an understanding 4  See the introductory essay in this volume, “Ende oder Umbau einer Erlösungsreligion? Eine Problemexposition”, by Günter Thomas and Markus Höfner. They speak of a change in thinking, from an emphasis on redemption to ‘Lebensbegeleitung’. 5  Dewey, Art, p. 3; the quote was used in Drees, Religion, Science and Naturalism, p. 1. The standing and relevance of science is discussed as well in Drees, Religion and Science in Context, chapter 2. For a broader audience I addressed these themes in Drees, Vom Nichts zum Jetzt. 6  The multiple levels of reality and the diversity of disciplines is discussed in Peacocke, Theology, p. 217; see also Drees, Some Words, pp.70–80.



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that fits well with the natural sciences. It need not be seen as devaluing humans. To the contrary, it upgrades our view of matter: properly organized, matter can make music, show empathy, and reflect upon itself. Upon this understanding of human existence, the death of a person comes with the loss of the characteristic material processes that were that person. Not just any loss will do; there is a remarkable resilience in biological life. We can live with the loss of many of our powers, for instance, the ability to run or to hear. Social support, medical care, and practical engineering make it possible to cope with major limitations and handicaps. There is a grey zone, when someone is still alive bodily even though many specific facets of the person seem to be gone; the heart still beats, though the brain is such that communication is no longer possible. Beyond this grey zone, the nature of death is fairly obvious. In a typical case the heart fails to sustain the circulation of blood that transports oxygen to the brain. As a consequence thereof, neural pathways break down. With the irreversible loss of the neurological and biochemical structure that makes each of us the particular living being that we are, the mental and emotional processes come to an end as well. The matter has not disappeared, but structures essential to one’s personal characteristics have broken down. In the larger evolutionary picture, it is unavoidable that individual organisms die. Organisms compete for limited resources. Our continued existence depends on food, and hence on the death of other organisms. New generations come into being, mature and become responsible when previous generations fall away. Through the succession of generations in evolutionary history, properties have emerged that have made personhood and human culture possible. We are the fruits of so many generations’ becoming and dying. This is an extremely brief sketch of the scientific understanding of life and death. It is built upon many details in chemistry and biology. The understanding of personhood as bodily existence is not yet complete, especially with respect to the question of how material processes give rise to mental ones, including personhood. However, for the existential issues at stake in this volume, the scientific image is sufficient clear: death is the unavoidable end of our particular life with its experiences in the world. 2.2  Why accept the scientific image? Why accept this view? As I see it, the strength of the scientific image rests not upon isolated observations. Science as it has developed in the last two centuries has remarkable properties. One such property is theoretical unification. Discoveries fit together in a larger framework. The Periodic Table of Elements provides a description of matter that is rooted in the physics of atoms. This Periodic Table is the basis for chemistry, and thereby also for biology, pharmacology, material sciences, neurosciences and much more. The elements have been shown to be present elsewhere in the universe. Cosmologists can explain why certain elements are common, while others are rare. Though science has many

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disciplinary specializations, coherence across disciplines is overwhelming. Furthermore, scientific theories turn out to be eminently applicable, as in modern electronics, biotechnology, nanotechnology, and elsewhere. The skills based on scientific knowledge show that the sciences effectively grasp something right about reality. Science is a human construction, remaining open to development and revision. But over time it has enlarged and modified our view of the world, resulting in models that allow very precise predictions across an enormous range of scales – from the extremely small to the very large. And science forms the basis for skills that make possible the manipulation of matter with exquisite precision. 2.3  Science against science? Not everyone agrees with the view of reality presented above. Some people claim that there are phenomena that do not fit. Some dislike the ‘reductionism’ of science, and others dismiss science as just a Western construct. Let me make a few remarks about such views. It has been argued that ‘near death experiences’ provide evidence for a future state of ‘the soul’ beyond the death of the physical body. In the opening section, I mentioned Kluun’s conviction that he had received a message from his deceased wife, via the medium Char. Should scientists not take such experiences more seriously? In principle, any such claim might be the object of dedicated research. However, for people and laboratories with finite resources, not every claim deserves priority. A few researchers pay attention to ‘paranormal’ phenomena, alternative medicine and the like. In general, such research has not produced evidence of replicable phenomena. Some ‘folk medicine’ may have genuine effects, but then the efficacy can be understood as a consequence of chemical substances in the herbs involved or of the impact of the nervous system on the immune system. Evidence for claims that contradict the broader scientific picture has not been sufficiently convincing for those not already strongly inclined to believe in such phenomena. The quest for a different view might be nourished by a dislike of ‘reductionism’. However, many people miss the point: reductionism is a form of holism! The success of a ‘reductionist’ analysis shows coherence of understanding across various levels of complexity. There are no free floating mountains or minds; everything is part of the same web. Higher phenomena are understood as manifestations of the same matter and processes that operate at the lowest known level. In this quest for understanding we have come to realize that the potential of matter is extremely rich. In the course of a successful reduction, we may also have to revise our understanding of the constituents.7

7 

McMullin, Biology, pp.367–393.



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Furthermore, a ‘materialist’ view does not exclude limit questions and a sense of mystery. Deep down we don’t know whether there is a ‘lowest’ level, and what reality in those terms would be like; the speculative frontier of physics now considers ‘superstrings’ and other strange ideas. Nor do we know the ultimate origins of our Universe, even though with the Big Bang theory we have an excellent understanding of its dynamics during the last 13.7 thousand million years. Scientific understanding leaves the door open to philosophical questions about science and the understanding of reality it generates. Such questions may regard time, substance and existence, as well as causality, explanation and the role of mathematics. It is not attractive to look for gaps within natural processes, and introduce a God-of-the-gaps or a spirituality-of-the-gaps on the basis of phenomena that science does not yet make intelligible. However, the world as understood scientifically is a remarkable one. And even though science is extremely successful, not all metaphysical questions about reality have a definite answer. Even more, no issues of value are determined by science.8 2.4  The value of value free science Personal beliefs about order, progress, gender, beauty and much else have shaped research agendas and theoretical preferences. However, such beliefs do not count as scientifically appropriate arguments. In this context the distinction between the context of discovery and the context of justification is common. In the context of discovery, personal preferences may play a role. A classic example is the claim that the chemist August Kekulé ‘saw’ the ring-like shape of the benzene molecule in a daydream, as a snake biting his own tail. This story was told by Kekulé some 25 years after the event. Whatever the truth of this reminiscence, the proposed structure certainly wasn’t accepted on the authority of Kekulé’s dream. A justification of an idea needs to proceed with means that are not so personal. In the academic community, there are certain important social values, such as intellectual honesty. And there are epistemic values that make one theory ‘better’ than another: predictive accuracy, internal coherence, external consistency, unifying power, and fertility. Over time, such epistemic values are driving the emotive, aesthetic and metaphysical values out of science, even though nonepistemic reasons for preferring one theory over another continue to be brought forward by scientists in public communication.9 That epistemic values push social preferences and moral values out of the evaluation of scientific theories gives ‘value free science’ its value. By excluding personal and political preferences, science helps weed out our biases, narrow mindedness, and credulity. I consider it a moral obligation to use the best avail8 Limit questions and their religious significance are discussed in Drees, Religion and Science in Context, ch.5. 9  McMullin, Values in Science, pp.3–24; Ruse, Mystery; Ruse, Science and Values, pp.666– 685.

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able knowledge, as did the nineteenth century mathematician William K. Clifford in his essay “The Ethics of Belief”. He used the example of a ship owner who sends a ship out to sea without checking its condition. When the ship perishes, the owner has not only made an intellectual mistake, but a moral one. And even if the ship crosses the sea safely, he has acted immorally by not seeking the best available knowledge before allowing himself to believe that the ship was seaworthy. A more recent real life example: The denial of the causal link between HIV as a virus and AIDS has deprived many South Africans of life-saving treatment and of measures to reduce the spread of the disease. Playing down science, and a more general relativism regarding knowledge, may have immoral consequences. Precisely because science seeks to be as free from non-epistemic values as possible, it is of the utmost importance to draw upon such science, in the context of social life, morality and religion.10 Thus, I take for granted that we must accept our mortality. Our bodies will fail, and thereby our existence will end. The succession of generations allows for the larger evolutionary epic. A notion of ‘redemption’ which refers to individual, subjective experience beyond our personal death does not have a place in the context of the world as understood through the lens of the sciences. Is there nonetheless a meaningful way to think of lasting value and a perspective that transcends our human interests? That will be the topic of the next section.

3.  Finite lives sub specie aeternitatis Our finitude and mortality is an intrinsic part of a science-informed naturalistic view of reality. What room does this leave for religious or humanistic concerns? In this section I will argue for the possibility of thinking about finite existence sub specie aeternitatis, as if from a transcendent perspective. To introduce a notion of transcendence that might perhaps be defensible, we will consider first two other human practices that seem to reach beyond the ordinary: mathematics and morality. 3.1 Mathematics Mathematics is odd, if one comes at it from an empiricist mind set. Pure circles, triangles, and cubes do not exist, nor do imaginary numbers or Lie groups. Nonetheless, we can make well-defined claims about their properties, and argue about the truth or falsity of mathematical claims. We can even make mathematical ‘existence’ claims such as that there is (or that there is not) an even number that is not the sum of two primes (Goldbach’s conjecture). That we do not know 10  Clifford, Ethics of Belief, pp.177–211. In his essay “The Will to Believe” William James has argued for a more permissive attitude, though under certain conditions; see James, Will to Believe. Relativism has been criticized for its consequences in developing countries by Dennett, Postmodernism and Truth, pp.93–103.



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yet which option is correct does not undermine the conviction that either there is such a number or there isn’t one – and that its truth is not dependent upon human preferences. One interpretation of this feature of mathematics has been Platonism (used here without regard for historical accuracy), the view that mathematical realities exist ‘out there’ with objective but immaterial reality. Upon that assumption, mathematical truth can be understood as correspondence between our propositions and mathematical reality. Mathematicians explore a pre-existing world, and make discoveries. The British mathematician Roger Penrose is an outspoken advocate of such a view.11 As an ontology this ‘Platonic’ reality is so distinct from material reality that it is hard to envisage ‘where’ it might be. And even if one dismisses the question about its spatial location as a non-problem, another problem persists: how do we, material beings, have access to those non-material lands? ‘Mathematical intuition,’ the ability to make ‘observations’ in this Platonic realm, would be a remarkable addition to the experiential, causally mediated repertoire we have. Such an ontology of mathematics seems too remote from our natural skills to fit the epistemic challenge of how mathematical knowledge is acquired and developed.12 A different, but somewhat related, problem is how it might be possible that mathematics is useful for the physical world, if it is categorically distinct, dealing with abstract entities rather than material objects and natural processes. A quite different view of the nature of mathematics is constructivist in kind. Mathematical objects are human creations, a conceptual world that is invented. But then, if it is just our construction, why do mathematicians agree on mathematical insights, across cultural, linguistic and ideological borders? If we would ever encounter extraterrestrial mathematicians, they quite certainly will have a different notation, but one would expect fundamentally the same mathematics. Can constructivism do justice to the experience that mathematical insights transcend culture and species? The Platonic view has a transcendent reality of abstract entities, ready to be explored. A constructivist lacks such a transcendent ontology. However, that mathematics is universal suggests a form of transcendence in the process of mathematical abstraction. The origins of counting and measuring might be found in the practical life of early hominids. Counting is useful when sharing food and keeping track of enemies, and in trade and agriculture. One of the simplest instances of Pythagoras’ formula, namely 32 + 42 = 52 has been discovered early in human history as a way to create straight corners. The general form came later, through abstraction and reflection. This process of abstraction and reflection generates mathematical insights. A remarkable feature of our reality is that those abstract insights turn out to be applicable to many other situations as well. Apparently, natural processes have many features that are structurally the same. 11  12 

Penrose, New Mind. Kitcher, Knowledge, p. 102.

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Thus, though not envisaged as endowed with a distinct type of perception or intuition (as would be needed upon a Platonic view), humans may have come up with genuine mathematical knowledge developed by abstraction, generalization and idealization from the practical situations in which they were involved. In this scheme, transcendence would not be about an ontologically distinct realm, but rather reflects the possibility of abstraction from concrete processes to structures that, in their abstraction, are universal in kind. The related play of imagination allows for mathematical constructs that have no straightforward real world applicability. This brief exploration in the philosophy of mathematics serves to argue that one need not abandon a naturalistic understanding of human behavior in practice (counting, measuring) to acknowledge that we can formulate universal concepts that go beyond specific situations. As abstractions these are not factual but ideal or transcendental. We now turn to the domain of morality, where universals are more aspirational in kind. 3.2 Morality Upon a naturalistic perspective, pro-social behavior is rooted in enlightened selfinterest, whether of the individual or of the ‘selfish’ genes. Biologists and others have come up with evolutionary explanations for support given to children, nieces and nephews and other kin (same genes), support given to one’s partners (a shared ‘investment’ in children, though if one can do less than one’s fair share, it is even better: cheating co-evolves with sociality); support given to neighbors (direct reciprocity) and to the larger community (indirect reciprocity, group selection). It all seems ultimately to be enlightened self-interest, unconsciously pursued, resulting in social communities and occasionally behavior that could be considered altruistic.13 In such a world, driven by evolutionary mechanisms, what might be the status of values? Is there any place for moral reasons in such a world where behavioral abilities and dispositions are selected for evolutionary success? Evolution has delivered more than was ordered. Means can be used for new purposes. Fingers did not evolve to play a piano, but they can be used to play the piano. Intelligence and communication, brains and language, were useful for the essential behaviors that ensure the survival of individuals and the species, sometimes summarized as the four F’s: feeding, fighting, fleeing and reproducing. Once intelligence and language evolved in social communication, these may have been used in other tasks as well. Our intelligence allows us to reconsider our own behavior. We may discover that we are ‘naturally’ inclined to treat men and women differently. However, by becoming aware of this we can also act against that which comes ‘naturally’. And communication may also invite a more abstract, and thereby more moral perspective. Imagine that once in the presence 13 

Alexander, Biology. On group selection, see Sober/Wilson, Unto Others.



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of others an offended hominid asked a fellow hominid: ‘Why did you behave thus?’ The fellow hominid was challenged to justify behavior with arguments that would be recognizable and acceptable to the others, and thus, to formulate general principles justifying his or her behavior. In many incidents of this kind, natural behavior guided by enlightened self-interest may have become reconsidered, intentional behavior. The social context of our lives may have pushed towards universality and accountability, hallmarks of morality, and towards law rather than individual preference. We are occasionally open to reasons, to argument. Since ideas spread faster than genes, culture may develop enormously. There is no reason to assume that the biological basis would always overrule the effects of culture. Thanks to the emergence of culture as a second type of heritage, alongside the genetic one, and thanks to the capacity for reflection and to the impulse to public justification, we are not victims of our evolutionary heritage. We are biological beings, but as these particular biological beings we have a moderate amount of freedom with respect to our genetic drives. We therefore also have responsibility.14 We are practical and finite beings, who measure and count, evaluate and judge; and in doing so, we reach beyond the practical, and discover values and ideas that seem to be universal and timeless, transcendent relative to the world of facts. 3.3  The view sub specie aeternitatis The religious vocabulary associated with such moral and valuational transcendence might be considered the view sub specie aeternitatis, that is, the view from a perspective that is not a particular perspective, and thus not serving a particular self-interest. This approach was developed by Stewart Sutherland in his God, Jesus and Belief: The Legacy of Theism. He refers to a play in which someone contemplating a modest job as a school teacher, is told that if he does it well, “You will know it, your pupils will know it; and God will know it”. It is the final part – the “God will know it,” that lifts the considered course of action to a higher plain. This remark is not to be understood as “Big Brother will know it,” as if this is about omniscience and surveillance. The reference to God regards the meaningfulness of these actions. Sutherland argues that it is not accidental that theistic language is used. “The language of theism embodies, offers and protects the possibility of a view of human affairs sub specie aeternitatis.” He points to two beliefs involved: namely that one may transcend the particulars of an individual, community or age, and that the ultimate context in which our behavior is to be judged is against values that are beyond “the outlook of mankind” and the particulars of the species.15 14  Midgley, Ethical Primate, offers a strong articulation of morality in the context of our biological nature. 15  Sutherland, God, p. 83 and pp.87–89. The example of the schoolteacher is derived from a play by Robert Bolt, A Man for all Seasons.

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It is not that we can acquire a position from which we actually see the world sub specie aeternitatis; pretending such would be hubris and dangerous. The message is that we can and should aspire to see the world as it would be seen when viewed sub specie aeternitatis.16 Mathematics again provides an analogy, when considering an infinite series. Calculating the limit of a series does not mean that one claims to be able to reach the endpoint, as if ‘infinity’ were a definite position at all, but that one can determine what value the series converges upon if the series were considered from that inaccessible limit. Arthur Peacocke, a biochemist who became a theologian and active contributor to Religion and Science, presented in his final essay ‘a naturalistic faith for the twenty-first century.’ At the end of the book with that essay17, we find a brief memoir he wrote in the final days of his life, titled Nunc dimittis, the Latin translation of Luke 2:29: the opening words of the song of Simeon: ‘Now, let me go in peace.’ These are the words of a fulfilled life. Peacocke writes in his final memoir: Not surprisingly the subtler nuances of my deliberations have fallen away before the absolute conviction that God is love and eternally so. (…) I know that God is waiting for me to be enfolded in love. Death comes to every one and this is my time.18

I think this understanding of his own immanent death fit well with his naturalistic Christian faith, a particular understanding and appreciation of reality in which love is the central notion in the end, sub specie aeternitatis. Acceptance of our finitude as embedded in an encompassing eternity could also be articulated differently, for instance in reference to the thought world of the seventeenth century philosopher Spinoza, who in his Ethics identifies eternity with the essence of God, and argues that in as far as we see ourselves sub specie aeternitatis, we know that we are in God and should thus be understood from that perspective.19 Our human lives are finite; death is unavoidable. Belief in redemption as if one might escape from this mortality, is not a live option for those who have accepted the science-informed, naturalistic view of our own existence. However, just as in mathematics and in morality, one might also conceive of a valuation of each life sub specie aeternitatis. What is thus articulated differs from tradition to tradition – Peacocke’s emphasis on love reflects the liberal Anglican Christianity of his time, just as Spinoza’s language of the divine essence reflects his philosophical thought. That diversity is a given in a world with a diversity of religious and non-religious viewpoints, and for me, encourages an agnostic attitude with respect to issues of ultimacy. The key issue in the context of this volume is 16 

Sutherland, God, p. 90. Peacocke/Clayton (eds.), All That Is. 18  Peacocke, Nunc dimittis, pp.192 f. 19  Spinoza, Ethica, Part V, Proposition XXX and the preceding passage, in which Spinoza stated that we know things in two ways as actual, namely in relation to a particular place and time and as they are enclosed in God. In the second way we know their truth or reality, we know them under the aspect of their eternity, and their ideas are enclosed in the eternal and infinite being of God. 17 



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that within the Christian tradition one might perhaps conceive of the valuation of our lives sub specie aeternitatis as a tenable form of understanding the language of redemption and hope. Would that still be a Christian hope? Would this be an end or a transformation of Christian self-understanding? When is the change such that discontinuity overwhelms continuity? Those questions will be the focus of the final section.

4.  Transformation: Redemptive aspirations20 Das Hoffen will nicht mehr gelingen. (Ulrich Körtner) But the true longing of humanity is not for an afterlife; it is for the establishment of a justice here and now that will make an afterlife unnecessary. (…) We are ourselves to establish justice in our world; and the more we allow the belief in an afterlife to dwindle away, and yet still do so little to correct the flagrant inequalities of our world, then the more danger we run. (John Fowles)

Will life be redeemed and transformed in an eternal, perfect life? This hope has lost its plausibility for those who accept a naturalistic, science-inspired understanding of reality, even though it has a revival among some of the ‘spiritually’ minded. It seems to me a false hope, nourished by genuine fears and uncertainties, by love of life (and especially of one’s own life), and hopefully as well by genuine longing for an absolutely fair judgment that brings justice.If one gives up the realism of an eternal redeemed existence somewhere (heaven) or in some future time (the Kingdom), can one still draw on the language of faith? In this context, Ulrich Körtner used the phrase “Mut zum fraglichen Sein,”21 which I would like to interpret as the courage to live with uncertainty, but also to live with critical questions, a life that does not forget about the pain and injustice that one would like to see overcome. In such a life, the images of heaven and the Kingdom might continue to inspire, even if they express aspirations rather than realities. Whether this stands sufficiently in continuity with the tradition, so as to be characterized as a transformation (“Umbau,” as the editors of this volume called it) rather than an end of the role of belief in redemption, depends on one’s focus in reflecting upon change and continuity. As an analogy, I’ll consider briefly change and continuity in theories in the natural sciences.

20  The following section draws on Drees, Vom Nichts, pp.85–90. The opening quotes are from Körtner, Weltangst und Weltende, p. 32, and Fowles, The Aristos, p. 30. 21  Körtner, Weltangst und Weltende, pp.377–393. The expression is derived from the title of Tillich, Courage.

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4.1  Change and continuity in theories What might be the best way to proceed with images and concepts of redemption offered by religious traditions as part of our heritage? I do think that the development of physics offers a helpful analogy. When we consider major transitions, such as those from Newton’s ideas about space and time to Einstein’s views, or from classical to quantum conceptions of matter, we may be struck by the novelty of the concepts involved. There is no continuity in the way reality is seen, that is, in ontology. However, there is a remarkable continuity at less abstract levels of knowing, for instance with respect to predictions for the orbits of planets. The way from the older to the newer view is not via a translation at the level of theories and images. Rather, new theories are proposed, creatively. However, new theories have to do justice to well-established experiences and experiments. Similarly in religion. Continuity with the insights of earlier humans, including those found in the Bible and the writings of the early theologians, should be sought at the level of life as lived. The more abstract concepts, including notions such as the trinity, the virgin birth, heaven, and even God, are constructions, comparable to the scientific theories just considered, and such constructions may change drastically even though one seeks to be fair to the same underlying experiences and aspirations. Many fundamentalists and atheists make the error of conflating different levels. They take the original expressions to be as important as the underlying experiences and concerns themselves, and seek to stick to those higher level interpretations or dismiss the value of a religious understanding because the theological ontology has become too implausible. If the analogy with the development of physics is adequate, the way to renew religious language and models is to consider how those images functioned for humans in earlier periods, and to find out in so far as possible, what the underlying concerns and experiences were. Insofar as we recognize those experiences and concerns and see them as our own, we can atempt to develop new images and models, new ways of dealing with them in images which are credible in our time, in the context of all else that we take seriously, including science. Rather than focusing on the truth claims embodied in metaphors and models, we should give primacy to the relevance these images had and may have in and for human lives. Eschatological images of judgement and a reality in which all tears will be wiped off serve various functions that may still be useful. Perhaps three functions might be primary: Judgement, Conversion, and Hope. By speaking of a place where all will be well, images of redemption may help us to discern critically what is unjust. By calling for our conversion, we might be stimulated to act upon the perceived discrepancy between what is and what should be. But we are limited beings; we will always fall short of what needs to be done. In that respect, the hopeful message that God will wipe of the tears takes off an unreasonable burden that we would otherwise place on our shoulders, and helps us engage in



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a realistic and relaxed way. If life is seen as in ‘God’s hand,’ it is affirmed as life worth living, however difficult and disappointing from time to time. That the eschatological images of heaven or the Kingdom place the perfect reality beyond our grasp is functional as well. It may protect us from the arrogant pretension that we might judge as God judges. The crusades were launched with the message that they were what God wanted. Stressing that God surpasses our personal perspective, should counter such an arrogance. We never possess the appropriate perspective for an absolute judgement; that would be sub specie aeternitatis, as if from God’s perspective only. Transcendence need not be treated as a substantial domain, somewhere ‘up there,’ but might be considered as the possibility of a view sub specie aeternitatis, not accessible to us (and hence challenging our temptation to treat our ideas and judgements as absolute), but suggesting, perhaps, value beyond all human valuing. Taken thus, the language of redemption and transcendence may continue to be valuable while living life here and now.

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Ist ‚ewiges Leben‘ inhuman? Philosophische Augustin-Lektüren bei Martin Heidegger und Paul Ricœur Markus Höfner Einleitung ‚Ewiges Leben‘ ist ein zentrales Symbol christlicher Hoffnung. Im Verbund mit den Symbolen des Reiches Gottes, der Auferstehung der Toten und der neuen Schöpfung steht der Begriff des ewigen Lebens für die christliche Hoffnung auf Erlösung, auf eine gnädige Zuwendung Gottes, die dieser Welt und diesem menschlichen Leben zu Gute kommt und zu Gute kommen wird. ‚Ich glaube an […] die Vergebung der Sünden, Auferstehung des Fleisches, und ein ewiges Leben‘ – so bekennen Christinnen und Christen im apostolischen Glaubensbekenntnis. ‚Ewiges Leben‘ allerdings ist ein merkwürdiger Begriff. Denn Ewigkeit gilt üblicherweise als Kontrast oder gar Negation der Zeit. Menschliches Leben aber, wie wir es kennen, ist nicht ewig, sondern zeitlich. Beide Aussagen zusammen stellen daher ein Dilemma dar: Wir können entweder vom menschlichen Leben reden – dann ist dieses Leben aber nicht ewig. Oder aber wir reden vom ewigen Leben – dann ist dieses Leben nicht menschlich. Ist ‚ewiges Leben‘ also eine inhumane Vorstellung? Und ist es deshalb nicht nur zu beobachten, sondern geradezu zu fordern, dass sich die traditionelle Erlösungsreligion des Christentums in eine Religion der immanenten Lebensbewältigung transformiert und sich statt am ewigen Leben an einem Coping ausrichtet – das dann wenigstens human wäre? Oder aber gibt es Möglichkeiten, ewiges Leben nicht auf Kosten, sondern zu Gunsten menschlichen Lebens zu denken, sodass die Hoffnung auf eine Erlösung zum ewigen Leben als Hoffnung für dieses menschliche Leben, das wir kennen, verständlich wird? Das angezeigte Dilemma und die sich daran anschließenden Fragen sollen im Folgenden mit einem Blick auf Augustin bearbeitet werden. Denn wer Augustin liest, so das treffende Diktum Friedrich Nietzsches, der sieht „dem Christentum in den Bauch“.1 Der Zugang zu Augustin wird dabei im Folgenden allerdings nicht auf direktem Weg gesucht, vielmehr sollen die Augustinischen Überlegungen zu menschlicher Zeit und zur Ewigkeit im Medium philosophischer 1 

Nietzsche, Brief an Franz Overbeck, S. 34.

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Augustin-Lektüren in den Blick genommen werden. Durch diesen indirekten Zugang nämlich wird deutlich, dass die Auseinandersetzung mit Augustin einen Blick nicht nur in den ‚Bauch‘ des Christentums erlaubt, sondern zugleich eine Grundströmung abendländisch-philosophischen Denkens aufdeckt. Im 20. und 21. Jahrhundert sind solche philosophischen Auseinandersetzungen mit dem großen Lehrer der westlichen Christenheit Legion; das Spektrum reicht von Edmund Husserl2 über Hannah Arendt3 bis zu Jacques Derrida4. Die folgenden Überlegungen beschränken sich auf zwei philosophische Zugriffe auf Augustin, die für den Topos des ewigen Lebens besonders ertragreich sind: die AugustinLektüren Martin Heideggers und Paul Ricœurs. Diese beiden philosophischen Augustin-Lektüren sind nicht nur philosophisch interessant, weil beide Autoren in kritischer Auseinandersetzung mit Augustin das Verhältnis von Ewigkeit und menschlicher Zeitlichkeit neu vermessen und dabei zu Einsichten gelangen, die für ihr eigenes philosophisches Nachdenken prägend sind. Vielmehr ergeben sich aus der philosophischen Auseinandersetzung mit Augustin bei Heidegger und Ricœur auch produktive Herausforderungen für die theologische Aufgabe, das Symbol des ‚ewigen Lebens‘ nicht auf Kosten, sondern zu Gunsten menschlichen Lebens zu denken. Um diese These zu entfalten, werde ich im Folgenden zunächst Martin Heideggers Auseinandersetzung mit Augustin vorstellen (1.). Nach der Vertiefung einiger Beobachtungen in einer Zwischenreflexion (2.) wird dann die AugustinInterpretation Paul Ricœurs in den Blick genommen (3.). Abschließend werde ich die Herausforderungen profilieren, die sich aus diesen philosophischen Augustin-Lektüren für die theologische Aufgabe ergeben, die Humanität ‚ewigen Lebens‘ zu denken (4.).

1.  Menschliches Leben statt ‚ewiges Leben‘: Heidegger liest Augustin Im Sommersemester 1921 hält der junge Privatdozent Martin Heidegger eine Vorlesung mit dem Titel Augustinus und der Neuplatonismus, in deren Rahmen er eine eindringliche Interpretation der Confessiones Augustins entwickelt.5 Dabei konzentriert sich Heidegger nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, auf die berühmten Zeit-Analysen des elften Buchs, sondern unternimmt eine philosophisch wie philologisch ambitionierte Exegese von Buch X, in dem Augustin – nach der Darstellung seines bisherigen Lebenswegs in den Büchern I–IX und vor den Überlegungen zu Zeit und Ewigkeit in Buch XI–XIII – sein 2 

Husserl, Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins. Arendt, Liebesbegriff bei Augustin. 4  Derrida, Zirkumfession. 5  Heidegger, Augustinus und der Neuplatonismus. Verweise auf diesen Band erfolgen in diesem Abschnitt mit Seitenzahlen im Text. Vgl. zu Heideggers Augustin-Auslegung im Kontext seines Denkweges bis Sein und Zeit Höfner, Sinn, Symbol, Religion. 3 



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gegenwärtiges Leben in den Blick nimmt.6 Dabei gestaltet Heidegger seine Augustin-Lektüre als Gegenentwurf zur Augustin-Renaissance seiner Zeit: Diltheys philosophischer Zugriff auf Augustin gilt ihm genauso als verfehlt wie die theologischen Interpretationen von Harnack und Troeltsch.7 Ein besonders wichtiger Antipode in Heideggers Augustin-Vorlesung ist allerdings Max Scheler. Denn dieser hatte es sich nicht nur zum Ziel gesetzt, „den Kern des Augustinismus von seinen zeitgeschichtlichen Hüllen [zu] befrei[en] und mit den Gedankenmitteln der phänomenologischen Philosophie neu und tiefer [zu] begründe[n]“8 – ein Anliegen, das durchaus den Absichten Heideggers entsprach.9 Vielmehr empfahl Scheler einen solchermaßen philosophisch geläuterten Augustinismus auch als Grundlage eines religiösen Revivals jenseits konfessioneller Theologie. Heidegger dagegen geht es in seiner Augustin-Lektüre nicht um ein religiöses Revival, sondern um einen strikt philosophischen Zugriff auf Augustin, der dessen Texte für eine Phänomenologie menschlicher Lebenserfahrung überhaupt nutzbar macht. Während daher Scheler seine AugustinInterpretation unter den Titel Vom Ewigen im Menschen (1921) publizierte, kommt es Heidegger in seiner Auseinandersetzung mit Augustin auf den Nachweis an, dass es im zehnten Buch der Confessiones gerade nicht um das ‚Ewige im Menschen‘,10 sondern schlicht um den Menschen geht: Nach Heideggers Lektüre artikuliert Augustin in den Confessiones gerade die Endlichkeit menschlichen Lebens und nur deshalb bietet sich dieser Text nach Heideggers Überzeugung als historisches Paradigma für eine gegenwärtige philosophische Analyse menschlichen Lebens an.11 Um Augustins Einsicht in die Endlichkeit menschlichen Lebens zu profilieren, hebt Heidegger drei Aspekte der Augustinischen Überlegungen besonders hervor: I) Zum Ersten beschreibt Augustin, wie Heidegger ihn liest, das christliche Leben nicht als bloße ‚Gegebenheit‘, sondern in seinem Vollzug. Als Vollzug aber geschieht dieses Leben nicht nur in der Zeit, vielmehr ist es selbst zeitlich strukturiert, besitzt also, wie Heidegger sagt, „historische[ ] Faktizität“ (254; 6  conf. XI behandelte Heidegger wenig später relativ knapp im Vortrag Der Begriff der Zeit (1924), ausführlicher dann in einem Augustinseminar vom Wintersemester 1930/31 (vgl. Heidegger, Der Begriff der Zeit; Heidegger, Augustinus. Außerdem hielt Heidegger am 16. Oktober 1930 in Beuron den Vortrag Des hl. Augustinus Betrachtungen über die Zeit. Confessiones. lib. XI (Heidegger, Quid est tempus; vgl. das Referat bei Corti, Zeitproblematik). 7  Heidegger, Augustinus und Neuplatonismus, S. 160–164. 8  Scheler, Vom Ewigen im Menschen, S. 8. 9 Vgl. zu den parallelen Anliegen Schelers und Heideggers Schalow, Pre-Theological Phenomenology. 10  Vernichtend ist daher Heideggers Verdikt über Schelers Augustin-Analysen als bloße Übernahme des verkirchlichten Augustinismus, „aufgeputzt mit Phänomenologie“ (Heidegger, Augustinus und Neuplatonismus, S. 159). 11  Wie Heidegger dabei an die phänomenologische Methode seines Lehrers Husserl anknüpft und diese mit Hilfe des Augustinischen Paradigmas zugleich transformiert wird treffend beschrieben bei Dahlstrom, Phenomenological Reformation.

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meine Herv.).12 Wenn Augustin daher im Blick auf die Unsicherheit moralischer Qualitäten schreibt: utrum qui fieri potuit ex deteriore melior, non fiat etiam ex meliore deterior13, so wendet Heideggers Kommentierung dies ins Grundsätzliche: „Das ‚fieri potuit‘, Vergangenheit, was möglich wurde und was ich in diesem Gewordensein bin, steht in einem ‚fiat‘, dem, was noch werden könnte.“ (217). Leben also heißt Möglichsein, und in der Gegenwart zu leben heißt, das eigene ‚Gewordensein‘ (Vergangenheit) auf bevorstehende Lebensmöglichkeiten (Zukunft) hin zu vollziehen (vgl. 253 f.). Dieser zeitliche „Vollzugssinn“ (248) christlichen Lebens steht daher nach Heideggers Analyse im Blick, wenn Augustin die Liebe zu Gott als das zentrale Kennzeichen christlichen Lebens herausstellt (vgl. 178 f.). Denn aus Heideggers Sicht bezeichnet ‚Gottesliebe‘ bei Augustin keinen besonderen Gegenstandsbezug, sondern eine Lebensform.14 Gott zu lieben heißt nicht, sein Leben auf ein transzendentes Objekt oder ein gegenständliches Ziel zu beziehen; vielmehr heißt Gott zu lieben, Gott zu suchen – und zwar im zeitlichen Vollzug des Lebens. Die Frage Quid autem amo, cum te amo – „Was aber liebe ich, wenn ich Dich liebe“ (176; meine Herv.) – kann Augustin im Kontext seiner memoria-Analysen daher im Verweis auf die beata vita beantworten (vgl. 192–198). Und die beata vita selbst ist dabei Heidegger zufolge kein zukünftiger Gegenstand der Hoffnung, sondern bezeichnet das christliche Leben im Hier und Jetzt, seinen Vollzug in der Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.15 Die Frage ‚Was ist die Zeit?‘ wird bei Heidegger damit zur Frage ‚Wer ist die Zeit?‘ – und deren Beantwortung kann nur in der Erkenntnis bestehen, dass der Mensch seine je eigene Zeit und diese deshalb endlich ist.16 II) Zum Zweiten profiliert Heidegger Augustins Einsicht, dass der Vollzug der christlichen beata vita ein engagiertes Selbst- und Weltverhältnis der Glaubenden impliziert. Augustins Überlegungen weisen daher aus Heideggers Sicht über ein cartesianisches Reflexionsmodell menschlicher Subjektivität hinaus und eröffnen

12  Hinsichtlich der Zeitlichkeit menschlichen Lebens setzt Heidegger in seiner AugustinAnalyse die Ergebnisse seiner Paulus-Auslegungen aus dem vorangegangen Semester voraus. Vgl. Heidegger, Einleitung; zur Analyse vgl. Höfner, Zurück in die Zukunft. 13  „Jeder, der sich bessern konnte, könnte auch schlechter werden.“ (conf. X, 32, 48). Soweit nicht anders angegeben, folgen lateinische und deutsche Zitate aus den Confessiones der Ausgabe Augustinus, Confessiones. 14 Die „Erfahrung Gottes im Sinne Augustins liegt nicht in einem isolierten Akt […], sondern in einem Erfahrungszusammenhang der historischen Faktizität des eigenen Lebens.“ (Heidegger, Augustinus und Neuplatonismus, S. 294). 15  Heidegger kann den Zusammenhang von Gottesliebe und beata vita daher resümierend wie folgt beschreiben: „Die Frage, wo ich Gott finde, ist umgeschlagen in die Diskussion der Bedingungen des Gotterfahrens, und das spitzt sich zu auf das Problem, was ich selbst bin […].“ (Heidegger, Augustinus und Neuplatonismus, S. 204). 16 Vgl. Heidegger, Der Begriff der Zeit, S. 124 f. Die Endlichkeit der Zeit ergibt sich somit für Heidegger – auch abgesehen von ihrer individuellen Begrenzung im menschlichen Tod – durch die Einsicht, dass Zeit keine transzendentale ‚Form der Anschauung‘, sondern ein Strukturmoment realen menschlichen Lebensvollzugs ist.



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den Blick auf das faktische menschliche Leben in seinen realen Bezügen.17 Für diese Einsicht steht bei Augustin der Begriff des „curare“ (271), den Heidegger in seiner frühen Vorlesung als „Bekümmerung“ (198) übersetzt. Später in Sein und Zeit ist dann – unter ausdrücklicher Berufung auf Augustin18 – bekanntlich von der „Sorge“19 als Grundcharakter menschlichen Lebens die Rede. Als curare ist menschliches Leben nach Heideggers Analyse dadurch ausgezeichnet, dass es im Lebensvollzug um dieses Leben selbst geht: ‚curare‘, ‚Bekümmerung‘ heißt „Anstreben von etwas“ (222), und dieses ‚etwas‘ ist für Heidegger das menschliche Selbst. Um es in der aristotelischen Diktion von Sein und Zeit zu sagen: Ich bin mir selbst das „Worum-willen“ meines Lebens.20 Dieser engagierte Selbstbezug menschlichen Leben lässt sich dabei nicht in bloßer Selbstreflexion einholen, sondern muss im realen Lebensvollzug, im konkreten Verhalten, zum Austrag kommen. Selbst- und Weltbezug menschlichen Lebens lassen sich daher für Augustin, wie Heidegger ihn liest, nicht trennen, vielmehr konstatiert er einen „Zusammenhang zwischen curare als Bekümmerung (vox media) und uti als (in Bekümmerung) Umgehen mit.“ (207; Anm. 11). In Heideggers Interpretation bezeichnet das Augustinische curare daher die menschliche Aufgabe, sich im Leben mit dem Leben auseinander zu setzen. Curare ließe sich daher auch als ‚Coping‘ übersetzen.21 III) Zum Dritten stellt Heidegger in seiner Interpretation der Confessiones heraus, dass ein christliches Leben durch die bewusste Einsicht bestimmt ist, das curare als je eigenes übernehmen zu müssen. Erst das sich selbst durchsichtige curare ist nach Heidegger die „echte […] Bekümmerung“ (271; meine Herv.). Diese bewusste Übernahme des curare kann jedoch nicht ein für alle Mal geschehen, sondern bleibt eine beständige Aufgabe des Lebensvollzugs.22 Christliches Leben ist kein ‚Besitz‘, sondern steht immer in der Gefahr, der Aufgabe des curare auszuweichen und damit zu einem unchristlichen Lebensvollzug zu werden. Christliches Leben heißt daher nach Heideggers Interpretation Leben in Unsicherheit.23 Und deshalb kann er Augustins Diagnose 17  „Das Selbst ‚ist‘ das der vollen historischen Faktizität, das in seiner Welt, mit der, worin es lebt“ – und dies ist etwas ganz Anderes als ein „hyperreflektierter Solipsismus“ (Heidegger, Augustinus und Neuplatonismus, S. 254). Statt daher Augustin als vormodernen Vorläufer cartesianischer Subjektphilosophie zu verstehen, findet Heidegger bei Augustin ein Gegenmodell zum Cartesianismus (vgl. Heidegger, Augustinus und Neuplatonismus, S. 298). Luzide herausgearbeitet wird diese anti-cartesianische Pointe der Heidegger’schen Augustin-Analysen bei Coyne, A difficult proximity, S. 368–380. 18  Heidegger, Sein und Zeit, S. 199; Anm. 191. 19  Heidegger, Sein und Zeit, S. 192. 20 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 84. 21  Das Verständnis des Heidegger’schen ‚In-der-Welt-sein‘ als pragmatisches ‚Coping‘ ist eine Grundthese der pragmatistischen Heidegger-Interpretation von Hubert L. Dreyfus und seinen Schülern. Vgl. dazu grundlegend Dreyfus, Being-in-the-world. 22  Das Leben im Glauben vollzieht sich als ein „Bemühen um continentia, das nicht ans Ende kommt“ (Heidegger, Augustinus und Neuplatonismus, S. 205). 23  Diese Unsicherheit und Fraglichkeit des je eigenen Lebens ist nach Heidegger die Pointe des Bekenntnischarakters der Augustinischen Überlegungen: „So will Augustin wagen, von

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vorbehaltlos zustimmen: Numquid non tentatio est vita humana super terram sine ullo interstitio?24 Im Anschluss an Augustin entfaltet Heidegger die verschiedenen Formen dieser tentatio in großer Ausführlichkeit. Die concupiscentia oculorum (222, Überschrift § 14) etwa deutet er dabei als Versuchung zu einer lediglich distanzierten Kenntnisnahme der Welt, die deren Bedeutsamkeit für den eigenen Lebensvollzug vergisst. Eine exklusiv wissenschaftlich-theoretische Weltbetrachtung, das Kino, aber auch die Vorstellung Gottes als transzendentes Objekt sind nach Heidegger Beispiele für diese tentatio (vgl. 224–227), die in Sein und Zeit in Gestalt der „Neugier“25 wiederkehrt. Die Versuchung der ambitio saeculi (227; Überschrift § 15) dagegen lässt die Meinungen anderer für den eigenen Lebensvollzug bestimmend werden. Sie macht sich im Medium der Sprache fest – in Sein und Zeit heißt dies dann ‚Gerede‘.26 Alle diese Formen der tentatio lassen sich dabei aus Heideggers Perspektive als Strategien verstehen, der Unsicherheit christlichen Lebens durch Rekurs auf vermeintliche Sicherheiten zu entfliehen – Strategien, die aus dem unsicheren Vollzug des faktischen Lebens selbst entspringen: „[D]ie tentatio [ist] ein echtes Existenzial.“ (256) Doch der Preis dieser vermeintlichen Selbstgewissheit ist der Selbstverlust, ein Ausweichen vor der je eigenen Aufgabe des curare. Mit dieser Explikation christlichen Lebens gelingt Augustin nach Heideggers Überzeugung eine wegweisende Darstellung menschlichen Lebens überhaupt – wegweisend vor allem darin, dass Augustin mit den drei genannten Aspekten die Endlichkeit menschlichen Lebens profiliert: Der zeitliche ‚Vollzugssinn‘ des Lebens, das engagierte Selbst- und Weltverhältnis und die Notwendigkeit einer je eigenen und immer unsicher bleibenden Übernahme des curare, diese Momente markieren bei Augustin, wie Heidegger ihn liest, die Endlichkeit menschlichen Lebens als dessen intrinsische Begrenzung durch den nicht still zu stellenden, endlichen Fluss der Zeit, durch das Andere und die Anderen im faktischen Verhalten und durch die Unerschwinglichkeit absoluter Evidenz und Gewissheit. Nicht umsonst kann Heidegger daher wesentliche Ergebnisse seiner Augustin-Interpretation später in die Existenzanalytik von Sein und Zeit übernehmen,27 auch wenn der für die spätere Konzeption zentrale Gedanke des Todes als des sich zu bekennen. Und er wird nur das bekennen, was er von sich selbst ‚weiß‘. Augustin gesteht zu nicht alles zu wissen von sich. Auch das will er ‚bekennen‘ [:] Quaetio mihi factus sum.“ (Heidegger, Augustinus und Neuplatonismus, S. 178). Diese Unsicherheit profiliert den Kontrast zur Selbstgewissheit des cartesianischen Subjekts: „Man sagt, Augustin sei ein Vorläufer Descartes’. Aber Augustin sah die Selbstwelt viel tiefer als Descartes, weil dieser schon von der modernen Naturwissenschaft beeinflußt ist. Sein Wort ‚crede, ut intelligas‘ soll heißen: das Selbst soll sich erst im vollen Leben verwirklichen, ehe es erkennen kann. In den Worten ‚inquietum cor nostrum‘ ist ein ganz neuer Aspekt des Lebens gegeben.“ (Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 205). 24  „Ist unser Erdenleben nicht eine einzige Versuchung, ohne Unterlass?“ (Conf. X, 28, 39; lat. Zitat nach Heidegger, Augustinus und Neuplatonismus, S. 206). 25  Heidegger, Sein und Zeit, S. 170; im Orig. herv. Vgl. den Verweis auf Augustins concupiscentia-Analyse in Heidegger, Sein und Zeit, S. 171. 26 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 167–170. 27  Vgl. die Hinweise oben im Text.



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zeitlichen Endes menschlichen Lebens in den frühen Augustin-Analysen noch fehlt.28 Bereits Augustins Analyse menschlicher Endlichkeit allerdings ist nach Heidegger dadurch ausgezeichnet, dass sie ohne den Kontrastbegriff der Ewigkeit vollziehbar ist.29 Denn wird menschliche Endlichkeit als Gegensatz zur Unendlichkeit der Ewigkeit, des Absoluten oder Gottes konzipiert, so kann sie nur als Defizit in den Blick kommen. Heidegger kommt es jedoch darauf an, Endlichkeit nicht als Defizit, sondern als Auszeichnung menschlichen Lebens zu verstehen, als positive Bedingung der Möglichkeit des Menschseins. „Endlichkeit“, so schreibt Heidegger in diesem Sinn an späterer Stelle, „ist keine Eigenschaft, die uns nur anhängt, sondern die Grundart unseres Seins. Wenn wir werden wollen, was wir sind, können wir diese Endlichkeit nicht verlassen oder uns darüber täuschen, sondern wir müssen sie behüten.“30 Diese Pointe seiner positiven Rezeption Augustins unterstreicht Heidegger durch seine Augustin-Kritik. Denn Augustin selbst bleibt nach Heideggers Diagnose nicht bei dieser Analyse der Endlichkeit als einer Auszeichnung menschlichen Lebens stehen, sondern überformt diese durch eine gegenläufige Argumentation, in der die Endlichkeit menschlichen Lebens nun in der Tat als Kontrast zur Ewigkeit und damit als Defizit erscheint. Besonders deutlich manifestiert sich diese Tendenz nach Heideggers Analyse in einem bisher nicht genannten Grundbegriff der Confessiones: Den Grundcharakter menschlichen Lebens als curare kann Augustin nämlich nicht nur durch den Begriff des uti erläutern und so das faktische menschliche Verhalten zu Menschen und Dingen in den Blick nehmen. Vielmehr impliziert das curare für Augustin auch die Möglichkeit des frui, des ‚Genießens‘.31 Und während im Verhaltensmodus des uti Dinge und Menschen nicht als Zweck an sich intendiert werden, richtet sich das frui nach Augustin auf etwas, das um seiner selbst willen erstrebenswert ist (vgl. 277–280). Mit dieser Differenzierung jedoch setzt Augustin nach Heideggers Analyse eine „Wertrangordnung“ (277) des Seienden voraus, die von den „ewigen und unveränderlichen Dinge[n]“ (271) angeführt wird, während alles zeitliche Sein als Sein 28  Die explizite Bindung der Zeitlichkeitserfahrung an den je eigenen Tod führt Heidegger erst ein Jahr nach seiner Augustin-Vorlesung ein (Vgl. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, S. 358 f.; Heidegger, Der Begriff der Zeit (Vortrag 1924), S. 115 f. und dann Heidegger, Sein und Zeit, S. 235–267). Mit dem Konnex von Zeitlichkeitserfahrung und Tod fehlt in der frühen Augustin-Vorlesung auch der Gedanke einer zu erreichenden Ganzheit des je eigenen Lebens – ein Umstand, den man nicht als Mangel deuten muss, skizziert Heidegger doch auf diese Weise ein Verständnis menschlicher Endlichkeit ohne „thanatologische Engführung“ (Rentsch, Heidegger und Wittgenstein, S. 282; im Orig. herv.). 29  Philosophisch kommt es nach Heidegger darauf an, nicht von der Ewigkeit her die Zeit zu denken, sondern „die Zeit aus der Zeit zu verstehen“ (Heidegger, Der Begriff der Zeit, S. 107). Diese Formulierung von 1924 trifft exakt die Intention der frühen Augustin-Vorlesung. 30  Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik, S. 8. Vgl. auch die Überlegungen zum Zusammenhang von Endlichkeit und Seinsfrage, in denen die menschliche Endlichkeit als Voraussetzung von ‚Ontologie‘ und ‚Seinsverständnis‘ ausgezeichnet wird, in: Heidegger, Kant, S. 218–246. 31  „Uti und frui machen das curare aus.“ (Heidegger, Augustinus und Neuplatonismus, S. 273).

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minderer Qualität zu stehen kommt, das mit dem ‚defectus‘ der Vergänglichkeit behaftet ist (vgl. 279).32 Denn nur durch eine solche „Axiologisierung“ (237) kann Augustin Heidegger zufolge angeben, auf welche Erfahrungsgegenstände die Verhaltensmodi des uti und frui zu beziehen sind. Und weil für Augustin allein Gott ‚ewig und unveränderlich‘ ist und deshalb als das „summum bonum“ (271) an der Spitze der Seinspyramide steht, kann und soll das menschliche frui ihm allein gelten, während alles irdische Sein nur im Sinne des uti ‚gebraucht‘ werden darf. Auf diese Weise jedoch verfällt Augustin aus Heideggers Sicht nicht nur einer Verdinglichung Gottes zur metaphysischen ‚Gegebenheit‘ eines summum bonum – eine Verdinglichung, die sich nach Heidegger als prägnantes Beispiel der zuvor skizzierten concupiscentia oculorum lesen lässt.33 Vielmehr führt die Einzeichnung von uti und frui in eine axiologische Seinsordnung Augustin auch zu einer alternativen Wahrnehmung des christlichen Lebens und der christlichen Liebe zu Gott. Heidegger hatte in seinen zuvor skizzierten Analysen hervorgehoben, dass die christliche Gottesliebe bei Augustin als ‚Gott-Suche‘ zu verstehen und daher der zeitliche Vollzug christlichen Lebens im Hier und Jetzt als beata vita zu bezeichnen ist. Im Horizont der Differenz von uti und frui jedoch entwickelt Augustin Heidegger zufolge ein konträres Verständnis, demzufolge die christliche Gottesliebe eine telelogische Bezogenheit christlichen Lebens auf das summum bonum bezeichnet. Und weil für Augustin gilt: Beatus est quippe qui fruitur summo bono34, muss die beata vita ebenfalls als Zielbestimmung christlichen Lebens gefasst werden. Denn die (vollendete) fruitio Dei besteht in der Anschauung des summum bonum, in der das menschliche Leben aus seiner zeitlichen Zerrissenheit heraus zur ewigen Ruhe findet (vgl. 272). Die ‚Erlösung‘, die Augustin dieser zweiten Argumentationslinie entsprechend ins Auge fasst, ist eine Erlösung zum ‚ewigen Leben‘, die die Zeitlichkeit hinter sich lässt.35 Es ist diese zweite, gegenläufige Argumentation, mit der Augustin nach Heideggers Überzeugung seine eigenen Einsichten in die Struktur christlichen Lebens verfälscht. Das summum bonum als gegenständliches Ziel menschlichen Lebens, die ewige Anschauung dieses summum bonum in der fruitio Dei, das Versprechen einer ewigen Ruhe jenseits der Unsicherheit des zeitlichen Lebensvollzugs – dies alles sind nach Heideggers Diagnose platonisch-neuplatonische 32  Diese Argumentation hat nach Heideggers Diagnose zudem zur Folge, dass Augustin wie die menschliche Endlichkeit, so auch die menschliche Sünde als Seinsmangel deutet – wodurch beides ununterscheidbar wird. Vgl. dazu ausführlicher Höfner, Sünde und Endlichkeit. 33  Heideggers spätere Diagnose einer ‚onto-theologischen Verfassung‘ der Metaphysik ist somit bereits in seinen frühen Augustin-Analysen angelegt. Vgl. Heidegger, Die onto-theologische Verfassung der Metaphysik. 34 „Glücklich ist ja, wer das höchste Gut genießt“ (De lib. arb. II, 13, 36; zitiert nach Heidegger, Augustinus und Neuplatonismus, S. 271). 35  Eine durchaus parallele Augustin-Kritik hat Hannah Arendt vorgelegt, wobei sie das entscheidende Defizit der Ewigkeitsorientierung Augustins aber bezeichnenderweise nicht wie Heidegger in der Negation des je individuellen zeitlichen Lebensvollzugs erblickt, sondern in einer grundsätzlichen Problematisierung der Möglichkeit der Nächstenliebe (Vgl. Arendt, Love and Saint Augustine, S. 36–44).



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Motive, mit denen Augustin seine genuine Darstellung christlichen Lebens überformt. Heidegger Vorlesung Augustinus und der Neuplatonismus läuft daher auf ein ‚Augustinus oder der Neuplatonismus‘ hinaus. Denn zusammengenommen führen die genannten neuplatonischen Motive nach Heideggers Analyse dazu, dass Augustin die beata vita auf Kosten des zeitlichen Lebensvollzugs denkt: Das ‚ewige Leben‘, wie es Augustin in der Folge seiner zweiten Argumentationslinie beschreibt, negiert gerade diejenigen Momente menschlichen Lebens, die für dessen Charakter als endliches Leben wesentlich sind. ‚Ewiges Leben‘ ist daher nach Heideggers Diagnose eine letztlich inhumane Vorstellung: „Die fruitio Dei steht letzten Endes im Gegensatz zum Haben des Selbst; beides entspringt nicht derselben Wurzel, sondern ist von außen zusammengewachsen.“ (272) Gegen die neuplatonischen Tendenzen Augustins beruft sich Heidegger deshalb auf Luthers Heidelberger Disputation, wo Röm 1, 19 f. gerade nicht als Einladung zum Aufstieg zur übersinnlichen Welt, sondern im Horizont einer Theologie des Kreuzes interpretiert wird (vgl. 281 f.). Man kann Heideggers kritische Augustin-Lektüre daher durchaus mit seinem eigenen Bruch mit dem „System des Katholizismus“36 und seiner Zuwendung zur Tradition protestantischer Theologie – von Luther über Schleiermacher bis Kierkegaard – parallelisieren37, wird aber dann sogleich hinzufügen müssen, dass das, was Heidegger präsentiert, ein „Protestantismus auf dem Nullpunkt der Säkularisierung“38 ist. An den Anfang seiner Confessiones stellt Augustin den berühmten Gebetsruf Inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te: „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir“.39 Heideggers Augustin-Lektüre läuft dagegen auf die Empfehlung hinaus, sich an das ‚unruhige Herz‘ menschlicher Endlichkeit zu halten und die Aussicht auf die Ruhe des ewigen Lebens aufzugeben. Menschliches Leben statt ‚ewiges Leben‘ – dies ist das Credo Heideggers in seiner Auseinandersetzung mit Augustin.

