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German Pages 232 Year 2001
THOMAS SCHUSTER
Europäische oder dezentrale Sozialpolitik?
Sozialpolitische Schriften Heft 84
Europäische oder dezentrale Sozialpolitik? Der Einfluß internationaler Nachfrageund Präferenzunterschiede
Von Thomas Schuster
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme
Schuster, Thomas:
Europäische oder dezentrale Sozialpolitik? : der Einfluß internationaler Nachfrage- und Präferenzunterschiede I von Thomas Schuster.Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Sozialpolitische Schriften ; H. 84) Zug!.: Mannheim, Univ., Diss., 1999/2000 ISBN 3-428-10496-X
Alle Rechte vorbehalten
© 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübemahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0584-5998 ISBN 3-428-10496-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 €9
Meinen Eltern
Vorwort Während meines Hauptstudiums der Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim reifte in mir der Gedanke, danach erst einmal zu promovieren. Das erworbene Grundlagenwissen weckte mein lebhaftes Interesse, die Erkenntnisse zu vertiefen und zu erweitern. Und eine Promotion war der geeignete Rahmen, um ein bißeben mehr zu erkennen, was eine Ökonomie im Innersten zusammenhält. Das Schicksal meinte es gut mit mir. Mein Wunschdoktorvater an der Fakultät bot mir an, bei ihm über europäische Sozialpolitik zu promovieren. Da ich die Wirtschaftspolitik schon immer für den spannendsten Teilbereich der Volkswirtschaftslehre hielt, willigte ich gerne ein. Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1999/2000 von der Fakultät für Volkswirtschaftslehre der Universität Mannheim als Dissertation angenommen. Zuerst möchte ich meinem Doktorvater, Prof. Dr. Roland Vaubel, danken. Während meines Hauptstudiums führte er mich in die Public-choice-Theorie ein, die mir eine völlig neue Sicht der Dinge eröffnete. Während meiner Promotion ließ er mir alle nötigen Freiheiten und spornte mich mit seiner präzisen und konstruktiven Kritik an, mein Werk ständig zu verbessern. Ich habe viel von ihm gelernt. Ich bedanke mich ebenfalls bei Herrn Prof. Dr. Pranz Urban Pappi, der von Anfang an meine Promotion wohlwollend begleitete und bereitwillig das Zweitgutachten übernahm. Die Volkswagen-Stiftung förderte das Forschungsprojekt. Der größte Teil der Arbeit entstand am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialpolitik, das die Grundausstattung für das Projekt großzügig zur Verfügung stellte. Insbesondere die EDV-Ausstattung und -Unterstützung waren vorzüglich. Mein Dank gilt besonders Marlene Alle, die mich in allen Phasen meiner Dissertation bereitwillig und kompetent unterstützte, vielfaltige Computerprobleme zu lösen. Bei der Durchführung der Eurobarometer-Umfrage war die Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Europäische Umfrageanalysen und Studien sehr hilfreich. Hermann Schmitt, Evi Scholz und Peter Schubert ermöglichten mir, die Ressourcen des Zentrums zu nutzen. Der zweite Teil der Arbeit entstand am Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre. Ich danke meinen Kollegen Bernhard Boockmann und Pay Uwe Paulsen für intensive Diskussionen und einige wertvolle Hinweise. Bernhard Falk und Rebekka Buchwitz haben mir einige nützliche Tips gegeben.
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Vorwort
Torsten Sehröder gestaltete das ein oder andere Schaubild und machte sich um das Literaturverzeichnis verdient. Drei Personen haben allenfalls indirekt, aber dennoch wirkungsvoll zum Gelingen des Projektes beigetragen. Rainer Hofmann unterstützte mich zumindest moralisch. Thomas König gewährte mir Einblick in die "Welt der Wissenschaft" und gab mir immer wieder gute Ratschläge. Mit Volker Stocke diskutierte ich lebhaft und häufig interessante wissenschaftstheoretische und soziologische Probleme. Auch ihnen sei gedankt. Was wäre die Arbeit ohne die zahlreichen Korrekturleser? Dank gebührt Christa Kininger, Oliver Lellek und Hans Schuster, die aufmerksam die ganze Dissertation lasen und sich gegenseitig bestens ergänzten. Thomas Bräuninger, Claus Buhleier und Birgit Rimmelspacher kommentierten Teile der Arbeit. Zuletzt möchte ich meinen Eltern herzlich danken. Ohne sie hätte das Werk schlußendlich gar nicht entstehen können. Sie haben mich ihren Möglichkeiten entsprechend immer unterstützt. Gaggenau, im Februar 2001
Thomas Schuster
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Europäische Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Rechtsgrundlagen . . . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . . . . . 2. Wichtige Tätigkeitsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Sozialpolitische Ausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sozialpolitische Regulierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die ökonomische Theorie des Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Zuordnung staatlicher Aufgaben zu den institutionellen Ebenen 2. Präferenzkosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Externe Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Steigende Skalenerträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Institutioneller Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Verzerrung des wirtschaftlichen Wettbewerbes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Weitere politisch-ökonomische Gesichtspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Theorie der Nachfrage nach Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Komparative Statik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21 21 21 25 25 26 28 29 30 32 33 35 36 39 40 41 42 46 48
C. Die Nachfrage nach Sozialpolitik . .. .. . .. . . . . . . . .. . . . . . .. . . . . . . . . . . . . I. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Aggregat- versus Individualanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Primär- versus Sekundäranalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Notwendigkeit eines Vortests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Internationaler Vergleich . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . 2. Vortest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vorüberlegungen zur Hauptstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Hauptstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Internationale Nachfrage- und Präferenzunterschiede . . . . . . . . . . . . . III. Mutterschaftsgeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Internationaler Vergleich . . . .. .. . .. . . . . . . . . .. . .. . . . . . . . . . . . . . . .
51 51 51 52 53 54 54 57 74 77 88 94 94
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Inhaltsverzeichnis 2. Die Nachfrage nach Mutterschaftsgeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Internationale Nachfrage- und Präferenzunterschiede ...... .. ..... IV. Mutterschaftsurlaub .. . ....... .. ............ . .... ... ............. 1. Internationaler Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Nachfrage nach Mutterschaftsurlaub ... . .................... 3. Internationale Nachfrage- und Präferenzunterschiede ............. V. Zusammenfassung .......................... . ...................
97 107 111 111 112 119 122
D. Das Angebot an Sozialpolitik ................................. . .... . . I. Theoretische Grundlagen .................. . .............. ... ... . 1. Das Angebot an Entgeltersatzleistung im Krankheitsfall .......... a) Das Modell ......................... .. ................... b) Komparative Statik ................... .. ................... 2. Das Angebot an Mutterschaftsgeld und -urlaub ........... . ...... a) Das Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Komparative Statik .................. . . . . ........... . ...... II. Empirische Analyse . . . . .. . .. . . . . . . .. . . . . .. . .. . . . .. . . .. . . . . . . .. . 1. Schätzmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entgeltersatzleistung im Krankheitsfall ... .. .................... a) Daten und Operationalisierung ........ .. ............. . ...... b) Ergebnisse .......................... ... .......... .. ...... c) Diskussion . ......................... . ............. . ...... 3. Mutterschaftsgeld und Mutterschaftsurlaub ... ................... a) Daten und Operationalisierung ...... . .. .. .......... . ........ b) Ergebnisse ....................... ..... ............ .. ..... c) Diskussion ......................... ... ............ . ...... 4. Internationale Unterschiede ............. .. .................... III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
124 124 125 125 127 129 129 133 141 141 143 143 147 150 152 152 156 161 162 163
E. Die Nachfrage nach Zentralisierung der Sozialpolitik . . ... . ......... . . I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Beschäftigungspolitik . . . . . . . .. . . .. . . . . .. . .. . . .. . . .. . . . . . . . . . . . . . 1. Internationaler Vergleich . .. . . .. . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . . . . .. . . . .. . 2. Europäische Beschäftigungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Theorie der Nachfrage nach Zentralisierung der Beschäftigungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Empirische Analyse ...................... ... ........... . ....... 1. Daten und Operationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Internationale Nachfrage- und Präferenzunterschiede ..... . ....... V. Zusammenfassung ........................ ... ...................
165 165 165 165 170 175 181 181 183 190 194
F. Bewertung und Ausblick ......................... . .................. 195 I. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 II. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
Inhaltsverzeichnis
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Anhang A: Der Fragebogen der Hauptstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Anhang 8: Die Fragen zu den restlichen abhängigen EurobarometerVariabien ...... ... . . ... . ...... . .. . ....... .... ... .... ... .. . . 206 Anhang C: Kodierung der benutzten Eurobarometer-Variabien ...... ... . 208 Literaturverzeichnis ........ .. . .. .............. .. . . ............... .... . 213 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Nachfrage nach Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (Vortest) . . . . . 72 Tabelle 2: Nachfrage nach Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (Hauptstudie)
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Tabelle 3: Internationale Unterschiede bei der Nachfrage nach Lohnfortzahlung im Krankheitsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Tabelle 4: Internationale Präferenzunterschiede bei der Nachfrage nach Lohnfortzahlung im Krankheitsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Tabelle 5: Nachfrage nach Mutterschaftsgeld ............. .. .............. 102 Tabelle 6: Internationale Unterschiede bei der Nachfrage nach Mutterschaftsgeld .............. . ................ ... ............... . . .. .. 108 Tabelle 7: Internationale Präferenzunterschiede bei der Nachfrage nach Mutterschaftsgeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Tabelle 8: Nachfrage nach Mutterschaftsurlaub .. .. ..................... . . 116 Tabelle 9: Internationale Unterschiede bei der Nachfrage nach Mutterschaftsurlaub .............................. .. ...................... 120 Tabelle 10: Internationale Präferenzunterschiede bei der Nachfrage nach Mutterschaftsurlaub .................... . . ... .................... 121 Tabelle 11: Angebot an Entgeltersatzleistung im Krankheitsfall in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union 1979-1994, OLS-Schätzung 148 Tabelle 12: Angebot an Mutterschaftsgeld in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union 1988-1994, OLS-Schätzung . ....... .. . . ...... . .. . 157 Tabelle 13: Angebot an Mutterschaftsgeld in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union 1988-1994, Schätzung mit festen Periodeneffekten . . 158 Tabelle 14: Angebot an Mutterschaftsgeld in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union 1988-1994, GLS-Schätzung .. ...... . ............. 159 Tabelle 15: Angebot an Mutterschaftsurlaub in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union 1988-1994, OLS-Schätzung . ................... 160 Tabelle 16: Nachfrage nach Zentralisierung der Beschäftigungspolitik, Frage 69 188 Tabelle 17: Nachfrage nach Zentralisierung der Beschäftigungspolitik, Frage 74 189 Tabelle 18: Internationale Unterschiede bei der Nachfrage nach Zentralisierung der Beschäftigungspolitik ............. . . ...................... 191 Tabelle 19: Internationale Präferenzunterschiede bei der Nachfrage nach Zentralisierung der Beschäftigungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Ausgaben der EU für den Europäischen Sozialfonds, Gemeinschaftsinitiativen mit sozialpolitischem Bezug und sonstige Sozialmaßnahmen 1980-1996 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Abbildung 2: Anzahl der Richtlinien und Verordnungen im Bereich Sozialpolitik 1957-1995 .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. . . 28 Abbildung 3: Präferenzkosten bei zentraler Entscheidung über ein lokales öffentliches Gut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Abbildung 4: Externe Effekte bei der Produktion eines lokalen öffentlichen Gutes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Abbildung 5: Steigende Skalenerträge bei der Produktion eines öffentlich bereitgestellten Gutes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Abbildung 6: Arbeitsmarkt einer armen Region A und einer reichen Region B
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Abbildung 7: Organisationsform der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (Vortest) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Abbildung 8: Zahlungsart für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (Vortest) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Abbildung 9: Höhe der Iohnabhängigen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (Vortest) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Abbildung 10: Höhe der lohn- und familienstandsabhängigen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (Vortest) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Abbildung 11: Höhe des monatlichen Pauschalbetrages, der unabhängig vom Familienstand ist (Vortest) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Abbildung 12: Höhe des monatlichen Pauschalbetrages, der abhängig vom Familienstand ist (Vortest) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Abbildung 13: Organisationsform der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (Hauptstudie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Abbildung 14: Zahlungsart der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (Hauptstudie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Abbildung 15: Höhe des monatlichen Pauschalbetrages (Hauptstudie) . . . . . . . . 81 Abbildung 16: Höhe der Iohnabhängigen Lohnfortzahlung (Hauptstudie) . . . . . . 82 Abbildung 17: Höhe des Mutterschaftsgeldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Abbildung 18: Länge des Mutterschaftsurlaubes . . . . .... ......... . ... . . ... . 115
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 19: Entwicklung der Entgeltersatzleistung im Krankheitsfall in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union 1986-1996 ........ . . 144 Abbildung 20: Entwicklung des Mutterschaftsgeldes in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union 1988-1996 ......................... .. . 153 Abbildung 21: Entwicklung des Mutterschaftsurlaubes in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union 1988-1996 ......................... 154 Abbildung 22: Arbeitslosenquoten in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union 1998 ...... .. ............. . ................... . .. . . 166 Abbildung 23: Arbeitslosenquoten in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union 1998, aufgeteilt nach Problemgruppen ................ 167 Abbildung 24: Ausgaben für Beschäftigungspolitik in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union 1998 ........ .. ....................... 169 Abbildung 25: Zentralisierung der Beschäftigungspolitik, Frage 69 ........... 185 Abbildung 26: Zentralisierung der Beschäftigungspolitik, Frage 74 ........... 186
Abkürzungsverzeichnis AFDC BDA BIP BSP DK EB Essoss ESVG Eurostat GATI
GK
GLS INPS INRA iw iwd JAI MISSOC MwSt. N. F. OECD OLS
SFB
URL
u. s.
VNO-NCW
WTO ZEW
Aid to Families with Dependent Children Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Bruttoinlandsprodukt Bruttosozialprodukt Don't know; Durchschnittskosten Eurobarometer Europäisches System der integrierten Sozialschutzstatistik Europäisches System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen Statistical Office of the European Communities, Statistisches Amt der Europäischen Gemeinschaften General Agreement on Tariffs and Trade Grenzkosten Generalized Least Squares Istituto Nazionale della Previdenza Sociale International Research Associates Institut der deutschen Wirtschaft Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft Johnson Associates, Incorporation Mutual Information System on Social Protection in the European Union Mehrwertsteuer Neue Folge Organization for Econornic Cooperation and Development Ordinary Least Squares Sonderforschungsbereich Uniform Resource Locator United States Verbond van Nederlandse Ondernemigen - Nederlands Christelijk Werkgeveisverbond World Trade Organization Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung
Symbolverzeichnis B f F Fs Gv h m M n N p :n
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Mutterschaftsleistung Wahrscheinlichkeitsfunktion der potentiellen Väter, die Partei zu wählen Anzahl der potentiellen Väter Rae-Index erwarteter Gewinn des Versicherungsunternehmens Anteil der potentiellen Mütter, die in einer Periode Mutterschaftsleistung erhalten Index, der auf die entsprechende Variable für den Medianwähler hinweist; Wahrscheinlichkeitsfunktion der potentiellen Mütter, die Partei zu wählen Anzahl der potentiellen Mütter Wahrscheinlichkeitsfunktion der restlichen Wähler, die Partei zu wählen Anzahl der restlichen Wähler Wahrscheinlichkeit des Schadensfalles; Wahrscheinlichkeit, die Partei zu wählen Preis für die Versicherung Versicherungsprämie absolute Risikoaversion Versicherungssumme Anteil der Sitze der i-ten Partei im Parlament Pauschalsteuer Gesamteinkommen im Schadensfall verfügbares Einkommen Gesamteinkommen im Nichtschadensfall Lohneinkommen individuelles Gesamteinkommen
A. Einleitung Seit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahre 1957 sind die Organe der Gemeinschaft sozialpolitisch aktiv. Die europäische Sozialpolitik wurde in den sechziger und siebziger Jahren eher vernachlässigt und gewann erst mit der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte 1987, die die sozialpolitischen Kompetenzen der Gemeinschaft ausweitete, an Dynamik. Sowohl der Vertrag von Maastricht 1992 mit dem sozialpolitischen Abkommen als auch der Vertrag von Amsterdam 1997 mit dem beschäftigungspolitischen Kapitel fügten erneut Kompetenzen hinzu. Trotzdem ist es in den letzten Jahren wieder etwas ruhiger um die europäische Sozialpolitik geworden. Derzeit existieren ungefähr 190 rechtlich verbindliche Richtlinien und Verordnungen der Europäischen Union (EU), die das deutsche Sozialrecht unmittelbar beeinflussen (Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände 1999, S. 1). Die vorliegende Arbeit befaßt sich mit der Frage nach der Zentralisierung oder Dezentralisierung der Sozialpolitik. Ist einmal entschieden, daß ein sozialpolitisches Gut angeboten werden soll, so ist anschließend zum einen die Höhe des Angebotes, zum anderen aber auch die institutionelle Ebene festzulegen, auf der das Gut angeboten wird. Denkbar sind einerseits einzelstaatliche Anbieter wie lokale, regionale oder nationale Gebietskörperschaften. Andererseits könnten im Rahmen supranationaler Lösungen zwei benachbarte Grenzregionen zusammenarbeiten, oder die Europäische Union könnte das Gut bereitstellen. Die Arbeit verfolgt insgesamt zwei Ziele. Zum einen ist zu entscheiden, ob und inwieweit es effizient und sinnvoll ist, daß die Europäische Union sozialpolitische Güter anbietet. Diese Frage zu beantworten, ist Hauptziel der Analyse und war zugleich Motivation, die Arbeit überhaupt zu schreiben. Normativer Ausgangspunkt der Arbeit ist die ökonomische Theorie des Föderalismus. Sie gibt mit den Präferenzen der Bürger, technologischen externen Effekten und Skalenerträgen in der Produktion normative Kriterien dafür vor, welche institutionelle Ebene ein sozialpolitisches Gut anbieten soll. Da vermutlich in der Sozialpolitik die Präferenzen der Bürger am wichtigsten sind, um die Kompetenzen effizient zu verteilen, stehen diese auch im Zentrum der Analyse. Zum anderen sollen theoretische Modelle entwickelt und empirisch getestet werden, um die Nachfrage nach und das Angebot an Sozialpolitik zu 2 Schuster
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A. Einleitung
erklären. Liegen solche Modelle für ausgewählte sozialpolitische Bereiche vor, ist es möglich, drei interessante Fragen zu beantworten. Erstens läßt sich prognostizieren, wie sich Nachfrage und Angebot zukünftig entwickeln werden. Dies ist insofern bedeutsam, als man damit abschätzen kann, ob sich die Nachfrage der Bürger oder das Angebot der EU-Staaten in Zukunft eher angleichen oder auseinanderentwickeln wird. Zweitens lassen sich die Modelle auf andere - hier nicht untersuchte sozialpolitische Güter anwenden, um die Nachfrage und das Angebot dieser Güter zu erklären und zu prognostizieren. Zukünftige Forschungsvorhaben können auf den erarbeiteten theoretischen und empirischen Ergebnissen aufbauen. Drittens untersucht die Arbeit, welche verschiedenen Faktoren die sozialpolitische Nachfrage und das Angebot beeinflussen. Liegen empirisch bewährte Modelle der Nachfrage und des Angebotes vor, so sind auch die systematischen Einflußfaktoren bekannt, die Nachfrage und Angebot tatsächlich bestimmen. Damit läßt sich klären, ob beide eher durch ökonomische Variablen wie Einkommen, Ersparnis oder Arbeitslosenquote, durch sozio-ökonomische Variablen wie Alter oder Bildungsstand oder durch politisch-ökonomische Variablen wie politische Ausrichtung der Regierungspartei oder Parteienwettbewerb beeinflußt werden. Die Arbeit besteht aus insgesamt vier inhaltlichen Kapiteln. Kapitel B. stellt die Grundlagen der Untersuchung dar. Zuerst werden in einem Überblick über die europäische Sozialpolitik die rechtlichen Bestimmungen und die sozialpolitischen Aktivitäten der EU beschrieben (Abschnitt B.l.). Anschließend führt Abschnitt B.II. in die ökonomische Theorie des Föderalismus ein. Die Präferenzen der Bürger, die Existenz von technologischen externen Effekten und Skalenerträgen in der Produktion, der institutionelle Wettbewerb, die Verzerrung des wirtschaftlichen Wettbewerbes und schließlich politisch-ökonomische Aspekte sind wesentliche Kriterien, um die Kompetenzen für das sozialpolitische Angebot effizient zuzuordnen. Grundsätzlich geht die Theorie davon aus, daß es effizient ist, falls die unterste Ebene das Gut bereitstellt (Oates 1972, S. 35). Erst wenn mindestens eines der genannten Kriterien für Zentralisierung spricht, kann es tatsächlich vorteilhaft sein, das Gut auf einer übergeordneten Ebene anzubieten. 1 In Abschnitt B.III. wird ein Erwartungsnutzenmodell entwickelt, um die Nachfrage nach Sozialpolitik zu erklären. Viele sozialpolitische Leistungen sichern den Bürger dagegen ab, daß sich sein Einkommen verringert. Den 1 Sprechen ein oder mehrere Kriterien der Theorie für die Zentralisierung, ist dies lediglich eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung für ein zentralisiertes Angebot.
A. Einleitung
19
Einkommensverlust löst ein bestimmtes, nicht vorhersehbares Ereignis aus, zum Beispiel Krankheit, Geburt eines Kindes oder Arbeitslosigkeit. Deshalb stellt die Nachfrage nach Sozialpolitik eine Entscheidung unter Unsicherheit dar, so daß sich das individuelle Verhalten durch ein Erwartungsoutzenmodell beschreiben läßt. Das theoretische Modell dient dazu, die wesentlichen Nachfragefaktoren herauszuarbeiten. In Kapitel C. werden die sozialpolitischen Präferenzen der Bürger exemplarisch für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (C.II.), Mutterschaftsgeld (C.III.) und Mutterschaftsurlaub (C.IV.) untersucht. Die Analyse erfolgt mit Daten der Eurobarometer-Umfragen 37.1 (1992) und 44.3 (1996). Die Fragen zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wurden speziell für die vorliegende Arbeit entwickelt und Bürgern in fünf europäischen Ländern gestellt. Es erforderte umfangreiche Vorarbeiten, um die Fragen zu entwerfen und die Länder auszuwählen. Diese Vorarbeiten sind in den Unterabschnitten C.II.2. und C.ll.3. dargestellt. Die Abschnitte des Kapitels C. sind jeweils gleich aufgebaut. Jedes beginnt mit einem internationalen Vergleich der entsprechenden sozialpolitischen Regelung, da es die Nachfrage beeinflussen kann, wie die Leistung institutionell ausgestaltet ist. Dann werden die theoretischen Überlegungen aus Abschnitt B.III. auf das sozialpolitische Gut angewandt und die wesentlichen Einflußgrößen der Nachfrage herausgearbeitet. Es folgen die empirischen Ergebnisse. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob die festgestellten Nachfrage- und Präferenzunterschiede der Bürger zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten beträchtlich sind. Kapitel D. geht auf das sozialpolitische Angebot durch die einzelnen Mitgliedstaaten ein. Wiederum werden exemplarisch die Bereiche Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Mutterschaftsgeld und Mutterschaftsurlaub untersucht. Abschnitt D.l. entwickelt zwei theoretische Modelle, die das Angebot an Sozialpolitik erklären könnten. Das Angebot an Entgeltfortzahlung läßt sich vermutlich durch ein Medianwählermodell näher bestimmen. Für das Angebot an Mutterschaftsleistungen könnte auch ein Interessengruppenmodell relevant sein. Abschnitt D.ll. widmet sich der empirischen Analyse. Zuerst werden die verwendeten Schätzmethoden beschrieben (D.II.l.). Kombinierte Zeitreihen- und·Querschnittsanalysen dienen dazu, das Angebot an Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall (D.II.2.) sowie Mutterschaftsgeld und -urlaub (D.II.3.) empirisch zu analysieren. Unterabschnitt D.II.4. untersucht, wie die international unterschiedlichen Angebote zustande kommen. Kapitel E. geht nochmals auf die Präferenzen der Bürger ein. Diesmal wird die Nachfrage nach Zentralisierung der Beschäftigungspolitik analysiert. Während in den Kapiteln B. und C. gefragt wurde, ob es effizient ist, 2*
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A. Einleitung
das sozialpolitische Angebot zu zentralisieren, wird nun aus positiver Sicht untersucht, ob die Bürger eine zentralisierte Sozialpolitik präferieren. Nach einer kurzen Einleitung (E.I.) geht Abschnitt E.II. auf das beschäftigungspolitische Angebot der Mitgliedstaaten (E.II.l.) und der Europäischen Union (E.II.2.) ein. Abschnitt E.III. greift einerseits das Erwartungsoutzenmodell aus Abschnitt B.III. wieder auf, das die Nachfrage nach zentralisierter Beschäftigungspolitik erklärt. Andererseits werden darauf aufbauende Hypothesen entwickelt, wie die Nachfrage zu erklären ist. Abschnitt E.IV. gibt die empirischen Ergebnisse wieder. Zuerst beschreibt Unterabschnitt E.IV.l. die verwendeten Daten, die der Eurobarometer-Umfrage 44.1 (1995) entstammen. Dann werden die Ergebnisse berichtet (E.IV.2.) sowie die internationalen Nachfrage- und Präferenzunterschiede der Bürger analysiert (E.IV.3.). Am Ende jeden Kapitels werden die Ergebnisse zusammengefaßt. In der Schlußbetrachtung werden die Ergebnisse noch einmal im Lichte der ursprünglichen Zielsetzungen der Arbeit bewertet und vorgeschlagen, wie sich die europäische Sozialpolitik zukünftig entwickeln könnte.
B. Grundlagen I. Europäische Sozialpolitik
1. Die Rechtsgrundlagen
Ansätze trag 1957. Ziele, den Rückstand
zu einer europäischen Sozialpolitik gibt es bereits im EWG-VerIn der Präambel des Vertrages setzt sich die Gemeinschaft die "wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt" zu sichern und "den weniger begünstigter Gebiete zu verringern".