2.  Menschliches Leben und ‚ewiges Leben‘: Zwischenfazit mit Rückblick auf Augustin Nach dieser Analyse der Augustin-Lektüre Heideggers lässt sich in drei Schritten ein Zwischenfazit ziehen: I) Heideggers philosophische Augustin-Lektüre ist genau dies: philoso­ phisch. Nicht das christliche Leben, der Glaube, die Erlösung oder Gott stehen 36  So in Heideggers Brief an Engelbert Krebs am 9. Januar 1919 (Ott, Martin Heidegger, S. 106; vgl. zu den Hintergründen Ott, Martin Heidegger, S. 106–119). 37  Vgl. aus der umfangreichen Debatte um diese religiöse Umorientierung und ihre philosophische Signifikanz exemplarisch Capelle, „Katholizismus“, „Protestantismus“, „Christentum“ und „Religion“. 38  So das auf Sein und Zeit gemünzte, aber bereits auf die frühe Augustin-Vorlesung zutreffende Diktum von Jürgen Habermas (Habermas, Die große Wirkung, S. 77). 39  conf. I, 1, 1.

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im Zentrum seines Interesses, sondern eine Strukturanalyse menschlichen Lebens überhaupt. Was Heidegger interessiert ist eine ‚Religion in den Grenzen der bloßen Existenz‘.40 Frei von Gewaltsamkeiten ist seine Interpretation daher sicher nicht. Dennoch gewinnt Heidegger in seiner Lektüre Einsichten, die sich an Augustins Texten selbst verifizieren lassen. Dies gilt nicht nur für die positive Beobachtung, dass Augustin in seinen Confessiones auf eindrückliche Weise den zeitlichen Vollzug christlichen Lebens in der Spannung von Selbstverlust und Selbstgewinn profiliert. Vielmehr ist auch Heideggers kritische Diagnose ernst zu nehmen, dass Augustins platonisierende Konzeption ‚ewigen Lebens‘ auf eine Negation genuin menschlichen Lebens hinauszulaufen droht. Dass diese Gefahr bei Augustin – und in der augustinischen Tradition – in der Tat besteht, lässt sich, über Heideggers Interpretation hinaus, an Augustins Überlegungen zu Zeit und Ewigkeit in conf. XI‑XIII sehen. Denn die Zeitlichkeit als dynamische Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird in diesen Kapiteln von Augustin zwar grundsätzlich als Implikat der guten Schöpfung Gottes gedeutet, weil ‚Schöpfung‘ aus seiner Sicht überhaupt nur im Medium von Zeit und Zeit nur als Charakteristikum von Schöpfung denkbar ist. „Sieh, Himmel und Erde sind. Indem sie sich wandeln und verändern, rufen sie, dass sie gemacht sind.“41 Zugleich jedoch interpretiert Augustin die Zeitlichkeit des Lebens als negative ‚Zerrissenheit‘, die eine heilvolle Einheit des Lebens verhindert.42 Der ‚zerrissenen‘ Zeit gegenüber steht nach Augustin die Ewigkeit. Diese kennt keinen Wechsel von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: [N]on autem praeterire quidquam in aeterno, sed totum esse praesens.43 Als ewige Gegenwart ist die Ewigkeit die Negation der Zeit in ihrer Folge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wenn Augustin daher ‚Erlösung‘ als ‚Erlösung zum ewigen Leben‘ denkt, so ist damit ein Übergang bezeichnet, der aus der Zeitlichkeit menschlichen Lebens hinausführt. So bekennt Augustin: „[I]ch bin zersplittert in die Zeiten, deren Zusammenhang ich nicht kenne. Meine Gedanken […] werden zerfetzt vom Aufruhr der Mannigfaltigkeiten – bis ich in dir zusammenfließe, gereinigt und flüssig geworden vom Feuer deiner Liebe.“44 Dies ist der „Sabbat des ewigen Lebens“45, in dem die Zeit negiert ist – die Zeit, die doch zugleich Implikat der guten Schöpfung sein soll.46 Sicherlich lassen sich bei Augustin auch andere eschatologische Motive finden, etwa seine Betonung 40 

So der treffende Titel bei Kaegi, Religion. „Ecce sunt caelum et terra, clamant, quod facta sint; mutantur enim atque variantur.“ (conf. XI, 4, 6). Dieser Konnex von (guter) Schöpfung und Zeit wird bei Augustin durch die These profiliert, dass die Welt nicht in, sondern mit der Zeit erschaffen wurde (Vgl. de civ. XI, 6). 42  Vgl. zur Analyse Flasch, Augustin, S. 263–269. 43  „Im Ewigen aber geht nichts vorher, dort ist das Ganze gegenwärtig.“ (conf. XI, 11, 13). 44  „[E]go in tempora dissilui, quorum ordinem nescio, et tumultuosis varietatibus dilaniantur cogitationes meae, […], donec in te confluam purgatus et liquidus igne amoris tui.“ (conf. XI, 29, 39). 45  „sabbato vitae aeternae“ (conf. XIII, 36, 51). 46  Vgl. zu dieser charakteristischen Spannungslage grundlegend Marrou, L’ambivalence du temps. 41 



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der leiblichen Auferstehung.47 Diese heben jedoch die angezeigte Spannungslage nicht auf, und so behält auch Heideggers kritische Diagnose ihr Recht. II) Die vorstehende Skizze der Augustin-Interpretation Heideggers mag den Eindruck erwecken, dass Heidegger die Vorstellung einer Erlösung und eines ‚ewigen Lebens‘ nur mit großer Geste aus seinem eigenen Denken verabschieden kann und umstandslos für eine philosophische Umstellung von ‚Erlösung‘ auf ‚Coping‘ plädiert. Doch dieser Eindruck täuscht, zumindest im Blick auf Sein und Zeit. Denn der Sache nach kennt auch Heidegger die Vorstellung einer Erlösung und die Idee eines ewigen Lebens. Doch anders als Augustin denkt Heidegger ‚Erlösung‘ ohne göttliche Gnade und im Unterschied zu Augustin geht es ihm nicht um eine Erlösung zum ewigen Leben, sondern um eine Erlösung vom ewigen Leben. Wie in den frühen Augustin-Analysen vertritt Heidegger auch in Sein und Zeit die These, dass menschliches Leben als Möglichsein zu verstehen ist und dass ‚eigentliches‘, authentisches Leben darin besteht, diesen Möglichkeitscharakter des Lebens zu durchschauen und so bevorstehende Lebensmöglichkeiten als je eigene übernehmen zu können. In Sein und Zeit jedoch erfährt diese These eine Zuspitzung durch den Gedanken, dass bevorstehende Lebensmöglichkeiten nur dann als Möglichkeiten des je eigenen, unvertretbaren Lebens verstanden werden können, wenn sie im Licht der „eigenste[n] […] Möglichkeit“48 menschlichen Lebens betrachtet werden. Und diese ‚eigenste Möglichkeit‘ menschlichen Lebens ist nach Heidegger bekanntlich der je eigene Tod, weil an ihm die Ganzheit und Unvertretbarkeit individueller Existenz zu Tage tritt49: Authentisches menschliches Leben ist ein sich selbst durchsichtiges ‚Coping‘ im Angesicht des je eigenen Todes, denn die „ursprüngliche Zeit ist endlich.“50 In der bewussten Annahme der eigenen Endlichkeit authentisch zu leben jedoch ist nach Heidegger keine Selbstverständlichkeit, vielmehr ist aus seiner Sicht die „Uneigentlichkeit“51 der immer schon vorherrschende Vollzugsmodus menschlichen Lebens. Voraussetzung authentischen Selbstseins ist deshalb für Heidegger die Befreiung aus der uneigentlichen zur eigentlichen Existenz, und diese Befreiung vollzieht sich im „Ruf des Gewissens“52, der das uneigentliche Existieren unterbricht und das menschliche Selbst zu einem authentischen Lebensvollzug im Angesicht des je 47 Vgl.

de civ. Dei XII, 25–28. Heidegger, Sein und Zeit, S. 250. 49  „Das vorlaufende Freiwerden für den eigenen Tod befreit von der Verlorenheit in die zufällig sich andrängenden Möglichkeiten, so zwar, daß es die faktischen Möglichkeiten, die der unüberholbaren [sc. des Todes] vorgelagert sind, allererst eigentlich verstehen und wählen läßt.“ (Heidegger, Sein und Zeit, S. 264). Dies ist nach Heidegger deshalb der Fall, weil im Angesicht des Todes das eigene Leben als Totalität erkennbar wird, diese Totalität aber eine endliche ist und damit die Illusion unbegrenzter Möglichkeiten ausschließt (Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 264–267). 50  Heidegger, Sein und Zeit, S. 331 (meine Herv.). Vgl. zur Zeit-Analyse in Sein und Zeit insgesamt Sandbothe, Verzeitlichung der Zeit, S. 98–124. 51  Heidegger, Sein und Zeit, S. 43 (im Orig. herv.). 52  Heidegger, Sein und Zeit, S. 272. 48 

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eigenen Todes zurückruft.53 Heidegger betont den Ursprung dieses Gewissensrufes im menschlichen Dasein selbst ebenso wie seine Unwillkürlichkeit und Unverfügbarkeit: „Der Ruf kommt aus mir und doch über mich.“54 Damit ist einerseits deutlich, dass sich die Befreiung zum authentischen Selbstsein keiner dem Dasein externen Instanz verdankt und ohne die Vorstellung göttlicher Gnade gedacht werden kann und muss. Andererseits jedoch verdankt sich diese Befreiung keiner selbstmächtigen Reflexion, sondern vollzieht sich als (unverfügbare) Konversion55 – und damit durchaus in Strukturanalogie zu religiösen Vorstellungen einer Umkehr von der Unerlöstheit zur Erlösung.56 Als Befreiung zu einem eigentlichen Leben im Bewusstsein je eigener Endlichkeit kann diese ‚Erlösung‘ für Heidegger jedoch gerade keine Erlösung zum ‚ewigen Leben‘ sein, sondern muss als Erlösung von der Illusion eines ‚ewigen‘, nicht an die Grenzen individueller Zeitlichkeit gebundenen Lebens verstanden werden. Diese Illusion nämlich ist nach Heideggers Analysen in Sein und Zeit Ausdruck einer uneigentlichen Existenz, die sich der Vorstellung unbegrenzter Lebensmöglichkeiten hingibt und den je eigenen Tod verdrängt. Die Vorstellung unbegrenzter Lebensmöglichkeiten ist dabei Heidegger zufolge Implikat der „vulgäre[n]“57, im alltäglichen Leben vorherrschenden Interpretation der Zeit als Folge je gegenwärtiger Zeitmomente, weil sich für eine lineare Jetzt-Folge „grundsätzlich kein Anfang und kein Ende finden [lässt].“58 Diese Unendlichkeit der Zeit ist für Heidegger geradezu die „Hauptthese der vulgären Zeitinterpretation“59, und es steht für ihn außer Frage, dass „der traditionelle Begriff der Ewigkeit in der Bedeutung des ‚stehenden Jetzt‘ (nunc stans) aus dem vulgären Zeitverständnis geschöpft und in der Orientierung an der Idee der ‚ständigen‘ Vorhandenheit umgrenzt ist“60. Im alltäglichen Zeitverständnis geht diese Annahme eines unendlichen Fortgangs der Zeit nach Heideggers Diagnose Hand in Hand mit der Verobjektivierung des Todes zu einem „innerweltlich vorkom53 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 269 f. und zum Zusammenhang von Sein-zum-Tode und Gewissen Heidegger, Sein und Zeit, S. 305–310. 54  Heidegger, Sein und Zeit, S. 275. Die Unverfügbarkeit des Gewissensrufes und seinen Ursprung im Dasein selbst zugleich zu behaupten läuft allerdings, wie Stefan Hübsch gezeigt hat, auf eine letztlich aporetische Konzeption menschlicher Selbstwahl hinaus (Vgl. Hübsch, Philosophie und Gewissen, S. 151–176). 55  Vgl. zu diesem Motiv bei Heidegger Merker, Konversion statt Reflexion. 56 Da Heidegger wesentliche Momente seiner Existenzanalyse aus seiner Paulus- und Augustin-Lektüre gewinnt, ist diese Strukturanalogie natürlich wenig überraschend. 57  Heidegger, Sein und Zeit, S. 422. 58  Heidegger, Sein und Zeit, S. 424. 59 Ebd. 60  Heidegger, Sein und Zeit, S. 427 (meine Herv.). Im unmittelbaren Anschluss deutet Heidegger an, dass dieser traditionelle Begriff nicht alternativlos ist: „Wenn die Ewigkeit Gottes sich philosophisch ‚konstruieren‘ ließe, dann dürft sie nur als ursprünglichere und ‚unendliche‘ Zeitlichkeit verstanden werden“ (ebd.), müsste also statt als totale Gegenwart der Jetzt-Zeit als spezifische Form der Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gedacht werden. Heidegger lässt allerdings offen, wie genau dieser Begriff einer ‚verzeitlichten‘ Ewigkeit zu entfalten wäre, und man muss fragen, ob der von ihm behauptete Konnex von Zeitlichkeit und Endlichkeit dafür überhaupt Raum lässt.



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mende[n] Ereignis“61, das die je eigene Existenz nur beenden, nicht aber in ihrem Kern bestimmen kann.62 Die Illusion eines ‚ewigen Lebens‘ beruht somit Heidegger zufolge auf einem „Wegsehen von der Endlichkeit“63, und wer ihr folgt, lässt sich die Wahl eigener Lebensmöglichkeiten vom „Gerede“64 der anderen abnehmen und verfehlt so die Aufgabe, sein Leben als je eigenes, unvertretbares ‚Coping‘ in den Grenzen der eigenen Endlichkeit zu vollziehen: Das Subjekt ‚ewigen Lebens‘ ist nicht das individuelle Selbst, sondern das anonyme „Man“65. Denn „das Man stirbt nie, weil es nicht sterben kann“.66 Die Befreiung zum je eigenen „Sein zum Tode“67 kann daher nur die Erlösung aus diesem ‚ewigen Leben‘ sein.68 Die Überlegungen Heideggers in Sein und Zeit lesen sich damit als Inversion der Augustinischen Konzeption: Während sich Augustins Hoffnung darauf richtet, dass wir aus der ‚Zerrissenheit‘ unserer Zeitlichkeit zur Ruhe des ‚ewigen Lebens‘ erlöst werden, geht es für Heidegger um eine solche ‚Erlösung‘, die aus der beruhigenden Illusion ‚ewigen Lebens‘ hinaus- und in die notwendige Unsicherheit zeitlicher Existenz hineinführt. Auffällig ist allerdings, dass trotz dieser Inversion eine Strukturanalogie bestehen bleibt: Wie Augustin denkt auch Heidegger Ewigkeit als ausschließenden Gegensatz, als Negation der Zeit.69 III) Im Rückblick auf Heideggers frühe Augustin-Analysen fällt auf, dass er in seiner Konzentration auf das 10. Buch der Confessiones eine für Augustins eigenes Zeitverständnis wesentliche Gedankenfigur nicht beachtet. Dies ist die Vorstellung der distentio animi, der ‚Ausdehnung‘ oder ‚Zerspannung‘ des menschlichen Geistes.70 Augustin führt diese Vorstellung in seinen Überlegungen in conf. XI ein, um ein für sein Zeitdenken entscheidendes Dilemma zu lösen: Einerseits, so Augustin, ‚gibt‘ es Zeit im Grunde nur im jeweils gegenwärtigen Augenblick, während Vergangenheit und Zukunft im strengen Sinne kein Sein besitzen. Andererseits jedoch können wir gegenwärtige, vergangene und zukünftige Zeiten messen, wie unsere Praxis und unser Sprachgebrauch 61 

Heidegger, Sein und Zeit, S. 253. Heidegger, Sein und Zeit, S. 253–255; 330 f. 63  Heidegger, Sein und Zeit, S. 424. 64  Heidegger, Sein und Zeit, S. 167–170; Zitat 167. 65  Heidegger, Sein und Zeit, S. 126–130; Zitat 126. 66  Heidegger, Sein und Zeit, S. 424. 67  Heidegger, Sein und Zeit, S. 252. 68  „Die ergriffene Endlichkeit der Existenz reißt aus der endlosen Mannigfaltigkeit der sich anbietenden Möglichkeiten des Behagens, Leichtnehmens, Sichdrückens zurück und bringt das Dasein in die Einfachheit seines Schicksals.“ (Heidegger, Sein und Zeit, S. 384). 69  Zwar bemüht sich Heidegger, die Vorstellung unendlicher Ewigkeit aus der endlichen Zeitlichkeit abzuleiten, das Resultat dieser Ableitung ist dann aber in der Tat die Negation der ‚ekstatischen‘ Zeitlichkeit in ihrer Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 330 f.). 70 In Sein und Zeit wird diese Vorstellung kurz erwähnt (vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 427), im Augustin-Seminar 1930/31 bemüht sich Heidegger ausweislich seiner knappen Notizen, sie an sein eigenes Verständnis von Zeitlichkeit heranzuziehen (Heidegger, Augustinus, S. 62.65.68.72 f.). 62 Vgl.

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beweisen. Wie aber können wir etwas messen, das nicht ist und daher keinerlei Ausdehnung hat?71 Auf diese Frage bietet der Gedanke der distentio animi nach Augustin eine Antwort, indem er den Ort der Zeit und ihrer Messung von den äußeren Dingen weg in die menschliche Seele verlagert:72 Die vorübergehenden Dinge, so Augustin, hinterlassen im menschlichen Geist einen bleibenden Eindruck (affectio) und erzeugen so eine im Geist gegenwärtige Vergangenheit, eine gegenwärtige Gegenwart und eine gegenwärtige Zukunft. Und dem entspricht die aktive ‚Ausdehnung‘ des Geistes in Erinnerung, Aufmerksamkeit und Erwartung.73 Im menschlichen Geist hat die Zeit daher nach Augustin ein ausgedehntes Sein; im menschlichen Geist lässt sie sich deshalb auch messen.74 Man muss diese Erklärung nicht für restlos überzeugend halten – zeitphilosophisch wäre etwa zu fragen, ob die lange Erinnerung an eine Vergangenheit wirklich dasselbe ist wie die Erinnerung an eine lange Vergangenheit.75 Hätte Heidegger das Theorem der distentio animi bei Augustin beachtet, so wäre es ihm dennoch möglich gewesen, seine eigene Konzeption menschlicher Zeitlichkeit mit Hilfe Augustins noch wesentlicher klarer zu profilieren als in der Beschränkung auf das 10. Buch der Confessiones. Vor allem jedoch hätte Heidegger im Ausgang von der distentio animi die Entdeckung machen können, dass Augustin selbst nicht nur den ausschließenden Kontrast von Zeit und Ewigkeit kennt, sondern auch eine Erfahrung der Ewigkeit in der Zeit und darin eine Transformation menschlicher Zeiterfahrung ins Auge fassen kann. Diese Entdeckung bildet eine der Pointen der philosophischen Augustin-Lektüre Paul Ricœurs.

3.  ‚Ewiges Leben‘ und die Transformation menschlicher Zeiterfahrung: Die Augustin-Lektüre Paul Ricœurs Paul Ricœur beginnt sein dreibändiges Werk Zeit und Erzählung76 mit einer detaillierten Analyse der Augustinischen Zeittheorie in conf. XI und stellt dabei den soeben skizzierten Gedanken der distentio animi in den Mittelpunkt. Über das Gesagte hinaus kommt es ihm dabei vor allem auf die Einsicht an, dass die (passive) distentio animi, oder, wie Ricœur sagt, die „Zerspannung“ (I, 39) des Geistes, für Augustin nur als Kehrseite einer intentio animi, einer aktiven 71 

Vgl. die prägnante Formulierung dieser Aporie conf. XI, 16, 21. conf. XI, 26, 33. 73 Vgl. conf. XI, 20, 26. 74  In te, anime meus, tempora metior. […]. Affectionem, quam res praetereuntes in te faciunt et, cum illae praeterierint, manet […]. (‚In Dir, mein Geist, messe ich die Zeiten. […]. Ich messe den Eindruck, den die vorübergehenden Dinge in dir bewirken und der bleibt, wenn sie vorübergegangen sind‘; conf. XI, 27, 36). 75  Dies scheint die Konsequenz der Überlegungen conf. XI, 15, 18 -27, 36 zu sein, in denen Augustin die Möglichkeit der Zeitmessung vom – gegenständlich gedachten – Sein der Zeit abhängig macht. Vgl. zur Kritik Wittgenstein, Blaues Buch, S. 49 f. 76  Ricœur, Zeit und Erzählung. Verweise auf dieses Werk erfolgen in diesem Abschnitt mit Angabe von Band und Seitenzahl im Text. 72 Vgl.



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‚Anspannung‘ des Geistes zu haben ist: „In der Seele, also als Eindruck, haben Erwartung und Erinnerung Ausdehnung. Der Eindruck ist jedoch nur insofern in der Seele, wie der Geist tätig ist, also erwartet, aufmerkt und sich erinnert.“ (I, 36).77 Denn während es in der aktiven intentio darum geht, die gegenwärtige Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Erinnerung, Aufmerksamkeit und Erwartung zu einem konsonanten Zeitverlauf zu verknüpfen (I, 38 f.), bezeichnet die distentio animi nach Ricœurs Analyse „nichts anderes als [den] Riß, das Nichtzusammenfallen der drei Modalitäten der Tätigkeit“ (I, 37). Und weil diese ‚Dissonanz‘ beständig neu aus der ‚Konsonanz‘ der intentio hervorgeht (vgl. I, 39), stellt letztere eine unabschließbare Aufgabe dar: „Je mehr […] der Geist sich zur intentio verwandelt, desto mehr erleidet er eine distentio.“ (I, 38). Ricœur erkennt nun durchaus an, dass das Theorem der distentio animi im Kontext der Zeit-Analysen Augustins eine vorläufige Lösung der aufgeworfenen Probleme darstellt. Das grundlegende Problem von „Sein oder Nichtsein der Zeit“ (I, 18) – die Einsicht also, dass die Vergangenheit nicht mehr, die Zukunft noch nicht ist78 – findet nach Ricœurs Analyse seine Antwort darin, dass Augustin die Zeit nicht in der Bewegung der Dinge im Kosmos, sondern im menschlichen Geist lokalisiert und auf dieser Grundlage „Vergangenheit und Zukunft auf dem Umweg über Erinnerung und Erwartung in die Gegenwart verlegt“ (I, 19). Damit wird Ricœur zufolge zugleich die Praxis menschlicher Zeitmessung verständlich, weil Augustin nun die – für die Messung der Zeit notwendige – Ausdehnung der Zeit als eine Ausdehnung des menschlichen Geistes verstehen kann (I, 27–31): „Zu denken bleibt also die dreifache Gegenwart als Ausdehnung und die Ausdehnung als diejenige der dreifachen Gegenwart. Das ist der geniale Gedanke des elften Buches der Bekenntnisse des Augustinus, an den Husserl, Heidegger und Merlau-Ponty anknüpfen.“ (I, 32; vgl. I, 34 f.). Mit diesen Antworten auf die Probleme von Sein und Messung der Zeit wird allerdings aus Ricœurs Sicht zugleich deutlich, dass die „Augustinische These hinsichtlich der Zeit […] aporetischer ist, als Augustin zugeben würde“ (I, 16). Denn die Verlagerung des Zeitphänomens in die distentio animi führt nach Ricœurs Analyse nicht nur dazu, dass die psychologische Perspektive auf die Zeit bei Augustin die kosmologische Zeit verdeckt, auf die er in seinen Überlegungen dennoch nicht verzichten kann (vgl. III, 19–36) – nach Ricœurs Systematik die erste Aporie der Zeitlichkeit (vgl. III, 390 f.). Vielmehr bringt gerade Augustins psychologische ‚Lösung‘ des Zeitproblems aus Ricœurs Sicht die angezeigte Spannung von distentio und intentio zum Vorschein. Sie führt damit unmittelbar in die zweite Aporie der Zeitlichkeit hinein, den Widerstreit zwischen den drei Zeitekstasen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einerseits und der Ein77  „Dem Begriff der distentio animi ist man nicht gerecht geworden, solange man nicht die Passivität des Eindrucks in Gegensatz zur Aktivität eines Geistes gesetzt hat, der nach verschiedenen Richtungen zwischen Erwartung, Erinnerung und Aufmerksamkeit gespannt ist. Nur ein derart in verschiedene Richtungen gespannter Geist ist der Zerspannung (distentio) fähig.“ (Ricœur, Zeit und Erzählung I, S. 35). 78 Vgl. Ricœur, Zeit und Erzählung I, S. 19–21. und conf. XI, 15, 18–20.

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heit der Zeit andererseits (vgl. III, 391): Das „größte Rätsel“, schreibt Ricœur, „liegt in der Tatsache, daß sich die Seele zerspannt (se distend), indem [sie] sich anspannt“ (I, 39; vgl. III, 401 f.). Und es ist diese Aporie, die Augustin nach Ricœurs Überzeugung motiviert, seine Analysen der Zeit in eine Meditation über die Ewigkeit einzubetten. Diesen Ewigkeits-Bezug der Augustinischen Zeit-Analysen hatte Ricœur in seiner Interpretation zunächst eingeklammert, um Augustins Theorie der Zeit einer strikt phänomenologischen Betrachtung zu unterziehen (vgl. I, 15 f.) – ein Verfahren, das durchaus dem phänomenologischen Zugriff Heideggers entspricht. Im Gegensatz zu Heidegger jedoch geht es Ricœur um den Nachweis, dass der Kontrast von Zeit und Ewigkeit aus Augustins Phänomenologie der Zeit selbst entwächst und sich daher nicht als christliche Apologetik oder sekundärer neuplatonischer Eintrag abspalten lässt. Vielmehr würde Ricœur zufolge „zum vollen Sinn der distentio animi etwas [fehlen]“ (I, 40), wollte man Zeit ohne die Ewigkeit als das Andere der Zeit denken.79 Und mit dieser Einsicht verbindet Ricœur drei Entdeckungen, die für die Verhältnisbestimmung von Zeit und Ewigkeit und damit für die Vorstellung eines ‚ewigen Lebens‘ wesentlich sind: I) Erstens hebt Ricœur hervor, dass Augustin die Ewigkeit nicht via negationis aus der Zeiterfahrung ableitet, sondern sie als eine „Grenzvorstellung“ (I, 40) einsetzt, die der Analyse der Zeitlichkeit selbst zugutekommt (vgl. I, 41 f.). Augustins Bestimmung der Ewigkeit als die totale Gegenwart eines semper stans nämlich dient Ricœur zufolge gerade dazu, die „ontologische Negativität“ (I, 46) der Zeit herauszustellen und damit die Spannung von distentio und intentio zu vertiefen. Die Zeitlosigkeit der Ewigkeit ergibt sich dabei für Augustin, wie Ricœur ihn liest, aus der Notwendigkeit, einen nicht-zeitlichen Anfang der Zeit zu denken und so die „Vorgängigkeit“ (I, 46) der Ewigkeit vor der Zeit als deren „Überlegenheit“ (I, 46) statt als unendliche Verlängerung der Zeit in die Vergangenheit zur Geltung zu bringen (vgl. I, 43–46). Die ‚Grenzvorstellung‘ einer zeitlosen Ewigkeit ist somit nach Ricœurs Analyse bei Augustin primär schöpfungstheologisch motiviert80 und wird durch den Gegensatz des ewigen göttlichen Wortes zu den zeitlichen menschlichen Worten noch zusätzlich profiliert. Denn „[d]as Verbum bleibt; die verba vergehen“ (I, 43)81. Für Ricœur entscheidend ist jedoch, dass Augustin diese Vorstellung einer zeitlosen Ewigkeit einsetzt, um die Zeit selbst als eine endliche Größe denken zu können, deren ‚Vorher‘ und ‚Nachher‘ nicht-zeitlich bestimmt ist: „Man muß […] das ‚nichts‘ [sc. der zeitlosen Ewigkeit] denken, ehe man die Zeit als anfangende und aufhörende denkt.“ (I, 45). Im Kontrast zur zeitlosen Ewigkeit erhält die endliche Zeit und vor allem die Zeiterfahrung der distentio animi damit zugleich „den negativen Index des Seinsmangels“ (I, 47). Und dieser zeigt sich nach Ricœurs 79 

Vgl. zur Analyse Kearney, Time, evil, and narrative, S. 147–150. Gegensatz von Zeit und Ewigkeit bezeichnet daher bei Augustin Ricœur zufolge „die radikale ontologische Differenz, die das Geschöpf vom Schöpfer trennt“ (Ricœur, Zeit und Erzählung I, S. 48). 81  Mit Verweis auf conf. XI, 6, 8. 80  Der



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Analyse nicht nur im transitorischen Charakter von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, vielmehr wird die distentio animi im Horizont zeitloser Ewigkeit zum Synonym für die „Zerstreuung“ (I, 49) menschlichen Lebens, die der Einheit des Selbst entgegensteht und damit bezeugt, „daß der Ewigkeitsmangel nicht nur eine gedankliche Grenze, sondern ein inmitten der Zeiterfahrung verspürter Mangel ist“ (I, 47). Im Horizont der Ewigkeit rücken menschliche Endlichkeit und menschliche Sünde für Augustin zusammen.82 II) An Augustins Analyse der Zeit im Horizont der Ewigkeit ist aus Ricœurs Sicht zweitens bedeutsam, dass Augustin die Ewigkeit nicht in der soeben skizzierten Funktion einer ‚Grenzvorstellung‘ aufgehen lässt, sondern ihr einen gegenständlichen Gehalt unterstellt: Augustin will die Ewigkeit nicht nur denken, „er wendet sich an den Herrn (L’Eternel) und ruft ihn in der zweiten Person an“ (I, 46). Augustins Nachdenken über Zeit und Ewigkeit ist nicht nur zeittheoretische Spekulation, sondern zugleich Anrede an den Ewigen. Und dies hat die für Ricœur entscheidende Konsequenz, dass Augustin seine Überlegungen in der narrativen Form des Bekenntnisses vorträgt. Denn nicht nur stehen die Bücher X‑XIII der Confessiones in unlösbarem Zusammenhang mit dem Lebensrückblick Augustins in den Büchern I‑IX, vielmehr sind auch die Ausführungen zu Zeit und Ewigkeit selbst durch die Form der Erzählung geprägt. Was über Zeit und Ewigkeit zu sagen ist, entfaltet Augustin daher in den literarischen Formen der Klage über die Zerrissenheit menschlicher Zeit und des hymnischen Lobes des ewigen Gottes (vgl. I, 48–50). Im Medium der Erzählung dient der Gegenpol der Ewigkeit somit Ricœur zufolge einer „Intensivierung der Zeiterfahrung“ (I, 16) selbst. Ausgehend von dieser Beobachtung kann Ricœur seine eigene Einsicht in den Zusammenhang von Zeit und Erzählung bereits bei Augustin vorgebildet finden – „Virtuell ist hier das ganze Reich des Narrativen entfaltet“ (I, 39)83 – und sieht damit zugleich seine These bestätigt, dass die philosophischen Aporien der Zeit nicht theoretisch lösbar sind, wohl aber durch eine poetische Antwort aufgehellt werden können (vgl. I, 39; III, 416 f.). Insofern nämlich die Erzählung als „Zusammensetzung der Handlungen“ (I, 62)84 das zeitlich 82  Die „Seufzer der zerissenen [sic!] Seele sind hier untrennbar zugleich die der einfachen Kreatur wie die des Sünders“ (Ricœur, Zeit und Erzählung III, S. 423; vgl. Ricœur, Zeit und Erzählung I, S. 49 f.). Anders als Heidegger markiert Ricœur diese Ununterscheidbarkeit an dieser Stelle allerdings nicht als Problem. Vgl. aber die entsprechende Problemanzeige gegenüber der existenzphilosophischen Verbindung von Endlichkeit und Sünde/Schuld in Ricœur, From existentialism, S. 89. 83  Als Kommentar zu conf. XI, 28, 38, wo Augustin das zeittheoretische Beispiel des Aufsagens eines Liedes auf größere Handlungszusammenhänge, das ganze Menschenleben und die Weltgeschichte ausweitet. 84  Mit dieser Definition der Erzählung nimmt Ricœur den Mythos-Begriff der Aristotelischen Poetik auf (vgl. Ricœur, Zeit und Erzählung I, S. 62). Die Spannung von mythos und peripeteia bei Aristoteles entspricht dabei nach Ricœur auf erzähltheoretischer Ebene der zeittheoretischen Spannung von intentio und distentio animi bei Augustin (vgl. Ricœur, Zeit und Erzählung I, S. 15). Von hier aus wird die Bedeutung der Augustin-Analysen für das Gesamtprojekt von Zeit und Erzählung verständlich: Augustin bietet für Ricœur eine Exposition der zeittheoretischen Aporien, in der die Dissonanz der distentio die Konsonanzbestrebungen der

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Auseinanderfallende zu einer narrativen Einheit verknüpft, überbrückt sie nach Ricœur nicht nur die Spannung von phänomenologischer und kosmologischer Zeit durch die Konstitution einer ‚narrativen Identität‘ und bearbeitet damit die erste Aporie der Zeit (vgl. III, 392–400). Auch die zweite Aporie der Zeit – das Problem der „Totalisierung“ (III, 391; im Orig. herv.) der drei Zeitekstasen zu einer Zeit – lässt sich aus Ricœurs Sicht narrativ bearbeiten, indem „Erwartungshorizont“ (III, 409; im Orig. herv.), „Traditionalität“ (III, 409; im Orig. herv.) und „Kraft der Gegenwart“ (III, 410; im Orig. herv.) in der Vorstellung einer Geschichte der Menschheit vermittelt werden (Vgl. III, 400–417).85 III) Die dritte Entdeckung an Augustins Deutung der Zeit im Horizont der Ewigkeit schließlich besteht nach Ricœur darin, dass die Ewigkeit nicht ausschließlich als Negation, sondern zugleich als Transformation der Zeit zu denken ist.86 Durch den Kontrast zur Ewigkeit nämlich löst Augustin Ricœur zufolge die Zeiterfahrung von der „Faszination durch die Vorstellung einer gradlinigen Zeit“ (I, 41) und profiliert ihre Fähigkeit, „sich in Richtung auf die Ewigkeit zu übersteigen“ (ebd.). Ein solches ‚Übersteigen‘ der Zeitlichkeitserfahrung bedeutet dabei für Ricœur keinen exit aus der Zeitlichkeit. Denn weil auch das Denken der Ewigkeit, wie sich gerade bei Augustin lernen lässt, an die zeitliche Form der Narration gebunden ist, bleibt die Möglichkeit ausgeschlossen, dieses in eine „den zeitlichen Zwängen enthobene[] Kontemplation aufzuheben“ (I, 51).87 Das ‚Übersteigen‘ der Zeitlichkeitserfahrung in Richtung auf die Ewigkeit hat nach Ricœurs Analyse vielmehr den Effekt, die Zeitlichkeitserfahrung selbst durch die Erfahrung der Ewigkeit in der Zeit zu transformieren. Aus dem gradlinigen Fluss der Zeit entsteht so „eine Hierarchie von Stufen der Verzeitlichung, je nachdem, ob sich diese [Zeit]Erfahrung von ihrem Ewigkeitspol entfernt oder sich ihm nähert“ (I, 51). Augustin selbst bringt eine solche Transformation der Zeitlichkeit durch die Erfahrung der Ewigkeit aus Ricœurs intentio beständig unterläuft, in der jedoch zugleich eine erzähltheoretische Aufhellung dieser Aporien angedeutet wird. Die Aristotelische Poetik hingegen, die Ricœur im unmittelbaren Anschluss interpretiert (vgl. Ricœur, Zeit und Erzählung I, S. 54–86.), setzt in der Theorie der Fabelkomposition auf ein Übergewicht der Konsonanz (des Erzählverlaufs) über die Dissonanz (der Handlungen) und liefert damit die Basis für eine poetische Antwort auf die Aporien des Zeitdenkens, wie sie Ricœur selbst dann in der Theorie der ‚dreifachen Mimesis‘ (vgl. Ricœur, Zeit und Erzählung I, S. 87–135.) begründet und im Folgenden geschichts- und literaturtheoretisch entfaltet. Vgl. für diese Zusammenhänge die luzide Darstellung bei Hiller, Gottes Geschichte, S. 96–171. 85  Diese Vermittlung bleibt, wie Ricœur betont, immer unvollkommen; die Vorstellung einer Geschichte ist eine Idee im Sinne Kants, keine Totalität im Sinne Hegels (vgl. Ricœur, Zeit und Erzählung III, S. 401 f.; 411 f.). Denn es „gibt keine Fabel aller Fabeln, die imstande wäre, der Idee der einen Menschheit und der einen Geschichte gerecht zu werden“ (Ricœur, Zeit und Erzählung III, 414). 86  Dieser Gedanke impliziert nach Ricœur eine Akzentverlagerung vom (ausschließenden) Kontrast von Zeit und Ewigkeit zu ihrer dennoch bestehenden Ähnlichkeit – eine Ähnlichkeit, die in der Möglichkeit manifest wird, sich in der Zeit der Ewigkeit zu nähern (Ricœur, Zeit und Erzählung I, S. 51). 87  „Erzählung ist da möglich, wo die Ewigkeit die Zeit zu sich erhebt und überhöht, nicht da, wo sie sie aufhebt.“ (Ricœur, Zeit und Erzählung I, S. 49 f.; Fußnote 38).



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Sicht vor allem durch die Schilderung seiner Bekehrung in conf. VIII und der ekstatischen Erfahrung in Ostia in conf. IX zum Ausdruck. Beide Erfahrungen nämlich führen Augustin nach Ricœurs Interpretation nicht aus der Zeit hinaus; sie „setzen nur dem ziellosen Umherirren, der Verfallsform der distentio animi ein Ende, veranlassen jedoch eine Wanderung, die die Seele wieder den Straßen der Zeit zuführt“ (I, 52). Die Erfahrung der Ewigkeit in der Zeit bewirkt die Transformation der Zeiterfahrung als eine Umkehr in Richtung auf die Ewigkeit, die jedoch nur zeitlich vollzogen werden kann – und beweist damit, „daß die Ewigkeit imstande ist, die Zeiterfahrung von innen her zu bearbeiten, ihr eine Stufenfolge zu geben und sie derart eher zu vertiefen als aufzuheben“ (III, 423). Während der terminus a quo dieser Umkehr Ricœur zufolge durch die distentio animi in ihrer Verfallsform als Zerstreuung bezeichnet wird, ist es die intentio animi, die der transformierten Zeiterfahrung ihre neue Richtung vorgibt: Wenn Augustin die Paulusstelle Phil 3, 12–14 als ‚Sich-Austrecken nach der himmlischen Berufung secundum intentionem‘ interpretiert, so sieht Ricœur darin die „Hoffnung auf die letzten Dinge“ (I, 49) zum Ausdruck kommen. Indem Augustin somit deutlich macht, dass die menschliche Zeiterfahrung selbst auf die Ewigkeit verweist und durch die Erfahrung der Ewigkeit in der Zeit transformiert wird, kommt nach Ricœurs Analyse eine dritte Aporie der Zeitlichkeit zum Vorschein: Letztlich, so Ricœurs Überzeugung, bleibt die Zeit für das philosophische Denken unerforschlich, weil jeder Versuch, sie zu thematisieren, sich immer schon in der Zeit vorfindet (III, 392 f.; 417 f.). Und auch die narrative Entfaltung menschlicher Zeiterfahrung findet nach Ricœur in dieser Unerforschlichkeit der Zeit ihre Grenze, weshalb es aus seiner Sicht vermieden werden muss, dass „das Lob der Erzählung heimlich den Anspruch des konstituierenden Subjekts wiederbelebt, den Sinn zu beherrschen“ (III, 437; im Orig. herv.). Gerade die narrative Thematisierung der Ewigkeit als des Anderen der Zeit lässt sich nun aber nach Ricœur als Strategie verstehen, diese Grenze zu markieren – und im Blick auf Augustin zeigt sich an dieser Stelle der ‚archaische‘ Hintergrund seiner Überlegungen im hebräischen Denken, etwa in der Vorstellung der Ewigkeit Gottes als dessen Treue (vgl. III, 422–425). Diese drei Entdeckungen Ricœurs an der Augustinischen Relationierung von Zeit und Ewigkeit lassen sich durch einen Seitenblick auf seine Überlegungen zum Verhältnis von Ewigkeit und menschlichem Tod noch vertiefen.88 Mit ihnen wendet sich Ricœur zunächst kritisch gegen Heideggers Konzeption endlicher Zeitlichkeit.89 Problematisch an dieser ist nach Ricœur nicht nur der Versuch einer Ableitung des ‚vulgären Zeitbegriffs‘ aus einer ‚eigentlichen‘, je 88  Für Ricœur ist es die „bedeutungsschwerste Frage dieses Buches [sc. Zeit und Erzählung] […], inwiefern eine philosophische Reflexion über Zeit und Narrativität dazu beitragen kann, Ewigkeit und Tod zusammenzudenken“ (Ricœur, Zeit und Erzählung I, S. 135). 89  Vgl. Ricœur, Zeit und Erzählung III, S. 96–157 und für eine ausführliche Analyse Dastur, La critique Ricœurienne. Über die Bedeutung von Heideggers Denken für die Entwicklung der Ricœur’schen Philosophie informiert prägnant Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, S. 266–335.

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individuellen Zeitlichkeit (vgl. III, 123–129; 142–145; 156 f.), sondern auch das Verständnis endlicher Zeitlichkeit als ‚Sein zum Tode‘ selbst. Heideggers Anspruch nämlich, damit eine ontologisch neutrale – ‚existenziale‘ – Struktur des menschlichen Daseins zu benennen, wird Ricœur zufolge durch dessen Abhängigkeit von einer individuellen – ‚existenziellen‘ – Lebenshaltung unterlaufen, nämlich der von Heidegger selbst bevorzugten „Entschlossenheit angesichts des Todes […], die deutlich von einem gewissen Stoizismus gekennzeichnet ist“ (III, 108).90 Auf diese Weise aber verkennt Heidegger aus Ricœurs Sicht nicht nur, dass „das Existenzial der Endlichkeit des Daseins ein weitgefächertes Spektrum existenzieller Antworten zulässt“ (III, 213), vielmehr macht er es sich auch unmöglich, Erfahrungen der Ewigkeit in der Zeit als Transformation menschlicher Zeiterfahrung zur Geltung zu bringen. Einen ausgezeichneten Zugang zu solchen Erfahrungen, der zugleich das ‚Spektrum existenzieller Antworten‘ auf die Endlichkeit offenhält,91 findet Ricœur selbst demgegenüber – seiner Einsicht in den Zusammenhang von Zeit und Erzählung folgend92 – in fiktionalen Texten wie Virginia Woolfs Mrs. Dalloway, Thomas Manns Der Zauberberg und Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.93 Indem diese Texte Erfahrungen von Sterblichkeit und von Ewigkeit verknüpfen94 – etwa in der „immergleiche[n] Ewigkeit der Ewigkeitspuppe“ und der „jubilierende[n] Ewigkeit der Schneeepisode“ (III, 214) in Manns Zauberberg –, profilieren sie Ricœur zufolge nicht nur verschiedene Varianten des Umgangs mit menschlicher Endlichkeit, sondern verstärken vor allem die Einsicht, dass menschliche Zeitlichkeit selbst in ihrer letzten Unerforschlichkeit auf die Ewigkeit als das Andere der Zeit verweist (vgl. III, 220 f.). In seiner Augustin-Analyse wie in der Untersuchung fiktionaler Texte, so lässt sich zusammenfassend festhalten, profiliert Ricœur einen narrativen ‚Umweg‘ zum Phänomen endlicher Zeitlichkeit. Dieser läuft auf die Einsicht hinaus, dass menschliche Zeit in ihrer Endlichkeit auf Ewigkeit verweist und daher nur im Horizont der Ewigkeit angemessen verstanden werden kann. Das entscheidende Argument für diese Einsicht findet Ricœur in Erfahrungen der Ewigkeit in der Zeit, durch die die Zeiterfahrung selbst transformiert wird und die verschiedene 90  Ricœur benennt auf diese Weise ein reales Strukturproblem der Heidegger’schen Überlegungen in Sein und Zeit. Indem er allerdings das ‚Sein zum Tode‘ auf eine existenzielle Lebenshaltung reduziert, verkennt er dessen existenziale Bedeutung als Schlüssel zur unvertretbaren ‚Jemeinigkeit‘ des Daseins (So zu Recht die Kritik bei Dastur, La critique Ricœurienne, S. 569–573). 91  Im „Intervall zwischen dem Existenzialen und dem Existenziellen findet eine Meditation von Tod und Ewigkeit ihren Platz“ (Ricœur, Zeit und Erzählung III, S. 213). 92  Gemäß seiner Theorie der dreifachen Mimesis besteht die Pointe fiktionaler Refigurationen der Zeitlichkeit gerade darin, der realen Lebenspraxis neue Erfahrungsmöglichkeiten zu eröffnen. (Vgl. dazu auch Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, S. 173–206). Zur Möglichkeit als Grundkategorie der Ricoeur’schen Anthropologie vgl. aus theologischer Perspektive Hunziker, „Der fähige Mensch“. 93  Vgl. Ricœurs ausführliche Auslegung dieser Texte in Ricœur, Zeit und Erzählung II, S. 173–191; 192–221; 222–259. 94  Vgl. dazu Römer, Das Zeitdenken, S. 338–342.



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existenzielle Antworten auf die menschliche Endlichkeit ermöglichen, unter ihnen auch die christliche Hoffnung, die „aus dem Glauben an die Wiederauferstehung hervorgeht“ (III, 213).95 Gegenüber Heidegger ist damit unterstrichen, dass die Ewigkeit nicht als Ausdruck eines ‚vulgären Zeitverständnisses‘ aus der endlichen Zeitlichkeit ‚eigentlichen‘ Daseins ausgeschlossen werden kann und darf, während gegenüber Augustin deutlich wird, dass die Erfahrung von Ewigkeit in der Zeit nicht auf die ewige Ruhe als Ziel und Ende menschlicher Zeitlichkeit hin ausgelegt werden muss – und daher konsequenter als bei Augustin selbst als Transformation der Zeiterfahrung selbst gedacht werden kann (vgl. III, 212 f.). Es dürfte deutlich sein, dass es Ricœur mit der Überwindung der durch die Positionen Heideggers und Augustins markierten Alternative nicht darum geht, die christliche Hoffnung auf ein ‚ewiges Leben‘ philosophisch zu begründen. Auch wird man ihm nicht vorwerfen können, christliche Gehalte unbesehen als Resultat philosophischer Reflexion auszugeben.96 Vielmehr hält sich Ricœurs Analyse an die phänomenologisch und narrativ zu erhellende Erfahrung menschlicher Zeitlichkeit. Deren Unerforschlichkeit jedoch, so die Pointe der Ricœur’schen Darstellung, manifestiert sich in Erfahrungen der Ewigkeit in der Zeit, in denen sich die endliche Zeiterfahrung „in Richtung auf die Ewigkeit“ (I, 41) übersteigt und dadurch nicht aufgehoben, sondern transformiert wird.97 Und insofern lassen sich Ricœurs Überlegungen durchaus als „philosophische[] Annäherung“98 an die religiöse Vorstellung eines ‚ewigen Lebens‘ lesen – als eine ‚philosophische Annäherung‘, die diese Vorstellung nicht als Alternative und Ersatz, sondern als Vertiefung und Transformation endlichen Lebens zu sehen lehrt.

Ertrag: Zur Humanität ‚ewigen Lebens‘ Die philosophischen Augustin-Lektüren bei Heidegger und Ricœur sind, um mit Nietzsche zu sprechen, Exkursionen in den ‚Bauch‘ des Christentums. Als solche sind sie nicht nur philosophisch von Interesse, insofern Heidegger wie Ricœur in Auseinandersetzung mit Augustin wichtige Einsichten ihres 95  Vgl. für den Versuch einer theologischen Aufnahme DeLashmutt, Paul Ricœur; für eine kritische Einschätzung aus theologisch-ethischer Sicht Schweiker, Imagination, Violence, and Hope. 96 Ricœur beachtet sehr genau die Perspektivendifferenzen zwischen theologischer und philosophischer Reflexion. Einer der schärfsten Kritiker der ‚theologischen Wende‘ der neueren französischen Phänomenologie nimmt Ricœur daher zu Recht explizit von diesem Vorwurf aus (vgl. Janicaud, Theological Turn, S. 23). 97  Diese Ansätze aus Zeit und Erzählung hat Ricœur später zu einer regelrechten ‚philosophischen Eschatologie‘ ausgebaut, die um die Vorstellungen einer ‚schwierigen Vergebung‘ und eines ‚glücklichen Gedächtnisses‘ konzentriert ist (vgl. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 699–777). 98  Ricœur, Freiheit, S. 200; im Orig. herv. Die erzähltheoretischen Überlegungen in Zeit und Erzählung bieten für diese ‚philosophische Annäherung‘ m. E. eine wesentlich überzeugendere Basis als dieser an Kants Religionsschrift orientierte frühe Aufsatz.

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eigenen philosophischen Denkens profilieren. Aus den philosophischen Interpretationen Augustins bei Heidegger und Ricœur ergeben sich vielmehr auch produktive Herausforderungen für die theologische Aufgabe, die Vorstellung eines ‚ewigen Lebens‘ als zentrales Symbol christlicher Erlösungshoffnung zu entfalten. Diese Herausforderungen habe ihren kritischen Sinn darin, dass Heidegger wie Ricœur eine tiefgreifende Ambivalenz aufdecken, die das Denken Augustins – und weite Teile der von Augustin geprägten theologischen Tradition99 – belasten: Insofern Augustin Ewigkeit als nunc stans und damit als Negation der Zeit denkt (Heidegger) und die ewige Ruhe als jenseitiges Ziel menschlichen Lebens herausstellt (Ricœur), verrät er seine eigenen Einsichten in die zeitliche Endlichkeit menschliches Lebens und verdunkelt die Differenz zwischen menschlicher Endlichkeit und menschlicher Sünde und Schuld. Die Erlösung zu einem ‚ewigen Leben‘ wird daher bei Augustin zu einer Erlösung aus der zeitlichen Endlichkeit menschlichen Lebens – und das ‚ewige Leben‘ selbst somit zu einer letztlich inhumanen Vorstellung. Der positive Ertrag hingegen, den die philosophischen Augustin-Lektüren Heideggers und Ricœurs der theologischen Reflexion bieten, besteht zunächst darin, dass beide Autoren Augustins Darstellung menschlichen Lebens als Analyse menschlicher Endlichkeit profilieren und diese Endlichkeit nicht als Defizit, sondern als Auszeichnung menschlichen Lebens deuten. Von Ricœur lässt sich zudem lernen, Ewigkeit nicht als Negation, sondern als Transformation dieser zeitlichen Endlichkeit zu denken. Denn während ersteres dazu nötigt, ‚ewiges Leben‘ entweder als exit aus Zeit und Endlichkeit (Augustin) oder als Verfallsform einer ‚eigentlichen‘ Zeitlichkeit (Heidegger) zu denken, erlaubt es Ricœurs Konzeption, Erfahrung der Ewigkeit in der Zeit in den Blick zu nehmen, in denen sich die endliche Zeitlichkeit selbst ‚in Richtung auf die Ewigkeit‘ überschreitet. Einem theologisches Denken, das sich von diesen Einsichten und Anfragen der philosophischen Augustin-Lektüren Heideggers und Ricœurs herausfordern lässt, wird es deshalb darum gehen müssen, die christliche Hoffnung auf eine Erlösung zum ewigen Leben nicht auf Kosten, sondern zu Gunsten menschlichen Lebens zu denken, also die Humanität ‚ewigen Lebens‘ zu explizieren.100 Denn wenn es richtig ist, die menschliche Endlichkeit als Implikat der guten Schöpfung wahrzunehmen, dann kann ein ‚ewiges Leben‘, das diese Endlichkeit

99  Vgl.

480.

zu dieser Diagnose Ritschl, Last des Augustinischen Erbes, S. 470–490, v. a. S. 477–

100  Diese Formulierung kann theologische Bedenken hervorrufen, ist die Ewigkeit in theologischer Perspektive doch zunächst ein Prädikat Gottes und nicht des Menschen. Doch auch wenn man dies – m. E. zu Recht – hervorhebt, muss es dann doch darum gehen, die menschliche Teilhabe am ewigen Leben Gottes als eine eschatologische Hoffnung verständlich zu machen, die das menschliche Leben in seiner Endlichkeit nicht negiert – und eben darin ‚human‘ ist. Dazu ist jedoch eine Differenzierung zwischen der Ewigkeit Gottes und der Ewigkeit des menschlichen ‚ewigen Lebens‘ notwendig, die von einer Deutung dieser Teilhabe am Leben Gottes als ‚Verewigung‘ menschlichen Lebens leicht überspielt wird (so bei Jüngel, Ewigkeit; weiterführend dagegen Hüttenhoff, Ewiges Leben und vor allem Welker, Theologische Annäherungen).



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negiert, kein Gegenstand christlicher Hoffnung sein.101 Diese nämlich richtet sich nicht auf eine Erlösung von der Endlichkeit, sondern auf eine Erlösung von der Sünde – weshalb beides deutlicher als bei Augustin zu unterscheiden ist: Nicht ihre Endlichkeit, sondern ihre Sünde trennt Menschen von Gott. Die Humanität des ‚ewigen Lebens‘ wird daher aus theologischer Perspektive darin bestehen, menschliches Leben nicht von seiner Endlichkeit, sondern diese Endlichkeit von ihrer Perversion durch die Sünde zu befreien – und deshalb die endliche Zeitlichkeit menschlichen Lebens nicht zu negieren, sondern zu transformieren.102 Für diese theologische Aufgabe bieten Heidegger wie Ricœur nicht mehr als philosophische Anregungen – auch wenn sie in Auseinandersetzung mit Augustin in den ‚Bauch‘ des Christentums blicken. Als solche Annäherungen aber verdienen ihre philosophischen Augustin-Analysen Beachtung – und Bearbeitung – in der Theologie.

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III. Resonanzräume: Religion – Diakonie – Literatur – Biomedizin

Redemption Now! Moderne Heilsversprechen zwischen Prosperity Gospel und Endzeit-Buße Alexander-Kenneth Nagel 1.  Attraktive Argumente: Heilsgüter, Marketing und Distinktion „Kein Unglück ist in aller Welt zu finden / Das ewig dauernd sei: Es muss doch endlich mit der Zeit einmal verschwinden. Ach! aber ach! die Pein der Ewigkeit hat nur kein Ziel/ Sie treibet fort und fort ihr Marterspiel/ Ja, wie selbst Jesus spricht/ Aus ihr ist kein Erlösung nicht.“ Die Bach-Kantate „Oh Ewigkeit, du Donnerwort“ zeichnet einen scharfen Kontrast zwischen Ewigkeit und Erlösung: Ewigkeit ist „Pein“ und Strafe, Erlösung Lohn, den man freilich durch sündhaftes Handeln nur allzu leicht verspielt. Der klare Gegensatz zwischen der verdorbenen und moribunden Welt auf der einen und der göttlichen Heilszusage auf der anderen Seite mag für den barocken Zeitgenossen unmittelbar eingängig gewesen sein, heute indes erscheint die Sache weniger klar: Ist das irdische Leben nur ein „Pilgerleben“, ein „Jammertal“, dessen beste Eigenschaft seine Vergänglichkeit ist? Ist es lediglich eine kräftezehrende Vorübung für künftiges Heil oder aber eine Art Vorgeschmack? Die Spannung zwischen ewigem oder zumindest verlängertem Leben in dieser Welt und Erlösung von dieser Welt ist nicht nur theologisch, sondern auch gesellschaftspolitisch relevant, etwa dort, wo medizinethische Debatten über lebensverlängernde Maßnahmen auf religiöse Konzepte des Lebens zurückgreifen. Religionssoziologisch ergeben sich daraus (zumindest) zwei Fragenkomplexe: Wissenssoziologisch wäre nach den sozialstrukturellen Bedingungen und Trägerschichten zu fragen, die hinter Theologien der Ausweitung des innerweltlichen Lebens zulasten außerweltlicher Erlösung stehen.1 Religionsökonomisch lassen sich Ausweitung und Erlösung hingegen als konkurrierende Angebote auf einem zunehmend pluralisierten religiösen Markt betrachten. Der Fokus läge dann auf den Anbietern und den Kunden dieses Marktes und der Frage: Worin besteht die spezifische Attraktion der beiden konträren Heilsargumente und wie wird sie theologisch, rhetorisch und performativ hergestellt? In diesem Beitrag möchte ich den religionsökonomischen Impuls aufnehmen und beziehe mich dabei v. a. auf den sogenannten „Supply-side“-Ansatz, der von 1 Vgl.

Nagel, Europa.

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Religionsgemeinschaften als mehr oder weniger bewusst agierenden Anbietern auf einem religiösen Markt ausgeht und dadurch religiösen Wandel erklären will.2 Eine Kernannahme ist dabei die Deregulierung des religiösen Marktes durch die Auflösung staatskirchlicher Monopole. Sie führt zu einer Pluralisierung des Angebots und mithin zu einem größeren Wettbewerbsdruck. Konnten sich die Staatskirchen noch auf fantasielosen religiösen Einheitsprodukten ausruhen, zwingt die Wettbewerbssituation zu Produktinnovationen und aktivem Marketing. Die Ausrichtung der Produktpalette an den Kundenwünschen führt zu einer höheren Kundenzufriedenheit und damit zu einem gesellschaftlichen Bedeutungsgewinn von Religion an sich. Die verkürzte Zusammenfassung macht einige der Limitierungen des religionsökonomischen Ansatzes deutlich: So ist die Hoffnung auf Deregulierung und freien Wettbewerb selbst ein ökonomischer Glaubenssatz, das Credo des Neoliberalismus. Nichtsdestotrotz gibt es einige Hinweise darauf, dass die großen Kirchen in Deutschland diese Herausforderung angenommen haben und sich in der Tat um Strukturreformen und neue Angebote bemühen.3 Ungeachtet dieses innovativen Impulses ist die Anpassung des religiösen Angebots an die Wünsche der Verbraucher mit strategischen und normativen Herausforderungen verbunden: Auf der strategischen Ebene besteht die Gefahr, in kurzfristige Konjunkturen zu investieren und dabei den eigenen „Markenkern“ zu verlieren.4 Auf der normativen Ebene stellt sich die ekklesiologische Frage nach dem eigentlichen Auftrag der Kirche, die bei aller „Dauerreflexion“5 doch auch Halt und Anker sein soll und insoweit der Interessenlage ihrer Mitglieder ein Stück weit entzogen ist. Eine weitere Überlegung, die für die Analyse der Heilsargumente „Ausweitung“ und „Erlösung“ bedeutsam ist, hat Peter L. Berger in seinem wissenssoziologischen Entwurf „Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft“6 vorgelegt. Für Berger führt religiöse Pluralisierung und die damit verbundene „Marktlage“ zu einem Plausibilitätsverlust der je einzelnen Wahrheitsansprüche und mithin zu religiösem Relativismus und der warenförmigen Zurichtung von Religion. Unter dem Primat des Verbraucherwillens wird das religiöse Angebot immer weiter vereinheitlicht, was die Anbieter zu Abgrenzungs- und Differenzierungsbemühungen zwingt. Berger verdeutlicht diese Spannung zwischen Standardisierung und Differenzierung anhand von konfessionellen Unterschieden: „Der fruchtbare Schoß der pluralistischen Situation hat jedoch nicht nur das ‚Zeitalter des ökumenischen Geistes‘, sondern auch das der ‚Wiederentdeckung des konfessionellen 2 Vgl. Stark/Iannaccone, Supply-Side Reinterpretation; Bruce, Supply-Side Model; Finke/ Iannaccone, Supply-Side Explanations. Für eine Analyse der Nachfrageseite vgl. Rakow, Religious Branding. 3 Vgl. Karle, Kirche im Reformstress. 4 Vgl. Nagel, Marktförmige Religion. 5 Vgl. Schelsky, Dauerreflexion. 6 Vgl. Berger, Dialektik.



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Erbes‘ geboren, zwei Früchte, die sich gegenseitig auszuschließen scheinen. […] Die ‚Ausgleichsbewegung‘ verdankt ihr Entstehen einem Bedürfnis nach Differenzierung von Nebensachen angesichts der standardisierten Hauptsache. Einfacher ausgedrückt: Wenn Gruppe A nicht mit Gruppe B verschmilzt, obwohl beide Produkte auf einen Nenner gebracht worden sind, muss etwas getan werden, damit die Verbraucher sie überhaupt unterscheiden und zwischen ihnen wählen können.“7

Sind die Ausweitung des Lebens in der Welt und die Erlösung von der Welt also zwei „Nebensachen“ und wenn ja: Was ist dann die Hauptsache? Ich möchte im Folgenden Bergers Ansatz einer konfessionellen Dialektik aufgreifen und empirisch auf innerkonfessionelle Unterschiede beziehen. Dazu greife ich auf zwei Fallbeispiele aus den USA zurück, die beide im evangelikalen, genauer: im Lager der Southern Baptists, anzusiedeln sind – und sich doch in ihren Heilsvorstellungen diametral unterscheiden: Joel Osteen betreibt die Lakewood Church in Houston, Texas, eine sogenannte Megachurch mit fast 17.000 Plätzen. Seine Gottesdienste werden in die ganze Welt übertragen und seine zahlreichen Ratgeberbücher finden reißenden Absatz. Osteen predigt ein Wohlstandsevangelium (Prosperity Gospel), in dem Reichtum, Gesundheit und ein harmonisches Familienleben als Ausdruck göttlichen Wirkens im Hier und Jetzt gelten.8 Exemplarisch für ein weites Feld von Kritikern stelle ich ihm Paul Washer gegenüber, der in seinen Bußpredigten zur umfassenden Abkehr von der Welt aufruft und ein prophetisches Leben in der Nachfolge Christi als einziges Mittel zur Erlösung ansieht. Anders als Osteen steht Washer keiner eigenen Gemeinde vor, sondern betreibt die HeartCry Missionary Society, ein Missionswerk, das v. a. in Südamerika aktiv ist. Meine empirische Analyse stützt sich auf zwei Arten von Internetquellen, audiovisuelle Mitschnitte von Predigten und Zuschauerkommentare. Die zentrale Forschungsfrage lautet dabei: Worin besteht die Attraktion der Heilsargumente „Ausweitung“ und „Erlösung“ und wie wird sie theologisch, rhetorisch und performativ hergestellt? Die unterschiedlichen Quellenarten versprechen darüber auf verschiedenen Ebenen Aufschluss. Predigtmitschnitte dokumentieren nicht nur die Predigtinhalte, sondern auch ihre performative und rhetorische Gestaltung. Um dieses multimediale Gesamtpaket in der empirischen Darstellung adäquat abzubilden, greife ich zum einen auf Auswertungsstrategien der Film- und Bildanalyse zurück9 und setze zum anderen auf eine dichte Beschreibung ausgewählter Szenen10. Während Predigten die religiöse Angebotsseite repräsentieren, bringen Zuschauerkommentare die Endverbraucher zum Sprechen und ermöglichen durch wechselseitige Bezugnahmen eine interaktive Diskussion. Für die Auswertung dieser vernetzten und zumeist sehr prägnanten Einlassungen bieten sich sequenzanalytische Methoden an.11 7 

Berger, Dialektik, S. 140 f. Vergleiche hierzu auch den Beitrag von Peter Zimmerling in diesem Band. 9 Vgl. Petermann, Fotografie- und Filmanalyse; Dunlop/Richter, Visual Methods. 10 Vgl. Geertz, Thick Description. 11 Vgl. Reichertz, Objektive Hermeneutik. 8 

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Im folgenden Abschnitt gehe ich von einer dichten Beschreibung der Predigtperformanz von Osteen und Washer aus und unternehme eine vergleichende Betrachtung der Predigtinhalte und Argumentationsmuster. Im dritten Abschnitt arbeite ich anhand ausgewählter Zuschauerkommentare heraus, wie die Kunden auf dem religiösen Markt die Attraktion der beiden Heilsbotschaften begründen. In der Schlussbetrachtung fasse ich die wesentlichen Erkenntnisse zusammen und ziehe ein vorläufiges Fazit.

2.  Leben im Jetzt vs. Zorn Gottes. Attraktionsstrategien zwischen Ausweitung und Erlösung Im Jahr 2004 veröffentlichte Joel Osteen ein 320-seitiges Buch mit dem Titel „Your Best Life Now: 7 Steps to Living at Your Full Potential“, das sich über ein Jahr auf der Bestseller-Liste der New York Times behaupten konnte. Drei Jahre später legte er mit dem Band „Become a Better You: 7 Keys to Improving Your Life Every Day“ noch einmal nach. Die Botschaft beider Bücher ist klar: Es geht um die Verbesserung des eigenen Lebens im Hier und Jetzt und wie man sie erreichen kann. Die Attraktion von Osteens Angebot lässt sich an einigen beeindruckenden Zahlen ablesen: Seine Bücher wurden in 17 Sprachen übersetzt und millionenfach gekauft, seine Predigten in der Lakewood Church ziehen pro Woche mehr als 43.000 Besucher an, hinzu kommen ca. zehn Millionen Menschen in aller Welt, die den Gottesdienst im Fernsehen verfolgen. Was steht hinter diesen Zahlen? Zunächst einmal ein straff durchorganisiertes Unternehmen. Die Lakewood Church bietet eine Fülle von Angeboten vom modernen Katechismus in der sogenannten „Foundations Class“ bis hin zu kostenloser Unterstützung bei der Steuererklärung, Kinderbetreuung inklusive. Das amerikanische Wirtschaftsmagazin Forbes bezifferte das jährliche Budget der Kirche mit 70 Millionen US‑Dollar.12 Doch der Erfolg von Osteen und der Lakewood Church ist nicht nur eine Sache von Zahlen, er beruht vielmehr auf einer charakteristischen Mischung aus Prosperity Gospel und popkultureller Inszenierung. Um dieses Arrangement zu erhellen, präsentiere ich im Folgenden eine dichte Beschreibung von Osteens Predigtevent „Explosive Blessings“.13 Das gut 32 Minuten lange Predigtvideo beginnt mit einem Werbespot: Es ist sechs Uhr früh, ein Wecker klingelt, und eine Frau wie du und ich beginnt ihren Tag. Im Morgenmantel bereitet sie ein gesundes Frühstück zu, schneidet frische Äpfel und Melonen in kleine Stücke, um sie dann besonnen, Gabel für Gabel, zu verzehren. Nebenher blättert sie konzentriert in einem Buch, ver12 http://www.forbes.com/2009/06/26/americas-biggest-megachurches-business-megachurches_slide_2.html. 13  Nur noch als Audiomitschnitt verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=q_ p8wP8LeiQ&t=4s.



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mutlich der Bibel. Im Hintergrund das Versprechen: Wer heute anfängt, sein Leben zu verändern, der lebt morgen „stronger, healthier and happier“. Um diese „unglaubliche Veränderung“ („incredible change“) ins Werk zu setzen, offerieren Joel Osteen und seine Frau Victoria ihren gemeinsamen Ratgeber „Rise and Shine“, der in neun Schritten zu einer positiven Lebenshaltung und göttlichem „Empowerment“ verhelfen soll. Die nächste Einstellung zeigt Joel und Victoria in ihrem heimischen Wohnzimmer, ein glückliches Middle-ClassPaar, im Hintergrund eine altmodische Lampe und ein goldener Bilderrahmen über einem Kaminsims. Abwechselnd erläutern die beiden die Macht positiven Denkens über unser Leben, während der eine spricht, nickt die andere nachdenklich. Die Adresse ist persönlich, als wäre man ein Gast im Hause Osteen. Joel, im anthrazitfarbenen Anzug mit violetter Krawatte, blickt dem Zuschauer in die Augen und sagt: „I hope you know how much we love you, we pray for you every single day, we’re believing for God’s very, very best in your lives.“ Szenenwechsel: Man blickt von den oberen Rängen in die Lakewood Church. Auf mehreren Ebenen sind die 17.000 Plätze wie in einem modernen Amphitheater angeordnet, ein Kameraschwenk macht deutlich: Die Kirche ist bis auf den letzten Platz belegt. Ein weiterer Schnitt bringt die Bühne ins Bild. Über die Köpfe der vorderen Zuschauer hinweg sieht man Joel Osteen lässig neben einem frei stehenden Pult stehen, die Fingerspitzen aneinander gelegt. Die Einstellung erweckt den Eindruck von Nähe und Vertrautheit, als würde man in einem normalen Kirchenschiff sitzen. Ein Kreuz ist nicht zu sehen, dafür ein Messingornament auf dem Pult mit einer stilisierten Flamme, gerahmt von einem Kreis. Im Hintergrund ein blauer Vorhang – und eine monumentale Metallinstallation in Form der Weltkugel. Dann wieder der persönliche Kontakt: Die Kamera nimmt Osteen ins Visier, bis er den ganzen Bildschirm ausfüllt. Die Begrüßung ist persönlich: „We love you and we know that God has great things in store for each one of you. If you’re ever in our area, please stop by and be a part of one of our services. I promise, we’ll make you feel right at home“. Nach diesen Eingangsworten sieht man Osteen in der Rückansicht, jetzt erst werden die riesigen Ausmaße des umgebauten Sportstadions deutlich. Hoch und höher ziehen sich die Ränge, bis die einzelnen Zuschauer nur noch als farbige Punkte zu erahnen sind. Osteen beginnt mit einem Witz über einen strengen Pastor, der einen sporadischen Kirchgänger ermahnt: „Sir, you need to join the army of the Lord.“ Der Angesprochene entschuldigt sein seltenes Erscheinen mit Bauernschläue; er sei eben im Geheimdienst des Herrn („secret service of the Lord“) tätig. Noch in das allfällige Gelächter hinein folgt nahtlos das zentrale liturgische Element des Gottesdienstes, die Kamera blickt nun wieder von oben auf das Geschehen, Osteen ist kaum zu sehen, aber seine Stimme erfüllt den Raum: „All right, hold up your Bibles, say it like you mean it: This is my Bible. I am what it says I am, I have what it says I have, I can do what it says I can do. Today I will be taught the word of God. I boldly confess: My mind is alert, my heart is receptive, I will never be the same – in Jesus’ name. God bless you.“ Die Gemeinde hält ihre Bibeln in die Luft und spricht enthusiastisch mit, manche

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Teilnehmer blicken zur Decke des Stadions empor. Nach dieser gemeinsamen Bekundung nehmen die Besucher Platz und die Predigt beginnt. Das Thema heute: „Explosive Blessings“. Osteen, jetzt wieder in Großaufnahme, führt das Konzept ein. „Explosive blessings (are) blessings that thrust you to a new level“, den göttlichen Schub veranschaulicht er durch eine werfende Handbewegung. Wiederkehrende Beispiele sind eine unerwartete Erbschaft, die plötzliche Wertverdopplung der eigenen Immobilie oder die Auflösung eines nicht tragbaren Schuldentitels. Diese Beispiele werden in der Folge mit konkreten Fallgeschichten veranschaulicht, die Osteen in der Form persönlicher Anekdoten erzählt: „I know this couple …“: Ein Paar hat eine herzkranke Tochter, die für 400.000,- Dollar operiert werden muss. Die Eltern, ein Polizist und eine Lehrerin, stellen sich schon darauf ein, den Rest ihres Lebens diese Schulden zurückzuzahlen – da ruft eines Tages das Krankenhaus an und erklärt alle Kosten für erlassen, die beiden erhalten sogar das bereits gezahlte Geld zurück. Die Gemeinde klatscht und jubelt. Es folgen weitere Geschichten, darunter auch eine von Joel und Victoria selbst. Nachdem sie ein Grundstück gekauft hatten, wurden die Bebauungspläne geändert, sodass sie die Hälfte der Immobilie zum doppelten Preis verkaufen konnten. Gott sei gepriesen! Es wird deutlich: Explosiver Segen ist „sudden and widespread“, unerwartet, übernatürlich und immens jenseits aller Berechenbarkeit. Die biblische Begründung dafür findet Osteen bei Paulus: „He might show the immeasurable, limitless, surpassing greatness of His favor“ (Eph 2, 7). Seine Interpretation dieser unermesslichen Gnade ist radikal immanent: Gottes Gnade zeigt sich in konkreten und unerwarteten Zuwendungen des Lebens: Entschuldung, Heilung, Beförderung, Gewinn. Transzendenz kommt nur zur Sprache, insoweit sie für das Hier und Jetzt relevant ist. So ermahnt Osteen seine Zuhörer, sie sollten sich von der globalen Finanzkrise nicht entmutigen lassen. Die irdische Wirtschaft mag in der Krise stecken, aber: „the economy in heaven is not in recession, it’s doing just fine. As long as we stay connected to the divine, to the true and living God […] we are connected to a supply line that will never run dry“. Das Bild einer unerschöpflichen himmlischen Nachschublinie macht deutlich, wie Osteen das Jenseits in den Dienst des Diesseits stellt. Performativ unterstreicht er seine Äußerungen zur himmlischen Wirtschaftslage, indem er immer wieder mit dem Zeigefinger nach oben deutet. Noch deutlicher wird die streng immanente Stoßrichtung im weiteren Verlauf der Predigt. Osteen meditiert über das Jesaja-Wort: „And I will give you the hidden riches found in secret places“ (Jes 45,3). Die versteckten Reichtümer werden materialistisch als Bodenschätze gedeutet, die unter dem eigenen Grund und Boden schlummern, oder aber als andere geldwerte Potentiale, etwa lukrative Geschäftsideen, die nur auf ihre Realisierung warten: „God knows where all the good deals are. He knows where all the oil, the gold, the diamonds are buried. God’s the one that put them there.“ Der Aspekt der göttlichen Bestimmung, der bei Jesaja deutlich anklingt („auf dass du erkennest, dass ich, der HERR, der Gott Israels, dich bei deinem Namen genannt habe“, Jes 45,3),



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wird in einen Appell umgemünzt: Raff dich auf, nutze deine Chancen! Es folgt eine vielleicht typisch texanische Geschichte über ein befreundetes Paar, das auf eine Eingebung hin ein Grundstück gekauft hat, von dem aus später eine große Ölbohrung vorgenommen wurde, und ein weiterer Bericht über einen Farmer, „ein Freund meines Vaters“, dem Gott im Traum einen neuartigen Pflug gezeigt hat. Er packte die Gelegenheit beim Schopf und wurde ein äußerst erfolgreicher Unternehmer. Hier wird deutlich, wie Osteen die kursorischen Einzelschicksale in eine persönliche Ansprache ummünzt: Zunächst einmal handelt es sich immer um „Bekannte“ oder „Freunde“, es wird also persönliche Nähe suggeriert. Darüber hinaus sind die Akteure in Osteens Geschichten Leute wie du und ich. Der erfolgreiche Farmer war ursprünglich „just an ordinary person, he didn’t have a college degree, he didn’t seem to be super-talented“, der Erfolg ist also offenbar nicht an besondere Qualifikationen geknüpft, sondern allein an göttliche Vorsehung. Schlussendlich bettet Osteen die unterschiedlichen Erfolgsgeschichten in eine Art prophetische Vision ein: „In the coming days there’s going to be a transfer of wealth. There is going to be a major shifting of large amounts of resources, large amounts of finances back to God’s people.“ Die Zukunfts-Formel „in the coming days“ spielt mit biblischen Prophezeiungen vom Himmlischen Jerusalem und der baldigen Erlösung, verweist dann aber auf eine Art kosmischen Länderfinanzausgleich zugunsten der von Gott Erwählten. Den biblischen Beleg dafür findet Osteen in Sprüche 13,22: „The wealth of the ungodly finds its way eventually into the hands of the righteous, for whom it has been laid up for.“ Im Vordergrund stehen hier die dualistische Unterscheidung zwischen Gottlosen und Gerechten und die Vorstellung einer Heilsökonomie als Nullsummenspiel: Da irdische Güter direkter Ausdruck göttlicher Gnade und zugleich endlich sind, muss der Saldo immer konstant bleiben, sprich: Was dem einen gegeben wird, wird dem anderen genommen. Osteen verfolgt diese Implikation allerdings nicht weiter, sondern hebt v. a. auf die Erwählung ab: Alle guten Dinge sind schon bereitgestellt („laid up for“) und tragen bereits die Namen der Erwählten („they have your name on it“). Gott wird dabei als eine Art Investor porträtiert, der seine Ressourcen von den Menschen abzieht, die sich nicht um seine Belange kümmern, und sie jenen zuschlägt, die sein Reich voranbringen („advance His Kingdom“). War die Predigt vorher v. a. appellativ, steht hier die Erwartung im Vordergrund: Nicht nur sind die irdischen Segnungen namentlich ausgezeichnet, sie „suchen“ sogar aktiv nach ihren Trägern („something is looking for you, something is trying to find you“) und werden sie finden, sofern sie Gott ehren und ihre Mitmenschen unterstützen. Der Gottesdienst endet mit einem charismatischen Segen: Osteen schließt die Augen, hebt seine rechte Hand und segnet die Gemeinde mit den Worten „Let me declare it over you: you’re going to see an explosion of God’s goodness. It’s going to be sudden widespread increase […]. It’s going to thrust you to a level higher than you ever even dreamed of. I believe it and declare it over each one of you in the name of Jesus and if you receive it, can you say Amen?“ Amen-Rufe und donnernder Applaus erheben sich und die Kamera schwenkt von Osteen auf

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die Ränge des ehemaligen Stadions. An diesen Sprechakt schließt sich noch eine missionarische Einladung „to make Jesus the Lord of your life“ in Form eines Gebets an: „Lord Jesus, I repent of my sins. Come into my heart, I make you my Lord and Saviour.“ Begleitend setzt die Schlussmusik ein und ein langsamer Schnitt führt den Fernseh-Zuschauer erneut zu dem Werbespot vom Beginn … Es gibt kaum eine Überleitung, die auf den inhaltlichen und ästhetischen Bruch zwischen Osteens Wohlstandsevangelium zu den Bußpredigten Paul Washers angemessen vorbereiten könnte, daher, sozusagen als Zwischenspiel, ein paar biographische Hintergründe: Osteen wurde im Jahr 1963 als viertes von fünf Kindern geboren, sein Vater John hat als Southern-Baptist-Pastor die Lakewood Church aufgebaut. Die verfügbaren „hagiographischen“ Darstellungen beschreiben Joel als jemanden, der lange Jahre im Hintergrund gewirkt und bis zum Tod seines Vaters nie gepredigt hat, um dann seine Berufung zum Prediger zu entdecken, und stehen damit in der Kontinuität prophetischer Berufungsgeschichten. Eine formale theologische Ausbildung hat Osteen nach eigenem Bekunden nicht genossen. Nicht nur in dieser Hinsicht unterscheidet er sich fundamental von Paul Washer: 1961 geboren, soll sich Washer als junger Mann zunächst für ein Studium der Rechtswissenschaften eingeschrieben haben, um dann, nach einem Erweckungserlebnis, Theologie am Southwestern Baptist Theological Seminary zu studieren. Nach seinem Master of Divinity war Washer gute zehn Jahre als Missionar in Südamerika tätig und steht seit seiner Rückkehr in die USA der HeartCry Missionary Society mit Sitz in Radford vor. Neben augenscheinlichen Parallelen wie der Verwurzelung im religiösen Milieu der Southern Baptists, die u. a. in einer religiösen Erweckung zum Ausdruck kommt, unterscheiden sich die Biographien von Washer und Osteen in wesentlichen Punkten: Während Washer auf eine akademisch-theologische Ausbildung und Missionserfahrungen in Entwicklungsländern zurückgreift, war Osteen unter der Ägide seines Vaters viele Jahre lang für das Fernsehprogramm der Lakewood Church zuständig und ist von daher mit popkulturellen Inszenierungen bestens vertraut. Um die spezifische Attraktion von Washers Predigten zu veranschaulichen, greife ich auf eine Predigtaufzeichnung mit dem Titel „Paul Washer – Shocking Message“ zurück, die unter dem Label seiner Missionsgesellschaft firmiert.14 Die Predigt präsentiert sich ähnlich wie bei Osteen mit einem technisch aufwändigen Vorspann: Aus dem Universum blickt der Zuschauer auf eine animierte Weltkugel, die zunächst zentral im Bild ist und sich dann, in rasender Kamerafahrt, mehr und mehr entfernt. Dazu ertönt düstere Musik mit Trommeln, Flöten und Effekten, die an Filmmusik erinnern. Nachdem das Logo der HeartCry Missionary Society eingeblendet worden ist, endet der Vorspann eher abrupt, es folgen zwei Informationstafeln „HeartCry Films Presents: Paul David Washer“ und „2002 Youth Evangelism Conference“, im Hintergrund liegt bereits der surrende Ton des angeschalteten Mikrofons ohne Redner. 14 http://www.youtube.com/watch?v=uuabITeO4l8.



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Die Aufnahme selbst ähnelt gestalterisch der Predigt von Osteen: Zunächst wird in die Weiten des Saales hineingefilmt, Washer steht weit entfernt auf einer Bühne, hinter ihm eine Gitarre und Schlagzeug, in den Rängen sitzen uniformiert wirkende Zuschauer mit weißen Hemden. Freilich ist die technische Gesamtpräsentation eine andere. Kein gestochen scharfes Bild, kein wohlausgesteuerter Ton und keine rasanten Kamerafahrten, stattdessen überwiegt eine amateurhaft dokumentarische Optik, die den Prediger in einer starren Frontalansicht zeigt: Washer steht freihändig vor seinem provisorischen Predigtpult, ein Mikrofon in der Hand. Er trägt ein hellbraunes Hemd und eine beige Hose und bedient sich einer gestenreichen Sprache. Wo Osteen allerdings immer wieder die Hand gen Himmel hob, deutet Washer häufig mit dem Finger ins Publikum. Seine Vorrede wirkt nicht werbend, sondern nachdenklich und introvertiert: „I preach as a dying man to dying men – and women. […] And I will tell you things that make you so angry with me. And I’ll tell you things that you will deny.“ Als Höhepunkt der prophetischen Inszenierung stellt Washer gleich zu Beginn die (rhetorische) Vertrauensfrage: „Is this man before us a false prophet? Or is he telling us the truth?“ Im ersten Fall müsse er in der Hölle braten, im zweiten Fall gelte es, seine Worte als direkt von Gott inspiriert zu betrachten und sein Leben an dieser göttlichen Wahrheit auszurichten. Es folgt ein Eingangsgebet, das Washer mit geschlossenen Augen und nach unten gewandtem Blick mit brüchiger Stimme spricht. Gott, so der Tenor, möge die versammelten Jugendlichen aus ihrem Alltagstrott herausreißen und ihre Herzen zur Reue und für die biblische Wahrheit bereit machen. An dieses Gebet schließt sich eine längere Schriftlesung aus dem Matthäus-Evangelium an. Dabei tritt Washer hinter sein Pult und lässt den kontemplativen Ton hinter sich. Mit erhobener Stimme und ohne Unterbrechung liest er einen längeren Abschnitt vor: die enge Pforte, die falschen Propheten, der schlechte Baum, der abgehauen und ins Feuer geworfen wird und die falschen Anhänger, die Gott nie gekannt hat; diese Themen hebt Washer rhetorisch besonders heraus. Nach der Lesung folgt nahtlos die Auslegung, für die Washer wieder hinter seinem Pult hervortritt. Sie beginnt mit einer klaren Unterscheidung: „I’m not troubled in my heart about your self-esteem. I’m not troubled in my heart about whether or not you feel good about yourselves […] or whether or not your checkbook is balanced. […] There’s only one thing that troubled me all throughout the morning, and this is this: Within a hundred years, a great majority of people in this building will possibly be in hell. And many who even profess Jesus Christ as Lord will spend an eternity in hell.“

Es ist das barocke Motiv der Bach-Kantate, das hier wiederkehrt: Die Furcht vor der ewig währenden Höllenpein, gepaart mit einer konkreten Nah­ erwartung („within a hundred years“). Die Rede ist performativ und inhaltlich adressatenbezogen: Zum einen deutet Washer bei seiner Höllenbotschaft immer wieder ins Publikum, als wollte er Dartpfeile auf die Anwesenden werfen, und zum anderen spricht er seine Zuhörer ganz gezielt als bekennende Christen an.

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In der Folge wendet sich Washer scharf gegen das „Amerikanische Christentum“, das stärker in einer „gottlosen Kultur“ als im „Wort Gottes“ verankert sei. Er nimmt dabei die Außenperspektive des weitgereisten Missionars ein und geißelt die „Ketzerei“ der amerikanischen Kirchen: „I want you to know that the greatest heresy in the American evangelical and protestant church is that, if you pray and ask Jesus Christ to come into your heart, He will definitely come in.“ Der wahre Christ wählt nicht den Weg der Welt, sondern den Weg durch die enge Pforte, der hienieden schmerzhaft ist, und doch die einzige Möglichkeit, der ewigen Verdammnis zu entgehen. In diesem Zusammenhang kommt es zu einem bemerkenswerten Austausch mit dem Publikum: Washer betont die zentrale Bedeutung von Sünde und Reue („repentance“) und fordert enthusiastisch eine Abwendung von der Welt nach dem Vorbild Christi: „desire not to be like Britney Spears, not to be like the world, and not to be like the great majority of American Christians, but to be like Jesus Christ“. Den aufbrandenden Applaus lässt Washer abklingen und setzt nach: „I don’t know why you’re clapping. I’m talking about you. I didn’t come here to get amens. I didn’t come here to be applauded.“ Diese Zurückweisung ist Teil einer Strategie der prophetischen Selbstlegitimierung, die in der Predigt immer wieder aufscheint: Der Prophet gilt nichts im eigenen Land, weil er unangenehme Wahrheiten ausspricht. Dabei sind es paradoxerweise gerade die Publikumsbeschimpfungen, die Washers Botschaft attraktiv machen, denn sie enthalten das Versprechen, zu einer „ausgewählten“ christlichen Avantgarde zu gehören. Anders als Osteen positioniert sich Washer klar in der Lehre der Southern Baptists und tadelt die Aufweichungstendenzen, die sich dort seiner Meinung nach in den letzten 50 Jahren gezeigt haben: „As a denomination, we have always told people what Jesus told people: I am the way, the truth, and the life, and no one comes to the Father except through me.“ Daraus ergeben sich weitreichende Schlussfolgerungen zum Wesen Gottes: „You say: ‚Now, wait a minute. God doesn’t hate anybody. God is love.‘ No, my friend. You need to understand something. Jesus Christ taught, the prophets taught, the apostles taught this – that apart from the grace of God revealed in Jesus Christ our Lord, the only thing left for you is the wrath, the fierce anger of God because of your rebellion and your sin.“

Für Washer sind der göttliche Zorn und die göttliche Liebe indes kein Widerspruch, sondern Teil eines zutiefst dualistischen Gottesbildes: „I tell you God must hate because God is love. You see, I love children, therefore I hate abortion. If I love that which is holy, I must hate that which is unholy.“ Diese Heiligkeit steht in einem diametralen und unvereinbaren Widerspruch zur Welt und ihren falschen Freuden. In Washers rigidem Weltbild ist kein Platz für sogenannte „carnal Christians“, die sich (mit 1Kor 3,1) auf die körperliche Verfassung des Menschen berufen und damit z. B. Drogen oder vorehelichen Sex rechtfertigen: „Everything that the world does, they do, and it’s appropriate; it’s okay. My friend, that’s not Christianity. They’re not in danger of losing their reward. They’re in danger of hell. They know not God.“



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Der letzte Teil der Predigt kreist, ähnlich wie bei Osteen, um Fragen von Erwartung und Erwählung. Während Osteen allerdings das Bild einer himmlischen Nachschublinie entwirft, die segensreich vom Reich Gottes in unsere Welt hineinwirkt, ist das Heil für Washer prinzipiell unverfügbar und kann auch durch Propheten weder zugesagt noch gar charismatisch vermittelt werden: „One of the greatest distinguishing marks of a false prophet is that he will always tell you what you want to hear“. Wie aber kann man unter diesen Umständen wissen, ob man erlöst ist (nicht „wird“, denn Erlösung und Erwählung sind bei Washer eng verbunden)? Wenn es eine religiöse Autorität bestätigt? Wenn man ein Gebet gesprochen hat? Wenn man sich für gläubig hält? Für Washer liegt die Antwort in einer holistischen Lebensführung, die radikal weltabgewandt ist: „One of the greatest evidences that you have truly been born again is that God will not let you talk as your flesh might want to talk. God will not let you dress as the sensual world and the sensual church allows you to dress. God will not allow you to act like the world, smell like the world, speak like the world, listen to the things that the world listens to.“

Entsprechend fordert er am Schluss der Veranstaltung zur Formierung einer Avantgarde von „radical Christians“ (im Kontrast zu „carnal Christians“) auf und ermuntert die Teilnehmer, die Oberflächlichkeit ihrer christlichen Identität zu er- und zu bekennen. Die Predigt schließt mit einem kurzen und emotionalen Gebet. Aus der dichten Beschreibung der Predigten von Joel Osteen und Paul Washer ergeben sich auf der inhaltlichen, performativen und medialen Ebene sowohl signifikante Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten. Im folgenden Abschnitt möchte ich v. a. die Unterschiede noch einmal vergleichend herausarbeiten und dann den Blick auf die Nachfrageseite des religiösen Marktes richten: Welche Argumente führen die „Kunden“ für (und gegen) das eine oder das andere Angebot ins Feld? Und: Worin besteht die spezifische Attraktion der beiden Angebote?

3.  Verbraucher oder Zwischenhändler? Von der Eigenmächtigkeit der religiösen Kunden Ein Angebot auf dem religiösen Markt kann noch so ansprechend präsentiert sein und wird dennoch scheitern, wenn es an der Nachfrage der „Endverbraucher“ vorbei geht. Diese Feststellung mag trivial anmuten, hat aber weitreichende empirische Konsequenzen. Während sich die religionsökonomische Forschung bislang v. a. auf quantitative Studien zu religiösen Anbietern und ihrem Wettbewerb konzentriert hat (s. o.), möchte ich an dieser Stelle für eine qualitative, interpretative Analyse der Nachfrageseite votieren. Zu diesem Zweck stelle ich im Folgenden die beiden „Produktbeschreibungen“ noch einmal vergleichend gegenüber und erörtere dann eine Reihe von symptomatischen Reaktionen, die

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in Form von Kommentar-Threads dokumentiert sind. Die abgedruckte Tabelle enthält eine vergleichende Zusammenschau: Joel Osteen

Paul Washer

Zentrale Konzepte Ausweitung; Steigerung, ­Verbesserung, Umbruch

Erlösung; Hölle, Zorn Gottes, Sünde

Weltbezug

Gegenweltlich: Gott teilt dich nicht mit der Welt; Erlösung

Innerweltlich: Wohlstand, ­Gesundheit, Partnerschaft

Zeithorizont

Hier und Jetzt

Ewige Strafe

Appell

Erwarte! Ermögliche!

Bereue! Verkünde!

Leib/Körper

Heilung

Fleischliche Begierde

Beziehungen

Reziprozität

Bedingungslosigkeit

Kontext/Adressat

Megachurch, Fernsehsendung, religiöser Endverbraucher

Gemeindezentrum, religiöse Multiplikatoren

Gemeinsamkeiten

Defizitorientierung; Prädestination; Naherwartung

Die zentralen Konzepte der beiden Predigten stehen idealtypisch für die zwei Pole, die in der übergeordneten Problemstellung des vorliegenden Bandes angezeigt sind: Die Ausweitung oder Behauptung des endlichen Lebens in der Welt bzw. die Erlösung von der Welt. Das Wohlstandsevangelium von Osteen verspricht eine Steigerung und Verbesserung des Vermögens, der Gesundheit oder der sozialen Beziehungen. Als diesseitiger Ausdruck göttlichen Segens ist diese Ausweitung nicht graduell, sondern total im Sinne eines umfassenden Umbruchs der Lebensverhältnisse. Im Unterschied dazu kreisen Washers Predigten um den Zorn Gottes und die Sünde und Verdorbenheit des Menschen, die ihm ewige Höllenpein einbringen, wenn er sich mit der gottlosen Welt gemein macht. Der Weltbezug bei Osteen ist klar innerweltlich, insoweit das göttliche Wirken auf seine weltliche Wirkung reduziert wird, während Washer aus der außerweltlichen Perspektive auf das Jüngste Gericht und Höllenstrafen eine Forderung nach konsequent gegenweltlicher Lebensführung ableitet. Beide Prediger verbinden eine Naherwartung mit konkreten Appellen. Dabei liegt Osteens Zeithorizont ganz klar im Hier und Jetzt, Gottes Segen kommt „plötzlich“, wenn man ihn nur optimistisch genug erwartet. Anders Washer, der zwei unterschiedliche Zeithorizonte zugrunde legt und der begrenzten Lebensdauer der gottlosen Welt die soteriologische Ewigkeit gegenüberstellt. Daraus ergibt sich ein klassischer Appell zur Umkehr, solange noch Zeit ist. Charakteristisch ist auch der Körperbezug. Beide Prediger legen ein defizitorientiertes Verständnis des menschlichen Körpers zugrunde. Bei Osteen kreist dieses Verständnis um die Spannung von Krankheit und Heilung, während Washer den Körper als Sitz fleischlicher Begierden prinzipiell ablehnt. Ferner besteht ein fundamentaler Unterschied in der Auffassung von Beziehungen, seien es zwischenmenschliche Beziehungen oder das Verhältnis zwischen Mensch



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und Gott. Osteens Predigten gehen von einer grundsätzlichen Reziprozität aus: Wenn und insoweit ich meinen Mitmenschen Gutes tue, wird Gott es mir vergelten. Dabei erscheint Gott gelegentlich wie ein Geschäftspartner, der eine attraktive Rendite verspricht. Washer hingegen betont die Bedingungslosigkeit von Beziehungen. Der verdorbene Mensch hat Gott schlicht nichts anzubieten und ist darum voll und ganz auf seine Gnade angewiesen. Diese Gnade ist zwar bedingungslos, aber dennoch voraussetzungsreich, denn sie erfordert ein „heiliges“ Leben (s. o.). Neben diesen inhaltlichen Aspekten unterscheiden sich die Predigten im Hinblick auf ihren sozialen Kontext und Adressatenkreis. Osteens Gottesdienst richtet sich direkt an den religiösen Endverbraucher, der als Besucher der Lakewood Church oder als Fernsehzuschauer an einem christlichen Event teilnimmt. Im Unterschied dazu verfügt Washer nicht über eine eigene Kirche, sondern tritt als reisender Prediger in Gemeindehäusern auf. Seine Ansprachen richten sich häufig an christliche Multiplikatoren, etwa die Jugendpastoren im o. a. Fallbeispiel. Die vergleichende Zusammenschau macht deutlich, dass hier aus einem engen denominationalen Rahmen zwei ganz verschiedene religiöse Angebote hervorgegangen sind. Dabei greifen die Anbieter auf unterschiedliche Attraktionsstrategien zurück: Osteen setzt auf Niedrigschwelligkeit und eine gefällige ästhetische Gesamtpräsentation, seine Predigten versprechen praktische Lebenshilfe ohne übermäßigen Aufwand. Im Unterschied dazu wirbt Washer mit Hochschwelligkeit und der Exklusivität einer erlesenen Avantgarde radikaler Christen. Wie kommen diese Angebote bei den religiösen „Verbrauchern“ an? Um diese Frage zu klären, analysiere ich abschließend einige ausgewählte Zuschauerkommentare. Dazu greife ich auf ein weiteres Youtube-Video mit dem sprechenden Titel „Joel Osteen vs. Paul Washer“ zurück, in dem Ausschnitte eines CNN‑ Interviews mit Osteen und einer Predigt von Washer in entlarvender Absicht zusammenmontiert worden sind.15 Das Video bietet sich zur Analyse von Kommentaren an, da es beide Angebote direkt vergleicht und somit die Anhänger beider Prediger zu Einlassungen herausfordert. Dies drückt sich auch in der beeindruckenden Zahl von 757.700 Aufrufen und 3.373 Zuschauerkommentaren aus. Nach Angaben von Youtube kommen die meisten Betrachter aus den USA, Südafrika und Kenia, sind männlich und zwischen 35 und 55 Jahren alt. Die offenkundige Botschaft des Beitrags, Osteen als unchristlichen Wohlstandsapostel zu entlarven, wird in zahlreichen Anmerkungen aufgenommen. So kommentiert ein User mit dem deutschen Benutzernamen „unserRetterJesus“: „Joel Osteen another false prophet which lives in richness, which has a good live on this earth, allways well dressed, allways [sic] smiling, no suffering, no hate from the world … Something is wrong, this ist [sic] not the way the bible tells us, do you see it brother? Don’t follow him. Listen to Paul Washer, he loves you. And because of this he tells you the truth, that you don’t go to hell.“ 15  http://www.youtube.com/watch?v=528bu25A-eU&feature=fvwrel. kommentare sind seit einiger Zeit deaktiviert.

Die

Zuschauer-

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Es ist Osteens Weltzugewandtheit, die ihn in den Augen von Washers Anhängern diskreditiert. Der Kommentar macht sich dabei Washers Offenbarungsgestus zu eigen („do you see it brother“) und betont seine Wahrhaftigkeit, aus Liebe unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Ein anderer Nutzer wird noch deutlicher: „Olsteen [sic] is a FALSE PROPHET!!!!!!! All he preaches is feel good messages …. ALL TV PREACHERS ARE FALSE PROPHETS AND WILL LEAD YOU TO A DEVIL’S HELL.“ In dieser Polemik lassen sich zwei Aspekte unterscheiden: Zum einen wird Osteen dadurch diskreditiert, dass seine Botschaft zu einfach ist, um wahr zu sein („feel good messages“), zum anderen wird auf seine Rolle als Fernsehprediger verwiesen. Der Fernseher als Massenmedium steht hier in einem Widerspruch zur Exklusivität der christlichen Botschaft. Zudem verdeutlicht diese Einlassung einige Besonderheiten der gewählten Kommunikationsform: Der Kommentar wirkt eilig und impulsiv hingetippt, verzichtet weitgehend auf eine Argumentation und nutzt stattdessen durch Kapitalisierung die performativen Möglichkeiten der Schriftsprache. Andere Beiträger betonen eher Attraktionsdimensionen, die im Vorgehen oder der Person des Predigers liegen: „If you don’t preach line by line to the members how will they know? Most members don’t read their Bibles.“ Der Kommentar greift eine Aussage Osteens aus dem Interview auf, er würde die Bibel nicht Satz für Satz interpretieren. Im Umkehrschluss besteht Washers Attraktion darin, dass er die in diesem Statement angemahnte Lehrerrolle annimmt und sich minutiös am biblischen Text orientiert. Diese Textnähe wird auch von anderen Kommentatoren positiv hervorgehoben. So notiert eine Teilnehmerin, die durch häufige Beiträge mit teils aufwändigen theologischen Erwägungen hervortritt: „I think to put the prosperity interpretation on Deut 8:18 is eisegesis (putting your own meaning into the text) rather than reading from the text what it’s actually saying.“ Die Anmerkung nimmt Bezug auf den Versuch eines anderen Beiträgers, Osteens Wohlstandsevangelium biblisch zu erhärten – und erteilt ihm eine Absage. Die biblizistische Strenge Washers erscheint in diesem Licht nicht etwa als ein Mangel an exegetischer Raffinesse, sondern als weiterer Beleg seiner Authentizität und Unterordnung unter das Wort Gottes. Diese Unterordnung finden einige User auch in Washers Predigthabitus glaubwürdig verkörpert, wie der folgende Kommentar zeigt: „Washer is humble, broke, and Preacher against sin, for righteousness. all that matters to Paul is to keep people from hell. Osteen thinks that the gays, new age, Muslims are going to Heaven. That is untrue according to Scripture. One way to heaven=Jesus.“ Paul Washers teils introvertiert und abwesend wirkende Art zu predigen wird hier als Ausdruck von Bescheidenheit und Ernsthaftigkeit wahrgenommen. In Verbindung mit klaren Grenzziehungen verleiht sie ihm Überzeugungskraft, wie eine andere Beiträgerin vermerkt: „I love the conviction i [sic] feel and hear from Paul Washer.“ Auch wenn viele Kommentare direkt vergleichend auf Osteen und Washer Bezug nehmen, finden sich doch auch rein polemische Einlassungen in die eine oder andere Richtung. Eine wichtige Waffe im polemischen Arsenal



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gegen Osteen ist der Vorwurf des Okkultismus, der teilweise in regelrechten Verschwörungstheorien formuliert wird: „‚Heart of Hearts‘ is an expression widely used in the occult. Joel Osteen, as well as Rick Warren & many others are pushing once hidden Theosophist views into the mainstream, & most people don’t even notice.“ Der Hinweis knüpft an eine Formulierung an, die Osteen im Rahmen des CNN‑Interviews mehrfach gebraucht und die als verballhorntes Hamlet-Zitat im englischen Sprachraum durchaus gebräuchlich ist. Es ist die Verbindung aus dieser vermeintlichen Nähe zur Theosophie und seiner Nähe zur Welt, die Osteen satanischer Umtriebe verdächtig macht: „Did anyone notice the 666 handsign at 2:27 mins, pure demonic, Joel Osteen and all of these so called ‚preachers‘ all sold their souls, they all want to deceive the mass. Wake up people.“ Beide Zitate entwerfen das Bild einer „dämonischen“ Unterwanderung und verbinden dabei esoterisches „Geheimwissen“ mit Medienkritik und Offenbarungsrhetorik. Auch wenn der Zusammenschnitt „Joel Osteen vs. Paul Washer“ auf die Demontage Osteens abzielt, ergreifen doch einige Zuschauer für ihn Partei und geben auf diese Weise Auskunft darüber, was die Attraktion seines Wohlstandsevangeliums ausmacht. Dabei stehen theologische Erörterungen und Auslegungsfragen erwartungsgemäß im Hintergrund. Die Ausnahme von dieser Regel bildet eine hitzige Diskussion zwischen zwei Kommentatoren über die biblische Grundierung des Prosperity Gospel (s. o.). In diesem Zusammenhang notiert ein User, der im Kommentarthread immer wieder als agent provocateur auftaucht: „Prosperity in the sense of having more than you need – so you can give to others – is a very Biblical concept. I also think Duet [sic] 8:18 is very applicable to individual Christians. We just need more faith to believe on the promise.“ Wohlstand und Überfluss, so das Argument mit Dtn 8,18, sind legitim, insoweit sie im Angedenken an den göttlichen Bund und zum Wohle anderer verwendet werden. Auch vom Vorwurf der theologischen Fehlleitung spricht der Diskussionsteilnehmer Joel Osteen frei: „Osteen preaches very simple messages – centered around simple themes like ‚Jesus Loves you‘ ‚God is good God‘. [sic] God wants to bless his children. They are simple but they are based in the Bible.“ Osteens Fokus auf die Liebe und den Segen Gottes mag vereinfachend sein, sei darum aber nicht weniger biblisch. Neben diesen Gedanken zur Rechtfertigung irdischen Wohlstands werden vereinzelt eschatologische Argumente für Osteens Lehre angeführt: „The Jesus message as you call it is not that I am coming I am coming soon. He already came and did what He had to do and now it is up to you to do what he did. Grow up, educate yourself. Learn eschatology not what someone told you or a religious leader wants you to believe.“ Der drängenden Naherwartung Washers wird hier eine millenaristisch anmutende Geschichtsphilosophie entgegengehalten: Statt auf die Wiederkunft Christi zu hoffen, gelte es, das tägliche Leben an seinem Vorbild auszurichten („now it is up to you to do what he did“). Häufiger als solche (im weiteren Sinne) theologischen Räsonnements findet sich indes ein anderes Argument, um Osteen gegen die Polemik der Washer-

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Anhänger in Schutz zu nehmen: „Stop bashing your own Christian brother for it is causing more division among your brothers. I believe Pastor Joel Osteen convert more people to have a good relationship with Christ than you do Mr. Paul Washer.“ Washer wird hier direkt angesprochen und für die Zersplitterung eines als einheitlich gedachten Christentums verantwortlich gemacht. Als Grundlage dafür wird immer wieder 2Tim 2,23 angeführt: „But avoid foolish and ignorant disputes, knowing that they generate strife.“ Das Zitat berührt aber noch einen zweiten Aspekt, nämlich die Reichweite der Missionstätigkeit als Erfolgsmaßstab eines guten Predigers. Aus Sicht einer geeinten Christenheit muss der avantgardistische Ansatz Washers fragwürdig, ja gefährlich erscheinen, während die massenwirksame Einladung Osteens als Beitrag zur Revitalisierung des Christentums als Ganzem gesehen wird. Andere Kommentatoren heben weniger die globale Wirkung als vielmehr die individuelle Leistung von Joel Osteen hervor: „Preachers like Paul washer [sic] who has no other message than to put down other preachers like Osteen is [sic] obviously Demon’s instrument. The 7 steps to your Best Life Now has changed a lot of lives.“ Washers Abgrenzungsrhetorik wird hier der lebenspraktische Nutzen von Osteens Evangelium gegenübergestellt. Dabei kommt eine polemische Technik zum Einsatz, die weiter oben im umgekehrten Zusammenhang bereits angeklungen ist, nämlich die Dämonisierung des konkurrierenden Predigers als Instrument des Bösen. Dass Osteen in der Lage ist, solch konkrete Lebenshilfe zu leisten, verbinden viele Kommentatoren mit seinem Auftreten: „Joel Osteen seems optimistic and charismatic while Paul Washer looks sullen and weepy.“ In diesem Statement wird der Predigthabitus von Osteen und Washer direkt verglichen. Osteen wird als optimistisch beschrieben, Washer dagegen als düster und weinerlich. Während die Befürworter Washers seine Düsternis als Ausdruck von Ernsthaftigkeit begreifen (s. o.), sehen die Anhänger Osteens darin eine Schwäche und betonen das Charisma und die Überzeugungskraft ihres Predigers. Die religiöse Nachfrage ist also offensichtlich durch ganz unterschiedliche Bedürfnisse und Vorlieben strukturiert, die sich auf die Performanz des Predigers ebenso erstrecken wie auf seine Auslegungsmethodik und die Inhalte des Heilsversprechens. Interessanterweise wird dieser Aspekt von den Diskussionsteilnehmern ebenfalls benannt, wie die folgende Aussage deutlich macht: „Both Joel and Paul are actually correct. [sic] Nothing wrong with their ministries, but as body of Christ has different parts thus their functions, so Joel and Paul [sic] messages are distinct but they compliment [sic] each other. Some people live in lawlessness and need to hear Paul’s preaching, while others are born again christians [sic] who walk in narrow path (as what Paul quoted from the bible) and they need encouragement, words of faith, hope, etc.“

Mit dem starken Bild von Christi Leib und seinen verschiedenen Gliedern wird hier ein pluralistisches Verständnis christlicher Wahrheit begründet. Im Zentrum der Argumentation stehen dabei die individuellen Lebens- und Bedürfnis-



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lagen der religiösen Kunden. Es ist nicht verwunderlich, dass diese salomonische Lesart heftige Kritik von Washers Anhängern auf sich zieht: „[H]ere’s a question for you, please choose one and only one response: Christianity is primarily about A. Living our best lives now, being cancer free and very happy […] or B. Loving and serving Jesus no matter what, whether our cancer heals or lingers […]. Again, choose ONLY ONE‑A or B, and back it up with Scripture.“

In dieser rhetorischen Frage werden die beiden Angebote von Osteen und Washer noch einmal glasklar kontrastiert und eine Entscheidung eingefordert. Der Stein des Anstoßes scheint dabei eher die pluralistische Vision des Vorredners zu sein als sein Hinweis auf die Bedürfnisse der Gläubigen. Ist dies der Zwang zur Differenz, auf den Peter Berger in seiner Betrachtung zur Dialektik der konfessionellen Spaltung hingewiesen hat? Diese und andere Fragen werde ich in der nachfolgenden Schlussbetrachtung noch einmal aufnehmen.