Artikel 39-42 widmen sich der Freizügigkeit der Arbeitskräfte innerhalb der Gemeinschaft. 1 Artikel 42 greift die besonderen Probleme der sozialen Sicherheit auf, die Wanderarbeitnehmer betreffen. Es soll sichergestellt werden, daß Ansprüche auf soziale Leistungen, die ein Arbeitnehmer in verschiedenen Ländern der EU erworben hat, nicht verloren gehen. Aus der Tatsache, daß in den Mitgliedsländern verschiedene Systeme der sozialen Sicherung existieren, sollen einem wanderungswilligen Arbeitnehmer keine Nachteile entstehen. Artikel 136 erklärt, daß "die Mitgliedstaaten . . . auf eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte" hinwirken wollen. Diese soll sich in erster Linie aus dem "Wirken des Gemeinsamen Marktes" ergeben, der eine "Abstimmung der Sozialordnungen" begünstigt. Um den Gemeinsamen Markt zu verwirklichen, ist es nach Ansicht der Gründungsväter der Gemeinschaft nicht nötig, die unterschiedlichen sozialpolitischen Regelungen in den Mitgliedstaaten vorab zu harmonisieren, vielmehr erzeugt die Freizügigkeit von Arbeit und Kapital eine wirtschaftliche Dynamik, die automatisch darauf hinwirkt, die Lebens- und Arbeitsbedingungen auf hohem Niveau anzugleichen. Der Grundsatz, daß Männer und Frauen bei gleicher Arbeit das gleiche Entgelt erhalten sollen, wird in Art. 141 geregelt. Dies bedeutet, daß sowohl bei Akkordlöhnen als auch bei Zeitlöhnen der Arbeitnehmer auf Grund seines Geschlechtes nicht diskriminiert werden darf. Art. 142 sieht vor, daß die Urlaubsregelungen in den Mitgliedstaaten gleichwertig sein sollen. 1 Die Numerierung der Artikel bezieht sich - soweit nicht anders angegeben auf den EG-Vertrag, wie er im Vertrag von Amsterdam 1997 vereinbart worden und seit dem I. Mai 1999 in Kraft ist.
22
B. Grundlagen
In den Art. 146-148 wird die Errichtung und Tätigkeit des Europäischen Sozialfonds geregelt. Ursprünglich hatte der Fonds nur die Aufgabe, die "berufliche Verwendbarkeit und die örtliche und berufliche Freizügigkeit der Arbeitskräfte zu fördern". Hierbei unterstützte er besonders die Umschulung oder Umsiedlung von Arbeitslosen oder von Arbeitnehmern, deren Betriebe Schwierigkeiten hatten, ihre Produktion umzustellen. Der Europäische Sozialfonds wurde 1960 errichtet. Dies war die erste sozialpolitische Maßnahme der Gemeinschaft. Schließlich ist noch auf zwei allgemeine Regelungen hinzuweisen, die gelegentlich als rechtliche Grundlage für sozialpolitische Maßnahmen dienen. Nach Art. 94 können Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsländer, "die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes auswirken", durch Richtlinien angeglichen werden. Artikel 308 enthält eine Generalerrnächtigung. Es können Richtlinien erlassen werden, wann immer ein Tätigwerden der Gemeinschaft erforderlich erscheint, "um im Rahmen des Gemeinsamen Marktes eines ihrer Ziele zu verwirklichen." Richtlinien auf Grundlage dieser beiden Artikel müssen vom Ministerrat einstimmig verabschiedet werden. Nachdem in den sechziger Jahren außer der Gründung des Europäischen Sozialfonds keine wesentlichen Maßnahmen ergriffen worden waren, bekam die europäische Sozialpolitik Anfang der siebziger Jahre neuen Schwung. Herrschte ursprünglich im Bereich der Sozialpolitik eher eine passive Haltung vor, so dominierte nun die Einstellung, daß die Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes von entsprechenden sozialpolitischen Maßnahmen begleitet werden müsse, um negative soziale Auswirkungen zu vermeiden. An dieser Sichtweise hat sich bis heute grundsätzlich nichts geändert. Sichtbarstes Zeichen dieser neuen Haltung war das sozialpolitische Aktionsprogramm, das im Jahre 1974 verabschiedet wurde. Das Aktionsprogramm gliedert sich in die Bereiche Vollbeschäftigung und bessere Beschäftigungsmöglichkeiten, Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie schließlich Mitbestimmung und wirtschaftliche Demokratie. Das Aktionsprogramm sieht insgesamt 35 Initiativen vor, von denen jedoch die meisten nicht verwirklicht wurden. Auf Grund des Programms wurden allerdings in den Bereichen Beschäftigungsschutz, Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz sowie Gleichbehandlung von Männern und Frauen in der Folgezeit einige Richtlinien erlassen. Die Einheitliche Europäische Akte führte 1987 zwei wesentliche Neuerungen im Bereich der Sozialpolitik ein. Zum einen eröffnete der damalige Art. lOOa (heute Art. 95) die Möglichkeit, Richtlinien für die Verwirklichung des Binnenmarktes lediglich mit qualifizierter Mehrheit im Ministerrat zu beschließen; der damalige Art. 100 (heute Art. 94) sah noch Einstimmigkeit vor. Zum anderen fügte man den damaligen Art. 118a ein, der
I. Europäische Sozialpolitik
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heute teilweise in Art. 137 erscheint. Danach können Richtlinien im Bereich Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz verabschiedet werden, was der Vertrag zuvor nur indirekt ermöglichte. Auch für diese Richtlinien ist nur eine qualifizierte Mehrheit erforderlich. 1989 nahmen die Mitgliedstaaten - mit Ausnahme Großbritanniens - die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte an. Die Sozialcharta war jedoch weder Bestandteil des EWG-Vertrages noch abgeleitetes Gemeinschaftsrecht und damit nur eine unverbindliche Absichtserldärung, die die elf restlichen Staats- und Regierungschefs feierlich verabschiedeten. Die Charta enthält einen Katalog von sozialen Grundrechten der Arbeitnehmer, der in jedem Mitgliedstaat verwirklicht werden soll. Er erstreckt sich auf die Bereiche Freizügigkeit, Beschäftigung und Arbeitsentgelt, Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, sozialer Schutz, Koalitionsfreiheit und Tarifverhandlungen, Berufsausbildung, Gleichbehandlung von Männern und Frauen, Unterrichtung, Anhörung und Mitwirkung der Arbeitnehmer, Gesundheitsschutz und Sicherheit in der Arbeitsumwelt, Kinder- und Jugendschutz, ältere Menschen sowie Behinderte. In der Einleitung heißt es, daß "den sozialen Fragen im Zuge der Schaffung des europäischen Binnenmarktes die gleiche Bedeutung wie den wirtschaftlichen Fragen beizumessen ist". Zur gleichen Zeit verabschiedete die europäische Kommission ein sozialpolitisches Aktionsprogramm, das sich am Grundrechtskatalog der Charta systematisch orientiert und insgesamt 47 Vorschläge enthält, wie die Errichtung des Binnenmarktes im sozialen Bereich ergänzt werden sollte. In 23 Fällen werden für die Mitgliedstaaten verbindliche Verordnungen oder Richtlinien vorgeschlagen. Sechs davon waren 1995 noch nicht verabschiedet. Der Vertrag von Maastricht, der im November 1993 ratifiziert wurde, weitete die sozialpolitischen Kompetenzen der Gerneinschaft/Union erneut aus (Bercusson 1994). Ursprünglich sollten die neuen Regelungen in den Vertrag hineingeschrieben werden. Dies stieß aber auf britischen Widerstand. So einigte man sich darauf, dem Vertrag ein Abkommen über die Sozialpolitik beizufügen, das nicht für Großbritannien gelten sollte. Danach kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit Richtlinien in den Bereichen Arbeitsbedingungen, Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer, Chancengleichheit von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt sowie berufliche Eingliederung von Arbeitslosen beschließen. Der Rat entscheidet einstimmig in den Politikfeldern soziale Sicherheit und sozialer Schutz der Arbeitnehmer, Schutz bei Beendigung des Arbeitsvertrages, Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen (einschließlich der Mitbestimmung), Beschäftigungsbedingungen von Ausländern aus Drittstaaten sowie finanzielle Förderung der Beschäftigung. Au-
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B. Grundlagen
ßerdem wird der Dialog zwischen den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften auf europäischer Ebene stärker institutionalisiert. Die Sozialpartner haben die Möglichkeit, unter bestimmten Bedingungen eigene Vereinbarungen zu treffen, die dann in europäisches Recht umgesetzt werden können. Dies geschah zum ersten Mal mit der Vereinbarung der Sozialpartner über den Eltemurlaub, die der Rat 1996 als Richtlinie übernahm und verabschiedete. Zwei weitere Vereinbarungen über Teilzeitarbeit (1997) und befristete Arbeitsverhältnisse (1999) folgten. Die Kommission hat 1994 ein Weißbuch mit dem Titel "Europäische Sozialpolitik - ein zukunftsweisender Weg für die Union" und 1995 ein mittelfristiges sozialpolitisches Aktionsprogramm veröffentlicht, das 115 neue Vorhaben enthält. Allerdings sind darunter lediglich 16 neue Richtlinienvorschläge; es werden vor allem Mitteilungen und Berichte angekündigt. Auch das aktuelle sozialpolitische Aktionsprogramm für die Jahre 1998-2000, das die Kommission 1998 verabschiedete, enthält nur wenige neue Richtlinienvorschläge. Von den 59 Vorhaben beziehen sich lediglich neun auf Richtlinien oder Verordnungen. Die meisten von ihnen haben zudem lediglich den Zweck, bereits verabschiedete Rechtsakte zu aktualisieren oder zu vervollständigen. Im Vertrag von Amsterdam wurden im Juni 1997 zwei wichtige Änderungen beschlossen. Zum einen fügte die Regierungskonferenz ein beschäftigungspolitisches Kapitel ein, das im Art. 128 die jährliche Verabschiedung von beschäftigungspolitischen Leitlinien, von nationalen Berichten über Umsetzung dieser Leitlinien und eines gemeinsamen Berichtes des Rates und der Kommission zur Beschäftigungslage vorsieht. 2 Zum anderen beschloß man, die Bestimmungen des sozialpolitischen Abkommens von Maastricht ohne wesentliche Änderungen in den Vertrag aufzunehmen (Boockmann 1999, S. 129). Dieser Schritt wurde möglich, nachdem die neu gewählte Labour-Regierung in Großbritannien im Juni 1997 ihren Beitritt zum sozialpolitischen Abkommen erklärte. Der Maastrichter und der Amsterdamer Vertrag brachten eine neuerliche Kompetenzausweitung im Bereich der Sozialpolitik mit sich, die in der Folgezeit zu zahlreichen Aktivitäten der Kommission und des Rates führte. Die Kommission verabschiedete eine Vielzahl von unverbindlichen Empfehlungen, Stellungnahmen und Berichten. Jedoch kam es nur vereinzelt zur Verabschiedung von verbindlichen Verordnungen und Richtlinien durch den Rat (Platzer 1999, S. 181).
2 Zur ausführlichen Darstellung der europäischen Beschäftigungspolitik vergleiche Unterabschnitt E.II.2.
I. Europäische Sozialpolitik
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2. Wichtige Tätigkeitsbereiche
Die sozialpolitischen Maßnahmen der Europäischen Union kann man dadurch unterscheiden, ob sie den Gemeinschaftshaushalt direkt belasten oder nicht. Selbst wenn sie ihn nicht direkt belasten - also zum Beispiel im Falle von Richtlinien -, verursachen sie jedoch an anderer Stelle Kosten. Diese sind dann von den Mitgliedstaaten, den Unternehmen oder Privatpersonen zu tragen. a) Sozialpolitische Ausgaben An erster Stelle ist hier der Europäische Sozialfonds zu nennen. Er wurde in den Jahren 1971, 1983, 1989 und 1994 - also insgesamt viermal reformiert. Seit 1989 ist er in den größeren Rahmen der europäischen Strukturpolitik eingebettet. Die drei Strukturfonds Europäischer Sozialfonds, Europäischer Fonds für regionale Entwicklung und Europäischer Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft - Abteilung Ausrichtung verfolgen insgesamt sieben Ziele. Für die Ziele 3 und 4 ist alleine der Sozialfonds zuständig. Er unterstützt damit Projekte, die die Langzeitarbeitslosigkeit bekämpfen, Jugendliche in das Erwerbsleben eingliedern und die Anpassung der Arbeitskräfte an den industriellen Wandlungsprozeß erleichtern sollen. Für diese Ziele standen 1996 ungefähr 38 Prozent seiner Mittel zur Verfügung. 52 Prozent der Fondsmittel wurden aufgewendet, um wirtschaftlich rückständige Regionen (sogenannte Ziel-I-Regionen) zu unterstützen. Die restlichen Mittel verteilen sich auf die Ziele 2 und 5 b (Umstellung von Regionen mit rückläufiger industrieller Entwicklung beziehungsweise Förderung der Entwicklung des ländlichen Raumes). 1996 gab der Sozialfonds insgesamt 6 Mrd. EGU aus. Die Ziele 6 und 7 werden ausschließlich von den zwei übrigen Fonds verwirklicht. Ebenfalls im Rahmen der Strukturpolitik, aber außerhalb des Sozialfonds, finanziert die EU seit 1991 sogenannte Gemeinschaftsinitiativen, von denen einige sozialpolitische Ziele verfolgen. Die Initiative NOW soll gleiche Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen schaffen, dafür wurden 1996 13 Mio. ECU aufgewendet. Das HORIZON-Programm erleichtert gesellschaftlichen Randgruppen wie Drogenabhängigen, Obdachlosen und Strafgefangenen die Rückkehr in das Arbeitsleben. Die Mittel für 1996 betrugen 101 Mio. ECU. Die Initiative YOUTHSTART fördert Projekte, die der Eingliederung Jugendlicher in den Arbeitsmarkt dienen. Dafür wurde 56 Mio. ECU ausgegeben. Das Projekt ADAPT schließlich fördert die Anpassung der Arbeitnehmer an den technologischen Wandel. 1996 standen dafür 87 Mio. ECU zur Verfügung. Darüber hinaus führt die Kommission unzählige kleinere Maßnahmen durch, von denen hier nur die wichtigsten beispielhaft aufgeführt werden
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B. Grundlagen 7000
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1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 Jahr Quelle: Europäische Gemeinschaften (1982- 1998).