Schlussbetrachtung Mein Anliegen in diesem Beitrag war eine religionssoziologisch-empirische Analyse der Verschiebungen in der Vorstellung eines nicht nur endlichen, sondern ‚ewigen‘ Lebens. Dazu habe ich eine religionsökonomische Perspektive eingenommen und zwei Anbieter auf dem religiösen Markt der USA einander gegenübergestellt, die idealtypisch für eine Ausweitung des Lebens in der Welt sowie eine Erlösung von der Welt stehen. Maßgeblich für die Auswahl der Fälle war ein Argument von Peter Berger zur Standardisierung bzw. Differenzierung religiöser Traditionen als Folge der religiösen Marktlage: Berger geht von einer grundsätzlichen Standardisierung des religiösen Angebots unter dem Primat eines einheitlichen Verbraucherwillens aus, auf die die Anbieter mit einer „Differenzierung von Nebensachen“ reagieren, um sich voneinander abzugrenzen. Während Berger v. a. auf interkonfessionelle Differenzen und Ähnlichkeiten abhebt, habe ich das Augenmerk auf innerkonfessionelle Diversität gelegt und zwei Fallbeispiele aus dem Spektrum der als konservativ geltenden texanischen „Southern Baptists“ ausgewählt. Die zentrale Forschungsfrage lautete dabei: Worin besteht die Attraktion der Heilsargumente „Ausweitung“ und „Erlösung“ und wie wird sie theologisch, rhetorisch und performativ hergestellt? Als erstes Ergebnis ist festzuhalten, dass die beiden Angebote neben einigen Gemeinsamkeiten eine Reihe tiefgreifender Unterschiede aufweisen, die sich nicht in bloßen „Nebensachen“ erschöpfen. Dazu gehören zunächst die zentralen Heilskonzepte: Während Joel Osteen mit großem Erfolg einen Prosperity Gospel in Verbindung mit konkreter Lebenshilfe vermarktet, setzt Paul Washer auf radikale Gegenweltlichkeit und die Attraktion einer exklusiven christlichen Avantgarde. Angesichts der augenscheinlichen Gefälligkeit von Osteens Versprechen einer quantitativen Ausweitung des irdischen Lebens mag die Zugkraft von Washers Bußpredigten überraschen. Der Blick auf die Nachfrageseite zeigt

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indes, dass es gerade seine Hochschwelligkeit und die Bewährungsdimension sind, die Washer glaubwürdig und attraktiv machen. Dahinter steht das Bild von einer Art Äquivalententausch: Etwas derart Kostbares wie das Reich Gottes kann nicht anders als teuer erkauft werden. Zweitens fällt auf, dass die Anhänger von Osteens Wohlstandsevangelium seltener auf theologische Argumente oder biblische Aussagen zurückgreifen, um seine Attraktion zu beschreiben. Wenn dies doch geschieht, dann meist in apologetischer Absicht, um Vorwürfe von Materialismus und Bibelferne zurückzuweisen. Stattdessen sehen sie, im Einklang mit der Prädestinationslehre des Prosperity Gospel, in Osteens Erfolgen als Prediger und Live Coach den Ausdruck seiner religiösen Dignität. Weitere Aufschlüsse über die Faszination von Osteens Gottesdiensten könnte eine umfassendere Analyse der Kommentardiskussion zu seinen Predigten erbringen, zumal er in dem hier verwendeten Zusammenschnitt nur als Interviewpartner, aber nicht als Prediger auftritt. Drittens ist festzustellen, dass es sich bei beiden Angeboten um globale religiöse Massenphänomene handelt, die eine große Bandbreite an Medien und Kommunikationswegen nutzen. Im Fall von Osteen und seiner Megachurch liegt das auf der Hand und gibt ein dankbares polemisches Thema für seine Gegner ab. Doch auch Washers Bußpredigten, die immer wieder auf die enge Pforte und die „radikale“ Minderheit der Erlösten abheben, sind paradoxerweise längst zu einer Massenware geworden. Eine wichtige Triebkraft dieser Ausweitung der verknappten Erlösung sind engagierte Anhänger, die sich von Washers Offenbarungsgestus inspirieren lassen und im Internet die Aussagen „wahrer“ und „falscher“ Prediger in entlarvender Absicht zusammenmontieren. Zugleich sucht Washer selbst die breite Öffentlichkeit, sei es durch reißerische Titel („Shocking Message“, s. o.) oder das Bemühen um eine professionelle Corporate Identity für seine Predigten unter dem Label der HeartCry Missionary Society. Viertens lassen sich – bei allen Unterschieden – einige zentrale Gemeinsamkeiten der beiden Anbieter ausmachen, die auf ihre Verwurzelung im Milieu der Southern Baptists hinweisen. Dazu gehört etwa ein defizitorientierter Blick auf den menschlichen Körper, der für Washer der Sitz weltlicher Begierden und für Osteen eine Quelle von Krankheiten sowie Gegenstand göttlicher Heilung ist. Auch eine mehr oder weniger ausgeprägte Naherwartung verbindet die beiden Prediger. Sie bezieht sich bei Washer auf das göttliche Gericht, in dem die Gerechten von den Ungerechten geschieden werden, und bei Osteen auf das „plötzliche“ Eintreten des göttlichen Segens im Hier und Jetzt. Schließlich finden sich in beiden Fällen dualistische Unterscheidungen, etwa zwischen Gottlosen und Gerechten (Osteen) bzw. in einem geradezu manichäistischen Bild des zugleich liebenden und hassenden Gottes (Washer). Fünftens und letztens wirft die vernetzte Analyse von Anbieter- und Nachfrageseite einige Fragen zu Bergers Verständnis von religiöser Pluralisierung und religiösen Märkten auf. So kann man die klare Unterscheidung zwischen im Wettbewerb stehenden religiösen Produzenten und konsumierenden Endkunden für das vorliegende Fallbeispiel nicht aufrechterhalten. Zwar lässt sich



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Washer als Teil einer innerbaptistischen Reform- und Gegenbewegung gegen den Prosperity Gospel verorten und nimmt immer wieder in Anspielungen auf Osteen Bezug, der eigentliche religiöse Wettbewerb scheint allerdings auf der Ebene der Anhänger stattzufinden, die somit weniger als „Verbraucher“ und vielmehr als Zwischenhändler oder Franchise-Nehmer zu kennzeichnen wären. In der Folge gilt es, das in der Religionsökonomie verbreitete voluntaristische Bild des religiösen Unternehmers, der seine Angebote strategisch und kenntnisreich platziert, zu überdenken.16 Die geschilderten Phänomene lassen sich mit religionssoziologischen Globalformeln wie „Pluralisierung führt zu Vitalisierung“ nicht adäquat einordnen. Die verwischende Grenze zwischen Anbietern und Kunden auf dem religiösen Markt lässt sich durchaus als Ausdruck einer Individualisierung und Privatisierung von Religion verstehen, die im Widerspruch zu postsäkularen Diagnosen einer neuen Öffentlichkeit religiöser Gemeinschaften zu stehen scheinen.17 Man kann darin allerdings auch einen Formenwandel religiöser Gemeinschaftlichkeit von lokal integrierten Gruppen hin zu translokalen Themen-Communities sehen.18 Diese erschöpfen sich nicht im abstrakten Bewusstsein eines geteilten Bekenntnisses oder gemeinsamer Werte, sondern beruhen auf der Globalisierung eines charismatischen Lehrer-Schüler-Verhältnisses und den dazugehörigen Abgrenzungsdiskursen. Schließlich, aber nicht zuletzt, nähren die hier verhandelten Fallbeispiele Zweifel an einer Verfallsgeschichte der zunehmenden „Verweltlichung“ des Christentums zulasten von Erlösungshoffnungen. Sie verweisen vielmehr auf die Gleichzeitigkeit von innerweltlicher Lebenshilfe und außerweltlicher Erlösung als attraktiven Heilsangeboten eigener Art.

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16  Eine profunde Reformulierung religionsökonomischer Ansätze hat Jörg Stolz vorgelegt, vgl. Stolz, Salvation Goods sowie Stolz, Entwurf einer Theorie. 17  Casanova, Public religions. 18 Vgl. Brüggemann/Hepp/Kleinen-von Königslöw, Transnationale Öffentlichkeit.

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Pfingstlich-charismatisches Christentum: Gott allein im Hier und Jetzt – Verlust von Vergangenheit und Zukunft? Peter Zimmerling Dass die Semantik der Erlösung als traditionelle religiöse Selbstbeschreibung des Christentums gegenüber Semantiken der Lebensbegleitung und eines innerweltlichen Heil- und Ganzwerdens zurückgetreten ist, lässt sich sowohl anhand einer Vielzahl jüngerer theologischer Veröffentlichungen als auch an der Ausrichtung der gemeindepraktischen Arbeit in vielen Kirchengemeinden derzeit unschwer erkennen. Menschen verbinden mit dem christlichen Glauben heute weniger die Hoffnung auf ein ewiges Leben als vielmehr Hilfe im Diesseits, in ihrer konkreten Existenz, ihren Lebensproblemen und ihren Krankheiten.1 Schon vor Jahren beschrieb der Tübinger systematische Theologe Eberhard Jüngel diesen Sachverhalt im Hinblick auf den Protestantismus kritisch-provokant wie folgt: „Als Kinder der Aufklärung haben wir inzwischen das Diesseits so sehr lieben gelernt, dass wir im Gefolge Ludwig Feuerbachs aus diesseitsblinden ‚Kandidaten des Jenseits‘ zu jenseitsvergessenen ‚Studenten des Diesseits‘ geworden sind. Die christliche Hoffnung auf ein Leben in Gottes kommendem Reich hat sich zum bloßen Interesse an einem Leben vor dem Tod ermäßigt.“2 In den folgenden Überlegungen möchte ich der Frage nachgehen, inwiefern der eben skizzierte Sachverhalt auch auf das pfingstlich-charismatische Christentum der Gegenwart zutrifft. Obwohl dieses in einer Reihe von Veröffentlichungen als die weltweit am schnellsten wachsende Frömmigkeitsbewegung der Gegenwart bezeichnet wird,3 hat es in der deutschen akademischen Theologie immer noch nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die ihm aufgrund seiner Bedeutung und Größe zukommen müsste. Meine These ist, dass gerade für die pfingstlich-charismatischen Bewegungen der Gegenwart die Ausrichtung der Spiritualität auf das Hier und Jetzt charakteristisch ist. Bestimmendes Movens ist die Sehnsucht, die Kraft des Geistes Gottes auf unterschiedliche Weise in der Gegenwart zu erleben. Im Zusammenhang mit einer besonders akzentuierten Pneumatologie ergeben sich daraus eine auffällige Erlebnisorientierung und die Dominanz präsentischer Eschatologie als wichtige Merkmale pfingstlich-charismatischen Christentums. Hierin liegt ein wesentlicher Grund für seine schon 1 Vgl.

Biser, Therapeutische Religion, S. 453 f. Jüngel, Leben nach dem Tod?, S. 31 f. 3  Vgl. dazu Barrett, World Christian Encyclopedia, Kap. 2. 2 

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länger zu beobachtende Attraktivität. Die global vernetzten und transnational agierenden Bewegungen4 tragen auf diese Weise dazu bei, die religiöse Semantik des Christentums auf das innerweltliche Heil- und Ganzwerden zu fokussieren. Diese These ist im Folgenden anhand einiger ausgewählter Aspekte pfingstlichcharismatischer Theologie und Spiritualität unter besonderer Berücksichtigung praktisch-theologischer Handlungsfelder zu entfalten. Zunächst soll eine kurze inhaltliche Bestimmung dessen vorgenommen werden, was unter charismatischem Christentum zu verstehen ist und welche verschiedenen Gruppen es gibt. Danach möchte ich die besondere pneumatische Orientierung charismatischer Theologie und Spiritualität und deren Auswirkung auf das Verständnis von Erlösung und Eschatologie herausarbeiten. Im Anschluss daran ist exemplarisch am pfingstlich-charismatischen Gottesdienstverständnis, an der Seelsorgekonzeption und an der Lehre vom Wohlstandsevangelium (‚Prosperity-Gospel‘) aufzuzeigen, welche Konsequenzen sich aus der Betonung des spontanen Geisteswirkens im Hinblick auf Eschatologie und Erlösung ergeben. Nach der Darstellung folgt in den einzelnen Kapiteln jeweils eine kritische Würdigung. Den Abschluss bildet ein zusammenfassender Ausblick.

1.  Weltweit eine Vielzahl von Kirchen, Gruppen und Bewegungen Zum pfingstlich-charismatischen Christentum gehört eine fast unüberschaubare Vielzahl von Kirchen, Gruppierungen, Bewegungen und sozial-diakonischen Einrichtungen in allen Erdteilen, wobei Lateinamerika, Afrika und Asien (hier besonders Südkorea) die Hauptverbreitungsgebiete sind.5 Um der Vielschichtigkeit des Phänomens Rechnung zu tragen, spreche ich durchweg von charismatischen Bewegungen im Plural. Trotz der unterschiedlichen Strömungen sind gemeinsame Wesenszüge pfingstlich-charismatischen Christentums zu erkennen, die es erlauben, die verschiedenen Bewegungen als ein zusammengehörendes Phänomen zu betrachten. Die charismatischen Charakteristika liegen vor allem im Bereich der Spiritualität: Man erwartet eine persönliche Erfahrung mit dem Heiligen Geist, betont die neutestamentlichen Charismen und pflegt Anbetung und Lobpreis als wesentliche Bestandteile des Gottesdienstes. Damit gehen gemeinsame theoretische Überzeugungen einher: Vor allem die Entdeckung eines besonderen Wirkens des Heiligen Geistes neben Jesus Christus, die Kritik an einem geschlossenen rationalistischen Wirklichkeitsverständnis und das Selbstverständnis, Teil eines eschatologischen geistlichen Aufbruchs zu sein, der weltweit und ökumenisch ist.

4 

Vgl. dazu im Einzelnen Fischer, Pfingstbewegung. Hollenweger, Handbuch der Pfingstbewegung; Burgess u. a., New International Dictionary. 5 Vgl.



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Innerhalb des pfingstlich-charismatischen Christentums lassen sich folgende Hauptströmungen ausmachen, die mehr oder weniger klar voneinander abgrenzbar sind: a) Die traditionellen selbstständigen Pfingstkirchen, hervorgegangen aus einem afroamerikanischen Frömmigkeitsaufbruch 1906 in Los Angeles, der theologisch im Kontext der methodistischen Heiligungsbewegung Nordamerikas vorbereitet wurde.6 b) Die neuere, am Beginn der 1960er Jahre in den USA entstandene charismatische Bewegung, die im Rahmen der traditionellen Kirchen und Freikirchen verblieb.7 Die innerkatholische Bewegung ist dabei zahlenmäßig am größten. Im Vergleich zu anderen Ländern sind in Deutschland sämtliche innerkonfessionellen charismatischen Gruppen genau wie die traditionellen Pfingstkirchen klein geblieben. Im Grunde ist keine von ihnen in ihrer Konfession zu einer wirklichen Bewegung geworden.8 Die Ursachen dafür harren noch einer gründlichen Erforschung. c) Die sog. „Dritte Welle“, die vor allem von C. Peter Wagner, John Wimber und P. (jetzt: David) Yonggi Cho geprägt wurde. Die Anhänger dieser „Dritten Welle“ vertreten keine im strengen Sinne charismatische Theologie. Sie haben bestimmte Aspekte charismatischer Frömmigkeit kennengelernt, wozu vor allem die Betonung der Charismen, einschließlich des Gebets für Kranke gehört, die sie in ihre – meist evangelikal geprägte – Theologie und Spiritualität integrierten.9 d) Ein schnell wachsendes, schwer zu fassendes Neupfingstlertum, das lehrmäßig den traditionellen Pfingstkirchen nahe steht, sich aber in unabhängigen Zentren und Gemeinden, z. T. in Mega-Churches organisiert. Die neupfingstlichen Gruppen legen großen Wert auf die Zungenrede als äußerlich sichtbares Zeichen des Erfülltseins mit dem Heiligen Geist und vertreten meist ein fundamentalistisch geprägtes Bibelverständnis. Häufig spielt die Lehre vom Wohlstandsevangelium eine wichtige Rolle. In Deutschland scheint das unabhängige Neupfingstlertum am schnellsten zu wachsen, während die innerkirchlichen charismatischen Bewegungen in den vergangenen Jahren an Dynamik und Bedeutung verloren haben. Wichtige charismatische Zentren sind die „Christliche Gemeinde Köln“ mit Tochtergemeinden in Frankfurt, Leverkusen und Aachen, die „Gemeinde auf dem Weg“ in Berlin (früher „Philadelphia Gemeinde“ mit Wolfhard Margies), die „Christliche Glaubensgemeinde“ in Stuttgart (Peter Wenz)10, das „Gospel Life Center“ (früher: 6 Vgl.

Hollenweger, Enthusiastisches Christentum, bes. S. 20 ff. Reimer, Geist in der Kirche. 8 Eine Ausnahme stellen die Baptisten dar. Aufgrund der freikirchlichen Gemeindestrukturen wurden im „Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden“ ganze Gemeinden charismatisch geprägt. 9 Vgl. Wagner, Der gesunde Aufbruch; Wagner, Gaben des Geistes; Wimber/Springer, Vollmächtige Evangelisation. 10  Vgl. dazu Hempelmann, Biblische Glaubens-Gemeinde. 7 Vgl.

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„Wort des Glaubens – Christliches Zentrum München“ mit John Angelina) und die „Tübinger Offensive Stadtmission“11 u. a., die weit in charismatischpfingstliche Kreise ausstrahlen.12 e) Dazu kommen seit einigen Jahren unabhängige Pfingstkirchen mit Herkunftsidentität aus dem globalen Süden und transnationaler Verbreitung, die in Form von Migrationsgemeinden auch im globalen Norden zahlenmäßig an Bedeutung gewinnen.13 f) Eine weitere Gruppe bilden schließlich die „Afrikanischen Unabhängigen Kirchen“, die trotz unterschiedlicher Nähe zu traditionellen afrikanischen Kulten der Pfingstbewegung zuzurechnen sind.14

2.  Pneumatisch ausgerichtete Theologie und Spiritualität Pfingstlich-charismatische Theologie und Spiritualität ist pneumatisch ausgerichtet.15 In dieser Prägung besteht das eigentlich Neue des charismatischen Christentums gegenüber der traditionellen westlichen Theologie und Kirche. Die pneumatische Orientierung konkretisiert sich in dem Wunsch nach bewussten und persönlichen Erfahrungen mit dem Geist Gottes. Charismatische Ursprungserfahrung ist gewöhnlich die Geistestaufe, traditionellerweise verbunden mit der Glossolalie, dem Reden in Zungen.16 Dass der Geist bei der Geistestaufe einmal aus seiner Anonymität hinter Christus herausgetreten ist, lässt den Geistgetauften auf weitere bewusste Geisterfahrungen – vor allem in den verschiedenen spektakulären Charismen – hoffen. Daneben hängt die Konzentration pfingstlich-charismatischer Spiritualität auf den Geist mit einer bestimmten heilsgeschichtlichen Sicht der Gegenwart zusammen. Charismatiker sind der Überzeugung, dass in der Zeit nach Pfingsten der Heilige Geist der eigentlich Aktive ist. Das gelte insbesondere seit dem Beginn der Pfingstbewegung am Anfang des vergangenen Jahrhunderts. Damals sei der Heilige Geist zum letzten Mal vor der unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft Jesu Christi in überwältigender Weise auf die Gläubigen ausgegossen worden.17 Die charismatische Deutung des Geisteswirkens erinnert an die Zeitalterlehre des Joachim de Fiore (ca. 1130–1202). Dieser ging davon aus, dass das Zeitalter des Vaters (das Judentum) vom Zeitalter des Sohnes (die Kirche) und dieses durch das Zeitalter des Geistes abgelöst würde. An die Stelle des altkirchlichen 11 

Vgl. dazu kritisch Sturm, Tübinger Offensive Stadtmission. Vgl. im Einzelnen: Reimer, Neue Gemeindebildungen, S. 250. 13  Michael Fischer hat eine dieser Pfingstkirchen, entstanden im Kongo, in seiner Habilitation näher untersucht: Vgl. Fischer, Pfingstbewegung. 14 Vgl. Bergunder, Die Afrikanischen Unabhängigen Kirchen. 15  Belege bei Zimmerling, Charismatische Bewegungen, S. 165 ff. 16  Vgl. dazu im Einzelnen Zimmerling, Charismatische Bewegungen, Kap. 3. 17  „… early Pentecostals believed that they were participating in the latest movement of the Holy Spirit which would ultimately sweep the entire church“ (Robeck, Apostolic Faith, S. 63). 12 



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Grundsatzes, dass die Werke der Trinität nach außen unteilbar sind (opera ad extra sunt indivisa), trat bei Fiore die Tendenz zur Auflösung des gleichzeitigen Wirkens der drei göttlichen Personen in ein Nacheinander ihrer Werke. Ähnlich kommen für Charismatiker seit Pfingsten in Bezug auf die ökonomische Trinität primär der Heilige Geist und sein Wirken in den Blick. Die Folge ist zum einen das Zurücktreten des Zweiten Glaubensartikels und der Bedeutung der Erlösung für den gelebten Glauben.18 Der Geist wird weniger als Geist des leidenden und gekreuzigten denn als Geist des auferstandenen und triumphierenden Jesus Christus verstanden. Im Vordergrund des Geisteswirkens steht nicht, dass er einem Menschen täglich neu die Vergebung der Sünden zuteilwerden lässt. So die reformatorische Interpretation des Wirkens des Geistes, wie sie etwa an Luthers Erklärung des Dritten Glaubensartikels im Kleinen Katechismus erkennbar wird. Vielmehr verleiht er nach pfingstlich-charismatischer Auffassung Menschen primär die Kraft, die Sünde zu überwinden und über sie zu herrschen und in der Konsequenz in der Vollmacht des Geistes zu handeln. Notwendigerweise ergibt sich daraus die Tendenz zu einem triumphalistisch gefärbten Glaubensverständnis. Zum anderen tritt die Bedeutung des Ersten Artikels zurück. Der Geist kommt im pfingstlich-charismatischen Christentum vor allem als derjenige in den Blick, der schon jetzt Neues schafft. Seine Aufgabe besteht darin, die begrenzte und endliche Natur des Menschen zu verwandeln und diesen über seine natürlichen Möglichkeiten hinauszuführen. Konkret erfahrbar wird das entsprechende Wirken des Geistes in den Charismen, wobei für pfingstlich-charismatisches Christentum eine Betonung der spektakulären, übernatürlich verstandenen Charismen von Glossolalie, Prophetie und Heilung charakteristisch ist.19 Durch die Erfahrung der Charismen erfährt die Eschatologie eine stark präsentische Orientierung. Die für Paulus charakteristische eschatologische Spannung zwischen Schon jetzt und Noch nicht erscheint zugunsten des Schon jetzt verschoben. Pfingstlich-charismatisch geprägte Theologie und Spiritualität entsprechen an dieser Stelle in verblüffender Weise seit Jahren zu beobachtenden gesamtgesellschaftlichen Trends. So spiegelt charismatische Pneumatologie, indem sie die reformatorische Konzentration des Geisteswirkens auf die Vergebung der Sünde aufgibt und statt der erlösenden seine neuschaffende Kraft betont, den „Abschied von der Schuld“, wie er sich von der Gesellschaft bis hinein in der Kirche diagnostizieren lässt.20 Ein Indiz für diese Diagnose ist die Beobachtung, 18  Diese Beobachtung gilt unabhängig davon, dass die pfingstlich-charismatische Durchbruchserfahrung durchaus von einem starken Sündenbewusstsein geprägt sein kann. Gregor Etzelmüller weist in seiner Habilitation darauf hin, dass für die Gottesdienste der frühen Pfingstbewegung „auf dem Boden liegende, verzweifelt nach ihrer Rettung suchende Menschen“ kennzeichnend waren (Etzelmüller, Zu schauen, S. 301). Entscheidend für das Leben als Christ ist jedoch das vollmächtige Wirken des Geistes. 19  Vgl. dazu im Einzelnen Zimmerling, Charismatische Bewegungen, Kap. 4. 20 Vgl. Riess (Hg.), Abschied von der Schuld?; Hahn, Vergebung der Sünden, S. 181–195.

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dass den meisten Menschen kaum noch verständlich ist, was Schuld und Sünde im biblisch-reformatorischen Sinn bedeuten. In der Alltagssprache hat sich eine Abschwächung der Rede von Sünde und Schuld zu einer religiös neutralen Bedeutung oder gar zur rein ironischen Verwendung ereignet. So findet das Wort „sündigen“ nur noch bei der Übertretung von Verkehrsregeln oder bei gesundheitsschädlichem Essverhalten Verwendung. Sünde und Schuld wurden mehr und mehr zu einem rein privaten Phänomen, zu einer Angelegenheit der subjektiven Innerlichkeit ohne Bezug auf Gott. Auch die neue Sehnsucht nach Spiritualität ist mit der Erkenntnis von Sünde und Schuld nicht unmittelbar verbunden. Es geht ihr um eine – angesichts der heutigen „Risikogesellschaft“21 verständliche – Selbstvergewisserung des Individuums durch spirituelle Erfahrungen. Ein transzendentes göttliches Gegenüber, vor dem man sich für sein Handeln verantwortlich fühlt, spielt in den spirituellen Neuaufbrüchen keine Rolle. In ähnlicher Weise korrespondiert die charismatische präsentisch orientierte Eschatologie – zugegebenermaßen ungewollt – mit gegenwärtigen Gemütslagen. Folgendes Lebensgefühl ist in den westlichen Gesellschaften weit verbreitet: „Dieses Leben ist alles, was ich habe. Ob danach noch etwas kommt, weiß niemand so genau.“ Der Einzelne spannt sein Leben nicht mehr in einem großen Bogen auf ein großes himmlisches Ziel, die Ewigkeit, hin aus, sondern in vielen kleinen Bögen auf viele kleine irdische Ziele. Das Leben besitzt für die meisten Zeitgenossen Sinn und Ziel ausschließlich in sich selbst; es dient also keinem großen, übergeordneten Ziel mehr. „Mit dem Verlust der religiösen Rahmenerzählungen haben wir auch die Ewigkeit verloren, die Weltzeit ist geschrumpft auf die individuelle Lebenszeit. […] Ein einziges Leben muss genügen, um die Träume vom Jenseits im Diesseits zu realisieren“ – so der Soziologe Peter Gross in seinem Buch „Die Multioptionsgesellschaft“.22 Gerhard Schulze, ein anderer Soziologe, hat die inzwischen weithin anerkannte These aufgestellt, dass sich die heutige Gesellschaft durch eine durchgängige Erlebnisorientierung auszeichnet.23 Nicht mehr die Außenorientierung auf eine zu vollbringende Leistung bestimmt den Lebensentwurf, sondern die Innenorientierung auf das „Projekt des schönen Lebens“: „Das Projekt des schönen Lebens ist das Projekt, etwas zu erleben.“24 Der Mensch will Leid vermeiden, um dadurch Zeit zu sparen und das Leben voll auszukosten.25 Für die eine große Hoffnung – sei es hier auf der Erde oder im Himmel – bleibt den meisten Menschen schlicht keine Zeit mehr. Geblieben ist allein die individuelle Hoffnung, der diesseitige Himmel, der durch Sex, Konsum und Urlaubsreisen erreicht werden soll.

21 Vgl.

Beck, Risikogesellschaft. Gross, Multioptionsgesellschaft, S. 81 (Hervorhebungen im Original). 23 Vgl. Schulze, Erlebnis-Gesellschaft. 24  Schulze, Erlebnis-Gesellschaft, S. 38. 25 Vgl. Gronemeyer, Leben als letzte Gelegenheit, z. B. S. 122. 22 



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3.  Epikletisches Gottesdienstverständnis Charakteristisch für das pfingstlich-charismatische Gottesdienstverständnis ist seine „epikletische“ Orientierung.26 Mit dem Begriff beschreibe ich im Folgenden die in pfingstlich-charismatischen Bewegungen zu beobachtende Ausrichtung der gottesdienstlichen Versammlungen auf das spontane Wirken des Geistes. Damit verändert sich die christologische Ausrichtung des traditionellen abendländischen Gottesdienstes zugunsten einer pneumatischen Orientierung.27 Die veränderte Orientierung ist weniger eine theoretische Überzeugung als eine Sache der Erfahrung:28 Der Gottesdienst wird als Ort des unmittelbaren Wirkens des Geistes und damit als Ort seiner Anwesenheit erlebt.29 Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erwarten, dass an ihnen selbst und den Mitfeiernden etwas geschieht, und zwar nicht nur im Bewusstsein, sondern vor allem im emotional-sinnlichen Bereich. Dabei sind Anbetung, Charismen und Zeugnisse die zentralen Mittel der Geisterfahrung. Während für den traditionellen lutherischen Gottesdienst die Weckung bzw. Stärkung des Glaubens durch den Geist Gottes mit Hilfe von Wort und Sakrament entscheidend ist,30 steht im pfingstlich-charismatischen Gottesdienst das übernatürliche, emotional und sinnlich wahrnehmbare Wirken des Geistes durch Anbetung, Charismen und Zeugnisse im Zentrum.31 Überspitzt formuliert: An die Stelle des reformatorischen Glaubens an die durch Wort und Sakrament vermittelte Gegenwart Jesu Christi im Rahmen der zum Gottesdienst versammelten Gemeinde tritt die Erwartung der unmittelbaren Präsenz des Geistes in der Erfahrung des Einzelnen. 26 Vgl. zu den folgenden Überlegungen im Einzelnen: Zimmerling, Charismatische Bewegungen, Kap. 5. 27  Die Nähe des charismatischen Gottesdienstes zum orthodoxen Gottesdienst ist immer wieder beobachtet worden. Jedoch ist der orthodoxe Gottesdienst weniger pneumatozentrisch als trinitarisch ausgerichtet. 28  Darum stellt auch die immer wieder anzutreffende Behauptung, dass Christus im pfingstlich-charismatischen Gottesdienst im Zentrum stehe, kein tragfähiges Gegenargument dar: „The Holy Ghost never draws our attention from Christ to Himself, but rather reveals Christ in a fuller way“ (Bartleman, Pentecost, S. 94). Ebenso: „Everything centers around Jesus. We may not put the power, gifts, the Holy Ghost, or in fact anything ahead of Jesus“ (Bartleman, Pentecost, S. 117; vgl. Etzelmüller, Zu schauen, S. 305). Von der Theorie her mag das zutreffen; in der Praxis sieht es anders aus. 29 Vgl. Reimer, Wenn der Geist, S. 78: Der charismatische Gottesdienst will Menschen in den „Raum der lebendigen Gegenwart Gottes“ hineinführen. 30  Für die Reformatoren erhält der Mensch durch die Predigt des Evangeliums und den Empfang der Sakramente den Heiligen Geist, der seinerseits den Glauben in den Hörern des Evangeliums wirkt: „Um diesen Glauben zu erlangen, hat Gott das Predigtamt eingesetzt, das Evangelium und die Sakramente gegeben, durch die er als durch Mittel den Heiligen Geist gibt, der den Glauben, wo und wann er will, in denen, die das Evangelium hören, wirkt …“ (CA V). 31 Damit soll nicht bestritten werden, dass es zwischen den verschiedenen pfingstlichcharismatischen Gruppen auch in diesem Zusammenhang große Unterschiede gibt. So stellt etwa der Gottesdienst im Rahmen der Geistlichen Gemeindeerneuerung in der Evangelischen Kirche in Deutschland den Versuch dar, traditionelle liturgische Elemente mit charismatischen freieren Formen zu verbinden.

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Die Betonung des Geisteswirkens hic et nunc hat eine Reihe von Konsequenzen. Aus der Orientierung des Gottesdienstes auf das spontane Wirken des Geistes in Lobpreis, Charismen und Zeugnissen folgt die Marginalisierung der Abendmahlsfeier in den meisten pfingstlich-charismatischen Bewegungen.32 Auch wenn in einem charismatisch geprägten evangelisch-landeskirchlichen Gottesdienst gepredigt oder in einem charismatisch geprägten römisch-katholischen Gottesdienst die Eucharistie gefeiert wird, stehen für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer doch weder die Predigt noch die Eucharistie im Zentrum des Geisteswirkens, sondern Lob Gottes, Charismen und Zeugnisse. Schon die frühe Pfingstbewegung erlebte ihre Gottesdienste in „a heavenly athmosphere“.33 Im Gottesdienst erfahren Charismatiker den Himmel auf Erden. Entsprechend werden die Zungenrede und der Zungengesang von Anfang an als Teil des himmlischen Lobgesangs der Engel verstanden: „It brought a heavenly athmosphere, as though the angels themselves were present and joining with us.“34 Selbst die Prophetie wird – gegen deren explizite paulinische Interpretation als endlich (1. Kor 13,8) – als Teilhabe an der himmlischen Welt interpretiert. Nicht mehr Gottes große Taten in der Vergangenheit oder in der Zukunft stehen im Vordergrund des gottesdienstlichen Interesses, sondern die Taten, die Gott durch seinen Geist in der Gegenwart tut. Der „Grundzug der Erwartung gegenwärtigen Geisteswirkens“ lässt die Kategorien der Erinnerung und der Erwartung zurücktreten, die den traditionellen großkirchlichen Gottesdienst weithin bestimmen.35 Das führt zum Fehlen von Kirchenjahr und Klage im pfingstlich-charismatischen Gottesdienst. Beides gehört zu den auffälligen Merkmalen der charismatischen Gottesdienstkultur. Indem der pfingstlich-charismatische Gottesdienst ausschließlich auf das spontane Wirken des Geistes in der Gegenwart ausgerichtet ist, tritt das Bewusstsein seines Wirkens in der Vergangenheit in den Hintergrund, das durch die Feste des Kirchenjahres vergegenwärtigt wird.36 Theologische Ursache dafür ist die Isolierung des Wirkens des Geistes vom Handeln der beiden anderen trinitarischen Personen und eine damit verbundene einseitige Interpretation des Geisteswirkens: Weil das Handeln des Geistes in der Schöpfung und im leidenden und sterbenden Jesus Christus unberücksichtigt bleibt, wird es ausschließlich von seinem spektakulären Handeln her, wie es im Pfingstbericht und in verschiedenen anderen Berichten der Apg erkennbar wird, verstanden, wobei 32  So auch Etzelmüller, Zu schauen, S. 452, der allerdings dafür weniger theologische Ursachen als stärker Gründe der praktischen Gottesdienstorganisation verantwortlich macht: „So lassen die geordneten Formen der klassischen Großkirchen wenig Raum für enthusiastische Erfahrungen“ (S. 451). 33  Bartleman, How ‚Pentecost‘ Came, 63 u.ö.; vgl. dazu Etzelmüller, Zu schauen, S. 303 f. 34  Bartleman, How ‚Pentecost‘ Came, 63; vgl. dazu im Einzelnen Etzelmüller, Zu schauen, S. 307 ff. 35  Ähnlich Werner Krusche beim Vergleich zwischen der Gemütslage der Landeskirche und der der charismatischen Bewegungen (Krusche, Wort des Bischofs, S. 117 ff.). 36  Eine weitere Ursache für das Fehlen des Kirchenjahrs liegt in der freikirchlichen Tradition, die weithin kein Kirchenjahr kennt.



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sogar der für diese Berichte konstitutive Rückbezug auf das Werk Jesu Christi meist unberücksichtigt bleibt. Außer dem Kirchenjahr mit seinen Festen kommt auch die Klage im pfingstlich-charismatischen Gottesdienst kaum vor. Das hat zwei Gründe: Die Konzentration auf das spontane Wirken des Geistes in der Gegenwart lässt nicht nur die Dankbarkeit für sein vergangenes Wirken zurücktreten; auch die Hoffnung auf sein zukünftiges Wirken wird unwichtig. Weil aber die Klage von der Hoffnung auf das eschatologische Wirken des Geistes lebt, hat sie im pfingstlich-charismatischen Lobpreisgottesdienst keinen Raum. Zudem erlaubt das ausschließlich österlich-pfingstliche Verständnis des Geisteswirkens in charismatischen Bewegungen keine theologische Begründung der Klage: Die fehlende Berücksichtigung des Geisteswirkens im Leiden und Sterben Jesu Christi führt, wie wir sahen, zu einem triumphalistisch eingefärbten Geistverständnis. Die Konzentration auf das machtvolle, spektakuläre Geisteswirken, die klassisch in den spezifisch charismatischen Lobpreis- und Anbetungsliedern sichtbar wird, verhindert, dass charismatische Bewegungen einen positiven Sinn des Leids erkennen und in das Geistverständnis integrieren können. Damit steht die pfingstlich-charismatische Gottesdienstkultur, obwohl sie sich selber immer wieder auf das alttestamentliche Gotteslob in den Psalmen beruft,37 in einem auffälligen Gegensatz zu der großen Bedeutung, die der gottesdienstlichen Klage im Psalter und in anderen biblischen Texten zukommt: „Im Alten wie im Neuen Testament gehört die Klage ganz selbstverständlich zur menschlichen Existenz; im Psalter ist die Klage ein wichtiger, gar nicht wegzudenkender Bestandteil des Gottesdienstes und der gottesdienstlichen Sprache.“38 Sowohl im AT als auch im NT ist die Klage integrativer Bestandteil gerade auch der gelingenden Beziehung zu Gott.39 Erfreulicherweise gibt es eine Reihe von Theologen, die zur traditionellen amerikanischen Pfingstbewegung zählen, welche die Dominanz von „happy songs“40 im Gottesdienst der pfingstlich-charismatischen Bewegungen kritisieren.41 Sie betonen, dass ihr Gottesdienst an dieser Stelle mit den populären Vorstellungen der amerikanischen Gesellschaft korrespondiere. Mit der Ausblendung der Klage liefere der pfingstlich-charismatische Gottesdienst die religiöse Legitimation der in der Gesellschaft vorherrschenden Lebensphilosophie: „We, especially in the Pentecostal and Charismatic circles, have fashioned a world that wishes away the reality and inserts a dogma that believes everything is OK, everything must be in 37 

Vgl. z. B. Aschoff/Dippl/Schönheit, Werkstattheft Lobpreis, S. 28 ff. Westermann, Rolle der Klage, S. 254. Vgl. auch Martin Luthers Vorrede zum Psalter: „Wiederum, wo findest du tiefere, kläglichere, jämmerlichere Worte von Traurigkeit, als die Klagepsalmen haben? Da siehest du abermals allen Heiligen ins Herz, wie in den Tod, ja wie in die Hölle. Wie finster und dunkel ist’s da von allerlei betrübtem Anblick des Zornes Gottes“ (Held, Luthers Vorreden, S. 19). 39  Westermann, Rolle der Klage, S. 254. 40 So Adams, Music That Makes Sense, S. 7. 41  Vgl. etwa Adams, Music That Makes Sense, S. 1–11; Molzahn, Psalms. 38 

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control, everything is manageable! Thus, the sermons and the songs become the mode of support for our desire of a ‚well-wished‘ world.“42 Angesichts dieser Situation fordern die Autoren, dass die charismatische Anbetungskultur das Leid nicht verdrängt, sondern ihm in der Klage eine Stimme verleiht.43 Weil in Jesus Christus Gott selbst gelitten hat, ist Jesu Leiden und Sterben der systematischtheologische Grund dafür, dass im christlichen Gottesdienst das menschliche Leiden zur Sprache kommen muss. Die endgültige Überwindung des Leidens steht noch aus. Die bleibende Spannung zwischen Schon jetzt und Noch nicht ist konstitutiv für das christliche Erlösungsverständnis und darf im Gottesdienst nicht zugunsten des Schon jetzt aufgelöst werden.

4.  Seelsorge als Heilung Die im pfingstlich-charismatischen Christentum praktizierte Seelsorge erweist sich nach Proprium und Methode genau wie das Gottesdienstverständnis als pneumatisch orientiert.44 Ihr entscheidendes Charakteristikum besteht in der Erwartung, dass Gott selbst im Seelsorgevorgang handelt,45 wobei der Fokus dieses Handelns darin gesehen wird, dass Hilfesuchende durch Gottes Geist hier und jetzt spontan geheilt werden. Damit wird auch in der Seelsorge die unmittelbare Gegenwart zum Brennpunkt des Geisteswirkens. Pfingstlichcharismatisch geprägte Seelsorgerinnen und Seelsorger sind der Überzeugung, dass ihre Seelsorgeauffassung bisherige Seelsorgekonzeptionen überbietet: „Sie [charismatische Seelsorge] hat es mit dem ganzen Menschen zu tun, in all seinen Aspekten, in seiner ganzen Not. Sie wird deshalb nicht stehenbleiben können bei einer Seelsorge des Wortes, wie Thurneysen und auch der Amerikaner Adams sie entworfen haben. Sie wird sich auch nicht beschränken können auf eine Seelsorge des Hörens, wie sie jetzt, auf den Spuren Rogers’ und Hiltners, maßgebend ist. Beide Wahrheitselemente in sich aufnehmend wird sie – in den Fußtapfen Jesu – auch eine Seelsorge des Handelns sein wollen. Eines Handelns in Vollmacht, in der Kraft des Geistes.“46 Voraussetzung der „Seelsorge des geistlichen Handelns“ im Hier und Jetzt ist zum einen auf Seiten des Seelsorgers das persönliche Erfülltsein mit dem Geist Gottes. Nur jemand, der mit dem Geist erfüllt und bevollmächtigt ist, kann in der Kraft des Geistes seelsorgerlich handeln. Zum anderen kann 42 

Adams, Music That Makes Sense, S. 4. „Therefore, the song/worship leaders who continually choose songs that image a society where there is no pain, no sorrow, no hurt (and that is what most of the contemporary choruses imagine), must take the appropriate measures to be inclusive of the realities of the cross … When the community gathers on Sunday, and we prefer to rehearse (whether in word or song), only the memory of blessing and the grandeur of majesty in our liturgy we negate the power of compassion, justice, mercy, etc.“ (Adams, Music That Makes Sense, S. 6). 44 Vgl. Zimmerling, Charismatische Bewegungen, Kap. 6.3. 45 Vgl. Sons, Seelsorge, S. 133. 46  van Dam, Seelsorge in der Kraft des Geistes, S. 16. 43 



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charismatische Seelsorge nur dort stattfinden, wo Gott selbst in seinem Geist unmittelbar gegenwärtig ist. Dieser Raum soll durch Lobpreis und Anbetung entstehen, die nach charismatischer Überzeugung epikletischen Charakter besitzen und auf diese Weise das spontane Wirken des Geistes ermöglichen. In manchen pfingstlich-charismatischen Gruppen wird vor einer seelsorgerlichen Intervention durch das sog. Gebieten die Atmosphäre des Raumes von bösen Mächten gereinigt.47 Die Erwartung des spontanen Geisteswirkens korrespondiert mit der seelsorgerlichen Methode. Während des gemeinsamen Lobpreises hören alle am Seelsorgevorgang Beteiligten auf den Heiligen Geist, um von ihm Worte der Erkenntnis, Bilder und Prophetien zu empfangen, die dem Seelsorgesuchenden Hilfe in seinen Problemen, Zuspruch und Wegweisung geben sollen. Darüber hinaus ist für pfingstlich-charismatische Seelsorge die Erwartung entscheidend, dass der Geist sich nicht nur im Bewusstsein und Willen, sondern auch auf emotional-sinnliche Weise manifestiert: vor allem durch physische und psychische Heilungen, aber auch durch Ruhen und Lachen im Geist48 und andere spektakuläre Geistphänomene. Von Anfang an haben in der Pfingstbewegung Heilungen neben der Glossolalie eine entscheidende Rolle gespielt. Sie wurden in gewisser Weise zum zweiten Markenzeichen pfingstlich-charismatischen Christentums. „Prayer for divine healing is perhaps the most universal characteristic of the many varieties of Pentecostalism and perhaps the main reason for its growth in the developing world.“49 Im Zusammenhang mit der pfingstlich-charismatischen Poimenik zeigen sich besonders deutlich die Grenzen sowohl des Zurücktretens der Rechtfertigungserfahrung aus dem Zentrum des christlichen Lebens als auch einer Fokussierung auf die präsentisch orientierte Eschatologie. Mit der Konzentration auf spontane emotionale und körperliche Geisterfahrungen geht zwangsläufig eine Abwertung des Verkündigungsaspektes in der Seelsorge einher. Charismatische Seelsorge droht zu vergessen, dass einem Menschen zu allererst dadurch geholfen wird, dass Gott ihn anspricht und im Evangelium seine Gnade zusagt. Christliche Existenz kann sich nie vom Glauben an das Evangelium emanzipieren. Erfahrungen des wunderhaften Wirkens Gottes im Geist, etwa durch Heilungen, machen den Glauben nicht überflüssig, sondern können ihn höchstens kräftigen und erneuern. Der Heilige Geist bleibt trotz emotionaler oder leiblicher Manifestationen ein Artikel des Glaubens. Das schränkt seine Wirkungsmöglichkeiten aber nicht etwa ein, sondern erweitert sie. Reformatorisch geprägter Glaube, der sich am Evangelium festmacht, eröffnet nämlich den Zugang zu einer Wirklichkeit, die

47 Vgl.

Wagner, Das offensive Gebet. Chevreau, Der Toronto-Segen, bes. S. 111–150. 49  Anderson, Introduction to Pentecostalism, S. 30; vgl. Etzelmüller, Zu schauen, S. 309 ff. Die gleiche Beobachtung macht Moritz Fischer in seiner Studie über die transnational verflochtene afrikanische Pfingstkirche „Nzambe Malamu“, die auch darin exemplarisch für viele andere Kirchen ist (Fischer, Pfingstbewegung, bes. S. 257 ff.). 48 Vgl.

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jede Erfahrung weit überbietet.50 Christian Möller formuliert prägnant: „Die geglaubte Wirklichkeit des Heiligen Geistes ist ungleich größer als die erlebte oder an Zeichen festgemachte Wirklichkeit.“51 Diese Wirklichkeit des Glaubens zeichnet sich durch die Spannung zwischen Schon jetzt und Noch nicht aus, die nicht zugunsten einer der beiden Seiten aufgelöst werden darf. Häufig ist in pfingstlich-charismatischer Seelsorge eine Überbetonung des heilenden Wirkens des Geistes zu beobachten. Ein Verständnis des Geistes lediglich als „Kraft, die den Menschen über seine Möglichkeiten hinausreißt“,52 lässt jedoch keinen Raum für Gottes Handeln durch Leiden und Ohnmacht. Bisweilen ergreift Seelsorger und Seelsorgerinnen eine regelrechte Sucht nach wunderhaftem Handeln des Geistes. Viele Charismatiker haben Schwierigkeiten, ausbleibende Heilungserfahrungen mit dem Willen Gottes in Einklang zu bringen. Alles muss im Hier und Jetzt zur Erfüllung kommen. Die Folge ist eine Power-Religiosität, die nicht mit christlicher Spiritualität verwechselt werden darf. Eine Seelsorge, die vergisst, dass Gott sich in seinem Offenbarungshandeln in Jesus Christus in der Gegenwart unter seinem Gegenteil verbirgt, überspringt die eschatologische Spannung und gibt damit die Korrekturmöglichkeit gegenüber einem triumphalistischen Glaubensverständnis preis. Pfingstlichcharismatisches Geistverständnis bedarf deshalb von einer Christologie her der Korrektur, die die bleibende Bedeutung des Leidens und Sterbens Jesu Christi für das Christsein heute ernst nimmt. Kriterium charismatischer Pneumatologie muss sein, ob sie dazu beiträgt, Geheilte, auf dem Weg der Heilung Befindliche und unheilbar Kranke in die christliche Gemeinde zu integrieren, anstatt sie auszugrenzen. Mehr noch: Das charismatisch geprägte Geistverständnis sollte die Voraussetzung dafür schaffen, dass physisch und psychisch behindertes Leben als Charisma entdeckt wird.53 Spontane Heilungen sind auch im Rahmen pfingstlich-charismatischer Seelsorge nicht die Regel. Wenn sie erfolgen, stellen sie nur Zeichen der endgültigen Überwindung von Krankheit und Tod im ewigen Leben dar. Indem auf großen charismatischen Seelsorgekongressen häufig in unverantwortlicher Weise Heilungserwartungen erzeugt werden, wird die Spannung zwischen Schon jetzt und Noch nicht zugunsten des Schon jetzt verschoben.54 Die Problematik lässt sich in verschärfter Weise im Hinblick auf die seelsorgerliche Begleitung psychisch beeinträchtigter Menschen beobachten. Viele Mitglieder pfingstlich-charismatischer Gruppen wollen nicht wahrhaben, dass psychische Heilungsprozesse Zeit 50  Es wäre auch eine Argumentation in anderer Richtung denkbar: Charismatische Gruppen lassen häufig einen verengten Erfahrungsbegriff erkennen, der die Erfahrung des Glaubens nicht miteinschließt, sondern die Erfahrung auf spektakuläre Erlebnisse beschränkt. Angesichts dieser Beobachtung ist eine Erweiterung des Erfahrungsbegriffs dringend geboten. 51  Möller, Gottesdienst als Gemeindeaufbau, S. 12. 52  Reimer, Geist in der Kirche, S. 84. 53 Vgl. Moltmann, Weg Jesu Christi, S. 205 f.; Moltmann, Diakonie, S. 69 f.; Bach, „Gesunde“ und „Behinderte“. 54  Rolf Sons spricht von einer Vernachlässigung der Dialektik zwischen Kreuz und Auferstehung (Sons, Seelsorge, S. 136).



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brauchen und auch durch „innere Heilung“55 – wenn überhaupt – nicht sofort erfolgen. Hier rächt sich das Fehlen einer eschatologisch verankerten Hoffnung, die allein einen langen Atem verleiht. Mit den genannten Kritikpunkten sollen die Stärken der pfingstlich-charismatischen Seelsorge nicht bestritten werden. Sie bestehen darin, dass sie der traditionellen Seelsorge neue Wirklichkeitsräume zu erschließen vermag.56 Das Wirken des Geistes Gottes umfasst neben dem geistigen auch den seelischen und den leiblichen Bereich des Menschseins. Das Gebet um äußere und innere Heilung hat der pfingstlich-charismatischen Seelsorge gegenüber traditionellen kirchlichen Seelsorgekonzepten einen Zugewinn an Mitteln und Möglichkeiten verschafft. Tatsächlich betrifft die „Heilkraft“ des Geistes57 auch körperliche und seelische Krankheiten. Die Erwartung spontaner Heilungen kann sich auf eine Fülle von neutestamentlichen Erzählungen stützen. Die Hermeneutik der entsprechenden Texte sollte nicht länger von der volkskirchlichen Wirklichkeitserfahrung her bestimmt werden. In der Seelsorge sollte neben der Erinnerung an das, was Gott in Jesus Christus bereits getan hat, und neben der Hoffnung auf das, was er bei seiner Wiederkunft am Jüngsten Tage tun wird, sein Handeln im Geist hier und heute nicht vernachlässigt werden.

5. Prosperity-Gospel Eine vom Geist geprägte Spiritualität eröffnet nach der Überzeugung vieler pfingstlich-charismatischer Kreise den Weg zum Wohlstand. Daraus resultiert die Lehre vom Wohlstandsevangelium, dem Prosperity-Gospel, eine Besonderheit des charismatischen Heiligungsverständnisses.58 Im Mittelpunkt dieser Lehre steht die Überzeugung, dass Jesus Christus den Menschen bereits hier und heute vom Fluch der Armut befreit habe, als er ihn vom Fluch des Gesetzes erlöste, wobei als Schriftbeleg auf Gal 3,13–14.29 verwiesen wird.59 Anders als die traditionelle christliche Vorstellung, wie sie etwa mit dem Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus (Lk 16,19–31) oder in der Seligpreisung der Armen (Lk 6,20) begründet wird, dass es erst im Himmel zu einer Belohnung der Armen kommt, geht die Lehre vom Prosperity-Gospel davon aus, dass diese bereits im irdischen Leben für Christen erfahrbar ist. Der praktischen Umsetzung der Lehre dienen das positive Denken und das Programm der Visualisierung. Das positive Denken geht auf den amerikanischen 55  Agnes Sanford hat auch das Konzept der sog. „Inneren Heilung“ entwickelt und bekannt gemacht hat; vgl. dazu bes. ihr grundlegendes Buch: Sanford, Heilendes Licht, das 1978 erstmals auf Deutsch erschienen ist. 56 Vgl. Sons, Seelsorge, S. 134. 57  Moltmann, Weg Jesu Christi, S. 127. 58  Zimmerling, Charismatische Bewegungen, S. 174 ff. 59  „Ich wusste, dass es wahr war, aber kein anderer predigte, dass Gott uns vom Fluch der Armut befreit hatte …“ (Hagin, Erlöst, S. 10).

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Theologen Norman Vincent Peale zurück, dessen weit verbreitetes Buch „Die Kraft des positiven Denkens“, erstmals 1952 in den USA veröffentlicht, auch im deutschsprachigen Raum in vielen Auflagen erschienen ist. Obwohl Peale keiner der charismatischen Bewegungen zugerechnet werden kann, hat vor allem David Yonggi Cho60 zusammen mit anderen bekannten Predigern61 sein Denken im Rahmen pfingstlich-charismatischer Bewegungen weltweit bekannt gemacht. Worum geht es beim positiven Denken? Peale hat das Ziel, Menschen zu einem „gehaltvollen und glücklichen Dasein“ zu verhelfen.62 Dazu ist die Entfaltung und Bewährung der Persönlichkeit nötig. Er vertritt „ein praktisch angewandtes Christentum“63 und will die Kräfte des Evangeliums für die Lebenssituation des Menschen in der säkularen Umwelt der amerikanischen Gesellschaft fruchtbar machen.64 Mangelndes Selbstvertrauen verbunden mit negativen Einreden ist Peales Beobachtung nach eines der großen Probleme des modernen Menschen.65 Um die Herkunft niederdrückender Minderwertigkeitsgefühle zu klären, kann eine Charakteranalyse, also therapeutische Behandlung, nötig sein.66 Peales seelsorgerliche Erfahrung hat ihm aber gezeigt, dass auch der Glaube an Gott diese Gefühle zu überwinden hilft: „Er [Gott] wird unser Selbst mit Vertrauen erfüllen, mit einem echten, demütigen und realistischen Selbstvertrauen.“67 Der Weg zum Vertrauen besteht im „gläubigen Gebet“ und „der praktischen Anwendung der biblischen Grundwahrheiten“. Damit an die Stelle der alten negativen Gedankenwelt eine „neue, bejahende und vertrauende“ treten kann,68 empfiehlt Peale das Memorieren von bestimmten Bibelversen: z. B. „Ich vermag alles durch den, der mich stark macht, Christus“ (Phil 4,13);69 „So ihr Glauben habt […] wird euch nichts unmöglich sein“ (Mt 17,20);70 „Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?“ (Röm 8,31); „Das Reich Gottes ist inwendig in dir“ (Lk 17,21);71 Ps 23;72 „Er gibt dem Müden Kraft und dem Ohnmächtigen mehrt er die Stärke“ (Jes 40,29).73 Die Folge einer positiven Gedankenwelt werden Gesundheit, Erfolg und Wohlstand sein. 60  Cho ist Koreaner und Leiter einer der größten Pfingstgemeinden der Welt in Seoul mit über 800 000 Mitgliedern. 61 Vor allem Robert Schuller, dessen Bücher in Amerika Bestseller und z. T. auch auf Deutsch erschienen sind: z. B. Schuller, Harte Zeiten. 62  Peale, Kraft des positiven Denkens, S. 8. 63  Peale, Kraft des positiven Denkens, S. 9. 64  „In unserer schnellebigen Zeit und im täglichen Existenzkampf kann unser Geist nur durch eine aktive Gedankenkontrolle gesund erhalten und zu jener unerschöpflichen Kraftquelle werden, die er sein muß und sein kann“ (Peale, Kraft des positiven Denkens, S. 21). 65  Peale, Kraft des positiven Denkens, S. 24. 66  Peale, Kraft des positiven Denkens, S. 13. 67  Peale, Kraft des positiven Denkens, S. 19. 68  Peale, Kraft des positiven Denkens, S. 23. 69  Peale, Kraft des positiven Denkens, S. 13. 70  Peale, Kraft des positiven Denkens, S. 22. 71  Peale, Kraft des positiven Denkens, S. 34. 72  Peale, Kraft des positiven Denkens, S. 36. 73  Peale, Kraft des positiven Denkens, S. 57



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Die sog. Visualisierung stellt eine Weiterentwicklung des positiven Denkens dar. Der bekannteste Vertreter des Programms der Visualisierung ist heute wiederum der südkoreanische Pfingstpastor David Yonggi Cho. Grundgedanke ist folgender: Erst derjenige, der eine klare Vision, einen Traum des Benötigten habe, könne von Gott eine Gebetserhörung erwarten.74 Visionen dürften dabei nicht einfach mit den Spiegelungen eigener Wünsche und Bedürfnisse verwechselt werden. Vielmehr sollen sie dem Willen Gottes entsprechen und aus der Lektüre der Bibel und der persönlichen Verbindung mit dem Heiligen Geist – d. h. aus seinem unmittelbaren Reden im Herzen – erwachsen.75 „Wir können nicht mehr sein, als wir uns erträumen. Wenn wir unsere Augen auf Gottes heiliges Wort lenken und eine innere Verbindung mit dem Heiligen Geist pflegen, wird sich unser Vorstellungsvermögen erweitern.“76 Der Heilige Geist erweitere das Vorstellungsvermögen eines Menschen derart, dass er anfange, Gottes Möglichkeiten – die sog. vierte Dimension – in den Blick zu bekommen.77 „Kreativität, Wahrnehmung, Intelligenz und geistliche Motivation werden Nebenprodukte der Vorstellung sein, die durch den Heiligen Geist in Gang gesetzt wurden.“78 Das Leben in der Verbindung mit dem Heiligen Geist eröffnet den Zugang zum „vierdimensionalen Wirklichkeitsbereich“, der unsichtbaren Wirklichkeit, die die sichtbare Welt umgibt: „Diese vierte Dimension ist der Bereich des Geistes.“79 Abraham, Jakob und Joseph u. a. biblische Gestalten besaßen nach Chos Ansicht in vorbildhafter Weise Zugang zur vierten Dimension.80 Damit vom Geist gewirkte Träume und Visionen sich verwirklichen, sei ihre „Inkubation“ nötig.81 Dahinter verbirgt sich die innere, durch nichts zu erschütternde Überzeugung, dass Gott das Geschaute geben werde. Folge dieser Überzeugung ist das anhaltende Gebet um Erfüllung. Cho begründet den Prozess der „Inkubation“ mit Hebr 11,1: „Es ist aber der Glaube ein Beharren auf dem, was man hofft, eine Überzeugung von Tatsachen, die man nicht sieht.“82 Er vergleicht die „Inkubation“ mit dem Ausbrüten von Küken: „Wenn eine Mutterhenne ihre Eier legt, muß sie auf ihnen sitzen oder sie ausbrüten, damit die kleinen Küken aus den Eiern schlüpfen können.“83 Der Weg geht vom „Embryo eines Gedankens“ zur „Realität eines Wunders“.84 74  „Die Dinge, die Sie wirklich erhoffen, können Sie nur besitzen, wenn Sie von ihnen eine klare Vision in Ihrem Herzen und Geist haben“ (Yonggi Cho, Vierte Dimension II, S. 35). 75 Vgl. Yonggi Cho, Vierte Dimension II, S. 20 ff. und 58 ff. 76  Yonggi Cho, Nicht nur Zahlen, S. 16. 77  Yonggi Cho, Nicht nur Zahlen, S. 17. 78  Yonggi Cho, Vierte Dimension II, S. 59. 79  Yonggi Cho, Vierte Dimension II, S. 44. 80  Yonggi Cho, Vierte Dimension II, S. 61 ff. 81  Yonggi Cho, Vierte Dimension I, S. 7 ff.; Yonggi Cho, Vierte Dimension II, S. 28 ff. 82  Yonggi Cho, Vierte Dimension II, S. 29. 83  Vorbild der menschlichen „Inkubation“ ist für Cho das „Brüten“ des Heiligen Geistes über den Chaoswassern vor der eigentlichen Schöpfung nach 1. Mose 1,2. 84  Yonggi Cho, Schlüssel, S. 10.

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Auch wenn es aus der Situation eines von materiellem Wohlstand und materieller Sicherheit geprägten Land des Nordens zugegebenermaßen leicht fällt, die Lehre vom Wohlstandsevangelium zu kritisieren, darf doch nicht verschwiegen werden, dass sie wie die charismatische Liturgik und Poimenik eine Tendenz zur Überbetonung der präsentischen Eschatologie und gleichzeitig zu einer Auflösung der eschatologischen Spannung zwischen dem Schon jetzt und dem Noch nicht erkennen lässt. Auch an dieser Stelle besteht eine auffallende Nähe des Prosperity-Gospels zur amerikanischen Gemütslage mit ihrem Recht auf Glück und ihrem Streben nach materiellem Wohlstand im Hier und Jetzt. Im Rahmen der Lehre vom Wohlstandsevangelium wird der Geist Gottes zur „spiritual power“, die Wohlstand und Gesundheit ermöglicht. Es gibt jedoch keinen Automatismus zwischen Glauben und Wohlstand: Die Erfahrung von Mangel und Überfluss gehören gleichermaßen zum normalen Christenleben (Phil 4,11 f.). Auch Leiden und Entbehrung sind essentielle Bestandteile der Nachfolge Jesu Christi (Röm 8,17). Durch das Prosperity-Gospel droht pfingstlich-charismatisch geprägte Spiritualität verzweckt zu werden. Dieser Eindruck drängt sich besonders stark bei Peales positivem Denken auf. Erlösung wird reduziert auf ein ausschließlich innerweltliches Geschehen; es geht letztlich um Erlösung von der Armut. Der Glaube erscheint lediglich als ein Instrument für Gesundheit, Erfolg und Wohlstand. Die gleiche Beobachtung ergibt sich im Hinblick auf seinen Schriftgebrauch.85 Höchst problematisch ist, dass in diesen Glauben Leiderfahrungen wie Krankheiten und Misserfolge nicht integriert werden können.86 Hier rächt sich, dass der Gottesbegriff von Peale nur sehr allgemein gefasst wird (als „höhere Macht“).87 Nirgends lässt sich das Bemühen erkennen, zu einer Präzisierung in Richtung eines christologisch oder gar trinitarisch entfalteten Gottesbegriffs zu gelangen. Aus psychologischer Sicht ist hochproblematisch, dass Menschen, die kritiklos den Ratschlägen der Vertreter des positiven Denkens folgen, aufgrund von Verdrängung langfristig ihre Probleme sogar verstärken und ihre Gesundheit gefährden.88 Auch die Methode der Visualisierung ruft Kritik hervor. In einer vom Materialismus geprägten Wohlstandsgesellschaft muss sie zwangsläufig als Methode missverstanden werden, wie man noch schneller zu noch mehr Geld kommt. 85  „‚Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat; laßt uns frohlocken und seiner uns freuen!‘ (Psalm 118,24) Wende diesen Satz persönlich an und sage: ‚Ich will mich freuen und fröhlich sein!‘ […] Wenn du diesen Satz vor dem Frühstück dreimal wiederholst und über seinen tiefen Sinn meditierst, wirst du den Tag dadurch maßgebend beeinflussen“ (Peale, Kraft des positiven Denkens, S. 107). 86  Auch wenn Peale damit zu rechnen scheint: „Das will nicht heißen, unser Leben müsse absolut frei von Leid und Schmerz sein, aber es bedeutet die reale Möglichkeit einer fortwährenden Erneuerung unserer Kräfte durch die Gedanken des christlichen Glaubens“ (Peale, Kraft des positiven Denkens, S. 61 f.; Hervorhebungen im Text). 87  Peale, Kraft des positiven Denkens, S. 307 ff. 88 Vgl. Scheich, Vorsicht, bes. S. 61 ff.



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Ein anderes Problem: Zwar will das visualisierende Gebet mit Gottes großen Möglichkeiten rechnen. Entgegen seiner Intention steht es jedoch in der Gefahr, Gott in seinen Möglichkeiten gerade zu unterschätzen. Letztlich lässt es keinen Raum für neue, unvorhergesehene und überraschende Antworten Gottes. Ein weiteres Problem besteht in der Nähe der Methode zu einem triumphalistischen Glaubensverständnis. Die Visualisierung soll die Erfahrung des Himmels im Hier und Jetzt garantieren. Letztlich erlaubt sie keine Integration von Versagen und Misserfolg in den Glauben. Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass die Lehre vom Wohlstandsevangelium gerade in einer von häufig katastrophaler wirtschaftlicher Armut gezeichneten Situation, wie sie für viele Charismatiker in der sog. Dritten Welt charakteristisch ist, neben einem großen Potential an Hoffnung auch einen berechtigten Gegenakzent zu einer vorschnellen Spiritualisierung des göttlichen Segens darstellt. Gottes Segen darf nach biblischem Verständnis nicht spiritualisiert werden: Er umfasst zugleich materielle und geistliche Dimensionen. Im Alten Testament beinhaltet der Segen Gottes vor allem reiche Nachkommenschaft, Landbesitz, Viehreichtum, Vermögen, langes Leben und bleibendes Andenken. Daneben umfasst er ein gehorsames Herz. Das zeigt besonders eindrücklich das Gespräch Salomos mit Gott nach seinem Regierungsantritt. Gott gewährt ihm einen Wunsch. Salomo wünscht sich ein gehorsames Herz, um zu unterscheiden, was gut und böse ist (1Kön 3,9) – und erhält zusätzlich Ehre und Wohlstand. Umgekehrt wird im Neuen Testament die materielle Seite des göttlichen Segens nicht ausgeblendet, wie ein weit verbreitetes Missverständnis suggeriert. Jesus verheißt seinen Jüngern, dass sie bereits in dieser Welt vielfach wieder empfangen, wenn sie Haus oder Frau oder Brüder oder Eltern oder Kinder um des Reiches Gottes willen verlassen haben (Lk 18,28 ff.). Der Segen wird im Neuen Testament nicht spiritualisiert, sondern behält eine handfeste, materiell sichtbare Dimension.

Ausblick Durch die zentrale Stellung der Rechtfertigungsbotschaft wurde im Protestantismus der Blick lange Zeit einseitig auf Gottes große Taten in der Vergangenheit gerichtet, auf das, was Gott in Jesus Christus für den Menschen bereits getan hat.89 Für evangelische Theologie und Spiritualität wurde die Kategorie der Erinnerung prägend. Gottes Handeln durch den Geist in der aktuellen Gegenwart geriet demgegenüber aus dem Blickfeld. Die Konsequenz war, dass die Dynamik des Geisteswirkens in der westlichen Christenheit weder angemessen theologisch erkannt noch erwartet wurde. Bis vor 40 Jahren mahnten Arbeiten über den Heiligen Geist immer wieder zu Recht die „Geistvergessenheit“ der

89 

Vgl. hierzu im Einzelnen Zimmerling, Evangelische Spiritualität, S. 52 ff.

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westlichen Theologie an.90 Pfingstlich-charismatische Bewegungen setzen angesichts dieser Situation mit der Erwartung des spontanen machtvollen Geisteswirkens einen notwendigen Gegenakzent. Eine immer neu zu klärende Aufgabe besteht in diesem Zusammenhang darin, worin das gegenwärtige und das zukünftige Handeln des Geistes im Einzelnen besteht und wie sich beides zueinander verhält. An einem weiteren Punkt antworten charismatische Bewegungen auf Defizite des traditionellen evangelischen Christseins. Charismatische Spiritualität stellt eine Korrektur der einseitigen Intellektualisierung des Glaubensaktes im Protestantismus dar. Im Gefolge der Auseinandersetzung mit der Gegenreformation rückte der Intellekt im Rahmen des Glaubensaktes mehr und mehr in den Vordergrund: Glaube wurde primär mit dem Fürwahrhalten von Glaubenswahrheiten identifiziert. Die Aufklärung hat die Konzentration des Glaubens auf die menschliche Ratio noch verstärkt. Angesichts dieser Situation war die Reintegration weiterer Dimensionen des Menschseins – wie Sinnlichkeit und Emotionalität – in den Glaubensvollzug überfällig. Pfingstlich-charismatische Theologie und Spiritualität hat sich von Anfang an genau darum bemüht. Ein Letztes: Der Protestantismus hat sich mit der Anerkennung besonderer Geisterfahrungen immer schwer getan. Luthers theoretische Ablehnung jedes Geisteswirkens außerhalb von Wort und Sakrament verhinderte die Entwicklung einer positiven Lehre von ekstatischen Erfahrungen. Schon die neutestamentlichen Texte zeigen jedoch, dass ekstatische Geisterfahrungen von Anfang an zur Geschichte der Christenheit dazu gehörten. Pfingstlich-charismatische Bewegungen fordern zu Recht, die entsprechenden biblischen Erfahrungsbereiche in die evangelische Theologie und Spiritualität zu reintegrieren. Für evangelische Theologie bringt das die Herausforderung mit sich, in Zukunft die Bindung des Geistes an Wort und Sakrament weniger kausativ und mehr kriteriologisch zu bestimmen.91 Das Wirken des Geistes reicht über Wortverkündigung und Sakramentsvollzug hinaus, wobei Wort und Sakrament Inspirationsraum und Korrekturinstanz zur Beurteilung geistgewirkter Erscheinungen bleiben müssen.

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90 So etwa Dilschneider, Geistvergessenheit, S. 261; vgl. dazu hier und im Folgenden: Moltmann, Geist des Lebens, S. 13 f. 91  Bernhardt, Geist und die Geister, S. 132.



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Entwicklungspolitische Arbeit als religiöser Weg? Buddhistische Entwicklungszusammenarbeit zwischen materieller und religiöser Transformation* Lisa Wevelsiep Verbreitete Bilder des Buddhismus zeigen zumeist in tiefe Meditation versunkene Personen, die sich in der Abgeschiedenheit der Natur ihrer eigenen religiösen Entwicklung widmen. Zwar wurde diese Vorstellung des Buddhismus als weltabgewandter Religion, wie sie beispielsweise Max Weber vertrat, in den letzten Jahrzehnten als einseitiges Konstrukt entlarvt, dennoch wird Religion im Allgemeinen und der Buddhismus im Besonderen weiterhin häufig mit einer individuellen Suche nach einer die alltäglichen Lebensumstände transzendierenden Erfahrung in Verbindung gebracht. Entwicklungspolitische Projektarbeit in Ländern des Globalen Südens wird im Kontrast dazu primär als technischer Apparat angesehen, der auf eine Bewältigung von Problemen oder eine Steigerung der Lebensqualität in dieser irdischen Welt abzielt und keinen Bezug zu einem außerhalb dieser Welt angesiedelten Heil aufweist. In den letzten Jahrzehnten sind eine Reihe von buddhistischen Nichtregierungsorganisationen im Kontext der Entwicklungszusammenarbeit und Katastrophenhilfe entstanden, die diese Trennung in Frage stellen und damit dem Bild eines weltabgewandten Buddhisten widersprechen. Diese Organisationen unterstützen Mikrokreditprogramme oder Bildungseinrichtungen und agieren dabei nicht selten auf eine Art und Weise, die in Bezug auf Aspekte wie Projektdesign und Gewinnung von Fördermitteln keine starken Differenzen zu anderen entwicklungspolitischen Organisationen erkennen lässt. Trotzdem verbinden viele der involvierten Personen dieses Betätigungsfeld explizit mit buddhistischen Lehren und Praktiken. Während Konzepte wie Erlösung, Lebensverbesserung und -bewältigung vielfach als sich ausschließende Begrifflichkeiten wahrgenommen werden, verschwimmen die Grenzen zwischen diesen in der Arbeit buddhistischer entwicklungspolitischer Gruppierungen zunehmend. Im Folgenden sollen sowohl Verbindungen als auch Grenzziehungen zwischen Praktiken zur Erlangung einer religiösen Transformation und solchen zur materiellen Lebensverbesserung, wie sie in buddhistischen entwicklungspolitischen Organisationen auftauchen, in den Blick genommen werden. Dabei steht die Frage im Vordergrund, wie sich die Akteure in einem Raum bewegen, * Der Beitrag wurde im Rahmen eines Dorschungs-Seminars als studentische Seminararbeit verfasst

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in welchem mit buddhistischer Praxis und entwicklungspolitischer Tätigkeit sehr unterschiedliche Zuschreibungen verbunden werden, und inwieweit buddhistische Nichtregierungsorganisationen dabei das oben angesprochene Bild des weltabgewandten Buddhismus unterlaufen und distinkte Formen religiöser Praxis entwickeln. Dazu soll in einem ersten Schritt der Hintergrund der Debatten um die Einbeziehung von Religion und religiösen Organisationen in entwicklungspolitische Aktivitäten und die Strömung des Engagierten Buddhismus skizziert werden, um darzulegen, in welchem Kontext sich buddhistische entwicklungspolitische Organisationen herausgebildet haben. Darauf aufbauend werde ich am Fallbeispiel der Nichtregierungsorganisation Karuna darlegen, wie sich die Beziehungen zwischen materiell und religiös konnotierter Entwicklung in einer buddhistischen Nichtregierungsorganisation gestalten können.

1.  Religion im Kontext der Entwicklungszusammenarbeit In Zeiten der zunehmenden Thematisierung globaler Ungleichheiten spielt der entwicklungspolitische Sektor eine bedeutende Rolle. Entwicklung wurde in früheren entwicklungspolitischen Ansätzen fast ausschließlich als universaler teleologischer und an wirtschaftlichem Wachstum orientierter Prozess konzipiert,1 in welchem Religion die Rolle zugewiesen wurde, etwas zu sein, was den Entwicklungsfortschritt unter Umständen gar behindern könne und im Zuge einer einsetzenden Steigerung der ökonomischen Lebensverhältnisse zwangsläufig von selbst verschwinden würde.2 Faktoren wie das Ausbleiben von einschneidenden Entwicklungserfolgen trotz der Investition großer Geldmengen und die zunehmende Wahrnehmung von ökologischen Fragen, welche ein Wachstum ohne Grenzen nicht mehr als uneingeschränkt wünschenswert erscheinen ließen, führten ab den 1970er Jahren zu einer zunehmenden Infragestellung bis dahin dominanter Prämissen im Feld der Entwicklungspolitik.3 In diesem Zuge wurde dem Faktor Religion und dem Wirken religiöser Organisationen vermehrt Aufmerksamkeit zuteil. Wegweisend dafür war beispielsweise der Weltbankbericht Voices of the Poor, in dem ein großer Anteil der als arm eingestuften Befragten eine Verbindung zur Transzendenz als wichtigen Teil ihres Lebens einstuften und faith based organizations (FBOs) als wichtige und vertrauenswürdige Institutionen bewerteten.4 Zudem riefen 1998 der damalige Weltbankpräsident James Wolfensohn und der Erzbischof George Carey den World Faith Development Dialogue ins Leben.5 Trotz der Tatsache, dass sich für 1 Vgl.

Menzel, Entwicklungstheorie; Nkurunziza, Overview of Development Studies, S. 4. Ter Haar, Religion and Development, S. 5–6. 3 Vgl. Menzel, Entwicklungstheorie, S. 118–119; Nkurunziza, Overview of Development, S. 29. 4  Rakodi, Roles of Religions, S. 2. 5  Clarke, Agents for Transformation?, S. 81. 2 



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religiöse Organisationen neue Möglichkeitsstrukturen entwickelt haben, legen Studien doch die Annahme nahe, dass religiöse Organisationen, die sich im entwicklungspolitischen Umfeld bewegen und anstreben, von säkular ausgerichteten Organisationen beispielsweise Fördergelder zu beantragen, in struktureller und inhaltlicher Hinsicht gewisse Anpassungsleistungen an das weiterhin stark formalisierte entwicklungspolitische Feld erbringen müssen.6 Dieser Logik folgend sei es für die Akteure beispielsweise sinnvoller, von „empowerment“ anstelle von „Erleuchtung“ zu sprechen. Modelle, die religiöse entwicklungspolitische Organisationen verschiedenen Typen zuordnen wollen, verwenden zumeist als Indikator, inwieweit sich die Ausrichtung einer Organisation durch religiöse Grundlagen bedingt. Louke M. van Wensveen unterscheidet in einem Artikel über religiöse Organisationen im Feld der Entwicklungspolitik idealtypisch zwischen einem additive pattern und einem integral pattern, wobei sie, verkürzt gesagt, darunter versteht, dass Religion im ersten Fall eine zusätzliche Komponente bildet, während im zweiten Fall jeder Aspekt der Organisation von religiösen Grundsätzen bestimmt ist.7 So betrachtet ließe sich vermuten, dass bei buddhistischen entwicklungspolitischen Organisationen, die sich zunehmend in das entwicklungspolitische Feld einbringen und in diesem Zug auf Aspekte der materiellen Lebensverbesserung konzentrieren, Fragen nach stärker religiös ausgerichteten Entwicklungen zugleich weniger Raum einnehmen. Hingegen soll im Folgenden mit Blick auf Veränderungsprozesse innerhalb des Buddhismus in der Moderne gefragt werden, ob sich dort nicht Veränderungsprozesse abzeichnen lassen, die ein anderes Verständnis von religiöser Praxis mit sich bringen, die zu Formen entwicklungspolitischer Arbeit nicht in einem widersprüchlichen Verhältnis stehen müssen.

2.  Engagierter Buddhismus als Form des Buddhismus in der Moderne Vertreter des sogenannten Engagierten Buddhismus verweisen auf die grundlegende soziale Ausrichtung des Buddhismus als solchem und leiten daraus ab, dass sich Buddhisten, dem Beispiel Buddhas folgend, schon immer in dieser Welt engagiert hätten.8 Der Frage nach der historischen Entwicklung buddhistischem Wirkens in dieser Welt kann im Rahmen der folgenden Ausführungen nicht näher nachgegangen werden. Allerdings ist anzunehmen, dass ein Wirken von Buddhisten in dieser Welt einer beständigen Veränderung unterworfen ist, da sowohl sich wandelnde interne als auch externe Faktoren Impulse zu Veränderungen geben.9 In diesem Sinne soll die These aufgestellt werden, dass ein 6 

Siehe beispielsweise in Bezug auf die Weltbank: McDuie-Ra/Rees, Religious Actors, S. 27. Van Wensveen, Religion and Sustainable Development, S. 81–82 und 91. 8  Siehe beispielsweise: Jones, What is Engaged Buddhism?, S. 2. 9  Alicia Turner stellt in einem Artikel in buddhistischen Schulen in Birma Unterschiede zwischen den Zielen fest, die buddhistische Monasterien vor der Kolonialzeit und die britischen Kolonialmächte in Burma mit Schulbildung verbunden haben, auch wenn ihre Absichten, bei7 

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weltliches Wirken zur Zeit Aśokās zwangsläufig eine andere Ausrichtung haben muss als ein soziales Projekt im Delhi des 21. Jahrhunderts. Autoren wie Heinz Bechert, Richard Gombrich, Gananath Obeyesekere und George D. Bond haben in ihren Publikationen das Entstehen einer neuen Form des Buddhismus, welche parallel zu anderen Ausrichtungen existiert, ab dem Ende des 19. Jahrhunderts ausgemacht. Diese neue Strömung wird häufig als eine Anpassung an Konditionen der Moderne verstanden und als Buddhistischer Modernismus oder auch als Protestantischer Buddhismus bezeichnet.10 Wie sich an dem zweiten Begriff schon ablesen lässt, wurden in früheren Ansätzen die Kolonialzeit und das Zusammentreffen mit dem Christentum als hauptsächlicher Katalysator für den Wandel ausgemacht.11 Diese Annahme wurde in der jüngeren Forschung zugunsten einer Betonung der aktiven und nicht nur reaktionären Mitwirkung asiatischer Buddhisten und der zentralen Rolle des infolge intensiverer Kommunikationsmöglichkeiten stärkeren Austausches zwischen buddhistischen Ländern in Frage gestellt.12 Inhaltlich kann der Buddhistische Modernismus laut McMahan durch eine Tendenz zur Detraditionalisierung, Demythologisierung und Psychologisierung charakterisiert werden.13 Damit gehen neben anderen Merkmalen auch eine stärkere Konzentration auf das Wirken in dieser Welt und eine Veränderung von buddhistischer Praxis einher, die sich verstärkt außerhalb etablierter Kreise ausbildet und wesentlich von religiösen Laien mitgetragen wird.14 In diesem Kontext bildete sich auch eine Anzahl von buddhistischen Organisationen, die anfingen, sich verstärkt im sozialen Bereich zu engagieren. Ab den 1960er Jahren wurden erste große Organisationen im Bereich der Entwicklungs- und Katastrophenhilfe gegründet, wie die taiwanische Tzu Chi Foundation oder Sarvodaya auf Sri Lanka.15 Zur Bezeichnung solcher Gruppen hat sich die Begrifflichkeit Engagierter Buddhismus eingebürgert, die im Jahre 1963 zum ersten Mal von dem vietnamesischen Mönch Nhat Hanh Thich verwendet wurde.16 Unter diesem Begriff werden diverse Gruppierungen in verschiedenen Teilen der Erde gefasst, die versuchen, auf einer buddhistischen Grundlage Antworten auf Fragen sozialer, ökonomischer und ökologischer Problemlagen zu finden. Auch wenn es sich als schwierig herausstellt, innerhalb der partikularen Gruppen klare Übereinstimmungen spielsweise in der Erlangung von Literalität, auf den ersten Blick sehr ähnlich wirken mögen. Siehe: Turner, Religion-Making. 10 Vgl. Bechert, Erneuerung; Bond, The Buddhist Revival; Gombrich/Obeyesekere, Buddhism Transformed. 11  McMahan, Making, S. 7. 12  Siehe zum zweiseitigen Austausch zwischen westlichen und asiatischen Buddhisten Halliseys Konzept der inter-cultural Mimesis und zu Austauschprozessen zwischen verschiedenen asiatischen Ländern Frosts Aufsatz, der dies exemplarisch für Colombo in einem Zeitraum der Kolonialzeit in den Blick nimmt. Hallisey, Roads; Frost, Wider Opportunities. 13  McMahan, Making, S. 42. 14 Vgl. Bechert, Erneuerung; Bond, The Buddhist Revival, S. 35. 15  Deitrick, Service and Relief Organistions. 16  Deitrick, Engaged Buddhism.



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zu finden, so existiert doch eine Anzahl von übergreifenden Merkmalen.17 So lassen sich eine Reihe von Konzepten wie das Bodhisattvaideal, Begrifflichkeiten wie karun.ā (Mitgefühl) oder pratītya samutpāda (Entstehen in Abhängigkeit) nennen, auf die gruppenübergreifend immer wieder Bezug genommen wird. Ein zentraler Aspekt lässt sich in der Verbindung von persönlicher und gesellschaftlicher Entwicklung ausmachen, die zwar unterschiedlich ausgestaltet wird – so argumentieren einige, eine Transformation von einer größeren Gruppe von Individuen werde automatisch zu einer Veränderung in der Gesellschaft führen, während andere sich für ein aktives Eintreten für Veränderungen innerhalb der Gesellschaft aussprechen – aber grundsätzlich als Annahme geteilt wird.18 In diesem Umfeld bildeten sich auch spezifische Verständnisweisen von Begriffen wie pratītya samutpāda heraus. Diese entwickelten sich nicht losgelöst von früheren Interpretationen, zeigen sich aber, ebenso wie frühere Deutungen, als nicht unabhängig von ihrer Umgebung, wozu im Falle des Engagierten Buddhismus Vorstellungen aus der Romantik und dem amerikanischen Transzendentalismus, dem Ansatz der Systemtheorie und neuen Ökologiebewegungen zu zählen wären.19 Legten frühe Pali-Quellen noch den Fokus darauf, zu erkennen, wie sich am einzelnen Individuum durch seine Taten karma ansammelt, in dessen Kontext die Erkenntnis vom abhängigem Entstehen als Weg dienen könne, diese Verbindungen ganz zu lösen, kamen schon in mahayanabuddhistischen Strömungen Tendenzen auf, keinen Unterschied mehr zwischen „nirvān.a“ und „sam . sāra“ zu sehen und Abhängigkeit als Verwobenheit einzelner Entitäten untereinander zu interpretieren.20 Wenn man einen Hauptantriebsfaktor für religiöse Veränderungen in dem Umstand sieht, dass diese mit den Gegebenheiten und Lebensrealitäten ihrer Mitglieder eine gewisse Resonanz erzeugen müssen, um für die Anhänger einer Religion Sinn erzeugen zu können, erscheinen diese Veränderungen als logische Folgerungen. Entstehen in Abhängigkeit wird in den Schriften Engagierter Buddhisten häufig in einer Art und Weise verstanden, dass alles in der Welt miteinander verbunden sei. Die Armut eines Menschen auf den Philippinen ist in dieser Lesart nun keineswegs mehr Teil seines karmas, sondern in einer Auslegung Thich Nhat Hanhs, eines vietnamesischen Modernisierers des Buddhismus, hat die Weltgesellschaft beispielsweise durch einseitige Subventionen, Zollpolitiken und das Verhalten jedes Einzelnen daran einen großen Anteil. Das Erkennen dieser Verwobenheiten wird teilweise an sich als erlösend angenommen; anstelle es als Weg zur Lösung dieser Verwobenheiten für den Einzelnen zu konzipieren, geht es nunmehr verstärkt darum, das Wissen um diese Verflochtenheit sinnvoll für Veränderungen in dieser Welt zu nutzen.21 Im folgenden Teil möchte ich anhand einer Analyse der buddhistischen Hilfsorganisation Karuna näher untersuchen, wie sich ein Zusammenspiel von 17 

Deitrick, Engaged Buddhism, S. 311. Deitrick, Engaged Buddhism, S. 314–315. 19  Deitrick, Engaged Buddhism, S. 164. 20  McMahan, Making, S. 156–158. 21  McMahan, Making, S. 174. 18 

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stärker säkularen Ideen von primär materiell verstandener Entwicklung und religiösen Ideen von Transformation innerhalb einer entwicklungspolitischen Organisation darstellen kann.

3.  Material und Methode der Untersuchung Um die oben aufgeworfenen Fragen näher in den Blick nehmen zu können, werde ich mich primär auf Materialien stützen, die auf den diversen Internetpräsenzen der buddhistischen Gemeinschaft Triratna und Karunas zur Verfügung gestellt werden. Dabei werde ich insbesondere zwei Quellen näher betrachten. Zum einen Materialien aus dem Kontext des Karuna-Appells und zum anderen eine Umfrage des UK Network of Engaged Buddhists zum Zusammenhang zwischen persönlicher und gesellschaftlicher Transformation. Karuna-Appelle, bei denen sich eine Gruppe von Personen zumeist in einem Haus in London zusammenfindet und jeden Abend von Tür zu Tür geht oder zunehmend auch Personen telefonisch kontaktiert, um Spenden für KarunaProjekte zu sammeln, fanden erstmals 1982 in London statt und stellen heute eine regelmäßige Einrichtung innerhalb des Ordens dar, für die auf einer separaten Internetpräsenz geworben wird. Sie werden dort unter das Schlagwort „Transforming self and world“ gestellt. Ihr Zweck wird zum einen damit angegeben, Geld für die Projekte in Südasien zu sammeln. Eine Teilnahme an dem Appell wird zum anderen auf derselben Seite auch als „spiritual practice“ beschrieben.22 Die oben genannte Umfrage wurde zwischen dem 09. und 24. November 2009 vom UK Network of Engaged Buddhists,23 einem Zusammenschluss engagierter Buddhisten in Großbritannien, durchgeführt. Ein Ziel bestand darin, im Zusammenhang mit des Karuna Trust und des Clear Vision Trust, mehr über das Interesse von Buddhisten in Großbritannien an sozialen buddhistischen Projekten in Südasien in Erfahrung zu bringen.24 Insgesamt haben 285 Personen an der Umfrage teilgenommen. Bei der großen Mehrheit der Teilnehmenden handelt 22 

http://www.appeals.karuna.org (zuletzt abgerufen: 07. 02. 2017). Network of Engaged Buddhists wurde im Jahre 1983 von einer Gruppe von Buddhisten, die in der britischen grünen Partei und anderen Friedens- und Umweltverbänden aktiv waren, gegründet und war ursprünglich nach dem Modell des US-amerikanischen Buddhist Peace Fellowship ausgerichtet. Da sich allerdings schon bald herausstellte, dass viele Mitglieder bereits sehr aktiv in anderen buddhistischen Organisationen involviert waren, wandelte es sich in ein Netzwerk um, was sich zum Ziel setzte, verschiedene in diesem Bereich aktive Individuen und Gruppen miteinander zu verbinden. Im Mai 2014 löste sich das Netzwerk auf. Diese Entscheidung wurde damit begründet, dass die meisten Mitglieder bereits zunehmend in anderen engagierten buddhistischen Gruppierungen aktiv seien und es somit keinen Bedarf mehr gäbe. Zudem seien auch keine aktiven Mitglieder für ein übergreifendes Netzwerk mehr vorhanden. Siehe zur Auflösung: https://www.facebook.com/ukneb (zuletzt abgerufen: 04. 03. 2017). Siehe zum Netzwerk im Allgemeinen: Bell, Survey, S. 403–404 und Henry, Adaption, S. 91–123. 24  UK Network of Engaged Buddhists, Survey: http://engagedbuddhists.org.uk/engagedbuddhism-survey-results (zuletzt abgerufen: 06. 08. 2012; aktuell nicht online zugänglich; Stand: 05. 03. 2017). 23  Das



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es sich um Mitglieder der Triratna-Gemeinschaft. Über die genaue Form der Erhebung lassen sich in den Dokumenten leider keine Informationen finden.25 Eine Zuordnung der einzelnen Aussagen zu den verschiedenen Gruppen ist nicht möglich. Im ersten Teil der Umfrage sollten die Befragten Auskunft über ihr Wissen und ihre Involviertheit in buddhistische entwicklungspolitische Projekte in Asien geben. Aus den Antworten lässt sich schließen, dass es sich bei der Mehrzahl der Teilnehmenden um Personen handelt, die ihre Verbindung zu solchen Projekten im moderaten Mittelfeld ansiedeln.26 Neben diesen geschlossenen Fragen besteht das Herzstück der Studie aus einer Zusammenstellung von 178 kurzen Statements, die jeweils aus einem bis wenigen Sätzen bestehen, zu der Frage: „Personal and social transformation are indivisible. Do you agree?“ Alle genannten Dokumente behandeln Bereiche der Arbeit, in denen die vermeintlichen Widersprüche, die durch eine Verbindung buddhistischer Praxis und materieller Lebensverbesserung zutage treten, auftauchen. Aus diesem Grund sind aus den Dokumenten Einblicke darin zu erwarten, wie innerhalb der Organisation mit diesem Umstand umgegangen wird.

4.  Karuna als buddhistische Nichtregierungsorganisation Bei Karuna handelt es sich um eine buddhistische Nichtregierungsorganisation, welche ihren Ansatz auf ihrer Internetseite als „inspired by Buddhist values“ beschreibt.27 Sie wurde im Jahr 198028 in Großbritannien, damals noch unter dem Namen Aid for India, gegründet. Neben dem Karuna Trust mit Sitz in London gibt es zudem die kleinere Organisation Karuna mit Sitz im Ruhrgebiet.29 Auch wenn die beiden Organisationen nicht formal zusammenhängen, eint sie eine ähnliche Ausrichtung. Beide Organisationen werden zudem im Wesentlichen durch Mitglieder der buddhistischen Gemeinschaft Triratna getragen. Triratna, bis 2010 noch unter dem Namen Die Freunde des Westlichen Buddhistischen Ordens (FWBO) bekannt, wurde im Jahr 1967 in Großbritannien von Sangharakshita (Dennis P. E. Lingwood) ins Leben gerufen.30 In den Schriften des Ordensgründers betont dieser die Notwendigkeit, eine eigene, für die moderne Welt geeignete Form des Lebens buddhistischer Lehren zu finden, was sich in der offengelegten Kombination vieler Elemente aus verschiedenen buddhistischen Traditionen zeigt.31 Im Laufe der Jahrzehnte breitete sich der Orden auch in andere Länder aus. Inzwischen gibt es weltweit laut Angaben der Organisation 25  http://www.engagedbuddhists.org.uk/?p=1009 (zuletzt abgerufen: 06. 08. 2012; aktuell nicht online zugänglich; Stand: 05. 03. 2017). 26  UK Network of Engaged Buddhists, Survey, Summary. 27  https://karuna.org/about-us/ (zuletzt abgerufen: 05. 03. 2017). 28 Ebd. 29  http://karunadeutschland.org (zuletzt abgerufen: 07. 02. 2017). 30  Baumann, Deutsche Buddhisten, S. 165. 31  Bluck, British Buddhism S. 158–162.

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über 1700 Ordensangehörige.32 In Indien entwickelten sich, von Großbritannien abgesehen, die meisten Zentren im indischen Zweig des Ordens, dem Trailokya Bauddha Mahasangha Sakayak Gana. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass der Gründer des Ordens längere Zeit seines Lebens in Indien verbrachte und während seines Aufenthaltes in Indien enge Beziehungen zu einigen asiatischen buddhistischen Gruppierungen und insbesondere zu der neobuddhistischen Ambedkarbewegung in Maharashtra33 entwickelte. Vor diesem Hintergrund ist auch die Entstehung erster Hilfsprojekte zu lokalisieren. Ordensmitglieder aus europäischen Staaten lebten seit 1978 in Westindien, um die Neobuddhisten religiös zu unterweisen, und seien zu dem Schluss gekommen, dass diese, neben religiösen Unterweisungen, stärker einer materiellen Unterstützung bedürfen würden, was den Anstoß für erste Hilfsprojekte gegeben haben soll.34 Das Tätigkeitsfeld von Karuna hat sich seit der Entstehung der Organisation ausgeweitet. Insgesamt unterstützt der Karuna Trust Projekte einer ganzen Anzahl von Organisationen, vor allem in Indien. Ein Fokus liegt dabei auf der Arbeit mit marginalisierten Bevölkerungsgruppen wie Dalits (kastenlose Hindus) oder Adivasi (Gruppierungen ethnischer Minderheiten, welche zumeist als ursprüngliche Bevölkerung angesehen werden).35 Zwar existieren einzelne Projekte, die explizit der Förderung des Buddhismus dienen sollen, diese stellen aber im Kontrast zu solchen in Bereichen wie Gesundheitsvorsorge oder Förderung von Frauen und Bildung eine Minderheit dar.36 Weder die Partnerorganisationen noch der Empfängerkreis sind auf Buddhisten beschränkt.37 Ein Fokus auf soziale Aspekte zeigt sich ebenfalls in der inhaltlichen Ausrichtung des Ordens. Persönliche und gesellschaftliche Transformation werden in den Selbstdarstellungen des Orden als zentral hervorgehoben.38 Dies soll sich 32  http://www.triratna-buddhismus.de/triratna/der-orden.html (zuletzt abgerufen: 07. 02. 2017). 33  Bhimrao Ramji Ambedkar leitete im Jahr 1956 eine Massenkonvertierung von Dalits (sogenannten kastenlosen Hindus) in Maharashtra zum Buddhismus ein. Seiner Wahrnehmung nach waren diskriminierende Haltungen gegenüber Dalits inhärent im Hinduismus verwurzelt, sodass es sinnvoller sei, sich vollständig vom Hinduismus abzuwenden. Vgl. Rao, The Caste Question, S. 118–121. 34  Baumann, Deutsche Buddhisten, S. 176. 35  https://www.karuna.org/about-us/our-work (zuletzt abgerufen: 05. 03. 2017). 36  Siehe zur Übersicht der Arbeitsbereiche des Karuna Trust und Karuna Deutschland: https://www.karuna.org/about-us/our-work (zuletzt abgerufen: 05. 03. 2017) und http://www. karunadeutschland.org/de/node/2 (zuletzt abgerufen: 05. 03. 2017) und zu buddhistischen Projekten auch: Walter, Unterstützung für indische Buddhisten; sowie: Traud-Dubois, Dharma und Stärkung. 37  So hat Karuna zum Zeitpunkt der Untersuchung mit der westbengalischen Nichtregierungsorganisation Nishtha zusammengearbeitet, die keinen buddhistischen Bezug erkennen lässt. Siehe: http://www.karuna.org/what-we-do/womens-empowerment/nishtha-committedto-helping-women-in-need (zuletzt abgerufen: 06. 08. 2012; aktuell nicht online zugänglich; Stand: 05. 03. 2017), https://www.karuna.org/our-projects/education-for-girls-in-rural-westbengal?highlight=WyJuaXNodGEiXQ (zuletzt abgerufen: 05. 03. 2017) und die Homepage von Nishtha: http://nishtha-hp.org/ (zuletzt abgerufen: 15. 03. 2017). 38  Baumann, Deutsche Buddhisten, S. 174.



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auch im Symbol des Ordens, dem Tausendarmigen Avalokitesvara, zeigen, zu dem es auf der Homepage Triratnas heißt: „Der Triratna-Orden möchte aus innerer Harmonie und Einheit handeln, zugleich aber mit tausend verschiedenen Armen in der Welt zum Wohle aller wirken.“39 Karuna eignet sich gut als Fallbeispiel, um die in der Einleitung aufgeworfenen Fragen näher in den Blick nehmen zu können, lassen sich in der Ausrichtung der Organisation doch die in der Einleitung herausgestellten vermeintlichen Paradoxien zwischen Überwindung und materiellen Verbesserung der irdischen Welt erkennen. In seinen offiziellen Dokumenten arbeitet Karuna zumeist mit allgemeinen, im Umfeld der Entwicklungszusammenarbeit verbreiteten Schlagwörtern, Konzepten und Methoden wie Human Rights und Empowerment. Dies kann als Anpassung an säkulare Erfordernisse verstanden werden, so erklärt es der Karuna Trust in seinem Strategischen Plan zu einem Ziel, Belege über die Wirksamkeit seiner Projekte an Stellen wie das UK Department for International Development zu kommunizieren.40 Abstrakten Zahlen von Evaluationsergebnissen entgegengesetzt, wird in demselben Strategischen Plan der eigene Arbeitsansatz als spezifisch buddhistisch charakterisiert und davon gesprochen, dass die Arbeit bei Karuna den Mitarbeitenden dabei helfen soll, die eigene buddhistische Praxis zu vertiefen. Dem liegt die Ansicht zugrunde, dass alle Bereiche des Lebens, so auch die Arbeit, die spirituelle Entwicklung fördern sollen. Wenn auch viele Mitglieder weiter ihren früheren Berufen nachgehen, wurden zusätzlich zu diesem Zweck Right Livelihood Betriebe gegründet,41 die es den Mitgliedern ermöglichen sollen, einer als sinnvoll erachteten Arbeit, welche beispielsweise anderen Menschen keinen Schaden zufügt, nachzugehen und in einem spirituell stimulierenden Umfeld aus Gleichgesinnten zu arbeiten.42 Zudem stellen die Betriebe, gerade in der Anfangszeit, eine Möglichkeit dar, andere buddhistische Strukturen und Projekte zu finanzieren.43 Die betrachteten Dokumente lassen erkennen, auch wenn in den Schriften des Gründers Verbindungslinien zwischen den beiden Bereichen gezogen werden,44 dass diese unterschiedlichen Ausrichtungen von den Beteiligten zum Teil als paradox erfahren werden. Die Ansichten 39  http://www.triratna-buddhismus.de/triratna/der-orden.html (zuletzt abgerufen: 07. 02. 2017). 40 http://www.jaibhim.hu/karuna-strategic-plan-2009–2013/ (zuletzt abgerufen: 07.  02. 2017). 41  Baumann, Working, S. 130–131. 42  Baumann, Deutsche Buddhisten, S. 174. 43  Henry, Adaption and Developments, S. 164. 44  Sangharakshita gründete bewusst einen Orden und keine lose Gemeinschaft. Dieser hatte den Anspruch, dass die Beteiligten den Buddhismus nicht nur als kognitive Philosophie wahrnehmen, sondern mit Überzeugung und in einer Art und Weise praktizieren, die das ganze Leben durchdringt. Dabei steht die Idee der Transformation im Zentrum. Praktiken müssen in der Lage sein, Menschen zu „verwandeln“, sodass diese nicht nur von äußeren Bedingungen, wie der Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht, bestimmt sind, sondern sich „weiter entwickeln“ können. Die ab den 1970er Jahren, unter Bezug auf den fünften Teil des buddhistischen 8-gliedrigen Pfads (den rechten Lebenserwerb), entwickelten Right Livelihood Betriebe sollen nicht nur den Mitarbeitenden Anstöße zur richtigen Praxis geben, sondern auch als Modell für

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der Praktizierenden sollen hier, in Differenz zu offiziellen Darstellungen der Organisation, im Mittelpunkt stehen. Im Folgenden möchte ich näher in den Fokus rücken, wie für die Mitglieder buddhistischer Nichtregierungsorganisationen der Bereich der religiösen Erlösung und jener der materielleren Lebensverbesserung zueinander stehen und ob Verbindungen von diesen Personen als widersprüchlich thematisiert werden.

5.  Spirituelles Erwachen oder Kampf gegen materielle Armut? Wenn buddhistische Nichtregierungsorganisationen sich im Bereich der lebensverbessernden Entwicklungszusammenarbeit einbringen und dies zu einer religiösen Praxis in Beziehung setzen, wie genau werden dann Verbindungslinien zwischen beiden Bereichen gezogen und für welche Gruppe der Involvierten besitzen diese Relevanz? Dies möchte ich im Folgenden insbesondere anhand der schon mehrfach genannten Umfrage bezüglich des Zusammenhanges zwischen persönlicher und gesellschaftlicher Transformation darstellen. Zwar nehmen nicht alle Antworten explizit auf die Thematik Entwicklungszusammenarbeit Bezug, da jedoch die Umfrage in diesem Kontext gestellt wird und den grundsätzlichen Bereich der Verbindung individueller und gesellschaftlicher Veränderung anspricht, habe ich trotzdem alle der dort angeführten Aussagen miteinbezogen. Nur wenige der Aussagen gehen davon aus, dass persönliche und gesellschaftliche Transformation vollständig isoliert voneinander stehen. In diesen wenigen Fällen geschieht die Ablehnung des Zusammenhangs häufig mit der Begründung, dass es zur Herbeiführung eines Wandels in der Gesellschaft klarer Strategien bedürfe, die nicht zwangsläufig mit einer Arbeit an den „minds and hearts“ Einzelner einhergehen würden.45 Fast alle Befragten beantworten die Frage nach einer Verbindung zwischen den beiden Elementen hingegen affirmativ, indem sie „yes“ oder zumindest „sort of“ ankreuzen. Zusammenhänge dieser Art werden innerhalb des Engagierten Buddhismus häufig hergestellt. So bezeichnet Subhuti, eine der bekanntesten Persönlichkeiten innerhalb der Triratna-Gemeinschaft, in einem im Jahre 2001 auf dem internationalen Konvent des Ordens gehaltenen Vortrag, die Beschäftigung mit dukkha, was sich mit Leiden übersetzen ließe, als ein zentrales Thema des Buddhismus. Schließlich sei es Buddha gewesen, der einen Weg aus diesem Leid gewiesen hätte.46 Von diesem Blickwinkel aus gesehen erscheine es eine konsequente Weiterverfolgung der elementaren Lehren des buddhistischen Weges, in welchem Konzepte wie eine neue Gesellschaft anregend für die Umgebung sein. Siehe: Baumann, Deutsche Buddhisten, S. 160–174 und Baumann, Working, S. 131–133. 45  UK Network of Engaged Buddhists, Survey, Sort of, Aussage Nr. 2. 46  Subhuti, Sich dem Leiden der Welt öffnen. Verfügbar unter: http://www.triratna-budd hismus.de/fileadmin/user_upload/pdf/Sich_dem_Leiden_der_Welt_oeffnen.pdf (zuletzt auf­ gerufen: 07. 02. 2017).



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mettā und karun.ā47 eine zentrale Rolle spielen würden, dass sich eine Bewegung wie die Triratna-Gemeinschaft mit der Beseitigung von konkretem Leid, wie es vielfach im Globalen Süden vorherrsche, beschäftige.48 Innerhalb der Strömung des Engagierten Buddhismus existiert eine Tendenz, soziales Wirken als speziell buddhistische Tätigkeit zu klassifizieren. Dies spiegelt sich auch in vielen Aussagen der Umfrage wieder. Wie genau die Verhältnisse der beiden Bereiche zueinander beschrieben werden, variiert aber von Aussage zu Aussage stark. Auf der einen Seite wird Entwicklungszusammenarbeit eng mit buddhistischen Konzepten verbunden, auf der anderen Seite tauchen Differenzierungen zwischen unterschiedlichen Formen säkular und buddhistisch akzentuierter Lebensverbesserung und religiöser Praxis auf. Trotzdem lassen sich einige Diskussionslinien und Schnittstellen erkennen, die ich im Folgenden darstellen möchte. In den Aussagen legen viele der Befragten den Fokus auf die Transformation des einzelnen Aktivisten. „Helping others is a way to be less concerned with self“49, heißt es dazu in einer Aussage.50 Eine Mitarbeit in sozialen Projekten, die auf eine Verbesserung der Lebensumstände anderer Menschen abzielen, stellt in diesem Sinne einen Möglichkeitsraum dar, religiös zu praktizieren und sich zu entwickeln. So stellen Autoren wie Subhuti oder auch Ken Jones, eine der führenden Persönlichkeiten des UK‑Networks of Engaged Buddhists, fest, dass die Existenz und Wahrnehmung von Leid eine grundsätzliche Konstante des menschlichen Seins darstelle, die man nicht einfach umgehen könne. Beide Autoren betonen allerdings die Schwierigkeiten, die mit der Wahrnehmung des Leidens anderer einhergehen. Laut Subhuti könne eine starke Konfrontation mit Leiden, wie sie schon durch das Ansehen von Nachrichten ausgelöst werden könne, entweder zu Gefühlen des Überwältigt-Seins und der Hilflosigkeit oder zu solchen von Gleichgültigkeit führen.51 Eine Lösung, dies zu vermeiden, stelle es dar, das Bewusstsein eines Bodhisattvas, also letztendlich das Bewusstsein eines Buddhas, einen Bodhicitta, zu entwickeln.52 Buddhistische Ausrichtungen stellen in diesem Fall eine Möglichkeit dar, als Aktivist zu leben, ohne an der wei47  Auch innerhalb der Triratnagemeinschaft, welche Elemente aus verschiedenen buddhistischen Traditionsgeflechten (wie Theravada, tibetischer Buddhismus und Zen) aufgenommen hat, spielen Prinzipien wie mettā, beispielsweise durch die Praxis der Mettābhāvanā (Meditation zur Entwicklung Liebender Güte) und durch die Idee, dass die Entwicklung von mettā einen realen Wandel hervorrufen kann, eine zentrale Rolle. Siehe: Henry, Adaption and Developments in Western Buddhism, S. 158–159. 48  Subhuti, Sich dem Leiden der Welt öffnen, S. 2. 49  UK Network of Engaged Buddhists, Survey, Yes, Aussage Nr. 78. 50  Viele Ansätze im Umfeld des Engagierten Buddhismus, und so auch im UK Network of Engaged Buddhists, gehen davon aus, dass erst ein innerer Entwicklungsprozess eingesetzt haben sollte, bevor ein sinnvolles Engagement in der Welt möglich sei. Wie genau dieser gedacht wird variiert. Häufig wird dabei das Paradox diskutiert, wie eine Interaktion mit realen Problemen in der Welt möglich sei, während sich viele Richtungen zugleich auf Vorstellungen einer intrinsischen Leerheit (śūnyatā) von Welt und Selbst beziehen. Siehe: Henry, Adaption and Developments, S. 96–100. 51  Subhuti, Sich dem Leiden der Welt öffnen, S. 1. 52 Ebd.

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teren Präsenz von Leid und dem möglichen Ausbleiben von dessen Linderung zu verzweifeln. Darüber hinaus stellen sie für die Aktivisten aber nicht nur ein Feld von Kompensationen dar, sondern die verschiedenen Tätigkeitsfelder, wie die Involviertheit in entwicklungspolitische Projekte, bieten selber eine Möglichkeit, den Geist eines Bodhicitta überhaupt hervorbringen und entwickeln zu können.53 Eine Teilnehmerin an einem Karuna-Appell in London beschreibt das an fremde Türen klopfen und um Spenden bitten als eine Situation, die es ihr ermögliche, in ihrer persönlichen Entwicklung voranzukommen.54 Eine starke Verbindung zwischen weltverbessernder Arbeit und religiöser Praxis findet sich nicht nur auf der diskursiven Ebene, sondern auch in der Art und Weise, wie beispielsweise der Lebensalltag während des Spendensammelns in struktureller Hinsicht organisiert ist. Den Beschreibungen der Teilnehmerin zufolge lässt sich in der Wahrnehmung der Beteiligten keine klare Absetzung zwischen religiösen und nicht religiösen Bedeutungen mehr ausmachen. „Mit der Zeit entwickelten wir einen festen, fast retreatähnlichen Tagesablauf. […] Mittwoch morgens studierten wir buddhistische Texte mit Vagishvari. Nachmittags um 16.00 Uhr übten wir gemeinsam die Metta-Bhavana, um in uns die nötige Offenheit und das erforderliche Wohlwollen für die Begegnung mit uns fremden Menschen zu entwickeln. Nachdem wir noch etwa eine halbe Stunde Videos über Karunaprojekte angesehen hatten, machten wir uns dann gegen 17:30 Uhr mit Bus und Bahn auf den Weg in ‚unsere‘ Stadtteile. In einem kleinen Park, jetzt auf mich alleine gestellt, bat ich in einem kleinen Ritual alle Wesen, ob in der Luft oder auf der Erde mich bei meiner Arbeit zu unterstützen.“55

Im obigen Zitat zeigt sich der gesamte Tagesablauf, der als buddhistisches Retreat wahrgenommen wird, als strukturiert von religiösen Praktiken. Sie werden dadurch ein integraler Bestandteil des materiellen Spendensammelns. Während des Karuna-Appells wirkt es so, als würden selbst Elemente wie der Umgang mit Geldnoten nicht als abgetrennt von buddhistischer Praxis verstanden. So scheint beispielsweise durch eine Darbringung von Überweisungsaufträgen und Pfundnoten vor dem Altar der Umgang mit Spenden in eine religiöse Struktur eingebettet zu sein.56 Auch wenn sich an einigen Stellen ein Bewusstsein darüber erkennen lässt, dass viele Leute bestimmte Elemente, einem gewissen normierten Alltagsverständnis folgend, in unterschiedliche Kategorien einordnen würden – so reflektiert die Leitungsperson in einem auf der Homepage der Karuna-Apelle verlinkten halbstündigen Dokumentarfilm darüber, dass natürlich eine gewisse Spannung zwischen der Existenz eines festgesetzten Spendenzieles und der Berücksichtigung der persönlichen Entwicklung der Teilnehmenden bestünde57 – scheint diese Trennung doch im Empfinden der Akteure zumindest im Moment der Ausübung keine große Präsenz mehr einzunehmen. 53 

Subhuti, Sich dem Leiden der Welt öffnen, S. 2. Lentz, Spendensammeln, S. 1. 55  Lentz, Spendensammeln, S. 3. 56 Ebd. 57 Karuna, Big Sister. Verfügbar unter: http://www.appeals.karuna.org/find-out-more/ movies.html (zuletzt abgerufen: 07. 02. 2017). 54 



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Eine ähnliche Ausrichtung zeichnet sich in der oben dargestellten Umfrage ab. Die Entwicklung von sozialer Verantwortung wird an einigen Stellen als ein notwendiger Schritt auf dem Weg zur Erreichung höherer Stufen der eigenen Entwicklung angesehen. „I think that you can transform on a personal level without actively being involved in social transformation, but i [sic] think that when you get to a certain point in your own transformation the bodhisattva ideal becomes more alive and you realize it isn’t just about you anymore, and you want to alleviate suffering and work to change those social barriers which cause suffering to all.“58

Laut Aussagen wie dieser existieren zwei verschiedene parallele Möglichkeiten, eine eigene persönliche Transformation herbeizuführen. Allerdings scheint die Variante, die keine Mitarbeit an Prozessen gesellschaftlicher Transformation beinhaltet, als niedriger eingestuft zu werden und eine intensive buddhistische Praxis müsse zwangsläufig zum Übergang in die zweite Variante, die mit einer Ausbildung von sozialer Verantwortung einhergehe, führen. An einigen Stellen wird ein soziales Engagement sogar als Anzeichen eines gewissen Stadiums von persönlicher Entwicklung gedeutet. „If you are not more inclined to help others, then you are not transformed.“59 Eine Aussage, die sich zugespitzt als buddhistische Prädestinationslehre lesen ließe. Die Transformation von Einzelnen kann dabei auf lange Sicht gesehen zu einer Transformation der Gesellschaft beitragen. „I guess I’m saying yes to this, on the basis that society is made up of many individuals, and any individual transformation inevitably effects society even if the changes are hard to track e. g. individual decisions to not eat meat, or to simply be kinder & more generous – they all still have an effect on the whole and I believe vice versa.“60

Im obigen Zitat lässt sich das Bild einer menschlichen Gemeinschaft erkennen, in welcher jede Veränderung eines einzelnen Elements Auswirkungen auf das Ganze nach sich zieht. Wie genau der Einzelne eine gesamtgesellschaftliche Transformation durch seine persönliche Entwicklung erreichen kann, darüber gehen die Ansichten allerdings auseinander. Dadurch, dass jemand, wie in diesem Zitat, auf einer alltäglichen Ebene freundlicher ist und vielleicht andere Kauf- und Ernährungsentscheidungen trifft, schon alleine dadurch, wenn jemand alleine in einer Höhle meditiert und dadurch die Atmosphäre verändert61 oder durch eine Tätigkeit in konkreten Projekten. Es scheint allerdings Übereinstimmung darüber zu herrschen, dass eine Herbeiführung eines gesellschaftlichen Wandels nur sehr schwierig zu erreichen ist, jeder nur einen kleinen Teil dazu beitragen kann und dass ein Erreichen einer großen Dimension von Wandel sehr viel Zeit in Anspruch nehmen wird. Diese Annahmen sind vielfach ähnlich zu der Linie 58 

UK Network of Engaged Buddhists, Survey, Sort of, Aussage Nr. 9. UK Network of Engaged Buddhists, Survey, Yes, Aussage Nr. 73. 60  UK Network of Engaged Buddhists, Survey, Yes, Aussage Nr. 28. 61  UK Network of Engaged Buddhists, Survey, Yes, Aussage Nr. 116. 59 

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des Ordensgründers von Triratna, welcher von einem gesellschaftlichen Wandel, gerade auch initiiert von einer Veränderung einzelner Menschen, ausgeht.62 In Aussagen, die gesellschaftlichen Wandel thematisieren, lässt sich auf den ersten Blick eine starke Verbindung zu einer Verbesserung der materiellen Lebensumstände feststellen. Buddhismus als solcher taucht in den Dokumenten auf der Homepage des Karuna Trust in Bezug auf die Empfänger nur selten auf. Wenn ja, dann wird der Buddhismus oder damit in Verbindung stehende Meditationstechniken zumeist als ein Werkzeug verstanden, mit dessen Hilfe sich beispielsweise die Entwicklung von größerem Selbstbewusstsein für Dalits, die in der indischen Gesellschaft oft diskriminiert werden, fördern ließe. So heißt es auf der Homepage des Karuna Trust in einem Bericht über einen Dalit-Jungen namens Vinay: „Although Vinay is being treated conventionally, he particularly values NVC [Non Violent Communication], meditation and the conditions at Bhaja Retreat Centre to help him. By improving his relationship with his family, he experiences fewer quarrels and more harmony. […] He feels lighter away from the cramped conditions at home, and describes Bhaja [Bhaja Retreat Centre]as the place where his heart lives.“63

Buddhistische Praxis erscheint hier als ein Weg der Selbstveränderung, der es Menschen ermöglichen kann, mit diskriminierenden Situationen besser umzugehen und diese zu verändern. Individueller Wandel und entwicklungspolitische Maßnahmen, die auf einem „change of mind“ basieren, werden auch im Strategischen Plan als besonderes Charakteristikum der eigenen Arbeit angeführt. Auch wenn die spirituelle Entwicklung der Leistungsempfänger nicht in allen Fällen im Fokus zu stehen scheint, so stellt sie doch häufig zumindest auf einer abstrakten Ebene ein fernes Ziel in der Zukunft dar. In Bezug auf die nahe Zukunft wird in einigen Statements der Umfrage, auch wenn sich insgesamt die meisten Aussagen mit dem Einfluss der Transformation einzelner Individuen auf die Gesellschaft beschäftigen, der Einfluss des sozialen Umfeldes auf die Möglichkeiten der spirituellen Entwicklung Einzelner thematisiert. In diesen Aussagen wird betont, dass ein gewisses Umfeld, was frei sei von sozialer Ausgrenzung,64 Ungerechtigkeit und materieller Armut in Form von Unterernährung und unzureichenden Lebensbedingungen, als Grundlage für eine spirituelle Entwicklung notwendig oder zumindest förderlich sei.65 Subhuti unterscheidet in seinem oben erwähnten Vortrag zwischen drei verschiedenen Formen von Leiden: „unmittelbares Leiden“, wie Schmerz oder Verlust, „psychologisches Leiden“ im Sinne von Angst oder Frustration und „spirituelles Leid“ als Empfindung von spiritueller Ungewissheit und existenzieller Sinnlosigkeit. Spirituelles Leid sei es, was den Menschen insbesondere auf den 62 

Henry, Adaption and Developments, S. 164–166.