Abbildung 1: Ausgaben der EU für den Europäischen Sozialfonds, Gemeinschaftsinitiativen mit sozialpolitischem Bezug und sonstige Sozialmaßnahmen 1980-1996
können. So wurden 1996 für ein drittes Aktionsprogramm zur Krebsbekämpfung 11 Mio. ECU ausgegeben, ein erstes Aktionsprogramm zur Bekämpfung von Aids kostete 5,6 Mio. ECU, und ein Programm zur Gesundheitsförderung schlug mit 4 Mio. ECU zu Buche. Außerhalb der Gesundheitspolitik wurden ein drittes Aktionsprogramm zur Eingliederung Behinderter (11,4 Mio. ECU), ein viertes Aktionsprogramm zur Bekämpfung der Armut (9 Mio. ECU) und ein viertes Aktionsprogramm zur Chancengleichheit von Frauen und Männem (6,6 Mio. ECU) durchgeführt. Insgesamt hat die EU im Jahre 1996 für sonstige Sozialmaßnahmen 125 Mio. ECU ausgegeben. Offensichtlich besteht die Strategie darin, möglichst viele Kompetenzen in Anspruch zu nehmen, auch wenn für die einzelnen Maßnahmen nur relativ geringe Beträge zur Verfügung stehen. b) Sozialpolitische Regulierungen Wichtiger als die sozialpolitischen Ausgaben sind in der EU die sozialpolitischen Regulierungen, die in der Regel als Verordnungen oder Richtlinien
I. Europäische Sozialpolitik
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erlassen werden. Beide beeinflussen mitunter stark das geltende Recht in den Mitgliedstaaten. 3 Die meisten verbindlichen Rechtsakte auf dem Gebiet der Sozialpolitik betrafen in der Vergangenheit den Bereich Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz. Die erste sozialpolitische Richtlinie der Gemeinschaft überhaupt war 1967 eine Richtlinie über die Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung gefährlicher Stoffe. In der Folgezeit verabschiedete der Ministerrat hierzu vier Aktionsprogramme und 1989 eine Rahmenrichtlinie. Das Jahr 1992 wurde zum "Europäischen Jahr für Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz" erklärt. Die Rahmenrichtlinie von 1989 war Grundlage für insgesamt 13 Einzelrichtlinien, die sich mit so unterschiedlichen Themen befassen wie der manuellen Handhabung von Lasten, den zeitlich begrenzten oder ortsveränderlichen Baustellen oder der besseren medizinischen Versorgung auf Schiffen. Ein zweiter großer Bereich ist die Gleichbehandlung von Männem und Frauen. Die bisher verabschiedeten Richtlinien betreffen den Grundsatz des gleichen Entgelts (1975), den Zugang zur Beschäftigung und Berufsausbildung (1976), die soziale Sicherheit (1978), die betriebliche Altersversorgung (1986), die Gleichbehandlung von Männem und Frauen, die eine selbständige Erwerbstätigkeit ausüben (1986), und die Beweislast bei geschlechtsbedingter Diskriminierung ( 1997). Die Gemeinschaft hat sich drittens die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bürger zum Ziel gesetzt. Hierunter fallen Richtlinien über die Angleichung der Rechtsvorschriften bei Massenentlassungen (1975), über die Pflicht des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer über geltende Arbeitsvertragsbedingungen zu unterrichten (1991 ), oder über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (1993). Die Arbeitszeitrichtlinie schreibt zum Beispiel vor, daß die wöchentliche Arbeitszeit 48 Stunden nicht überschreiten darf, daß spätestens nach sechs Stunden Arbeit eine Ruhepause fällig ist und daß der bezahlte Jahresurlaub mindestens vier Wochen dauern muß. In anderen Bereichen der Sozialpolitik verabschiedete die EU nur wenige Richtlinien. Zu nennen wären eine Richtlinie zum Jugendarbeitsschutz, die zum Beispiel Kinderarbeit verbietet, eine Richtlinie über die Etikettierung von Tabakerzeugnissen und eine Richtlinie über den Teergehalt von Zigaretten. Noch nicht verabschiedet sind Richtlinienvorschläge, die seltene Krankheiten, durch Umweltverschmutzung bedingte Krankheiten sowie Unfälle und Verletzungen betreffen. 3 Für eine Aufstellung der verabschiedeten Richtlinien vergleiche Berie (1993, S. 86 ff.) oder Gold (1993, S. 236 ff.).
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B. Grundlagen 28
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6
6
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0
Verbesserung der Lebensund Arbeitsbedingungen
Gleichbehandlung von Männem und Frauen
Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz
Kinder- und Jugendschutz
0
Behinderte
I
2
Gesundheits-
I
wesen
Quellen: Berie (1993, S. 86 ff.), Gold (1993, S. 236 ff.). Kommission (1995b).
Abbildung 2: Anzahl der Richtlinien und Verordnungen im Bereich Sozialpolitik 1957-1995
In der EU-Sozialpolitik - aber auch in vielen anderen Politikfeldern der EU - werden wesentlich häufiger Regulierungen erlassen, als daß die EU direkt Zahlungen leistet. Das dürfte damit zusammenhängen, daß die Mitgliedstaaten die Einnahmen der Gemeinschaft einstimmig beschließen und die nationalen Parlamente die Zuweisung an die Gemeinschaft billigen müssen, während der Ministerrat die Richtlinien und Verordnungen - zum Teil ja sogar mit qualifizierter Mehrheit - ohne die Zustimmung der nationalen Parlamente erlassen kann. Nach Art. 137 des Amsterdamer Vertrages bedürfen sozialpolitische Regulierungen zwar der Zustimmung des Europäischen Parlamentes, dieses ist jedoch noch eher als die Regierungen und Parlamente der Mitgliedstaaten bereit, die Sozialpolitik auf europäischer Ebene zu zentralisieren. II. Die ökonomische Theorie des Föderalismus
Normativer Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist die ökonomische Theorie des Föderalismus. Bietet der Staat ein sozialpolitisches Gut an, so stellt sich sofort die Frage, welche institutionelle Ebene dafür zuständig
li. Die ökonomische Theorie des Föderalismus
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sein soll. Mit Hilfe der Theorie des fiskalischen Föderalismus lassen sich zumindest Tendenzaussagen treffen, welche institutionelle Ebene am besten geeignet ist, ein sozialpolitisches Gut bereitzustellen. 1. Die Zuordnung staatlicher Aufgaben zu den institutionellen Ebenen Im Rahmen der normativen Analyse der Staatstätigkeit geht es zunächst darum, ob der Staat bestimmte Güter und Dienstleistungen produzieren oder bereitstellen soll. Wird ein Handlungsbedarf des Staates diagnostiziert, ist des weiteren zu klären, welche staatliche Ebene verantwortlich sein soll. In der vorliegenden Arbeit bleibt die erste Frage völlig ausgeklammert, da sie sich unabhängig von der europäischen Perspektive stellt. Grundlegend für die EU-Sozialpolitik ist jedoch die Frage der institutionellen Zuordnung. Ist es effizient und sinnvoll, ein sozialpolitisches Gut auf europäischer Ebene bereitzustellen, oder ist es besser, untergeordnete Gebietskörperschaften (Bund, Länder oder Gemeinden, aber auch Regierungspräsidien oder Gemeindeverbände) damit zu betrauen? Zu denken ist schließlich auch an eine internationale regionale Zusammenarbeit, zum Beispiel an eine Kooperation von Grenzregionen zweier Staaten. Sogenannte Bereitstellungskosten werden im folgenden als Orientierungsmaßstab benutzt, mit deren Hilfe die staatlichen Aufgaben den verschiedenen institutionellen Ebenen effizient zugeordnet werden können. Der Kostenbegriff wird hier sehr weit gefaßt und umfaßt alle Kosten, die bei der Bereitstellung eines sozialpolitischen Gutes anfallen. Der wichtigste Kostenbestandteil sind natürlich die Produktionskosten. Es fallen jedoch auch Transaktionskosten an, wenn man zum Beispiel versucht, sich auf eine bestimmte Höhe der Produktion zu einigen oder externe Effekte zwischen Gebietskörperschaften zu internalisieren. Schließlich können Kosten durch eine Fehlallokation von Produktionsfaktoren entstehen, wenn beispielsweise das Gut mit einer ineffizienten Produktionstechnologie hergestellt (X-Ineffizienz) oder nicht in der Menge angeboten wird, die den Präferenzen der Individuen entspricht (Präferenzkosten). In beiden Fällen wäre deshalb eine Pareto-Verbesserung möglich. Staatliche Aufgaben sind den institutionellen Ebenen genau dann effizient zugeordnet, wenn die anfallenden Bereitstellungskosten minimal sind (Breton/Scott 1978). Für jede Ebene summiert man die Bereitstellungskosten, die bei einer Produktion des betreffenden Gutes dort entstünden, um schließlich diejenige Ebene auszuwählen, für die die Bereitstellungskosten minimal sind. Dieses Kalkül wird für jedes Gut durchgeführt, für das ein staatlicher Handlungsbedarf besteht. Auf diese Weise entsteht eine optimale Kompetenzverteilung zwischen den Gebietskörperschaften.
30
B. Grundlagen
Im folgenden werden die einzelnen Arten der Bereitstellungskosten, die bei der Zuordnung wichtig sind, beschrieben und analysiert. 2. Präferenzkosten Im Bereich der EU-Sozialpolitik sind wahrscheinlich die sogenannten Präferenzkosten am wichtigsten. Betrachtet wird deshalb zunächst ein lokales öffentliches Gut, das innerhalb einer Region allen Bewohnern den gleichen Nutzen stiftet, außerhalb der Region hingegen den Nutzen nicht erhöht. Ein gutes Beispiel hierfür ist eine Regulierung, die für alle Bewohner einer Gebietskörperschaft gleichermaßen gilt und Bewohner anderer Gebietskörperschaften nicht betrifft. Präferieren die Bewohner der Gebietskörperschaften unterschiedliche Mengen des lokalen öffentlichen Gutes, so kommt es bei einer zentralen Bereitstellung zu Präferenzkosten. Denn in der Regel ist davon auszugehen, daß eine zentrale Gebietskörperschaft in allen ihren Regionen die gleiche Menge des öffentlichen Gutes anbietet. Dies wird in Abbildung 3 am Beispiel zweier Regionen gezeigt. Vereinfachend sei angenommen, daß die Grenzkosten für die Produktion des öffentlichen Gutes konstant und für beide Regionen gleich hoch sind, also nicht die Wahl der institutionellen Ebene beeinflussen. Region A stellt die ärmeren EU-Länder dar, Region B umfaßt die reichen Mitgliedstaaten. Meistens steigt die Nachfrage nach einem sozialpolitischen Gut mit zunehmendem Einkommen, so daß sie deswegen für Region B höher (Da) als für Region A (DA) ist. Zum Beispiel beträgt die gesetzliche Kündigungsfrist für Angestellte mit langjähriger Betriebszugehörigkeit in Irland zwei Monate, in Belgien 18 Monate. Wird dezentral produziert, wählt jede Region die für sie optimale Produktion xA beziehungsweise xa. Bei einem zentralen Angebot kommt es wahrscheinlich zu einem Kompromiß, zum Beispiel Xz . Die EU könnte beispielsweise einen einheitlichen Kündigungsschutz von zehn Monaten festlegen. Dadurch entstehen Wohlfahrtsverluste in Höhe der Dreiecke abc beziehungsweise ecd. In Region A ist für eine Menge, die über xA hinausgeht, die marginale Zahlungsbereitschaft niedriger als die tatsächlich entstehenden Grenzkosten GK. Es besteht also eine positive Zahlungsbereitschaft in Region A, die produzierte Menge auf xA zu verringern. Diese Differenz zwischen der Zahlungsbereitschaft und den Kosten stellt die Präferenzkosten dar. In Region B ist jedoch bei einer Produktion von Xz die marginale Zahlungsbereitschaft höher als die marginalen Kosten GK. Würde mehr produziert, ergäbe das einen Wohlfahrtsgewinn für die Bewohner der Region B. Eine dezentrale Entscheidung über die bereitgestellte Menge des öffentlichen Gutes führt insofern zu einem effizienten Ergebnis. Die Wohlfahrtsverluste einer zentralen Entscheidung sind um so höher, je größer die Präferenzunterschiede zwischen den einzelnen Regionen sind.