63 https://www.karuna.org/stories/vinay-gains-a-broader-perspective

05. 03. 2017). 64  UK Network of Engaged Buddhists, Survey, Yes, Aussage Nr. 41. 65  UK Network of Engaged Buddhists, Survey, Sort of, Aussage Nr. 3.

(zuletzt abgerufen:



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buddhistischen Pfad führen würde. Und „Dharma“, die buddhistische Lehre, sei auch das einzige, was Leiden in letzter Konsequenz beenden könne. Denn selbst wenn es gelänge, alles direkte Leiden wie Armut, was schon schwierig genug wäre, vollständig abzuschaffen, bliebe immer noch Leiden in Form von Krankheit, Tod und dem Erleiden von Bedeutungslosigkeit. Dies spiele erst keine Rolle mehr für vollständig erleuchtete Menschen.66 Auch wenn einzig dharma eine Lösung darstellt und seine vollständige Entwicklung indirekt auch zur Beseitigung der beiden anderen Formen von Leiden führen würde, ließe sich die Existenz von direktem Leiden in der Welt auf absehbare Zeit kaum vollständig verhindern, sodass es für Buddhisten sinnvoll sei, sich auch für die Linderung von direktem Leiden einzusetzen.67 Da die verschiedenen Formen von Leid zusammenhängen und da es zur Hervorbringung eines tiefen Wandels der Mitarbeit möglichst vieler Menschen bedürfe, verfolgen in den Augen einiger auf eine gewisse Art und Weise Aktivisten und Empfänger auf lange Sicht gesehen dasselbe Ziel. Die Transformation von allen wird in diesem Fall als letztendlich vollständig untrennbar angenommen und häufig mit „pratītya samutpāda“ in Verbindung gebracht. „I believe in the Bodhisattva ideal – enlightenment is for the sake of all, not just oneself. I believe in the indivisible nature of self and other – the distinctions are fabrications. Unless we’re all happy and connected then its hard for any one ‚separate‘ being to be happy.“68

Eine persönliche Entwicklung ist in den obigen Zitaten nicht mehr separierbar von einer Veränderung aller. Ebenso wie die persönliche Entwicklung nimmt auch die Entstehung einer neuen Gesellschaftsform in vielen Aspekten abstrakte Züge an. Eine neue Gesellschaft, die richtig ausgerichtet ist und die durch eine Transformation aller Menschen erreicht werden kann, wird als von der früheren Ordnung stark unterschiedene Gesellschaftsform charakterisiert. Diese Art der Veränderung auf Basis buddhistischer Grundlagen und fundiert durch die Entwicklung einzelner erhält in vielen Aussagen einen anderen Stellenwert als andere Arten von Wandel. Es wird zum Teil mit der Veränderung von geistigen Einstellungen in Verbindung gebracht,69 die einer rein auf Materiellem basierenden Entwicklung kontrastiv gegenüber gestellt werden. Wie Subhuti in seiner Rede erwähnt, ist es die einzige Art von Wandel, die vollständig dazu in der Lage ist, die Probleme in dieser Welt zu lösen. Auch andere Aussagen beschrieben einen solchen Wandel als tiefgreifender oder fürchten gar, dass soziale Reformationen ohne eine solche Verankerung auch unbewusst zu negativen Folgen führen könnten.

66 

Subhuti, Sich dem Leiden der Welt öffnen, S. 1. Subhuti, Sich dem Leiden der Welt öffnen, S. 2 f. 68  UK Network of Engaged Buddhists, Survey, Yes, Aussage Nr. 14. 69  UK Network of Engaged Buddhists, Survey, Yes, Aussage Nr. 50. 67 

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„When we change ourselves we change the world we are a part of. If we seek to make changes in the world but do not address the greed and hatred and anger and confusion in our own minds our efforts can be self undermining.“70

Sowohl gesellschaftliche als auch individuelle Transformation erscheinen in den Aussagen unterdeterminiert. Wie genau ein gesellschaftlicher Wandel aussehen soll, wird in keinem Beitrag, von einigen Stichworten wie Verbundenheit, Glückseligkeit, Gerechtigkeit abgesehen, näher ausgemalt. Insgesamt lässt sich aber festhalten, dass in der Mehrheit der Aussagen, was sicher auch an dem Umfeld, in dem die Umfrage durchgeführt wurde, liegt, eine Betonung einer Verbindung von persönlicher Religiosität und Entwicklungszusammenarbeit erkennbar ist, die, auch wenn der Fokus der heutigen konkreten Arbeit auf der Entwicklung des Einzelnen liegt, klar in eine umfassende Vision eines tiefgreifenden Gesellschaftswandels eingebunden ist. Dieser Gesellschaftswandel nimmt, auf buddhistischen Grundlagen basierend nur auf diesem Weg erreichbar, in seiner zum jetzigen Zeitpunkt unvorstellbaren Größe schon fast selber die irdische Welt und weltliche Vorstellungen überschreitende Züge an.

6.  Das Diesseits überschreitende Entwicklungszusammenarbeit? Spirituelle Praxis und Spendenabrechnungen scheinen für den Großteil der Beteiligten kein starres Gegensatzpaar zu bilden. Allerdings scheint eine gewisse Ausdifferenzierung zwischen vermehrt religiös und stärker säkular angelegter entwicklungspolitischer Arbeit vorgenommen zu werden. So sprechen verschiedene Webpräsenzen den potenziellen Kreis von Spendern und andere den möglichen Interessentenkreis für eine Teilnahme an Karuna-Appellen an. Wenn man die Arbeit von Karuna in Kategorien einordnen möchte, die beschreiben, inwieweit die Arbeit der Organisation von religiösen Ideen bestimmt ist, stellen sich hingegen Fragen. Zwar scheinen religiöse Komponenten nur einen geringen Einfluss auf die direkte entwicklungspolitische Arbeit im Sinne von Projektdesign und Implementierung auszuüben, für viele Akteure stellen sie aber, wie die vorangegangene Analyse gezeigt hat, einen zentralen Aspekt buddhistischer Praxis dar. Zwischen diesen Bereichen bestehen aber, zumindest für jene Personen, die in beiden Bereichen tätig sind, Brücken und Gemeinsamkeiten. Konzepte wie jenes der Transformation oder Entwicklung der beteiligten Gruppen können dabei als Schnittstellen ausgemacht werden. Bell vertritt in einer Studie über die Freunde des Westlichen Ordens die These, dass Konzepte von Transformation innerhalb der Organisation eine identitätsstiftende Funktion für die einzelnen Mitglieder und die Gemeinschaft als solche darstellen.71 Sie begründet dies vor allem in Bezug auf die Ordensstruktur, die in einem Stufenmodell von lose assoziierten Freunden – die von Zeit zu Zeit ein Zentrum 70  71 

UK Network of Engaged Buddhists, Survey, Yes, Aussage Nr. 65. Bell, Change and Identity, S. 87 f.



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besuchen –, mitras – die sich dafür ausgesprochen haben, langfristig im Kontext der Gemeinschaft praktizieren zu wollen – und Ordinierten aufgebaut ist. Für sie verfügt der Orden damit über eine geordnete Struktur, die aber, basierend auf dem Potenzial für die Transformation jedes Einzelnen, Durchlässigkeit aufweise.72 Laut Bell passe eine solche Ausrichtung der Gemeinschaft in eine Zeit, in der innerhalb der britischen Gesellschaft im Allgemeinen ein starker Fokus auf Individualität, Transformation und persönliche Erfahrungen gelegt werde.73 Dazu passend erscheint die grundlegende Einstellung innerhalb des Ordens, dass der buddhistische Glauben nichts sei, was sich qua Geburt erwerben ließe, sondern dass eine richtige buddhistische Identität gesucht und bewusst entwickelt werden müsse.74 Um diese ausbilden zu können, stellt der Orden, für den der häufig zitierte Leitspruch Commitment is primary- livestyle is secondary laut Baumann als Hauptindikator dienen kann,75 seinen Mitgliedern eine ganze Reihe von verschiedenen Lebensstilen, sei es als Freund oder als Ordinierter, sei es eine Arbeit in einer der vielen Kooperativen, zur Verfügung.76 In welchen Kontexten buddhistische Praxis ausgeübt werden soll, lässt sich innerhalb dieser Formen des Engagierten Buddhismus, und nicht nur dort, nicht mehr eindeutig bestimmen. Auch Spendenverwaltung kann demnach in dieser Art und Weise genutzt werden. Eine ähnliche Unbestimmtheit zeigt sich auch im Verständnis von Veränderung, welches in der Umfrage zum Engagierten Buddhismus in der starken Thematisierung von individueller Transformation zutage tritt: „What for[m] this action takes is the ‚sort of bit‘. some folk will intensify their personal practice and other will want to go out and get their hands dirty.“77 In Anbetracht vielfältiger buddhistischer Praxisformen kann Transformation als eine Schnittstelle angesehen werden, die divergent erscheinende Bereiche verbindet. So, wie die Begrifflichkeit der Transformation in den Dokumenten auftaucht, scheint diese nicht in allen Fällen einem als religiös wahrgenommenen Raum zugeordnet zu werden. Am stärksten lässt sich eine solche Verbindung in Bezug auf eine persönliche Transformation jener erkennen, für die entwicklungspolitische Arbeit ein Vehikel zur spirituellen Praxis darstellt, während für den als bedürftig eingestufte Empfängerkreis zunächst Ziele der Problemlösung und Lebensverbesserung auf einer materiellen Ebene im Mittelpunkt zu stehen scheinen. In beiden Fällen verweisen Begrifflichkeiten wie Transformation oder Entwicklung aber immer auch auf den jeweils anderen Bereich. McMahan führt in einer Studie über den Buddhistischen Modernismus in Bezug auf die Begrifflichkeit moks.a aus, dass mit einer Transformation in einen neuen Kontext oder allein schon mit einer Übersetzung von buddhistischen Konzepten in eine andere Sprache in vielen Fällen zwangsläufig einhergehe, dass die Bedeutung 72 

Bell, Change and Identity, S. 94–96. Bell, Change and Identity, S. 90. 74  Bell, Change and Identity, S. 88. 75  Baumann, Deutsche Buddhisten, S. 181. 76  Bell, Change and Identity, S. 92. 77  UK Network of Engaged Buddhists, Survey, Sort of, Aussage Nr. 10. 73 

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der Begrifflichkeiten zwischen verschiedenen Bedeutungen chargiere. So würde eine Übersetzung des Begriffes moks.a mit dem englischen Äquivalent freedom zwangsläufig bei einem englischen Muttersprachler in der heutigen Zeit Assoziationen von Meinungsfreiheit und gleichen Rechten für alle evozieren, die in einem anderen Kontext nicht damit in Verbindung gebracht worden wären.78 Ähnliche polyvalente Bedeutungen zeigen sich in Bezug auf Begrifflichkeiten wie Transformation oder pratīya samutpāda. Auch wenn sich auf der einen Seite in vielen modernen buddhistischen Bewegungen Individualisierungsprozesse in Bezug auf persönliche Religiosität und der Erreichung und Bestimmung religiöser Erfahrungen und Ziele ausmachen lassen, bilden sich hier auf der anderen Seite parallel neue Gruppierungen, Strukturen und ein spezielles Vokabular heraus, welche die individuelle Suche nach Transformation in vorgegebene Bahnen lenken und an Autorisierungsprozesse zurückbinden. Die Entstehung dieser religiösen Ansichten ließe sich in diesem Sinne in Entwicklungen zeitgenössischer Buddhismusformen in der Moderne einordnen, die, um für ihre Mitglieder Sinn zu erzeugen, Anschlussmöglichkeiten finden müssen, die dem Lebensalltag ihrer Mitglieder Resonanzen erzeugen. So betrachtet wäre die entwicklungspolitische Arbeit von Karuna, zumindest für die Mitarbeiter von Karuna, keine paradoxe Kombination, sondern ein zentraler Ort, an dem sich die Transformation von Selbst und Gesellschaft realisieren lässt. Primär für die Mitarbeiter, aber zum geringeren Teil auch für alle Beteiligten, erweisen sich dabei die Grenzen zwischen, wenn man buddhistische Praxis in diese Begriffe übersetzen möchte, Coping, Lebenssteigerung und Erlösung als sehr fluide. So kann die Arbeit dazu dienen, materielle Armut zu mindern und, den Umgang des Einzelnen mit alltäglichem Leid zu verbessern, doch in Vorstellungen von Entwicklung und Transformation schwingt in vielen Fällen auch der Anspruch auf eine tiefgreifendere Wandlung mit, welche die Grenzen der hiesigen Welt bisweilen zu überschreiten scheint.

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„Professionalisierung statt ‚ewiges Leben‘? Diakonische Zielvorstellungen der Gegenwart“1 Johannes Eurich Diakonisches Handeln unterscheidet sich vom Hilfehandeln anderer sozialer Dienstleister durch seine doppelte Orientierung: einerseits ist es als wohlfahrtsstaatlich eingebundenes und refinanziertes Hilfehandeln in sozialen und gesundheitlichen Handlungsfeldern an Normen der jeweiligen Professionen und ihrer zugrundeliegenden wissenschaftlichen Disziplinen ausgerichtet; andererseits ist es jedoch auch als Hilfehandeln der Kirchen definiert, denn Diakonie wird als zum Wesen der Kirche gehörig verstanden und daher theologisch begründet. Die christlichen Grundlagen der Diakonie können Hilfehandeln sowohl motivational inspirieren als auch inhaltlich orientieren. Als theologische Programmatik geben sie im Sinne einer handlungsleitenden Rationalität auch Impulse für die Handlungsebene professioneller Akteure. Diese können z. B. in der Ausrichtung von Angeboten der Diakonie an der Perspektive der Bedürftigen bestehen, indem die biblische Option für die Armen, die diakoniewissenschaftlich als Option für und mit den Armen rezipiert wird, bei der Zweckbestimmung und Zielformulierung diakonischen Handelns zugrunde gelegt wird. Die Diakonie würde in dieser Perspektive ihre Bestimmung verfehlen, würde sie sich nicht vor allem und vorrangig um benachteiligte Menschen oder Menschen in sozialen Notlagen kümmern. Andererseits ist die Diakonie jedoch auch sozialstaatlicher Partner und muss sich innerhalb der staatlich gesetzten Rahmenbedingungen positionieren. Die Einführung wettbewerblicher Rahmenbedingungen in den 1990er Jahren hat zu einer Stärkung des sozialwirtschaftlichen Bereichs geführt, so dass die Orientierung diakonischen Handelns an der Option für und mit den Armen in Zeiten „einträglicher“ (Quasi-)Sozialmärkte hinterfragt wird und bisweilen umstritten ist. Um die Diakonie zwischen den unterschiedlichen Bestimmungen auszurichten, wird heute in der Regel von einem Dreieck aus christlichen Grundlagen, professioneller Fachlichkeit und Wirtschaftlichkeit ausgegangen. Jüngste Konzepte bearbeiten diese Gemengelage mit dem Modell

1  Der Autor ist „extraordinary professor“ für Praktische Theologie an der Stellenbosch Universität in Südafrika. Sein Beitrag basiert auf einem Vortrag auf der Tagung „Ende oder Umbau einer Erlösungsreligion? Verschiebungen in der Vorstellung eines nicht nur endlichen, sondern ‚ewigen‘ Lebens“ an der Ruhr-Universität Bochum im Juli 2012. Bei der Überarbeitung des Redemanuskripts hat Frau Hanna Horst, studentische Mitarbeiterin am Diakoniewissenschaftlichen Institut der Universität Heidelberg, wertvolle Arbeit geleistet.

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der hybriden Diakonie, auf das im Folgenden jedoch nicht weiter eingegangen werden soll.2 Aus dieser kurzen Skizzierung wird bereits ersichtlich, dass eine rein binnentheologisch argumentierende Orientierung der Diakonie insofern unzureichend ist, als die eigentliche Herausforderung in der Vermittlung zentraler theologischer Lehrstücke – wie z. B. der Rechtfertigungslehre – mit den Rahmenbedingungen und handlungstheoretischen Grundlagen des Hilfehandelns, in diesem Fall dem Professionswissen, besteht. Diakonische Zielvorstellungen der Gegenwart, wie es im Titel lautet, sind daher immer interdisziplinär vermittelte Zielvorstellungen, weil die theologische Programmatik nicht die allein bestimmende Größe diakonischen Handelns sein kann. Fach- und Professionswissen und theologisches Begründungsfundament dürfen dabei keineswegs von vornherein gegeneinander ausgespielt werden: Interdisziplinäre Vermittlung meint nicht die Ausgrenzung des einen zugunsten der Aufwertung und Autorisierung des anderen, sondern beide Bezugsgrößen ins Gespräch miteinander zu bringen und füreinander fruchtbar zu machen. Dies kann – trotz der bisweilen abgrenzenden Rhetorik säkularer Sozialarbeitswissenschaft, die eine weltanschauliche Neutralität voraussetzt – gelingen, da aus der christlichen Tradition etliche inhaltliche Aspekte zur Begründung und Entwicklung gesundheitlicher und sozialer Arbeit beigetragen wurden. Der doppelten Codierung diakonischen Handelns entspricht das Changieren zwischen theologischer und soziologischer Perspektive innerhalb dieses Beitrags. In einem ersten Schritt sollen religionssoziologische Beobachtungen zum Wandel der Religion als Sozialform dargestellt werden, die sich so auch innerhalb der Diakonie beobachten lassen. Anschließend wird an Entwicklungen in der Professionstheorie angeknüpft, um ein differenziertes Verständnis des Professionalisierungsbegriffs zu entwickeln. Dazu dienen drittens Befunde aus empirischen Untersuchungen, die nach der religiösen Orientierung von Mitarbeitenden der Diakonie fragen. Abschließend sollen die einzelnen Beobachtungen in theologischer Perspektive gesichtet werden und eine Bündelung erfahren.

1.  Zum Wandel der Sozialform Religion und ihrer Bedeutung für die Diakonie Im Übergang von der Moderne zur Spätmoderne konstatiert Karl Gabriel einen einschneidenden Wandel in der Sozialform Religion: „Für die alte Sozialform galt eine hohe Übereinstimmung und Nähe zwischen institutioneller Verfassung, individuellen Religiositätsstilen und gesellschaftlichen Kulturmustern von Religion. Der Modernisierungsschub der späten sechziger und siebziger Jahre löste diese in ihrer Struktur aus der Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts 2 

Vgl. hierzu Eurich, Hybride Organisationsformen.



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stammende Sozialform der Religion auf. Mit dem Abschmelzen der Milieus und der Auflösung traditioneller Lebensformen driften heute die kirchliche verfasste Religion, die individuellen Religionsstile und die gesellschaftlichen Kulturmuster von Religion wie nie zuvor auseinander.“3 Weil sozial vorgegebene Lebensbezüge in ihrem Geltungs- und Legitimationsanspruch durch individuell hergestellte Bezüge ersetzt werden, wird der Einzelne selbst zur „lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen“4. Er greift dabei auf die christliche Tradition zur Orientierung und Deutung seiner eigenen Biographie nur noch selektiv zu, ein verbindlicher Allgemeingültigkeitsanspruch wird nicht mehr akzeptiert.5 Die Geltung religiöser Sinnmuster verdankt sich folglich ihrer jeweils subjektiven Anverwandlung, einer Wahl, die man aufgrund eigener Erfahrungen und Einsichten trifft und die für andere Menschen keinesfalls in gleicher Weise plausibel oder gültig ist.6 Religion kommt somit eine reflexive Funktion für Zwecke individueller Selbstthematisierung zu. Während in früheren Sozialformen Religion in direkter Weise sozial bestimmend wirkte und damit auch individuelle Vorstellungen in stärkerem Maße normierte, religiöse Traditionen also als Bezugsrahmen für die individuelle weltanschauliche Verortung fungierten, bedingt die Individualisierung ein verstärktes Sich-selbst-bewusst-Werden: „Der reflexive Subjektivist macht […] die je eigene Subjektivität zum Bezugsrahmen all seines Erlebens und Handelns. Er zieht damit die Konsequenz aus der Tatsache, daß es in der funktional differenzierten Gesellschaft keine allgemeingültigen kognitiven und normativen Orientierungen als fremdreferentielles Sinnfundament individueller Existenz mehr gibt.“7 Diese Entwicklung ist nun unterschiedlich im Blick auf ihre Auswirkungen auf die Institution Kirche und auf individuelle Religiosität gedeutet worden. In „Die unsichtbare Religion“ von 1967 (Erstauflage) beschreibt Luckmann, dass nicht-religiöse Normen, ausgebildet in den unabhängig operierenden „weltlichen“ Institutionen, die Plausibilität des globalen Anspruchs religiöser Normen unterminieren. Letztere gelten immer mehr nur noch für Teilbereiche, sie werden an religiösen „Teilzeitrollen“ festgemacht.8 Die Folgen für die traditionellen christlichen Institutionen, die Kirchen, seien groß: „Die Kirchen sind Institutionen unter anderen Institutionen geworden: Die von ihnen getragenen und sie legitimierenden traditionellen religiösen Orientierungen sind im modernen Bewusstsein von solchen überschattet, die sich ausschließlich auf diesseitige Transzendenzen verschiedenen Niveaus beziehen […].“9 Die christlichen Institutionen nähmen folglich die Merkmale von sekundären Institutionen an: sie würden die christliche Überlieferung zwar weitergeben, die jedoch einen Sinn 3 

Gabriel, Tradition und Postmoderne, S. 67. Beck, Risikogesellschaft, S. 209. 5 Vgl. Steininger, Konfession und Sozialisation, S. 61. 6 Vgl. Drehsen, Nullbock auf Religion, S. 67. 7  Schimank, Funktionale Differenzierung, S. 460. 8 Vgl. Luckmann, Unsichtbare Religion, S. 126. 9  Luckmann, Unsichtbare Religion, S. 180 f. 4 

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aussagt, der nicht mehr oder nur noch bedingt mit dem traditionellen christlichen Universum in Einklang gebracht werden kann.10 Dieses sei zwar keineswegs verschwunden, müsse aber den Verlust seiner kulturprägenden Dominanz hinnehmen. Institutionalisierte Formen von Religion werden im Leben von Individuen folglich vor allem im Kontext lebensgeschichtlicher Wendepunkte oder Übergänge als Ritual wirksam. Dies belegen auch neuere empirische Studien, welche aussagen, dass kirchliche Religiosität heute hauptsächlich an Wendepunkten der Biographie bedeutsam wird.11 Im alltäglichen Leben der meisten Menschen sind Größen wie Familie, Freunde, Beruf und Freizeit dagegen von größerer Bedeutung als Religion und Kirche. Von einem Formenwandel der Religion innerhalb der modernen Gesellschaft ist also durchaus auszugehen. Die These eines Auseinanderdriftens von kirchlich verfasster und individueller Religion sowie – damit einhergehend – der abnehmenden kulturprägenden Rolle der Kirche bedarf hingegen einer ausführlicheren Überprüfung. Entgegen der Behauptung einer schwindenden Bedeutung der kirchlichen Religiosität bei gleichzeitigem Aufschwung individueller alternativer Religionsformen, die im Zuge der Kritik an der Säkularisierungsthese, die von einem allgemeinen Widerspruch zwischen Moderne und Religion ausgegangen war, aufgeworfen worden war, ist heute eher von einem Bedeutungsverlust der Religion insgesamt auszugehen – institutionell verfasster ebenso wie individueller Religion.12 Inwiefern sich dieser Befund in den letzten Jahren verändert hat – viele sprechen von einem wiedererwachten öffentlichen Interesse an Religion13 – muss an dieser Stelle offen bleiben. Weiterhin belegen Studien, dass die Kirchen, entgegen der Aussage Luckmanns, nach wie vor eine entscheidende Rolle für die (auch individuell gelebte) Religiosität spielen.14 Ganz konkret bedeutet das: mit ansteigenden Kirchenaustritten geht keinesfalls eine ebenso starke Zunahme an Hinwendungen zu außerkirchlichen Formen der Religiosität einher. Eine zunehmende religiöse Individualisierung gehört zwar durchaus zu den Merkmalen der Religiosität in modernen Gesellschaften, aber diese Pluralisierungs- und Individualisierungsbewegungen finden, entgegen der These einer verstärkten außerkirchlichen Religiosität bei gleichzeitigem Bedeutungsverlust kirchlicher Frömmigkeit, hauptsächlich im innerkirchlichen Milieu statt! Verstärkten Kirchenaustritten entspricht demnach nicht ein zunehmendes Interesse an alternativen Glaubensformen und -praktiken, sondern ein Rückgang von Frömmigkeit und Glauben insgesamt. Dies ist ein Indiz für die weiterhin kulturprägende, wenn auch veränderte Rolle der Kirche. Denn zwischen kirchlich verfasster Religiosität und Religiosität im Allgemeinen scheint weiterhin ein enger Zusammenhang 10 Vgl.

Luckmann, Unsichtbare Religion, S. 151 f. Pollack, Säkularisierung, S. 139. 12 Vgl. Pollack, Säkularisierung, S. 137. 13  Vgl. z. B. Habermas, Naturalismus; Reder/Schmidt (Hgg.), Bewusstsein. 14  Vgl. die Diskussion um die Auswertung der V. KMU in Bedford-Strohm/Jung (Hgg.), Vernetzte Vielfalt sowie Wegner, Religiöse Kommunikation und Kirchenbindung. 11 Vgl.



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zu bestehen.15 „Explizite und implizite Religiosität, kirchliche Praxis und individueller Glaube gehören eng zusammen. Mit der Kirchendistanz sinkt auch die individuelle Spiritualität. Noch immer ist Religiosität vor allem kirchlich definiert. Wenn die Kirchen an gesellschaftlicher Bedeutung verlieren, tut dies auch die Religion.“16 Entsprechend differenziert fällt heute die soziale Bestimmung durch Religion aus: „Wirkte die alte Sozialgestalt eher vordergründig, sichtbar und bestimmt, so ist die neue Sozialform in einem doppelten Sinn hintergründig: Zum einen bleibt die Vermittlung von Institution, Person und Gesellschaft in Sachen Religion im fallweise aktualisierenden Hintergrund stärker erhalten, als dies öffentlich sichtbar wird; zum anderen verliert die Religion an sozialer Bestimmung. Sie wird – wie andere Lebensbereiche auch – informeller und individueller.“17 Die von Luckmann attestierte Erosion der christlichen Kirchen hängt nicht zuletzt mit dessen sehr weit gefasstem Religionsverständnis zusammen, das in neueren Beiträgen zum Teil scharf kritisiert wird: Unter der Voraussetzung, dass Luckmann Religion als Möglichkeit zur Selbstreflexion und Selbsttranszendenz generell, im Hinblick auf alles, was die unmittelbare diesseitige Erfahrung übersteigt, versteht, aber nicht zwangsläufig auf etwas Göttliches bezieht, stehen der von ihm diagnostizierte Bedeutungsverlust der christlichen Kirchen für den modernen Menschen und die menschliche Bestimmung zur Transzendenz („Das Transzendieren der biologischen Natur ist ein universales menschliches Phänomen.“18) keinesfalls in Widerspruch zueinander. Ein Religionsbegriff mit einer solchen Offenheit umfasst beinahe jede Form subjektiver Weltanschauung und -deutung19 und erfährt in neueren Beiträgen eine Aktualisierung: Isolde Karle benennt eindeutige Identitätsmarker von Religion, die ihr Religionsverständnis von einem weiten Transzendenz- und damit Religionsbegriff, wie ihn Luckmann zugrunde legt, abgrenzen. Religion bedürfe demnach neben einer tradierten „Reflexionskultur“20 auch der Eröffnung eines Raumes, der die sinnliche Erfahrbarkeit eben dieser Tradition ermögliche.21 Kult, Frömmigkeitspraxis, Wertvorstellungen und deren historisch gewachsene und mit expliziten Inhalten ausgestattete Sozialformen definieren Religion. Religion hat, im Unterschied zu den Prämissen Luckmanns, gerade „keinen rein diesseitigen Charakter“.22 Der Befund zur bestehenden Wechselwirkung kirchlicher Religiosität und Religiosität im Allgemeinen ist Ausdruck eines solchen, an konkrete Inhalte und Bedingungen geknüpften Verständnisses von Religion, an das auch theologisch 15 Vgl.

Pollack, Säkularisierung, S. 134 ff. Pollack, Individualisierung, S. 78 f. 17  Gabriel, Tradition und Postmoderne, S. 67. 18  Luckmann, Unsichtbare Religion, S. 86. 19 Vgl. Karle, Markante Physiognomie, S. 305. 20  Karle, Markante Physiognomie, S. 313. 21 Vgl. Karle, Markante Physiognomie, S. 314. 22  Karle, Markante Physiognomie, S. 310. 16 

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angeschlossen werden kann. So zitiert Michael Welker in seinem erstmals 1995 erschienenen Buch Kirche im Pluralismus Dietrich Bonhoeffer wie folgt: „Gott läßt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade nur so ist Gott bei uns und hilft uns.“23 Statt eine Erosion der institutionell verfassten Kirche durch die häufig als Bedrohung empfundenen Pluralisierungsbewegungen zu diagnostizieren, unternimmt Welker den Versuch einer Verhältnisbestimmung von Kirche und Pluralismus und plädiert für eine Anerkennung des Pluralismus durch die Kirche, verstanden als der durch seine Glieder konstituierte Leib Christi: „Die Glieder dieses Leibes, die Zeuginnen und Zeugen, existieren vielmehr im Zusammenwirken ihrer verschiedenen Gaben und Kräfte in geschöpflicher Vielfalt. Sie sind gerade im fruchtbaren Zusammenspiel verschiedener Kräfte und Gaben lebendig.“24 Pluralismus versteht Welker also im Sinne von Vielfalt, die in ihrem „Vermittlungspotential“ Tendenzen reiner Individualisierung übersteige und macht im Anklang an die Pfingstgeschichte deutlich: „Über einen Individualisierungsprozess hinausgehend, der viele verschiedene individuelle Perspektiven irgendwie gleichermaßen gelten läßt, wird hier eine Vielzahl verschiedener gemeinsamer Identitäten ins Auge gefaßt, die dennoch füreinander transparent und kommunikationsfähig werden.“25 Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die Säkularisierungsthese, die von einem allgemeinen Bedeutungsschwund von Religion für Menschen in modernen Gesellschaften ausging, wurde von Luckmann und dessen Privatisierungsbzw. Individualisierungsthese abgelöst: „Ausgehend von einem quasi anthropologischen Grundbedürfnis der Menschen nach Religion, war […] nicht mehr Säkularisierung, sondern ein Formenwandel des Religiösen nun die gängige Deutung der Entwicklungen auf dem religiösen Feld. Zwar gehe die Bindung an die (christlichen) Kirchen ganz offensichtlich zurück (Mitgliedschaftsschwund, sinkende Zahlen der Gottesdienstbesucher), doch die subjektive Religiosität verbleibe und es kommt zu einer Privatisierung der Religion.“26 Wie gezeigt wurde, kann angesichts aktueller Studien zwar durchaus von einem Formenwandel der Religiosität ausgegangen werden, der sich aber hauptsächlich innerkirchlich vollzieht. Eine Parallelentwicklung der Zunahme alternativer Religionsformen einerseits bei gleichzeitig abnehmender Kirchlichkeit andererseits kann hingegen nicht bestätigt werden.27 Dagegen hat Michael Welker mit seiner differenzierten Analyse des Pluralismus und dessen Vermittlung mit zen23  Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, S. 341 zitiert nach: Welker, Pluralismus, S. 44 [Hervorhebungen d. Verf.]. 24  Welker, Pluralismus, S. 106. 25  Welker, Pluralismus, S. 31. 26  Pickel, Situation der Religion, S. 69. 27  Vgl. hierzu auch: Pickel, Situation der Religion, S. 83: „Und hier verweist ja die Individualisierungsthese des Religiösen auf eine Transformation des Religiösen, weg von kollektiv organisierter christlicher Kirchlichkeit hin zu individueller Bastelreligiosität. Doch auch hier sind die empirischen Hinweise eher weniger ermutigend. Die Zahl derer, die sich selbst als religiös einschätzen sinkt seit über 20 Jahren und gleichzeitig ist eine Diffusion des Gottesglaubens festzustellen“ [Hervorhebungen d. Verf.].



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tralen christlichen Glaubensinhalten zu Verständnis und Unterscheidung von Individualismus und Pluralismus in theologischer Perspektive beigetragen. Bei allen Stärken von Luckmanns Ansatz, was die Reflexion von Individualismus, Freiheit, Privatsphäre und Autonomie angeht,28 verkennt er gewissermaßen die kulturelle Relevanz von Religion: „die Potenz des Religiösen […] ausschließlich auf die individuelle Funktion zurechtzustutzen, verhindert freilich eine angemessene Bestimmung der gesellschaftlichen Bedeutung des Religiösen.“29 Diese religionssoziologische Debatte hat ihren Niederschlag in der Diakoniewissenschaft gefunden. In 2011 veröffentlichten zwei schweizer Autoren, Heinz Rüegger und Christoph Sigrist, eine Einführung in die Diakoniewissenschaft, die explizit zum Ziel hat, helfendes Handeln allgemein-menschlich zu begründen.30 Der Bezug zur Kirche bzw. zu Christus als Fundament der Kirche soll bei diakonischem Handeln abgelöst werden durch einen Bezug auf die schöpfungsgemäße Anlage zum Helfen, die jeder Mensch in die Wiege gelegt bekommen hat. Dieser philanthropische Begründungsansatz der Diakonie geht einher mit einer Abkehrung von einer angeblichen christologischen Engführung der Diakonie, um so neue Chancen für ein spirituelles Hilfehandeln zu eröffnen.31 Auf diese Weise wird versucht, an eine diffuse individuelle Spiritualität jenseits kirchlicher Religionsformen anzuschließen. Dem stehen andere Ansätze gegenüber, die entsprechend der oben geäußerten Kritik an Luckmann daran festhalten, dass diakonisches Hilfehandeln ohne seinen Bezug zu konkreten Inhalten und Bedingungen des christlichen Glaubens nicht nur seine christliche Identität verliert, sondern zugleich auch seine religiösen Bezüge insgesamt. Es geht folglich darum, auch unter der doppelten Codierung der Diakonie als sozialer Dienstleister und als kirchlicher Hilfeleister die kirchlich gefassten religiösen Bezüge des Hilfehandelns unter den heutigen Bedingungen (Sozialmarkt, Professionalisierung etc.) zu konturieren und zu profilieren. Als Zugang und Praxisbeispiel für diesen Ansatz wird im Folgenden die Berufsgruppe der Diakoninnen und Diakone ausgewählt, weil diese ein doppelte Qualifikation kennzeichnet,32 die sich in einem weiten Verständnis als Professionalisierung fassen lässt.

2.  Professionstheoretische Konstruktionen Professionalisierung wird im Folgenden als eine spezifische Folge der Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften verstanden33 – spezifisch insofern, da der Professionsbegriff in der Regel in einem engen Sinn Verwendung findet. Er 28 

Vgl. hierzu z. B. Luckmann, Unsichtbare Religion, S. 139 ff. Nassehi, Organisation des Unorganisierbaren, S. 202. 30 Vgl. Rüegger/Sigrist, Diakonie. 31 Vgl. Rüegger/Sigrist, Diakonie, S. 184 ff. 32 Vgl. Zippert u. a. (Hgg.), Brücken. 33 Vgl. Stichweh, Professionen. 29 

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dient als Bezeichnung für akademische Berufe mit hohem Prestige und spezieller Expertise, einem hohen Grad an beruflicher Organisation (Standesorganisation), Autonomie bei der Berufsausübung sowie berufsständischen Normen (Berufsethik). Jura, Medizin und Theologie zählen dabei zu den klassischen drei Professionen. Inzwischen wird die Anwendung des Professionsbegriffs auch hinsichtlich der Sozialen Arbeit diskutiert. Fasst man den Terminus hingegen in einem weiteren Sinn, umfasst Professionalisierung nicht nur die skizzierte Debatte über die Angemessenheit des Professionsverständnisses im Blick auf unterschiedliche Berufe, sondern auch die Verberuflichung privat oder ehrenamtlich ausgeübter Tätigkeiten. Im Rahmen dieser Entwicklung kommt es in der Regel zu Standardisierungen, die zu Qualitätsfortschritten führen und Effizienzsteigerungen bewirken. Das zuletzt genannte weite Verständnis von Professionalisierung ist für die Entwicklung der modernen Diakonie seit der Gründungsphase im 19. Jahrhundert kennzeichnend. Im 20. Jahrhundert kam es zu mehreren Professionalisierungsschüben, welche einen signifikanten Anstieg von Fachkräften bewirkten. In den langen 1960er Jahren brachte der Ausbau des Sozialstaats nicht nur eine Differenzierung der Handlungsfelder und eine quantitative Zunahme der Einrichtungen bzw. des Personals mit sich, sondern auch eine qualitative Verbesserung der Standards Sozialer Arbeit infolge der Professionalisierung der Mitarbeitenden und der Verwissenschaftlichung der fachlichen Ansätze.34 Gleichzeitig waren es Jahre tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche, die ein Nachlassen der Bindekraft konfessioneller Milieus anzeigten und zur Enttraditionalisierung der konfessionellen Einrichtungen beitrugen. Professionalisierung im engeren Sinn kann man auch im Blick auf die Diakoninnen und Diakone in der Diakonie untersuchen. Diese weisen eine Doppelqualifikation als diplomierte Sozialarbeiter_innen mit einer theologischen Zusatzqualifikation aus. Sie eignen sich daher hervorragend, um das Thema diakonischer Zielvorstellungen in der Gegenwart „Professionalisierung statt ewiges Leben“ zu diskutieren. Zum einen gelten Sozialarbeiter_innen – folgt man neueren Diskussionsansätzen – als Professionelle im engeren Sinn,35 zum anderen versuchen Diakoninnen und Diakone ihr professionelles sozialarbeiterisches Wissen mit theologischer Deutungskompetenz zu verbinden. Nicht „Professionalisierung statt ewiges Leben“, sondern „Professionalisierung kongruiert mit der Perspektive ewigen Lebens“ lautet ihr Motto. Dies werde ich weiter unten im Anschluss an Merz entwickeln.36 Zunächst soll das Verständnis von Diakon_innen als Angehörige einer Profession näher beleuchtet werden.

34 Vgl.

Jähnichen u. a. (Hgg.), Caritas und Diakonie. zur Diskussion um Soziale Arbeit als Profession Dewe u. a. (Hgg.), Professionalisierung. Einen Überblick über neuere Ansätze bietet Heiner, Professionalität. Vgl. auch Pfadenhauer, Professionalität. Bezogen auf den diakonisch-sozialwirtschaftlichen Bereich hat Andreas Langer eine Professionsstudie vorgelegt: Langer, Professionell managen. 36 Vgl. Merz, Diakonische Professionalität. 35 Vgl.



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Nimmt man die symbolisch-interaktionstheoretische Perspektive ein, liegt der Fokus der Professionalisierungsdebatte auf den Aushandlungsprozessen zwischen den Professionsinhabern über die Mindeststruktur ihrer Profession.37 Neben der strukturellen Dimension werden deshalb vor allem Inhalte und Orientierungen der Professionalisierungsprozesse diskutiert.38 Für Diakoninnen und Diakone in der Sozialen Arbeit können so drei unterschiedliche Handlungsbereiche und Handlungslogiken identifiziert werden, denen sie gleichzeitig angehören:39 (1) Im administrativ-rechtspflegerischen Bereich verfolgen sie den professionellen Doppelanspruch von Hilfe und Kontrolle in der Sozialen Arbeit. (2) Im professionellen Bereich von Beratung, Therapie und Bildung zielen sie auf die Autonomie der Lebensführung der Adressaten. (3) Im diakonisch-theologischen Bereich bringen sie religiöse Deutungsmuster zu Sinn, Transzendenz und Jenseitigkeit in ihren Berufsalltag ein. „Diese dreifache Orientierung bewirkt, dass juristische, hermeneutische und religiöse Handlungslogiken im sozialdiakonischen Handlungsalltag aufeinander stoßen“, so Rainer Merz.40 Daraus ergibt sich die – oft als Dilemma diakonischer Professionalität empfundene – Herausforderung, diesen den drei genannten Handlungsbereichen inhärenten Handlungslogiken gleichzeitig zu entsprechen. Praktisch bedeutet dies, „dass die Diakone bzw. die Diakoninnen in der Sozialen Arbeit das Angebot einer christlichen Lebensorientierung mit der sozialstaatlichen Normenkontrolle und den entsprechenden Inklusionsbestrebungen abwägend und anpassend in Einklang bringen müssen.“41 Diakonische Professionalität besteht demnach in der „dynamischen Integration von theologischer und fachspezifischer Kompetenz beim sozialen Handeln und Kommunizieren“42. Merz nennt diesen Vorgang „diakonisches Kongruieren“ und schließt an diese Überlegung folgende These an: „‚Diakonisches Kongruieren‘ wird damit zur spezifischen Handlungskompetenz, auf welche eine berufliche Identität für Diakoninnen und Diakone in der kirchlich diakonischen Arbeit bzw. ein sozial diakonisches berufliches Selbstkonzept aufgebaut werden kann.“43 Damit wird zugleich festgehalten, was Diakoninnen und Diakone von „säkularen“ Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern unterscheidet: Neben das Handlungsmandat, von Amts wegen zu handeln, tritt eine spezifische Handlungslizenz, „nämlich aufgrund der speziellen Methodik des Diakonischen Kongruierens zu handeln“.44 Auch wenn diese beiden Elemente diakonischer 37 Vgl. Hughes, Sociological Eye; Blumer, Symbolic Interactionism; Schütze, Symbolischer Interaktionismus; Kurtz, Berufssoziologie; Kranz, Interaktion und Organisationsberatung. 38 Vgl. Mieg, Professionalisierung. 39 Vgl. Merz, Diakonische Professionalität, S. 69. 40  Merz, Diakonische Professionalität, S. 70. 41  Merz, Diakonische Professionalität, S. 70 f. 42  Schmidt, Zur Diakonie, S. 332. 43  Merz, Diakonische Professionalität, S. 71. Vgl. zum diakonischen Kongruieren auch Benedict, Diakonisches Kongruieren. 44  Merz, Diakonische Professionalität, S. 81.

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Professionalität einerseits noch weiteren theoretischen Klärungsbedarf nach sich ziehen, andererseits strukturell noch nicht befriedigend umgesetzt sind, – man muss hierzu nur die Diskussion um den Diakonat als geordnetes Amt der Kirche verfolgen – so weisen ihre beruflichen Handlungsvollzüge doch eine Reihe professioneller Merkmale auf. Allerdings muss eingeräumt werden, dass diese „aufgrund ihres fragmentarischen Charakters dazu führen, dass Desorientierungserfahrungen und Plausibilitätsverluste auf der beruflichen Tagesordnung stehen“.45 Solche Desorientierungserfahrungen und Plausibilitätsverluste sprechen nicht gegen einen Professionalisierungsanspruch, denn sie gehören zu den Paradoxien beruflichen Handelns. Im Fall von Sozialdiakon_innen müsste aber die Verunsicherung zu einer erhöhten Selbstreflexivität der eigenen religiösen Orientierung führen. Nach Schütze rühren die Paradoxien professionellen Handelns letztlich daher, „dass der abgegrenzte höhersymbolische Orientierungsbereich, an dem sich der Berufsexperte ausrichtet, nicht problemlos mit der alltäglichen Existenzwelt seines faktischen Berufshandelns und der Lebensführung des Klienten vermittelbar ist“.46 Bei Sozialdiakon_innen dürfte diese Problematik zu einer höheren Reflexion des eigenen beruflichen Selbstverstehens führen, da zum einen tragende Elemente ihrer professionellen Rolle wie das Verständnis von Amt und Profession nach wie vor ungeklärt sind, zum anderen bei vielen Klienten eine christliche Lebensführung nicht vorausgesetzt werden kann. „Allein die organisationshochverbundenen Kirchenmitglieder sind in der Lage, ihre religiöse Lebensproblematik durch die Sprache der Überlieferung angemessen ausgedrückt zu finden“, schrieb bereits Karl-Fritz Daiber.47 Die daraus resultierende fortwährende Vergewisserung der Zielvorstellungen eigenen beruflichen Handelns müsste also eine erhöhte Auseinandersetzung mit der Leistungskraft und den Ansprüchen religiöser Orientierungen nach sich ziehen. Aufgrund dieser theoretischen Perspektive liegt folgende These nahe: Sozialdiakoninnen und Sozialdiakone werden aufgrund der inhärenten Paradoxien ihres professionellen Handelns zur Reflexion und Integration religiöser Deutungsmuster in ihr berufliches Selbstkonzept veranlasst. Also nicht „Professionalisierung statt ‚ewiges Leben‘“, sondern „Professionelles Kongruieren mit Vorstellungen ewigen Lebens“. Im folgenden Abschnitt soll diese These nun anhand empirischer Befunde auf ihre Gültigkeit überprüft werden.

3.  Zum beruflichen Selbstkonzept von Diakoninnen und Diakonen Legt man das im vorigen Abschnitt erläuterte weite Professionalisierungsverständnis zugrunde, muss der genannten These einer zunehmenden Reflexion und Integration religiöser Orientierungen als Folge der Paradoxien sozialdia45 Ebd. 46  47 

Schütze, Sozialarbeit, S. 137. Daiber, Kirchliche Identität, S. 135.



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konisch-professionellen Handelns widersprochen werden. Die Verberuflichung (Professionalisierung) vormals ehrenamtlicher Arbeit bei gleichzeitigem Wegbruch der spezifischen Trägerinnen des diakonischen Ethos, der Diakonissen, führte zu einer Distanz eines Großteils der Mitarbeitenden der Diakonie zur christlichen Überlieferung. Die Mitarbeiterschaft ist heute fast genauso pluralistisch verfasst wie unsere Gesellschaft. Dies soll im Folgenden exemplarisch anhand der gegenwärtig durchgeführten Studie „Pflegen aus der Kraft des Glaubens? Oder: Wie geht’s den Pflegenden in diakonischen Krankenhäusern?“48 aufgezeigt und zwei Befunde aus der Studie kurz erläutert werden; diese lauten: (1) Die religiös bedingten Ressourcen spielen für das Verhältnis von Arbeitszufriedenheit – Sinnerleben im Beruf und hinsichtlich der Vorkommnisse von Burnout keine signifikante Rolle. (2) Nur ca. 10 Prozent der antwortenden Pflegepersonen wünscht sich, entsprechend des ersten Befundes, ziemlich oder sehr Informationen über den Glauben und/oder religiöse Angebote. Dagegen wünschen sich 26 % ziemlich oder sehr Unterstützung im Umgang mit Sinnfragen. Dass auch der christliche Glaube einen Beitrag zum Umgang mit Sinnfragen liefert wird dabei von den Pflegekräften gar nicht wahrgenommen. Dieser Umstand weist darauf hin, dass die Orientierungskraft des christlichen Glaubens durch explizite Angebote zuerst deutlich gemacht werden muss – denn im Verständnis der Pflegekräfte kann ein solches („Vor“-)Verständnis nicht mehr vorausgesetzt werden. Gleichzeitig zeigt diese Untersuchung an, dass eine Verpflichtung zur Teilnahme an Weiterbildungsangeboten im christlichen Glauben für Mitarbeitende der Diakonie wenig Sinn machen würde, denn laut dieser Studie zeigen nur ca. 15 % der Pflegekräfte eine Empfänglichkeit für entsprechende Angebote. Dies entspricht in etwa den Zahlen für den Bereich der Hochreligiösen in Westdeutschland, die der Bertelsmann Religionsmonitor 200849 ausweist. Ausgehend von dieser Studie müsste „Professionalisierung statt ewiges Leben“ nicht als Frage, sondern vielmehr als belegbare Aussage im Titel dieses Beitrags erscheinen. Innerhalb der diakonischen Träger werden diese Befunde jedoch vielmehr als Anfrage an die diakonische Identität von Einrichtungen wahrgenommen. Entsprechende Aktivitäten im Rahmen einer diakonischen Unternehmenskultur sowie explizite Kurse in Glaubensfragen können als Antwortversuch und als organisationsinterne Diskussion eines entsprechenden diakonischen Identitätsmarkers gedeutet werden.50 Es wäre also zu kurz gegriffen, aus den Studienergebnissen den vereinfachten Schluss einer säkularisierten Diakonie zu schließen. Studien aus der Organisationsforschung weisen zudem darauf hin, dass nur ca. 20 bis 30 Prozent der Mitarbeitenden die Kultur einer Organisation prägen können.51 Eine dementsprechende Trägergruppe von Mitarbeitenden innerhalb der Diakonie würde also genügen, um eine 48 Vgl.

Lubatsch, Arbeitsbedingungen diakonischer Pflege. Bertelsmann Stiftung, Woran glaubt die Welt. 50 Vgl. Eurich, Glaubensbildung. 51 Vgl. Hauser u. a., Unternehmenskultur. 49 Vgl.

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spezifische diakonische Identität ausbilden und gestaltend in das Unternehmen einzubringen. Hier bieten sich die Diakoninnen und Diakone an, die ausgehend von der Doppelqualifikation in ihrer Ausbildung bis hin zur spezifisch diakonischen Handlungslizenz eine prädestinierte Akteursgruppe diakonischer Zielvorstellungen Sozialer Arbeit sind und als Angehörige einer Profession im engeren Sinn beschrieben werden können. Dabei ist anzumerken, dass die Diakoninnen und Diakone allerdings nicht mit den in der Studie oben genannten 15 % religiös Interessierter innerhalb der Diakonie identisch sind, da Diakoninnen und Diakone nur in kleiner Zahl in der Pflege arbeiten. Wie also steht es um das sozialdiakonische berufliche Selbstkonzept der Diakoninnen und Diakone? In seiner Dissertation über diakonische Professionalität hat Rainer Merz das berufsbiographische Selbstverständnis von Diakoninnen und Diakonen mittels qualitativer Interviews herausgearbeitet. Zwei seiner die hier untersuchte Fragestellung betreffenden Ergebnisse sollen im Folgenden exemplarisch dargestellt werden: (1) Zum einen spricht Merz von Spiritualität als berufsspezifischer Grundhaltung von Diakoninnen und Diakonen in kirchlich-diakonischen Handlungsfeldern.52 Er bezieht sich dabei nicht auf einen unspezifischen Container-Begriff von Spiritualität, sondern verwendet den Begriff deckungsgleich zu „Frömmigkeit“: „Ein Charakteristikum für die Arbeit von Diakoninnen und Diakonen in der kirchlich-diakonischen Arbeit ist, dass diese mit ihrem beruflichen Handeln auch ihre persönlichen Glaubensüberzeugungen zum Ausdruck bringen und sich dementsprechend auch auf religiöse Themen ansprechen lassen.“53 Frömmigkeit gehört zu ihrem beruflichen Habitus und wirkt sich in einer positiven Grundhaltung gegenüber dem Leben aus, die sich nach Schmidt in „enttäuschungsresistenten und kritischen Potenzen“54 zeigt. Dabei sind es vor allem persönliche Glaubenserfahrungen, die zur Handlungsbegründung herangezogen werden. Offenbar können theologische bzw. diakoniewissenschaftliche Konzeptionen nicht ohne Weiteres auf Praxissituationen übertragen werden, so dass aus diesen keine unmittelbare professionelle Handlungsrelevanz erwächst. Die Wahrnehmung und Deutung religiöser Bezugspunkte in den jeweiligen professionellen Handlungssituationen und das achtsame Integrieren derselben in das professionelle Handeln wird vorzugsweise über die Ausgestaltung der eigenen Berufsrolle vor dem Hintergrund der eigenen Glaubenserfahrungen geleistet.55 (2) In den Antworten der interviewten Diakoninnen und Diakone wird deutlich, dass sie in ihrem Beruf eine Gegenwelt sehen, die durch eine spezifisch diakonische Perspektive konturiert wird: die Vorstellung einer gerechten, solidarischen Welt, die sie auch für marginalisierte Menschen erhoffen und 52 Vgl.

Merz, Diakonische Professionalität, S. 260 ff. Merz, Diakonische Professionalität, S. 260. 54  Schmidt, Zur Diakonie, zitiert nach Merz, Diakonische Professionalität, S. 272. 55 Vgl. Nübel, Neue Diakonie, S. 10: „Der Glaube gestaltet sich aus in bestimmten Rollen, in denen sich berufliches, an Professionalität orientiertes Handeln ausprägt.“. 53 Vgl.



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auf die sie sich mit ihrem professionellen Handeln beziehen.56 Entsprechend spielen Ungerechtigkeitserfahrungen eine wichtige Rolle in der Entstehung ihrer Berufsmotivation. Die biblische Überlieferung bietet dabei Orientierung in der Ausbildung eigener Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit. „Diakonisches Handeln lebt für sie“, so die Interpretation von Merz, „von dem Glauben an und der Hoffnung auf eine andere Welt. Wobei die Situation der Mitmenschen hier nicht im Vorhandenen aufgeht, sondern das diakonische Handeln der untersuchten Personen fragte oftmals, wie es anders sein könnte. Letztlich ging es immer wieder um den Freiraum für ein neues und anderes Leben“.57 Im Kontext praktisch-diakonischen Handelns wurde dabei besonders eine spezifische Methodik vermisst, mittels derer abstrakte theologischen Aussagen auf das faktische Berufshandeln bezogen bzw. für eine theologisch-ethische Praxisreflexion verwendet werden können.58 Diakonische Professionalität im engeren Sinn verdrängt also nicht theologische Orientierungen, sondern macht die Entwicklung methodischer Verfahren für deren Vermittlung mit professionellem Handlungswissen zu einer vordringlichen Aufgabe.

4.  Theologische Perspektive auf diakonische Professionalität Die bisher entwickelte Argumentation soll in dem nun folgenden letzten Schritt aus theologischer Perspektive in den Blick genommen werden. An mehreren Punkten ergeben sich Verbindungslinien, aber auch Rückfragen: (1) Verbindungslinien: Professionalisierung ist nicht zwingend als Gegensatz zu theologischen Vorstellungen zu interpretieren, sondern kann auch als Folge der im Neuen Testament sichtbaren Tendenz zur Universalisierung ethischer Orientierungen verstanden werden. Gerd Theißen macht am Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10) deutlich, dass religiöse Motive nicht als exklusive und auch nicht als vorgeordnete Quelle sozialer Hilfsmotivationen gelten können: „Die klassische Erzählung zur Begründung christlicher Hilfsmotivation, die Samaritergeschichte, gibt wenig zur Begründung einer spezifischen christlichen Hilfsmotivation her. Und sie gibt erst recht nichts her, um eine allgemein-menschliche Hilfsmotivation abzuwerten. Im Gegenteil! Die Geschichte kann als Aufforderung an uns verstanden werden, Hilfsmotivationen bei allen Menschen zu entdecken und anzuerkennen. Hilfsmotivation ist souve-

56 

Merz, Diakonische Professionalität, S. 243 f. Merz, Diakonische Professionalität, S. 283. 58 Vgl. Merz, Diakonische Professionalität, S. 273: „Diese Schwierigkeit bei der Vermittlung von Theorie-Praxisbezügen oder anders ausgedrückt zwischen der Sinnwelt der Professionellen und Existenzwelt des Klientel fordert die diakoniewissenschaftliche Ausbildung in besonderer Weise heraus, denn die Anhäufung von theologisch-ethischem Wissen allein hat, […] so gut wie keine professionelle Handlungsrelevanz, wenn nicht gleichzeitig deren Umsetzung in konkrete Praxissituationen ausführlich trainiert wird.“. 57 

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rän gegenüber kulturellen und religiösen Grenzen.“59 Mit dieser Anerkennung allgemein menschlicher Hilfsmotivationen wird zugleich ein Wechsel weg vom rechten Tun als Ausweis des richtigen Glaubens hin zur Linderung der Not an sich vollzogen. Nicht mehr die religiösen, sondern die funktionalen Aspekte der Hilfeleistung rücken ins Zentrum. So leistet der Wirt im Gleichnis die eigentliche Pflege; er hat Kenntnisse, Räume, Kompetenzen und ist von manchen Auslegern als Grundtypus einer modernen professionellen Sozialen Arbeit bezeichnet worden. Professionalisierung beginnt nach dem Sozialarbeitswissenschaftler Hans Thiersch also schon hier im Neuen Testament: „Der Wirt übernimmt die Probleme; er ist dazu ausgestattet und qualifiziert.“60 Von hier ließen sich weitere Verbindungslinien über Luthers Aufwertung des weltlichen Berufs bis hin zum Verständnis der Sachlichkeit bzw. Professionalität als moderne Interpretation der reformatorischen Berufslehre ziehen. In diesem Sinne hat Traugott Jähnichen jüngst vorgeschlagen, den von Luther mit dem Begriff „Beruf“ bezeichneten Sachverhalt auf neue Weise zu profilieren, indem die im Horizont des traditionellen Berufsethos gemeinte Selbstbestimmung des Menschen zur Arbeit und seine Verantwortung in der Arbeit mit dem Begriff „Ethos der Professionalität“ umschrieben wird: „Dieses Ethos der Professionalität ist ein wesentlicher Aspekt eines Ethos der Lebensführung, das in Anknüpfung an den weiten Begriff des ‚Berufes‘ bei Luther die Vielfalt der menschlichen Tätigkeitsformen und die darauf beruhenden gesellschaftlichen Anerkennungsverhältnisse reflektiert.“61 (2) Eine weitere Verbindungslinie zwischen Professionalisierungsdebatte und Theologie kann im Kontext der Frage nach dem ewigen Leben gezogen werden. Bezeichnenderweise bildet diese Frage die Rahmenhandlung des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter und wird ihrerseits eingeleitet von der Frage nach dem rechten Tun. Das nachfolgende Gleichnis vom Samariter erläutert, worin das rechte Tun zum ewigen Leben besteht und wird von Jesus anschließend auch so bestätigt: „Dies tue und du wirst leben“ (Lk 10,28). Gerd Theißen folgert: „Wenn nun als Illustration die Rettung eines Menschen folgt, der als ‚halbtot‘ bezeichnet wird, so kann das kein Zufall sein. Zwischen dem geforderten ethischen Verhalten und seinem Lohn dürfte auch hier ein innerer Zusammenhang bestehen: Wer den Menschen vor dem Tod bewahrt und so Leben rettet, der wird ewiges Leben haben, ein Leben, das nicht mehr vom Tod bedroht ist.“62 Damit deutet Theißen bereits eine Interpretation des Begriffes vom ewigen Leben an, welche die verschiedenen theologischen Vorstellungen präsentischer oder futurischer Eschatologie in einem Punkt umschließen kann: dem „Leben jenseits des Selektionsprinzips“.63 Damit wird eine Lebensdeutung eingefordert, die nicht durch die biologische Perspektive bestimmt ist, nach der die ungleiche Verteilung von Fortpflanzungs- und Überlebenschancen mittels des Todes in 59 

Theißen, Bibel diakonisch lesen, S. 383. Thiersch, Lebenswelt und Moral, S. 56. 61  Jähnichen, Arbeit als Beruf?, S. 42. 62  Theißen, Bibel diakonisch lesen, S. 392. 63  Theißen, Bibel diakonisch lesen, S. 393. 60 



Professionalisierung statt ‚ewiges Leben‘?

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immer neuen Generationenfolgen selektiert wird. „Wo von einem ewigen Leben gesprochen wird, befindet man sich immer schon jenseits des Selektionsprinzips.“64 Die rein funktionale Deutung des Hilfegeschehens wird damit allerdings überschritten: „Solange man nur von einem Leben im biologischen Sinne spricht und Hilfe dadurch begründen will, was biologisch (und evolutionär) funktional ist, werden einem schnell die Argumente für das Helfen ausgehen – gerade dort, wo christliche Nächstenliebe immer ihre besondere Aufgabe gesehen hat: bei den zerstörten, zerrütteten, hilflosen Menschen, die oft nur noch ein Schatten ihrer selbst sind.“65 Die Vorstellung ewigen Lebens gibt einen anderen Deutungshorizont vor. Spricht man von einem Leben jenseits des Selektionsprinzips, jenseits von biologischem Leben und Sterben in evolutionärer Funktion, kehrt sich die Perspektive um. Ewiges Leben meint Leben in einer anderen Zielrichtung, denn es bedeutet Anteil an Gottes Leben schon im Jetzt und Hier zu haben: „Wir wissen, dass wir aus dem Tod ins Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben“ (1 Joh 3,14). Die Antwort des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter auf die Frage des Schriftgelehrten lautet also: „Wenn du ein Leben jenseits des Selektionsprinzips willst, dann handle antiselektionistisch: Rette das Verlorene!“66 Nächstenliebe gibt damit Zeugnis von und hat Teil am ewigen Leben Gottes. Dies in den jeweiligen Handlungskontexten sozialer Arbeit behutsam deutend einzubringen, ist Kern diakonischen Kongruierens. (3) Die Überschreitung der funktionalen Perspektive, oder anders ausgedrückt, das Verständnis einer sozial-diakonischen und nicht sozialarbeiterischen Professionalität, hängt entscheidend von dem für das Hilfehandeln zugrundgelegten Begründungsparadigma ab. In theologischer Perspektive ist Nächstenliebe „die soziale Gestalt des Glaubens. Sie ist nicht nur eine gottgewirkte Haltung eines glaubenden Menschen, sondern gleichzeitig eine Aktualisierung Gottes in der Form menschlicher Zuwendung. […] Die im Glauben Gerechtfertigten wissen sich zum zielbezogenen Handeln von dem befähigt, dessen Kraft in den Schwachen mächtig ist.“67 Um auf Grundlage der Rechtfertigungslehre diakonische Zielvorstellungen entwickeln zu können, ist folglich die religiöse Selbstvergewisserung der Betroffenen Voraussetzung. Dies wurde auch in den berufsbiographischen Interviews von Diakoninnen und Diakonen deutlich. An dieser Stelle ergibt sich eine Rückfrage im Zusammenhang mit dem eingangs dargestellten Wandel der Sozialform Religion. Nach diesem herrscht heute ein individualisiertes Verständnis von Religion vor, das in der subjektiven Plausibilität seinen entscheidenden Bezugspunkt hat. Die Veränderungen in der Religionsform scheinen sich, wie gezeigt, hauptsächlich innerhalb kirchlich verfasster Religiosität zu vollziehen. „Pollack erklärt sich diese Unbestimmtheit in Sachen Religion damit, dass es im Religionssystem keinen Entscheidungszwang 64 Ebd. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 

Schmidt, Zur Diakonie, S. 328 f.

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gibt und die Menschen es schätzen, sich hier nicht (auch noch) positionieren zu müssen.“68 Kirchlichkeit und synkretistische sowie individualisierte Formen der Religiosität schließen sich also nicht mehr aus. „Dabei werden inhaltliche Kriterien wie z. B. die innere Logik, die den Zusammenhang der Dogmen begründete, aufgegeben zugunsten der Frage, womit man sich noch identifizieren kann und womit nicht mehr.“69 Die Anverwandlung religiöser Inhalte nach Maßgabe ihrer subjektiven Relevanz steht jedoch im Gegensatz zur Bestimmung des christlichen Glaubens, der seine Legitimation aus der „Wahrnehmung der Gegenwart Gottes in unserer Wirklichkeit“70 bezieht. Zwar ist damit auch ein subjektives Moment der Wahrnehmung angesprochen, jedoch nicht mehr im Modus subjektiver Wahl, sondern im Modus der Einführung in die Glaubensperspektive: „Man muß sich deshalb auf den Glauben einlassen, um die Wirklichkeit in den Blick zu bekommen, an der der Lebensvollzug der Glaubenden selbst gemessen sein will“,71 so Ingolf Dalferth. Das Motto lautet nicht „Was Gott ist, bestimme ich!“, sondern „Was wir sind, bestimmt Gott“, so dass Gottes Wirklichkeit als Prüfstein der Wahrheit des Glaubens gilt, der Gegenstand des Glaubens jedoch von seinem Lebensvollzug differenziert wird.72 Glaube geht also nicht in der funktionalen Bedeutung für die Glaubenden auf, sondern weiß um die Differenz zwischen Gottes Wirklichkeit und dem Glauben an sie. „Im christlichen Glauben geht es um eine – Gott selbst als Ursache zugeschriebene – Wahrnehmung von Wirklichkeit“73. An dieser Stelle sei auf den eingangs erläuterten Religions- und Transzendenzbegriff von Luckmann verwiesen, da er sich kategorial vom christlichen Glaubensverständnis unterscheidet: denn Religion vollzieht sich bei Luckmann nicht nur außerhalb der traditionellen religiösen Riten und Symbolwelt in der Privatsphäre, sondern kann auch in ihrem Bezug diesseitig sein: „Die psychoanalytisch kultivierte Selbstthematisierung und die Sakralisierung des Körpers in Fitnesscentern“74 gehören für Luckmann ebenso zu Sozialformen der Religion wie religiöse Riten innerhalb der kirchlich institutionalisierten Religion. Christlicher Glaube hingegen weist das Individuum über seine eigene subjektive Religiosität hinaus auf die Wirklichkeit Gottes hin, die im Glauben zwar wahrgenommen, aber nicht mit diesem gleichgesetzt werden kann. Die Wahrheitsgewissheit des Glaubenden ist daher immer eine Gewissheit innerhalb der Kommunikation des Glaubens. Diese „schließt immer auch schon (Ansätze zur) Kommunikation über den Glauben und damit die Öffnung auf weitere Öffentlichkeiten hin ein“.75 Diese anderen Öffentlichkeiten sind sachlich durch eigene kommunikative Prozesse bestimmt. In der immer wieder neu 68 

Karle, Kirche im Reformstress, S. 61 f. Eurich, Symbol und Musik, S. 49. 70  Dalferth, Was Gott ist, S. 425. 71 Ebd. 72 Ebd. 73  Dalferth, Was Gott ist, S. 429. 74  Karle, Kirche im Reformstress, S. 18. 75  Karle, Kirche im Reformstress, S. 427. 69 



Professionalisierung statt ‚ewiges Leben‘?

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zu fassenden Differenz zu den Überzeugungen der sozialen Umwelt entwickelt sich auch diakonische Professionalität als christliche Identität. Ihren Bezugspunkt hat sie in der Ausrichtung auf die Zukunft Gottes. Denn die Differenz des christlichen Glaubens zur Gesellschaft ist eschatologisch begründet, in dem sie erst durch die eschatologische Hoffnung auf die neue Welt Gottes geschaffen wird.76 Im Blick auf die Ausbildung einer diakonischen Professionalität bedingt dieser Zusammenhang jedoch eine entsprechende Einführung in und individuelle Orientierung am christlichen Glauben. Bei den von Merz interviewten Personen verdankte sich das christlich konturierte berufliche Selbstkonzept einer Beheimatung im Raum der Kirche. Angesichts biographisch oftmals als einschneidend erlebter Ungerechtigkeitserfahrungen bot gerade die Kirche einen unbedrängten Freiraum zur Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen und zur Entwicklung der Sehnsucht nach einer anderen Welt. Wenn Glaube individueller wird, dann werden jedoch auch die religiösen Vorstellungen bunter und Kirche muss sich dieser Herausforderung unweigerlich stellen. Ebenso ruft die Beobachtung, dass Kirche nach wie vor eine entscheidende Rolle bei der Ausprägung von Religiosität spielt und den Raum für religiöse Formen schlechthin bietet, Kirche und Diakonie in die Verantwortung: denn nach wie vor sind es die traditionellen Sozialformen von Religion, die als Konstitutivum des Glaubens fungieren – darauf weisen die eingangs erwähnten Befunde hin: „Auch wenn es theoretisch möglich ist, an Gott zu glauben, ohne an den kirchlich angebotenen Interaktionen teilzunehmen, gibt es doch faktisch nur einen geringen Prozentsatz, der gläubig ist ohne die Kirche.“77 Die Untersuchung zum berufsbiographischen Selbstverständnis von Diakoninnen und Diakonen scheint eher eine bereits im Alter fortgeschrittene Kohorte von Diakoninnen und Diakonen zu repräsentieren. Die Frage ist, wie diakonische Professionalität unter Voraussetzungen einer weltanschaulich pluralistischeren Mitarbeiterschaft ausgebildet werden kann. Neben den bereits angemahnten Vermittlungsmethodiken, die den handwerklichen Instrumentenkasten der Diakonin/des Diakons ergänzen sollten, wird sich die Diakonie vermehrt um die Eröffnung von Räumen für Glaubenserfahrungen bemühen müssen. Denn die Sicht, dass diese Welt nicht auf ihre Unerlöstheit festgelegt ist, sondern mitten in ihr eine neue Schöpfung beginnt, erschließt sich nur dem, der sich auf die Perspektive des christlichen Glaubens einlässt. Gelingt dies, muss Professionalität nicht an die Stelle von Vorstellungen ewigen Lebens treten, sondern kann im Lichte der neuen Schöpfung im diakonischen Sinn als rettende Gegenselektion, als Zeugnis für Gottes souveräne Liebe begriffen werden, die in der Widersprüchlichkeit dieser Welt das Verwundete rettet. „Christlich motivierte Diakonie teilt die Würde natürlichen

76 Vgl. 77 

Volf, Christliche Identität, S. 363. Pollack, Was tun?, S. 132.

300

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Helfens, teilt die ganzen Widersprüche der Hilfe – aber sie lebt von der Hoffnung, daß diese Widersprüche nicht das letzte Wort sind.“78

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78 

Theißen, Bibel diakonisch lesen, S. 401.



Professionalisierung statt ‚ewiges Leben‘?

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Unsayability and the Promise of Salvation An Apophatics of the World to Come William Franke The following remarks, which are extracted from my philosophical theology of the unsayable1, aim to show how negative resources of language harbor a kind of access to another world and potentially to salvation in a sense that can interpret the deeper meaning of the Judeo-Christian tradition of redemption theology. They re-propose such notions in a philosophically reflective key and in a contemporary language that reconceives (or unconceives) certain traditional forms of faith in eternal life. The negative linguistic resources called upon here are found in the millenary tradition of apophatic discourse that has developed in negative theologies since ancient and medieval times. Similarly revealing are modern negative aesthetics or poetics, exemplarily ones characteristic of Baroque and Romantic culture. Once again today, radically kenotic self-critical forms of contemporary, especially postmodern philosophy employ apophatic logics and rhetorics in ways that open our world and experience towards a beyond or Jenseits that has been understood religiously for millennia in terms of redemption. My contention is that an intrinsic negativity that has generally remained in the margins of these traditional discourses holds the key for unlocking the sense (or rather the beyond-of-sense) of such superlatively positive notions as “salvation” and “everlasting life.” Taken as hyper-positive, such notions need to be understood on the basis of the constitutive negations that enable them. The argument picks up following a discussion of Hegel as an ambiguously anti-apophatic thinker who provoked myriad postmodern reactions that in our own time have brought about a prodigious apophatic renaissance. The break with Hegel and with absolute knowledge – the focus on that which remains necessarily outside all systems of knowledge, even outside conscious, verbally articulable experience and so denies itself to speech – opens a vast new field of inquiry for contemporary thought. It is essentially the field in which apophatic thinking has flourished time and again in the wake of the perennial crises of Logos. The same questions as were struggled with through the whole antecedent apophatic tradition arise again in new guises. Most obviously, one can never finish with asking: How is this “realm” of the unsayable to be conceived? For if we know anything about it, we know precisely that it is not conceivable at 1  The body of the essay is adapted from Franke, A Philosophy of the Unsayable, chapter 2, section iii, pp.55–70.

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all. Can it then be experienced? Can there be some kind of a journey to the other side of knowledge and into Unknowing? Is such experience, then, an experience of language, that is, of the limits of language, or is it, finally, altogether beyond and apart from language? What cannot be said is often imaged to be quintessentially invisible, for example, in the Bible’s account of God’s refusal to show his “face” to Moses (Exodus 33: 18–20). This becomes a fulcrum for mystical theology in the style of Gregory of Nyssa in his De vita Moysis. But the unsayable also sometimes figures as what by its nature must “show itself,” famously in Wittgenstein’s formulation: “There is indeed the inexpressible. This shows itself; it is the mystical” (“Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische”).2 A showing of that which exceeds all articulations in language is theorized again, but in quite a different direction, as the “saturated phenomenon,” by Jean-Luc Marion.3 A paradoxical phenomenology of the invisible, stemming in crucial ways from Maurice Merleau-Ponty’s Le visible et l’invisible, is pursued in a theological vein by French philosophers in the wake of Emmanuel Levinas and his peculiar ultraphenomenology. This results in a significant theological turn in recent French phenomenology undertaken by theologically minded thinkers such as Michel Henry and Jean-Louis Chrétien.4 The latter’s L’antiphonaire de la nuit can be placed specifically in the Dionysian tradition of the luminous darkness that calls forth liturgical response and first enables true sight. Still more deeply puzzling than the question of whether what cannot be said must in some sense be seen is the issue of its relation to language. Is the unsayable beyond language altogether, as mystics often fervently maintain? Does this make it simply non-linguistic? Or is it the other of language and therefore inextricable from language (Derrida)? Or is it without relation to language (Blanchot)? Or is it language itself, the being or essence of language (“das Wesen der Sprache”), as Heidegger maintains? Paradoxically, what cannot be said can only be said (de Certeau): for all we can tell, it is nothing but this verbal negation itself. And yet when Henri Meschonnic argues that the inexpressible exists only by virtue of language (“L’inexprimable n’existe que par le langage”), he shows how throughout monotheistic religions the existence of God as the unsayable is recognized specifically through this peculiarly verbal presence.5 Many and endless such absolute aporiae are generated by what transcends language, by what cannot be said. This transcendent-of-language can be conceived of equally well as Nothing or as Everything. In virtue of absolute singularity it entails total incomparability, while at the same time, it also illuminates the complete connectedness of everything, indeed the deep indistinguishability and ultimate oneness of everything. The condition of being unsayable encompasses 2 

Wittgenstein, Tractatus, 6.522. Marion, De surcroît. 4  Janicaud, Le tournant théologique. 5  Meschonnic, Dieu absent, p. 358. 3 



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all these seemingly incompatible possibilities. The claim is frequently made in apophatic tradition, for example, in the Sufism of Ibn al-Arabi, that total transcendence and pure immanence come to coincide in what cannot be said. Neither ought to be asserted without the other. Both must be held together, even in their contradictoriness, on the verbal level: “If you insist only on His transcendence [tanzih], you restrict him, And if you insist only on His immanence [tashbih], you limit him.”6

Admittedly, then, it proves impossible to decide these antinomies in favor of one alternative or the other. The apophatic is the locus par excellence of complete contradiction and paradox, of coincidentia oppositorum, in a language given currency by Nicholas Cusanus (1401–1464). Might we, then, envisage an asymptotic point of “indiscretion” at which all such alternatives collapse together and cannot be dissevered or even discerned from one another?7 Meister Eckhart teaches that nothing can be compared to God because nothing is distinct from him. Absolute distance and no distance at all alike prevent any sort of articulation. Total mediation becomes indistinguishable from sheer immediacy in language, as Benjamin, for one, makes manifest.8 The unsayable must be expressed in contradictory forms because it can have no proper identity of its own but exerts absolute, decisive influence in all directions on everything else. If it had any kind of identity, what cannot be said would be, to that extent, sayable. Nor is it permissible to conceive of “what cannot be said” as a certain something shared in common by all these discourses, giving them the unity of reference ad unum. There is no “what” to which discourses of the ineffable refer. Therefore the affinity that is sensed among these discourses cannot be reduced to a definition, for that would be to say what these discourses do not and cannot say. Rather, what associates these different languages with one another is that each, in its own way, discovers at its limit something that it cannot articulate and discovers that this unsayable something is decisive for its own discourse. Yet this unsayable something/nothing is in every case unique and incomparable. The uncanny kindredness of the discourses of apophasis across the widest range of periods and disciplines is itself nothing that can be adequately accounted for. It, too, testifies to what cannot be said. For “what cannot be said” is not a rigorous definition of any subject matter; it is not a definition at all, nor even properly a description. It can only be specified in terms of a linguistic operation that negates any possible object and so dissolves the designation of anything definite and identifiable. Nevertheless, the mutual affinity of all these discourses is unmistakable. 6  Ibn Arabi, Fusus al-Hikam [Bezels of Wisdom], p. 70. See, further, Corbin, L’imagination créatrice and Chittick, The Sufi Path of Knowledge. 7  Carlson extends his work on “indiscretion” in a mystical anthropological direction in The Indiscrete Image: Infinitude and Creation of the Human. 8  Benjamin, Über die Sprache.

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It is paradoxically the incomparability of what is experienced in each case that invites – and alone allows for – comparison. This phrase “what cannot be said” enables us to unite, as if under one cover, a vast range of texts tethered to vastly different experiences embedded in widely disparate spheres of culture and history (W. Franke). We are compelled to compare these experiences precisely with regard to their incomparability. Intrinsically recalcitrant to any form of expression, the “experience” expressed in apophatic discourse is always totally different and (strictly speaking) completely without comparison. Here, Bataille’s “inner experience” could be called upon as witness. Whether classical or contemporary, apophatic discourses are about nothing, no definable theme. They have an affinity that consists in precisely nothing, nothing that can be objectively defined: it is rather performed in backing off from every definition and from every objective expression. Essence and truth are intimated only at this remove – not as themes, not as “themselves,” but as their negation and undoing. This is not denial or denigration, which must identify something definite as their target, but rather “de-negation,” a negation that unsays itself – in order to leave alone what cannot be said and therefore cannot be negated either. If it is “deconstruction,” the result is not that truth, essence, or totality are unmasked as bankrupt notions and so finally stop importuning us and disappear, but rather that they appear as disappearing into the zone of the inexpressible. They vanish under the temporality of all that can be said and represented, leaving only traces that are not themselves. These values and idealities are not grasped, nor can they be. They are glimpsed only in their dis-appearance into what cannot be said and thus cannot appear directly or as such and in itself, but only in this act of relinquishment – a letting go and turning away from everything that is something, as in Eckhart’s “Abgeschiedenheit.” This glimpsing and relinquishing of such “metaphysical” ideas as truth and totality (or redemption and eternity) can actually be the vindication of them, showing how they have really operated all along and showing them to inhabit, or at least haunt, the very limits of all significance. So far from being (simply) meaningless, they force the very possibility of meaning to its limits, illuminating the point where being meaningless and meaningful first separate into mutual opposition. These ideal concepts may even be recuperated, yet not as secured and grounded, but as open, free, abyssal – and as such “restored” to their true dignity and potency. The spell they have cast historically becomes once again comprehensible. As modalities of the unsayable, truth and totality and other such idealities and virtualities – eternal life and salvation figuring prominently among them – become more credible, more undeniable, more potentially imposing than ever before. In experience (or consciousness or “revelation”), there is always also something that withholds itself and withdraws from experience, never becoming fully conscious and revealed, something that remains necessarily unarticulated in terms of the experience or consciousness or revelation of which it is the enabling condition. We must let go of all these concepts, in order to let what they



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cannot express disclose itself. It does so in this very relinquishing of concepts and discourse, in the unsaying that lets what cannot be said show up and, to this extent, “be” nothing that can be said (even to be). The point is that this cannot be said or experienced, and yet in accepting this miss, this naught – and hearing and seeing it in our language as it releases its conceptual holds – we can nevertheless be genuinely receptive and attuned to what this language inevitably fumbles saying and lets escape. This movement of backing off from any and all articulations is what all apophatic discourses share in common. There are, of course, extremely different motivations for such back-tracking of speaking. But, in any case, it is the negative movement of language back upon itself, releasing its hold on itself and all its definitions, that opens a glimpse into what this language cannot say. Something is revealed concerning a hollowness at the core of language and an open space within all our experiences and within all the “phenomena” that we as finite, discursive beings encounter. Can this revelation suggest some higher plenitude, where what we grasp verbally in the form only of deficiency, negation, and difference is whole, intact, and infinitely potent? We are aware of something that cannot be said, but so far as what can be said in relation to it goes, we seem to be left free. There can be no theory per se of what cannot be said, yet literary forms can nevertheless enable us somehow to “see” it, to give it a form, and this “seeing” (theorein in Greek) paradoxically takes place in words – going through and beyond them. Indeed literary forms, given their “poetic function” (in Roman Jacobson’s sense), are peculiarly apt to train attention upon language where manifestation of the apophatic is taking place. This anti-logic of discourse which negates and withdraws itself as discourse or, in other words, apophatic logic, can be seen underlying and connecting all its various expressions – mystical and anti-mystical, discursive and intuitive, abstract and concrete, verbal and nonverbal. The full riches of discourse are discovered to be accessible, paradoxically, only in discourse’s extreme reduction and virtual vanishing. Only what appears in this disappearing of discourse – albeit still mediated by discourse – really counts. This is a relatedness revealed by dismantling all relations that can be articulated linguistically, a “relationless relation,” to use Blanchot’s phrase. It is a purely inarticulable, unsayable relatedness, a relatedness in unsayability. It is therefore a relatedness that is not just artifice, but is revealed by the removal of all artifices of language, in order to leave only the unsayable as a miraculously given order – or anarchy – of (cancelled) relations. What discourses on what cannot be said have in common, then, cannot be a common object. The unsayable is not an object at all. Any object can, in some language, be said. To be an object is to be within the purview of some framework for perception or conception. An object is correspondent to and commensurable with some system permitting cognition and articulation of experience. If there is, after all, in some sense, an experience of “what cannot be said,” this could only be an experience with literally no content proper to itself. Yet experiences, all of

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them, have their limits. And although there can be no discrete experience of what cannot be said, it is experienced in all experiences precisely at – and as – their limit. To this extent, it occurs within and impinges upon every experience, but is never experienced as such or as properly an object of experience. And yet this “experience,” in the penumbra of experience of all that can be objectively focused, nevertheless registers, with peculiar perspicacity, in a variety of discursive modes – those which we call apophatic. These modes have historically generated discourses that open a perspective onto something like a realm of the unsayable, which they present in negative, throwing it into relief. Like a photographic film, these discourses are the negatives made from an encounter with what is not itself objectively present. Unlike photographic film, however, discourses of the unsayable are without correspondence to any positive object or image that just happens to be absent when the photograph is actually viewed. Apophatic discourse is the negative for which there is no positive that can – or ever could – be shown or presented. This realm can be seen only in negative, via the impressions of witnesses who confront the unsayable and react and render their own incommensurable testimonies to what is in itself incommunicable. What these witnesses all have in common is the experience of not being able to say what they are talking about because of the intrinsic unsayability of what is experienced – even though it may be experienced as the source and sum (or inversely as the negation and annihilation) of all that it is possible to experience. Language in this case becomes not description but witness, a bearer not of information but of testimony.9 What has been witnessed is inaccessible as such and can only be “vouched for.” The witness has experienced something in a unique, inimitable, and unrepeatable manner. This “something,” therefore, can never be represented as it is (or was) in itself, but only as witnessed to by the witness: it is, in practice, inextricable from the discourse that vouches for it and which is itself the only phenomenon that can make it manifest. Paradoxically, the language by which this witness is borne and delivered becomes, in its very inadequacy, absolutely decisive as the only objective thing pointing to what is utterly beyond verbalization. Only this language which negates itself as language enables the otherwise inaudible silence to resonate and so become perceptible. In this way, language is simultaneously devalorized and absolutized. Its supreme significance reposes in the silence that envelops and evacuates it. Focusing on the apophatic moment, on what cannot be said, since this is objectless, does not prejudice content in any way. It valorizes the contemplation of the (contentless) whole prior to articulation and comprehension. The blind relating to and opening of oneself toward … what cannot be said is the most potent – though also the most empty and elusive – moment in any experience. Prior to any articulation of content, there is an affirmative belief in something 9 The phenomenon of witness is explored specifically vis-à-vis the unspeakable of the Holocaust by Claude Lanzmann’s film, Shoah. Text and commentary in Felman/Laub, Testimony (“The Return of the Voice: Claude Lanzmann’s Shoah”), pp.204–283 (chapter 7).



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that is (as yet) no-thing but that nevertheless proleptically orients all possible knowing and eventual speaking. This as yet unbroken, unarticulated wholenothing that gathers all attention to itself in silence is more potent than any supervening articulation that breaks the silence. Though this potency is actually Nothing, that is, no thing, it absorbs and totalizes attention and orients us wholly to itself, and this is what makes a difference where otherwise none can be made. It makes all the difference to us – before any difference can actually be made in it, in any objective and statable terms. It is something that makes a difference because it is believed to be all-important, even without itself manifesting any differences in which its importance would consist. To this extent, apophasis has a structure like that of faith: it cannot be validated except in a movement projecting and postulating its own validity. Although the moment before speech and articulation is objectless and completely indescribable, it dictates the concrete, determinate orientations of those who have trained their attention wholly upon what cannot be said, having been pointed that direction by the limits, by the unsayable “beyond,” of some particular form of experience. This particular experience may well be presented in bodily form, in the flesh, for example, in the sacrament of the Eucharist. The infinite and incomprehensible gives itself mysteriously and impossibly to be touched and tasted. Aquinas was celebrating Mass when he fell into the speechless stupor of his last days that made all his writing seem but straw. Christian tradition all along, based on the Incarnation of God in Jesus Christ, has particularly stressed the encounter with God in the flesh. This mind-shattering experience has become the basis for a phenomenology of the flesh and for re-readings of the patristic and medieval corpus in a strongly apophatic key.10 The apophatic can be apprehended equally in the profane body, on the condition that it is left mysterious – as more than we can ever know.11 There is, then, inevitably some measure of belief in approaches to apophasis. This is undoubtedly why apophasis has been mixed up with all manner of metaphysics and mysticisms, as well as with all sorts of theosophies and transcendental philosophies, in the course of its itinerary through the history of thought and culture. This kinship naturally provokes skeptical reactions. The vacuousness of any determinate formulations need not necessarily be taken as revealing a plenitude of unqualified infinity. Not surprisingly, therefore, atheistic apophasis has often been ascribed to key apophatic thinkers from Pseudo-Dionysius the Areopagite to Meister Eckhart. Yet this position all too easily falls into making rather overly confident claims, if the denials are believed without being also disbelieved. If denial becomes determinate, it then disbelieves something and has become just another form of belief in a finite, articulated discourse: it believes 10  Henry, Incarnation. This Christian phenomenology of the divine mystery of the flesh is pursued through exegesis of ancient fathers and medieval doctors of the Church by Falque, Dieu, la chair et l’autre. 11  Boesel/Keller (eds.), Apophatic Bodies.

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in what it says rather than in what it cannot say, and that changes everything. Language becomes an instrument for delivering a definite doctrine, a dogmatic denial, rather than remaining a medium open to mystery and the constant escape of what it cannot encompass. In this case, it becomes easy, too easy, to reject a putatively open mystery like “what cannot be said” as mere mystification.12 In opposition to the inexhaustible fascination with the mystery of language in apophatic tradition, there is indeed a more skeptical attitude towards the emptiness and inaptitude of language that devolves from the sophists. Gorgias comes to the conclusion that nothing exists, and that even if something did exist it would be incomprehensible, and that if it were comprehensible it would have to be incommunicable. It is his sense of the absolute disjunction between language and reality that leads him to these contentions: “If anything is comprehensible, it is incommunicable … that with which we communicate is speech, and speech is not the same thing as the things that exist, the perceptibles; so that we communicate not the things which exist, but only speech.”13 This specifically linguistic motive for skepticism easily reduces to a crude nihilism after the motto: there is no God, no essence, no origin, nothing; it is all only language. In some contexts, even this could be the right thing to say, but I remain spell-bound nevertheless by all that cannot be said. So do all genuinely apophatic thinkers – not least the later Derrida – down through the ages. The subtler and more consistent skeptical attitudes toward language in the apophatic tradition cannot ultimately believe what they themselves say. Thus language itself remains a mystery, and so does everything else along with it – a mystery of what cannot be said. Language shows itself as the gateway to the mystery of the unsayable beyond language. Rather than knowing that all is nothing because it is nothing but language, apophatic thinking holds that, since all we know is only language, we know nothing about what really is or is not – about the enigma beyond our language that language itself in its mysterious, suggestive evasiveness provocatively points towards. The apophatic is skeptical about all that is known – all that is accessible to language – in order to be fascinated by the mystery that language does not deliver and cannot master. In this way, when apophatic writers deprecate language, they have already presupposed its potency to gesture towards what it is insufficient to articulate, but nevertheless indicates as lying beyond itself. Indeed, the unsayable becomes manifest only in the collapse and reversal of all our saying and of the intricate order that it establishes. It is there just below the surface of the whole linguistically-leveraged world with all its artificially created coherences. Unsayability thereby negates and sublates this verbal order of totality and disclosure of truth – not into the completed Whole, which for 12 A subtle and, I believe, supportive discussion of these issues can be found in Hart, Trespass of the Sign (chapter 6: Economy of Mysticism, pp.173–206). Hart shows that apophatic mysticism and deconstruction are akin and even bound up with each other. 13  Gorgias’s “On Nature”, preserved in fragments by Sextus Empiricus, cited according to Freeman, Ancilla to the Pre-Socratic Philosophers, p. 129.



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Hegel is the truth, but into the limitless Nothing (no thing) of what cannot be said. All the potencies and projections of language, which include the whole knowable universe, are re-situated and re-deployed as more intimately and originarily invested in the unsayable, albeit in a way that cannot be rationally grasped or said. All the effects in language of truth, order, origin, totality, and the rest that we can articulate appear as but glimpses of these same “values” that in their own nature remain unsayable, undelimited. This is perhaps some kind of Platonism again, but inverted and subverted – that is, with the difference that it is the breakdown and relinquishing of form and order in this world, our linguistically articulated world, which testifies to an ideal world with its own form and order, which remains unfathomable to us. Precisely the rupture of every expressed form of order for the world makes a (to us) formless, expressionless instance of these ideals compelling. For the form and order are there to be perceived: they are miraculously given – yet always only in their disappearance, and so as deformed and distraught, as soon as we attempt to define them and fix their identity. Mapping the infinite onto finite coordinates distorts it beyond recognition – at least for finite vision. Only in revealing its own nullity as discourse does discourse indirectly reveal something that is not just discourse without distorting it, and in fact this self-revelation of discourse itself as nil becomes in a way, indeed the only way possible, the revelation of All. It is by discourse undoing its own identity that all that is can emerge from the straights of identity that has made it disappear into an artificial formalization occluding all that really and unreally – virtually and conjecturally – is. In this way, everything is set free from the imprisoning grid of language. In apophatic unsaying, with the admission of the radical inadequacy of all our language vis-à-vis the real, the articulated system of the universe collapses. All vanishes into Nothing – in order to re-emerge liberated from the conceptually articulated world that reduces it to an empty formal structure. In terms of language, it is nothing, nothing that can be said, but freed thus to be nothing sayable, all is for the first time open to all its possibilities. In relation to … what cannot be said, all things are deliriously open and infinite. They are allowed to open themselves, at last to being freely explored without conceptual limit, without being verbally curbed, in a sort of Bataillesque bacchanal. Of course, this is not an achieved reality or any steady state, but rather a dynamic relation induced by releasing conceptual constraints in which other possibilities, undelimitable possibilities, come to light in concrete ways undetermined by the concepts that are being relinquished. Language accordingly unsays itself in proving unable to say what it would say. In this unsaying of language, not in what it says but in what it is when it unsays itself, the “reality” that refuses and eludes language, after all, appears, or rather is richly witnessed. This is the ultra-linguistic experience of language as world that is variously called “mystical” (Wittgenstein), “magical” (Benjamin), and “miraculous” (Rosenzweig). Every experience is necessarily limited by some horizon. Yet its finitude, by releasing its grip on itself and even thereby breaking itself open can open into the

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infinite, which is nothing (nothing definable or finite, nothing sayable). Language can enact just this opening by breaking apart in itself and can thereby catalyze an opening of experience to the openness at its core and origin. It does this when it bursts asunder the artifices of finitude and escapes confinement by linguistic constructions. So-called postmodern experiences of language, as reflected in oeuvres such as that of Blanchot and of other literary thinkers, have highlighted the moment of dissolution and even stressed the finality of dispersion of sense without return.14 Yet, at the same time, opportunities arise for envisioning this disintegration as the realization of what has long been intuited by the more synthetic, visionary versions of apophatic thinking in which the devastation and destitution of language clears the way for a true relatedness of all with all. This dissolution and disappearance of language has long been envisioned by mystics as coinciding with the invasion of language by God.15 God as silence, after His return to Namelessness, is also the culminating vision of Rosenzweig’s Stern der Erlösung (secs. 401–6). Such experience has been probed with particular acuteness in literary texts. With or without “God,” the breakdown of language opens up a sphere of higher life and awareness, a “rising tide of divine feeling” (“steigenden Flut gött­ lichen Gefühles”), as Hugo von Hofmannsthal writes in his “Letter to Lord Chandos.”16 When the fictional Lord Chandos loses the ability to simplify things in their raw incomprehensibility through words and through their reduction to the concept, he experiences terror, but also exaltation. He experiences a loss of individuation, but also a sense of union with all. He experiences his being as flowing out into all others and all existence as one great Unity (“das ganze Dasein als eine große Einheit”), so that “every creature was the key to the others” (“jede Kreature ein Schlüssel der andern,” p. 464), and yet this results in a total loss of coherence in thought and speech. Chandos experiences aphasia and an incapacity especially for abstraction, but also for any judgment whatever. When the enchantment (“Bezauberung”) ends, he can say nothing about it (“so weiß ich nichts darüber auszusagen,” p. 469). The moments of incomprehensible fullness and of “nameless and blessed feeling” (“unbennantes seliges Gefühl”) deflate, yielding to emptiness and depression. [It is as if] … we could enter into a new, intuitive relationship with all existence, if we were to begin to think with the heart. If, however, this extraordinary enchantment falls away from me, then I am able to say nothing about it; I could then no more put into a reasonable discourse in what this harmony that wove me together with the whole world consisted and how it made itself to be felt by me than I could describe in detail the inner movements of my intestines or the coagulation of my blood.

14 

Nancy makes this movement beyond sense the fulcrum for his thinking. Meschonnic, Dieu absent, p. 389, writes of “an invasion of language by God” and a consequent “disappearance of language” for Hebrew and Arab mystics (“Un aboutissement, chez les mystiques, de cet envahissement de langage par Dieu, est donc une disparition du langage”). 16  Von Hofmannsthal, Brief, p. 467. 15 



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Es ist mir dann, … als könnten wir in ein neues, ahnungsvolles Verhältnis zum ganzen Dasein treten, wenn wir anfingen, mit dem Herzen zu denken. Fällt aber diese sonderbare Bezauberung von mir ab, so weiß ich nichts darüber auszusagen; ich könnte dann ebensowenig in vernünftigen Worten darstellen, worin diese mich und die ganze Welt durchschwebende Harmonie bestanden und wie sie sich mir fühlbar gemacht habe, als ich ein Genaueres über die inneren Bewegegungen miener Eingeweide oder die Stauungen meines Blutes anzugeben vermöchte. (pp.469–470)

Here the apophatic experience of “mute being” – an “unnameable Something” (“ein unnennbares Etwas”), that can be the “source of that mysterious, wordless, boundless rapture” (“Quelle jenes rätselhaften, wortlosen, schrankenlosen Entzückens,” pp.470–471) – is palpably romanticized. Nevertheless, this description turns idealization toward materialization in the magma of thinking that melts down articulated speech. Thinking is discovered as a “material that is more immediate, more fluid and glowing than words” (“Material, das unmittelbarer, flüssiger, glühender ist als Worte,” p. 471). This thinking unbridled by language is material and concrete and leads, therefore, not to bottomless emptiness but to the “deepest seat of peace” (“tiefsten Schoß des Friedens,” p. 471). Unconstrued sensuous experience comes forward as the raw material of life that furnishes a better basis than does pure intellectual abstraction for apophasis or for training attention on what cannot be said. This makes Hofmannsthal modern, materialist, and anti-idealist in his apophatic creed, although he is still clearly a far cry from the darker modern accents heard in Kafka and Beckett. The breaking-down and dissolving of language, pursued poetically by the likes of Paul Celan and Edmond Jabès – as well as Emily Dickinson, Rainer Maria Rilke, and Wallace Stevens – is in like fashion an allegory (and a realization) of a breaking-down and crumbling away to the nothing-stable-or-definable that characterizes the temporal world, our “reality,” or whatever it is that things in time and space are supposed to be. What is revealed is that this order of finite elements is not self-sustaining or grounded in itself. That does not at once make some ungraspable sustaining Ground miraculously appear, but it does open the horizon of the world that is known and articulated to a beyond, to what may be conceived of indifferently as a hidden ground or an abyss – as in Eckhart’s grunt. The fact that there is anything at all, even in the vanishing of all finite forms that we can say, raises the question of why and wherefore. Whatever is or is not beyond this appearing of disappearing that characterizes our temporal reality is nothing that can be said. For it is experienced precisely in the experience of not being able to say it. This experience binds together classics of negative theology and contemporary apophatic writers in the belief that Nothing is pregnant with Everything – albeit a new, wild everything set free from the nets and webs of language and so no longer corralled by Logos. Once the unsayable has been encountered, what cannot be said infiltrates and infects simply everything – everything in the simplicity of its not being said or sayable, its not being articulated or arti-culable. And when all that is said comes to be considered as a failed attempt to say what cannot be said, something

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extraordinary happens. The world as it is known and said to be suddenly disappears. All that has been said to be is not really at all – except inasmuch as it reveals something else entirely. It is in apophatic language – language that unsays itself and abnegates its own identity and so annihilates itself – that this exposure of the ineluctable “othering” of the world by language happens. It is not just that the language backs off from something, some thing too great for its powers. It is language’s own self-annihilation that reveals … what cannot be said. In this selfdestructive movement of language, radical apophasis becomes the full revelation of our whole (un)reality as … what cannot be said – which is what mystics were (not) saying about “Reality” all along. This is the removal of the veil of illusion that our language casts over absolutely everything we know and experience. Put somewhat more dramatically, the broken Logos that has been crucified and died rends the temple curtain (Matthew 27:51), which is the linguistically segmented, socially ritualized world that we ordinarily see and say, in order to expose the radically other reality of what cannot be said, of what is variously figured as uncanny or demonic or “divine.” The Christian religion identifies God with the Word in Jesus Christ. Jesus alone is the complete and final revelation of God. This doctrine makes a strong statement in support of total disclosure in the Word. Yet viewed in the light of negative theology, the divine transcendence must be safeguarded against all idolatrous appropriations.17 Christ, in the annihilation of death, discloses God fundamentally as love that is beyond all knowing and representation, beyond disclosure and articulation, beyond saying of any logical, discursive type. Beyond all that human discourse can encompass, this Inexpressibility is what Jesus reveals of God. The total disclosure proclaimed in Christ, the identity of God with Jesus, does not constitute man alone as ultimate reality, as a certain Hegelian humanism developed further by Feuerbach would have us believe. It reveals conceptualizable man in his unreality and as a re-veiling of an other reality that cannot be fully revealed or expressed in human form. Such is the relation of the Incarnate Word to the divine Word as second person of the Trinity, the Word that was with God and that was God (John 1:1) from all eternity. The revelation of Christ as “the image of the invisible God” (Colossians 1:15) leaves this mystery of the divine life within the Godhead intact. The destruction of the Word within the world gestures towards an unworldly reality or ideality in which the Word would be whole and total. The transcendent reality or ideality of the Word is revealed only as unrevealed and not revealable by human words – except in and through the total destruction of the Incarnate Word: The Crucifixion and death of Jesus, the Word, is the dark background and bedrock of the glorious mystery of the resurrected Christ. His annihilation as an historical man is the crux of the story issuing in the message in which this Word is declared infinite and alive, as preached in the words of the Church. The Logos becomes 17  Marion, L’idole et la distance, dwells acutely on this imperative. He is followed up by Benson, Graven Ideologies.



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the Word of the Cross (Logos staurou, in the language of I Corinthians 1:17–31). This is equally the Cross – or even the crossing out – of the Word as we can know and are able to say it.18 Even the naked disclosure in the world of Christ the Word as an infant is nothing that words can comprehend. Rather, its first unmediated presence (as opposed to later enactments in preaching) inspires silent worship – emblematically narrated in the Magi’s adoration at Epiphany (Matthew 2: 11). The final disclosure of the Word, naked and nailed to the Cross and then obliterated in the silence of the tomb, consummates this apophatic discourse of the incarnate and martyred Word. The same discourse continues thereafter as silent testimony in the Eucharist, in the breaking of bread, the Word made flesh. As broken and disseminated, the Word becomes salvific in the eucharistic community in which love silently discourses through charitable action.19 The visible, finite, corporeal forms that are obliterated in the sacrifice of death make way for the negative manifestation of a glorified Christ who is not, however, visible as a finite object. Even the Church as the visible body of Christ is invisible as his mystical body. Even as resurrected in the community of the Church, in the words of preaching and in sacramental rites and the liturgy, the Word itself as such remains shrouded in mystery.20 All these discursive and ceremonial forms serve to manifest an unspeakable Word. In all these ways, Christian doctrine epitomizes the apophatic predicament of the word. In this perspective, there is no world without the word, and indeed “God in Christ was reconciling the world to himself” (2 Corinthians 5:19). And yet the word is made strange and the world is made unrecognizably other by this conjunction of Word and world which surpasses understanding.21

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Die medizinische Manipulation des Alterns und ethische Endlichkeitsargumente Hans-Jörg Ehni 1.  Kann und soll man die Erfahrung des Alter(n)s verändern? Zahlreiche literarische und philosophische Gattungen der Geistesgeschichte von Altersklagen bis zu Aphorismen haben körperliches Altern und seine Erscheinungsformen zum malum physicum gezählt, also zur körperlichen Erscheinungsform der allgemeinen Kategorie des Übels. Altägyptische Altersklagen teilen diese Einschätzung mit Sapphos Gedichten, dem mittelalterlichen Rosenroman, der Scholastik und den Begründern der neuzeitlichen Wissenschaft Bacon und Descartes.1 Entsprechend lange träumt die Menschheit davon, sich vom Übel des körperlichen Alterns zu befreien. In der Gegenwart scheint durch die biologische Alternsforschung oder die Biogerontologie die Verwirklichung dieses Traums etwas näher gerückt zu sein. Denn Biogerontologen ist es bereits bei unterschiedlichen Labororganismen gelungen, Alternsprozesse zu verlangsamen und so die Lebensspanne dieser Organismen deutlich zu verlängern. So hat man bei Hefen eine bis zu 10fache Verlängerung erreicht, ebenso bei Fadenwürmern. Verdoppeln konnte man die Lebensspanne von Mäusen. Bei Fruchtfliegen konnte man sie um 60–70 % verlängern. Da die Mechanismen, die zu Alternsprozessen beitragen, speziesübergreifend sind, glaubt man, dass sich langfristig auch beim Menschen ähnliche Ergebnisse erzielen lassen würden.2 Allerdings sind nicht alle Methoden übertragbar, zu denen beispielsweise die Manipulation einzelner Gene gehört. Die menschliche Genetik des Alterns dürfte deutlich komplexer sein.3 Manche Pharmaka oder andere Methoden könnten sich jedoch vor dem Hintergrund ähnlicher molekularer und zellulärer Vorgänge beim Altern auch beim Menschen als wirksam erweisen.4 Die Prognosen des biogerontologischen Mainstreams stellen jedoch keine vergleichbaren Erfolge wie bei Labororganismen in Aussicht: Einige prominente Vertreter ihrer Wissenschaft glauben, in den nächsten Jahrzehnten die durchschnittliche Lebensspanne in den Industriestaaten von

1 

Eine ausführliche Darstellung des körperlichen Alters als malum in Ehni, Ethik. Fontana/Partridge/Longo, Healthy life span, S. 321–326. 3 Vgl. Martin/Bergman/Barzilai, Genetic determinants; Kenyon, Genetics, S. 504–512. 4 Vgl. Holsboer/Schüler, Therapiewege, S. 192–219. 2 Vgl.

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ca. 75–80 Jahren um weitere sieben Jahre verlängern zu können, indem man Alternsprozesse verlangsamt.5 Vor dem Hintergrund des demographischen Wandels und den Erfolgen der modernen Medizin und Naturwissenschaften haben sich neben der Biogerontologie auch andere gesellschaftliche Strömungen zum Ziel gesetzt, Altern und seine körperlichen Erscheinungsformen zu verändern und zu bekämpfen. Bereits seit einiger Zeit hat sich die Anti-Aging-Medizin in medizinischen Gesellschaften organisiert. Bekannt geworden ist vor allem die US-amerikanische A4M. Unter dem Schlagwort „Anti-Aging“ versteht man zwar häufig kosmetische Mittel, um eine jugendliche Erscheinung zu erhalten. Manche Anti-Aging-Mediziner, unter anderem auch die A4M, wollen sich jedoch auch auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützen. Ein Beispiel dafür sind Anti-Oxidantien. Diesen liegt die Theorie zugrunde, dass Altern vor allem durch oxidative Schäden an Molekülen verursacht wird, die man durch entsprechende Gegenmittel verhindern oder bekämpfen könnte.6 Für die Wirksamkeit und Sicherheit von Anti-Oxidantien liegen jedoch nach einer kürzlich erschienenen Übersicht des internationalen Cochrane-Zentrums für evidenzbasierte Medizin keine Belege vor. Vielmehr haben sie sich eher als schädlich erwiesen.7 Das spiegelt aus biogerontologischer Sicht den allgemeinen Stand von Eingriffen in Alternsprozesse wider: Es gibt keine ausreichenden Belege für Wirksamkeit und Sicherheit, dafür aber Anhaltspunkte für ihre Schädlichkeit. Utopischer sind die Zielsetzungen der sogenannten Transhumanisten, die glauben, die menschliche Lebensspanne ließe sich radikal verlängern, so lediglich Unfälle zum Tod führen würden. Das Resultat wäre eine durchschnittliche Lebenserwartung von etwa 1000 Jahren. Der ehemalige Computerwissenschaftler Aubrey de Grey hat durch die These viel Aufmerksamkeit erhalten, dass die ersten Menschen, die sich einer solchen Lebenserwartung erfreuen werden, bereits geboren seien.8 Die Biogerontologie verfolgt dabei ganz allgemein dem Anschein nach ähnliche Ziele wie die Anti-Aging-Medizin und der Transhumanismus. All diese Unternehmungen streben danach, körperliches Altern und seine Erscheinungen stark zu verändern oder sogar zu verhindern, altersassoziierte Erkrankungen zu bekämpfen und die menschliche Lebensspanne zu verlängern. Diese Gemeinsamkeiten sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Unterschiede überwiegen. Biogerontologen haben sich dabei scharf von Vertretern der beiden anderen Richtungen abgegrenzt. Vor allem geht es darum, was zum jetzigen Zeitpunkt und in der näheren Zukunft im Hinblick auf Interventionen in Alternsprozesse als realistisch in Aussicht gestellt werden kann. In den USA haben Biogerontologen Anti-Aging-Mediziner scharf angegriffen, weil sichere 5 Vgl.

Olshansky u. a., Longevity dividend, S. 28–36. Harman, Theory of aging, S. 557–561. 7 Vgl. Bjelakovic u. a., Antioxidant supplements. 8 Vgl. de Grey u. a., Time to talk, S. 452–462. 6 Vgl.