II. Die ökonomische Theorie des Föderalismus
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Abbildung 3: Präferenzkosten bei zentraler Entscheidung über ein lokales öffentliches Gut
Der beschriebene Fall einer zentral festgelegten einheitlichen Produktionshöhe X 2 läßt sich gut mit der Rechtsangleichung innerhalb der EU vergleichen. Richtlinien, die zum Beispiel nach Art. 94 oder 95 EG-Vertrag erlassen werden, müssen vollständig in nationales Recht umgesetzt werden. Ein Beispiel dafür ist die 1991 verabschiedete Richtlinie über die Pflicht des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer schriftlich über bestimmte Bedingungen des Arbeitsverhältnisses zu unterrichten. Davon zu unterscheiden sind Richtlinien nach Art. 137 Abs. 2, die lediglich Mindestvorschriften enthalten. Im letzteren Fall wird Region A gezwungen, mindestens X2 anzubieten, wohingegen Region B den höheren Standard xB beibehalten kann. Es kommt also nur in Land A zu einem Wohlfahrtsverlust in Höhe des Dreiecks abc. Dieser Fall trat zum Beispiel bei der Verabschiedung der Richtlinie zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehrnerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Müttern (Mutterschaftsrichtlinie)4 im Jahre 1992 auf, die unter anderem einen Mutterschaftsurlaub von mindestens 14 Wochen vorsieht. Sie zwang die Niederlande (12 Wochen) und Portugal (13 Wochen), ihre entsprechenden Vorschriften zu verschärfen.
4
Richtlinie 92/85/EWG des Rates.
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B. Grundlagen
3. Externe Effekte Falls Pareto-relevante externe Effekte vorliegen, wird oft gefordert, über die öffentliche Bereitstellung eines Gutes zentral zu entscheiden.5 Es ist zum Beispiel nicht auszuschließen, daß die Bürger der reicheren EUStaaten eine positive Zahlungsbereitschaft dafür haben, daß in den änneren Mitgliedstaaten die Sozialhilfe erhöht wird. In Abbildung 4 beträgt die Nachfrage nach einem sozialpolitischen Gut in der armen Region DA. Bei konstanten Grenzkosten GK präferieren die Bürger in Region A die Produktionsmenge xA. Erzeugt die Sozialhilfe in Region A positive externe Effekte in Region B, so beträgt die gesamte marginale Zahlungsbereitschaft für Sozialhilfe, die die arme Region wählt, DAB· Das Niveau xA wäre ineffizient, da in diesem Punkt die marginale Zahlungsbereitschaft beider Regionen die anfallenden Grenzkosten übersteigt. Effizient hingegen wäre die Menge xAB des bereitgestellten Gutes.
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Abbildung 4: Externe Effekte bei der Produktion eines lokalen öffentlichen Gutes
Es gibt zwei Möglichkeiten, dieses effiziente Ergebnis zu erreichen. Zum einen kann die zentrale Ebene darüber entscheiden, wieviel anzubieten ist. Sie wird eher geneigt sein, die externen Effekte der Region B zu berück5
Dabei wird zunächst von Wanderungen abgesehen.
II. Die ökonomische Theorie des Föderalismus
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sichtigen. Im vorliegenden Beispiel würde also die EU den Sozialhilfesatz europaweit festlegen. Wenn die verschiedenen Regionen unterschiedliche Mengen präferieren, kommt es jedoch - wie gezeigt - zu Präferenzkosten. Zum anderen kann die jeweilige regionale Ebene weiterhin über die Produktionsmenge bestimmen und der externe Effekt durch Ausgleichszahlungen zwischen den Regionen internalisiert werden. Die reicheren EU-Länder würden dann mit den ärmeren Staaten zweckgebundene Zuschüsse aushandeln, die dort zur Erhöhung der Sozialhilfe ausgegeben würden. Der Vorteil ist, daß sich die einzelnen Regionen an den Präferenzen ihrer Bürger orientieren können, Präferenzkosten werden also vermieden. Der Nachteil besteht darin, daß zusätzliche Bereitstellungskosten (Transaktionskosten) entstehen, da die Regionen sich über die Höhe des externen Effektes einigen und vereinbarte Kompensationszahlungen überweisen müssen. Ob eine zentrale oder eine dezentrale Lösung vorzuziehen ist, hängt also davon ab, ob die Transaktionskosten oder die Präferenzunterschiede überwiegen. Je stärker zentralisiert wird, desto höher sind die marginalen Präferenzkosten und desto geringer sind die marginalen Transaktionskostenersparnisse. 4. Steigende Skalenerträge Bei der Produktion eines Gutes können steigende Skalenerträge auftreten, so daß mit zunehmender Produktion sowohl die Grenz- als auch die Durchschnittskosten sinken. Sozialpolitische Beispiele dafür könnte man am ehesten in den verschiedenen Sparten der Sozialversicherung finden. Eine Produktion mit steigenden Skalenerträgen wird in Abbildung 5 dargestellt. Die Nachfrage der ärmeren Region A (DA) ist wiederum geringer als die der Region B (D8 ). Wenn beide Regionen selbst das Gut bereitstellen, werden die Mengen xA beziehungsweise x8 angeboten, die entsprechenden Grenzkosten betragen PA beziehungsweise p8 .6 Im vorliegenden Fall treten keine Fixkosten auf. Bietet die zentrale Institution das Gut an, so wird sie die Nachfragefunktionen der einzelnen Regionen horizontal addieren. Es entsteht die neue Nachfragefunktion DA+B mit der dazugehörigen Menge xA+B und den Grenzkosten Pz· Die gesamte Produktion läßt sich effizient aufteilen, wenn die Regionen die Mengen xA • beziehungsweise x8 * erhalten. Durch die zentrale Produktion sind sowohl die Grenzkosten als auch die Durchschnitts6 Hierbei entsteht dem produzierenden Unternehmen jeweils ein Verlust, da die Produktionsfunktion steigende Skalenerträgen aufweist. Es wird angenommen, daß die erforderlichen Subventionen durch eine Pauschalsteuer finanziert werden. Damit entstehen durch die Steuererhebung keine Verzerrungen, die bei den Überlegungen berücksichtigt werden müßten. 3 Schuster
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B. Grundlagen
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Abbildung 5: Steigende Skalenerträge bei der Produktion eines öffentlich bereitgestellten Gutes
kosten im Vergleich zur dezentralen Lösung gesunken, und die angebotene Menge wird ausgeweitet. Dadurch steigen die Konsumentenrenten entsprechend an. Allerdings kann es bei der zentralen Variante zu Präferenzkosten kommen, wenn die zentrale Institution die Präferenzen der Regionen nicht berücksichtigt und jeder Region die Menge Xz = 1/z XA+ B zuteilt. Im vorliegenden Beispiel wäre der Anstieg der Konsumentenrenten größer als die entstandenen Präferenzkosten. Sind die Skalenerträge geringer und/oder die Präferenzunterschiede größer, kann sich jedoch auch das entgegengesetzte Ergebnis einstellen. Alternativ wäre es möglich, daß die einzelnen Regionen weiterhin über ihre Menge des Gutes entscheiden und die übergeordnete Instanz lediglich beauftragen, die Gesamtmenge zu produzieren. Es gäbe eine europäische Sozialversicherungsbehörde, über den Versicherungsumfang würden jedoch jeweils die nationalen Institutionen entscheiden. Dadurch würde sich die Verteilung des Gutes auf die einzelnen Regionen an den jeweiligen Präferenzen orientieren; gleichzeitig könnten die Skalenerträge einer zentralen Produktion genutzt werden. Wenn die Regionen gemeinsam produzieren, entstehen allerdings Verhandlungskosten, und die Kontrolle der zentralstaatlichen Produktion verursacht zusätzliche Informationskosten. Wird mit qualifizierter oder einfacher Mehrheit entschieden, so ist allerdings nicht unbe-
II. Die ökonomische Theorie des Föderalismus
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dingt zu erwarten, daß die Minderheit ihren Präferenzen Geltung verschaffen kann und sich die effiziente Lösung durchsetzt. 5. Institutioneller Wettbewerb Genauso wie Unternehmen am Markt im Wettbewerb um Kunden stehen, müssen sich die einzelnen Staaten, aber auch ihre regionalen und lokalen Gebietskörperschaften, im Wettbewerb um die Bürger und Unternehmen behaupten. Unternehmen bieten Waren und Dienstleistungen an; der Wettbewerb zwischen ihnen nimmt mit der Zahl der Anbieter zu, und er sinkt, wenn die Kosten von Preisvergleichen steigen. Gebietskörperschaften bieten öffentliche Güter sowie andere staatliche Leistungen an und erheben dafür Steuern. Auch hier nimmt der Wettbewerb mit der Zahl der Anbieter zu, und er verringert sich in dem Maße, wie die Mobilitätskosten der Unternehmen und Einwohner steigen. Mobile Unternehmen und Bürger werden sich dort niederlassen, wo die Kombination aus öffentlichen Leistungen und erhobenen Steuern am ehesten ihren Präferenzen entspricht. Je mehr Gebietskörperschaften existieren, desto wahrscheinlicher ist es, daß sie eine Gebietskörperschaft finden, welche die gewünschte Kombination anbietet. Dieser potentielle Auswahlprozeß der Bürger und Unternehmen zwingt die Gebietskörperschaft zum einen, sich an deren Präferenzen zu orientieren, und zum anderen, ihre Leistungen möglichst kostengünstig anzubieten; denn sonst würden sich weniger Bürger und Unternehmen in ihrem Zuständigkeitsbereich ansiedeln. Dieser Wanderungsprozeß reduziert die Präferenzunterschiede innerhalb der einzelnen Gebietskörperschaften und vergrößert die Präferenzunterschiede zwischen den Gebietskörperschaften (Tiebout 1956). Der institutionelle Wettbewerb stärkt zudem den Innovationsanreiz der Gebietskörperschaften. Bekanntlich erhöht der Wettbewerb den Druck auf die Anbieter, die Produktionskosten durch den Einsatz besserer Technolagien oder organisatorischer Reformen zu senken. Wenn eine Gebietskörperschaft eine Innovation eingeführt hat, kann sie ihr Angebot an öffentlichen Gütern kostengünstiger produzieren und damit die Steuern senken. Dadurch siedeln sich zusätzliche Einwohner und Unternehmen an, die Steuern zahlen. Die innovative Gebietskörperschaft hat vorübergehend einen Wettbewerbsvorteil, bis die übrigen Anbieter die Innovation übernehmen. Der institutionelle Wettbewerb senkt damit zum einen die Präferenzkosten, da durch die geringeren Präferenzunterschiede innerhalb der Gebietskörperschaften diese ihr Angebot an öffentlichen Gütern besser an den ansässigen Bürgern und Unternehmen ausrichten können. Zum anderen verringern sich die Effizienzkosten. Der Einsatz innovativer Technologien führt 3*
36
B. Grundlagen
zu geringerem Ressourcenverbrauch, da die Unternehmen effizienter produzieren. Ist der institutionelle Wettbewerb auch im Bereich der Sozialpolitik vorteilhaft? Dagegen ist eingewendet worden, daß eine dezentralisierte Sozialpolitik Migrationsexternalitäten auslöst und deshalb zu einem ineffizienten Unterbietungswettbewerb der Gebietskörperschaften führt (Brown/Oates 1987). Eine Gebietskörperschaft, die zum Beispiel Sozialhilfe an ihre armen Bürger zahlt, könnte auf die Idee kommen, den Sozialhilfesatz zu senken, damit Sozialhilfeempfanger abwandern. Sie würde auf diese Weise Ausgaben einsparen und könnte entsprechend die Steuern senken oder die Produktion öffentlicher Güter ausweiten. Mit dem Zuzug zusätzlicher Sozialhilfeempfanger konfrontiert, könnten die anderen Gebietskörperschaften versucht sein, ihrerseits den Sozialhilfesatz zu senken. Weitere Unterbietungsrunden würden folgen. Dieser Einwand ist durchaus ernst zu nehmen, jedoch für die europäische Sozialpolitik kaum relevant (Kuhn 1993). Erstens ist die Gefahr eines Unterbietungswettbewerbes um so geringer, je höher die Mobilitätskosten sind. Zweitens sind in der EU die Sozialhilfeempfanger von der Freizügigkeit ausgenommen. Drittens könnte bei der Sozialhilfe an Stelle des Wohnlandprinzips das Heimatlandprinzip angewendet werden. Dieses besagt, daß nicht die Gebietskörperschaft, in der der Bedürftige wohnt (Wohnland), sondern die Gebietskörperschaft, aus der er ursprünglich stammt (Heimatland), für seinen Unterhalt aufkommen muß. Die Pflicht zur Unterstützung des Armen ist dann unabhängig von seinem derzeitigen Aufenthaltsort. Die einzelnen Gebietskörperschaften hätten dann keinen Anreiz, ihren Sozialhilfesatz zu senken, da dadurch die Bedürftigen nicht vertrieben würden. Neuerdings wird auch argumentiert, daß Unterschiede in den Ertragsraten der nationalen Rentenversicherungen, die im Fall umlagefinanzierter Systeme auf unterschiedliche Geburtenraten zurückzuführen sein können, ineffiziente Wanderungen auslösen (Breyer/Kolmar 1995; Kolmar 1999). Daher seien die gesetzlichen Rentenversicherungen auf europäischer Ebene zu zentralisieren. Daß derartige Wanderungen tatsächlich in nennenswertem Umfang stattfinden, erscheint unwahrscheinlich. Selbst wenn dem so wäre, spräche dieses Argument jedoch eher dafür, die Versicherungspflichtigen zwischen den verschiedenen nationalen Rentenversicherungen wählen zu lassen. Ineffiziente Wanderungen würden sich dann erübrigen. 6. Verzerrung des wirtschaftlichen Wettbewerbes
In der Diskussion über die soziale Dimension der Europäischen Union wird in den reichen Mitgliedsländern oft der Vorwurf erhoben, die ärmeren
II. Die ökonomische Theorie des Föderalismus
37
EU-Staaten würden ihren Unternehmen unfaire Wettbewerbsvorteile verschaffen, indem sie dringend notwendige sozialpolitische Maßnahmen unterlassen würden. 7 Sie würden sich eines "Sozialdumpings" schuldig machen. Dies erhöhe in den reichen Staaten die Arbeitslosigkeit und verstärke den Druck, soziale Errungenschaften aufzugeben, um wieder konkurrenzfähig zu werden. Zuerst sollte geklärt werden, was unter dem Begriff "soziales Dumping" zu verstehen ist. Nach der Terminologie des GATT und der WTO liegt Dumping vor, wenn ein Anbieter sein Produkt im Ausland zu einem Preis verkauft, der unter seinen Produktionskosten oder unter dem Preis liegt, den er in seinem heimischen Markt verlangt (letzteres wird Preisdiskriminierung genannt). Da der Vorwurf des "Sozialdumpings" nichts mit Preisdiskriminierung zu tun hat, kann nur gemeint sein, daß die Arbeitskosten, die die Anbieter aus den ärmeren EU-Staaten tragen und im Preis weitergeben, unter den tatsächlichen - genauer: den "gesellschaftlichen" - Arbeitskosten liegen. Ob "Sozialdumping" vorliegt, kann am besten mit Hilfe eines Schaubildes geklärt werden, das die Arbeitsnachfrage- und Arbeitsangebotskurven in einer reichen und einer armen Region darstellt (Abbildung 6). Der Lohn w schließt hier nicht nur den Geldlohn mit ein, sondern auch die gesamten Lohnnebenkosten wie den Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung, das Urlaubsgeld oder die Lohnfortzahlung im KrankheitsfalL Denn diese Lohnnebenkosten sind nichts anderes als ein zweckgebundener Lohnbestandteil, ein "Soziallohn", über den der Arbeitnehmer - im Gegensatz zum Geldlohn - nicht frei verfügen kann. Die Arbeitsnachfrage D orientiert sich am Grenzprodukt der Arbeit. Da in der Regel in der reichen Region kapitalintensiver produziert wird und die Beschäftigten über mehr Humankapital verfügen, ist dort das Grenzprodukt der Arbeit höher und die Unternehmen sind bereit, einen höheren Lohn zu zahlen (D8 ). Das Arbeitsangebot S hängt von der Freizeitnachfrage ab. Im allgemeinen wird angenommen, daß Freizeit ein normales Gut ist und deshalb die Nachfrage nach Freizeit mit steigendem Einkommen zunimmt. Da eine höhere Freizeitnachfrage automatisch ein geringeres Arbeitsangebot zur Folge hat, ist das Arbeitsangebot (die Zahl der angebotenen Arbeitsstunden) bei höherem Einkommen geringer. Die Arbeitsangebotsfunktion liegt also in der reichen Region (S8 ) links von der in der armen Region (SA)· Durch die unterschiedlichen Nachfrage- und Angebotskurven ergibt sich also in der armen Region mit wA ein niedrigerer Gesamtlohn als in der reichen Region (w8 ). Die unterschiedlichen Geldlöhne und Gesamtlöhne 7 Für eine kritische Analyse dieses Vorwurfs vergleiche zum Beispiel Paque (1989).
B. Grundlagen
38
w
w.
N
Abbildung 6: Arbeitsmarkt einer armen Region A und einer reichen Region B
sind nicht auf "Sozialdumping" zurückzuführen, sondern vielmehr auf die Unterschiede in der Kapitalausstattung der Unternehmen und in der Freizeitnachfrage der Arbeitnehmer. Die niedrigen Löhne sind somit ein natürlicher Standortvorteil der armen Region. Was die Aufteilung des Gesamtlohnes in Geldlohn und Soziallohn angeht, so ist anzunehmen, daß die Arbeitnehmer bei niedrigerem Gesamtlohn auch weniger für Arbeitskomfort, -sicherheit und soziale Absicherung zu zahlen bereit sind. Der optimale Soziallohn ist daher in der armen Region niedriger als in der reichen Region. So lange die Unterschiede in Kapitalausstattung und Einkommen zwischen den Mitgliedsländern noch beträchtlich sind, müssen sich auch die Lohnniveaus, die Lohnnebenkosten und die sozialpolitischen Ausgaben erheblich unterscheiden. Versucht man zum Beispiel, durch EU-weite Richtlinien im Sozialbereich die Soziallöhne in den ärmeren Ländern anzuheben, und werden dabei die Geldlöhne nicht entsprechend gesenkt, so steigt außerdem in den ärmeren Mitgliedsländern die Arbeitslosigkeit. Wer die Soziallöhne in den ärmeren Regionen anheben will, muß dafür sorgen, daß dort die Produktivität steigt und damit auch die Einkommen der Arbeitnehmer zunehmen. Läge der Lohn unter dem Gleichgewichtslohn wA. wäre der wirtschaftliche Wettbewerb verzerrt, und es würden Effizienzkosten anfallen. Die Unternehmen in den ärmeren Mitgliedstaaten würden mehr Güter herstellen,
II. Die ökonomische Theorie des Föderalismus
39
da die Produktionskosten unter den "gesellschaftlichen" Kosten lägen. Außerdem entstünden durch "Sozialdumping" Präferenzkosten, da die sozialpolitischen Maßnahmen geringer ausfallen würden, als es die Bürger der ärmeren Staaten präferieren. Würden hingegen die ärmeren Staaten ihre Sozialausgaben auf das gesellschaftlich gewünschte Niveau erhöhen, würden die dortigen Unternehmen zu "gesellschaftlichen" Kosten produzieren, und die Produktion würde sich teilweise ins Ausland verlagern. Dadurch sänken die gesellschaftlichen Kosten insgesamt. 7. Weitere politisch-ökonomische Gesichtspunkte Eine effiziente Zuordnung der sozialpolitischen Kompetenzen muß auch die politischen Rahmenbedingungen berücksichtigen. Politiker sind an ihrer Wiederwahl interessiert. Sie haben eigene ideologische Vorstellungen, müssen sich aber letztlich an den Präferenzen der Bürger orientieren. Gleichzeitig versuchen gut organisierte Interessengruppen, den politischen Prozeß durch Rent-seeking-Aktivitäten zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Je höher die Gebietskörperschaft im institutionellen Gefüge angesiedelt ist, das heißt je zentraler entschieden wird, desto größer sind die Informationskosten der Politiker und der Bürger. Der Politiker muß sich, bevor er handelt, über die Präferenzen der Bürger informieren, und der Bürger kann ihm diese Aufgabe erleichtern, indem er seine Präferenzen signalisiert. Beides geschieht normalerweise über die Massenmedien und die Wahlkreisarbeit der Abgeordneten. Da eine europäische Öffentlichkeit so gut wie nicht existiert und das Europäische Parlament nur einen geringen Einfluß hat, ist man auf EU-Ebene auf andere Vermittlungskanäle angewiesen. So führt zum Beispiel die Kornmission jedes Jahr vier bis fünf repräsentative Befragungen mit jeweils ungefähr 16 000 Teilnehmern durch, um die Meinung ihrer Bürger zu erheben. Mit zunehmendem Zentralisierungsgrad sinkt der Anreiz der Bürger, sich zu informieren. Der einzelne beeinflußt das Wahlergebnis weniger stark, da die Anzahl der Wähler steigt. Die Entscheidungen von höheren Ebenen werden immer allgemeiner, so daß sie sich immer weniger direkt auf den Bürger auswirken. Außerdem verteilen sich die Kosten einer Maßnahme auf viele Schultern, so daß der einzelne steuerlich immer weniger belastet wird. Zum Beispiel kommen die Projekte, die durch den Europäischen Sozialfonds finanziert werden, nur ganz bestimmten Personengruppen zugute; die Ausgaben müssen jedoch von allen europäischen Steuerzahlern getragen werden. Weil sich die Bürger weniger informieren, bekommt der Politiker einen größeren Gestaltungsspielraum, um seine eigenen ideologischen Vorstellun-
40
B. Grundlagen
gen zu realisieren, aber auch um Regelungen zu erlassen, die gut organisierte Interessengruppen zu Lasten der breiten Bevölkerung besserstellen. Damit weichen die Aktivitäten der Politiker mit zunehmender Zentralisierung immer weiter von den Präferenzen der Bürger ab, es kommt also zu Präferenzkosten. Die Zentralisierung der Sozialpolitik verändert auch die Rolle der Bürokratie. Die ökonomische Theorie der Bürokratie nimmt an, daß die Bürokraten an der Maximierung ihres Budgets und ihres Gestaltungsspielraumes interessiert sind; jedoch weisen die Politiker ihnen ihre Aufgaben zu. Die Informationen sind asymmetrisch zwischen Politikern und Bürokraten verteilt: Die Politiker wissen nicht, welche Einsparungsreserven in der Verwaltung bestehen. Deshalb schlagen die Bürokraten regelmäßig größere Budgets vor, als es eine Abwägung der Kosten und Nutzen der politischen Programme nahelegt, und sie benutzen eine Produktionstechnologie, die weniger transparent ist und ihnen einen größeren Gestaltungsspielraum zusichert, jedoch nicht kostengünstig ist. Die Informationsasymmetrie zu überwinden, fallt dem Politiker leichter, wenn die Verwaltung klein und überschaubar ist. Außerdem hat der Politiker auf dezentraler Ebene auch einen stärkeren Anreiz, die Bürokratie zu kontrollieren, da ihm der Einsparungserfolg eher zugerechnet wird. Schließlich hat die Dezentralisierung der Sozialpolitik den Vorteil, daß der Politiker zwischen den Bürokratien verschiedener Gebietskörperschaften vergleichen kann. Er kann daher besser beurteilen, ob das Budget, über das seine Verwaltung verfügt, angemessen ist und ob sie qualitativ zufriedenstellend arbeitet. Politiker können zum Beispiel recht einfach die Verwaltungskosten der nationalen Sozialversicherungssysteme miteinander vergleichen. Hohe Verwaltungskosten in einem Land wären ein erster Hinweis auf mögliche Einsparungspotentiale. Bei einer europaweit einheitlichen Sozialversicherung wäre dieser Vergleich zwischen den Mitgliedstaaten nicht möglich. Es kann also festgehalten werden: Dezentrale Entscheidungsstrukturen verbessern die Kontrolle, die der Politiker und letztlich der Wähler über die Bürokratie ausübt, und erhöhen daher die Effizienz der Verwaltung. Es fallen weniger Effizienzkosten an. 8. Zusammenfassung
In diesem Abschnitt wurde aufgezeigt, welche Gesichtspunkte berücksichtigt werden müssen, wenn staatliche Aufgaben auf die verschiedenen institutionellen Ebenen verteilt werden sollen. In der Sozialpolitik ist die Höhe der Präferenzkosten eines der wichtigsten Kriterien dafür, ob eine
III. Die Theorie der Nachfrage nach Sozialpolitik
41
Zentralisierung auf europäischer Ebene effizient ist. Deswegen stellt sich für die vorliegende Arbeit die wichtige Frage, ob sich die Präferenzen der Bürger zwischen den Mitgliedstaaten signifikant unterscheiden und worauf diese Unterschiede zurückzuführen sind. 111. Die Theorie der Nachfrage nach Sozialpolitik Als nächstes soll ein theoretisches Modell formuliert werden, das die sozialpolitischen Präferenzen der Bürger erklärt. In der Sozialpolitik kann man grundsätzlich drei Arten von Instrumenten unterscheiden: die Sozialversicherung, sozialpolitische Regulierungen und explizite staatliche Transfers (Vaubel 1990, S. 10). Die verschiedenen Zweige der Sozialversicherung (Kranken-, Renten-, Unfall-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung) stellen das Gut Versicherungsschutz bereit. Auch staatliche Umverteilung durch Transfers ist von zahlreichen Autoren als Versicherung gegen zukünftige Einkommensausfalle interpretiert worden (Buchanan/Tullock 1962; Mirrlees 1974; Varian 1980; Husted 1989; Husted 1990). Dies gilt meines Erachtens nicht nur für die Sozialhilfe. Auch alle anderen sozialpolitischen Transfers lassen sich ebenso als Versicherung deuten. So könnte die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall als eine Einkommensversicherung gegen den Schadensfall Krankheit (Hellwig 1996; Schuster 1996a) oder das Mutterschaftsgeld als eine Versicherung gegen den "Schadensfall" Mutterschaft angesehen werden. Die Nachfrage nach staatlich bereitgestellter Sozialversicherung oder staatlichen Transfers kann nicht ohne weiteres durch ein Modell erklärt werden, das die Nachfrage nach einer privaten Versicherung abbildet. Meist handelt es sich dabei um eine Zwangsversicherung oder um einen Transfer, den alle berechtigten Bürger erhalten. Der einzelne kann deswegen den Umfang des Versicherungsschutzes nicht unmittelbar selbst bestimmen, was im Gegensatz dazu bei einer privaten Versicherung ohne weiteres möglich ist. Nur wenn der Bürger unabhängig vom tatsächlichen staatlichen Angebot seine Nachfrage äußert, dürfte diese damit durch ein Modell erklärt werden, das auch auf private Versicherungen zutrifft. Bei der Sozialversicherung oder einem Transfer lassen sich mindestens zwei verschiedene Zustände unterscheiden, die in der Zukunft eintreten können: der Schadensfall und der schadensfreie Verlauf. Im ersten Fall wird dem Versicherten eine bestimmte Versicherungsleistung oder ein bestimmter Transfer gewährt, im zweiten nicht. Im schadensfreien Zustand zahlt das Individuum Versicherungsbeiträge (Versicherungsprämien beziehungsweise Steuern). Ob es diese auch im Schadensfall zahlen muß, hängt von der Art der abgeschlossenen Versicherung ab. Weitere Zustände sind denkbar, zum Beispiel daß die Art des "Schadens" berücksichtigt und die Versicherungs-
42
B. Grundlagen
summe dementsprechend gestaffelt wird. Welcher Zustand eintreten wird, ist jedoch zum Zeitpunkt des Versicherungsabschlusses unsicher. Da die Nachfrage nach Sozialpolitik theoretisch als eine Nachfrage nach Versicherungsschutz darstellbar ·ist, wird im folgenden zunächst ein Modell der Versicherungsnachfrage formuliert. Das Individuum weiß zum Zeitpunkt seiner Entscheidung über die Höhe der gewünschten sozialpolitischen Leistung nicht, welcher Zustand eintreten wird. Das Individuum maximiert eine Von-Neumann-Morgenstem-Nutzenfunktion, um seine Nachfrage zu bestimmen. Eine komparativ-statische Analyse der Optimalbedingung zeigt, wie die Nachfrage nach Sozialpolitik systematisch von bestimmten Einflußfaktoren abhängt. In diesem einheitlichen Modellrahmen lassen sich die Bestimmungsgründe der Nachfrage nach sozialpolitischen Instrumenten systematisch analysieren. 1. Das Modell Es geht um eine Entscheidung unter Unsicherheit über den Ausgang verschiedener Ereignisse. Das Individuum muß seinen Konsumplan festlegen, bevor bekannt ist, ob ein bestimmter Zustand eintritt. Bei seiner Entscheidung berücksichtigt er die Menge der möglichen Konsumgüterbündel, die Menge der möglichen Zustände, die Wahrscheinlichkeiten, daß die möglichen Zustände eintreten werden, und schließlich den Nutzen, den ihm der Konsum eines bestimmten Konsumgüterbündels im jeweiligen Zustand bringt. Für die Analyse der Nachfrage nach einer Versicherung reicht es aus zu unterstellen, daß die Welt zwei Zustände annehmen kann und daß die Konsummöglichkeiten im Zustand 1 nicht die Präferenzen im Zustand 2 beeinflussen (und umgekehrt). Im Zustand 1 hat das Individuum ein Einkommen - oder allgemeiner eine Anfangsausstattung - von yg. Der Zustand 2 beschreibt den Schadensfall, das Einkommen beträgt hierbei yh und ist kleiner als yg: (1)
Der gute Zustand 1 tritt mit der Wahrscheinlichkeit (1- p) ein, der Schadensfall hat die Wahrscheinlichkeit p. Das Individuum kann sich gegen den Einkommensausfall des Zustandes 2 versichern. Es verzichtet dabei in Zustand 1 auf einen Teil seines Einkommens, um im Schadensfall ein höheres Einkommen zu besitzen. Um im schlechten Zustand ein um die Versicherungssumme s höheres Einkommen zu erzielen, muß er im guten Zustand auf einen Betrag :TtS verzichten. Jts ist
Ill. Die Theorie der Nachfrage nach Sozialpolitik
43
also die Prämienzahlung des Versicherungsnehmers. :n wird dabei als Preis für die Versicherung bezeichnet. Er stellt gleichzeitig das Austauschverhältnis dar, mit dem Einkommen zwischen Zustand 1 und Zustand 2 übertragen werden kann. Das Versicherungsunternehmen gibt den Preis :n vor. Das Individuum kann die Versicherungssumme s frei wählen. Der Nachfrager hat eine streng monoton ansteigende Nutzenfunktion u, über die zum jetzigen Zeitpunkt keine weiteren Annahmen getroffen werden. Er maximiert seinen Erwartungsnutzen U, die Optimierungsvariable ist die Versicherungssumme s: (2)
U (s*)
= max:U (s). s?;O
Die Erwartungsnutzenfunktion hat folgendes Aussehen: (3)
Im Nichtschadensfall zahlt das Individuum seine Versicherungsprämie, im Schadensfall bekommt es die Versicherungssumme ausbezahlt und muß keine Versicherungsprämie zahlen. Dies ist beispielsweise bei der Sozialhilfe der Fall. Ein erweitertes Modell könnte jedoch ohne weiteres berücksichtigen, daß auch im Schadensfall eine Prämie fallig ist. Um die weitere Notation zu vereinfachen, werden ydg und ydb als die zum realen Konsum verfügbaren Einkommen im guten beziehungsweise schlechten Zustand eingeführt: (4) (5)
Für ein Optimum muß gelten: (6)
ßu 0 ßu 0 ßU(s) ~ = f(·)=-:rt(I-p) ßydg +p ßydb = 0.
Die Erwartungsnutzenfunktion hat ein Maximum, falls gilt: (7)
ßf(·) _
2
&u(·)
&u(·)
~ = r. = :rt (I - p) ßydg2 + p ßyd~
< o.
Dies gilt genau dann, wenn die Nutzenfunktion streng konkav ist:
44
B. Grundlagen
(8)
ß2u (·) ßyd·2
< 0.
Die Bedingung (8) ist mit den gegebenen Annahmen genau dann erfüllt, wenn die absolute Risikoaversion ru (-) streng positiv ist: 8 &u(-)
(9)
~ ru(-) =--->0. ßu(-)
7fT Aus (6) ergibt sich ein Minimum, falls das Individuum risikofreudig ist: &u(·)
(10)
~ ruO =---O;
dM = dF = dN = dm8
(54)
= dfr = dnr = 0.
Dadurch reduziert sich das Gleichungssystem (52) auf [
(55)
Mmss + Ffss Ffsr FfTB Ffrr + Nnrr hM -(F+N)
und besitzt die Lösung:
ßB ßY
ßT
ßY
ßA.
= [
Mmss +Ffss FfTB hM
Ffsr Ffrr + Nnrr - (F+N)
-(F: lhM
N)
ßY
(56)
__ 1
=H
·
[
-(Mmsy + Ffsy) -(FfTY+NnTY)
1
[
-(Mm8 y + Ff8 y) -(FfTY: NnTY)
l
l
·
0
Die Lösung existiert, da die geränderte Hesse-Matrix H nichtsingulär ist.9 Mit Hilfe der Cramerschen Regel läßt sich der Einfluß des Einkommens Y auf die Mutterschaftsleistung B zumindest qualitativ bestimmen:
9
Vergleiche dazu Gleichung (49).
136
D. Das Angebot an Sozialpolitik
aB 1 aY = IHI (57)
=
~~~
-(MmBv + FfBv) -(FfTY + NnTY) 0
FfBT Ffrr + Nnrr -(F+N)
hM
-(F+ N) 0
[hM(F + N)(FfTY + NnTY) + (F + N) 2 (Mm8 y + Ff8 y)]
~ 0.
Das Vorzeichen der Ableitung ist mit den bisher getroffenen Annahmen unbestimmt. B und Y hängen positiv zusammen, falls ffiBY
2:0,
fay
2: 0,
(58)
gilt und mindestens eine Ableitung strikt größer als null ist. Die Ableitungen msy beziehungsweise fsy sind positiv, wenn die Partei bei potentiellen Müttern beziehungsweise Vätern mit höherem Einkommen ihre Wahlchancen stärker erhöhen kann, wenn sie die Mutterschaftsleistung erhöht, als dies bei Müttern beziehungsweise Vätern mit niedrigerem Einkommen der Fall wäre. Ein steigendes Einkommen würde also nicht nur direkt den Stimmenanteil der Partei bei den Müttern und Vätern verbessern, sondern auch indirekt über den größeren politischen Ertrag einer höheren Mutterschaftsleistung. Ähnlich läßt sich für fTY und nTY argumentieren. Falls das Einkommen höher ist, werden potentielle Väter oder Nichtbeteiligte die Partei weniger stark bestrafen, wenn diese die Pauschalsteuer T erhöht, als Wähler mit niedrigerem Einkommen. Alle vier Verhaltensannahmen erscheinen sinnvoll und werden im weiteren Verlauf unterstellt. Damit ist die Ableitung (57) positiv. (b) Steigt die Anzahl der potentiellen Väter F, und bleiben die Anzahl der potentiellen Mütter M und die Bevölkerungsgröße konstant, so steigt das Angebot an Mutterschaftsleistung B. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn sich mehr Väter entschließen, mit der Mutter des Kindes zusammenzuleben. Für die exogenen Variablen bedeutet dies: dF > 0;
(59)
dM = O;
dY = dm8
dN < 0;
= dfT = dnT = 0.
I. Theoretische Grundlagen
137
Laut Annahme ist die Bevölkerungsgröße konstant: dM + dF + dN = 0.
(60)
Dies bedeutet gleichzeitig für dF und dN: (61)
dF= -dN.
Mit diesen Restriktionen reduziert sich Gleichungssystem (52) auf:
(62)
dB [ dT
dA.
l [ = H- 1 •
-fodF (A.- fT)dF + (A.- nT)dN
T(dF+dN)
l .
Durch Einsetzen der Restriktionen (43) und (61) und anschließendes Umformen erhält man:
(63) Für die Mutterschaftsleistung B ergibt sich also folgender Einfluß: (64)
(c) Erhöht sich die Anzahl der Leistungsempranger M und bleibt gleichzeitig die Bevölkerungsgröße konstant, so sinkt das Angebot an Mutterschaftsleistung B. Die exogenen Variablen werden also folgendermaßen verändert: dM>O;
(65)
dY
dF+dN
= dm8 = dfT = dnT = 0.
Weiterhin gilt folgende Restriktion: (66)
< 0;
dM + dF + dN = 0.
D. Das Angebot an Sozialpolitik
138
l [
l
Das totale Differential von Gleichung (47) ergibt somit (67)
dB [ dT dA.
= H- 1 •
-(ms + A.h)dM- f8 dF (A.- fT)dF + (A.- nT)dN -hBdM + T(dF + dN)
und kann durch Einsetzen von (43) und A. und nach einigen Umformungen vereinfacht werden zu: 10
(68)
--1 dB] [ [ dT =H ·
dA.
M f8 (.!_dM-dF) O -hBdM + T(dF + dN)
l
Der Gesamteinfluß einer durch (65) und (66) beschriebenen Veränderung der Bevölkerungsanteile beträgt also: (69)
dB=
~~~ \(F+N)FfsT[hBdM-T(dF+dN))
+hM(Ffrr + Nnrr) [hBdM- T(dF + dN)) + (F + N/fs ( dF-
~ dM) ~ < 0.
Dieses Ergebnis ist auf den ersten Blick nicht einleuchtend, da doch mehr potentielle Wähler der Partei von der Mutterschaftsleistung profitieren und deshalb die Wahlchancen der Partei steigen. 11 Allerdings muß gleichzeitig die Pauschalsteuer erhöht werden, da für die Mutterschaftsleistung insgesamt mehr ausgegeben wird und die Anzahl der Steuerzahler sinkt. In Gleichung (69) ist dieser Effekt durch die Terme in den beiden eckigen Klammem dargestellt. Durch die Steuererhöhung sinkt erstens die politische Unterstützung der potentiellen Väter f8 (erster Summand der Ableitung) und steigt zweitens der politische Widerstand der Steuerzahler h beziehungsweise nT (zweiter Summand der Ableitung). Schließlich sinkt vermutlich die Anzahl der potentiellen Väter, so daß zwar mehr potentielle Mütter die Partei wählen, dieser Effekt durch den Rückgang der Anzahl der Väter 10
11
Für den Wert von A. vergleiche Gleichung (48). Auch theoretisch kann nicht vollständig ausgeschlossen werden, daß der Zu-
sammenhang positiv ist. Es könnte sein, daß der Ausdruck ( dF -
~ dM)
positiv
ist und damit das Vorzeichen von (69) nicht mehr eindeutig bestimmt werden kann. Unterstellt man allerdings realistische Werte für M, F, dM und dF, so ist der Ausdruck negativ und damit auch das Vorzeichen von (69).
I. Theoretische Grundlagen
139
teilweise wieder ausgeglichen wird (dritter Summand der Ableitung). Insgesamt überwiegt also die negative Wirkung auf die Steuerzahler den positiven Effekt auf die zusätzlichen Leistungsempfänger. (d) Erhöht sich die Anzahl der steuerzahlenden Väter F und der restlichen SteuerzahlerN, so steigt die Mutterschaftsleistung B an. Für die exogenen Variablen bedeutet dies: dF> 0; dY = dM
(70)
dN>O;
= dms = dfT = dnT = 0.
Um die partiellen Ableitungen zu bestimmen, wird folgendes Gleichungssystem aufgestellt: -fsdF
[
(71)
T(dF:dN)
l .
Die Lösung für dB ergibt: (72)
dB
1
= IHI
[- (F + N)TFfsT(dF + dN)- hMT(Ffrr + Nnrr)(dF + dN)
(e) Das Angebot an Mutterschaftsleistung B ist positiv vom marginalen politischen Einfluß ms der Leistungsempfänger abhängig. Für die exogenen Variablen gilt: dms > 0;
(73)
dY
= dM = dF = dN = dfT = dnT = 0.
Gleichung (52) reduziert sich auf: 8B 8rns
(74)
8T 8rns
aA. 8rns
--I
= H
.
[-Ml ~
.
140
D. Das Angebot an Sozialpolitik
Die partielle Ableitung der Mutterschaftsleistung B nach der marginalen politischen Unterstützung der Interessengruppe m8 beträgt somit: (75) (f) Steigt der politische Steuerwiderstand fT beziehungsweise nT, sinkt die
angebotene Mutterschaftsleistung B.
Da der Steuerwiderstand fT beziehungsweise nT kleiner als null ist, bedeutet ein höherer Steuerwiderstand, daß fT und nT kleiner werden. Deswegen gelten folgende Zusammenhänge:
dY = dM
(76)
= dF = dN = dm8 = 0.
Um die partiellen Ableitungen zu bestimmen, muß das Gleichungssystem (77)
gelöst werden. Für die Veränderung dB ergibt sich deswegen: (78)
dB
1
= IHI (F + N)hM(FdfT + NdnT) < 0.
Steigt der Steuerwiderstand und werden deshalb fT beziehungsweise nT absolut kleiner, jedoch betragsmäßig größer, so sinkt die angebotene Mutterschaftsleistung B. Zusammenfassend ergibt sich also für das politische Gleichgewicht im Interessengruppenmodell, daß die angebotene Mutterschaftsleistung positiv von dem Individualeinkommen, der Anzahl der potentiellen Väter, der Anzahl der Steuerzahler, dem marginalen politischen Einfluß der Leistungsempfänger und negativ von der Anzahl der Leistungsempfänger und dem Steuerwiderstand abhängig ist.
II. Empirische Analyse
141
II. Empirische Analyse 1. Schätzmethoden Das Medianwählermodell aus Unterabschnitt D.l.l. legt für die Entgeltersatzleistung im Krankheitsfall folgende Schätzgleichung nahe: (79)
Für die Mutterschaftsleistung ergibt sich aus dem Interessengruppenmodell entsprechend:
wobei die verwendeten Symbole aus Abschnitt D.l. direkt übernommen wurden. Smit steht für die Höhe der Entgeltersatzleistung im Krankheitsfall und Bit entweder für die Höhe des Mutterschaftsgeldes oder die Länge des Mutterschaftsurlaubes. i bezeichnet die Untersuchungseinheit (Staat) und t den Erhebungszeitpunkt Es wird angenommen, daß die Residuen Eit voneinander unabhängig und identisch verteilt sind. Zuerst wird eine gewöhnliche OLS-Schätzung durchgeführt. Falls das Modell nicht vollständig ist und deshalb relevante Variablen in der Schätzgleichung fehlen, läßt sich dies durch zwei relativ weit verbreitete Schätzmethoden berücksichtigen, die bei kombinierten Querschnitts- und Zeitreihendaten Anwendung finden: die Schätzung mit festen oder stochastischen Effekten. 12 Außerdem kann - was bei Querschnittsdaten oft der Fall ist Heteroskedastizität vorliegen. Bei der Schätzung mit festen Effekten sind drei verschiedene Annahmen möglich. Erstens geht man davon aus, daß jedes Land einen unterschiedlichen Achsenabschnitt besitzt. Zweitens können die Achsenabschnitte periodenweise variieren. Drittens ist schließlich beides gleichzeitig möglich. Die Schätzgleichung berücksichtigt dies durch entsprechende Dummyvariablen. Ob feste Effekte vorliegen, ist testbar. Falls die Nullhypothese, daß alle Achsenabschnitte den gleichen Wert annehmen, verworfen wird, bildet eine Schätzung mit festen Effekten die Datenstruktur besser ab. Die entsprechende Teststatistik ist F-verteilt und wird folgendermaßen berechnet (Baltagi 1995, S. 29):
12 Vergleiche dazu auch die Darstellungen in Fomby/Hill/Johnson (1984), Kmenta (1986), Judge et al. (1988), Hicks (1994), Greene (1997) und Pindyck/ Rubinfeld (1998). Spezielle Lehrbücher zur Analyse von Paneldaten sind Hsiao (1986), Matyas/Sevestre (1992) und Baltagi (1995).
142
(81)
D. Das Angebot an Sozialpolitik
(e'e- e'e)/(N + T- 2)
FN+T-2,(N-l)(T-l)-K
= e'e/[(N- l)(T- 1)- K] '
wobei N die Anzahl der Länder, T die Anzahl der Erhebungszeitpunkte, K die Anzahl der Regressaren (die Achsenabschnitte werden nicht mitgezählt), e'e die Summe der quadrierten Residuen der Schätzung ohne feste Effekte und e'e die Summe der quadrierten Residuen der Schätzung mit festen Effekten bezeichnet. Die Schätzung mit stochastischen Effekten geht ebenfalls von unterschiedlichen Achsenabschnitten für die verschiedenen Länder und Perioden aus. Es handelt sich jedoch dabei um Zufallsvariablen, die alle den gleichen Mittelwert und die gleiche Varianz besitzen. Mit der Nullhypothese, daß die Varianz der Achsenabschnitte null ist, läßt sich überprüfen, ob stochastische Effekte vorliegen. Breusch und Pagan (1980) haben einen Lagrangemultiplikatoren-Test entwickelt, mit dem man diese Nullhypothese überprüfen kann. Der Test geht jedoch davon aus, daß für alle Beobachtungseinheiten und für alle Zeitpunkte Daten vorliegen. Da bei allen durchgeführten Schätzungen für einzelne Länder die Daten unvollständig sind, wäre dieser Test ungenau. Baltagi und Li (1990) haben den Breusch-PaganTest modifiziert, so daß er auf Panels mit ungleichen Gruppengrößen anwendbar ist. Die Teststatistik läßt sich berechnen durch:
(82)
wobei Ti die Anzahl der Beobachtungszeitpunkte pro Land i, T die maximale und T die durchschnittliche Anzahl der Beobachtungszeitpunkte der Stichprobe sowie N1 die Anzahl der Beobachtungen in Periode t bezeichnet. Der erste Summand in der eckigen Klammer bezieht sich dabei auf den Teil der Nullhypothese, daß die Varianz der Länderdummys gleich null ist, der zweite Summand spiegelt die Varianz der Periodendummys wider. Dementsprechend wird die Prüfgröße bei den drei verschiedenen Nullhypo-
li. Empirische Analyse
thesen unterschiedlich berechnet. Die Teststatistik ist Freiheitsgrad.
143
x2 -verteilt mit einem
Schließlich kann die Nullhypothese überprüft werden, daß die Residuen die gleiche Varianz aufweisen oder daß alternativ länderweise Heteroskedastizität vorliegt. Dies erfolgt durch einen Likelihood-Verhältnis-Test, der die Werte der Log-Likelihood-Funktion der Schätzungen mit homoskedastischen beziehungsweise länderweise heteroskedastischen Störtermen miteinander vergleicht. Die Prüfgröße nimmt folgenden Wert an (Greene 1997, s. 554):
(83)
-2ln(Lo- L 1 )
= Nln (
T; ) N L~:::e?t i=l t=l
N
-
N
(
L:e?t T;
)
LT;ln ~ . T,
i=l
Sie ist x2 -verteilt mit N- 1 Freiheitsgraden. Liegt länderweise Heteroskedastizität vor, so wird dies durch eine entsprechende GLS-Schätzung berücksichtigt. Greene (1997, S. 515 f.) schlägt ein iteriertes Schätzverfahren vor: Zuerst wird der Koeffizientenvektor durch eine OLS-Schätzung ermittelt. Die länderspezifischen Varianzen lassen sich sodann mit Hilfe der erhaltenen Residuen schätzen. Einen neuen Wert für erhält man durch eine GLS-Schätzung mit der modifizierten Varianz-Kovarianz-Matrix. Anschließend werden die länderspezifischen Varianzen erneut geschätzt, und es wird mit der nochmals modifizierten Varianz-Kovarianz-Matrix eine weitere GLS-Schätzung durchgeführt. Die letzten beiden Schritte werden so lange wiederholt, bis der Koeffizientenvektor konvergiert.
ß
ß
ß
2. Entgeltersatzleistung im Krankheitsfall
a) Daten und Operationalisierung Der Analyse liegen Daten für acht Mitgliedstaaten der Europäischen Union für die Jahre 1979, 1981, 1985, 1987, 1988, 1990--1992 und 1994 zugrunde. Insgesamt sind also für jedes Land maximal neun Beobachtungspunkte möglich. Für die Länder Griechenland, Luxemburg, Portugal und Spanien waren die Daten teilweise überhaupt nicht verfügbar, so daß nur acht der zwölf Länder berücksichtigt werden konnten, die 1994 Mitglieder der EU waren. Nicht nur die Auswahl der Länder, sondern auch die Wahl der berücksichtigten Zeitpunkte orientierte sich stark an den verfügbaren Daten. Insbesondere sind international vergleichbare Daten über betriebliche Fehlzeiten
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II. Empirische Analyse
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der Arbeitnehmer über einen längeren Zeitraum so gut wie nicht erhältlich (Schnabel 1996, S. 27). Diese Datenprobleme mindern die Aussagekraft der empirischen Ergebnisse, sind aber mit vertretbarem Zeitaufwand nicht zu lösen. Die abhängige Variable Entgeltersatzleistung im Krankheitsfall berücksichtigt die gesetzlich geregelte Lohn- oder Gehaltsfortzahlung des Arbeitgebers und das Krankengeld einer gesetzlichen Krankenversicherung. Beide Leistungen können zeitlich hintereinander oder gleichzeitig gewährt werden. Treffen die Ansprüche zusammen, können sich die Zahlungen addieren, oder die eine wird auf die andere angerechnet. 13 Zudem variiert die Leistung oft im Zeitverlauf und nimmt ab oder zu. Um diese verschiedenen Merkmale der Einkommenssicherung bei Krankheit alle in einer Variablen zu berücksichtigen, ist die abhängige Variable definiert als Summe aus gesetzlicher Entgeltfortzahlung und Krankengeld, die ein alleinstehender Arbeitnehmer tatsächlich erhält und wird aus dem gewichteten Durchschnitt der Leistungen der ersten dreißig Krankheitstage berechnet. Als Gewicht dient die relative Dauer der jeweiligen Zahlung. 14 Es werden nur die ersten dreißig Krankheitstage berücksichtigt, da die Krankheitsdauer pro Krankheitsfall in den meisten Fällen weniger als diese Zeitspanne beträgt. 15 In den meisten der betrachteten Länder verändert sich die Entgeltersatzleistung im gesamten Beobachtungszeitraum nicht (vergleiche Abbildung 19). Sie betrug zum Beispiel in Belgien, Deutschland und den Niederlanden 100 Prozent des bisherigen Lohnes. Lediglich Dänemark erhöhte seine lohnahhängige Zahlung am 1. April 1990 von 90 auf 100 Prozent (Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit 1990, S. 360). Ausnahmen bilden Großbritannien und Irland. In beiden Ländern ist die Zahlung lohnunabhängig und wurde regelmäßig geändert. In Irland war die Zahlung bis 1993 zusätzlich geringfügig lohnabhängig. So betrug der Grundbetrag beispielsweise 1992 wöchentlich 53 :W: und erhöhte sich um 12 Prozent des Einkommens zwischen 78 und 220 :W: Wochenlohn (Salowsky/Seffen 1993, s. 21). 13 Für einen genauen Überblick über die international unterschiedlichen Regelungen vergleiche Unterabschnitt C.II.l. 14 Beispielsweise erhalten spanische Arbeitnehmer die ersten zwanzig Krankheitstage vom Arbeitgeber und der Krankenkasse 60 Prozent des letzten Lohnes, anschließend gewährt allein der Arbeitgeber 75 Prozent Lohnfortzahlung für höchstens 18 Monate. Die abhängige Variable nimmt deswegen für Spanien den Wert 65 = 60*(20/30) + 75*(10/30) an. 15 Die durchschnittliche Krankheitsdauer pro Versicherten betrug 1990 in Belgien 6,94, in Deutschland 14,67 und in Schweden 10,81 Tage (Einerhand et al. 1995, S. 169, 193 und 227). In den Niederlanden dauerten 1990 etwa 87 Prozent der Leistungsfalle nicht länger als 29 Tage (Einerhand et al. 1995, S. 215). 10 Schuster
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D. Das Angebot an Sozialpolitik
Keine der vorliegenden Quellen über die Höhe der Lohnfortzahlung ist vollständig, zuverlässig und fehlerfrei. Deswegen beruhen die Daten auf einem Vergleich von Angaben der europäischen Kommission, die jährlich die wichtigsten Informationen über die soziale Sicherheit in den Mitgliedstaaten zusammenstellt (Kommission ohne Jahr a-