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und wirksame Methoden Alternsprozesse zu manipulieren im Gegensatz zu den Angeboten der Anti-Aging-Medizin noch lange nicht nachgewiesen seien.9 Die Behauptungen von Transhumanisten wie Aubrey de Grey, dass eine radikale Lebensverlängerung kurz bevorstehe, sehen prominente biogerontologische Experten als vollkommen unrealistisch an.10 Nach der einen Seite grenzt man sich in der Biogerontologie also dadurch ab, dass zum jetzigen Zeitpunkt noch mehr Forschung notwendig sei, um überhaupt erfolgreich menschliches Altern zu beeinflussen. Nach der anderen Seite stellt man für die nähere Zukunft lediglich eine moderate und keine radikale Lebensverlängerung in Aussicht. Priorität soll dabei die Verlängerung der gesunden Lebensspanne auf Kosten der seneszenten Lebensspanne genießen, d. h. der Teil des menschlichen Lebens, in dem chronische Erkrankungen zum Vorschein kommen, soll abgekürzt werden. Ein jugendliches Erscheinungsbild zu erhalten spielt dabei nur eine untergeordnete oder gar keine Rolle, ebenso wenig wie die Verlängerung der Lebensspanne. Beides sei jedoch als Nebeneffekt von erfolgreichen Interventionen in Alternsprozesse zu erwarten.11 Zahlreiche Bioethiker sind ebenfalls auf diese mögliche Manipulation des Alterns aufmerksam geworden und debattieren seit einiger Zeit ihre ethischen Implikationen. Dabei ging es zwar häufig um die möglichen gesellschaftlichen Konsequenzen, was im Kontext des demographischen Wandels, aber auch der globalen Überbevölkerung, naheliegend ist. Gestellt wurde jedoch auch die grundlegende Frage, ob eine veränderte Erfahrung des Alterns aus individueller Sicht überhaupt erstrebenswert sei. Wenn überzeugend dargelegt werden kann, dass das nicht der Fall ist, erübrigt sich die Frage, ob man mögliche negative Folgen auf gesellschaftlicher Ebene riskieren sollte. Aus dem ganzen Bereich dieser umfassenden Fragestellungen sollen hier lediglich diejenigen herausgenommen werden, die sich auf die menschliche Endlichkeit stützen. Da weder die aktuell existierende Anti-Aging-Medizin noch der Transhumanismus für sich in Anspruch nehmen können, auf einer soliden wissenschaftlichen Grundlage zu stehen, soll ferner nur untersucht werden, ob solche Argumente auch auf mögliche Interventionen in Alternsprozesse auf biogerontologischer Grundlage zutreffen und auf diese bezogen auch berechtigte Einwände begründen können. Diejenigen, die bestreiten, dass eine veränderte Erfahrung des Alterns oder der Lebensphase des Alters für die Lebensqualität zuträglich ist, berufen sich dabei unter anderem auf die Bedeutung derselben für ein angemessenes individuelles Verhältnis zur Endlichkeit des Menschen. Dies ist ein durch seine Tragweite und durch seinen Anspruch besonderes Argument. Im Gegensatz zu anderen verbreiteten Argumente, die sich auf die Perspektive des Individuums beziehen, bestreitet es auf einer prinzipiellen Ebene, dass ein verändertes Alter(n) einen Gewinn darstellen könnte. So könnte man argumentieren, dass durch die Ma9 Vgl.

Butler u. a., Antiaging medicine, S. B333. Warner u. a., Science fact, S. 1006–1008. 11 Vgl. Butler u. a., New model, S. a399. 10 Vgl.

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nipulation des eigenen Alterns eine übertriebene Sorge um Gesundheitsrisiken oder der soziale Druck, jugendlich auszusehen, so unzufrieden machen, dass der mögliche Gewinn an Wohlbefinden wieder aufgehoben wird. Damit wäre zunächst eingeräumt, dass Eingriffe in Alternsprozesse möglicherweise einen individuellen ethischen Nutzen hervorbringen können, der jedoch gleichzeitig durch die Art und Weise und den gesellschaftlichen Kontext, in dem er hervorgebracht wird, wieder zerstört wird. Es wäre dabei aber denkbar, dass diese kontextuellen Nachteile überwunden werden können. Dagegen sind die Verluste, die Endlichkeitsargumente geltend machen wollen, nicht durch irgendwelche Gewinne aufzuwiegen. Denn es geht darum, dass eine Erfahrung unmöglich gemacht wird, die zum menschlichen Leben notwendigerweise dazu gehört, wenn es gelingen soll. Man kann dabei zwei mögliche Grundvarianten dieses Arguments unterscheiden, eine starke und eine schwache Form. Die schwache und eingegrenzte Form wendet sich lediglich gegen den Transhumanismus und die Abschaffung des Alter(n)s. Danach würde nur eine tatsächliche Alterslosigkeit den Zugang zur Erfahrung des Alter(n)s und damit der Endlichkeit blockieren.12 Das stärkere, weil umfangreichere und anspruchsvollere Argument richtet sich gegen die allgemeine Zielsetzung, Altern verändern zu wollen. Bereits darin würde eine Verdrängung der menschlichen Endlichkeit liegen und damit der Verlust der entsprechenden, notwendigen Erfahrung. Implizit vertritt der Dresdner Philosoph Thomas Rentsch ein solches Argument, wenn er von einer möglichen „Verdrängung“ in der Gegenwartskultur spricht, derzufolge Altern nicht mehr als Werden zu sich selbst aufgrund der Erfahrung der Endlichkeit verstanden werde. Rentsch schreibt jedoch auch, dass sich die „tiefgreifende Endlichkeitserfahrung“ nur an der Oberfläche überspielen lasse, aber letztlich könne man sie nicht überwinden. Er bezieht sich dabei nicht auf medizinische Versuche, das Altern zu verändern, sondern auf ein falsches Bewusstsein, das aber am Ende doch mit der Endlichkeitserfahrung konfrontiert ist.13 Explizit vertreten die Medizinethiker Oliver Müller und Claudia Bozarro die starke Version des Endlichkeitsarguments. Ihnen zufolge bewirken neue medizinische Technologien, die sie zur „Anti-Aging-Medizin“ zählen, eine „Anästhetisierung“ der Endlichkeit. Dazu reicht die allgemeine – von der Prävention altersassoziierter Erkrankungen vorgeblich zu unterscheidende – Zielsetzung aus, Altern selbst verhindern zu wollen.14 Die allgemeine Charakterisierung von „Anti-Aging“ aufgrund dieser Zielsetzung trifft dabei auf die Biogerontologie durchaus zu, auch wenn Alternsprozesse deswegen bekämpft werden sollen, um altersassoziierte Erkrankungen zu verhindern. Beides kann nach biogerontologischen Perspektiven nicht voneinander getrennt werden. Während die schwache Version des Endlichkeitsarguments nicht auf 12 Dieses Argument vertritt in der amerikanischen Debatte Leon Kass in Kass, Ageless Bodies, S. 9–28. 13 Vgl. Rentsch, Altern als Werden, S. 202–203. 14 Vgl. Müller/Bozarro, Endlichkeit und Technisierung, S. 101–102.



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die Biogerontologie zutrifft, weil sie keine Abschaffung des Alterns in Aussicht stellt, gilt das nicht für die starke Version. In der Folge soll untersucht werden, ob der Einwand, den die starke Form des Endlichkeitsarguments vorbringt, in Bezug auf die Biogerontologie berechtigt ist. Dabei sollen sowohl der historische Gegensatz als auch die einzelnen Annahmen dieses Arguments genauer untersucht werden, als es häufig in diesem Zusammenhang geschieht. Gleichzeitig sollen aber auch das schwache Endlichkeitsargument und seine Vorgeschichte berücksichtigt werden. Wenn selbst diese Version des Arguments nicht überzeugen kann, dann sind derartige Argumentationen ganz aufzugeben.

2.  Apologeten und Prolongevitisten Die konkrete Debatte um die ethischen Implikationen der biogerontologischen Forschung, ihrer Konzeptionen, Theorien und Methoden sowie ihrer Anwendung in der Medizin steht zwar selbst noch in den Anfängen. Aber sie verweist auf einen sehr viel älteren kulturellen Gegensatz, weil die Biogerontologie nur die letzte von zahlreichen Entwicklungen darstellt, einen in den ältesten überlieferten schriftlichen Zeugnissen und Mythen enthaltenen Menschheitstraum zu verwirklichen – den Traum, eines sehr langen, möglicherweise körperlich unsterblichen Lebens in ewiger Jugend. Das Thema ist ebenfalls in unterschiedlichen literarischen Werken präsent, von zeitgenössischer Science Fiction bis zu Autoren wie Simone de Beauvoir, die seine existentiellen Implikationen kritisch untersuchen.15 Zu dieser Geschichte gehören ebenso esoterische, religiöse, alchemistische, pseudowissenschaftliche wie wissenschaftliche Abhandlungen, die wiederum häufig Kritik und Satire in der zeitgenössischen Literatur der jeweiligen Epoche hervorgerufen haben. Auch die kritische Auseinandersetzung mit dem Kampf gegen das Altern kann eine lange Geschichte vorweisen. Dieser Konflikt berührt wichtige Teile der kulturellen Identität einer Gesellschaft. Stephen Cave argumentiert, dass jede menschliche Gemeinschaft eine Lösung für das Sterblichkeitsparadox der conditio humana finden muss. Dieses Paradox besteht darin, dass der einzelne Mensch um die eigene Sterblichkeit weiß, der eigene Tod jedoch unvorstellbar bleibt.16 Um dieses Paradox zu lösen, bringen Kulturen in unterschiedlicher Form Vorstellungen einer fortgesetzten Existenz oder der Unsterblichkeit hervor. Cave teilt solche Vorstellungen in vier Kategorien ein: Erzählungen der körperlichen Unsterblichkeit, der Auferstehung, der Unsterblichkeit der Seele und des Vermächtnisses, also des Weiterlebens im Gedächtnis der Nachwelt oder durch die eigenen Nachkommen. Diese unterschiedlichen Erzählungen können miteinander verwoben werden, worin Cave eine zentrale kulturelle Leistung der Ägypter sieht. Sie können aber auch in 15  Vgl. z. B. die ausführliche Bibliographie von Carol C. Donley in Post/Binstock, Fountain of youth, S. 433–443. 16 Vgl. Cave, Unsterblich.

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einen Gegensatz zueinander treten, was zu tiefreichenden Konflikten führt. Als Beleg führt Cave das interessante Experiment von amerikanischen Psychologen zur sogenannten „Terror Management Theorie“ an. Die kulturellen Erzählungen zur Unsterblichkeit gehören demnach zum menschlichen Umgang mit dem Tod und dem Schrecken davor. Es liegt auf der Hand, dass ein Widerspruch zu solchen Überzeugungen auf eine entsprechend starke Reaktion stößt. Das erwähnte Experiment ergab, dass die Ablehnung von Menschen aus anderen Kulturkreisen durch die Versuchspersonen stark gewachsen ist, wenn sie im Rahmen des Versuchs an ihre eigene Sterblichkeit erinnert worden sind. Die Experimentatoren führten das darauf zurück, dass das eigene „Terror Management“ in diesem Zusammenhang fraglich geworden sei.17 Durch diesen Hintergrund werden vor allem zwei Eigenschaften der ethischen Debatte um Lebensverlängerung und Verjüngung deutlich: Sie wird hitzig geführt und die Kritik an Eingriffen in Alternsprozesse steht häufig im Zusammenhang mit sehr alten Sinnzuschreibungen für die menschliche Sterblichkeit. Dies gilt insbesondere für Endlichkeitsargumente. Biogerontologen reagieren auf diese Ablehnung und Kritik teils verständnislos, da sie diesen Zusammenhang nicht sehen. Aber aufgrund von solchen Zusammenhängen tragen auch ihre Gegner eine besondere Beweislast. Denn in diesem Streit müssen sie in einer pluralistischen Gesellschaft den Nachweis erbringen, dass ihre Argumente auch außerhalb bestimmter kultureller Sinnzuweisungen von Alter, Tod und Endlichkeit Geltung besitzen. Der amerikanische Historiker Gerald J. Gruman hat 1966 einen Überblick des Streits zwischen Befürwortern und Gegnern von Lebensverlängerung und Verjüngung von den mythischen Anfängen bis ins 18. Jahrhundert vorgelegt.18 Er bezeichnet die Befürworter einer Verjüngung und verlängerten menschlichen Lebensspanne als „prolongevitists“ („Prolongevitisten“ – wie der Ausdruck sich im Deutschen wiedergeben lässt). Für Gruman ist der Prolongevitismus ein notwendiger Bestandteil des „meliorism“ („Meliorismus“). Diesen definiert er als die Überzeugung, dass der Mensch, indem er die Natur einschließlich der eigenen beherrscht und verändert, seine Lebensbedingungen und die Qualität des menschlichen Lebens deutlich verbessern kann. Dabei müssen die Ziele des Prolongevitismus eine zentrale Rolle spielen. Prolongevitisten glauben, dass eine Verlängerung der menschlichen Lebensspanne nicht nur wünschenswert, sondern auch möglich sei. Beides leugnen ihre Gegner, wobei Gruman die Wichtigkeit der normativen Komponente hervorhebt. Es geht nicht allein darum, ob diese Ziele erreichbar sind oder nicht, sondern vor allem auch darum, wie sie zu bewerten sind. Der Apologismus ist für Gruman zunächst der direkte Gegensatz zum Meliorismus. „Apologists“ („Apologeten“) sind Verteidiger der gegenwärtigen conditio humana, unter anderem auch im Hinblick auf das Altern und die Lebens17 Vgl. 18 Vgl.

Bassett/Connelly, Terror management, S. 117–120. Gruman, History of Ideas.



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spanne. Sie bezweifeln nicht nur die Möglichkeiten ihrer eigenen Epoche oder die theoretische Möglichkeit im Allgemeinen, dass die Ziele der Prolongevitisten sich mit technischen und medizinischen Mitteln irgendwann einmal realisieren lassen würden. Apologeten vertreten eine moralische Position, derzufolge diese Ziele nicht erstrebenswert seien. Nachdem durch die jüngeren Fortschritte der prinzipielle Zweifel an der technischen Möglichkeit des Prolongevitismus abgenommen hat, haben die moralischen Argumente im Apologismus ein größeres Gewicht bekommen. Da sich der Gegensatz zwischen Prolongevitisten und Apologeten bis in die Gegenwart erhalten hat und sich beide Lager bei den Argumenten und Bildern ihrer historischen Vorgänger bedienen, ist ein kurzer Blick auf die Vorgeschichte dieser Auseinandersetzung auch im Hinblick auf das Endlichkeitsargument von großem aktuellem Interesse. Die Grundüberzeugungen beider Lager sind im Wesentlichen dieselben geblieben. Daher prägt der historische Konflikt zwischen unterschiedliche Positionen des Prolongevitismus und Apologismus immer noch die Auseinandersetzung um die biogerontologische Forschung und ihre Anwendung. Für die ethische Bewertung ist dieser Konflikt folglich ein wesentlicher Kontext. Entscheidend ist, welche Annahmen aus der Sicht der gegenwärtigen Ethik noch Bestand haben können.

3.  Ein längeres Leben ist ein besseres Leben Neben Grundtypen der mythischen Vorgeschichte unterscheidet Gruman verschiedene ideengeschichtliche Formen des Prolongevitismus. Auch wenn er seine Ideengeschichte zur Lebensverlängerung um 1800 beendet, kann man feststellen, dass sich sämtliche Grundtypen des Prolongevitismus in der einen oder anderen Variante bis in die Gegenwart gehalten haben. Gruman hebt hervor, dass es keiner dieser Strömungen darum gegangen sei, lediglich die bloße Lebenszeit zu verlängern, sondern den gesunden und produktiven Abschnitt des Lebens. Die ältesten Bestrebungen sind nach Grumans Klassifikation „religiös“ oder „magisch“, wozu er so kulturell unterschiedliche Geistesströmungen zählt wie solche im Judentum und den Taoismus. „Protowissenschaftliche“ prolongevitistische Ansätze, die Gruman auf halbem Weg zwischen einer wissenschaftlichen Vorgehensweise und Magie sieht, lassen sich ebenfalls bei den Taoisten und vor allem bei Alchimisten finden, die sich in China, im Hellenismus sowie in den mittelalterlichen christlichen und arabischen Kulturen auf die Suche nach einem Lebenselixier begeben hatten. Zu diesen „protowissenschaftlichen“ prolongevitistischen Ansätzen in Grumans Aufzählung gehört unter anderem der berühmte Oxforder Philosoph und Franziskaner-Mönch Roger Bacon. Gruman geht ausführlich auf Bacons Überzeugung ein, dass ein Knochen aus einem Hirschherzen, Gold oder Korallen lebensverlängernde Wirkung besäßen.19 Er sei außerdem der Ansicht gewesen, 19 Vgl.

Gruman, History of Ideas, S. 65.

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dass der Sündenfall und eine danach entstandene unmoralische Lebensweise die menschliche Lebensspanne stark verkürzt hätten, die eine mangelnde Hygiene und ein ausschweifender Lebensstil noch zusätzlich verringern würden. Dagegen empfehle er zahlreiche Verhaltensweisen, wie eine bestimmte Diät und Maßhalten, wodurch sein Prolongevitismus mehrere Typen vermische: die religiöse, die protowissenschaftliche und die hygienische Grundform. Einen bis in die Gegenwart einflussreichen „hygienischen“ Prolongevitismus begründet der Humanist Alvise Cornaro in der Tradition der mittelalterlichen Gesundheitsschriften (regimina sanitatis).20 Seine Empfehlungen bestehen in einer maßvollen, fleischarmen Ernährung, geringem Alkoholkonsum und regelmäßiger körperlicher Aktivität. Cornaro setzt damit auch die ebenso lange Tradition der Lebensstilempfehlungen fort, die auch nach biogerontologischer Sicht immer noch die einzigen mittlerweile auch wissenschaftlich belegten Interventionen darstellen, mit denen der biologische Alterungsprozess beeinflusst werden kann.21 Der „wissenschaftliche“ und „medizinische“ Prolongevitismus geht auf Francis Bacon und René Descartes zurück. Beide Philosophen, die die Grundlagen der neuzeitlichen Wissenschaft formuliert haben, waren ebenfalls fest davon überzeugt, dass die Naturbeherrschung durch Wissenschaft und Technologie entscheidende Verbesserungen der menschlichen Lebensbedingungen bewirken würde. Von Descartes stammt das berühmte Diktum, der Mensch sei „maître et possesseur“ der Natur.22 Bacon beschreibt seine Utopie der wissenschaftlichen Ausdehnung der menschlichen Macht in seinem Fragment Nova Atlantis.23 Im Novum Organon schreibt Bacon, dass es bei der Neubegründung wissenschaftlicher Methoden um den „Sieg der Kunst über die Natur“ ginge.24 Sowohl Descartes als auch Bacon hegen keinen Zweifel daran, dass die Verlängerung der menschlichen Lebensspanne und die Verzögerung des Alterns zu den zentralen Zielen der Medizin gehören.25 Bacon prophezeit in On the advancement of learning „medicine will no longer be confined to humble cures“ und sieht einen Teil der Medizin voraus, der ausschließlich der Lebensverlängerung gewidmet ist.26 Das schließt gleichzeitig eine implizite Forderung an die Medizin mit ein, sich nicht nur der Heilung von Krankheiten zu widmen, sondern der allgemeinen Verbesserung der menschlichen Lebensumstände und des menschlichen Körpers selbst. Für manche medizinethischen Positionen der Gegenwart, die den ethischen Wesenskern der Medizin in der Heilung von Krankheiten sehen, stellt dies

20 

Vgl. die Einführung von Klaus Bergdolt in Cornaro, Vom massvollen Leben, S. 7 ff. Arking, Biology of aging. 22 Vgl. Descartes, Methode des richtigen Vernunftgebrauchs, S. 55. 23 Vgl. Bacon, Neu-Atlantis. 24 Vgl. Bacon, Neues Organ, S. 62. 25 Vgl. Bacon, Neues Organ, S. 78 u. 80. 26 Vgl. Bacon, Dignity and Advancement, S. 39. 21 Vgl.



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auch nach mehr als drei Jahrhunderten neuzeitlicher Wissenschaft immer noch eine Provokation und einen Irrtum dar.27 Der Wissenschafts- und Fortschrittsglaube von Descartes und Bacon setzt sich in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts fort und findet hier einen seiner bekanntesten Fürsprecher im Marquis de Condorcet. Der Prolongevitismus spielt auch bei Condorcet eine zentrale Rolle beim zivilisatorischen Fortschritt der Menschheit. In seinem Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes) beschreibt er 10 Stufen der menschlichen Zivilisation. Die eigene Epoche der französischen Aufklärung siedelt er auf der 9. Stufe an. Die drei wichtigsten Errungenschaften in der am höchsten stehenden, abschließenden „10. Epoche“ bestehen darin, Ungleichheiten innerhalb und zwischen Nationen zu beseitigen und den Menschen in geistiger, moralischer und physischer Hinsicht zu vervollkommnen.28 Die letzte Frage, die er in seinem Werk stellt, richtet sich darauf, was die prinzipiell grenzenlose Perfektibilität des Menschen für dessen Fähigkeiten und die Struktur der menschlichen Natur bedeutet.29 Condorcet erwartet zunächst eine deutliche Verlängerung der Lebensspanne durch zahlreiche Public Health-Maßnahmen – er bezeichnet dieses Unternehmen als „medicine conservatrice“ („bewahrende Medizin“). Dazu gehören sanitäre Anlagen, eine verbesserte Hygiene und bessere Arbeitsbedingungen. Auch von der Neuordnung gesellschaftlicher Verhältnisse erhofft er sich Fortschritte bei der Lebensverlängerung durch die Beseitigung von Elend und übergroßem Reichtum, der zu einem ausschweifenden und ungesunden Lebenswandel verführe.30 Aber den entscheidenden Fortschritt bei der Lebensverlängerung weit über die bekannte Lebensspanne hinaus erhofft er sich von der Medizin auf der Grundlage der neuen Naturwissenschaft. Er sagt voraus, dass in der Zukunft der Tod lediglich durch schwere Unfälle oder durch das sehr langsame Nachlassen der Lebenskraft verursacht werden wird. Der Mensch wird zwar nicht unsterblich sein, aber der große Zeitraum zwischen Geburt und Tod wird keine klar definierbare Grenze mehr besitzen und im Laufe der Zeit stetig weiter anwachsen.31 Also genau die Vision, die den Vertretern des schwachen Endlichkeitsarguments widerstrebt. Erstaunlich an der sonst hervorragenden Analyse Grumans ist, dass ihr eine auffallende Gemeinsamkeit der dargestellten Formen des Prolongevitismus entgeht: Die Ziele des Prolongevitismus sind normative Vorgaben, die aber nicht eigens begründet werden. Ein langes Leben, eine möglichst lang erhaltene Jugendlichkeit und ein verzögertes oder sogar vollständig abgeschafftes Altern werden in der prolongevitistischen Tradition für objektive und evidente Güter gehalten. Seit Bacon und Descartes sollen diese Güter aus prolongevitistischer Perspektive vor allem für die Medizin als Teilbereich und Anwendung neu27 Einflussreich:

Pellegrino, Internal morality, S. 559–579. Condorcet, Tableau historique, S. 265–296. 29 Vgl. Condorcet, Tableau historique, S. 293. 30 Vgl. Condorcet, Tableau historique, S. 294. 31  Vgl. ebd. 28 Vgl.

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zeitlicher Wissenschaft als Ziele gelten und zwar mit dem besonders starken Anspruch vorrangiger und idealer Zielvorgaben. Eine Rechtfertigung dafür sucht man jedoch bei beiden Philosophen vergebens. Ein Grund könnte sein, dass den Prolongevitisten im jeweiligen kulturellen Kontext – ein langes Leben ist in vielen Kulturen nach Gruman ein Zeichen von Erfolg oder göttlicher Gnade und wird wertgeschätzt – diese Ziele auch ohne Rechtfertigung als offensichtlich erstrebenswert und als logische und konsequente Fortführung der bereits bestehenden Ziele der Medizin erscheinen. Bei Biogerontologen, die letztlich dieselben Ziele in der Gegenwart erreichen wollen, kann man jedenfalls ein gewisses Erstaunen finden, wenn sie mit ethischen Argumenten konfrontiert werden, dass diese Ziele nicht wünschenswert seien. Michael Rose, ein berühmter Vertreter seines Fachs, hält beispielsweise diese Ziele mit denjenigen schlicht für identisch, die von der Medizin ohnehin verfolgt werden würden und deswegen sei eine eigene ethische Bewertung bzw. eine Ethik der Lebensverlängerung überflüssig.32 Bei einer anderen Gelegenheit ist er positiv überrascht, dass der Vertreter einer Religionsgemeinschaft – ein jüdischer Rabbi – im Gegensatz zu denjenigen anderer Konfessionen sich vorbehaltlos für eine verlängerte Lebensspanne ausspricht.33 Hier werden die Konflikte, aber auch die potentielle Vereinbarkeit unterschiedlicher „Unsterblichkeitserzählungen“ deutlich. Die apologetischen Unsterblichkeitserzählungen besitzen dabei häufig einen religiösen Hintergrund, aber nicht notwendigerweise.

4.  Die bioethische Bewertung von Eingriffen in Alternsprozesse In der Bio- und Medizinethik ist wie eingangs erwähnt die Debatte um Eingriffe in Alternsprozesse ebenfalls seit einiger Zeit angekommen. Allerdings fehlt hier häufig die notwendige Differenzierung der unterschiedlichen Strömungen der Anti-Aging-Medizin, des Transhumanismus und der Biogerontologie. Vor dem Hintergrund des Gegensatzes zwischen Apologeten und Prolongevitisten und der utopischen Visionen der neuzeitlichen und modernen Biologie riskiert man dabei, dass sowohl realistische Zielsetzungen als auch die damit verbundenen Theorien, Begriffe und Methoden in das zu einfache Raster eines alten kulturellen Gegensatzes eingeordnet werden. Man unterscheidet zwar die verschiedenen Zielsetzungen und mögliche ungewollte Folgeszenarien, aber nicht die jeweils zugrundeliegenden Konzeptionen und Theorien. So hat der Gerontologe Harold Moody zu Recht darauf hingewiesen, dass eine moderate Lebensverlängerung durch Eingriffe ins Altern ganz andere ethische Fragen aufwirft als eine radikale.34 Eine radikal verlängerte Lebensspanne in der näheren Zukunft wäre insbesondere für gesellschaftliche Strukturen und je nachdem, wer Zugang 32 Vgl.

Rose, Realismus, S. 46–62. Rose, The long tomorrow, S. 1–5. 34 Vgl. Moody, Life extension, S. 33–37. 33 Vgl.

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erhalten würde, auch im Hinblick auf globale Ressourcen und Überbevölkerung eine gewaltige Herausforderung. Dagegen können die gesellschaftlichen Konsequenzen einer moderaten Lebensverlängerung bei einer längeren gesunden Lebensspanne und Morbiditätskompression durchaus positiv sein. Insbesondere die befürchteten negativen Folgen des demographischen Wandels könnten durch geringere Belastungen der sozialen Sicherungssysteme abgemildert oder ganz abgewendet werden. Ähnlich stellt sich die ethische Bewertung aus individueller Perspektive dar. Eine moderate Lebensverlängerung durch langsameres Altern, die im Grunde nur den entsprechenden Trend der letzten 150 Jahre fortsetzt, scheint prima facie individuell durchaus erstrebenswert zu sein. Bedenken ruft eher eine stark verlängerte Lebensspanne hervor. Hier greifen die Versionen des schwachen Endlichkeitsarguments. Die Möglichkeit eines guten Lebens sowohl in seinen einzelnen glücklichen Momenten als auch in seiner Gesamtheit gelingend betrachtet, sei angepasst an die bisherige endliche Lebensspanne.35 Ein sehr viel längeres Leben sei entweder kein Gewinn, weil es sich nicht mit sinnvollen und erfüllenden Tätigkeiten nutzen lässt36 oder es verändere elementar die Bedingungen für ein menschliches Leben im vollen Sinn. Vor allem ein Gedankenexperiment von Bernard Williams ist hier einflussreich geworden. Der endliche Charakter eines Menschen bewirkt, dass man nur bestimmte Tätigkeiten und diese auch nur in einer begrenzten Anzahl von Wiederholungen genießen kann. Durch eine sehr lange Lebensspanne würden solche Beschränkungen überschritten werden, wodurch der Wunsch, am Leben zu bleiben, selbst verloren ginge. Die Alternative zur Langeweile sei lediglich der Identitätsverlust.37 Von diesen Einwänden wären lediglich die primären Ziele des Transhumanismus betroffen. Bei einer schwachen Lebensverlängerung gibt es keine empirischen Hinweise, dass sie notwendigerweise zu Lebensüberdruss, Langeweile oder Sinnverlust führen muss, vor allem nicht, wenn sie gleichzeitig von einer verbesserten Gesundheit begleitet ist. Es lässt sich, gestützt auf hervorragende, aber unvollendete Alterswerke im Gegenteil überzeugend argumentieren, dass in der bisherigen Lebensspanne viele Menschen ihr intellektuelles, künstlerisches und schöpferisches Potential noch nicht voll ausschöpfen konnten.38 Das schwache Endlichkeitsargument, das sich nur gegen eine radikale Lebensverlängerung richtet, lässt sich also auf die Ziele, die gegenwärtig die Biogerontologie verfolgt, nicht anwenden. Die Grundlagen des starken Endlichkeitsarguments, also das verlorene bzw. verdrängte Bewusstsein für die Endlichkeit der eigenen Existenz und seine ethischen Aspekte sollen in der Folge untersucht werden. Die Grundthese lautet, dass das Streben nach ewiger Jugend, indem man Altern bekämpft, zu einem falschen Umgang mit der Endlichkeit führt. Denn 35 

Für eine Übersicht vgl.: Knell, Länger leben, S. 117–151. Stock/Callahan, Point-Counterpoint, S. 554–559. 37 Vgl. Williams, Makropulos case, S. 47–93. 38 Vgl. Horrobin, Immortality, S. 279–292. 36 Vgl.

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die Sterblichkeit und das Leiden an ihr, als wichtigste Aspekte der endlichen Existenz, würden verdrängt. Damit würden gleichzeitig auch die Bedingungen aufgehoben, die den Sinn der menschlichen Existenz konstituieren.39 Diese These lässt sich in weitere Thesen untergliedern, die Grundannahmen zum Altern und zur Endlichkeit enthalten, von denen jede einzelne alles andere als selbstverständlich ist, was in der einschlägigen Debatte jedoch übergangen wird. Die Hauptthese, dass das Ziel, Altern zu bekämpfen, zu einer Verdrängung des für ein gelingendes Leben notwendigen Bewusstseins der Endlichkeit führt, lässt sich in drei untergeordnete Thesen weiter zergliedern: Erstens wird angenommen, dass Eingriffe in Alternsprozesse notwendig Verdrängung und unangemessenes Bewusstsein von körperlichem Altern implizieren. Zweitens wird zugrunde gelegt, dass körperliches Altern einen notwendigen oder zumindest vorrangigen Zugang zur Endlichkeit und Sterblichkeit des Menschen eröffnet. Drittens wird vorausgesetzt, dass die Akzeptanz von Endlichkeit und Sterblichkeit zu den notwendigen Bedingungen für ein gelingendes menschliches Leben gehört. Die erste These richtet sich bereits gegen eine moderate Lebensverlängerung durch Eingriffe ins Altern und sowohl gegen Anti-Aging als auch Biogerontologie. Die zweite und dritte These hat das starke Endlichkeitsargument mit dem schwachen gemeinsam. Sie fassen einen apologetischen Grundwiderstand gegen einen utopischen Meliorismus zusammen, wie er in der neuzeitlichen Begründung der Naturwissenschaft, der visionären Biologie am Beginn des 20. Jahrhunderts und dem gegenwärtigen Transhumanismus zum Ausdruck kommt. Ob Eingriffe in Alternsprozesse auf biogerontologischer Grundlage individuell im Hinblick auf die menschliche Endlichkeit erstrebenswert sind, entscheidet sich zunächst an der ersten These. Allerdings sind auch die zweite und dritte These dafür relevant. Denn bisher hat sich das schwache Endlichkeitsargument als wenig überzeugend erwiesen. Sollten sich auch die zweite und die dritte These als unhaltbar erweisen, dann ist eine moderate Lebensverlängerung im Hinblick auf die menschliche Endlichkeit offensichtlich kaum bedenklich. Selbst Einwände gegen eine radikale Lebensverlängerung müssten sich dann auf andere Argumente als die unterschiedlichen Versionen des Endlichkeitsarguments stützen. In der Folge sollen alle drei Thesen des starken Endlichkeitsarguments mit drei Gegenthesen widerlegt werden. 4.1 Gegen These 1: Eingriffe in Alternsprozesse beruhen auf einem zu geschärften Bewusstsein des Alterns Die Annahme ist kaum überzeugend, dass jede Art von Eingriffen in Alternsprozesse die Erfahrung des Alterns als Endlichkeit verdrängen oder verfälschen würde. Wenn die Prognose zutrifft, dass Alternsprozesse möglicherweise um sieben Jahre verlangsamt werden könnten, so hebt langsameres und gesünderes 39 

Eine Übersicht auch bei: Eichinger/Bozarro, Bioethische Debatte, S. 34–70.

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Altern jedoch die Erfahrungen von Gebrechlichkeit und zeitlicher Begrenztheit nicht auf. Nun könnte man immer noch behaupten, dass allein schon mit dem Versuch, Altern zu manipulieren, ein falsches Bewusstsein geschaffen werde, das von der Illusion von Unbegrenztheit getragen werde. Auf diese Weise wolle man dem Leiden an der vergehenden Zeit entkommen.40 Aber gerade für die Biogerontologie trifft eine solche Diagnose einer fehlenden Aufmerksamkeit für die Begrenztheit der Lebensspanne und der Sterblichkeit nicht zu. Denn viele ihrer Grundbegriffe und theoretischen Konzeptionen beziehen sich genau darauf. In der vergleichenden Biologie des Alterns spielt etwa die Evolution von speziestypischen Lebensspannen eine zentrale Rolle. So nimmt die gegenwärtig einflussreiche „Disposable-Soma-Theorie“ (etwa: „Einwegkörper-Theorie“) an, dass sich unbegrenzt haltbare Körper von individuellen Organismen aus evolutionärer Sicht nicht durchsetzen können. Einzelnen Organismen stünden nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung, die sie entweder zur Reproduktion oder zum Erhalt des Stoffwechselgleichgewichts und zur körpereigenen Reparatur nutzen können. Da aber die Erde eine lebensfeindliche Umgebung sei, in der alle Organismen früher oder später Umweltbedingungen, Unfällen oder Fressfeinden zum Opfer fallen würden, würden solche Organismen verschwinden, die alles in den Erhalt von individuellen Körper setzen würden.41 Das Resultat ist eine speziestypische Balance zwischen Reproduktion und Reparatur sowie eine damit verknüpfte Lebensspanne. 90 Prozent aller Mäuse versterben in freier Wildbahn nach dem zweiten Lebensjahr. Dem entspricht nach biogerontologischer Prognose eine Lebenserwartung von drei Lebensjahren unter geschützten Bedingungen.42 Dasselbe gilt auch für den Menschen. Anders als von der älteren Biologie des Alterns angenommen, gebe es zwar kein genetisches Programm, das den Abbau von körperlichen Funktionen determiniere. Aber unsere Körper seien auch nicht für eine fortdauernde Existenz gestaltet.43 Der begrenzte Erhalt von körpereigenen Reparaturmechanismen auf zellu­ lärer Ebene führt zum Grundphänomen, das die Biogerontologie in ihre Definition des körperlichen Alters aufgenommen hat: Biologisches Altern ist die Anhäufung molekularer Schäden bei gleichzeitiger Abnahme der körpereigenen Mechanismen, die solche Schäden reparieren können.44 Die endliche Lebenszeit ist also mit endlichen körperlichen Fähigkeiten verknüpft und durch sie bedingt. Die Anhäufung molekularer Schäden ist daher ein Maß für das biologische Altern. Das andere Maß ist der Anstieg der Mortalitätskurve in einer Population, ohne dass äußere Faktoren eine Rolle spielen. D. h. wenn Organismen einer Population in einer geschützten Umgebung vermehrt sterben, ohne dass sie verhungern oder Krankheiten zum Opfer fallen, dann kann man diesen Anstieg der 40 

Z. B. bei: Bozarro, Traum ewiger Jugend, S. 219–248. Kirkwood, Odd Science of Aging, S. 437–447. 42 Vgl. Kirkwood, Odd Science of Aging, S. 439. 43 Vgl. Kirkwood, Odd Science of Aging, S. 445. 44 Vgl.Kirkwood, Odd Science of Aging, 440. 41 Vgl.

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Sterbehäufigkeit auf Alternsprozesse zurückführen. Dafür ist ein statistisches Maß – sogenannte Gompertz-Kurven – entwickelt und belegt worden. Endlichkeit und Sterblichkeit spielen also auch hier eine wesentliche Rolle. Wer die Begriffe der Biogerontologie genauer untersucht, kann außerdem auch andere Erscheinungsformen menschlicher Endlichkeit in ihnen finden. Dazu gehören die Kontingenz genetischer Eigenschaften und die Vererbung von Genen, die sich im Alter als Mängel auswirken. Nach der „DisposableSoma-Theorie“, die frühere Ansätze einer nachlassenden Selektion im Alter zusammenfasst, können sich solche Gene deswegen im Laufe der Evolution erhalten, weil ihre Träger sich fortpflanzen und versterben, bevor ihre negativen Effekte sich bemerkbar machen. Insgesamt kann man festhalten, dass biogerontologische Konzeptionen zu einem geschärften Bewusstsein der menschlichen Endlichkeit führen sollten, insofern sie biologische Aspekte besitzt. Damit ist zwar noch nichts über die existenzielle Bedeutung der körperlichen Endlichkeit gesagt, aber biogerontologische Konzeptionen eignen sich kaum zu ihrer Verdrängung. Eher legen sie bestimmte Einschätzungen der Endlichkeit nahe, wie etwa die Negativität von körperlichen Veränderungen, die mit dem biologischen Altern einhergehen. 4.2 Gegen These 2: Altern ist nicht der einzige Zugang zur Erfahrung der Endlichkeit Während man also kaum argumentieren kann, dass Eingriffe in Alternsprozesse zu einer Verdrängung der Endlichkeit führen müssen, bleibt die These offen, man solle die aktuelle Erfahrung des Alterns nicht verändern, weil nur sie einen privilegierten und notwendigen Zugang zur Erfahrung der Endlichkeit eröffne. Als ein derartiger Zugang gleicht körperliches Altern für zahlreiche Autoren alle seine negativen Aspekte aus. In der Erfahrung der Endlichkeit könne man den fundamentalen Sinn des Alterns und der Lebensphase Alter erkennen. Denn Altern sei eine notwendige Bedingung für die Erfahrung, dass das menschliche Leben endlich sei. Wer Alternsprozesse manipulieren wolle, mache die Endlichkeit selbst zu einem medizinischen Problem. Dadurch werde es schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, zu verstehen, welche Bedeutung Zeit, Alter und Veränderung für uns haben sollen. So lässt sich etwa die Argumentation des von George W. Bush eingesetzten President’s Council on Bioethics in seinem vieldiskutierten Bericht Beyond Therapy zusammenfassen.45 Varianten dieser Argumentation finden sich bei zahlreichen Autoren aus unterschiedlichen Disziplinen: unter anderem bei den Gerontologen John Vincent46 und Andreas Kruse47 (der allerdings nicht auf dieser Basis gegen Eingriffe in Alternsprozesse

45 Vgl.

Kass, Beyond therapy, S. 80. Vincent, War on Anti-Ageing Medicine, S. 675–684. 47 Vgl. Kruse, Selbständigkeit, S. 273–287. 46 Vgl.



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argumentiert), beim Theologen Ulrich Feeser-Lichterfeld48, beim Dresdner Philosophen Thomas Rentsch49 und bei den Medizinethikern Leon Kass50 (dem Vorsitzenden des President’s Council) und Giovanni Maio51. Diese Argumentation besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil gehört zur philosophischen Anthropologie und ihren ethischen Implikationen. Er bezieht sich auf die oben genannte These 3, dass die menschliche Existenz im Wesentlichen endlich sei und dass der richtige Umgang damit alleine in der Akzeptanz der eigenen Endlichkeit bestehe. Der zweite Teil des Arguments bezieht sich auf These 2, derzufolge Altern ein notwendiger und privilegierter Zugang zur Endlichkeit sei. Die anthropologischen Annahmen lauten, dass Endlichkeit die wesentliche Eigenschaft der menschlichen Existenz darstellt und dass man diese Eigenschaft bewusst erfahren und bejahen muss, um ein gelingendes menschliches Leben zu führen. Altern sei die Schlüsselerfahrung der Endlichkeit. Der zweite Teil des Arguments lautet, dass erfolgreiche Eingriffe in Alternsprozesse verhindern, dass man die Endlichkeit erfahren könne. Bevor abschließend die dritte These untersucht werden soll, soll gezeigt werden, dass Altern keinesfalls den einzigen Zugang zur menschlichen Endlichkeit darstellt. In dieser Debatte liegt also ein verkürztes Verständnis von Endlichkeit vor, das sie lediglich als begrenzte Lebenszeit und Sterblichkeit versteht. Es gibt jedoch weitere Aspekte, die den Menschen auf seine individuelle Endlichkeit verweisen, die unabhängig von begrenzter Zeit und Altern zu verstehen sind. Eine weitere Form der Endlichkeit stellt die Geburt dar oder der Anfang des Lebens, ebenso wie der Tod das Ende darstellt, worauf etwa der französische Philosoph Paul Ricœur hingewiesen hat.52 Somit markiert die Geburt den Beginn einer endlichen, individuellen Existenz. Aber sie weist auch noch auf eine andere Form der Endlichkeit hin: Auf ein Erbe, das man nicht selbst gewählt hat und das den eigenen Werdegang mitbestimmt. Insbesondere gilt das für die Kontingenz des biologischen, genetischen Erbes, das nach Ricœur einen endlichen Modus der Freiheit verkörpert.53 Dieser endliche Modus markiert eine Grenze und eine Negation der Freiheit als Selbstbestimmung. Die Geburt als Form der Endlichkeit weist daher auf einen Gegensatz von Notwendigkeit und Freiheit hin.54 Auch diese Form der Endlichkeit als Kontingenz des biologischen Erbes, das Spielräume der Freiheit einengt, wird durch die Biogerontologie keinesfalls verdrängt. Im Gegenteil: Die Genetik des Alterns weist auf Grenzen der Eigenverantwortung für gesundes Altern hin, die durch die Kontingenz des genetischen Erbes bestimmt sind. 48 Vgl.

Feeser-Lichterfeld, Biogerontologie, S. 351–360. Rentsch, Altern als Werden. 50 Vgl. Kass, Beyond therapy. 51 Vgl. Maio, Sinn des Alterns, S. 11–19. 52 Vgl. Ricœur, Volontaire et l’involontaire, S. 407–416. 53 Vgl. Ricœur, Volontaire et l’involontaire, S. 412. 54 Vgl. Ricœur, Volontaire et l’involontaire, S. 424. 49 Vgl.

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Für Simone de Beauvoir ändert die Verlängerung der Lebensspanne überhaupt nichts an der Endlichkeit und ihrem Bewusstsein. Die Kürze der Zeit, die im hohen Alter für Lebenspläne übrigbleibt, weist zwar auf eine Form der menschlichen Endlichkeit, die Sterblichkeit, hin. Aber die andere Form dieser Endlichkeit, die Bedingtheit durch das Gegebene, der Kontext des eigenen Lebens, in dem man geboren wird, wird dadurch nicht geändert. Man vereinzelt sich durch den Gebrauch der eigenen Freiheit, indem man sich für bestimmte Pläne, Lebensentwürfe und Werte entscheidet. Diese Form der Endlichkeit, die realisiert wird, indem man sich als Individuum absondert, würde selbst durch Unsterblichkeit nicht aufgehoben werden. Die Einschränkungen durch die Kürze der Lebensspanne als negativer Aspekt der Endlichkeit wären durch Verlängerung des Lebens und verlangsamtes Altern jedoch zumindest etwas gemildert, indem man sich selbst mit 100 Jahren noch unbekannte Bereiche erschließen könnte.55 Paul Ricœur hat auch andere Erscheinungsformen der Endlichkeit ausführlich in seinen anthropologischen Werken untersucht. In Finitude et Culpabilité unterteilt Ricœur das menschliche Bewusstsein nach der philosophischen Tradition in Denken, Wollen und Fühlen. Jedes dieser geistigen Vermögen besitzt einen gegebenen, endlichen Pol: Die Rezeptivität der Erkenntnis bei der Wahrnehmung, der endliche Charakter als individuelle, begrenzte Ausrichtung auf mögliche Vorlieben und Werte und schließlich die Emotionen.56 Selbst wenn Altern völlig angehalten werden könnte – was ja bisher reine Utopie ist –, wäre die menschliche Existenz immer noch eine endliche. Nun könnte man argumentieren, dass zwar keine Verdrängung der Endlichkeit, aber eine falsch wertende, ablehnende Haltung ihr gegenüber zum Ausdruck komme, wenn man Altern manipulieren wolle. Denn die Erfahrung der Endlichkeit würde hier rein negativ gewertet werden, sie sei aber positive Erfahrung und notwendig, um ein gelungenes Leben zu führen. Ein entsprechendes Argument bringt beispielsweise Thomas Rentsch vor. Für Rentsch ermöglicht Altern das „Werden zu sich selbst“, indem die „leiblich-zeitliche Grundsituation“ des Menschen radikalisiert werde und die Sinnkonstitution des menschlichen Lebens zutage trete. „Ethisch ist die einmalige Ganzheit als zeitlich-endlicher Selbstwerdungsprozeß erst dann begriffen, wenn das Werden zu sich selbst als Endgültigwerden verstanden wird. Endgültigwerden heißt hier, daß ein Leben im Altern seine endgültige Gestalt gewinnt und seine ganze Zeit wird.“57 Man kann mit Odo Marquard diesen Standpunkt als „Vollendungsillusion“ kritisieren. Gerade die Endlichkeit und der Tod seien stärker als jede Finalität und die „tagtäglichen Teleologien“ des menschlichen Lebens.58 Aus dieser Perspektive lassen sich Endlichkeit und Tod nicht aneignen. Sie negieren genau 55 Vgl.

de Beauvoir, Das Alter, S. 491. Ricœur, Philosophie de la volonté. 57  Rentsch, Altern als Werden, S. 203. 58 Vgl. Marquard, Theoriefähigkeit, S. 208. 56 Vgl.

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das, was Rentsch als Ganzheit des Lebens ansieht. Eine zeitliche Gesamtheit des menschlichen Lebens gibt es nur von außen betrachtet. Der Tod ist keine Vollendung eines Lebenswerks, sondern seine Negation. Neurodegenerative Erkrankungen, zu denen Alternsprozesse des Gehirns führen können, lassen keine Reflexion der eigenen Endlichkeit zu, die dann als „Erfüllungsgestalt“ am Ende eines Selbstwerdungsprozesses verstanden werden könnte. Die verschiedenen Erscheinungsformen der Endlichkeit, die für Ricœur den Gegensatz zwischen Notwendigkeit und Freiheit darstellen, können ihm zufolge zwar Gegenstand einer Reflexion über die Grenzen einer „nur menschlichen“ Freiheit werden. Aber man kann in diese Grenzen und ihre negativen Erscheinungsformen, zu denen auch das Altern gehört, nicht vollständig einwilligen und sie sich aneignen: „la mort n’est pas moi comme la vie – comme aussi la souffrance, le viellissement et la contingence – elle reste toujours l’étrangère“ („der Tod ist nicht wie das Leben ich selbst, er bleibt immer der Fremde, ebenso wie das Leiden, das Altern und die Kontingenz“, Übers. H.‑J. Ehni)59. Die eigentliche Reaktion der menschlichen Freiheit darauf ist die Ablehnung, auch wenn das eine Selbsttäuschung darstellt, die zu einer Philosophie der Verzweiflung führt. Marquards Sichtweise steht in der Tradition von Leibniz, der die Endlichkeit der Geschöpfe als malum metaphysicum definiert hat, also als Quelle des Bösen und Ursache für Fehler und Defekte, die auf der Unvollkommenheit des Erschaffenen beruhen.60 Diese Auffassung zeigt sich auch in Marquards Artikel für das Historische Wörterbuch der Philosophie, in dem er die Umwertung der Endlichkeit in der Moderne als konsequenteste Leugnung und Positivierung des malums versteht.61 In dieser Positivierung des malums der Endlichkeit in seiner Erscheinungsform des Alterns tritt der zuvor genannte Gegensatz zwischen Apologismus und Prolongevitismus am deutlichsten hervor. Denn apologetische Positionen versuchen ihre übergeordneten metaphysischen Sinnkonstruktionen und ihre jeweiligen Unsterblichkeitserzählungen zu verteidigen, indem sie dem Altern in diesem Kontext eine entsprechende Rolle zuweisen. Anders dagegen der Meliorismus der Prolongevitisten, dessen elementares Argument darin besteht, dass der Mensch nicht nur endlich sei, sondern auch über das Potenzial verfüge, diese Endlichkeit und ihre negativen Aspekte zu überschreiten. 4.3 Gegen These 3: Der Mensch strebt zu Recht danach, seine Endlichkeit zu überschreiten Die dritte These sowohl des schwachen als auch des starken Endlichkeitsarguments besagt, dass die menschliche Endlichkeit das wesentliche anthropologische Charakteristikum der menschlichen Existenz ausmache. Dieses 59 

Marquard, Theoriefähigkeit, S. 434. Leibniz, Theodizee, S. 110. 61 Vgl. Marquard, Malum, S. 652–656. 60 Vgl.

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müsse man akzeptieren und annehmen, um ein gutes Leben führen zu können. Eine vollkommen andere Perspektive zur Bedeutung der Endlichkeit kann man einnehmen, wenn man eine große, alternative philosophische Tradition berücksichtigt. Für diese ist gerade die conditio humana durch die Möglichkeit gekennzeichnet, den endlichen Standpunkt zu überschreiten. Zu dieser Tradition gehören unter anderem Pico della Mirandolas berühmte Schrift „Über die Würde des Menschen“62, Helmuth Plessner, als einer der Begründer der modernen Anthropologie, mit seinem Begriff der „exzentrischen Positionalität“ und der Transzendierung der Wirklichkeit durch den Geist,63 und ebenfalls Paul Ricœur.64 Für Wolfgang Welsch ist die „Versteifung der modernen Position auf die Endlichkeit“ die „Leugnung des überzeitlichen Funkens in uns“65. Er bezeichnet den Tod als untrennbar vom Altern. Das Sterbenmüssen könne man akzeptieren, aber ebenso gut könne man es auch als Skandalon empfinden. In dieser Tradition steht auch der Prolongevitismus der neuzeitlichen und gegenwärtigen Wissenschaft, einschließlich ihrer philosophischen Reflexion bei Bacon und Descartes. Dieser Gegensatz braucht hier nicht weiter ausgeführt werden. Denn der entscheidende Punkt, um den es hier geht, besteht darin, dass die ethische Haltung zur Endlichkeit keineswegs so eindeutig ist, wie das Endlichkeitsargument annimmt. In der philosophischen Anthropologie gibt es Gegenpositionen, die eine vollkommen andere Grundhaltung zum Ausdruck bringen. Ob und wann die Sterblichkeit, der Tod und die menschliche Endlichkeit als Übel eingestuft werden, lässt sich nicht mit allgemein verbindlichen anthropologischen Grundannahmen rechtfertigen. Denn in der philosophischen Anthropologie selbst konnten solche Annahmen sich nicht durchsetzen. Die Beweislast liegt jedoch auf Seiten derer, die sich auf ein einziges, richtiges Verhältnis zur Endlichkeit stützen, wie folgende abschließende Überlegung noch einmal darlegen soll.

Schluss Das Endlichkeitsargument scheitert also sowohl in seiner schwachen wie auch in seiner starken Form. Denn gerade das Beispiel der Biogerontologie zeigt, wie wenig Eingriffe in Alternsprozesse auf dieser Grundlage darauf beruhen, dass die menschliche Endlichkeit verdrängt wird. Wie die oben genannten Gegenbeispiele zeigen, kann man sogar gut nachweisen, wie ein besonderes Verständnis der zeitlichen Endlichkeit des Lebens hier Form annimmt. Das menschliche Leben wird dabei auch im utopischen Zustand der Alterslosigkeit endlich bleiben, gerade wenn man es im Gegensatz zur Unendlichkeit versteht. Denn 62 Vgl.

Bubner/Otto, Renaissance, S. 345–349. Plessner, Stufen des Organischen, S. 346. 64  Vgl. ebd. 65 Vgl. Welsch, Neuigkeiten, S. 205. 63 Vgl.



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es wird weiterhin eine endliche Zeitspanne einnehmen, einen Anfang besitzen, in einen Kontext hineingeboren sein, nicht durch sich selbst existieren, auf äußere Bedingungen angewiesen sein und vieles mehr. Die Akzeptanz bestimmter Formen der menschlichen Endlichkeit lässt sich jedoch nicht als verbindliche moralische Forderung begründen, auf deren Grundlage Versuche unterbleiben sollten, Altern zu manipulieren. Sie kann angesichts der endlichen Züge der menschlichen Existenz lediglich ein Ratschlag der Klugheit sein. Denn diese Forderung sieht sich ihrerseits mit dem Vorwurf konfrontiert, in einer Tradition der Verdrängung und Positivierung des malums zu stehen, die sich aus unterschiedlichen Unsterblichkeitserzählungen speist. Ebenso wenig, wie es in einer pluralistischen Gesellschaft eine einzige, allgemein anerkannte Unsterblichkeitserzählung gibt, können sich Endlichkeitsargumente auf eine verbindliche Empfehlung stützen, wann zeitliche Endlichkeit, Altern und Tod zu akzeptieren seien. Solche Argumente sind lediglich ein Sinnangebot unter vielen konkurrierenden. Da der Zusammenhang zwischen einer Verdrängung des Alterns, sowie Alternsprozessen selbst und der Endlichkeit des menschlichen Lebens nicht notwendig gegeben ist, stellen diese Aspekte von Endlichkeitsargumenten nur sehr schwache Einwände gegen Eingriffe in Alternsprozesse dar. Im Gegenzug ist der Zusammenhang zwischen biologischen Alternsprozessen und altersassoziierten Erkrankungen gerade durch die biogerontologische Forschung immer besser erklärt und verstanden. Das Leiden, das beispielsweise durch neurodegenerative Erkrankungen verursacht wird, müsste durch die Nachteile überwogen werden, die Endlichkeitsargumente geltend machen wollen. Gerade dafür beruhen sie jedoch auf einer viel zu einseitigen Grundlage, wie die alternativen Strömungen der philosophischen Anthropologie zeigen. Wer angesichts des entsprechenden Nutzens und Gewinns an Wohlbefinden und Gesundheit gegen Eingriffe in Alternsprozesse argumentieren will, wird daher mit Endlichkeitsargumenten kaum Erfolg haben.

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Autorinnen und Autoren Friedrich Avemarie †, Professor für Neues Testament am Fachbereich Evangelische Theologie an der Philipps-Universität Marburg Jan-Dirk Döhling, Persönlicher theologischer Referent der Präses im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Westfalen Willem B. Drees, Professor für Philosophy of Humanities und Dekan der Tilburg School of Humanities, NL Hans-Jörg Ehni, Außerplanmäßiger Professor für Ethik der Medizin und stellvertretender Direktor am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin an der Eberhard Karls Universität Tübingen Gregor Etzelmüller, Professor für Systematische Theologie am Institut für Evangelische Theologie an der Universität Osnabrück Johannes Eurich, Extraordinary Professor für Praktische Theologie an der Stellenbosch Universität, ZA und Professor für Diakoniewissenschaften am DWI der Theologischen Fakultät an der Ruprecht-Karls Universität Heidelberg William Franke, Professor für Komparatistik und Religionswissenschaften an der Vanderbilt University, US Katharina Greschat, Professorin für Kirchen- und Christentumsgeschichte (Alte Kirche und Mittelalter) an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der RuhrUniversität Bochum Markus Höfner, Geschäftsführender Oberassistent am Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie der Universität Zürich Rochus Leonhardt, Professor für Systematische Theologie unter besonderer Berücksichtigung der Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig Alexander-Kenneth Nagel, Professor für Religionswissenschaft mit dem Schwerpunkt sozialwissenschaftliche Religionsforschung am Institut für Soziologie an der Georg-August-Universität Göttingen

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Autorinnen und Autoren

William Schweiker, Edward L. Ryerson Distinguished Service Professor für Theologische Ethik an der University of Chicago Divinity School, US Günter Thomas, Professor für Systematische Theologie (Ethik und Fundamentaltheologie) an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum und Research Associate in Systematischer Theologie an der Universität Stellenbosch/Südafrika Lisa Wevelsiep, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) an der Ruhr-Universität Bochum Peter Zimmerling, Professor für Praktische Theologie mit dem Schwerpunkt Seelsorge an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig