Europas verlorene und wiedergewonnene Mitte: Das Ende des Alten Reiches und die Entstehung des Nationalitätenproblems im östlichen Mitteleuropa [1 ed.] 9783428533145, 9783428133147

Das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im August 1806 bildete den Auftakt für mannigfaltige Entwicklun

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German Pages 277 Year 2011

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Europas verlorene und wiedergewonnene Mitte: Das Ende des Alten Reiches und die Entstehung des Nationalitätenproblems im östlichen Mitteleuropa [1 ed.]
 9783428533145, 9783428133147

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CHEMNITZER EUROPASTUDIEN

Band 11

Europas verlorene und wiedergewonnene Mitte Das Ende des Alten Reiches und die Entstehung des Nationalitätenproblems im östlichen Mitteleuropa

Herausgegeben von Frank-Lothar Kroll und Hendrik Thoß

Duncker & Humblot · Berlin

Europas verlorene und wiedergewonnene Mitte

Chemnitzer Europastudien Herausgegeben von Frank-Lothar Kroll und Matthias Niedobitek

Band 11

Europas verlorene und wiedergewonnene Mitte Das Ende des Alten Reiches und die Entstehung des Nationalitätenproblems im östlichen Mitteleuropa

Herausgegeben von Frank-Lothar Kroll und Hendrik Thoß

Duncker & Humblot · Berlin

Die Drucklegung wurde gefördert aus Mitteln des Sächsischen Staatsministeriums des Innern

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Process Media Consult GmbH, Darmstadt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1860-9813 ISBN 978-3-428-13314-7 (Print) ISBN 978-3-428-53314-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-83314-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 * ∞

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Dieser elfte Band der Reihe „Chemnitzer Europastudien“ versammelt die zum Teil erheblich überarbeiteten und erweiterten Beiträge einer internationalen Fachtagung, die vom 14. bis zum 16. Dezember 2006 von der Professur für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Technischen Universität Chemnitz – in Verbindung mit dem Sächsischen Staatsministerium des Innern (Dresden) und der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen (Bonn) – in Chemnitz veranstaltet wurde. Das auf den ersten Blick vielleicht irritierende Rahmenthema mit seiner Evokation einer „verlorenen Mitte“ Europas konkretisiert sich im Blick auf den gewählten Untertitel, der hinlänglich verdeutlicht, worum es im folgenden geht: um die langfristigen und dauerhaften Konsequenzen, die das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im August 1806 für die Entstehung und Formierung des Nationalitätenproblems in Ostmitteleuropa mit sich gebracht hat. Das Alte Reich war bekanntlich eine überstaatliche europäische Ordnungsmacht gewesen. Mit dem Wegfall dieser transnationalen Klammer und der damit verbundenen nationalitätenpolitischen Polarisierung begann in Ostmitteleuropa im Verlauf des 19. Jahrhunderts jener Prozeß ethnischer Differenzierung, der am Ende des Ersten Weltkrieges, 1918/19, in der Gründung neuer Nationalstaaten seinen vorläufigen Abschluß finden sollte. Doch die neuen Staaten Ostmitteleuropas waren keine einheitlichen Nationalstaaten. Minderheitenprobleme und ungelöste ethnische Konflikte destabilisierten den ostmitteleuropäischen Raum während der Zwischenkriegszeit nachhaltig. Hitlers „Volkstumspolitik“, die imperialen Begehrlichkeiten des Nationalsozialismus und des Bolschewismus sowie die aus alledem resultierende Vertreibung des Großteils der Deutschen aus der Region boten die düsteren Endpunkte des 1806 beginnenden Prozesses ethnischer Zersplitterung eines einstmals durch weithin ungetrübtes Zusammenleben unterschiedlichster Völker und Nationen ausgezeichneten Raumes. Die zwölf hier präsentierten Beiträge nehmen diesen Entwicklungsprozeß in seinem gesamten zeitlichen Ablauf in den Blick. Herausgeber und Autoren danken dem Sächsischen Staatsministerium des Innern (Dresden), namentlich Herrn Dr. Jens Baumann, für konzeptionelle und finanzielle Förderung des gesamten Projekts, sowie der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen (Bonn), namentlich Herrn Dr. Ernst Gierlich, für mannigfache Hilfestellungen, vor allem bei der Organisation und Durchführung der Tagung. Dank gebührt darüber hinaus den studentischen Mitarbeiterinnen der Professur für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Technischen Universität Chemnitz, namentlich Frau Julia Kasperczak und Frau Isabelle

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Vorwort

Rockstroh für ihre umsichtige und engagierte Mithilfe bei der Drucklegung des Bandes. Chemnitz, im Oktober 2010

Frank-Lothar Kroll, Hendrik Thoß

Inhaltsverzeichnis Staatsminister a. D. Albrecht Buttolo Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einführende Bemerkungen Frank-Lothar Kroll Europas verlorene Mitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Nationalitätenpolitik, übernationale Reichsbildungen und Nationalstaatsbewegungen im 19. Jahrhundert (1806 – 1918) Helmut Neuhaus Das Ende des Heiligen Römischen Reiches und Kursachsens im Jahr 1806 . . . .

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Matthias Stickler Staatsorganisation und Nationalitätenfrage in der Habsburgermonarchie 1804 – 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Milosˇ Havelka Mitteleuropäische Alternativen zum Nationalstaat im 19. Jahrhundert . . . . . . . .

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Milosˇ Rˇeznk Nationsbildungsprozesse und ihre Voraussetzungen in Mitteleuropa . . . . . . . . . .

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III. Nationalitätenprobleme, Minderheitenfragen und Volksgruppenpolitik in Ostmitteleuropa während der Zwischenkriegszeit (1919 – 1939) Ralph Schattkowsky Die europäische Minderheitenfrage nach dem Ersten Weltkrieg und der deutschpolnische Minderheitenstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Jiri Georgiev Böhmischer Adel und nationale Frage nach 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

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Inhaltsverzeichnis

IV. Nationalsozialistische Expansionspolitik, Vertreibung der Deutschen und sowjetische Vorherrschaft in Ostmitteleuropa (1939/45 – 1989/90) Hendrik Thoß Ausgrenzung – Vertreibung – Vernichtung. Judenverfolgung im Nationalsozialismus bis zur Kriegswende 1941/1942 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Alexander Brakel „Völkische Flurbereinigung“. Die Politik der Rückführung deutscher Minderheiten aus Osteuropa im Dritten Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Manfred Kittel Die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa am Ende des Zweiten Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Ingo Eser Wider das Prinzip ethnischer Homogenität. Der Verbleib deutscher Minderheiten in Ostmitteleuropa nach dem Ende von Vertreibung und Zwangsaussiedlung . . . 233 Michael Parak Eine neue Heimat finden? Zur Situation von Flüchtlingen und Vertriebenen in der DDR in den 1950er und 1960er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Die Autoren des Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

Geleitwort Von Staatsminister a. D. Dr. Albrecht Buttolo (Dresden)

I. Dialog der Nationen und Regionen Ich freue mich, heute anlässlich der Eröffnung Ihrer Tagung: Europas verlorene und wiedergewonnene Mitte ein Grußwort an Sie richten zu können. Ich wünsche Ihnen interessante Vorträge und Gespräche, die in einen weiteren Dialog zu Fragen des Schutzes von Minderheitenbelangen und Integrationserfordernissen einfließen sollen. Ich danke der Technischen Universität Chemnitz, vertreten durch das Institut für Europäische Geschichte, für ihr minderheitenpolitisches Engagement, welches in der Tagespolitik vielfach von Fragen der Wirtschaftspolitik und Reformerfordernissen in den Hintergrund gedrängt wird. Umso mehr ist es ein nicht gering zu schätzendes Verdienst, wenn in dieser Tagung versucht wird, über das Ende des Alten Reiches hinaus – ich erinnere an die Ausstellungen in Magdeburg und Berlin – den Fragen der Entstehung von Nationalitätenpolitik, den hieraus erwachsenden Problemen, ihrer Zuspitzung in den Katastrophen des letzten Jahrhunderts und den daraus folgenden Bedingungen für ein menschliches Miteinander in einem Europa der Regionen nachzugehen. Ich knüpfe daran die Hoffnung auf das weitere Gedeihen unserer nachbarschaftlichen Beziehungen, für die an den Universitäten wichtige Grundsteine gelegt werden, weil hier die wissenschaftliche Elite herausgebildet wird. Damit haben die in diesem Band versammelten Wissenschaftler eine große Verantwortung und auch Vorreiterrolle, denn Wissenschaft funktionierte immer dann am besten, wenn sie von Herkunft und Nationalität absah, wenn nur die Leistung und der Disput zählten. Seien Sie daher versichert, daß das Sächsische Staatsministerium des Innern bestrebt ist, auch weiterhin Projekte zu unterstützen, wenn es um Minderheitenfragen und deren Bedeutung für unser Zusammenleben geht. Dies meint insbesondere die Regionen, in denen die deutsche Nation große kulturelle Leistungen mit hervorgebracht und in denen gleichzeitig der Nationalsozialismus im deutschen Namen unendlichen Schaden angerichtet hat.

II. Auf der Suche nach Europas Mitte Wenn wir gelegentlich an die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806 denken, aus der das Kurfürstentum Sachsen einen Gewinn insofern ziehen konnte, als es Königreich wurde, und wenn wir in diesem Zusammenhang nach Europabezügen suchen, kommt mir eine Parodie von Umberto Eco in den

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Geleitwort

Sinn, die ich hier zitieren möchte: „In jenem Reiche erlangte die Kunst der Kartographie eine solche Vollkommenheit, daß die Karte einer einzigen Provinz den Raum einer ganzen Stadt einnahm und die Karte des Reiches den einer Provinz. Mit der Zeit befriedigten diese übergroßen Karten nicht mehr, und die Kollegs der Kartographen erstellten eine Karte des Reiches, die genau die Größe des Reiches hatte und sich mit ihm in jedem Punkt deckte.“ Eine solche Karte des Reiches im Maßstab 1:1 im Sinne von Umberto Eco gibt das Territorium immer nur ungenau wieder, weil im aufgeklappten Zustand der Karte kein Regen das Reich benetzen könnte und das Reich somit beim Betrachten der Karte unter ihr verkümmerte. Demnach wird das Reich im selben Moment, in dem man seine Karte erstellt, undarstellbar. Da Karten ursprünglich vor allem militärisch inspiriert waren, so würde sich nach einer ersten Anschauung das Reich seine geheimsten Träume erfüllen, weil es für feindliche Reiche unkenntlich wäre. Allerdings wäre es auch für sich selbst unkenntlich, was den gewonnenen Vorteil aufhöbe. Das birgt die Forderung nach einem Reich mit einem Bewußtsein seiner selbst und damit nach einer Karte mit Selbstbewußtsein in sich. Wäre dies möglich, würde die Karte im Augenblick ihrer Erstellung selbst zum Reich und damit verlöre das Reich seine Macht an die Karte. Mithin könnten Sie das tatsächliche Reich als Karte mitnehmen – das Alte Reich wäre gerettet, wir könnten es heute aufklappen, betrachten und befragen. Aber auch wenn wir uns ein Bild von der Kartenkunst früher und heute machen können – wir wissen doch, daß diese Kunst nie so groß sein wird, wie sie Umberto Eco sich imaginierte. Es ist also nicht möglich, Europas Mitte auf einer einzigen Karte zu finden, und sei sie noch so groß. Karl Schlögel hat in seinem Buch „Im Raume lesen wir die Zeit“ eine Methode offenbart, um das tatsächlich existierende gemeinsame Europa zu erfahren: nicht durch Akten und Verträge, sondern durch Adressbücher, Fahrpläne, Städtebilder, Stadtpläne und eben Landkarten unterschiedlichster Herkunft. Dies aber meint nichts anderes, als daß wir Europa bereisen müssen, um zu seiner Mitte zu gelangen. Und je größer unser Europa wird, desto unterschiedlichere Blicke ergeben sich auf eine immer neue Mitte. III. Menschenrechte und Vertreibung Je größer nun Europa wird, umso unterschiedlicheren Menschen werden wir auf unserer gedachten Reise nach Schlögelschem Konzept begegnen. Wir werden verschiedene ethnische und nationale Minderheiten entdecken, die teilweise deutlich sichtbar sind, teilweise aber auch wie selbstverständlich integriert leben. Diese Reise wird uns an drei Begriffspaare heranführen, die in einem engen Zusammenhang mit den hier zu diskutierenden Gedanken der Nationalitätenpolitik und des Minderheitenschutzes stehen, und die mit steter Erinnerungsarbeit verbunden sind. Alle drei Begriffspaare haben Bedeutung über unsere Grenzen hinaus, sie führen jedoch auch allesamt auf unsere Geschichte und damit unsere historische Verantwortung zurück.

Geleitwort

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Deshalb werde ich nach jeder Betrachtung auch wieder in Deutschland enden und auf politische Chancen und Erfordernisse unseres Landes hinweisen. Ich beginne mit dem Begriffspaar „Menschenrechte und Vertreibung“. Menschenrechte stehen jedem Menschen von Geburt an zu. Wir kennen aus gutem Grund den Begriff der Universalität der Menschenrechte. Jeder Mensch, ohne jeden Unterschied, hat Anspruch auf Menschenrechte, auf Freiheit. Menschenrechte sind unteilbar. Man kann nicht bürgerliche Rechte, politische Rechte, Eigentumsrechte garantieren, wenn man gleichzeitig Vertreibungen zulässt. Und umgekehrt kann man nur über eine ausreichende Sicherung von Lebensgrundlagen – seien es Umweltschutz, wirtschaftliche Spielräume oder Sozialstandards – bürgerliche und politische Rechte zur Wirkung bringen. Auch Vertreibungen sind Menschenrechtsverletzungen, sie stellen oftmals einen Urgrund für Minderheitenprobleme dar und bringen Minderheiten überhaupt erst hervor. Der Kampf gegen Vertreibungen ist daher auch ein Kampf für Menschenrechte – ein Kampf, der auch heute noch in vielen Regionen unserer Welt geführt werden muss. In der Anmahnung und Bewältigung dieser existenziellen Bedrohung des Lebens liegt übrigens ein großer und bleibender Verdienst der deutschen Vertriebenen. Wenn wir an die Vertreibungen erinnern, an ihre oft traumatischen Folgen für die davon Betroffenen – vor allem für alte Menschen, Kinder und Frauen –, dann geht es nicht um ein Zurückdrehen des Rades der Geschichte, nicht um eine Zurückgewinnung ehemaliger deutscher Siedlungsgebiete. Niemand will hier historische Fakten umdeuten oder gar die historische Verantwortung Deutschlands für den Zweiten Weltkrieg leugnen. Eine Erinnerungskultur, eingebettet in einen europäischen Dialog, bedroht niemanden. Die Erinnerung an Vertreibungen, an unumkehrbaren Verzicht, an Integration und an menschliches Miteinander, an Güte und Barmherzigkeit ist ein ehrbares Anliegen. Die Erfolge im täglichen Miteinander sprechen hier für sich, sie sprechen für das gute Verhältnis unseres Volkes zu seinen Nachbarn. Allen Unkenrufen zum Trotz lernen unsere Kinder die Sprache der Nachbarn, haben wir zusammen um die Kulturhauptstadt Europas 2010 gekämpft, stimmen wir Infrastrukturplanungen aufeinander ab. Und ganz wichtig: die Menschen leben mit den Nachbarn, sei es bei Reisen, Festen, Kulturveranstaltungen oder ganz privat in der Ehe. Manchmal ist es ein Gewinn, wenn sich Politikerworte und gelebte Wirklichkeit verfehlen.

IV. Biographien und Wahrhaftigkeit Als zweites Begriffspaar der Erinnerungsreise möchte ich auf die Bedeutung des Themas „Biographien und Wahrhaftigkeit“ zu sprechen kommen. Biographien rühren auf. So veranlasste die nicht unbedingt zu erwartende Wahl eines deutschen PapACHTUNGREstes die Öffentlichkeit, dessen Biographie kurzzeitig auf seine Flakhelferzeit zu fokussieren. Im Jahre 2006 zeigte sich die ganze Problematik nicht oder nur halb erzählter Biographien im Fall von Günter Grass, dem aber die deutschen Vertriebenen auch

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Geleitwort

eine Menge zu verdanken haben. Sein Buch „Im Krebsgang“ öffnete das Interesse für Vertriebenenschicksale selbst bei jenen Menschen, die vorher schon das Wort „Vertreibung“ mieden. Gerade Biographien bieten immer wieder Anlass zu Aufrechnung, Infragestellung persönlicher Integrität, Abwertung der eigentlichen Lebensleistung. Auch deshalb scheint mir eine offene Biographie, eine offene Diskussion über die Vergangenheit unerlässlich. Es ist eine Ihrer Aufgaben als Wissenschaftler, dies so fortzusetzen – in Wahrhaftigkeit. Gerechtigkeit gegenüber den Menschen und Wahrhaftigkeit, das sind die Voraussetzungen für funktionierendes Recht, für die Durchsetzung von Menschenrechten, die wir in unserer Sächsischen Verfassung als Grundrechte wiederfinden. In Sachsen – und in Deutschland – ist die Würde des Menschen unantastbar, hier haben alle Bürger gleiche Rechte und Pflichten, hier sind wir vor dem Gesetz gleich. So genießen unsere sorbischen Bürger Schutz und Förderung, die zur eigenen Identitätswahrung unerlässlich sind. Die gemeinsam vom Bund, von Sachsen und von Brandenburg getragene Stiftung für das Sorbische Volk bietet hierfür eine sichere und langfristige Perspektive, die länderübergreifend Beachtung findet. V. Identität und Heimat Aus dem Einsatz für Menschenrechte, der Ächtung von Vertreibungen und der Forderung nach wahrhaftig erzählten Biographien erwächst fast unweigerlich der Wunsch nach Bewahrung der eigenen Identität und der Heimat. Heimat gestaltet sich für uns fast immer zu einem sehr schwierigen Feld. Ludwig Wittgenstein fordert, man solle über das schweigen, worüber man nicht sinnvoll reden könne. Ich sehe dies aber eher als eine Aufforderung, über Heimat als Grundbedürfnis nicht nur des Menschen, sondern auch der Funktionstüchtigkeit einer Gesellschaft immer wieder miteinander ins Gespräch zu kommen. Was ist Heimat, kann man eine neue Heimat gewinnen, kann man unter geänderten Grenzen und bevölkerungspolitischen Mehrheitsverhältnissen seine Heimat als solche weiterhin erleben? Heimat ist für uns Deutsche ein ganz besonderes Wort, können sich doch in großen Erzählungen von Balzac, Tolstoi und Dickens die Franzosen, Russen und Engländer wiedererkennen. In Deutschland aber werden die Leser zu Entdeckungsreisen ins Unbekannte eingeladen: Hermann Sudermann schreibt litauische Geschichten, Günter Grass über Danzig und Gerhart Hauptmann über Schlesien. Auch unsere Sächsische Verfassung, und darauf dürfen wir stolz sein, bekennt sich zur Heimat, es heißt in Artikel 5 Absatz 1: „Dem Volk des Freistaates Sachsen gehören Bürger deutscher, sorbischer und anderer Volkszugehörigkeit an. Das Land erkennt das Recht auf die Heimat an.“ Heimat hat mehrere Dimensionen und Bedeutungsebenen: Sie ist erlebter, gelebter Raum, der vom Menschen gestaltet wurde und wird, und sie ist erlebte und gelebte

Geleitwort

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Zeit. Heimat ist so vor allem Erinnerung; aber sie kann nicht darin aufgehen. Sie ist auch Zeit in der Dimension der Gegenwart und Zukunft. Sie ist Ort der Arbeit und des Handelns. Sie ist Kommunikation darüber, was sie war, ist und sein wird. Wir wollen daher mit unserer sächsischen Förderpolitik versuchen zu vermitteln, daß Heimat heißt, diese mit anderen zu teilen, sie mit unseren und mit fremden Erfahrungen anzureichern, die gegenwärtigen Bewohner für die Heimatgeschichte zu sensibilisieren und diese Heimat dann neu bewahrt weiter zu vererben. Heimat heißt darüber hinaus, den Menschen eine Perspektive in ihrer Region zu geben. Dies ist ein Auftrag an die Politik, dem wir uns stellen müssen. Religion, Heimat, Freiheit und Tradition sind Grundbedürfnisse der Menschen, sie bewirken einen aufrechten, aufgeklärten Patriotismus und wären ohne ihn nur Chimären. Wer sie wegnehmen will, um ein neues Gesellschaftssystem auszuprobieren, will den Menschen gegen seinen Willen und gegen seine Natur verändern. VI. Sächsische Politik schützt Minderheitenbelange Eines dürfte nach dem Gesagten deutlich geworden sein: Die in der Verfassung festgeschriebenen Grundsätze der Gewährleistung von Grundrechten und des Rechts auf Heimat sind ohne den Einsatz für berechtigte Minderheitenbelange nicht denkbar. Deshalb ist es wichtig, sich heute hier und auch in Zukunft mit dem „Vielvölkerstaat Europa“ auseinanderzusetzen, die Veränderung von Minderheiten zu registrieren, sie zu schützen und zu integrieren im Interesse der Fortentwicklung unseres Gemeinwesens, ohne sie aber in ihrer gewollten Identität zu beschneiden. Denn diese Identität ist keine kulturelle Spielerei. Identität ist vielmehr ein Wesensmerkmal des Menschen.

I. Einführende Bemerkungen

Europas verlorene Mitte Von Frank-Lothar Kroll (Chemnitz) Mit Niederlegung der Kaiserkrone und Aufgabe des damit verbundenen reichsoberhauptlichen Amtes durch Kaiser Franz II. am 6. August 1806 endete die tausendjährige Geschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.1 Die Bedeutung dieses Ereignisses für den deutschen Geschehensraum war evident, wurde jedoch von vielen Zeitgenossen nicht sogleich erkannt. Zwar gab es manche Stimme des Bedauerns und der Klage über den Verlust jener politischen Existenzform, die den Deutschen über die Jahrhunderte hinweg einen politischen Orientierungsrahmen geboten hatte.2 Doch der von diesem Rahmen gehaltene Inhalt war seit langem verblasst, und so überwog denn mehrheitlich eine Haltung achselzuckender Teilnahmslosigkeit, zumal die wenig später eintreffende Nachricht von der militärischen Katastrophe des preußischen Heeres bei Jena und Auerstedt und die damit verbundenen Folgen die Erinnerung an die Katastrophe des Reiches rasch verdrängten. Erst die Unsäglichkeiten der Napoleonischen Fremdherrschaft und die Ohnmacht der deutschen Patrioten angesichts immer neuer, schwerwiegenderer französischer Bedrückungen ließen das Alte Reich zu einem sehnsuchtsvoll ver-

1 Zum Ende des Alten Reiches existiert mittlerweile – auch als Folge der im „Jubiläumsjahr“ 2006 veröffentlichten Untersuchungen – eine umfängliche Forschungsliteratur; vgl. jetzt vorzüglich Hans-Christof Kraus, Das Ende des alten Deutschland. Krise und Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806. 2., korrigierte Aufl. Berlin 2006; ferner Helmut Neuhaus, Das Ende des Alten Reiches. In: Helmut Altrichter und Helmut Neuhaus (Hrsg.), Das Ende von Großreichen. Erlangen/Jena 1996, S. 185 – 209; knapper ders., Das Reich in der Frühen Neuzeit. München 1997, S. 54 f.; ferner ders., Das Reich als Mythos in der neueren Geschichte. In: Helmut Altrichter, Klaus Herbers und Helmut Neuhaus (Hrsg.), Mythen in der Geschichte. Freiburg im Breisgau 2004, S. 293 – 320; aus der „älteren“ Literatur maßgeblich Gerd Kleinheyer, Die Abdankung des Kaisers. In: Gerhard Köbler (Hrsg.), Wege europäischer Rechtsgeschichte. Karl Kroeschell zum 60. Geburtstag. Frankfurt am Main/Bern/ New York/Paris 1987, S. 124 – 144; Volker Press, Der Untergang des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. In: Eberhard Müller (Hrsg.), „… aus der anmuthigen Gelehrsamkeit“. Tübinger Studien zum 18. Jahrhundert. Dietrich Geyer zum 60. Geburtstag. Tübingen 1988, S. 81 – 97; ders., Das Ende des Alten Reiches und die deutsche Nation. In: KleistJahrbuch 1993, S. 31 – 55; Wilhelm Brauneder (Hrsg.), Heiliges Römisches Reich und moderne Staatlichkeit. Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1993; zuletzt Klaus Herbers und Helmut Neuhaus, Das Heilige Römische Reich. Schauplätze einer tausendjährigen Geschichte (843 – 1806). Köln/Weimar/Wien 2005, bes. S. 289 – 299. 2 Zu diesem Aspekt neuerdings ausführlich Wolfgang Burgdorf, Ein Weltbild verliert seine Welt. Der Untergang des Alten Reiches und die Generation 1806. München 2006, bes. S. 173 – 224.

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Frank-Lothar Kroll

klärten Idealbild einstiger Macht und Größe Deutschlands werden und als Fluchtpunkt für aktuelle und zukünftige politische Planungen tauglich erscheinen.3 Doch nicht nur den Deutschen geriet der Untergang des Alten Reiches zu einem historischen Wendepunkt. Auch für die Völker und Regionen des östlichen Europas sollte dieser Untergang weitreichende Folgen haben. Denn das Alte Reich war bis dahin ein Gehäuse gewesen, in dem viele Nationalitäten ihren Platz gefunden hatten. Es war keineswegs ein „deutsches“ Reich im verengt nationalstaatlichen Sinn gewesen, sondern ein übernationaler Personenverband mit starker Einbindung in den gesamteuropäischen Kontext. Man wird nicht so weit gehen müssen, in ihm „eine Art Modell für ein geschichtlich erprobtes Europa der Regionen“ zu erblicken, wo „starke Regionalgewalten im Rahmen eines lockeren Staatsgebildes mit schwacher Zentrale existierten“ und daher „europäische Einheit in möglichster Vielfalt … mit weitgehender Berücksichtigung der diversen regionalen Interessen, Traditionen, Unterschiede und Bedürfnisse“ garantierten.4 Derart plumpe Übertragungen aktueller europäischer Integrationswünsche auf die so anders geartete historische Wirklichkeit um 18005 verkennen vollkommen die starken zentrifugalen Tendenzen der Konföderationsstruktur des alten Reichsverbandes, die mit der konkurrierenden Dynamik moderner Macht- und Leistungsstaaten im 18. Jahrhundert – allen voran Brandenburg-Preußens6 – nicht Schritt halten konnten, und sie verwechseln „Regionalismus“ mit „Partikularismus“. Richtig an dieser zeitweise modisch gewesenen, mittlerweile jedoch zusehends verklingenden Lobrednerei des Alten Reiches bleibt allerdings die Beobachtung seiner konfessionellen, kulturellen und vor allem sprachlichen Vielgestalt, die keinen Raum ließ für nationalitätenpolitische Konflikte.7 Die allmähliche Herausbildung solcher Konflikte begann erst mit dem Ende

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Dazu jetzt Frank-Lothar Kroll, Kaisermythos und Reichsromantik. Bemerkungen zur Rezeption des Alten Reiches im 19. Jahrhundert. In: Axel Gotthard, Andreas Jakob und Thomas Nicklas (Hrsg.), Studien zur politischen Kultur Alteuropas. Festschrift für Helmut Neuhaus zum 65. Geburtstag. Berlin 2009, S. 78 – 95. 4 So explizit Peter Claus Hartmann, Das Heilige Römische Reich 1648 – 1806. Ein Mitteleuropa der Regionen. In: Bernd Heidenreich und Frank-Lothar Kroll (Hrsg.), Wahl und Krönung. Frankfurt am Main 2006, S. 29 – 42, hier S. 29; ähnlich bereits ders., Kulturgeschichte des Heiligen Römischen Reiches 1648 bis 1806. Verfassung, Religion und Kultur. Wien/Köln 2001, bes. S. 36 ff., 47 ff. 5 Besonders aufdringlich und unangenehm wirken solche schönrednerisch-naiven Zurechtmachungen der historischen Wirklichkeit bei Peter Claus Hartmann, Europa der RegioACHTUNGREnen – geschichtlich erprobt. In: Ders. (Hrsg.), Geschichte aktuell. Historische Vorträge und Aufsätze zu aktuellen Fragen. Frankfurt am Main 2000, S. 1 – 17. 6 Darüber zuletzt sehr instruktiv Peter Baumgart, Brandenburg-Preußen unter dem Ancien rgime. Ausgewählte Abhandlungen. Hrsg. von Frank-Lothar Kroll. Berlin 2009. 7 Das trifft jedoch genauso für Brandenburg-Preußen zu, während es in einem ausgesprochen „reichsbezogenen“ katholischen Territorium wie dem Erzbistum Salzburg der dortige Landesherr, Erzbischof Leopold Anton von Firmian, noch 1731/32 für erforderlich hielt, seine gesamten protestantischen Untertanen (über 10.000 Personen) außer Landes zu jagen, weil er sein Territorium „ketzerfrei“ zu sehen wünschte. Den Salzburger Glaubensflüchtlingen nutzte

Europas verlorene Mitte

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des Alten Reiches, und sie vollzog sich primär in jenen national „gemischten“ Regionen des östlichen Mitteleuropas, die bis dahin von den Reichsgrenzen umfaßt und eingehegt worden waren: Schlesiens, Böhmens, Mährens sowie der südöstlichen, slawisch bzw. italienisch dominierten Territorien der Habsburger Monarchie bis zur adriatischen bzw. dalmatinischen Küste. Zunächst, nach Beendigung der Napoleonischen Kriege, gelang im Rahmen der gesamteuropäischen Neuordnungsbestrebungen des Wiener Kongresses 1815 noch einmal eine Einhegung des durch das Reichsende aufgeworfenen Nationalitätenproblems in Ostmitteleuropa. Die drei großen übernationalen Reichsbildungen der Habsburger, der Romanovs und der Osmanen boten in den überlieferten institutionellen Formen monarchisch-dynastischer Herrschaftssicherung weiterhin starke Widerlager zu den sich nun verstärkt bemerkbar machenden nationalen Emanzipationsbestrebungen der „kleinen“ Völker Mittel-, Ost- und Südosteuropas.8 Auch der 1815 ins Leben getretene Deutsche Bund vereinigte in sich – über seinen größten Mitgliedsstaat, die Habsburger Monarchie – Angehörige fast aller Nationalitäten, die noch nicht in einem eigenen Nationalstaat vereinigt waren. Das Territorium des Deutschen Bundes war umfangreicher als die Gebiete der heutigen Bundesrepubliken Deutschland und Österreich zusammengenommen. Im Osten gehörten das Königreich Böhmen und das Herzogtum Schlesien, im Süden das Königreich Illyrien und Südtirol zum Deutschen Bund, während ihm Preußen und Österreich nur mit jenen Ländern beigetreten waren, die auch schon vor 1806 einen Teil des Alten Reiches gebildet hatten. Infolgedessen lagen umfangreiche Staatsterritorien beider Länder (Westpreußen, Ostpreußen, Ungarn) außerhalb der Bundesgrenzen. Hingegen waren wiederum drei ausländische Souveräne – mittels der von ihnen gehaltenen Personalunionen mit drei deutschen Staaten – vollwertige Mitglieder des Deutschen Bundes: der König von Großbritannien (für das Königreich Hannover), der König von Dänemark (für das Herzogtum Holstein) und der König der Niederlande (für das Großherzogtum Luxemburg). Diese außerdeutschen Verklammerungen verwiesen auf die transnationalen Bindungen der 1815 geschaffenen staatenbündischen Ordnung Deutschlands ebenso wie sie deren gesamteuropäische Bezogenheiten offenbarten. Doch solche Bezogenheiten, für die meisten Bewohner des Deutschen Bundes ohnehin nur sehr abstrakte Größen von weitgehend fehlender lebenspraktischer Relevanz, verblassten seit den 1830er Jahren rasch zu Gunsten des Modells eines auf

der Appell an den Reichstag in Regensburg damals nichts. Asyl fanden sie hingegen – in Brandenburg-Preußen. 8 Dazu noch immer sehr erhellend Heinz Gollwitzer, Ideologische Blockbildung als Bestandteil internationaler Politik im 19. Jahrhundert (1965). Wiederabgedruckt in: Ders., Weltpolitik und deutsche Geschichte. Gesammelte Studien. Hrsg. von Hans-Christof Kraus. Göttingen 2008, S. 27 – 52, sowie zum Grundsätzlichen Günther Stökl, Die kleinen Völker und die Geschichte. In: Historische Zeitschrift 212 (1971), S. 19 – 40.

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die eine, unteilbare Nation begründeten Nationalstaates. Diesem Modell9 lag die Vorstellung zu Grunde, daß jede Nation – und sei sie noch so klein – das Recht besitze, in einem eigenen Staat zusammenzuleben und als „Staatsnation“ an der Bildung des Staatswillens und an der Ausübung und Kontrolle der Staatsgewalt zu partizipieren. Jede Nation sollte in diesem Rahmen ihr politisches Geschick selbst bestimmen dürfen – als Gesellschaft freier Bürger, vertreten durch verfassungsgemäß gewählte Abgeordnete in einem das souveräne Staatsvolk in seiner Gesamtheit repräsentierenden Parlament. Und nicht nur Freiheit und Einheit sollte das zum Nationalstaat formierte Gemeinwesen seinen Bürgern garantieren. Die Identität von freiheitlichem Staat und geeinter Nation sollte darüber hinaus machtmäßig abgesichert werden, der Nationalstaat hatte wesentlich auch ein nationaler Machtstaat zu sein. Gegenüber diesem verlockenden Programm einer nationalstaatlichen Konsolidierung Europas hatten die Befürworter und Verteidiger der im ostmitteleuropäischen Raum tatsächlich vorherrschenden politischen Realität einen schweren Stand. Diese politische Realität war weithin bestimmt von der Koexistenz verschiedener Nationalitäten in einem „multi-kulturellen“, dynastisch grundierten Vielvölkerstaat, dessen Strukturprinzip auf Mehrsprachigkeit, Internationalität und Universalität setzte, jedoch seit dem „Völkerfrühling“ von 1848 zunehmend in die Defensive geraten sollte.10 Der tschechische Historiker und Politiker Frantisˇek Palacky´ hatte damals, in einem Brief vom 11. April 1849, die an ihn ergangene Einladung zur Teilnahme an den Sitzungen des Frankfurter Paulskirchenparlaments noch mit einem leidenschaftlichen Bekenntnis zum Habsburgerreich zurückgewiesen und verkündet, wenn es die Donaumonarchie nicht schon gäbe, so müsse man sie im Interesse der Freiheitsrechte der kleineren slawischen Völker eigens erfinden. Keine politische Ordnung – und erst recht keine nationalstaatliche – biete eine bessere Gewähr für die Sicherung ungestörter Entfaltungsmöglichkeiten insbesondere des tschechischen Bevölkerungsteils.11 Und dem großdeutsch orientierten politischen Publizisten 9 Darüber im vorliegenden Zusammenhang grundlegend und kenntnisreich Theodor Schieder, Nationalstaat und Nationalitätenproblem (1952). Wiederabgedruckt in: Ders., Nationalismus und Nationalstaat. Studien zum nationalen Problem im modernen Europa. Hrsg. von Otto Dann und Hans-Ulrich Wehler. Göttingen 1991, S. 17 – 37; zum aktuellen Forschungsstand in europäischer Perspektive Siegfried Weichlein, Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa. Darmstadt 2006; originelle Perspektiven eröffnet im vorliegenden Zusammenhang darüber hinaus jetzt Imanuel Geiss, Nation und Nationalismen. Versuche über ein Weltproblem, 1962 – 2006. Bremen 2007, bes. S. 135 – 139, 266 ff. 10 Dazu vorzüglich Theodor Schieder, Idee und Gestalt des übernationalen Staates seit dem 19. Jahrhundert (1957). Wiederabgedruckt in: Ders., Nationalismus und Nationalstaat (wie Anm. 9), S. 38 – 64. 11 Zu Palacky´ vgl. jetzt umfassend das monumentale Werk von Jirˇi Korˇalka, Frantisˇek Palacky´ (1798 – 1876). Der Historiker der Tschechen im österreichischen Vielvölkerstaat. Wien 2007; zum „Absagebrief“ an die Frankfurter Nationalversammlung 1849 speziell noch Rudolf Wierer, Frantisˇek Palacky´s staatspolitisches Programm. In: Zeitschrift für Ostforschung 6 (1957), S. 246 – 256, sowie Jan Krˇen, Palacky´s Mitteleuropavorstellungen 1848/49. In: Vilm Precˇan (Hrsg.), Acta creationis. Steinfeld 1980, S. 119 – 152.

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Constantin Frantz, einem entschiedenen Gegner der Bismarckschen Nationalstaatsgründung, schwebte noch in den 1870er und 1880er Jahren das Idealbild eines vom Bewußtsein „abendländischer“ Solidarität geleiteten föderalistischen Reichsverbandes vor Augen, dem als übernationaler mitteleuropäischer Ordnungsmacht eine ausgleichende und vermittelnde Funktion zwischen den einander entgegenstehenden Mächteinteressen des Kontinents zukomme.12 „Nicht verengert“, so meinte Frantz damals, „mußte der alte deutsche Bund werden, sondern auf seine Erweiterung mußte man ausgehen, damit sich allmählich ein mitteleuropäischer Bund daraus entwickelte, wozu durch die außerdeutschen Länder der österreichischen und der preußischen Monarchie die Anlage hinlänglich gegeben war … Durch die Fülle seiner Verteidigungskräfte … würde dieser Bund … sich als das wirksamste Mittel erweisen zur Erhaltung des europäischen Friedens.“13 Doch das waren Meinungen und Stimmen, die der immer stärker werdenden Dynamik der nationalstaatlichen Bewegungen im ostmitteleuropäischen Raum auf Dauer nicht wirklich entgegenzuwirken vermochten. Das Alte Reich hatte infolge seines überstaatlichen Charakters die meisten Völker und Nationen Mitteleuropas miteinander zu verklammern vermocht. Und auch die staatenbündische Ordnung von 1815 entfaltete in dieser Hinsicht noch beträchtliche Integrationsleistungen.14 Erst durch die Entscheidung von 1866 mit ihrer Hinausdrängung des Habsburgerreiches aus dem deutschen Geschehensraum und der damit verbundenen langfristigen Verlagerung des politischen Engagements ÖsterreichUngarns vornehmlich nach Südosteuropa – also in eben jene Region, in der die nationalitätenpolitischen Konflikte am stärksten aufeinander trafen –, war der Weg für „mitteleuropäische“ Integrationsleistungen dieser Art versperrt. Die immensen nationalitätenpolitischen Probleme, die dem habsburgischen Vielvölkerstaat auch nach dem „Ausgleich“ von 1867 zwischen Deutschen und Magyaren15 begegneten, verwiesen – der inneren Logik dieses Staatswesens entsprechend – auf eine all12 Vgl. Constantin Frantz, Untersuchungen über das Europäische Gleichgewicht. Berlin 1859; dazu weiterhin vorzüglich die Darstellungen von Heinz Gollwitzer, Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. 2. Aufl. München 1964, S. 297 – 302, und Roman Schnur, Mitteleuropa in preußischer Sicht: Constantin Frantz. In: Der Staat 25 (1986), S. 545 – 573. 13 Constantin Frantz, Die Weltpolitik unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland. Dritte Abteilung. Chemnitz 1883, S. 42 f.; vgl. bereits ders., Von der deutschen Föderation. Berlin 1851, S. 87 ff. 14 Die zahlreich vorhandenen Elemente der Kontinuität zwischen Altem Reich und Deutschem Bund (u. a. Österreich als Präsidialmacht; territorialer Umfang; symbolpolitische Rolle Frankfurts am Main) betont Volker Press, Altes Reich und Deutscher Bund. Kontinuität in der Diskontinuität. Nach dem Tod des Verfassers zum Druck gebracht von Dieter Stievermann. München 1995, S. 7, 28 f. – Zur „europäischen“ Verortung des Deutschen Bundes jetzt maßgeblich Jürgen Angelow, Von Wien nach Königgrätz. Die Sicherheitspolitik des Deutschen Bundes im europäischen Gleichgewicht (1815 – 1866). München 1996, S. 257 ff., sowie ders., Der Deutsche Bund. Darmstadt 2003, bes. S. 12 ff. 15 Dazu nach wie vor grundlegend: Der österreichisch-ungarische Ausgleich von 1867. Seine Grundlagen und Auswirkungen. München 1968.

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mähliche Umwandlung der K.-und K.-Monarchie in einen „Nationalitäten-Bundesstaat“, d. h. in einen föderativen Staatenverband, der zumindest den größeren Nationalitäten, also vor allem den Tschechen und den Kroaten, politische Autonomie innerhalb des Reiches gewährte. In den letzten Jahrzehnten vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist darüber eine rege publizistisch-politische Debatte entstanden, an der sich zahlreiche prominente Repräsentanten des öffentlichen Lebens im HabsburACHTUNGREgerACHTUNGREreich beteiligt haben – von marxistisch orientierten Sozialisten wie Kurt Renner und Otto Bauer über konservative Katholiken wie Ignaz Seipel und Heinrich Lammasch, bis zu renommierten Schriftstellern wie Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal.16 Auch die umfassenden Reichsreformpläne, die der 1914 in Sarajevo ermordete österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand und sein Beraterkreis damals entwickelten, zielten auf eine Lösung des Nationalitätenproblems durch Neuformierung der Donaumonarchie in einen nach den einzelnen Volksgruppen bzw. Kronländern aufgeteilten Föderativstaat, der besonders die Rechte der slawischen Bevölkerung gegenüber den allzu selbstbewußten Magyaren stärken sollte. Man muß kein glühender Anhänger des alten Österreichs sein, um im Scheitern all dieser und zahlreicher anderer Lösungsvorschläge das definitive Ende eines sich aus den Traditionen des Alten Reiches speisenden multinationalen „Europa[s] im kleinen“17 zu beklagen. An die Stelle der zusammengebrochenen K.-und K.-Monarchie trat mit den Staatsneugründungen von 1918/19 im Osten und Südosten Europas nunmehr eine territorial höchst aufgefächerte Geschehensregion, deren „wechselvolle und unglückliche Geschichte zwischen den Weltkriegen“ Werner Conze schon 1953 vermerkt hat.18 Die politische Binnenstruktur dieses Raumes war hinfort insofern von höchster Brisanz, als jede nationalitätenpolitische Auseinandersetzung sofort auf die Ebene zwischenstaatlicher Konflikte geriet, weil sie nun potentiell von Vgl. neben den „Klassikern“ von Karl Gottfried Hugelmann (Hrsg.), Das NationaliACHTUNGREtäCHTUNGREtA enrecht des alten Österreich. Wien 1934, Hugo Hantsch, Die Nationalitätenfrage im alten Österreich. Wien 1953, und Robert A. Kann, Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. Geschichte und Ideengehalt der nationalen Bestrebungen vom Vormärz bis zur Auflösung des Reiches im Jahre 1918. Bd. 1: Das Reich und die Völker; Bd. 2: Ideen und Pläne zur Reichsreform (1950). 2., erw. Aufl. Graz 1964, auch Hans Mommsen, Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat. Wien 1963, bes. S. 17 – 45; Helmut Rumpler, 1804 – 1914. Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie. Wien 1997, sowie die sehr instruktive Zusammenfassung von Matthias Stickler, Reichsvorstellungen in Preußen-Deutschland und der Habsburgermonarchie in der Bismarckzeit. In: Franz Bosbach, Hermann Hiery und Christoph Kampmann (Hrsg.), Imperium – Empire – Reich. Ein Konzept politischer Herrschaft im deutsch-britischen Vergleich. München 1999, S. 133 – 154 (mit reicher weiterführender Literatur); zuletzt perspektivenreich Endre Kiss und Justin Stagl (Hrsg.), Nation und Nationenbildung in Österreich-Ungarn 1848 – 1938. Prinzipien und Methoden. Wien/Münster 2006. 17 So Eugen Lemberg, Geschichte des Nationalismus in Europa. Stuttgart 1950, S. 222. 18 Werner Conze, Die Strukturkrise des östlichen Mitteleuropas vor und nach 1919 (1953), Wiederabgedruckt in: Ders., Gesellschaft – Staat – Nation. Gesammelte Aufsätze. Hrsg. von Ulrich Engelhardt, Reinhart Koselleck und Wolfgang Schieder. Stuttgart 1992, S. 401 – 421, hier S. 406. 16

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souveränen, miteinander konkurrierenden Nationalstaaten ausgetragen werden musste, während sie bisher innerhalb der Grenzen eines multiethnischen Reichsverbandes eingehegt worden war. Das aber verlieh den internationalen Beziehungen der Zwischenkriegszeit ein Element steter und neuartiger Beunruhigung.19 Und so führte denn der 1918/19 im östlichen Mitteleuropa vollzogene Übergang von der übernational-imperialen Großreichsordnung Alt-Österreichs zum System souveräner Nationalstaaten, der das Jahrhundert der auf das Nationalitätsprinzip gegründeten Staatsbildungsprozesse abschloß,20 bekanntlich nicht zu jener Stabilisierung und Pazifizierung, welche die Schöpfer dieses Systems sich bei der Etablierung des nationalen Selbstbestimmungsrechts der Völker in der Region erhofft hatten.21 Zwar leiteten alle in Ostmitteleuropa (neu) entstandenen Staaten ihren Entstehungsgrund aus dem Nationalstaatsprinzip ab, die Fiktion vom ethnisch homogenen Nationalstaat mit einem führenden Staatsvolk wurde (fast) überall zur Ausgangsbasis der (neu) formierten Staatlichkeit22 – in Polen und der Tschechoslowakei ebenso wie in Jugoslawien, Ungarn und Rumänien. Tatsächlich jedoch entsprach kein einziger dieser Staaten diesem selbstgesetzten Anspruch. In ihrer aller Grenzen lebten auf Grund der spezifischen nationalitätenpolitischen Gemengelage jeweils starke fremdnationale Minderheiten; so betrug beispielsweise der Anteil des tschechischen Staatsvolkes an der Gesamteinwohnerzahl des Landes nach 1918 nur etwa 46 Prozent. Zugleich besaßen fast alle Länder der Region eine zahlenmäßig erheblich ins Gewicht fallende Diaspora, also Angehörige der eigenen Nationalität, die jenseits der Grenzen des soeben gegründeten Nationalstaates lebten; davon waren besonders Ungarn und Österreich betroffen. Dies alles hatte zur Folge, daß Staatsgrenzen und Sprach- bzw. Volksgrenzen nirgendwo in Ostmitteleuropa miteinander übereinstimmten; minderheitenpolitische Probleme waren daher geradezu 19 Dazu sehr instruktiv Peter Krüger, Ostmitteleuropa und das Staatensystem nach dem Ersten Weltkrieg: Im Spannungsfeld von Zentren, Peripherien, Grenzen und Regionen. In: Eduard Mühle (Hrsg.), Mentalitäten – Nationen – Spannungsfelder. Studien zu Mittel- und Osteuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Beiträge eines Kolloquiums zum 65. Geburtstag von Hans Lemberg. Marburg 2001, S. 53 – 68; ferner bereits ders., Die Friedensordnung von 1919 und die Entstehung neuer Staaten in Ostmitteleuropa. In: Hans Lemberg und Peter Heumos (Hrsg.), Das Jahr 1919 in der Tschechoslowakei und in Ostmitteleuropa. München 1993, S. 93 – 116. 20 Grundlegend auch hier Theodor Schieder, Das Problem des Nationalismus in Osteuropa (1956). Wiederabgedruckt in: Ders., Nationalismus und Nationalstaat (wie Anm. 9), S. 347 – 359; ähnlich ders., Nationale Vielfalt und europäische Gemeinschaft (1954). Wiederabgedruckt in: Ebd., S. 271 – 286, bes. S. 281 f.; neuere Bilanz bei Hans Lemberg, Der Weg zur Entstehung der Nationalstaaten in Ostmitteleuropa. In: Georg Brunner (Hrsg.), Osteuropa zwischen Nationalstaat und Integration. Berlin 1995, S. 45 – 71. 21 Dazu generell Hans Lemberg (Hrsg.), Ostmitteleuropa zwischen den beiden Weltkriegen (1918 – 1939). Stärke und Schwäche der neuen Staaten, nationale Minderheiten. Marburg 1997. 22 Vgl. aber Richard G. Plaschka, Horst Haselsteiner, Arnold Suppan, Anna M. Drabek und Brigitta Zaar (Hrsg.), Mitteleuropa-Konzeptionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wien 1995; für den Zusammenhang ferner wichtig Jürgen Elvert, Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918 – 1945). Stuttgart 1999.

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vorprogrammiert in einer Region, die theoretisch vom Nationalstaatsprinzip dominiert wurde, praktisch jedoch aus zahlreichen „Vielvölkerstaaten im Kleinen“ bestand. Zum Zweck der Einhegung solcher Probleme hatten die für die Versailler Ordnung verantwortlichen westalliierten Siegermächte den neuen ostmittel- und südosteuropäischen Nationalitätenstaaten in den Pariser Vorortverträgen 1919 die Einhaltung eines zum Verfassungsrang erhobenen Minderheitenschutzes zur Pflicht gemacht.23 Durch diese Verpflichtung sollte der befürchteten Zwangsassimilation der Minderheiten an die jeweilige Staatsnation vorgebeugt werden, dem Völkerbund waren entsprechende Überwachungsaufgaben zugewiesen worden.24 Es bedurfte indes keiner besonderen prophetischen Gaben, um vorherzusehen, daß solche Bestimmungen von den betroffenen Ländern als unerträgliche Beeinträchtigungen ihrer eben erst mühsam erlangten nationalstaatlichen Souveränität empfunden wurden, und daß sich weder die Tschechoslowakei noch Polen darum bemühten, sie buchstabengetreu zu erfüllen. Die intransingente Minderheitenpolitik beider Staaten nach 1919 wiederum war einer der Gründe dafür, daß sich die Forderungen und Ansprüche der in ihnen jeweils lebenden Minderheiten zusehends radikalisierten,25 sich in den 1930er Jahren zu einem explosiven Gemisch nationaler „Rückkehr-“ bzw. „Anschluß“-Hoffnungen verdichteten26 und die Entfaltung einer ungetrübten Loyalität der fremdnationalen Minoritäten gegenüber „ihrem“ Nationalstaat außerordentlich

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Dazu am ausführlichsten noch immer Erwin Viefhaus, Die Minderheitenfrage und die Entstehung der Minderheitenschutzverträge auf der Pariser Friedenskonferenz 1919. Eine Studie zur Geschichte des Nationalitätenproblems im 19. und 20. Jahrhundert. Würzburg 1960, bes. S. 1 – 6; neuere zusammenfassende Darstellung bei Dietrich A. Loeber, Die Minderheitenschutzverträge – Entstehung, Inhalt und Wirkung. In: H. Lemberg (Hrsg.), Ostmitteleuropa zwischen den beiden Weltkriegen (wie Anm. 21), S. 201 – 224. 24 Darüber zuletzt Martin Scheuermann, Minderheitenschutz contra Konfliktverhütung? Die Minderheitenpolitik des Völkerbundes in den zwanziger Jahren. Marburg 2001, bes. S. 18 – 50. 25 Zu diesem Aspekt zuletzt sehr informativ Wolfgang Kessler, Die gescheiterte Integration. Die Minderheitenfrage in Ostmitteleuropa 1919 – 1939. In: H. Lemberg (Hrsg.), Ostmitteleuropa zwischen den beiden Weltkriegen (wie Anm. 21), S. 161 – 188; ferner Hans Lemberg, Kulturautonomie, Minderheitenrechte, Assimilation. Nationalstaaten und Minderheiten zwischen den beiden Weltkriegen in Ostmitteleuropa. In: Mathias Beer (Hrsg.), Auf dem Weg zum ethnisch reinen Nationalstaat? Europa in Geschichte und Gegenwart. Tübingen 2004. S. 91 – 117; ders., Sind nationale Minderheiten Ursachen für Konflikte? Entstehung des Problems und Lösungskonzepte in der Zwischenkriegszeit. In: Ulf Brunnbauer, Michael G. Esch und Holm Sundhausen (Hrsg.), Definitionsmacht, Utopie, Vergeltung. „Ethnische Säuberungen“ im östlichen Europa des 20. Jahrhunderts. Berlin 2006, S. 32 – 48. 26 Das läßt sich sehr gut nachweisen an der Politik des „Europäischen Nationalitätenkongresses“, des Dachverbandes der nationalen Minderheiten Europas, dessen Lobbyarbeit immer stärker zu einem Instrument nationalsozialistischer Außenpolitik verkam; vgl. Sabine Bamberger-Stemmann, Der Europäische Nationalitätenkongress 1925 bis 1938. Nationale Minderheiten zwischen Lobbyistentum und Großmachtinteressen. Marburg 2000.

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erschwerte.27 Nun erwies es sich zunehmend als verhängnisvoll, daß die westalliierten Siegermächte dem von ihnen einst lautstark verkündeten „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ 1919 einen nur sehr eingeschränkten Entfaltungsraum gewährt hatten. Als Prinzip vorrangig von der mit europäischen Verhältnissen nur sehr mangelhaft vertrauten bzw. einseitig unterrichteten Wilson-Administration verfochten, war es damals zwar den bisher nicht nationalstaatlich organisierten Völkern – Tschechen, Südslawen und Polen – zugestanden, den Besiegten des Ersten Weltkriegs, Deutschen und Ungarn, hingegen vorenthalten worden. Immerhin lebten seit 1919 etwa 3,7 Millionen Deutsche in Böhmen und Mähren unter tschechischer Herrschaft und etwa 2,1 Millionen Deutsche in Posen, Westpreußen und Ost-Oberschlesien unter polnischer Herrschaft. In der Tschechoslowakei und in Polen – beide Staaten waren überdies wegen der völkerrechtlich ungelösten Zugehörigkeit des Teschener Gebiets miteinander verfeindet – lag der Anteil der nicht zur eigenen, d. h. tschechischen bzw. polnischen Nation zählenden Bevölkerung, rechnet man noch die anderen dort lebenden Minderheiten hinzu, bei jeweils etwa 30 Prozent! Es waren die beiden totalitären Tyranneien des 20. Jahrhunderts, die von dieser Situation unmittelbar profitierten. Zunächst trieb der Nationalsozialismus die ostmitteleuropäische Vielvölkerzone durch seine brutale Expansionspolitik seit 1938 aus den Fugen – nachdem er schon zuvor damit begonnen hatte, alle vermeintlich nicht lebensfähigen „Splitter deutschen Volkstums“ in Südost-, Nordost- und Osteuropa „Heim ins Reich“ zwangsumzusiedeln. Dieser gigantische Bevölkerungstransfer, dem in wenigen Jahren weit über eine Million „Volksdeutsche“ aus dem Baltikum und Bessarabien, aus der Bukowina und der Dobrudscha zum Opfer fielen, schuf verhängnisvolle Präzedenzfälle und war, zusammen mit dem Besatzungsgebaren der nationalsozialistischen Okkupanten in den betroffenen Ländern Ostmittelund Südosteuropas, die entscheidende Vorbedingung dafür, daß nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches nicht nur tschechische Ultra-Nationalisten um den Exil-Präsidenten Edvard Benesˇ ihren monströsen Plan eines totalen „Abschubs“ der in der Tschechoslowakei beheimateten Deutschen nach Deutschland durchführen konnten,28 sondern daß auch die Londoner Exilregierungen Polens und des 1941 von

27 Vgl. beispielhaft Martin Schulze Wessel, Loyalitäten in der Tschechoslowakischen Republik 1918 – 1938. Politische, nationale und kulturelle Zugehörigkeiten. München 2004. 28 Vgl. im Zusammenhang Detlef Brandes, Der Weg zur Vertreibung 1938 – 1945. Pläne und Entscheidungen zum „Transfer“ der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen. München 2001; speziell zur Position von Benesˇ vgl. ders., Die Exilpolitik von Edvard Benesˇ 1939 – 1945. In: Arnold Suppan und Elisabeth Vyslonzil (Hrsg.), Edvard Benesˇ und die tschechoslowakische Außenpolitik 1918 – 1948. Frankfurt am Main 2002, S. 157 – 164; ders., Edvard Benesˇ und die Pläne zur Vertreibung/Aussiedlung der Deutschen und Ungarn 1938 – 1945. In: Gertraude Zand und Jirˇ Holy´ (Hrsg.), Vertreibung, Aussiedlung, Transfer im Kontext der tschechischen Literatur. Brünn 2004, S. 11 – 28; Jaroslav Kucˇera, „Der Hai wird nie wieder so stark sein“. Tschechoslowakische Deutschlandpolitik 1945 – 1948. Dresden 2002, sowie pointiert Manfred Kittel, Die Benesˇ-Dekrete. In: Anne Martin (Red.), Nähe und Ferne. Deutsche, Tschechen und Slowaken. Leipzig 2004, S. 66 – 77.

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Hitler überfallenen und zerschlagenen Königreichs Jugoslawien offen darüber nachdachten, „ihre“ Deutschen loszuwerden.29 Die dann bei Kriegsende tatsächlich in Gang gesetzte Realisierung dieser gigantischen Völkerwanderung – des größten Vertreibungsverbrechens der Weltgeschichte, dem nach heutigen Schätzungen etwa 20 Millionen Menschen zum Opfer fielen, davon etwa 14 Millionen Deutsche30 – hat den jeweils betroffenen Vertreiberstaaten jenen kulturell und sprachlich homogenen Nationalstaat gebracht, den viele ihrer Politiker seit langen ersehnt hatten.31 Die damit verbundene „Radikallö29 Dazu umfassend Detlef Brandes, Großbritannien und seine osteuropäischen Alliierten 1939 – 1943. Die Regierungen Polens, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens im Londoner Exil vom Kriegsausbruch bis zur Konferenz von Teheran. München/Wien 1988. 30 Die Literatur zur Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa hat in den vergangenen Jahren einen ans Unüberschaubare grenzenden Umfang angenommen; neben älteren Studien, die sich um eine gesamteuropäische historische Einordnung des Vertreibungsgeschehens bemühen (z. B. Gotthold Rhode, Völker auf dem Wege… Verschiebungen der Bevölkerung in Ostdeutschland und Osteuropa seit 1917. Kiel 1952; Friedrich Zipfel, Vernichtung und Austreibung der Deutschen aus den Gebieten östlich der Oder-Neisse-Linie. In: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 3 (1955), S. 145 – 187) bieten vorzügliche neuere Überblicke Hans Fenske, „Reiner Tisch wird gemacht werden“. Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Vorgeschichte, Verlauf, Integration in Nachkriegsdeutschland. In: Historische Mitteilungen 17 (2004), S. 228 – 288; Winfrid Halder, „…. in ordnungsgemäßer und humaner Weise“ – Vertreibung aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches und dem Sudetenland 1945 – 1947. Voraussetzungen – Verlauf – Konjunkturen des historiographischen und öffentlichen Diskurses. In: Frank-Lothar Kroll und Matthias Niedobitek (Hrsg.), Vertreibung und Minderheitenschutz in Europa. Berlin 2005, S. 15 – 42, sowie zuletzt Josef Joachim Menzel, Die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa 1944 – 1948. In: Bernd Heidenreich und Sönke Neitzel (Hrsg.), Neubürger in Hessen. Ankunft und Integration der Heimatvertriebenen. Wiesbaden 2006, S. 9 – 30. – Von geringer Sachkenntnis, dafür aber voller Polemik und kaum versteckter Häme gegen „die organisierten Vertriebenen“, die, zumindest in der „alten“ Bundesrepublik, „keinen Raum für das lebendige Erinnern“ an das Vertreibungsverbrechen geboten hätten (!), ist die glücklose Darbietung von Eva und Hans Henning Hahn, Flucht und Vertreibung. In: Etienne FranÅois und Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1. München 2001, S. 335 – 251; Zitate S. 351. 31 Für die Tschechoslowakei vgl. Richard Georg Plaschka (Hrsg.), Nationale Frage und Vertreibungsproblematik in der Tschechoslowakei und Ungarn 1938 – 1948. Wien 1997; Detlef Brandes, Edita Ivanicˇkov und Jirˇ Pesˇek (Hrsg.), Erzwungene Trennung. Vertreibungen und Aussiedlungen in und aus der Tschechoslowakei 1938 – 1947 im Vergleich mit Ungarn, Polen und Jugoslawien. Essen 1999; Detlef Brandes, Die Vertreibung und Aussiedlung der Deutschen aus Polen und der Tschechoslowakei. Pläne, Entscheidungen, Durchführung 1938 – 1947. In: U. Brunnbauer, M.G. Esch und H. Sundhausen (Hrsg.), Definitionsmacht, Utopie, Vergeltung (wie Anm. 25), S. 77 – 95; ders., „Das Deutsche Volk … erscheint uns nur noch als ein einziges großes menschliches Ungeheuer“. Vertreibung und Zwangsaussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei. In: Flucht und Vertreibung. Europa zwischen 1939 und 1948. Hamburg 2004, S. 150 – 169; für Polen vgl. Michael G. Esch, „Gesunde Verhältnisse“. Deutsche und polnische Bevölkerungspolitik in Ostmitteleuropa 1939 – 1950. Marburg 1998; ders., „Ethnische Säuberungen“ zwischen Deutschland und Polen 1939 bis 1950: Überlegungen zu ihrer Genese und Einordnung. In: U. Brunnbauer, M.G. Esch und H. Sundhausen (Hrsg.), Definitionsmacht, Utopie, Vergeltung (wie Anm. 25), S. 96 – 124; Bernadetta Nitschke, Vertreibung und Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen 1945 – 1949. München 2003.

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sung“ war die äußerste Konsequenz, die aus der Idee nationaler Assimilation in den Nachfolgestaaten des Alten Reiches, des Deutschen Bundes und der Habsburgermonarchie gefolgert werden konnte. Zugleich markiert das Vertreibungsverbrechen den endgültigen Abschluß jener deutsch-slawischen Kultursymbiose, wie sie den ostmitteleuropäischen Raum jahrhundertelang geprägt hatte. Daß die Vertreibung der Deutschen auch in den Vertreiberstaaten unersetzliche Lücken riss, die sich in demographischer, wirtschaftlicher, infrastruktureller und nicht zuletzt kultureller Hinsicht sehr nachhaltig auf die seitherige Entwicklung der jeweiligen Regionen ausgewirkt haben, wird dort mittlerweile ebenso wenig mehr ernsthaft bestritten32 wie die Tatsache, daß nicht nur die vielgeschmähte stalinistische Sowjetunion starkes Interesse an einem von allen jahrhundertealten deutschen Siedlungsspuren „gesäuberten“ cordon sanitaire mittel- und osteuropäischer Satellitenstaaten hatte, sondern daß darüber hinaus auch der amerikanischen und der britischen Regierung daran gelegen war, durch Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa sich eines als ständigen Unruhepotentials eingeschätzten „Problems“ zu „entledigen“.33 Er habe keinerlei Schwierigkeiten damit, trompetete Winston Churchill am 15. Dezember 1944 im britischen Unterhaus, Millionen Deutscher entrechtet und vertrieben zu sehen; die Aussicht auf das damit verbundene menschliche Leid bekümmere ihn keinen Augenblick lang.34 Nur eine handvoll Parlamentarier haben damals der zynischen und menschenverachtenden Ansicht ihres Premierministers im house of commons widersprochen. 32

Für die Tschechoslowakei vgl. bes. Tomsˇ Stank, Abschiebung oder Vertreibung? In: Walter Koschmal, Marek Nekula und Joachim Rogall (Hrsg.), Deutsche und Tschechen. Geschichte – Kultur – Politik. München 2001, S. 528 – 535; ders., Verfolgung 1945. Die Stellung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien (außerhalb der Lager und Gefängnisse). Wien/Köln/Weimar 2002; ders., Internierung und Zwangsarbeit. Das Lagersystem in den böhmischen Ländern 1945 – 1948. München 2007; Jan Mlynarik, Fortgesetzte Vertreibung – Vorgänge im tschechischen Grenzgebiet 1945 – 1953. München 2003; für Polen bes. Witold Stankowski, Lager für Deutsche in Polen am Beispiel Pomerellen, Westpreußen (1945 – 1950). Durchsicht und Analyse der polnischen Archivalien. Bonn 2002; ders. und Ingo Eser (Bearb.), Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945 – 1950. Bd. 4: Wojewodschaften Pomerellen und Danzig (Westpreußen). Marburg 2004. 33 Dazu vor allem Alfred-Maurice de Zayas, Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen. Vorgeschichte, Verlauf, Folgen. München 1977, bes. S. 98 ff.; ders., Anmerkungen zur Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Stuttgart 1986; ders., Die deutschen Vertriebenen. Keine Täter, sondern Opfer. Hintergründe, Tatsachen, Folgen. Graz 2006; ferner Detlef Brandes, Das Problem der deutschen Minderheiten in der Politik der Alliierten in den Jahren 1940 – 1945. Das tschechische Beispiel. In: Ders., Jan Krˇen und Vclav Kural (Hrsg.), Integration oder Ausgrenzung. Deutsche und Tschechen 1890 – 1945. Bremen 1986, S. 105 – 156; zur britischen Haltung speziell Hans-Ake Persson, Rhetorik und Realpolitik. Großbritannien, die Oder-Neiße-Grenze und die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Potsdam 1997; zum Problem allgemein Hans Lemberg, „Ethnische Säuberung“: Ein Mittel zur Lösung von Nationalitätenproblemen? In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 46 (1992), S. 27 – 38. 34 Vgl. Winston S. Churchill, Reden 1944: Das Morgengrauen der Befreiung. Gesammelt von Charles Eade, Bd. 5. Zürich 1949, S. 468.

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Die Beiträge dieses Tagungsbandes thematisieren den weitgespannten, hier nur flüchtig skizzierten Entwicklungsweg vom Ende des Alten Reiches 1806 bis zur Austreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa 1945 und deren Folgen für die Mitte des Kontinents im ausgehenden 20. Jahrhundert. Der Obertitel – „Europas verlorene Mitte“ – soll andeuten, daß mit der Entscheidung von 1806 eine Entwicklungsrichtung eingeschlagen wurde, die für die „Mitte“ des Kontinents – jene Länder und Regionen also, die heute mit dem geographisch-politischen Rubrum „Ostmitteleuropa“ bzw. „Mittelosteuropa“ klassifiziert zu werden pflegen35 – von teils zentrifugaler, teils geradezu atomisierender Wirkung gewesen ist. Dabei hat es selbstverständlich keinen kausalen oder gar notwendig aufeinander folgenden Zusammenhang zwischen den Ereignissen von 1806 und von 1945 gegeben. So gruppieren sich denn die folgenden Aufsätze um drei eher locker gefügte Themengruppen, von denen die erste – vertreten durch Beiträge von Helmut Neuhaus, Matthias Stickler, Milosˇ Havelka und Milosˇ Rˇeznk – das Spannungsverhältnis zwischen übernational-universalen Traditionen und den sich formierenden nationalstaatlichen Bewegungen im 19. Jahrhundert auslotet. Die einen zweiten Schwerpunkt markierenden Aufsätze von Ralph Schattkowsky und Jiri Georgiev widmen sich nationalitäten- und minderheitenpolitischen Fragen in den beiden davon vorrangig betroffenen Staatsneugründungen nach 1918, also Polens und der Tschechoslowakei. Ein drittes Bündel von Aufsätzen – jene von Hendrik Thoß, Alexander Brakel, Manfred Kittel, Ingo Eser und Michael Parak – beschäftigt sich mit den Verbindungslinien zwischen nationalsozialistischer „Volkstums“- und Okkupationspolitik einerseits, Vertreibungsverbrechen und sowjetischer Vorherrschaft im ostmitteleuropäischen Raum andererseits. In ihrer Gesamtheit schärfen alle Beiträge den Blick für die Integrationsleistung des Alten Reiches einschließlich seiner bis 1918 fortdauernden Traditionen. Sie verdeutlichen zugleich die Gefahren einer ungehemmt auf nationalstaatliche Konsolidierung setzenden Politik in einer Region, die für eine solche Politik im Grunde keinerlei tragfähige Voraussetzungen bot. Ob die weltpolitischen Wandlungen von 1989/90 dem Kontinent die Möglichkeit eröffnet haben, jene durch nationalen Egoismus, minderheitenpolitische Kurzsichtigkeit und totalitäres Hegemonialstreben rechter wie linker Provenienz gleichermaßen abhanden gekommene „Mitte“ Ostmitteleuropa dauerhaft zurückzugewinnen, ist derzeit noch keineswegs entschieden.36 Doch die Chancen für einen solchen Rückgewinn stehen nicht schlecht.

35 Zum Begrifflichen vgl. aus der reichen Fülle neuerer Literatur die problemorientierten Darstellungen von Dieter Segert, Die Grenzen Osteuropas. 1918, 1945, 1989 – Drei Versuche im Westen anzukommen. Frankfurt am Main/New York 2002, S. 13 ff.; Karl Schlögel, Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang. München/Wien 2002, bes. S. 14 ff., 186 ff.; George H. Hodos, Mitteleuropas Osten. Ein historisch-politischer Grundriß. Berlin 2004, S. 27 ff. 36 Darüber im historischen Zusammenhang Gabriele Clemens (Hrsg.), Die Integration der mittel- und osteuropäischen Staaten in die Europäische Union. Hamburg 1999.

II. Nationalitätenpolitik, übernationale Reichsbildungen und Nationalstaatsbewegungen im 19. Jahrhundert (1806 – 1918)

Das Ende des Heiligen Römischen Reiches und Kursachsens im Jahr 1806 Von Helmut Neuhaus (Erlangen) I. Als* im Sommer und Herbst des Jahres 1806 Johann Hilmar Adolf Graf von Schönfeld (1743 – 1820), Hans Ernst Freiherr von Globig (1755 – 1826) und Friedrich August Freiherr von Leutsch (1757 – 1818) ihre Dienstorte Wien, Regensburg und Wetzlar verließen und nach Dresden an den Hof ihres Dienstherren – Kurfürst Friedrich August III. (1750 – 1827)1 – zurückkehrten, da taten sie es im Vergleich zum Zeitpunkt ihrer Dienstantrittsreisen in einer völlig veränderten Welt.2 Wie aller ihrer Kollegen als Diplomaten am Kaiserhof, als Gesandte am Reichstag und als Assessoren am Reichskammergericht endeten auch ihre Dienstzeiten am 6. August 1806, an jenem Tag, an dem Kaiser Franz II. (1768 – 1835) in einer in Wien ausgestellten Urkunde erklärt hatte, „daß Wir das Band, welches Uns bis jetzt an den * Die Fassung des Vortrags vom 14. Dezember 2006 in Chemnitz wurde im wesentlichen nicht verändert, lediglich um die notwendigen Belege aus Quellen und Literatur ergänzt. Dem Sächsischen Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden, insbesondere Herrn Abteilungsleiter Dr. Wiegand, danke ich für verschiedene Hilfestellungen und Recherchen, ebenso der FernleihAbteilung der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg. 1 Zu ihm zuletzt: Winfrid Halder: Friedrich August III./I. 1763/1806 – 1827. In: FrankLothar Kroll (Hrsg.): Die Herrscher Sachsens. Markgrafen, Kurfürsten, Könige 1089 – 1918. München 2004, S. 203 – 222, 341 – 343 (Taschenbuch-Ausgabe im Rahmen der „Beckschen Reihe“, Bd. 1739, München 2007, S. 203 – 222, 342 f.). – Vgl. zu ihm und seiner Zeit an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert: Albert Prinz von Sachsen Herzog zu Sachsen: Die Albertinischen Wettiner. Geschichte des Sächsischen Königshauses 1763 – 1932. 3. Auflage, Gräfeling 1995, S. 15 – 45; Dorit Petschel: Die Persönlichkeit Friedrich Augusts des Gerechten, Kurfürsten und Königs von Sachsen. In: Uwe Schirmer: Sachsen 1763 – 1832. Zwischen Rtablissement und bürgerlichen Reformen (= Schriften der Rudolf-Kötzschke-Gesellschaft, Bd. 3). Beucha 1996, S. 77 – 100; Walter Fellmann: Sachsens Könige 1806 bis 1918. München/ Berlin 2000, S. 11 – 64. 2 Das ist das Thema von Wolfgang Burgdorf: Ein Weltbild verliert seine Welt. Der Untergang des Alten Reiches und die Generation 1806 (= bibliothek Altes Reich, Bd. 2). München 2006. Siehe auch Wolfgang Burgdorf: Der „sang- und klanglose“ Untergang des Alten Reiches im August 1806. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 57 (2006), S. 564 – 573; EricOliver Mader: Das Vahlkampfsche Schweigen. Die Auflösung des Alten Reiches als Überforderung des Geistes. In: Ebd., S. 574 – 584. Zur neuesten Literatur über das Heilige Römische Reich und sein Ende siehe jetzt Thomas Nicklas: Müssen wir das Alte Reich lieben? Texte und Bilder zum 200. Jahrestag eines Endes – Revision der Literatur des Erinnerungsjahres 2006. In: Archiv für Kulturgeschichte 89 (2007), S. 447 – 474. Werner Hechberger: Heilig – Römisch – Deutsch. Zur Bilanz einer Ausstellung. In: Historische Zeitschrift 288 (2009), S. 123 – 137.

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Staatskörper des deutschen Reichs gebunden hat, als gelöst ansehen, daß Wir das reichsoberhauptliche Amt und Würde durch die Vereinigung der conföderirten rheinischen Stände als erloschen und Uns dadurch von allen übernommenen Pflichten gegen das deutsche Reich losgezählt betrachten und die von wegen desselben bis jetzt getragene Kaiserkrone und geführte kaiserliche Regierung, wie hiermit geschieht, niederlegen.“3 Der Kaiser aus dem Haus Lothringen sah sich unter den nach dem zwischen Frankreich und Österreich geschlossenen, den Dritten Koalitionskrieg zugunsten Napoleons I. (1769 – 1821) beendenden Preßburger Frieden vom 26. Dezember 1805 eingetretenen Veränderungen, insbesondere nach der Gründung des Zweiten Rheinbundes am 12. Juli 1806 in Paris, nicht mehr in der Lage, seine als Römischer König in seiner Wahlkapitulation vom 5. Juli 1792 „eingegangenen Verpflichtungen ferner zu erfüllen“, denn diese „Uebereinkunft mehrerer vorzügliche[r] Stände“ habe „zu ihrer gänzlichen Trennung von dem Reiche“ geführt; er sei es „Unsern Grundsätzen und Unserer Würde schuldig, auf eine Krone zu verzichten, welche nur so lange Werth in Unsern Augen haben konnte, als Wir dem von den Churfürsten, Fürsten und Ständen und übrigen Angehörigen des deutschen Reichs Uns bezeigten Zutrauen zu entsprechen und den übernommenen Obliegenheiten ein Genüge zu leisten im Stande waren.“4 Die symbolische Niederlegung der Kaiserkrone Ottos I. – tatsächlich befand sie sich nicht in Wien, sondern war mit den übrigen Reichskleinodien in Ungarn vor Napoleon in Sicherheit gebracht worden5 – bedeutete das Ende des Heiligen Römischen Reiches, denn mit des Kaisers Selbstentpflichtung war „zugleich“ die Entbindung der „Churfürsten, Fürsten und Stände und alle[r] Reichsangehörigen, insonderheit auch d[er] Mitglieder der höchsten Reichsgerichte und d[er] übrige[n] Reichsdienerschaft, von ihren Pflichten“ verbunden, „womit sie an Uns, als das 3

Hier zitiert nach „Erklärung des Kaisers Franz II. über die Niederlegung der deutschen Kaiserkrone. – 1806, Aug. 6.“. In: Karl Zeumer: Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, Teil 2: Von Maximilian I. bis 1806; Anhang (= Quellensammlungen zum Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht, Bd. 2, Teil 2). 2. Auflage, Tübingen 1913, Nr. 217, S. 538 f. 4 Ebd., S. 538. – Die Wahlkapitulation Franz II. vom 5. Juli 1792 liegt in einem zeitgenössischen Druck vor: Friedrich August Schmelzer: Die kaiserliche Wahlkapitulation Seiner Majestät Franz des Zweyten mit kritischen Anmerkungen und einem Versuche ihres Vortrags in gereinigter Kanzelley-Sprache des jetzigen Zeitalters. Helmstädt 1793. Eine historisch-kritische Ausgabe der Wahlkapitulationen der Römischen Könige und Kaiser von 1519 bis 1792 fehlt. – Zum Preßburger Frieden vom 26. Dezember 1805 vgl. knapp Walter Demel/Uwe Puschner (Hrsg.): Von der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß 1789 – 1815 (= Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, Bd. 6). Stuttgart 1995, Nr. 4, S. 44 – 51. Siehe insgesamt Rudolfine Freiin von Oer: Der Friede von Preßburg. Ein Beitrag zur Diplomatiegeschichte des napoleonischen Zeitalters. Münster 1965. – Zum 2. Rheinbund vom 12. Juli 1806 vgl. „Die Rheinbunds-Akte – 1806, Juli 12.“ In: Zeumer: Quellensammlung (wie Anm. 3), Nr. 214, S. 532 – 536. 5 Vgl. dazu Reinhart Staats: Die Reichskrone. Die Selbstmächtigkeit der schönsten Reichskleinodie in deutscher Geschichte. In: Bernd Heidenreich/Frank-Lothar Kroll (Hrsg.): Wahl und Krönung. Frankfurt am Main 2006, S. 151 – 173, hier S. 156 f.

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gesetzliche Oberhaupt des Reichs, durch die Constitution gebunden waren.“6 Kaiser Franz II. löste das Lehensband auf, das ihn bis dahin als Reichslehensherrn mit den Reichsständen als Lehensmännern verbunden und sie in ihrer verfassungsrechtlichen Stellung legitimiert hatte, aber er dankte nicht ab. An keiner Stelle seiner Erklärung vom 6. August 1806 sprach er von Abdankung, weshalb das zehn Blätter umfassende, sprachlich im Hinblick auf rechtliche Konsequenzen höchst umsichtig formulierte Papierlibell in rotem Samteinband auch keine „Abdankungsurkunde“ ist.7 Er beendete das fast tausendjährige Heilige Römische Reich – seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts auch so genannt8 – und wollte mit seiner Entscheidung nicht den Beginn eines die Wahlmonarchie charakterisierenden Interregnums markieren. Napoleon I., seit 2. Dezember 1804 selbsterhobener Kaiser der Franzosen, an der Spitze des Reiches zu verhindern, war wohl nur möglich, wenn es das Reich nicht mehr gab. „Durch die am 6. August laufenden Jahres von mir bewirkte Niederlegung der deutschen Reichsregierung ist nicht eine abermalige Unterbrechung, sondern ein gänzliches Aufhören derselben eingetreten“, bekräftigte der ehemalige Römische Kaiser am 20. Dezember 1806 seine Haltung, als es um die zukünftige Nutzung der Gebäude der früheren Reichshofkanzlei in Wien ging.9 6

„Erklärung des Kaisers Franz II. über die Niederlegung der deutschen Kaiserkrone“ (wie Anm. 3), S. 539. 7 Diese Klassifizierung des Textes findet sich fast durchgängig in der Literatur; vgl. etwa Gero Walter: Der Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und die Problematik seiner Restauration in den Jahren 1814/15 (= Studien und Quellen zur Geschichte des deutschen Verfassungsrechts, Reihe A: Studien, Bd. 12). Heidelberg/Karlsruhe 1980, S. 73 ff., oder Hans Hubert Hofmann (Hrsg.): Quellen zum Verfassungsorganismus des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1495 – 1815 (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit, Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 13). Darmstadt 1976, S. 394 – 396; so auch noch Helmut Neuhaus: Das Reich in der Frühen Neuzeit (= Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 42). 2. Auflage, München 2003 (zuerst 1997), S. 6, 54, 60, 90. Auch Mader: Die letzten „Priester der Gerechtigkeit“ (wie Anm. 14), spricht immer wieder von „Abdankung“, so u. a. S. 152, 154, 156. – Eine Beschreibung der Urkunde der kaiserlichen Erklärung vom 6. August 1806 findet sich in dem Katalog: Österreich und das Heilige Römische Reich. Ausstellung des Österreichischen Staatsarchivs, Haus-, Hof- und Staatsarchiv 25. April – 22. Oktober 2006, hrsg. von der Generaldirektion des Österreichischen Staatsarchivs. Wien 2006, Nr. V/11, S. 105; ebd., Abb. 18, eine Abbildung der letzten Seite mit Unterschriften und Wachssiegel in Siegelkapsel. Siehe auch Hans Ottomeyer/Jutta Götzmann/ Ansgar Reiss (Hrsg.): Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806. Altes Reich und neue Staaten 1495 bis 1806. Katalog. Dresden 2006, S. 472 – 478, insbesondere S. 474 f. (Nr. VI. 118). 8 Zu zeigen, daß das Heilige Römische Reich nicht nur ein neuzeitliches, sondern auch ein mittelalterliches „staatliches“ Gebilde war, ist das Anliegen von Klaus Herbers/Helmut Neuhaus: Das Heilige Römische Reich. Schauplätze einer tausendjährigen Geschichte (843 – 1806). 2. Auflage, Köln/Weimar/Wien 2006 (zuerst 2005). Siehe jetzt auch Helmut Neuhaus: Das Heilige Römische Reich in Mittelalter und Früher Neuzeit. In: Friedrich Edelmayer [u.a.] (Hrsg.): Plus ultra. Die Welt der Neuzeit. Festschrift für Alfred Kohler zum 65. Geburtstag. Münster 2008, S. 21 – 36. 9 Vgl. Walter Ziegler: Franz II. 1792 – 1806. In: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hrsg.): Die Kaiser der Neuzeit 1519 – 1918. Heiliges Römisches Reich, Österreich, Deutschland. München 1990, S. 289 – 306, 492 – 495; ebd., S. 305, das Zitat.

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Weder der sächsische Kurfürst Friedrich August III. noch ein anderer seiner neun Kollegen, unter denen Franz II. zugleich König und Kurfürst von Böhmen war10, ergriff irgendeine Initiative zur Fortsetzung des Reiches. Mit Bayern, Württemberg und Baden waren drei Kurfürsten Mitglieder des Rheinbundes, die sich wie ihre übrigen 15 Bundesgenossen für souverän erklärt hatten11, was mit jeder Lehensbindung unvereinbar war. Ihre Sezession hatten sie am 1. August 1806 mit einer Erklärung beim Regensburger Reichstag zu Protokoll gegeben.12 Aus ihren reichsständischen Gesandten wurden Diplomaten der den Rheinbund bildenden souveränen Fürsten, die von der Donau an den Main wechselten, wo Frankfurt als Sitz des Bundestages bestimmt war. Doch wie sah die Zukunft der ehemaligen Reichsterritorien aus, deren Fürsten seit dem 6. August 1806 keinen Reichslehensherren mehr hatten und die weder Mitglied des Rheinbundes waren, noch sich für souverän erklärt hatten? Und: Was bedeutete das Ende des Alten Reiches für Kursachsen? II. Die Erklärung des Römischen Kaisers Franz II. vom 6. August 1806 dürfte Graf Schönfeld als erster kursächsischer Diplomat, seit 1786 als Erster bevollmächtigter Minister am Kaiserhof in Wien akkreditiert, gelesen haben13, denn sie wurde nach allerlei Spekulationen und Gerüchten am 9. August 1806 in der Samstagsausgabe der Wiener Zeitung Nr. 64 als „Allerhöchste Entschliessung“ veröffentlicht.14 Eine öf-

10 Die übrigen Kurfürsten waren Karl Theodor von Dalberg (1744 – 1817) als Administrator und Erzbischof von Regensburg-Aschaffenburg; Friedrich Wilhelm III. (1770 – 1840) als Markgraf von Brandenburg, zugleich König von Preußen; Maximilian IV. Joseph (1756 – 1825) als Herzog von Bayern; Georg III. (1738 – 1820) als Herzog von Braunschweig-Lüneburg (Hannover), zugleich König von Großbritannien; Karl Friedrich (1728 – 1811) als Markgraf von Baden; Friedrich I. (1754 – 1816) als Herzog von Württemberg; Wilhelm IX. (1743 – 1821) als Landgraf von Hessen-Kassel; Ferdinand von Toskana (1769 – 1824) als Großherzog von Würzburg; vgl. die Übersichten „Die Kurfürsten des Heiligen Römischen Reiches 1356 – 1806“ bei Herbers/Neuhaus: Das Heilige Römische Reich (wie Anm. 8), S. 311 – 315. 11 Vgl. „Die Rheinbunds-Akte – 1806, Juli 12.“. In: Zeumer: Quellensammlung (wie Anm. 3), Nr. 214, S. 532, wo nach Artikel III jedes Reichsmitglied auf jene Titel verzichten mußte, die sich auf das Heilige Römische Reich bezogen; dies war am 1. August 1806 dem Reichstag zu Regensburg anzuzeigen. Der Vertrag des 2. Rheinbundes belegt insofern auch, daß die Reichsstände nicht bereits im Westfälischen Frieden 1648 – wie noch immer verbreitet zu lesen ist – Souveränität erlangt hatten; wären sie seit der Mitte des 17. Jahrhunderts souverän gewesen, hätten sich die Sezessionisten am 12. Juni 1806 nicht für souverän erklären müssen. 12 Vgl. dazu ausführlich Burgdorf: Ein Weltbild verliert seine Welt (wie Anm. 2), S. 131 ff. – Der Text „Erklärung der Rheinbundes-Staaten über ihren Austritt aus dem Reiche. – 1806, Aug. 1.“ bei Zeumer: Quellensammlung (wie Anm. 3), Nr. 216, S. 537 f. 13 Vgl. zu Johann Hilmar Adolf Graf von Schönfeld die Daten. In: Otto Friedrich Winter (Hrsg.): Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder. Bd. 3: 1764 – 1815, Graz/Köln 1965, S. 372. 14 Eric-Oliver Mader: Die letzten „Priester der Gerechtigkeit“. Die Auseinandersetzung der letzten Generation von Richtern des Reichskammergerichts mit der Auflösung des Heiligen

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fentliche Verlesung – gleichsam als letzter Reichsakt – herab von der Loggia der „Kirche zu den neun Chören der Engel“, der heutigen Kirche Am Hof unweit der Wiener Hofburg, ist – wie in der Forschung verbreitet angenommen15 – wohl quellenmäßig nicht nachweisbar. In Regensburg unterrichtete der erzherzoglich-österreichische Reichstagsgesandte Egid Joseph Karl Freiherr von Fahnenberg (1749 – 1827) beim Abschiedsfest Karl Theodor von Dalbergs (1744 – 1817), der am 1. August 1806 sein Amt als Kurerzkanzler vor dem Reichstag niedergelegt hatte16, am 11. August 1806 seine wenigen anwesenden Kollegen, wobei der kursächsische Vertreter Hans Ernst von Globig nicht anwesend war.17 Am 16. Juli hatte er eine Reise nach Eger angetreten und fehlte auch am 1. August, als die Erklärung der Rheinbund-Staaten über ihren Austritt aus dem Heiligen Römischen Reich zur letzten Diktatur des Immerwährenden Reichstages kam.18 Von dort aus verbreitete sich die Meldung und war bis zum 18. August im ganzen ehemaligen Heiligen Römischen Reich bekannt. Globig war seit Dezember 1799 Gesandter seines Kurfürsten in Regensburg gewesen, nachdem er 1775/76 dort ein Praktikum absolviert hatte, er war gleichzeitig Direktor des Corpus Evangelicorum auf dem Reichstag, dessen Vorsitz auch die katholisch gewordenen sächsischen Kurfürsten nach 1697 behalten hatten, und gehörte als Subdelegierter Friedrich Augusts III. bei den Verhandlungen der außerordentlichen Reichsdeputation, die am 25. Februar 1803 zum Reichsdeputationshauptschluß geführt hatten, zu denen, die sich trotz der großen territorialen Veränderungen infolge von Säkularisationen und Mediatisierungen für die weitere Unterhaltung des Reichskammergerichts über die Reichssteuer des Kammerzielers eingesetzt hatten.19 Römischen Reiches Deutscher Nation (= Colloquia Augustana, Bd. 20). Berlin 2005, S. 150 – 154. 15 Vgl. zum Beispiel Karl Otmar Freiherr von Aretin: Heiliges Römisches Reich 1776 – 1806. Reichsverfassung und Staatssouveränität, Teil 1: Darstellung (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte, Bd. 38). Wiesbaden 1967, S. 506; so auch noch Herbers/Neuhaus: Das Heilige Römische Reich (wie Anm. 8), S. 287. Ohne konkreten Bezug auf eine Örtlichkeit: Karl Otmar von Aretin: Das Alte Reich 1648 – 1806, Bd. 3: Das Reich und der österreichisch-preußische Dualismus (1745 – 1806). Stuttgart 1997, S. 527. 16 Albrecht P. Luttenberger: Karl Theodor von Dalberg, das Reich und der Rheinbund. In: Peter Schmid/Klemens Unger (Hrsg.): 1803. Wende in Europas Mitte. Vom feudalen zum bürgerlichen Zeitalter. Begleitband zur Ausstellung im Historischen Museum Regensburg 29. Mai bis 24. August 2003. Regensburg 2003, S. 53 – 79, hier vor allem S. 73 f. 17 Burgdorf: Ein Weltbild verliert seine Welt (wie Anm. 2), S. 95, 137. 18 Karl Härter: Reichstag und Revolution 1789 – 1806. Die Auseinandersetzung des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg mit den Auswirkungen der Französischen Revolution auf das Alte Reich (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 46). Göttingen 1992, S. 638 – 641. – Zur Abreise Globigs: Burgdorf: Ein Weltbild verliert seine Welt (wie Anm. 2), S. 95, 131 f. 19 Dazu siehe „Der Reichsdeputations-Hauptschluß. – 1803, Febr. 25.“. In: Zeumer: Quellensammlung (wie Anm. 3), Nr. 212 a, S. 509 – 528, hier S. 528, §§ 86 – 89. – Vgl. zu Hans Ernst Freiherr von Globig: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 9, Berlin 1879, S. 237 f.;

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Jetzt kehrte er wohl nur noch einmal nach Regensburg ins Palais Löschenkohl, in die Residenz der kursächsischen Gesandtschaft am Immerwährenden Reichstag seit 1746 zurück, um seinen dortigen Amtssitz aufzuheben und am 22. Oktober 1806 endgültig abzureisen.20 Sehr bald nach dem 6. August 1806 befaßten sich die Reichsinstitutionen mit ihrer Auflösung und Abwicklung. Der Reichshofrat begann damit in Wien am 11. August, und das Reichskammergericht stellte seine Arbeit am 16. August ein.21 Mit Friedrich August von Leutsch verließ der letzte kursächsische Assessor nach 15jähriger Amtsdauer Wetzlar, der von Kurfürst Friedrich August III. dorthin präsentiert worden war, nachdem er während des Interregnums nach dem Tod Kaiser Josephs II. (1741 – 1790) am kurzzeitig eingerichteten kursächsischen Reichsvikariats-Hofgericht Assessor gewesen war.22 In der kleinen Reichsstadt an der Lahn waren Leutsch und Globig von 1791 bis 1799 als Reichskammergerichts-Assessoren Kollegen gewesen, denn Globig war im Rahmen der alternierenden evangelischen Kurpräsentationen dort für das Jahrzehnt von 1789 bis 1799 ebenfalls von Kursachsen präsentiert worden.23 Der langgedienten Diplomaten und Juristen Schönfeld, Globig und Leutsch berufliche Zukunft war naheliegenderweise mit der ihres Heimatterritoriums, des ehemaligen kurfürstlichen Herzogtums Sachsen verbunden, in das sie zunächst – zumindest kurzzeitig – zurückkehrten. Wenn man ihren weiteren Weg nach 1806 betrachtet, wird deutlich, welch großen Veränderungen das am 6. August 1806 ebenfalls beendete Kurfürstentum Sachsen unterworfen war, wo – anders als in den den Rheinbund mitbegründenden Kurfürstentümern Bayern, Württemberg und Baden – keinerlei politische und staatsrechtliche Vorkehrungen getroffen worden Neue Deutsche Biographie. Bd. 6, Berlin 1964, S. 456 f.; Winter (Hrsg.): Repertorium (wie Anm. 13), S. 372 f., 377; Sigrid Jahns: Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich, Teil II: Biographien, Bd. 1 (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 26). Köln/Weimar/ Wien 2003, S. 465 – 473; Schmid/Unger (Hrsg.): 1803 (wie Anm. 16), S. 430. 20 Das in den Jahren 1731 bis 1733 errichtete Palais Löschenkohl am Neupfarrplatz gilt als bedeutendstes profanes Rokoko-Gebäude Regensburgs und wurde nach dem Konkurs des in Wien geborenen und gestorbenen Kaufmanns und Bankiers Hieronymus Löschenkohl (1692 – 1755) von 1746 bis 1806 Gesandtschaftsgebäude Kursachsens in der Reichstagsstadt. Das Abreisedatum ergibt sich aus Winter (Hrsg.): Repertorium (wie Anm. 13), S. 373. 21 Mader: Die letzten „Priester der Gerechtigkeit“ (wie Anm. 14), S. 154. Siehe ferner EricOliver Mader: „Heilige Schulden“ des aufgelösten Reiches. Das Problem der Entschädigung des Reichskammergerichtspersonals für den Verlust ihrer Stellen. In: Bernhard Diestelkamp (Hrsg.): Das Reichskammergericht am Ende des Alten Reiches und sein Fortwirken im 19. Jahrhundert (= Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 41). Köln/Weimar/Wien 2002, S. 105 – 142. 22 Vgl. zu Friedrich August Freiherr von Leutsch Jahns: Das Reichskammergericht (wie Anm. 19), S. 282 – 286; zu ihm siehe auch ausführlich Mader: Die letzten „Priester der Gerechtigkeit“ (wie Anm. 14), u. a. S. 186 – 190; ebd., S. 391 – 403, sein Gutachten zur Auflösung des Reiches und des Reichskammergerichts vom 16. September 1806. 23 Jahns: Das Reichskammergericht (wie Anm. 19), S. 285 f. und S. 470 – 472.

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waren: Der Graf von Schönfeld begegnet uns dann bereits im Januar 1807 wieder am Wiener Hof, der ja der des – bereits seit 1804 – Kaisers Franz I. von Österreich geblieben war. Schönfeld blieb dort bis 1809 als sächsischer Botschafter im Range eines bevollmächtigten Ministers akkreditiert.24 Globig, der außer als Reichstagsgesandter von 1803 an auch als diplomatischer Vertreter seines Kurfürsten bei Karl Theodor von Dalberg als Kurerzkanzler und Kurfürst von Regensburg-Aschaffenburg in Regensburg bestellt war, hatte bis Ende März 1807 noch die Funktion eines außerordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Ministers bei diesem inne, der mit der Gründung des Rheinbundes zum Fürstprimas erhoben worden war.25 Die letzten zwei Jahrzehnte seines Lebens war er dann wirklicher Geheimer Rat und Konferenzminister in Dresden und zugleich Direktor der Gesetzeskommission, wofür er als führender, in der Fachwelt allseits anerkannter Theoretiker der Kriminalgesetzgebung besonders qualifiziert gewesen ist.26 Globigs Nachfolger als bevollmächtigter Minister und außerordentlicher Gesandter bei Karl Theodor von Dalberg wurde im Sommer 1807 für ein halbes Jahrzehnt der Freiherr von Leutsch. War die Akkreditierung zunächst beim Fürstprimas des Rheinbundes erfolgt, so wurde sie 1810 auf Dalberg als Großherzog von Frankfurt übertragen, nachdem Napoleon I. das Großherzogtum Frankfurt geschaffen hatte.27 Eine Verpflichtung von Leutsch als diplomatischer Vertreter Friedrich Augusts III. beim Bundestag des Rheinbundes vom 20. Juni 1807 blieb ohne praktische Konsequenzen, denn dieses Gremium wurde nie einberufen.28 Gleichwohl verweist diese Ernennung auf die markantesten politischen und staatsrechtlichen Entscheidungen des ehemaligen Kurfürsten von Sachsen, die auch alle anderen Berufungen nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches erklären: auf den Posener Vertrag vom 11. Dezember 1806.29

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Winter (Hrsg.): Repertorium (wie Anm. 13), S. 376. Ebd., S. 372, 377; Luttenberger: Karl Theodor von Dalberg (wie Anm. 16), S. 73. Zu Globig siehe auch Mader: Die letzten „Priester der Gerechtigkeit“ (wie Anm. 14), S. 48, 82, 203 f. und öfter. 26 Vgl. dazu Jahns: Das Reichskammergericht (wie Anm. 19), S. 469, 472 f. 27 Winter (Hrsg.): Repertorium (wie Anm. 13), S. 377 und S. 373. 28 Jahns: Das Reichskammergericht (wie Anm. 19), S. 285. 29 Die Ausfertigung des Posener Vertrages befindet sich im Sächsischen Hauptstaatsarchiv (HStA) Dresden: 10699 Neuere Urkunden, K. 625, Nr. 1; ebd., Nr. 2, die geheimen Zusatzartikel. Die Kabinettsakten zu den Friedensverhandlungen ebd.: 10026 Geheimes Kabinett, Loc. 2761/1 – 8. Die offizielle Publikation des Friedensvertrages. In: HStA Dresden: 10036 Finanzarchiv, Loc. 33035, Rep. LII, Gen., Nr. 2304, fol. 28r-31v : „Trait de paix entre Sa Majest lEmpereur des FranÅais, Roi dItalie, et Sa Majest Le Roi de Saxe, concl et sign  Posen, le 11. Decembre 1806. Imprim par ordre de la Cour  Dresden se trouve chez Charles Chrtien Meinhold, Imprimeur de la Cour“. Eine weitere zeitnahe Publikation des Friedens – mit Erläuterungen – findet sich in: Neues Wittenbergisches Wochenblatt, bestimmt für locale und provinzielle Verhältnisse, und für Oekonomie, Industrie und Literatur überhaupt, Nr. 3, 17. Januar 1807, S. 13 – 20. 25

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III. Der auf halbem Weg zwischen Berlin und Warschau in der ab 1807 zum Großherzogtum Warschau gehörenden alten polnischen Bischofs- und Herzogsstadt an der Warthe vereinbarte Vertrag ist gleichsam die von Napoleon I. als Kaiser der Franzosen ausgestellte Gründungsurkunde des Königreichs Sachsen. Der französische General Graud-Christophe-Michel Duroc (1772 – 1813) und Friedrich Augusts III. Oberkammerherr Friedrich Wilhelm August Karl Graf von Bose (1753 – 1809) vereinbarten einen Friedens- und Akzessionsvertrag, mit dem der ehemalige Kurfürst von Sachsen dem am 12. Juli 1806 in Paris geschlossenen Konföderations- und Allianztraktat Napoleons I. mit 16 Reichsständen30 beitrat und den Königstitel annahm.31 Als 18. Mitglied des Rheinbundes – am 15. September 1806 war der kurzzeitige Kurfürst und Großherzog von Würzburg, Ferdinand von Toskana (1769 – 1824), dem Rheinbund beigetreten32 – sollte König Friedrich August I. von Sachsen – wie er nunmehr hieß – alle Rechte und Pflichten in der Weise erhalten, als wenn er schon Gründungsmitglied gewesen wäre.33 Dazu gehörte vor allem auch die Erlangung der Souveränität, womit der ungeklärte staatsrechtliche Zustand des ehemaligen Kurfürstentums Sachsen seit dem 6. August 1806 ein Ende fand. Allerdings konnte der König von Sachsen nicht mehr – wie die tatsächlichen Gründungsmitglieder des Rheinbundes – durch Austritt aus dem Heiligen Römischen Reich am 1. August 1806 souverän werden, denn dieses existierte seit dem 6. August nicht mehr. Dem Range nach kam ihm der Platz nach den Königen von Bayern und Württemberg zu. Aber im Unterschied zu den beiden süddeutschen Königreichen, in denen neugeschaffene königliche Insignien die Rangerhöhungen der ehemaligen Kurfürsten sichtbar werden ließen34, verzichtete der König von Sachsen nach seiner zeremoniell wenig aufwendigen Proklamation am 20. Dezember 1806 in Dresden35 darauf und wurde – wie seine sechs Nachfolger bis 1918 – zum König ohne Krone.

30 Vgl. „Die Rheinbunds-Akte. – 1806, Juli 12.“. In: Zeumer: Quellensammlung (wie Anm. 3), Nr. 214, S. 532 – 536. Zum 2. Rheinbund siehe unter anderem Georg Schmidt: Der napoleonische Rheinbund – ein erneuertes Altes Reich? In: Volker Press (Hrsg.): Alternativen zur Reichsverfassung in der Frühen Neuzeit? Nach dem Tod des Herausgebers bearbeitet von Dieter Stievermann (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, Bd. 23). München 1995, S. 227 – 246. 31 „Trait de paix“ (wie Anm. 29), Artikel 2 und 3, fol. 29v,30r. 32 Wolfgang Altgeld/Matthias Stickler (Hrsg.): „Italien am Main“. Großherzog Ferdinand III. von Toskana als Großherzog und Kurfürst von Würzburg (= Historische Studien der Universität Würzburg, Bd. 7; Mainfränkische Studien, Bd. 75). Rahden/Westf. 2007. 33 „Trait de paix“ (wie Anm. 29), Artikel 2, fol. 29v. 34 Vgl. dazu: Johannes Erichsen/Katharina Heinemann (Hrsg.): Bayerns Krone 1806. 200 Jahre Königreich Bayern. München 2006. Das Königreich Württemberg 1806 – 1918. Monarchie und Moderne. Stuttgart 2006. 35 Siehe dazu die 47seitige Druckschrift „Beschreibung der Feierlichkeiten bei der am 20. December 1806 erfolgten Ausrufung der Königswürde des Allerdurchlauchtigsten und Großmächtigsten Königs, Friedrich August zu Sachsen, nebst der den folgenden Tag statt

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Als der Posener Friedensschluß am 17. Dezember in Dresden bekannt geworden war, wurde am 20. Dezember, nachmittags um drei Uhr, nachdem der ehemalige Kurfürst Friedrich August III. „die Würde eines Königs von Sachsen“ angenommen hatte, von Hof-Fourier Kühn als Herold im Schloßhof folgende Proklamation „unter dem Donner der Kanonen“ verkündet: „Nachdem durch die allweise Vorsehung Gottes es dahin gediehen ist, daß die bisherigen Churfürstlichen Lande zu einem Königreiche erhoben worden sind, so wird der Allerdurchlauchtigste und Großmächtigste Fürst und Herr, Herr Friedrich August, als König von Sachsen, hiermit feyerlich ausgerufen, und dieses Seinem getreuen Volk kund und zu wissen gethan. Lange und glücklich lebe und regiere Friedrich August, unser allergnädigster König!“36 Wer oder was das Herzogtum und ehemalige Kurfürstentum Sachsen „zu einem Königreiche erhoben“ hatte, blieb unausgesprochen. Neben der Erhebung zum Königtum und der Erlangung der Souveränität wurde innenpolitisch eine Neuerung von tiefgreifender Bedeutung eingeführt, wenn in Artikel 5 des Posener Vertrages festgestellt wurde, daß im Königreich Sachsen die Abhaltung der römisch-katholischen Messe der Ausübung des lutherischen Gottesdienstes vollkommen gleichgestellt werden und die Untertanen beider Konfessionen ohne Einschränkungen die bürgerlichen und politischen Rechte genießen sollten.37 Diese wohl von Napoleon I. persönlich angestrebte Gleichberechtigung der Konfessionen, zu der es nach der Konversion Kurfürst Friedrich Augusts I. (1670 – 1733) im Jahre 1697 und danach nicht gekommen war38, nahm keine Rücksicht mehr auf das sich mit dem Luthertum identifizierende Selbstverständnis des Landes. Unter anderem auch dafür sicherte der Frieden in Artikel 4 die Integrität des neuen Königreiches, denn ohne Einverständnis des Rheinbundes sollte keiner nicht zu ihm gehörenden fremden Macht – aus welchem Grund auch immer – der Durchmarsch von Truppen erlaubt sein.39 Zudem sagte Napoleon I. dem sächsischen König zu, daß er in einem künftigen Friedensvertrag mit Preußen von den Hohenzollern die brandenburgische Exklave Kottbus in der Niederlausitz erhalten sollte40, was Bestandteil des Friedens von Tilsit vom 9. Juli 1807 zwischen Frankreich und Preußen wurde.41 Dafür hatte Sachsen ein an Bevölkerung, Fläche und sonstigen Gegebenheiten vergleichbares, in den Grenzen noch festzulegendes Gebiet um Erfurt und mit dem Eichsfeld an einen noch zu benennenden Fürsten mit vollem Eigentum und uneingehabten Beleuchtung der Königl. Haupt- und Residenz-Stadt Dresden. Gedruckt und zu finden bei Carl Christian Meinhold, Königl. Hofbuchdrucker“, wohl 1807. 36 „Beschreibung der Feierlichkeiten“ (wie Anm. 35), S. 3 f. 37 „Trait de paix“ (wie Anm. 29), Artikel 5, fol. 30r,v. 38 Helmut Neuhaus: Friedrich August I. 1694 – 1733. In: Kroll (Hrsg.): Die Herrscher Sachsens (wie Anm. 1), S. 173 – 191, 337 – 340, insbesondere S. 184. 39 „Trait de paix“ (wie Anm. 39), Artikel 4, fol. 30r. 40 Ebd., Artikel 6, fol. 30v. 41 Vgl. „Der Friede von Tilsit“. In: Demel/Puschner (Hrsg.): Von der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß 1789 – 1815 (wie Anm. 4), Nr. 5, S. 52 – 56, hier Artikel XII, S. 55.

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geschränkter Souveränität abzutreten.42 Erfurt und das Eichsfeld waren im Reichsdeputationshauptschluß vom 25. Februar 1803 zum Ausgleich für linksrheinische Verluste an den Kurfürsten von Brandenburg und König von Preußen gefallen43, der diese Erwerbungen 1806/07 wieder verloren hatte. Während das Eichsfeld zu den nach dem Tilsiter Frieden von König Friedrich Wilhelm III. abzugebenden Gebieten zwischen Rhein und Elbe gehörte44 und östlichster Teil des neuen Königreichs Westfalen wurde45, blieb Erfurt bis 1813 Napoleons I. „Domaine reserve  lempereur“, wo der Franzose vom 27. September bis 14. Oktober 1808 jenen Fürstenkongreß abhielt, der ihn in Anwesenheit fast aller Mitglieder des Rheinbundes auf dem Höhepunkt seiner Macht zeigte46 und wo es – außer zu Gesprächen mit dem Dichter Christoph Martin Wieland (1733 – 1813) und dem Historiker Johannes von Müller (1752 – 1809) – am 2. Oktober 1808 in der ehemaligen Kurmainzischen Statthalterei auch zur Begegnung des Kaisers der Franzosen mit Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) kam.47 Schließlich wurde im Posener Vertrag das militärische Kontingent des Königreichs Sachsen für den Kriegsfall auf 20.000 Mann aller Waffengattungen festgelegt48 und bestimmt, daß im noch nicht beendeten Vierten Koalitionskrieg von 1806/ 07, aus dem Sachsen als Verbündeter Preußens und Rußlands ausgeschieden war, der sächsische König lediglich 1.500 Mann Kavallerie, 4.200 Mann Infanterie, 300 Mann Artillerie sowie zwölf Kanonen zu stellen hatte.49 Zudem wurde von den Vertragschließenden vereinbart, daß mit Abschluß des Friedens, den Hugo Bernard Maret (1763 – 1839) als Vertrauter Napoleons I. und Charles Maurice Talleyrand (1754 – 1838) als französischer Außenminister am 12. Dezember 1806 in Posen ratifizierten, sämtliche Kontributionsforderungen an Sachsen entfielen.50 Als Akzessionsvertrag zum Beitritt des ehemaligen Kurfürstentums Sachsen zum Rheinbund markierte der Posener Vertrag die erfolgreiche Politik Napoleons I. auf dem Boden des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches. Mit den Herzögen von Sachsen-Weimar und Eisenach, Sachsen-Gotha, Sachsen-Meiningen, SachsenHildburghausen und Sachsen-Coburg traten am 15. Dezember 1806 fünf weitere ehemalige Reichsstände mit Erlangung der Souveränität dem Rheinbund bei; An42

„Trait de paix“ (wie Anm. 29), Artikel 7, fol. 30v, 31r. Vgl. den Reichsdeputations-Hauptschluß (wie Anm. 19), § 3, S. 511. 44 „Der Friede von Tilsit“ (wie Anm. 41), Artikel VII, S. 53, Artikel X, S. 55. 45 Vgl. dazu Klaus Rob (Bearb.): Regierungsakten des Königreichs Westphalen 1807 – 1813 (= Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten, Bd. 2). München 1992. 46 Werner Greiling: Napoleon in Thüringen. Wirkung – Wahrnehmung – Erinnerung. Erfurt 2006; ebd., S. 109 – 117, zum Erfurter Fürstenkongreß. 47 Siehe hierzu Robert Steiger: Goethes Leben von Tag zu Tag. Eine dokumentarische Chronik. Bd. 5: 1807 – 1813. Zürich/München 1988, S. 238 – 241. Glänzend insgesamt: Gustav Seibt: Goethe und Napoleon. Eine historische Begegnung. München 2008. 48 „Trait de paix“ (wie Anm. 29), Artikel 8, fol. 31r. 49 Ebd., Artikel 9, fol. 31r. 50 Ebd., Artikel 10, 11, fol. 31r, 31v. 43

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halt-Dessau, Anhalt-Bernburg, Anhalt-Köthen, Oldenburg, Lippe-Detmold, Schaumburg-Lippe, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen, vier Linien Reuß und Waldeck folgten mit dem Warschauer Akzessionsvertrag vom 18. April 1807, schließlich am 10. Februar beziehungsweise 22. März 1808 die Herzöge von Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz.51 Nach der Erweiterung um das Königreich Westphalen am 15. November 180752 erstreckte sich der Rheinbund vom Rhein bis an die Elbe und die dorthin verlegte Westgrenze des Königreichs Preußen, im Nordosten bis an die Grenze Schwedisch-Pommerns und mit der Ostgrenze des Königreichs Sachsen bis an die Oder und über die Görlitzer Neiße hinaus. Angrenzend an Brandenburg und Schlesien als Teilen des nach Westen ausgreifenden Königreichs Preußen sowie an Böhmen als Teil des jungen Kaiserreichs Österreich blieb das Königreich Sachsen geopolitisch in lange vertrauter Nachbarschaft53, die die Dresdener Politik zwischen Berlin und Wien geprägt hatte. Im Ergebnis des Posener Vertrages wird – zugespitzt formuliert – die traditionelle reichs- und kaisertreue Politik der sächsischen Kurfürsten, für die bis zum 6. August 1806, bis zuletzt insbesondere auch Friedrich August III. gestanden hatte54, abgelöst durch eine dem neuen Kaiser der Franzosen und dem von ihm dominierten Rheinbund zugewandte Haltung, die zugleich – wie die Bestimmungen über Gebietsveränderungen zeigen – entschieden antipreußisch formuliert wurde. IV. Der Posener Vertrag vom 11. Dezember 1806 aber war nicht nur ein Akzessionsvertrag – den Beitritt des sächsischen Monarchen zum Rheinbund betreffend –, sondern auch ein Friedensvertrag, der das kriegerische Engagement Friedrich Augusts III. im Vierten Koalitionskrieg gegen Napoleon I. beendete. Zur militärischen Konfrontation, die auch für Sachsen in der Schlacht von Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 zum Debakel wurde55, war es gekommen, weil der ehemalige 51 Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. 1: Reform und Restauration 1789 bis 1830. Zweite, verbesserte Auflage, Stuttgart [u. a.] 1957, S. 75. 52 Ebd., S. 88 – 90. 53 Siehe dazu die Karte „Die französische Neuordnung Mitteleuropas bis zum Frieden v. Tilsit 1807“ (mit der eingezeichneten Grenze des Rheinbundes). In: Westermanns großer Atlas zur Weltgeschichte, hrsg. von Hans-Erich Stier [u. a.]. Berlin [u. a.] 1965 [und öfter], S. 124. 54 Der Nürnberger Buchhändler Johann Philipp Palm (1766 – 1806) publizierte im Juli 1806 eine 144seitige gegen Napoleon I. gerichtete Streitschrift „Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung“, für deren Veröffentlichung er am 26. August 1806 in Braunau am Inn hingerichtet wurde. In einem „Sachsen“ überschriebenen Schlußabschnitt, in dem Kurfürst Friedrich August III. panegyrisch gefeiert wurde, sprach sich der unbekannte Autor für die Erhebung des Kurfürstentums zum Königreich aus, nachdem Bayern und Württemberg diesen Schritt bereits getan hatten; vgl. Heinrich Merkens: Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung. Würzburg 1877; siehe auch Uwe Meier: Palm, Johann Philipp. In: NDB. Bd. 20, Berlin 2001, S. 20 f. 55 Siehe dazu zuletzt: Jena und Auerstedt. Ereignis und Erinnerung in europäischer, nationaler und regionaler Perspektive (= Veröffentlichungen des Landesheimatbundes Sachsen-

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sächsische Kurfürst auch über den epochemachenden 6. August 1806 hinweg an seiner obsolet gewordenen Reichstreue und seiner Neutralitätspolitik festhielt. Offenbar sah man in Dresden lange Zeit nicht die Unhaltbarkeit eines Zustandes, der dadurch gekennzeichnet war, nicht mehr reichslehenspflichtig zu sein, aber sich auch noch nicht für souverän erklärt zu haben, obwohl die Frage, was bei Auflösung des Heiligen Römischen Reiches mit jenen ehemaligen Reichsterritorien geschehen solle, die nicht zum Rheinbund gehörten, Napoleon wie die preußische Politik beschäftigten.56 Immerhin sprach man Mitte August 1806, als Herzog Karl August von Sachsen-Weimar (1757 – 1828) in Dresden weilte, auch über die Zukunft der sächsischen und thüringischen Territorialstaaten und verhandelte über die Einrichtung eines gemeinsamen Oberappellationsgerichts, das für den Herrschaftsbereich des Hauses Wettin an die Stelle des aufgelösten Reichskammergerichts treten sollte.57 Insgesamt prägten aber Orientierungslosigkeit, Unsicherheit und Angst vor Mediatisierungen das Klima. Im Raum standen bereits seit Juli 1806 von Napoleon I. ausgehende und in Berlin vom aus Schlesien stammenden preußischen Außenminister Christian Graf von Haugwitz (1752 – 1832) und Karl August von Hardenberg (1750 – 1822) als seinem Nachfolger und Vorgänger im Amt aufgegriffene Vorschläge, die nicht zum Rheinbund gehörenden norddeutschen Länder zu einem Norddeutschen Bund, zu einer „Confdration du Nord“ zusammenzufassen.58 Vom 10. Juli 1806 datiert im übrigen eine Denkschrift des Grafen Haugwitz zur „sret du nord de lAllemagne“59, und es waren Entwürfe zu Bündnisverträgen norddeutscher Territorien vorgelegt worden, die nicht dem Rheinbund angehörten: „Entwurf eines Bündniß-Vertrags zwischen Preußen und den Kurfürstenthümern Sachsen und Hessen“60 sowie „Entwurf eines Anhalt e.V. zur Landes-, Regional- und Heimatgeschichte, Bd. 3). Dößel (Saalekreis) 2006; Holger Nowak/Birgitt Hellmann (Hrsg.): Die Schlacht bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806. Jena 2005; Gerd Fesser: Umbruch im Schatten Napoleons: die Schlachten von Jena und Auerstedt und ihre Folgen. Jena 1998. – Vgl. insgesamt Dorit Petschel: Sächsische Außenpolitik unter Friedrich August I. Zwischen Rtablissement, Rheinbund und Restauration. Köln/ Weimar/Wien 2000. 56 Burgdorf: Ein Weltbild verliert seine Welt (wie Anm. 2), S. 189 ff. 57 Ebd., S. 190. – Siehe auch Schreiben Großherzog Carl Augusts von Sachsen-Weimar an Zar Alexander I. von Rußland vom 28. August 1806. In: Hans Tümmler (Bearb.): Politischer Briefwechsel des Herzogs und Großherzogs Carl August von Weimar. Bd. 2: Vom Beginn der Revolutionskriege bis in die Rheinbundzeit 1791 – 1807, hrsg. von Willy Andreas (= Quellen zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 38). Stuttgart 1958, Nr. 410, S. 317 – 319. 58 Vgl. Tagebucheintrag Hardenbergs zum 1. August 1806: Thomas Stamm-Kuhlmann (Hrsg.): Karl August von Hardenberg 1750 – 1822. Tagebücher und autobiographische Aufzeichnungen (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 59). München 2000, S. 427. 59 Vgl. Actenstücke zu den Denkwürdigkeiten des Fürsten von Hardenberg (= Leopold von Ranke [Hrsg.], Denkwürdigkeiten des Staatskanzlers Fürsten von Hardenberg, Bd. 5). Leipzig 1877, S. 349 – 356. 60 Ebd., S. 383 – 387.

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Bündniß-Vertrags zwischen Preußen und dem Kurfürstenthum Hessen“, in dem – vom Ende des Heiligen Römischen Reiches am 6. August 1806 ausgehend – in der Präambel formuliert wurde: „Es ist daher sicher vorauszusetzen, daß, wenn bei solchen Umständen der nördliche Theil Deutschlands isolirt, ohne Stütze und Vereinigungspunkt dastehen müsse, dasselbe einer allgemeinen Zerrüttung unausweichlich entgegen gehen würde“; es sei „im nördlichen Deutschland eine auf die Erhaltung und Vertheidigung des Ruhestandes und der Sicherheit desselben gegen jede äußere Gefahr abzweckende föderative Verbindung zu bilden“.61 Indem der sachsen-weimarische Minister Christian Gottlob Voigt (1743 – 1819) seinem Kollegen Goethe am 25. August 1806 von der aus Berlin an den Herzog ergangenen „vorläufigen Einladung zur neuen Konföderation“ berichtete, kommentierte er diese Mitteilung: „In Berlin glaubt man, daß der König sich alsdann zum Kaiser von Norddeutschland erklären und Sachsen und Hessen zu – Königen machen werde. Denn ein rechter Kaiser muß gleich auch Könige kreieren“62 – wie es auch Napoleon getan habe. Dazu kam es bekanntlich nicht, sondern Napoleon I. schuf mit Sachsen ein weiteres Königreich. Doch zuvor konnte sich Friedrich August III. dem preußischen Druck nicht widersetzen, in eine Koalition gegen Frankreich einzutreten. Dem unentschlossen abwartenden, um gute Beziehungen zu Napoleon bemühten ehemaligen Kurfürsten wies Preußen mit seiner die eigenen Kräfte finanziell und militärisch völlig überschätzenden Mobilmachung gegen Frankreich am selben 6. August 1806, an dem Franz II. in Wien das Heilige Römische Reich für beendet erklärte und dessen Kaiserkrone niederlegte, einen – allerdings sehr kurzen – Weg in die Zukunft. Indem Napoleon an diesem Tag ultimativ aufgefordert wurde, seine Truppen von den preußischen Grenzen zurückzuziehen, am 26. September 1806 gar, Süddeutschland und Westfalen zu räumen und die Gründung eines Norddeutschen Bundes nicht zu behindern, gab Preußen seine seit dem Baseler Frieden von 1795 über ein Jahrzehnt eingehaltene Neutralität auf und machte auch Sachsen – wie oftmals in der Vergangenheit – zum Durchmarschgebiet für seine Truppen. Ohne ausreichende Vorbereitungen erklärte der preußische König Friedrich Wilhelm III. am 9. Oktober 1806 Napoleon I. den Krieg, Friedrich August III. und Karl August von SachsenWeimar an seiner Seite wissend, aber viel zu schwach, um siegreich sein zu können. Die Niederlage bei Jena und Auerstedt keine Woche später – am 14. Oktober 1806 – bedeutete für Preußen den staatlichen Zusammenbruch: Was im Westen auf fremdem Territorium mit dem Krieg gegen Frankreich als Flucht nach vorne be61 Actenstücke (wie Anm. 59), S. 287 – 391, hier S. 388 f. Dazu siehe auch Leopold von Ranke (Hrsg.): Denkwürdigkeiten des Staatskanzlers Fürsten von Hardenberg. Bd. 3. Leipzig 1877, S. 150. 62 Hans Tümmler (Hrsg.): Goethes Briefwechsel mit Christian Gottlob Voigt. Bd. 3. Weimar 1955, S. 125. Siehe auch Burgdorf: Ein Weltbild verliert seine Welt (wie Anm. 2), S. 192. – Am 12. Oktober 1806 berichtete der sachsen-weimarische Resident in Berlin, Tobias Faudel, an Voigt, daß „die nordische Bundesangelegenheit“ ruhe: Tümmler (Hrsg.): Politischer Briefwechsel (wie Anm. 57), Nr. 431, S. 331.

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gonnen worden war, endete in der Flucht nach hinten an die Ostgrenze des Königreichs. Für Sachsen brachte sie die Abkehr vom erzwungenen Bündnis mit Preußen, den Posener Friedensvertrag vom 11. Dezember 1806 und die feste Einbindung in das bis an die Oder ins östliche Mitteleuropa vorgeschobene napoleonische Herrschaftssystem. Gleichermaßen zu antipreußischer Haltung und französischer Instrumentalisierung gezwungen, mußte König Friedrich August I. zudem das von Napoleon I. geschaffene Großherzogtum Warschau übernehmen und sich damit in Polen – wie auch immer – engagieren, was er als Kurfürst von Sachsen eineinhalb Jahrzehnte zuvor aus wohlerwogenen Gründen und gleichsam aus der sächsischen Geschichte des 18. Jahrhunderts lernend abgelehnt hatte. Die berühmte polnische Verfassung vom 3. Mai 1791 hatte bestimmt, „daß der polnische Thron auf immer ein Familienwahlthron seyn soll“, der „nach dem Gesetze der Erbfolge zu vergeben“ war.63 Nach dem Tod des 1764 gewählten polnischen Königs Stanislaw August Poniatowski (1732 – 1798) sollte „die Dynastie der künftigen Könige von Polen“ – so hieß es in der Mai-Verfassung weiter – „mit der Person Friedrich Augusts, jetzigen Churfürsten von Sachsen, ihren Anfang nehmen, dessen Nachkommen de lumbis männlichen Geschlechts wir den polnischen Thron bestimmen.“64 Dazu kam es nicht, zumal das Königreich Polen mit seiner dritten Teilung durch Österreich, Rußland und dann auch Preußen und mit der Abdankung König Stanislaw Augusts am 25. November 1795 von der Landkarte verschwand. Nach dem Posener Vertrag aber hatte Friedrich August I. keine Wahl, nachdem Ende November 1806 französische Truppen unter der Führung General Murats (1767 – 1815) die polnische Hauptstadt Warschau eingenommen hatten und die Gründung des Großherzogtums Warschau für Napoleon in den Tilsiter Verträgen vom 7. und 9. Juli 1807 mit Rußland einerseits, Preußen andererseits beschlossene Sache war.65 Von Dresden aus erließ der Kaiser der Franzosen, nicht der in Tilsit zum Großherzog bestellte König von Sachsen, am 22. Juli 1807 eine Verfassung für das neue staatliche Gebilde, das hauptsächlich aus den preußisch gewordenen Provinzen 63

Vgl. den Text der „Verfassung vom 3. Mai 1791“. In: Die europäischen Verfassungen seit dem Jahre 1789 bis auf die neueste Zeit. Mit geschichtlichen Erläuterungen und Einleitungen von Karl Heinrich Ludwig Pölitz: Bd. 3, 3. Auflage. Leipzig 1833, S. 8 – 16, hier S. 12; siehe auch die Übersetzung bei Walerian Kalinka: Der vierjährige Polnische Reichstag 1788 – 1791, Bd. 2. Berlin 1898, S. 746. 64 Ebd.; siehe dazu Agatha Kobuch: Das Angebot der polnischen Königskrone an Kurfürst Friedrich August III. von Sachsen durch die Verfassung der Rzeczpospolita vom 3. Mai 1791 (= Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse, Bd. 74, Heft 1). Berlin 1994. 65 „Der Friede von Tilsit“ (wie Anm. 41), Artikel XV, S. 55. – Zwei Tage vor dem Vertrag zwischen Frankreich und Preußen hatte Napoleon durch Talleyrand am 7. Juli 1807 ebenfalls in Tilsit mit Rußland Frieden geschlossen, das das Herzogtum Warschau anerkennen mußte; vgl. zur Übersicht Helmuth K.G. Rönnefarth (Bearb.): Konferenzen und Verträge. Vertrags-Ploetz, ein Handbuch geschichtlich bedeutsamer Zusammenkünfte und Vereinbarungen, Teil II, Bd. 3: Neuere Zeit 1492 – 1914. 2. Auflage, Würzburg 1958, S. 234 f.

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gebildet wurde, die bis 1772 zum Königreich Polen gehört hatten. Die österreichischen und russischen Erwerbungen aus den drei Teilungen Polens in den Jahren 1772, 1793 und 1795 blieben davon unberührt. Daß König Friedrich August I. mit den Tilsiter Friedensverträgen zusammen mit König Friedrich Wilhelm III. von Preußen auch Protektor der zum Freistaat, zur Freien Stadt erhobenen, erst seit 1793 preußischen Stadt Danzig wurde, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt66, macht aber noch einmal deutlich, wie eng die sächsische Geschichte nach dem 6. August 1806 mit der preußischen verbunden blieb. V. Was mit Blick auf die Erringung der Souveränität, den Aufstieg zum Königreich, den Erwerb des Kreises Kottbus und dem Zugewinn des Großherzogtums Warschau formal eine glänzende Karriere des sächsischen Königs Friedrich August I. zu Beginn des 19. Jahrhunderts beschreibt und mit dem Besuch Napoleons in Dresden im Juli 1807 gleichsam besiegelt wurde, nahm sich tatsächlich sehr viel bescheidener aus, wozu dann auch der Verzicht auf eine Krone für den sächsischen König paßt. Dieser Widerspruch zwischen Schein und Wirklichkeit lag einerseits in den Umständen der äußeren Erfolge begründet, die sämtlich von Napoleon I. bestimmt waren und für die Sachsen mit der Duldung und dem Unterhalt der französischen Besatzung sowie mit der Unterstützung der fortschreitenden militärischen Aktivitäten des Kaisers der Franzosen und Herrn Europas zu zahlen hatte. Andererseits ist für diesen Widerspruch die eher zurückhaltende, wenig entscheidungsfreudige Natur des ersten Königs von Sachsen verantwortlich, der keine gestalterischen Fähigkeiten entfaltete, aber auch keine Männer entsprechenden Kalibers um sich hatte, die wie Hardenberg und Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein (1757 – 1831) im Königreich Preußen oder Maximilian Joseph Graf von Montgelas (1759 – 1838) im Königreich Bayern tätig wurden.67 In den Jahren 1806/07 und in der Zeit danach bis zum Wiener Kongreß von 1814/15 jedenfalls kam es im Königreich Sachsen zu keinerlei inneren, Wirtschaft und Verwaltung, Bildungswesen und Militär betreffenden Reformen. Insgesamt geriet das östlichste Mitglied des Rheinbundes mit seinem erzwungenen Bündniswechsel an die Seite Frankreichs vom Regen in die Traufe. Die Hauptrolle im Grenzbereich zum östlichen Mitteleuropa spielten andere, Frankreich zumal bis zur Völkerschlacht von Leipzig vom 16. bis 19. Oktober 1813, aber nach so manchem Desaster ein Jahrzehnt später erneut die tonangebenden Mächte des 18. Jahrhunderts: Rußland, Österreich und Preußen – freilich in einer völlig veränderten Welt, um die Beschreibung des Anfangs noch einmal aufzunehmen. An die Stelle der Einbindung in das Alte Reich und in das frühneuzeitliche Europa mußten neue Bezüge treten. 66

„Der Friede von Tilsit“ (wie Anm. 41), Artikel XIV, S. 55, Artikel XIX, S. 56. So in einer biographischen Skizze Karlheinz Blaschke: Detlev von Einsiedel (1773 – 1861). In: Kurt G. A. Jeserich/Helmut Neuhaus (Hrsg.): Persönlichkeiten der Verwaltung. Biographien zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1648 – 1945. Stuttgart/Berlin/Köln 1991, S. 107 – 111, hier S. 108. 67

Staatsorganisation und Nationalitätenfrage in der Habsburgermonarchie 1804 – 1918 Von Matthias Stickler (Würzburg) Der österreichische Dichter Stefan Zweig (1881 – 1942) hat in seinem Anfang der 1940er Jahre im südamerikanischen Exil verfaßten Werk „Die Welt von Gestern“ die Zeit der späten Habsburgermonarchie1 als „das goldene Zeitalter der Sicherheit 1

Die Literatur zur Geschichte der Habsburgermonarchie ist Legion. Vgl. v. a. folgende Werke: Harm-Hinrich Brandt: Parlamentarismus als staatliches Integrationsproblem. Die Habsburger-Monarchie. In: Adolf M. Birke/Kurt Kluxen (Hrsg.): Deutscher und Britischer Parlamentarismus, British and German Parliamentarism. München/New York/Paris 1985, S. 69 – 106; Wilhelm Brauneder: Die Habsburgermonarchie als zusammengesetzter Staat. In: Hans-Jürgen Becker (Hrsg.): Zusammengesetzte Staatlichkeit in der Europäischen Verfassungsgeschichte (Beihefte zur „Der Staat“, Bd. 16). Berlin 2006, S. 197 – 236; Mark Cornwall (Hrsg.): Die letzten Jahre der Donaumonarchie. Essen 2004 (englische OA 2002); Hugo Hantsch: Die Geschichte Österreichs. Bd.1, 2. Graz/Köln 4. bzw. 5. Aufl., 1969/1968; Hans Peter Hye: Das politische System in der Habsburgermonarchie. Konstitutionalismus, Parlamentarismus und politische Partizipation. Prag 1998; Robert A. Kann: Geschichte des Habsburgerreiches 1526 – 1918 (Forschungen zur Geschichte des Donauraumes, Bd. 4). 2. Aufl. Wien 1982 (englische OA 1974); Ders.: Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. Geschichte und Ideengehalt der nationalen Bestrebungen vom Vormärz bis zur Auflösung des Reiches im Jahre 1918, 2 Bde. Graz/Köln, 2. Auflage, 1964 (englische OA 1950); Robin Okey: The Habsburg Monarchy from Enlightment to Eclipse. New York 2001; Helmut Rumpler: 1804 – 1914. Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie. Wien 1997; Alan Sked: Der Fall des Hauses Habsburg. Der unzeitige Tod eines Kaiserreichs. Berlin 1993 (englische OA 1989, London2 2001); Gerald Stourzh: Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848 – 1918. Wien 1985; Adam Wandruszka [ab Bd. 7 Helmut Rumpler]/Peter Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918. Bisher 8 Bände erschienen. Wien 1973 ff.; Erich Zöllner: Geschichte Österreichs. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 8. Aufl. Wien/München 1990. Zuverlässig über die gedruckten Quellen zum Thema informieren: Wolfram Siemann (Bearb.): Restauration, Liberalismus und nationale Bewegung (1815 – 1870). Akten, Urkunden und persönliche Quellen (Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Gegenwart, Bd. 4). Darmstadt 1982 [Erweiterte Neuauflage von Winfried Baumgart auf CDROM, Darmstadt 2004]; Winfried Baumgart (Bearb.): Das Zeitalter des Imperialismus und des Ersten Weltkrieges (1871 – 1918). Persönliche Quellen (Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Gegenwart, Bd. 5.1.). 2. Aufl. Darmstadt 1991 [Erweiterte Neuauflage von Winfried Baumgart auf CD-ROM, Darmstadt 2004]; Ders. (Bearb.): Das Zeitalter des Imperialismus und des Ersten Weltkrieges (1871 – 1918). Akten und Urkunden (Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Gegenwart, Bd. 5.2.). 2. Aufl. Darmstadt 1991 [Erweiterte Neuauflage von Winfried Baumgart auf CD-ROM, Darmstadt 2004].

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bezeichnet“: „Alles in unserer fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet und der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit. … Alles stand in diesem weiten Reiche fest und unverrückbar an seiner Stelle und an der höchsten der greise Kaiser; aber sollte er sterben, so wußte man (oder meinte man), würde ein anderer kommen und nichts ändern in der wohlberechtigten Ordnung. Niemand glaubte an Kriege, an Revolutionen und Umstürze. Alles Radikale, alles Gewaltsame schien bereits unmöglich in einem Zeitalter der Vernunft.“2 Nun wird man diesen verklärten Blick Zweigs auf die Tage seiner Jugend zweifellos mit dem „Vergoldungseffekt“ des Alters, zumal unter den Bedingungen der erzwungenen Emigration aus der Heimat und der Realität der NS-Diktatur in Europa erklären können, angesichts deren Terrorherrschaft die Konflikte um 1900 in der Tat geringfügig wirken mochten. Man wird auch ohne Schwierigkeiten gegenteilige zeitgenössische Aussagen finden, wie etwa die Gedanken der Reichenberger Zeitung vom 1. Januar 1901 zum Jahrhundertwechsel, die davon sprach, daß „die Bewohner des alten Kaiserstaats mit berechtigtem Pessimismus“ in die Zukunft blickten, angesichts des Nationalitätenstreits und insbesondere der Entzweiung der Deutschen Österreichs.3 Dennoch sollte man sich davor hüten, angesichts des 1918 tatsächlich erfolgten Zusammenbruchs Österreich-Ungarns, derartige, häufig interessegeleitete pessimistische Stimmen ohne weiteres als weitsichtige Prognosen einzuschätzen bzw. die Geschichte der Habsburgermonarchie im langen 19. Jahrhundert auf eine unabwendbare Verfallsgeschichte zu reduzieren.4 Eine solche Fragestellung bedingt nämlich, daß notwendigerweise die Analyse der Defekte – d. h. konkret die zentrifugalen Tendenzen – im Vordergrund der Betrachtung stehen, was, auch wenn jene korrekt benannt werden, zu einer perspektivischen Verzerrung des Gesamturteils führen muß. Anstatt, wie dies immer noch häufig geschieht, stets die Krisenphänomene in der Spätphase der Donaumonarchie zu betonen5, könnte man z. B. einmal darauf hinweisen, daß die vom Haus Habsburg regierten Länder Mitteleuropas, wenn man den Erwerb der böhmischen und ungarischen Krone 1526/1527 als konstitutiv für eine Art Reichsbildung ansieht, trotz gewisser territorialer Veränderungen immerhin 400 Jahre zusammengehört haben, eine vergleichsweise lange Zeit, gerade unter den Bedingungen von Multinationalität und, was für die Frühe Neuzeit noch 2

Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Frankfurt am Main 2003 [Erstausgabe 1944], S. 15 f. Zit. nach Mark Cornwall: Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Donaumonarchie (wie Anm. 1), S. 13 – 23, hier S. 13; vgl. in diesem Beitrag auch den konzisen Forschungsüberblick. Allerdings handelt es sich bei den oben zitierten Ausführungen um eine „Parteimeinung“, vertrat die Reichenberger Zeitung doch dezidiert die Interessen des deutschliberalen und nationalfreiheitlichen Lagers unter den Deutschböhmen, das sich gegenüber der tschechischen Bevölkerungsmehrheit in den böhmischen Ländern als potentielle Verlierer sah. 4 Vgl. hierzu etwa Sked: Habsburg (wie Anm. 1), der trotz des Titels die Offenheit der historischen Entwicklung betont, eine Tendenz, die in der zweiten Auflage noch verstärkt wurde. 5 Vgl. etwa die beiden zweifellos anregenden Beiträge von Solomon Wank: Some Reflections on the Habsburg Empire and Its Legacy in the Nationalities Question. In: AHY 28/1997, S. 131 – 146 und Ders.: The Habsburg Empire. In: Karen Barkey/Mark von Hagen (Hrsg.): After Empire. Multiethnic Societies and Nation Building. Boulder/Oxford 1997, S. 45 – 57. 3

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viel entscheidender ist, Multikonfessionalität. Man könnte also im Gegenteil die Frage stellen, warum die Habsburgermonarchie überhaupt so lange existieren konnte und damit die zentripetalen Kräfte in den Mittelpunkt der Analyse stellen. Gerade jüngere Arbeiten, besonders auch aus dem angelsächsischen Bereich, haben deshalb zu recht diese Aspekte der staatlichen Existenz der Habsburgermonarchie in den Vordergrund gerückt.6 Der als Direktor des „Center for Austrian Studies“ an der University of Minnesota in Minneapolis lehrende US-amerikanische Historiker Gary B. Cohen hat hierbei gefordert, der Stabilität und Anpassungsfähigkeit der politischen Kultur der späten Habsburgermonarchie mehr Aufmerksamkeit zu widmen und das Forschungsinteresse weg von der Wiener Zentrale auf die Ränder des Reiches zu verlagern, um auf diese Weise die erfolgreiche Zusammenarbeit von Gesellschaft und Verwaltung zu zeigen. Er geht hierbei davon aus, daß „the general development after the 1860s of public life and popular politics, which, although freer and more highly articulated in the Austrian half of the monarchy than in the Hungarian, was an evolving modern civil society where nationalist loyalties found expression alongside strong class and interest-group allegiances as well as continuing loyalties to the state, its laws, and administration.”7 Forschungen über das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie, wie Cohen sie einfordert, haben zur Zeit in der Tat Konjunktur8 und korrespondieren mit Projekten bzw. Arbeiten, die die Ergebnisse der „Postcolonial Studies“ auf die Habsburgermonarchie anzuwenden suchen.9 Dahinter steht die Annahme, dieser Ansatz lasse sich auch für die Analyse von Herrschaftsprozessen innerhalb hegemonialer Formationen verwenden und er-

6 Vgl. im Überblick: Gary B. Cohen: Neither Absolutism nor Anarchy: New Narratives on Society and Government in Late Imperial Austria. In: AHY 29/1998, Teil I, S. 37 – 61 und aus jüngster Zeit v. a. Gary B. Cohen: Nationalist Politics and the Dynamics of State and Civil Society in the Habsburg Monarchy, 1867 – 1914. In: Central European History 40/2007, S. 241 – 278; darin auch ein informativer Überblick über die neuere englischsprachige Forschungsliteratur. Vgl. hierzu auch Peter Stachel: Übernationales Gesamtstaatsbewußtsein in der Habsburgermonarchie. Zwei Fallbeispiele. In: Endre Kiss/Justin Stagl (Hrsg.): Nation und Nationenbildung in Österreich-Ungarn 1848 – 1938 [sic!]. Prinzipien und Methoden. Wien/ Münster 2006, S. 97 – 113. 7 Cohen: Nationalist Politics (wie Anm. 6), S. 244. 8 Vgl. hierzu etwa den aus einem Mainzer Forschungsprojekt hervorgegangenen Band von Hans-Christian Maner (Hrsg.): Grenzregionen der Habsburgermonarchie im 18. und 19. Jahrhundert. Ihre Bedeutung und Funktion aus der Perspektive Wiens. Münster 2005. Die dort vertretene These einer Vernachlässigung der Grenzgebiete durch die Zentrale ist v. a. aus wirtschaftshistorischer Perspektive nicht unwidersprochen geblieben; vgl. hierzu die Rezension von Uwe Müller in: VSWG 94 (2007) 3, S. 350 f. Zu diesem Forschungsfeld vgl. auch folgende Tagungsberichte: Heidi Hein-Kircher/Gary B. Cohen: Borderlands. Ethnicity, Identity and Violence in the Shatter-Zone of Empires since 1848. Marburg 17.05.2007 – 20.05.2007. In: H-Soz-u-Kult 18. 07. 2007; Kurt Scharr: Der Kleine und der Große Lebensraum. Siebenbürgen und die Habsburgermonarchie 1848 – 1918. Cluj-Napoca 07.06.2007 – 10.06.2007. In: H-Soz-u-Kult 12.07.2007. 9 Vgl. hierzu v. a. den Sammelband von Johannes Feichtinger/Ursula Prutsch/Moritz Csky (Hrsg.): Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Innsbruck 2003.

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fordere somit nicht die Existenz einer klassischen kolonialen Situation.10 Ob ein solches Konzept, das offenkundig das momentan große öffentliche und wissenschaftspolitische Interesse an kolonialgeschichtlichen Themen auf die Geschichte Ost- und Südosteuropas umzulenken sucht, dauerhaft tragfähig ist, wird sich noch zeigen müssen. In jedem Fall weiterführend erscheinen demgegenüber neuere Forschungsansätze, die die Entwicklung der Habsburgermonarchie im Kontext multinationaler imperialer Reichsbildungen vergleichend betrachten.11 Erleichtert und nicht unerheblich vorangetrieben wurde der oben beschriebene Perspektivenwechsel durch den schleichenden Legitimationsverlust des Nationalstaats in Europa als Folge der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts – wodurch auch nationalstaatlich grundierte Forschungsparadigmen grundsätzlich in Frage gestellt wurden12 –, ferner damit eng verbunden, Europäische Integration und Migrationsbewegungen, die die vormals tendenziell homogenen und nationalstaatlich organisierten Staatsbürgergesellschaften nachhaltig veränderten, sowie die blutigen ethnisch-national motivierten Auseinandersetzungen in Ost- und Südosteuropa als Folge des Zerfalls der sozialistischen Staatengemeinschaft. Es wäre nun allerdings zweifellos verfehlt und entspricht auch keineswegs den Absichten Cohens und ähnlich argumentierender Historiker, diesen „konstruktiven Zugang“13 zu verwechseln mit einem verklärenden Blick auf die Habsburgermonarchie, der diese stilisiert zu einem vereinten Europa im Kleinen, das hierin aber leider seiner Zeit voraus gewesen und unverstanden und mutwillig zerstört worden sei – eine Sichtweise, die bis in die Gegenwart vor allem von Vertretern eines eher „legitimistischen Diskurses“ propagiert wird14 und die auch in der vorhandenen offiziösen Literatur 10 So Irma Kreiten: Tagungsbericht „Postcolonial Studies“ und die Osteuropawissenschaften. Freiburg/Schweiz, 25.11.2006. In: H-Soz-u-Kult 06.03.2007. 11 Vgl. hierzu den Tagungsbericht von Ricarda Vulpius/Frank Hadler: Multiethnische Großreiche im langen 19. Jahrhundert: Großbritannien, Habsburg, Rußland und Osmanisches Reich im Vergleich. Hamburg 19.01.2007 – 20.01.2007. In: H-Soz-u-Kult 19.02.2007. 12 Zum Stand der modernen Nationalismus-Forschung vgl. v. a. Siegfried Weichlein: Nationalismus und Nationalstaat in Deutschland und Europa. Ein Forschungsüberblick. In: NPL 51 (2006) 1, S. 265 – 351 und Ders.: Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa. Darmstadt 2006 sowie Rolf-Ulrich Kunze: Nation und Nationalismus. Darmstadt 2005. Speziell zum Nation Building in der Habsburgermonarchie vgl. Kiss/Stagl (Hrsg.): Nationenbildung (wie Anm. 6). 13 Cornwall: Einleitung (wie Anm. 3), S. 19. 14 Vgl. hierzu v. a. die Bücher des Publizisten und Filmemachers Erich Feigl, z. B. Kaiser Karl I. Ein Leben für den Frieden seiner Völker. Wien/München 1990 und Zita. Kaiserin und Königin [Titel der Erstauflage: Kaiserin Zita – Legende und Wahrheit]. 5. Aufl. Wien/München 1991; vgl. auch Tamara Griesser-Pecˇar: Zita. Die Wahrheit über Europas letzte Kaiserin. Bergisch Gladbach 1992 sowie Elisabeth Kovcs: Untergang oder Rettung der Donaumonarchie? Die Österreichische Frage. Kaiser und König Karl I. (IV.) und die Neuordnung Mitteleuropas (1916 – 1922). (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs, Bd. 100/1). Wien/Köln/Weimar 2004. Vgl. hierzu den Forschungsüberblick bei Matthias Stickler: Abgesetzte Dynastien. Strategien konservativer Beharrung und pragmatischer Anpassung ehemals regierender Häuser nach der Revolution von 1918 – Das Beispiel Habsburg. In: Markus A. Denzel/Günther Schulz (Hrsg.): Deutscher Adel im 19. und 20. Jahrhundert.

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über den Europapolitiker und vormaligen Thronfolger der Habsburgermonarchie Otto von Habsburg immer wieder eine gewisse Rolle spielt.15 Vielmehr ist dem britischen Historiker Mark Cornwall zuzustimmen, der zu Recht bemerkt hat, daß der Untergang der Habsburgermonarchie „über diesen verschiedenartigen historischen Zugängen schwebt, die sich im übrigen nicht ausschließen, sondern gegenseitig ergänzen.“16 Daß die Geschichte der Habsburgermonarchie trotz gewisser Konjunkturen sowohl in einer breiteren Öffentlichkeit als auch in der historischen Forschung immer wieder auf Interesse stößt, hat vor allem vier Gründe: Erstens die Tatsache, daß, anders als bei den übrigen europäischen Staaten, der Gesamtmonarchie die Fortentwicklung von einer monarchischen Union von Ständestaaten zu einem modernen Bundes- oder Zentralstaat versagt blieb.17 Zweitens war die Habsburgermonarchie, wie bereits erwähnt, ein Vielvölkerreich, dessen Existenz quer stand zu den Forderungen der entstehenden europäischen Nationalismen. Dies galt für die Gesamtmonarchie wie auch für die meisten Kronländer, die an Größe, Rang, Bedeutung, ethnisch-nationaler bzw. konfessioneller Zusammensetzung und, zumindest bis 1867, im Grad der Autonomie höchst heterogen waren. Es handelte sich zudem um ein multinationales Reich ohne „echte“ Minoritäten, weil es keine „echte“ Mehrheitsnation gab: Zwar dominierten politisch wie kulturell deutlich die Deutschen18 und die Magyaren19 (1910: Deutsche ca. 24 %, Magyaren ca. 20 %)20, doch waren auch diese auf der Ebene der Gesamtmonarchie, wie auch innerhalb der beiden Reichsteile, aus denen sich die Habsburgermonarchie als Folge der unvollendet gebliebenen theresianisch-josephinischen Reformpolitik seit dem 18. Jahrhundert faktisch zusammensetzte, ebenfalls Minderheiten. Drittens war die Habs-

Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 2002 und 2003. (Deutsche Führungsschichten der Neuzeit, Bd. 26). St. Katharinen 2004, S. 397 – 444. 15 Vgl. hierzu v. a. Stephan Baier/Eva Demmerle: Otto von Habsburg. Eine Biographie. Wien 2002. 16 Cornwall: Einleitung (wie Anm. 3), S. 19. 17 Hierauf wird weiter unten noch genauer einzugehen sein; vgl. hierzu ausführlich Brandt: Parlamentarismus (wie Anm. 1), Brauneder: Habsburgermonarchie (wie Anm. 1) und Rumpler/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. VII.1. und VII.2: Verfassung und Parlamentarismus (Wien 2000). 18 Vgl. Wandruszka/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. III.1., S. 33 – 410. 19 Die Ungarn selbst bezeichnen sich als Magyaren, ihr Land als Magyarorszg, d. h. Land der Magyaren. Heute werden die Begriffe „Magyaren“ bzw. „Ungarn“ meist synonym verwendet, doch für die Zeit bis 1918, also bis zum Untergang des alten Königreichs hat es sich eingebürgert, Ungarn als Oberbegriff für alle Bewohner Ungarns (also auch die Minderheiten) zu verwenden, während man mit Maygaren die ethnischen Ungarn, d. h. die magyarisch/ungarisch sprechenden Bewohner des Landes, bezeichnet; vgl. Wandruszka/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. 3.1., S. 411 – 413. 20 Vgl. hierzu die Tabellen im Anhang; umfangreiche Tabellen und Grafiken sowie eine ausgezeichnete Karte der ethnischen Gemengelage in der Habsburgermonarchie bietet auch Wandruszka/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bde. 3.1.und 3.2.

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burgermonarchie, trotz der im 19. Jahrhundert festzustellenden Schwächung ihrer Stellung als Folge der Niederlagen gegen Sardinien/Italien (1859/60) und Preußen (1866), die zum Verlust der 1814/15 errungenen und 1848 bis 1850 erfolgreich verteidigten Hegemonialstellung in Italien und Deutschland führte, bis 1918 eine europäische Großmacht, die zu den führenden Weltmächten gehörte. Viertens resultiert das beschriebene Interesse an der Habsburgermonarchie aus der oben bereits erwähnten Tendenz zur idealisierten Verklärung ihres Charakters als Vielvölkerreich: Multinationalität ist ja heute ein überwiegend positiv besetztes Schlagwort, das sich verbindet mit der Utopie eines friedlichen, multikulturellen Zusammenlebens von Völkern unterschiedlicher ethnischer, religiöser und sprachlicher Herkunft bzw. Prägung. Insofern weckt die Beschäftigung mit der Habsburgermonarchie häufig (fälschlich) Erwartungen auf historische Vorbilder für die Lösung aktueller Probleme. Gestützt werden derartige Erwartungen nicht selten durch nostalgische Rückblicke in ehemaligen Reichsteilen der Habsburgermonarchie auf die „gute, alte Zeit“ des Kaisers Franz Joseph I. Beobachten lassen bzw. ließen sich derartige Phänomene etwa in Österreich („Sissi-Filme“ mit Romy Schneider und Karlheinz Böhm), Ungarn („Erzsbet-Mythos“), Oberitalien (Franz-Joseph-Verehrung als Ausdruck einer Oppositionshaltung gegenüber dem italienischen Zentralstaat) oder Kroatien (Banus Joseph Jellacˇicˇ als nationaler Heros). Wie schwierig die Annäherung an unser Thema ist, vermag auch die Tatsache zu zeigen, daß die vom Haus Habsburg regierten Länder bis 1918 keinen allgemein anerkannten Namen hatten. Die Bezeichnungen „Kaisertum Österreich“ (vor 1868) bzw. „Österreichisch-Ungarische Monarchie“, abgekürzt auch „Österreich-Ungarn“ (ab 1868), waren zwar offiziell in Gebrauch und wurden nicht zuletzt im internationalen diplomatischen Verkehr auch entsprechend verwendet, doch darf diese Praxis nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Begrifflichkeit reichsintern immer umstritten war, insbesondere die Magyaren lehnten eine ihr Königreich einschließende Gesamtstaatsbezeichnung wie auch tendenziell den Gesamtstaatsgedanken überhaupt ab. Dieser Befund zeigt sich auch in bezug auf die westliche Reichshälfte, für die nach 1867 die Bezeichnung „Die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“, nicht aber, was in gewissem Sinne logisch gewesen wäre, „Österreich“ eingeführt wurde, weil dies der innerdynastischen Sichtweise einer alle Erbländer überwölbenden österreichisch-habsburgischen Reichsidee widersprach. Als informeller Ersatz für das Wortungetüm setzte sich dann immer mehr der Name Cisleithanien (nach dem Fluß Leitha, der die Grenze zu Ungarn markierte) durch, der auch in die Forschungsterminologie Eingang fand.21 Der in diesem Beitrag verwendete 21

Vgl. hierzu Brauneder: Habsburgermonarchie (wie Anm. 1), S. 234 f. sowie Matthias Stickler: Reichsvorstellungen in Preußen-Deutschland und der Habsburgermonarchie in der Bismarckzeit. In: Franz Bosbach/Hermann Hiery (Hrsg.): Imperium/Empire/Reich. Ein Konzept politischer Herrschaft im deutsch-britischen Vergleich (Prinz-Albert-Studien, Bd. 16). München 1999, S. 133 – 154, hier S. 137 f. Der Begriff „Österreich“ für Cisleithanien wurde auf dem Umweg über eine Wappenordnung am 3. 11. 1915 gleichsam offiziell, die Umschreibung blieb aber weiterhin gebräuchlich; vgl. Brauneder: Habsburgermonarchie (wie Anm. 1), S. 235, FN 177.

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Begriff Habsburgermonarchie ist ebenfalls eine mittlerweile etablierte Hilfsbezeichnung, die mit guten Gründen abhebt auf die zentrale Funktion der Dynastie für den Zusammenhalt dieses multiethnischen Gebildes.22 Die verfassungs- und staatsrechtliche Grundlage der Gesamtmonarchie bildete im 19. und frühen 20. Jahrhundert im wesentlichen immer noch die Pragmatische Sanktion vom 19. April 171323. Diese verfügte die Unteilbarkeit des habsburgischen Länderbesitzes und die Regelung der Erbfolge nach dem Erstgeburtsrecht im männlichen und weiblichen Stamm. Das heißt, vereinfacht gesagt, die habsburgischen Erbländer bildeten künftig eine Realunion, so lange es Habsburger gibt. Seit 1724, nachdem nach jahrelangen Verhandlungen die Ständevertretungen der einzelnen Königreiche und Länder die Pragmatische Sanktion förmlich anerkannt und zu Landesrecht erhoben hatten, war dieses Staatsgrundgesetz in allen Kronländern damit unwiderrufliche Grundlage von deren ständischen Verfassungen und somit ein quasi staatliches Band. Von weitreichender Bedeutung sollte werden, daß Kaiser Karl VI. (1685 – 1740, reg. 1711 – 1740) aus Furcht vor weitergehenden Forderungen nicht mit Reichs- oder Generalständen, die es nicht gab und die zu diesem Zwecke auch nicht gebildet wurden, verhandelt hatte, sondern in seiner Funktion als Landesherr mit den jeweiligen Einzellandtagen. Dies verhinderte dauerhaft die Entstehung neuer, alle Kronländer überwölbenden Institutionen, das „Reich“ wurde, wie der deutschfreiheitliche österreichische Historiker Viktor Bibl (1870 – 1947) zutreffend, wenn auch mit deutlich polemischem, weil deutschnational-vorurteilsbelastetem, Unterton festgestellt hat, als großer Kron-Fideikommiß konstituiert.24 Die Selbständigkeit der historischen Länder wurde von der Pragmatischen Sanktion verfassungsrechtlich nicht berührt. Bis 1918 mißlangen alle Versuche, die Gesamtmonarchie zu einem wirklichen Staat umzuformen, sei es auf altständisch-föderativer, josephinisch-zentralistischer, deutschliberal-zentralistischer oder multinational-föderativer Basis. Die Dynastie blieb deshalb das wichtigste Bindeglied für den Zusammenhalt des Gesamtreiches, ohne sie war es schlechterdings nicht vorstellbar. Wenn eben gesagt wurde, daß die Habsburgermonarchie sich nie zu einem wirklichen Staat entwickelt hat und somit auf einer „unvollendeten Stufe monarchischer Integration in das europäische Zeitalter der konstitutionellen Bewegung“25 22 Vgl. hierzu Matthias Stickler: Dynastie, Armee, Parlament – Probleme staatlicher Integrationspolitik im 19. Jahrhundert am Beispiel Österreichs und Sachsens. In: Winfried Müller/Martina Schattkowsky (Hrsg.): Zwischen Tradition und Modernität. König Johann von Sachsen 1801 – 1873. Leipzig 2004, S. 109 – 140, hier S. 111 – 117. 23 Vgl. Gustav Turba: (Hrsg.): Die pragmatische Sanktion. Authentische Texte samt Erläuterungen und Übersetzungen. Wien 1913. 24 Viktor Bibl: Die Tragödie Österreichs. Leipzig/Wien 1937, S. 33. Zur deutschnationalen Bewegung in der Habsburgermonarchie vgl. v. a. Lothar Höbelt: Kornblume und Kaiseradler. Die deutschfreiheitlichen Parteien Altösterreichs 1882 – 1918. Wien/München 1993. 25 Brandt: Parlamentarismus (wie Anm. 1), S. 71. Zur Gesamtproblematik vgl. das bis heute Maßstäbe setzende Werk von Josef Redlich: Das österreichische Staats- und Reichsproblem. 2 Bände. Leipzig 1920 und 1926 (Bd. 3 nie erschienen), Wandruszka/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. II: Verwaltung und

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eintrat, so bedarf diese Aussage einer Präzisierung. Wilhelm Brauneder hat Otto Brunners generalisierende Charakterisierung der Habsburgermonarchie als einer monarchischen Union von Ständestaaten für den Zeitraum von 1749 bis 1848 dahingehend erweitert, daß er zutreffend von einem „Monarchischen Staat mit differenziertem Föderalismus“ gesprochen hat.26 Vereinfacht gesagt, bestand die Habsburgermonarchie bis 1848 aus zwei Teilen: Die westliche Reichshälfte stellte ein „bürokratisch-absolutistisch überformtes Länderkonglomerat“27 dar, in dem die alten Landesverfassungen zwar formal noch in Geltung, faktisch aber stark zurückgedrängt waren, das Amt des jeweiligen Landesfürsten zu einem reinen Titel herabgesunken war. Nach wie vor existent waren die Landstände, die in einem beschränkten Umfang unterschiedlich ausgeprägte, wichtige administrative und legislative Aufgaben erfüllten und durch das Fehlen des Landesfürsten vor Ort sowie einer Landesherrschaft im Wortsinne zu den eigentlichen Repräsentanten des Landes wurden; dies gilt auch und vor allem für das Königreich Böhmen und seine Nebenländer Mähren und Schlesien („Reich der Wenzelskrone“)28, das als Folge der Ergebnisse des böhmisch-pfälzischen Kriegs (1618 – 1623) und der theresianischjosephinischen Reformen des 18. Jahrhunderts seine Selbständigkeit weitgehend eingebüßt hatte. Die östliche Reichshälfte, also das Königreich Ungarn mit seinen Nebenländern Siebenbürgen und Kroatien-Slawonien („Reich der Stephanskrone“)29, war dagegen Rechtswesen (1975) und Rumpler/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. VII.1. 26 Vgl. Wilhelm Brauneder: Österreichische Verfassungsgeschichte. 2. Aufl. Wien 1980, S. 79 ff. 27 Brandt: Parlamentarismus (wie Anm. 1), S. 73. 28 Zur Geschichte Böhmens bzw. der böhmischen Tschechen vgl. v. a. Karl Bosl (Hrsg.): Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder. 4 Bde. Stuttgart 1967 bis 1974; Ernst Birke/ Kurt Oberdorffer: Das böhmische Staatsrecht in den deutsch-tschechischen Auseinandersetzungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Marburg/Lahn 1960; Jörg K. Hoensch: Geschichte der Tschechoslowakei. 3. Aufl. Stuttgart u. a. 1992; Jirˇ Korˇalka/R.J. Crampton: Die Tschechen. In: Wandruszka/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. III.1, S. 489 – 521; Jan Kren: Die Konfliktgemeinschaft – Deutsche und Tschechen 1780 – 1918 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, Bd. 71). München 1996; Rumpler/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. VII.2, S. 1991 – 2103. Eine gute Quellensammlung bietet Manfred Alexander: Quellen zu den deutsch-tschechischen Beziehungen 1848 bis heute. Darmstadt 2005. 29 Zur Geschichte Ungarns bzw. der Magyaren vgl. v. a.: Thomas von Bogyay: Grundzüge der Geschichte Ungarns. 4. Aufl. Darmstadt 1990; Holger Fischer/Konrad Gündisch: Eine kleine Geschichte Ungarns. Frankfurt am Main 1999; Peter Hank: Ungarn in der Donaumonarchie. Probleme der bürgerlichen Umgestaltung eines Vielvölkerstaates (Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts, Bd. 10). Wien/München/Budapest 1984; Jörg K. Hoensch: Geschichte Ungarns 1867 – 1983. Stuttgart 1984; Andrew C. Janos: The Politics of backwardness in Hungary. 1825 – 1945. Princeton 1982; Lszl Katus: Die Magyaren. In: Wandruszka/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. III.1, S. 410 – 488; Arpad von Klimo: Nation, Konfession, Geschichte: Zur nationalen Geschichtskultur Ungarns im europäischen Kontext (1860 – 1948) (Südosteuropäische

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ein „von der politischen [magyarischen] Adelsnation getragener Ständestaat mit intakten ständisch-parlamentarischen Institutionen, gestützt auf die von keiner königlichen Bürokratie berührten Selbstverwaltungsrechte der Komitate“. Die vom Kaiser ausgeübte königliche Gewalt war beschränkt auf eine „mehr oder minder eng umschriebene königliche Prärogative“30. Das Königreich Ungarn war bis 1918 ein Großreich, das 1910 324.857 km2 Fläche und 20.840.678 Einwohner zählte, und im Wesentlichen das gesamte Karpathenbecken sowie das heutige Kroatien umfaßte. Innerhalb dieses Reiches waren die Magyaren als Folge der Türkenherrschaft bzw. der Peuplierungspolitik der Habsburger nach der Befreiung Ungarns im späten 17. Jahrhundert eigentlich eine Minderheit. 1857 stellten jene gerade einmal 37,4 % der Gesamtbevölkerung des Königreichs. Weitere große Volksgruppen waren: Rumänen, Kroaten, Serben, Slowaken, Deutsche, Ruthenen (Ukrainer) und Juden.31 Verfassungsrechtlich war Ungarn, ähnlich wie England, eine Monarchie mit starker Stellung des bis 1848 altständisch zusammengesetzten Zweikammer-Parlaments (Landtag bzw. Reichstag)32 ohne geschriebene Verfassung. Die Habsburger hatten seit 1526 die ungarische Königswürde inne, mußten ihre Macht allerdings mit den Ständen teilen. Die Ausbildung eines landesfürstlichen Absolutismus gelang der Dynastie nie, sieht man einmal von der kurzen „neoabsolutistischen“ Phase zwischen 1849 und 1859 ab. Lediglich die bereits erwähnte Pragmatische Sanktion (1713/ 1724) erkannte der Reichstag an und damit die Realunion mit den deutsch-böhmischen Erbländern. Weitergehende Versuche Kaiser Josephs II. (1741 – 1790, Kaiser seit 1765, König von Ungarn seit 1780), Ungarn in das absolutistisch-bürokratische System im Westteil der Monarchie miteinzubeziehen und auf diese Weise die Gesamtmonarchie in einen absolutistisch regierten Staat zu verwandeln, scheiterten am heftigen Widerstand der ungarischen Stände. Die Magyaren begriffen ihr Land weiterhin als im Prinzip selbständiges Königreich, das lediglich in einzelnen Politikbereichen (Monarch, Außenpolitik, Finanzen und Militär) mit den deutschböhmischen Erbländern verbunden war. Dynastie und führende Staatsmänner in Wien achteten in den folgenden Jahrzehnten die ungarische Rechtsposition und unternahmen keine weiteren Zentralisierungsversuche mehr. Insofern war auch die Schaffung einer eigenen österreichischen Kaiserwürde im Jahr 1804 kein verfassungsrechtlich konstitutiver Akt bzw. keine „österreichische Reichsgründung“, Arbeiten, Bd. 117). München 2003; Mikls Molnar: Geschichte Ungarns. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hamburg 1999. 30 Brandt: Parlamentarismus (wie Anm. 1), S. 73. 31 Vgl. hierzu die genauen Daten in den Tabellen im Anhang. Zu den genannten Gruppen vgl. Wandruszka/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. III.1, S. 585 – 625 (Keith Hitchins: Rumänen), S. 626 – 733 (Arnold Suppan: Kroaten), S. 734 – 774 (Dimitrije Djordjevic´ : Serben), S. 775 – 800 (Ludovit Holotk: Slowaken), S. 340 – 410 (Friedrich Gottas: Deutsche), S. 555 – 584 (Wolfdieter Bihl: Ruthenen), S. 880 – 948 (Wolfdieter Bihl: Die Juden). Zu den Slowaken vgl. auch Stanislav J. Kirschbaum: History of Slovakia. The Struggle für Survival. 2. Aufl. New York 2005. 32 Vgl. Rumpler/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. VII.1, S. 1007 – 1105.

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sondern vielmehr nur eine Art „Taufe“ der Monarchie. Allerdings hatte der neue Name „Kaisertum Österreich“ faktische Konsequenzen: Zunächst und in erster Linie völkerrechtlicher Art, da im Außenverkehr die Monarchie als eine nun auch benennbare Einheit auftrat. Zugleich wirkte die Namensgebung damit jedoch auch auf die inneren Landesangelegenheiten zurück, weil jeder Einzelne davon betroffen war, daß er in der Außenwahrnehmung zunächst als „Österreicher“ angesehen wurde. Auseinandersetzungen zwischen Krone und Ständen, wie oben beschrieben, gab es keineswegs nur im Verhältnis zu Ungarn, sondern, wenn auch in wesentlich abgeschwächterer Form, mit anderen Kronländern; sie waren in erster Linie Ausdruck absolutistisch-zentralistischer Tendenzen auf der einen bzw. des traditionellen Kronlandpartikularismus auf der anderen Seite. Erst seit dem 19. Jahrhundert wurden sie zunehmend ethnisch-nationalistisch aufgeladen. Dies betraf nicht nur die Völker mit älterer ständestaatlicher Tradition (Magyaren, Kroaten, Tschechen, Italiener33, Polen34), sondern auch die zahlreichen sogenannten „geschichtslosen“ ethnischen Gruppen der Monarchie. Indirekt haben die Habsburger vor allem mittels der Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht seit dem 18. Jahrhundert dazu beigetragen, daß aus diesen mit der Zeit Völker bzw. Nationen wurden, die eigene Eliten hervorbrachten und so erst zu nationaler Traditionsstiftung fähig wurden, z. B. Slowenen35, Slowaken, Ruthenen und Walachen bzw. Rumänen.36 In gewisser Weise war dies die positive Kehrseite des Wiener Zentralismus, der keine ethnische Gruppe 33 Vgl. Umberto Corsini: Die Italiener. In: Wandruszka/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. III.1, S. 839 – 879. 34 Vgl. Henryk Batowski: Die Polen. In: Wandruszka/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. III.1, S. 522 – 584. 35 Vgl. Janko Pleterski: Die Slowenen. In: Wandruszka/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. III.1, S. 801 – 838. 36 Vgl. hierzu Stanislaus Hafner: Zur Typologie übernationaler kultureller Kommunikation. In: Richard Georg Plaschka/Karlheinz Mack (Hrsg.): Wegenetz Europäischen Geistes. Bd. II.: Universitäten und Studenten. Die Bedeutung studentischer Migrationen in Mittel- und Südosteuropa vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (Schriftenreihe des Österreichischen Ost-und Südosteuropa-Instituts, Bd. 12). Wien 1987, S. 30 – 48. Vgl. hierzu etwa das Beispiel des ruthenischen Schulwesens. In Wandruszka/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. III.1, S. 573 ff. Zur Geschichte des Bildungswesens der Habsburgermonarchie vgl. allgemein: Helmut Engelbrecht: Geschichte des österreichischen Bildungswesens. 5 Bde. Wien 1982 – 1988 sowie Anton Kolbabek (Hrsg.): 200 Jahre österreichische Unterrichtsverwaltung 1760 – 1960. Festschrift des Bundesministeriums für Unterricht in Wien. Wien 1960, darin v. a. den Beitrag von H. F. Schmid: Die Bedeutung des österreichischen Bildungswesens für Ost- und Südosteuropa (S. 30 – 48). Zur Entstehung des modernen Nationalismus in der Habsburgermonarchie vgl. auch George Barany: The awakening of Magyar nationalism before 1848. In: AHY 2/1966, S. 19 – 50, Ders.: Stephen Szchenyi and the Awakening of Hungarian Nationalism 1791 – 1841. Princeton 1961; Mathias Bernath: Habsburg und die Anfänge der rumänischen Nationsbildung (Studien zur Geschichte Osteuropas, Bd. 15). Leiden 1972; Paul Body: Joseph Eötvös and the modernization of Hungary 1840 – 1870. A study of ideas of individuality and social pluralism in modern politics. 2. Aufl. Boulder CO 1985; Keith Hitchins: A Nation Affirmed: The Romanian National Movement in Transylvania. 1860 – 1914. Bukarest 1999 und Miroslav Hroch: Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas. Prag 1968.

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bevorzugte und die kleinen Völker der Habsburgermonarchie gegen die Dominanz der größeren schützte. Zwar bildete die Habsburgermonarchie seit dem 16. Jahrhundert mit Entstehung und Ausbau zentraler Institutionen einen deutschen Überbau aus (Kommandosprache der Armee, Verwaltungssprache mindestens bis auf die mittlere Ebene und im Verkehr mit Wien), doch war damit zu keinem Zeitpunkt eine Germanisierungsabsicht im modernen ethnisch-nationalen Sinne verbunden. Erzherzog Albrecht von Österreich, „die graue Eminenz des Hauses Habsburg“37, drückte dies 1877 so aus: „In einem polyglotten, von vielen Stämmen und Racen bewohnten Reiche darf die Dynastie sich nicht ausschließlich zu einer derselben rechnen. Gleich einer guten Mutter muß sie für alle Kinder gleiche Liebe zeigen, keinem fremd bleiben. Darin liegt ihre Existenzberechtigung, aber auch die Dauerhaftigkeit ihrer Herrschaft, …“.38 Für alle vom Nationalismus erfaßten Völker der Habsburgermonarchie ist typisch, daß deren Eliten eine oft mythisch verklärte, ungebrochene Kontinuität von einer älteren, als Ideal verstandenen Staatlichkeit zu dem zu schaffenden Nationalstaat der Gegenwart bzw. der Zukunft behaupteten.39 Bezugspunkt dieser Bestrebungen waren meist die historischen Kronländer, welche allerdings, wie bereits erwähnt, mit den ethnischen Siedlungsgebieten größtenteils nicht deckungsgleich waren, da sie, wie das Reich als Ganzes, meist einen bi- oder multinationalen Charakter hatten. Dennoch und trotz des erheblichen Bedeutungsverlusts der Mehrheit der Kronländer und ihrer überkommenen Stände als Folge der theresianisch-josephinischen Reformen und der Verfassungsveränderungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ging von ihnen bis zum Ende der Monarchie eine nicht zu unter37 Zu diesem wichtigen Militär und Politiker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. Matthias Stickler: Erzherzog Albrecht. Selbstverständnis und Politik eines konservativen Habsburgers im Zeitalter Kaiser Franz Josephs (Historische Studien, Bd. 450). Husum 1997 und, v. a. aus militärgeschichtlicher Sicht, Johann Christoph Allmayer-Beck: Der stumme Reiter: Erzherzog Albrecht. Der Feldherr Gesamtösterreichs. Graz/Wien/Köln 1997. 38 Aphorismen (1877); abgedruckt bei Brigitte Hamann: Erzherzog Albrecht – die graue Eminenz des Habsburgerhofes. In: Isabella Ackerl u. a. (Hrsg.): Politik und Gesellschaft im alten und neuen Österreich, Festschrift für Rudolf Neck zum 60. Geburtstag. Bd. 1. München 1981, S. 62 – 77, hier S. 75 – 77. 39 Zu den Wirkungsmechanismen des modernen Nationalismus vgl. im Überblick: Weichlein: Nationalbewegungen (wie Anm. 12) sowie am Beispiel der Südslawen: Wolf Dietrich Behschnitt: Nationalismus bei Serben und Kroaten 1830 – 1914. Analyse und Typologie der nationalen Ideologie (Südosteuropäische Arbeiten, Bd. 74). München 1980; Konrad Clewing: Staatlichkeit und nationale Identitätsbildung. Dalmatien in Vormärz und Revolution (Südosteuropäische Arbeiten, Bd. 109). München 2001; Imre Ress: Versuch einer Nationenbildung um die Jahrhundertwende. Benjmin Kllays Konzeption einer bosnischen Nation. In: Kiss/Stagl (Hrsg.): Nationenbildung (wie Anm. 6), S. 59 – 72; Haris Alijagic: Bosnien-Herzegowina 1878 – 1914. Nationales Bewußtsein und kulturelles Leben unter österreichisch-ungarischer Verwaltung. Hamburg 2005; vgl. ferner: Eugen Kotte: Die Funktion historischer Mythen bei der Konstituierung europäischer Nationen. Ein Kommentar zur Ausstellung „Mythen der Nationen“ des Deutschen Historischen Museums in Berlin. In: Orbis Linguarum 12/1999, S. 1 – 21 und Helmut Altrichter/Klaus Herbers/Helmut Neuhaus (Hrsg.): Mythen in der Geschichte. Freiburg im Breisgau 2007.

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schätzende politische Kraft aus, weil sich einzelne Ethnien, oft auch in Konkurrenz zueinander, mit der konstruierten bzw. im ethnisch-nationalistischen Sinne umgedeuteten Landestradition identifizierten und deren Bewahrung als wichtiges Instrument ihrer sozialen und politischen Herrschaft ansahen. Eine Explosion derartiger Nationalismen war geeignet, die Habsburgermonarchie zutiefst zu gefährden. Die strikt antirevolutionäre Politik der Ära Metternich, aus der ein problematischer innenpolitischer Reformstau resultierte, muß auch vor diesem Hintergrund gesehen werden. Die Revolution von 1848 machte den angestauten Reformbedarf, aber auch die Sprengkraft der nationalen Frage für die Habsburgermonarchie schockartig bewußt. Am schnellsten reagierten die Magyaren, wo der altständisch zusammengesetzte Reichstag eine wirksame politische Plattform bildete.40 Bedeutsam war hierbei allerdings, daß Tradition und Ideologie des ungarischen Staatsrechtes bereits seit dem Vormärz zunehmend durch das Element eines ethnisch fundierten magyarischen Nationalismus aufgeladen worden war, wie etwa die Ablösung des Lateinischen durch das Magyarische als Verhandlungssprache im Reichstag im Jahr 1843 zeigt. Das altständische Wahlrecht hatte bisher die Dominanz der magyarischen Adelsnation über die ethnischen Minderheiten gesichert, eine revolutionäre Situation, von der die Magyaren eine Stärkung ihrer Stellung innerhalb der Gesamtmonarchie erwarten konnten, mußte aber zwangsläufig auch die Minderheitenfrage innerhalb des Königreichs auf die Tagesordnung bringen. Die drei etablierten magyarischen politischen Lager hatten im Hinblick auf die Zukunft des Königreiches unterschiedliche Vorstellungen: Die traditionell habsburgfreundliche hochkonservative Magnatenpartei wollte vorrangig ihre ökonomische und politische Machtposition sichern und arbeitete hierbei, wie schon im Vormärz, eng mit Wien zusammen, wo sie am Hof als wichtiger Stabilisierungsfaktor galt. Die sogenannte Adelige Reformpartei, der so bedeutende Politiker wie Graf Istvn (Stephan) Szchenyi (1791 – 1860)41 und Ferenc Dak (1803 – 1876) angehörten, verfolgte dagegen ein Programm der allgemeinen administrativen und sozialen Modernisierung des Königreichs nach dem 40

Vgl. zum folgenden neben der bereits angeführten einschlägigen Literatur: Harm-Hinrich Brandt: Ungarn 1848 im europäischen Kontext: Reform – Revolution – Rebellion. Ein Korreferat. In: Karlheinz Mack (Hrsg.): Revolutionen in Ostmitteleuropa 1789 – 1989. Schwerpunkt Ungarn (Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts, Bd. 23). München/Wien 1995, S. 44 – 52; Peter Burian: Die Nationalitäten in Cisleithanien und das Wahlrecht der Märzrevolution 1848/49. Zur Problematik des Parlamentarismus im alten Österreich. Graz/Köln 1962; Heinrich Friedjung: Österreich 1848 – 1860. 2 Bde. 2. Aufl. Stuttgart/Berlin 1908; Alice Freifeld: Nationalism and the Crowd in Liberal Hungary 1848 – 1914. Washington 2000; Holger Fischer (Hrsg.): Die ungarische Revolution von 1848/49. Vergleichende Aspekte der Revolutionen in Ungarn und Deutschland. Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte. Hamburg 1999; Lothar Höbelt: 1848. Österreich und die deutsche Revolution. Wien/München 1998; Rudolf Kiszling: Die Revolution im Kaisertum Österreich. 1848 – 1849. 2 Bde. Wien 1948; Rumpler/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bde. VII.1 und VII.2. 41 Vgl. Andreas Oplatka: Graf Stephan Szchenyi. Der Mann, der Ungarn schuf. Wien 2004.

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(freilich idealisierten) Vorbild Englands bzw. der dortigen Whig-Partei; das politische System Ungarns sollte – bei Wahrung der politischen Führungsposition des Adels und unter grundsätzlicher Beibehaltung des habsburgischen Herrscherhauses – in eine parlamentarische Monarchie westeuropäischen Zuschnitts verwandelt werden. Die Liberale Linke unter ihrem Führer Lajos Kossuth (1802 – 1894)42 als dritte politische Kraft, deren Programmatik für den Verlauf der magyarischen Revolution von 1848/49 entscheidend werden sollte, strebte ebenfalls eine Verwestlichung Ungarns an, allerdings eher unter radikalen separatistisch-jakobinischen Vorzeichen. Kennzeichnend für die Linke war vor allem ihr unbedingtes Streben nach Unabhängigkeit von der Habsburgermonarchie, das sich mit einem leidenschaftlichen, ethnisch fundierten magyarischen Nationalismus verband: Ein ungarisches Nationalitätenproblem gab es für Kossuth und seine Anhänger schlichtweg nicht, da sie die Nation nach französischem Vorbild als unteilbar ansahen. Die nicht magyarisch sprechenden Bewohner des Königreichs wurden als deren integraler Bestandteil angesehen, denen allenfalls der Gebrauch ihrer Muttersprache im persönlichen Bereich zugestanden werden sollte. In der Praxis mußte dies auf ein Konzept der Marginalisierung bzw. Assimilierung der ethnischen Minderheiten durch Ausbreitung der magyarischen Sprache hinauslaufen, die Gewährung von (kollektiven) Minderheitenrechten wurden als mit dem nationalen Charakter des Königreichs unvereinbar angesehen. Entsprechend waren die Vorstellungen der Liberalen Linken in der Frage der Wahlrechtsreform: Der Reichstag sollte zwar zu einem modernen Repräsentativ-Parlament umgeformt werden, doch war die Einführung eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts für die Ständetafel (= Unterhaus), welches das zahlenmäßige Übergewicht der ethnischen Minderheiten entsprechend abbilden und so den Führungsanspruch der magyarischen Eliten in Frage stellen mußte, undenkbar. Statt dessen traten sie für ein rigides Zensuswahlrecht ein, das die besitzende Oberschicht begünstigte und damit – bei entsprechender Wahlkreisgeometrie – sozial und ethnisch selektiv wirkte. Entscheidend war für den Gang der ungarischen Revolution, daß es der ungarischen Reichstagsopposition aus Reformpartei und Linken im Windschatten der Wiener Märzrevolution gelang, im Zusammenspiel mit dem jungen, liberal gesinnten und unerfahrenen Erzherzog-Palatin Stephan Viktor (1817 – 1867)43, und an den Altkonservativen vorbei, die Ernennung eines verantwortlichen ungarischen Ministeriums unter Lajos Graf Batthyny (1807 – 1849), und damit die Anerkennung der vollen ungarischen Staatlichkeit, zu erreichen (22. März 1848); Kossuth wurde Finanzminister und Vorsitzender des Verteidigungsausschusses. Inwieweit die bestehende Realunion damit aufgegeben wurde zugunsten einer bloßen Personalunion, 42

Vgl. Holger Fischer (Hrsg.): Lajos Kossuth (1802 – 1894). Wirken – Rezeption – Kult (Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte, Bd. 36). Hamburg 2007; Istvn Dek: Die rechtmäßige Revolution. Lajos Kossuth und die Ungarn 1848 – 1849. Wien/Köln/Graz 1989. 43 Vgl. Brigitte Hamann (Hrsg.): Die Habsburger. Ein biographisches Lexikon. 3. Aufl. Wien 1988, S. 424 f.

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blieb einstweilen staatsrechtlich offen, faktisch hatte Ungarn jedoch weitgehend seine Unabhängigkeit erreicht. Die sogenannte „Aprilverfassung“ wurde von Kaiser Ferdinand I. (1793 – 1875, reg. 1835 – 1848)44 am 11. April 1848 sanktioniert, Ungarn trat damit in das Zeitalter des modernen Konstitutionalismus ein. Die rasante Entwicklung in Ungarn wirkte unmittelbar zurück auf den revolutionären Prozeß in der westlichen Reichshälfte: In Prag scheiterte zwar der Versuch der hochkonservativ geführten böhmischen Bewegung, nach ungarischem Vorbild vom Hof die Gewährung einer „böhmische Charte“ und damit die Anerkennung der Staatlichkeit der Länder der Wenzelskrone zu erreichen, doch zeigten diese Ereignisse, daß auch von tschechischer Seite künftig entsprechende Initiativen zu erwarten waren; verschärft wurde die Situation dort noch dadurch, daß der bekannte Absagebrief Frantisˇek Palacky´s (1798 – 1876)45 an das Vorparlament (11. April 1848)46 und der daraus resultierende Wahlboykott der Tschechen bei den Wahlen zur deutschen Nationalversammlung zu ernsten Auseinandersetzungen insbesondere mit den Deutschböhmen führte, die bereits vorauswiesen auf die Auseinandersetzungen der folgenden Jahrzehnte. Nachdem durch die Gewährung der ungarischen Aprilverfassung die Möglichkeit, das Gesamtreich zu einem konstitutionell regierten Staat umzuformen, verbaut war, beschränkten sich die in Wien geplanten Reformmaßnahmen notwendigerweise auf die westliche Reichshälfte. Die sogenannte Pillersdorfsche Verfassung vom 25. April 184847 stellte den Versuch des gouvernementalliberalen Ministeriums dar, unter Wahrung des monarchischen Prinzips und bei Aufrechterhaltung der territorialen Integrität des theresianisch-josephinischen Zentralstaats das Heft in der Hand zu behalten und jenen durch ein Oktroi in eine konstitutionelle Staatlichkeit überzuführen. Die weitere Radikalisierung der Revolution erzwang jedoch die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung in Gestalt eines aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Reichstags, womit die Habsburgermonarchie Anschluß fand an die allgemeine mitteleuropäische revolutionäre Bewegung. Hieraus ergab sich allerdings auch die Gefahr, daß die Emanzipationsansprüche der einzelnen Nationalitäten eine Verfassungsgebung erschwerten oder sogar dauerhaft unmöglich machten. Der vom Wiener/Kremsierer Reichstag – der ersten und einzigen Konstituante in der Geschichte der Habsburgermonarchie – ausgearbeitete sogenannte Kremsierer Verfassungsentwurf48 war insofern bemerkenswert, als er einen Kompromiß des deutschen und tschechischen Bürgertums mit den übrigen Nationalitäten darstellte, der zeigt, daß damals grundsätzlich die Bereitschaft vorhanden war, Cisleithanien als 44

Ebd., S. 121 – 124. Als König von Ungarn war er Ferdinand V. Jir Morava: Franz Palacky´. Eine frühe Vision von Mitteleuropa. Wien 1990. 46 Abgedruckt in: Alexander: Quellen (wie Anm. 28), S. 34 – 36. 47 Abgedruckt in: Heinz Fischer/Gerhard Silvestri (Hrsg.): Texte zur österreichischen Verfassungsgeschichte. Von der pragmatischen Sanktion zur Bundesverfassung (1713 – 1966). Wien 1970, S. 3 – 12. 48 Abgedruckt in: Fischer/Silvestri (Hrsg.): Verfassungsgeschichte (wie Anm. 47), S. 15 – 46. 45

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multinationalen konstitutionell-liberalen Staat zu konstituieren.49 Konkret ging der Kremsierer Verfassungsentwurf vom Prinzip der Volkssouveränität aus, er sah die Gleichberechtigung der Sprachen der einzelnen Völker und die Föderalisierung der westlichen Reichshälfte sowie die Errichtung eines Zweikammersystems vor (Reichstag mit Volkshaus auf der Basis eines mäßigen Zensuswahlrechts und Länderkammer aus Delegierten der Länder- und Kreisparlamente). Ein wichtiges Strukturprinzip war hierbei, daß die Länder als historische Einheiten beibehalten wurden und auch wichtige politische Kompetenzen behielten bzw. zurückerhielten, man aber ihre Unterteilung in autonome Kreise vorsah, die wiederum nach den ethnischen Siedlungsgrenzen gezogen werden sollten. Insofern kann man von einem dreistufigen Staatsaufbau sprechen, welcher versuchte, das Ziel der Reichseinheit zu verbinden mit dem traditionellen Kronlandpartikularismus und den Emanzipationsbestrebungen der Völker. Im Hinblick auf die Kompetenzabgrenzung zwischen Reich, Kronländern und Kreisen ist vor allem wichtig, daß letztere im Rahmen der Reichs- und Ländergesetze für Fragen des Unterrichts und der Sprachen zuständig sein sollten. Unterhalb der Kreise war eine umfassende Gemeindeautonomie vorgesehen. Ob mit dieser Konstruktion das Nationalitätenproblem gelöst und eine dauerhafte Befriedung hätte erreicht werden können, muß natürlich offenbleiben. Im Hinblick auf die soziale Dynamik der zweiten Jahrhunderthälfte kann man an der Wirksamkeit des Territorialisierungsprinzips erhebliche Zweifel hegen. Politisch wichtig bleibt aber, daß sich im Kremsierer Reichstag die politischen Vertreter der Völker der westlichen Reichshälfte zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte der späten Habsburgermonarchie kompromißfähig zeigten. Insofern kann man das Scheitern des Verfassungsprojekts durchaus als eine verpaßte Chance ansehen.50 Der Thronwechsel von Kaiser Ferdinand I. zu seinem Neffen Franz Joseph I. (1830 – 1916, reg. 1848 – 1916)51 am 2. Dezember 1848 demonstrierte den unverbrüchlichen Willen der vorübergehend in die Defensive geratenen Dynastie und des

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Auf Details muß im Rahmen dieses Beitrags leider verzichtet werden; vgl. ausführlich Brandt: Parlamentarismus (wie Anm. 1), S. 76 – 83; Gerald Stourzh: Die Gleichberechtigung der Volksstämme als Verfassungsprinzip 1848 – 1918. In: Wandruszka/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. III.1, S. 975 – 1206, hier S. 975 – 1010 und Andreas Gottsmann: Der Reichstag 1848/49 und der Reichsrat 1861 – 1865. In: Rumpler/ Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. VII.1, S. 569 – 665. 50 Vgl. Brandt: Parlamentarismus (wie Anm. 1), S. 82 und Hanns Schlitter: Versäumte Gelegenheiten. Die oktroyierte Verfassung vom 4. März 1849. Ein Beitrag zu ihrer Geschichte. Zürich 1920. 51 Zu Kaiser Franz Joseph vgl. v. a. Harm-Hinrich Brandt: Franz Joseph I. von Österreich (1848 – 1916). In: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hrsg.): Die Kaiser der Neuzeit 1519 – 1918. Heiliges Römisches Reich, Österreich, Deutschland. München 1990, S. 341 – 381; Joseph Redlich: Kaiser Franz Joseph von Österreich. Berlin 1929 und Jean Paul Bled: Franz Joseph. „Der letzte Monarch der alten Schule“. Wien 1988.

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neuen Ministerpräsidenten Felix Fürst von Schwarzenberg (1800 – 1852)52, das Gesetz des Handelns wieder an sich zu reißen. Schon der ungewöhnliche Doppelname des neuen Herrschers, der von Hause aus eigentlich nur den Rufnamen Franz bzw. Franzl besaß, war Ausdruck der neuen Richtung: Grundsätzliche Anknüpfung an die konservative Politik seines Großvaters Franz I. (1768 – 1835, reg. 1792 – 1835), aber unbedingte Wiederherstellung der Monarchie im Geiste des josephinischen Absolutismus. Folgerichtig wurde der Kremsierer Verfassungsentwurf beiseite geschoben und, durchaus in Anknüpfung an das preußische Vorgehen im Dezember 1848, Anfang März 1849, eine Gesamtstaatsverfassung für die Habsburgermonarchie unter Einschluß Ungarns, dessen Aprilverfassung für verwirkt erklärt wurde, oktroyiert53. Die Märzverfassung knüpfte zwar in vielem an den Kremsierer Entwurf an, brachte allerdings das Monarchische Prinzip und den administrativen Zentralismus wieder klar zur Geltung und beanspruchte insbesondere Geltung in der Gesamtmonarchie, d. h. auch in Ungarn. Hier waren mittlerweile klare innenpolitische Frontbildungen erfolgt: Die Reformpartei war an der Regierung beteiligt, die Magnatenpartei zurückgedrängt worden. Schon im April erfolgten im Hinblick auf Stärkung des politischen Rückhaltes des Parlaments in der breiten Bevölkerung wichtige Reformschritte (unter anderem Ansätze zur Lösung der Bauernfrage, Aufhebung der Steuerfreiheit des Adels, Wahlrechtsausweitung mit Zensus, völlige Religions- und Pressefreiheit). Dadurch behielt der reformorientierte Adel die politisch-moralische Führung. Zugleich wurde aber eine Politik des unbedingten Magyarismus und magyarischen Zentralismus betrieben54, welche sich gegen die Minderheiten richtete: So verlor das bisher autonome Großfürstentum Siebenbürgen seine Selbstverwaltung, der Wahlzensus in Siebenbürgen war fünfmal so hoch wie im übrigen Ungarn, um insbesondere die Rumänen aus dem Reichstag herauszuhalten. Das passive Wahlrecht wurde außerdem an die Bedingung der Kenntnis der magyarischen Sprache gebunden. In den Komitaten galt ein Kurienwahlrecht mit hohen Mehrheiten für die Höchstbesteuerten, wodurch die magyarischen Großgrundbesitzer die Selbstverwaltung fest in der Hand behielten. Reichstagswahlen wurden für den Juli 1848 angesetzt. Heer und Finanzen wurden durch Reichstagsbeschluß den ungarischen Ministerien unterstellt, der Erzherzog-Palatin fungierte als Vollzieher der königlichen Gewalt, Reichstagsauflösungen durch die Krone wurden erschwert. Als wichtiger Faktor im Hinblick auf den weiteren Verlauf der ungarischen Revolution sollte sich der allmählich eskalierende innerungarische Nationalitätenkonflikt er52 Vgl. v. a. Rudolf Kiszling: Fürst Felix zu Schwarzenberg. Der politische Lehrmeister Kaiser Franz Josephs. Graz/Köln 1952 und Stefan Lippert: Felix Fürst zu Schwarzenberg (Historische Mitteilungen, Beiheft 21). Stuttgart 1998. 53 Abgedruckt in: Fischer/Silvestri (Hrsg.): Verfassungsgeschichte (wie Anm. 47), S. 47 – 61. 54 Vgl. hierzu Ludwig Gogolk: Ungarns Nationalitätengesetz und das Problem des magyarischen National- und Zentralstaates. In: Wandruszka/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. III.1, S. 1207 – 1303, hier S. 1207 – 1270.

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weisen, der einher ging mit den sich verschärfenden Magyarisierungstendenzen. Diese führten im Ergebnis zu einer Solidarisierung der Minderheiten mit dem Hause Habsburg, was erheblich zum Zusammenbruch der ungarischen Revolution beitrug. Von besonderer Bedeutung war hierbei das Königreich Kroatien-Slawonien, welches mit Ungarn in einer Realunion verbunden war und in seinem eigenen Landtag (Sabor) über eine quasi parlamentarische Plattform verfügte.55 Eine gewisse Bedeutung besaßen im südslawischen Raum „illyristische“ Tendenzen, welche die Bildung eines südslawischen Staates von Kroaten und Serben im Verband der Habsburgermonarchie anstrebten.56 Entscheidend für das Verhalten Kroatiens war die Haltung des Banus (Vizekönigs) Joseph Jelacˇicˇ (1801 – 1859)57, der im März 1848 auf Betreiben der ungarischen Altkonservativen zu seinem Amt gekommen war und dem es in enger Zusammenarbeit mit dem Hof gelang, sich zum Führer der dynastietreuen südslawischen Opposition gegen die ungarische Revolution aufzuschwingen. Als Jelacˇicˇ mit Rückhalt des Hofes im Herbst 1848 in Ungarn einmarschierte, eröffnete dies dort faktisch eine Art Bürgerkrieg. Die Regierung Batthyny trat zurück, Kossuth revolutionierte die kaiserlichen Truppen, in Siebenbürgen erhoben sich Rumänen und Deutsche gegen die Magyaren. Die Ermordung des vom Hof ernannten neuen Oberbefehlshabers der ungarischen Truppen Franz Graf Lamberg in Budapest (28. September 1848) führte schließlich zum Bruch zwischen der Krone und dem Königreich Ungarn: Der ungarische Reichstag wurde mit Manifest vom 3. Oktober 1848 aufgelöst, seine letzten Beschlüsse für ungültig erklärt, das Kriegsrecht verhängt und Jellacˇicˇ zum Oberbefehlshaber aller Truppen in Ungarn ernannt. Die Ungarn ignorierten diese Anordnungen und gingen damit in der Sicht des Hofes zur offenen Rebellion über; große Teile der kaiserlichen Truppen in Ungarn fielen vom Kaiser ab und bildeten faktisch eine neue Nationalarmee unter dem Oberbefehl Kossuths. Es würde zu weit führen, die Details des immer weiter eskalierenden Konflikts zwischen dem Hof und Ungarn in extenso auszubreiten. Im Ergebnis gelang der Krone mit Waffenhilfe Rußlands und unter Ausnutzung der Unzufriedenheit der Minderheiten, die sich in Aufständen äußerten, im August 184958 die Rückeroberung des Königreichs. Ungarn wurde militärisch besetzt und wie Feindesland behandelt, seine Autonomie und Verfassung wurden aufgehoben („Verwirkungstheorie“), mittelfristig strebte man in Wien seine Zerschlagung in voneinander getrennte Kronländer an. Siebenbürgen, Kroatien-Slawonien, der Banat und die Militärgrenze wurden von Ungarn (wieder) unabhängig.

55 Vgl. hierzu Mirjana Gross: Der kroatische Sabor. In: Rumpler/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. VII.2, S. 2283 – 2316, hier v. a. S. 2283 – 2288. 56 Vgl. hierzu ausführlich Clewing: Identitätsbildung (wie Anm. 39). 57 Vgl. hierzu die eher populärwissenschaftliche Lebensbeschreibung von Walter Görlitz: Jelacic´. Symbol für Kroatien. Die Biographie. Wien/München 1992. 58 13. August 1849: Kapitulation der ungarischen Armee unter General Artfflr von Görgey (1818 – 1916) bei Vilgos vor den Russen.

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Die oktroyierte Märzverfassung des Jahres 1849 wurde nie erfüllt, mit dem Sylvesterpatent des Jahres 185159, das jene auch formell aufhob, vollzog sich in der Habsburgermonarchie der Übergang zum Neoabsolutismus60, welcher mit der Wiederherstellung eines strikten Zentralismus unter Einschluß Ungarns einherging und eine Art Modernisierungsdiktatur gewesen ist, welche die „Züge eines Nachholprozesses monarchischer Staatsbildung“ besaß, „die im mitteleuropäischen Bereich verlaufstypisch dem aufgeklärten Absolutismus bzw. dem Spätabsolutismus der Rheinbundzeit zugehört.“61 Ungeklärt blieb hierbei allerdings das von der Regierung unterschätzte Dilemma, daß eine Lösung der Verfassungs- und Nationalitätenprobleme der Habsburgermonarchie letztendlich nur möglich war, wenn es einen Minimalkonsens mit den Beherrschten in dem Sinne gab, daß die Legitimität der zu schaffenden Staatlichkeit und ihrer Institutionen grundsätzlich anerkannt wurde. Die hieraus resultierenden Probleme, nämlich der Boykott obrigkeitlicher Maßnahmen bzw. parlamentarischer Institutionen durch ganze Völker oder deren gewählte Repräsentanten, sollte die Habsburgermonarchie bis zu ihrem Untergang nie wirklich in den Griff bekommen. Für auf neoständischer Grundlage gebildete Vertretungskörperschaften gab es zwar Pläne, doch kam es nicht mehr zu deren Umsetzung. Die Niederlage Österreichs im Krieg gegen Sardinien 1859 und die sich anschließende schwere kreditpolitische Erschütterung bereiteten dem neoabsolutistischen Experiment schließlich das Ende und leiteten eine sechsjährige Phase des „prozedural zähen wie sachlich eklektizistischen Kurierens an Teilen des gesamten Staats- und Reichsproblems“62 ein, das vor allem deshalb so unergiebig war, weil die Krone im Kern immer noch an ihren absolutistisch-monarchischen Illusionen festhielt und Zugeständnisse zumeist taktischer Natur waren, denen kein schlüssiges und zukunftsfähiges Konzept zugrunde lag.63 Durchschlagen wurde der gordische Knoten erst durch die als Folge von Österreichs Niederlage im Krieg gegen Preußen (1866) erzwungene dualistische Umgestaltung der Habsburgermonarchie64, der diese bei Wahrung gemeinsamer Angelegenheiten in den Bereichen der Außen-, Finanz-, und Militärpolitik und bei starker Stellung des gemeinsamen Monarchen in zwei autonome Staaten aufteilte. Die Gesamtmonarchie wurde, „ihres staatlichen Charakters entkleidet, Ungarn samt 59

Abgedruckt in Fischer/Silvestri (Hrsg.): Verfassungsgeschichte (wie Anm. 47), S. 62 f. Vgl. hierzu v. a. Harm-Hinrich Brandt: Der österreichische Neoabsolutismus. Staatsfinanzen und Politik 1848 – 1860. 2 Bde. Göttingen 1978 und Zsolt K. Lengyel: Österreichischer Neoabsolutismus in Ungarn. Grundlinien, Probleme und Perspektiven der historischen Forschung in der Bach-Ära. In: Südost-Forschungen 56/1997, S. 213 – 278. 61 Brandt: Parlamentarismus (wie Anm. 1), S. 85. 62 Ebd., S. 87. 63 Zu Oktoberdiplom (20. 10. 1860) und Februarpatent (1861) vgl. ausführlich v. a. Brandt: Parlamentarismus (wie Anm. 1), S. 87 – 94. Die Verfassungstexte finden sich in: Fischer/Silvestri (Hrsg.): Verfassungsgeschichte (wie Anm. 47), S. 69 – 71 und S. 72 – 83. 64 Neben der bereits erwähnten einschlägigen Literatur vgl. hierzu Ludovt Holotk/Anton Vantuch (Hrsg.): Der österreichisch-ungarische Ausgleich 1867. Bratislava/Preßburg 1971. 60

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Nebenländern als Staat wiederhergestellt, womit sich die bisherige österreichische Gesamtstaatlichkeit auf Cisleithanien zurückzog“.65 Ob es überhaupt noch ein Ungarn und ein „Die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ überwölbendes Reichsdach gebe, war in der Folgezeit, wie bereits erwähnt, eine heftig diskutierte Frage und wurde insbesondere von den Ungarn vehement bestritten.66 In dieser Situation kam die Dynastie als vorkonstitutionelle Legitimitätsreserve in eine Schlüsselstellung, da sich in ihrer schieren Existenz und in den ihr verbliebenen monarchischen Prärogativen letztendlich die Reichsidee verkörperte. „Das Reich“ – so hat Harm-Hinrich Brandt sehr treffend festgestellt – „als eine Sphäre ausgeprägter monarchischer Prärogative kann also in historischer Perspektive als der Restbestand einer gestalttypisch älteren Macht- und Institutionenbildung angesehen werden, der die Fortentwicklung zum Staat versagt blieb und die sich damit der Konstitutionalisierung und Parlamentarisierung im Kern entzog, die aber die Basis wirksamer politischer Gestaltungskraft über den durch sie vereinigten Staaten blieb, solange das Prinzip der monarchischen Legitimität noch Geltungskraft besaß.“67 Dies erlaubte der Dynastie bei extensiver Auslegung der monarchischen Prärogative die Wahrung eines Restbestandes an monarchisch-absolutistischer Handlungsfreiheit. Problematisch blieb indes, daß diese Strategie letztendlich auf ein retardierendes Festklammern am prekären Status quo hinauslief, die Grundprobleme allerdings ungelöst blieben. Hinzu kam, daß, weil durch den Ausgleich ein privilegierter Status für die Magyaren, faktisch aber auch für die Deutschen, förmlich anerkannt wurde, das bisher streng beachtete Prinzip der Gleichrangigkeit aller Völker aufgegeben wurde. Zwar funktionierte die Ausübung der gemeinsamen Angelegenheiten der als „Monarchie auf Kündigung“68 verspotteten Doppelmonarchie bis 1918 leidlich, doch nahm die Entwicklung der Teilstaaten seit 1867 eine denkbar unterschiedliche Richtung. Die siegreichen magyarischen Liberalen garantierten im ungarischen Nationalitätengesetz vom 29. November 186869 zwar scheinbar großzügig das Recht der 65

Brauneder: Habsburgermonarchie (wie Anm. 1), S. 235. Zur Rechtsqualität der Habsburgermonarchie und ihrer beiden Reichshälften nach 1867 vgl. neben den genannten Arbeiten Brauneders insbesondere Rumpler/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. VII.1, S. 1177 – 1230. 67 Brandt: Parlamentarismus (wie Anm. 1), S. 100. 68 Eine Anspielung auf die Tatsache, daß die Finanzierung der gemeinsamen Angelegenheiten in Ermangelung eines gemeinsamen Reichsparlaments alle zehn Jahre von speziell zu diesem Zweck gebildeten Ausschüssen der Parlamente Cis- und Transleithaniens – den sogenannten Delegationen – neu bewilligt werden mußte, wodurch eine Einbruchstelle für die Aushöhlung des 1867 erzielten Kompromisses vorhanden war; vgl. Rumpler/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. VII.1, S. 1107 – 1176. 69 Vgl. zum folgenden ausführlich v. a. Ludwig Gogolk: Ungarns Nationalitätengesetz und das Problem des magyarischen National- und Zentralstaates. In: Wandruszka/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. III.1, S. 1207 – 1303, hier S. 1270 – 1303 sowie für den weiteren Fortgang der ungarischen Innenpolitik Friedrich Gottas: Ungarn im Zeitalter des Hochliberalismus. Studien zur Tisza-Ära 1875 – 1890 (Studien zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie, Bd. 16). Wien 1976. 66

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Minderheiten auf Pflege ihrer Sprachen im Schulwesen, im Verkehr mit den Behörden und im religiösen Bereich. Doch versuchten sie in der Praxis angesichts der Tatsache, daß das magyarische Staatsvolk auch weiterhin nur gut die Hälfte der Bevölkerung des Königreichs ausmachte, dieses, in Anknüpfung an entsprechende Maßnahmen aus dem Jahr 1848, mit Hilfe eines manipulativen Wahlrechts und aggressiver Magyarisierungspolitik70 gegenüber den anderen Völkern in einen modernen integralen Nationalstaat nach französischem Vorbild umzuwandeln. Diese nationalistische Strategie war, wie die Nationalitätenstatistik zeigt71, zwar vordergründig recht erfolgreich, doch erwies sie sich langfristig als kontraproduktiv; die ungarische Katastrophe von 1918/19, die Zerschlagung des Reiches der Stephanskrone und die Neukonstituierung Restungarns als ostmitteleuropäischer Kleinstaat, haben hierin ihre tieferen Ursachen. Lediglich mit Kroatien schloß Ungarn am 20. September 1868 einen eigenen Ausgleich72, der den Bestand eines kroatischen Landtages für innerkroatische Angelegenheiten und die Entsendung von 70 Abgeordneten aus dem Sabor in den ungarischen Reichstag vorsah. Der Banus wurde vom König auf Vorschlag des ungarischen Ministerpräsidenten ernannt, womit dessen staatsrechtliche Ein- und Unterordnung klargestellt war. In der Praxis war der Banus meist ein Magyare oder magyarisierter Kroate, der, wenn es Schwierigkeiten gab, den kroatischen Landtag auflöste und ohne ihn regierte. In Cisleithanien73, wo keine Nationalität über eine auch nur annähernde Mehrheit verfügte – Deutsche und Tschechen stellten mit ca. 33 % bzw. 22 % die größten Volksgruppen – war das Bild dagegen zwiespältig. Dort vollzog sich die Neukonstituierung unter deutschliberal-zentralistischen Vorzeichen: Es gelang dem deutschliberal dominierten Ministerium Fürst Carlos von Auersperg (1814 – 1890), 70 Zur Magyarisierungspolitik im Schulwesen vgl. v. a. Joachim von Puttkamer: Schulalltag und nationale Integration. Slowaken, Rumänen und Siebenbürger Sachsen in der Auseinandersetzung mit der ungarischen Staatsidee 1867 – 1914. München 2003. Im Bereich der Universitäten führten die rigiden obrigkeitlichen Maßnahmen zu einem Exodus der Minderheiten an Hochschulen außerhalb Ungarns; vgl. hierzu: Matthias Stickler: Die Selbstorganisation der Studenten aus dem Königreich Ungarn an deutschen und österreichischen Hochschulen zwischen 1871 und 1918. In: Anton Schindling/Gyula Kurucz/Mrta Fata (Hrsg.): Peregrinatio Hungarica. Studenten aus Ungarn an deutschen und österreichischen Hochschulen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert (Contubernium, Bd. 64). Stuttgart 2006, S. 471 – 503. 71 Im Reich der Stephanskrone stellen wir, anders als in Cisleithanien und in der Gesamtmonarchie (s. u.) ein signifikantes Absinken des Slawenanteils von knapp einem Drittel auf etwa ein Viertel fest, während im gleichen Zeitraum der Anteil der Magyaren von gut einem Drittel der Bevölkerung auf fast die Hälfte stieg. 72 Vgl. hierzu Horst Haselsteiner: Zur südslawischen Problematik des österreichisch-ungarischen Ausgleiches. In: Adam Wandruszka (Hrsg.): Die Donaumonarchie und die südslawische Frage von 1848 bis 1918. Wien 1978, S. 48 – 56 und Mirjana Gross: Der kroatische Sabor. In: Rumpler/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. VII.2, S. 2283 – 2316, hier v. a. S. 2294 ff. 73 Vgl. hierzu und zum folgenden Brandt: Parlamentarismus (wie Anm. 1), S. 101 ff. und Helmut Rumpler: Parlament und Regierung Cisleithaniens 1867 – 1914. In: Rumpler/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. VII.1, S. 667 – 894; dort auch weiterführende Literaturhinweise.

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unterstützt durch den ehemaligen sächsischen Außenminister und nunmehrigen k.u.k. Reichskanzler Ferdinand von Beust (1809 – 1886), im auf manipulativem Wege deutschliberal dominierten engeren Reichsrat die Annahme der Ausgleichsverträge gegen die opponierenden Tschechen sicherzustellen und im Anschluß die westliche Reichshälfte in der sogenannten Dezemberverfassung74 als zentralistisch aufgebaute konstitutionelle Monarchie deutschen Typs zu konstituieren, welche bis 1918 in weitgehend unveränderter Form Bestand hatte. Dennoch war die Dezemberverfassung kein Instrument gegen die anderen Völker. Artikel 19 garantierte vielmehr die Gleichberechtigung aller „Volksstämme des Staates“ und deren „unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache“.75 Zu einer Germanisierungspolitik analog zu den rigiden Maßnahmen in Ungarn ist es in der westlichen Reichshälfte denn auch nie gekommen, wie dort auch die Möglichkeiten, das Wahlrecht manipulativ zu Gunsten der Deutschen einzusetzen, letztendlich begrenzt waren. Wie tolerant die Nationalitätenpolitik in der westlichen Reichshälfte grundsätzlich war, zeigt sich besonders beim Umgang mit der bosnischmuslimischen Minderheit, die der Habsburgermonarchie als Folge der Besetzung Bosnien-Hercegovinas zuwuchs: Diese wurde, trotz der nicht zu unterschätzenden Bedeutung, die der Mythos der siegreichen Türkenkriege des 17. und 18. Jahrhunderts für das Selbstverständnis der Monarchie hatte, nicht nur toleriert, sondern sogar gefördert, vor allem in der Armee, etwa durch Rücksichtnahme auf muslimische Speisevorschriften bei der Verpflegung und die Bestellung spezieller muslimischer Feldgeistlicher für die Truppenseelsorge.76 Andererseits setzten sich die aus der Zeit von vor 1867 auf der Gesamtreichsebene bekannten Konflikte in Cisleithanien fort, weil sich die Dezemberverfassung als wenig weiterentwicklungsfähig erwies. Der Hauptgrund hierfür lag in den Ausgleichsverträgen: Letztlich hemmte der föderalistische Umbau des Reiches in zwei Staaten jede weitere Föderalisierung, da erstens Magyaren und Deutsche als Hauptprofiteure des Ausgleichs ein verständliches Interesse daran hatten, den erreichten Zustand in ihrer jeweiligen Reichshälfte festzuschreiben. Das Festhalten am Status quo des Jahres 1867 war zweitens aber auch deshalb notwendig, weil die Ausgleichsgesetze, vor allem die Bestimmungen über die Delegationen, die Existenz zweier Staaten mit je integralen Vertretungskörpern zwingend voraussetzen. Hätte sich ein Vertragspartner in zwei oder mehrere aufgelöst, so wäre die Grundlage des Verfassungswerkes beseitigt und damit seine Gültigkeit in Frage gestellt worden. 74

Abgedruckt in: Fischer/Silvestri (Hrsg.): Verfassungsgeschichte (wie Anm. 47), S. 86 –

103. 75 Vgl. hierzu sowie zur weiteren Nationalitätenpolitik in Cisleithanien Gerald Stourzh: Die Gleichberechtigung der Volksstämme als Verfassungsprinzip 1848 – 1918. In: Wandruszka/ Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. III.1, S. 975 – 1206, hier S. 1011 – 1206. 76 Vgl. hierzu Ferdinand Hauptmann: Die Mohammedaner in Bosnien-Hercegovina. In: Wandruszka/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. IV: Die Konfessionen (1985), S. 670 – 701.

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Faktisch existierte als Folge der verfassungsmäßigen Bindung beider Reichshälften aneinander ein weitgehendes effektives Vetorecht der Ungarn in cisleithanischen Verfassungsfragen, welches eine Föderalisierung der westlichen Reichshälfte bis 1918 dauerhaft verhindern sollte. Theoretisch gab es natürlich auch ein analoges Vetorecht Cisleithaniens in Bezug auf Ungarn, politisch war aber nur die umgekehrte Konstellation relevant, da es, wie erwähnt, den Ungarn gelungen war, ihre Reichshälfte als Staat mit integraler, magyarisch bestimmter Willensbildung zu organisieren. Vor allem an dieser prekären Gesamtkonstellation scheiterten 1871 die Bemühungen des konservativen Ministerpräsidenten Karl Sigmund Graf von Hohenwart (1824 – 1899)77, einen Ausgleich mit den Tschechen unter föderalistischen Vorzeichen herbeizuführen.78 Problematisch war dieses Scheitern nicht zuletzt deshalb, weil insbesondere in Cisleithanien der Anteil der Slawen an der Gesamtbevölkerung seit 1859 kontinuierlich stieg79 : Addiert man alle slawischen Völker zusammen, so ergibt sich für die Gesamtmonarchie ein Anteil von 44,4 % im Jahr 1857, 48,9 % im Jahr 1890 und 47,8 % im Jahr 1910, also Werte knapp unter 50 %. Differenziert nach Reichsteilen lauten die Zahlen für Cisleithanien 53 % (1857), 60,1 % (1890) und 60,7 % (1910), für Ungarn 31,4 % (1857), 28,3 % (1890) und 25,71 % (1910). Wir haben also im Westen eine exorbitante Steigerung des Slawenanteils von über der Hälfte auf unter zwei Drittel; die Steigerung ergibt sich zwar auch aus dem statistischen Effekt des Ausscheidens des italienischen Kronlandes Lombardo-Venetien aus dem Reich 1859/60, sie zeigt aber eindeutig, daß die deutsch-böhmischen Erbländer ein überwiegend slawischer Reichsteil waren; der Anteil der Deutschen veränderte sich zwischen 1857 und 1910, sieht man von den Folgen des eben erwähnten statistischen Effekts ab, kaum und blieb bei gut einem Drittel der Bevölkerung. Es wäre nun zwar unzulässig, die Slawen der Habsburgermonarchie gleichsam als eine geschlossene Formation zu sehen – derartige Vorstellungen entsprangen eher dem Wunschdenken mancher panACHTUNGREslawistischer bzw. deutschnationaler Agitatoren. Dennoch mußte die tendenzielle politische Zurücksetzung derartig großer Volksgruppen sich langfristig als problematisch erweisen. Die Überspielung der nationalen tschechischen Partei in Cisleithanien durch die Deutschliberalen sollte sich insofern rächen, als die ungelöste tschechische Frage – und das mit ihr zusammenhängende Problem der Stellung der Slawen in der Habsburgermonarchie überhaupt – die Ausbildung eines echten Parlamentarismus im 77 Emilie Schenk-Sudhof: K. Graf Hohenwart. Wien Diss. phil. 1952 und Georg Herbert Spitz: Graf Hohenwarts Fundamentalartikel und sein Kampf mit Beust. Wien 1924. 78 Vgl. hierzu Elisabeth Charlotte Büchsel: Die Fundamentalartikel des Ministeriums Hohenwart-Schäffle von 1871. Breslau 1941; Christian Scharf: Ausgleichspolitik und Pressekampf in der Ära Hohenwart. Die Fundamentalartikel von 1871 und der deutsch-tschechische Konflikt in Böhmen (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, Bd. 82). München 1996 [zugl. Diss. Berlin 1992]; Rudolf Wierer: Das böhmische Staatsrecht und der Ausgleichsversuch des Ministeriums Hohenwart-Schäffle. In: Bohemia 4 (1963), S. 54 – 173. 79 Vgl. hierzu die Tabellen im Anhang.

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Westen verhinderte. Das manipulativ einsetzbare indirekte Kurienwahlrecht sowie der gezielte Boykott des Parlaments durch einzelne Volksgruppen führten den Repräsentationsgedanken ad absurdum. Doch auch das schließlich 1907 eingeführte allgemeine Wahlrecht80 verbesserte die Akzeptanz des konstitutionellen Systems nicht, ja es behinderte sogar eine weitergehende Parlamentarisierung des politischen Systems Cisleithaniens, weil es den Zerfall des Abgeordnetenhauses in kompromißunwillige, sich vorrangig ethnisch-national definierende Fraktionen begünstigte. Insofern zeigt die Krise der späten Habsburgermonarchie in aller Deutlichkeit, daß Demokratisierung nicht notwendigerweise ein Heilmittel bei Nationalitätenproblemen ist, weil Fraktionsbildungen nach vorrangig ethnischen Kategorien zu einer Erstarrung der Machtverhältnisse führen und den für die Demokratie konstitutiven Machtwechsel von der Mehrheit zur Minderheit ausschließen.81 Krone und Regierung reagierten auf die Probleme mit einer Taktik der gezielten administrativen Konzessionen an einzelne Nationalitäten sowie einer extensiven Auslegung des Notverordnungsrechts, was letztendlich auf eine informelle Rückkehr zum bürokratischen Absolutismus hinauslief. Verschärft wurden die Probleme noch dadurch, daß als Folge von Industrialisierung und zunehmender Mobilität die ethnische Gemengelage in den Kronländern weiter zunahm, was z. B. im Bereich des Schulwesens zu Auseinandersetzungen um die Unterrichtssprache führte.82 Wie verfahren die Lage in der westlichen Reichshälfte war, zeigt das Scheitern der sogenannten Badenischen Sprachverordnung 1897 in den Böhmischen Ländern83 : Der Pole Graf Kasimir Badeni (1846 – 1909) war 1895 zum cisleithanischen Ministerpräsidenten berufen worden. Die Sprachenverordnung bestimmte für Böhmen und Mähren die Gleichrangigkeit des Deutschen und des Tschechischen als äußere und innere Amtssprachen im ganzen Land und verlangte von neu ernannten Beamten ab 1901 die Kenntnis beider Landessprachen, was die Deutschen als Sieg der böhmischen Staatsrechtsideologie und damit als Affront gegen sich gerichtet ansahen. Die Folge waren Massenproteste, verbunden mit Ausschreitungen bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen. Im November 1897 wurde Badeni schließlich entlassen, die Sprachverordnungen zunächst gemildert und schließlich ganz aufgehoben. Innenpolitisch entstanden auf diese Weise irreparable Schäden im Verhältnis der deutschen und nichtdeutschen Nationalitäten zueinander. Bemerkenswert ist allerdings, daß es in der Markgrafschaft Mähren dennoch 1905/06 gelang, zu einem Ausgleich zwischen Deutschen und Tschechen zu kommen („Mährischer Ausgleich“)84, doch 80

Vgl. hierzu William A. Jenks: The Austrian Electoral Reform of 1907. New York 1950. Vgl. Weichlein: Nationalismus (wie Anm. 12), S. 273. 82 Vgl. hierzu Hannelore Bürger: Sprachenrecht und Sprachgerechtigkeit im österreichischen Unterrichtswesen 1867 – 1918. Wien 1995. 83 Hierzu zuletzt Markus Krzoska: Die Peripherie bedrängt das Zentrum. Wien, Prag und Deutschböhmen in den Badeni-Unruhen. In: Maner (Hrsg.): Grenzregionen (wie Anm. 8), S. 145 – 165; vgl. auch Berthold Sutter: Die Badenischen Sprachenverordnungen von 1897. 2 Bde. Graz/Köln 1960 und 1965. 84 Vgl. hierzu Horst Glassl: Der Mährische Ausgleich. München 1967, Ders.: Nationale Autonomie im Vielvölkerstaat. Der Mährische Ausgleich. München 1977 und T. Mills Kelly: 81

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ebenso bezeichnend ist es, daß ein ähnliches Vorhaben im Königreich Böhmen („Böhmischer Ausgleich“) 1913 endgültig scheiterte. Ebenfalls erfolgreich waren die Ausgleichsverhandlungen in der Bukowina.85 Bemerkenswert ist auch, daß in Cisleithanien zwischen 1868 und 1871 eine im wesentlichen bis 1918 tragfähige Lösung für die polnische Frage gefunden wurde.86 Diese brachte für das Königreich Galizien und Lodomerien zwar keine staatsrechtliche Selbständigkeit innerhalb der Habsburgermonarchie, wie sie von den Polen zunächst gefordert worden war, jedoch eine faktische Autonomie unterhalb der staatsrechtlichen Ebene, diese allerdings – und das erinnert an den Ausgleich mit Ungarn – zu Lasten der Ruthenen. Es handelte sich hierbei im wesentlichen um einen Herrschaftskompromiß zwischen der Wiener Zentrale und dem polnischen Adel, was der Tradition der habsburgischen Herrschaft in diesem nördlichsten Kronland seit 1772 entsprach. Das Landtagswahlrecht sicherte dem polnischen adeligen Großgrundbesitz stabile Mehrheiten, Polnisch wurde in Galizien zur inneren und äußeren Amtssprache erhoben, Ruthenisch nur zur äußeren Amtssprache in den östlichen Gebieten des Königreichs. In Wien wurde ab 1871 dauerhaft ein polnischer Landesminister kreiert, der innerhalb der Regierung die Interessen der Polen Cisleithaniens vertrat. Die Verwaltung in Galizien wurde polonisiert, ebenso Hochschulen – darunter die Universität und die Technische Hochschule Lemberg – und höhere Schulen, im Osten wiederum auf Kosten der Ruthenen. Ähnlich wie im Falle Ungarns bedeutete dies einen Bruch mit der habsburgischen Politik des Schutzes der kleinen Nationalitäten. Die Folge war eine starke Polonisierung des Königreichs, besonders der Hauptstadt Lemberg. Im Horizont der gesamtpolnischen Kulturnation war Galizien nun derjenige Teil, in dem die Bewahrung der nationalen Kultur und Sprache am besten gesichert war, im Gegensatz zu Russifizierungs- bzw. Germanisierungstendenzen in Rußland und Preußen-Deutschland. Die Polen Cisleithaniens, konkret der adelig dominierte regierungsfreundliche „Polenclub“ im Reichsrat, wurden auf diese Weise, solange eine Wiederherstellung eines unabhängigen Staates aussichtslos war, zu zuverlässigen Stützen der Habsburgermonarchie. Dies änderte Last Best Chance or Last Gasp? The Compromise of 1905 an Czech Politics in Moravia. In: AHY 34/2003, S. 279 – 303. 85 Vgl. hierzu John Leslie: Der Ausgleich in Bukovina von 1910. Zur österreichischen Nationalitätenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg. In: Emil Brix/Thomas Fröschl/Josef Leidenfrost (Hrsg.): Geschichte zwischen Freiheit und Ordnung. Gerald Stourzh zum 60. Geburtstag. Graz 1991, S. 113 – 144. 86 Vgl. zum folgenden Batowski: Die Polen. In: Wandruszka/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 184 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. III.1, S. 522 – 554, hier S. 531 – 536 und S. 543 – 545 sowie S. 550 – 554. Zur ruthenischen Frage vgl. Biehl: Die Ruthenen. In: Wandruszka/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. III.1, S. 555 – 584; Keely Stauter-Halsted: The Nation in the Village. The Genesis of Peasant National Identity in Austrian Poland 1848 – 1914. Ithaca/New York 2001; Stanisław Grodziski: Der Landtag des Königreichs Galizien und Lodomerien. In: Rumpler/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. VII.2, S. 2131 – 2169 sowie John-Paul Himka: Religion and Nationality in Western Ukraine: The Greek Catholic Church and the Ruthenian National Movement in Galicia. 1867 – 1900. Montreal 1999.

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sich erst durch die Einführung des Allgemeinen Wahlrechts 1907, wodurch vermehrt oppositionell eingestellte polnische Bauern und Sozialisten in das Wiener Abgeordnetenhaus einzogen, welche allerdings vorrangig soziale und weniger separatistische Interessen verfolgten. Erst der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, durch den die „polnische Frage“ wieder auf die Tagesordnung der Weltpolitik kam, bewirkte eine erhebliche Verschlechterung des Verhältnisses, weil die Wiener Regierung nicht geneigt war, Galizien einem zu schaffenden polnischen Nationalstaat zu opfern. Angesichts der Schwierigkeiten, die einer Integration des habsburgischen Vielvölkerstaats über parlamentarische Institutionen im Wege standen, kam vor allem der Dynastie und dem Militär87 eine Schlüsselrolle als unverzichtbare zentripetale Kräften zu: Da das Haus Habsburg keiner Nationalität eindeutig angehörte, bildete es in der Tat einen ruhenden Pol, ein ausgleichendes Element innerhalb des bestehenden komplizierten Verfassungssystems. Die Thronfolger wurden entsprechend mehrsprachig erzogen und auf die öffentliche Repräsentation der Monarchie durch den Kaiser wie auch die einzelnen Agnaten wurde großer Wert gelegt – dies gerade auch, indem die partikularen Traditionen der einzelnen Kronländer für eine gesamtstaatlich gedachte, letztlich föderative Sinnstiftung in Dienst genommen wurden.88 Kaiser Franz Joseph I. erblickte in der korporativen Verfaßtheit der Dynastie letztendlich ein Gegengewicht zu den zentrifugalen Kräften des Konstitutionalismus. Wenigstens der Familienverband durfte nicht in einzelne Partikularinteressen zerfallen, er sollte nach wie vor die Einheit der Doppelmonarchie gewährleisten und durch seine Extrakonstitutionalität die Grenzen des anscheinend unaufhaltsamen Prinzips der Volkssouveränität markieren. An Bedeutung verlor nach dem Ausgleich indes der mit dem Nimbus der Dynastie seit dem 16. Jahrhundert eng verbundene Gedanke von der katholischen Sendung des Hauses Habsburg als integratives Band. Kaiser Franz Joseph I. vermied seither alle Maßnahmen, die auf die Protestanten konfessionell polarisierend hätten wirken können und schloß in diese Praxis religiöser Toleranz auch Juden und Muslime ein, die der Dynastie dies mit besonderer Treue dankten. 87 Vgl. zum folgenden ausführlich Stickler: Dynastie, Armee, Parlament (wie Anm. 22), S. 111 – 117 und S. 121 – 124. Vgl. hierzu auch Robert A. Kann: The Dynasty and the Imperial Idea. In: AHY 3/1967, S. 11 – 37 und Peter Urbanitsch: Pluralist Myth an Nationalist Realities. The Dynastic Myth of the Habsburg Monarchy – A Futile Exercice in the Creation of Identity? In: AHY 35/2004, S. 101 – 142. 88 Als besonders bedeutsam muß in diesem Zusammenhang eingeschätzt werden, daß das Wiener Hofzeremoniell die Landestracht dem bei Kaiseraudienzen eigentlich vorgeschriebenen Frack bzw. der Uniform gleichstellte und auf diese Weise die regionalen, gerade auch bäuerlichen Traditionen aufwertete. Dieses kulturgeschichtlich interessante Feld ist noch viel zu wenig erforscht; vgl. etwa Daniel Unowsky: The Pomp and Politics of Patriotism. Imperial Celebrations in Habsburg Austria 1848 – 1916. West Lafayette 2005. Gründlich mißverstanden hat Philipp Ther die Bedeutung der symbolischen Repräsentation des Hauses Habsburg, wenn er schreibt, „Kaiser Franz Joseph versuchte, wenn er in die jeweilige Landestracht schlüpfte, alles zugleich zu sein: Böhme, Pole oder durch die Stefanskrone ein Ungar.“ (Philipp Ther: Deutsche Geschichte als imperiale Geschichte. In: Sebastian Conrad/Jürgen Osterhammel (Hrsg.): Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871 – 1914. Göttingen 2004, S. 129 – 148, hier S. 144). Um einen Mummenschanz handelt es sich hierbei gerade nicht.

72

Matthias Stickler

Dennoch blieb die – etwa bei der traditionellen Fußwaschung oder der Fronleichnamsprozession – demonstrativ zur Schau gestellte Katholizität auch weiterhin ein wichtiges Element der öffentlichen Selbstdarstellung des Hauses Habsburg, die das Ziel verfolgte, den dynastischen Geist in der Bevölkerung zu heben und diese gegen Nationalismus und Liberalismus zu immunisieren. Die k.u.k. Armee89 war bereits von Alters her eine wichtige Stütze des Throns gewesen, ihre Verläßlichkeit hatte sich während der Revolution von 1848/49 einmal mehr gezeigt, und sie blieb, trotz der Gründung von Landwehren in beiden Reichshälften als Folge des Ausgleichs, von denen die ungarische „Honvd“ die fehlende Nationalarmee substituierte, auch nach 1867 eine der zentralen „gemeinsamen“ Institutionen, in der sich, ähnlich wie in der Dynastie, die umstrittene Gesamtstaatsidee verkörperte. Deshalb sah Erzherzog Albrecht – seit 1869 Generalinspektor und als designierter Feldherr unmittelbares ausführendes Organ des Kaisers – in der 1868 eingeführten allgemeinen Wehrpflicht die Chance, über die Armee erzieherisch auf die Bevölkerung einzuwirken. In seiner 1869 erschienenen Schrift „Gedanken über den militärischen Geist“ forderte er, die Armee solle als moralische Anstalt Schule der Wehrkraft sein und die Idee der Reichsgemeinschaft verkörpern. Hierzu war es jedoch notwendig, daß insbesondere das Offizierkorps den geistigen Strömungen der Gegenwart entzogen, ja, man möchte fast sagen, kastenartig abgesondert wurde, als eine Art Elite des dynastisch fundierten Reichspatriotismus dem Zeitgeist widerstand und so befähigt wurde, ihrerseits wieder in diesem Sinne auf die Völker der Monarchie zurückzuwirken. Erfolgreich war dieses Konzept nur teilweise: Vor allem die Berufssoldaten und hier insbesondere das Offizierkorps, aber auch beispielsweise Angehörige der in Ungarn unterdrückten Minderheiten zeigten sich empfänglich für die dynastieorientierte Idee der Reichsgemeinschaft. Als Konsequenz aus der komplizierten verfassungsrechtlichen Gemengelage und den zahlreichen praktischen Problemen, die aus den Nationalitätenkonflikten resultierten, schien vielen Beobachtern und politisch Handelnden bei realistischer Sicht der Verhältnisse eine Lösung des habsburgischen Reichsproblems nur im Wege eines Staatsstreiches90 denkbar, der insbesondere das ungarische Staatsrecht beiseite 89

Vgl. hierzu Wandruszka/Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (wie Anm. 1), Bd. V: Die bewaffnete Macht (1987) und Gunther E. Rothenberg: The Army of Francis Joseph. West Lafayette/Indiana 1975 sowie Antonio Schmidt-Brentano: Die Armee in Österreich. Militär, Staat und Gesellschaft. 1848 – 1867 (Wehrwissenschaftliche Forschungen/ Abteilung militärgeschichtliche Studien, Bd. 20). Boppard/Rhein 1975. 90 Im Hinblick auf alternative Ansätze zur Lösung der Nationalitätenprobleme vgl. v. a. die letztlich gescheiterten Reformansätze unter Ministerpräsident Ernest von Koerber (1850 – 1919) sowie die Reformpläne der österreichischen Sozialdemokratie; vgl. hierzu: Alfred Ableitinger: Ernest von Koerber und das Verfassungsproblem im Jahre 1900. Österreichische Nationalitäten- und Innenpolitik zwischen Konstitutionalismus, Parlamentarismus und oktroyiertem allgemeinen Wahlrecht (Studien zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie, Bd. 12). Wien 1973; Fredrik Lindström: Ernest von Koerber and the Austrian State Idea. A Reinterpretation of the Koerber Plan (1900 – 1904). In: AHY 35/2004, S. 143 – 184; Hans Mommsen: Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburgischen Viel-

Staatsorganisation in der Habsburgermonarchie 1804 – 1918

73

schob. Sowohl der Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand91 als auch Kaiser Karl92, die beide Pläne zum Umbau des Reiches in einen trialistischen Bundesstaat bzw. einen Bundesstaat auf ethnisch-nationaler Grundlage schmiedeten, haben derartige Überlegungen angestellt. Helmut Rumpler hat in seinem knappen, prägnant formulierten Lebensbild Kaiser Karls zu recht darauf hingewiesen, daß dieser versucht habe, der ursprünglichen österreichischen Staatsräson wieder stärker gerecht zu werden.93 Innenpolitisch bedeutete dies den (mittelfristigen) Umbau der Doppelmonarchie im multinationalen Sinne, ein Vorhaben, das die Vormachtstellung der Deutschen und Magyaren in ihren jeweiligen Reichshälften gefährden mußte und insofern konfliktträchtig zu werden versprach. Vor allem aus diesem Grund leistete Kaiser Karl nach seiner Thronbesteigung im November 1916 keinen Eid auf die cisleithanische Dezemberverfassung.94 Nicht entziehen konnte er sich allerdings seiner Krönung zum König von Ungarn95, mit der der Eid auf die dortige Landesverfassung verbunden war, was seinen Reformbemühungen in der Habsburgermonarchie enge Grenzen setzte und grundlegende Reformen bis zum Kriegsende völkerstaat. Wien 1963; Carsten Esbach: Nation und Nationalität im Werk von Karl Renner und Otto Bauer. In: Kiss/Stagl (Hrsg.): Nationenbildung (wie Anm. 6), S. 73 – 85. 91 Vgl. hierzu Georg Franz: Erzherzog Franz Ferdinand und die Pläne zur Reform der Habsburger Monarchie (Südosteuropäische Arbeiten, Bd. 35). Brünn/München/Wien 1943; Rudolf Kiszling: Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este. Leben, Pläne und Wirken am Schicksalsweg der Donaumonarchie. Graz/Köln 1953; Günther Kronenbitter: Haus ohne Macht? Erzherzog Franz Ferdinand (1863 – 1914) und die Krise der Habsburgermonarchie. In: Wolfgang Weber (Hrsg.): Der Fürst. Ideen und Wirklichkeiten in der europäischen Geschichte. Köln/Weimar/Wien 1998, S. 169 – 208; Ders.: Verhinderter Retter? Erzherzog Franz Ferdinand und die Erhaltung der Habsburgermonarchie. In: Ulrich E. Zellenberg (Hrsg.): Konservative Profile. Ideen und Praxis in der Politik zwischen FM Radetzky, Karl Kraus und Alois Mock. Graz 2003, S. 267 – 283; Friedrich Weissensteiner: Franz Ferdinand. Der verhinderte Herrscher. Wien 1983. 92 Eine umfassende, quellenfundierte, wissenschaftliche Biographie des letzten Habsburgerkaisers ist immer noch ein Desiderat der Forschung. Vgl. v. a. Peter Broucek: Karl I. (IV.). Der politische Weg des letzten Herrschers der Donaumonarchie. Wien/Köln/Weimar 1997; Gordon Brook-Shepherd: Um Krone und Reich. Die Tragödie des letzten Habsburgerkaisers. Wien/München/Zürich 1968; Feigl: Kaiser Karl I. (wie Anm. 14); Reinhold Lorenz: Kaiser Karl und der Untergang der Donaumonarchie. Graz 1959; Heinz Rieder: Kaiser Karl. Der letzte Monarch Österreich-Ungarns 1887 – 1922. München 1981; Helmut Rumpler: Karl I. von Österreich (1916 – 1918). In: Die Kaiser der Neuzeit 1519 – 1918. Heiliges Römisches Reich, Österreich, Deutschland. Hrsg. von Anton Schindling und Walter Ziegler. München 1990, S. 382 – 394; Matthias Stickler: „ljen a Kirly!“? – Die Restaurationspolitik Kaiser Karls von Österreich gegenüber Ungarn 1918 – 1921. In: Ungarn-Jahrbuch 27/2004, S. 41 – 79 (hier auch Hinweise zum Stand der Forschung); Elisabeth Kovcs: Untergang (wie Anm. 14). 93 Rumpler: Karl I. (wie Anm. 92), S. 394. 94 Vgl. Kovcs: Untergang (wie Anm. 14), S. 94 und Elisabeth Kovcs: Krönung und Dethronisation Karls IV., des letzten Königs von Ungarn im Spiegel vatikanischer Dokumente. In: Anna Coreth/Ildefons Fux (Hrsg.): Servitium pietatis. Festschrift für Hans Hermann Kardinal Grorr zum 70. Geburtstag. Maria Roggendorf 1989, S. 402 – 431, hier S. 404. 95 Vgl. Ebd, S. 402 ff. und Kovcs: Untergang (wie Anm. 14), S. 98 und S. 106 ff. Kaiser Karl plante für die Zeit nach dem Friedensschluß eine eigene Königskrönung für Böhmen und – als Neuerung – eine Kaiserkrönung für Österreich; vgl. hierzu ebd., S. 98.

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Matthias Stickler

verhinderte. In der westlichen Reichshälfte versuchte Kaiser Karl noch in letzter Sekunde durch das sogenannte „Völkermanifest“ (16. Oktober 1918)96 einen Umbau des Reiches in einen monarchischen föderalen Bundesstaat zu erreichen, doch beschleunigte dies unter den Bedingungen der sich abzeichnenden Niederlage nur den Zerfall der Gesamtmonarchie. Zusammenfassend ist festzustellen, daß vor einer romantischen Verklärung wie vor einer pauschalen Verdammung der Habsburgermonarchie nachdrücklich gewarnt werden muß. Diese war weder geistiger Vorläufer eines multikulturellen Europas, der seiner Zeit voraus war, noch ein reformunfähiger, zum Untergang verdammter Völkerkerker. Ihr Untergang, der eine damals kaum wirklich empfundene politische und wirtschaftliche Katastrophe war, resultierte aus einer Verflechtung von Außenpolitik und Nationalitätenproblemen: Der Erste Weltkrieg wirkte erstens gleichsam als Katalysator für die ungelösten Probleme der Vorkriegszeit, und zweitens erfuhr die Monarchie als Institution während des Krieges einen erheblichen Vertrauensverlust, der ihre Legitimität untergrub – auch und gerade, wenn man etwa an die „Sixtus-Affaire“97 denkt. Kaiser Karl scheiterte an der von ihm erkannten, selbst gestellten Aufgabe, weil er „als Politiker zu schwach und vom Schicksal benachteiligt“98 war.99 Man muß sich in diesem Zusammenhang abschließend noch einmal deutlich vor Augen führen, daß die Habsburgermonarchie insgesamt etwa 400 Jahre existiert hat, viel länger als zahlreiche andere Staats- und Reichsbildungen, die wir kennen, länger auch etwa als die Tschechoslowakei und Jugoslawien, die 1918/19 ganz oder teilweise aus ihr hervorgingen. Bemerkenswert ist, daß, wohl als Konsequenz der blutigen Spur des radikalen Nationalismus und der großen totalitären Ideologien in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, heute in vielen Staaten Südost- und Mittelosteuropas das Positive des habsburgischen Erbes mehr betont wird als die weniger hellen Seiten der Geschichte der Habsburgermonarchie, gleichsam als eine Art Beweis für die Europatauglichkeit. Darin könnte insofern eine Chance liegen, als eine derartige, häufig ja nostalgische Erinnerung zur weiteren Durchsetzung der Erkenntnis beitragen könnte, daß integraler Nationalstaat und politischer Zentralismus eben keine überhistorischen Normen, sondern historische und damit vergängliche Phänomene sind. Die Geschichte der Habsburgermonarchie im langen 19. Jahrhundert liefert uns keine Patentrezepte für aktuelle politische Probleme, sie vermag jedoch ein Bewußtsein dafür zu wecken, daß Heterogenität, nicht Homogenität zum unverzicht96 Helmut Rumpler: Das Völkermanifest Kaiser Karls vom 16. Oktober 1918. Letzter Versuch zur Rettung des Habsburgerreiches. München 1966. 97 Vgl. Robert A. Kann: Die Sixtusaffäre und die geheimen Friedensverhandlungen Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg. Wien 1966. 98 Rumpler: Karl I. (wie Anm. 92), S. 394. 99 Vgl. hierzu Mark Cornwall: Auflösung und Niederlage. Die österreichisch-ungarische Revolution. In: Ders. (Hrsg.): Donaumonarchie, S. 174 – 201. Cornwall nimmt in diesem Beitrag dezidiert Stellung gegen Sked und Francis R. Bridge (The Habsburg Monarchy among the great powers. 1815 – 1918. New York/Oxford/München 1990), die v. a. außenpolitische Gründe bzw. den Weltkrieg als Ursache für den Untergang der Habsburgermonarchie benennen.

Staatsorganisation in der Habsburgermonarchie 1804 – 1918

75

baren Erbe des alten Europa gehört. Das neue, sich immer mehr integrierende Europa tut gut daran, dies nicht zu vergessen.

17,8

17,4

16,5

Tschechen

21,6

23,3

23,0

Slowaken

12,1

11,0

9,4

23,6

24,9

23,6

Deutsche

31,4

36,0

35,6

Deutsche

12,0

12,2

9,7

1857

1890

1910

1857

1890

1910

1857

1890

1910







Polen

17,8

15,8

12,3

Polen

9,8

8,8

7,4

Polen

2,2

2,2

3,2

Ruthenen

12,6

13,2

11,2

Ruthenen

7,9

8,2

8,0 19,8

17,5

15,0

Magyaren

2,8

2,8

2,6

Kroaten/ Serben

14,1

15,1

16,1

Kroaten/ Serben

48,1

42,8

37,4

Magyaren

Ungarn (in Prozent)

4,5

5,0

5,3

Slowenen

Cisleithanien (in Prozent)

13,6

14,5

11,2

Slowenen/ Kroaten/ Serben

Gesamtmonarchie (in Prozent) Ruthenen







Italiener/ Friauler/ Ladiner

2,7

2,9

14,6

Italiener/ Friauler/ Ladiner

1,5

1,6

8,8

Italiener/ Friauler/ Ladiner

14,1

14,9

17,8

Rumänen

1,0

0,9

0,9

Rumänen

6,3

6,6

7,6

Rumänen

2,4

1,8

1,4

Andere

0,0

0,1

0,1

Andere

1,0

0,5

0,6

Andere

100

100

100



100

100

100



100

100

100



6,4

4,9

3,0

davon Juden

4,5

4,2

3,0

davon Juden

4,4

4,4

3,0

davon Juden

Quelle: Gustav Otruba: Die Universitäten in der Hochschulorganisation der Donaumonarchie – Nationale Erziehungsstätten im Vielvölkerreich 1850 bis 1914, in: Karsten Bahnson u. a. (Hg.): Student und Hochschule im 19. Jahrhundert. Studien und Materialien, Göttingen 1975, S. 75 – 155, hier S. 120 und 138.

Tschechen/ Slowaken

Deutsche

Die Nationalitätenstruktur der Habsburgermonarchie zwischen 1857 und 1910

76 Matthias Stickler

Mitteleuropäische Alternativen zum Nationalstaat im 19. Jahrhundert Von Milosˇ Havelka (Prag) Wenn im folgenden Text der Begriff der „Identität“ betont wird, dann besonders deswegen, weil er eine breitere und inhaltsreichere Grundlage als die üblichen definitorischen Kriterien ethnischer Zugehörigkeiten zu bieten scheint. Die Tatsache, daß sich Identitäten sozial, national, kulturell und historisch schichten, wodurch auch ihr kommunikativer Charakter sichtbar wird, daß sie zugleich besonders in kommunikativen Situationen auftreten, ermöglicht nämlich eine andere Vorstellung von gesellschaftlicher Kohäsion und staatspolitischer Loyalität. Die Siege Napoleons in den Schlachten bei Austerlitz 1805 und bei Jena und Auerstedt 1806 änderten am Anfang des 19. Jahrhunderts die machtpolitische Stellung von Österreich und Preußen in Europa in einer Weise, die die Entwicklung im späteren Zentraleuropa, das heißt im Raum zwischen Rußland und Deutschland, bis zum Ersten Weltkrieg beeinflußte, und in mancher Hinsicht auch danach. Innere Verschiebungen und Entwicklungen einzelner Identitätsvorstellungen, Nationalitätsideologien und Staatsauffassungen, die sich damals in diesem geopolitischen Raum zu entfalten begannen, gehören zu den entscheidendsten Merkmalen des 19. Jahrhunderts überhaupt. Österreich wurde genauso wie Preußen am Anfang des 19. Jahrhunderts deutlich geschwächt, wobei es zugleich zur Emanzipierung der „west-deutschen“ Gebiete kam, beziehungsweise – ich zitiere jetzt FranÅois Furet – zum Aufstieg jenes „dritten Deutschlands“, welches „aus mehreren mittleren und Kleinstaaten Deutschlands bestand“, und das früher als ein gewisses „politisches Vakuum“ galt. Schon nach dem Frieden von Lunville wollte Napoleon es „zum dritten gewichtigen Faktor eines neuen deutschen Gleichgewichts“ machen1, und zwar von Beginn an mit der deutlichen Absicht, Österreich zu schwächen. Als symbolisches Zentrum2 dieser Prozesse pflegt man die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Sommer 1806 anzuführen3. Es 1 Vgl. FranÅois Furet/Reinhardt Koselleck: Die europäischen Revolutionen 1780 – 1848. Weltgeschichte, Bd. 26, Frankfurt 2000, S. 154. 2 Der Begriff „symbolisches Zentrum“ kombiniert hier eine Perspektive von Heinrich Rickert von „historischen Zentren“, der damit Anfangspunkte „individueller historischer Kausalitäten“ und Bedeutungskerne weiterer Entwicklungen bezeichnete (vgl. Heinrich Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlicher Begriffsbildung. 5. Aufl., Tübingen 1929, S. 327), mit Prozessen sogenannter „symbolischer Formen“ Ernst Cassirers, womit dieser auf

78

Milosˇ Havelka

handelte sich nicht nur um eine der allgemeinsten politischen Voraussetzungen für die spätere Entstehung des deutschen Nationalstaates.4 Sie führte zugleich auch zu der später immer deutlicher zutage tretenden Machtkonkurrenz im deutschen Raum zwischen dem katholischen und sich transnational profilierenden Österreich einerseits und dem protestantischen und deutsch-nationalen Preußen andererseits. Ein Bemühen Osterreichs nach dem Wiener Kongreß,5 seine alte Dominanz aus der Zeit des Heiligen Römischen Reiches im Deutschen Bund zu erneuern und sie in Italien weiter zu behalten, barg ein starkes Konfliktpotenzial. Dies führte 1861, nach verlustreichen Schlachten (Solferino, Magenta) und nach einem Aufstand in Sizilien zur Einigung Italiens, die dann 1866 nach der österreichischen Niederlage von Venetien definitiv bestätigt wurde. Im Deutschen Bund wurde diese Machtkonkurrenz erst am 3. Juli 1866 in der Schlacht bei Königgrätz, also genau sechzig Jahre nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches, entschieden. Bismarck schonte damals zwar Österreich, annektierte jedoch andere deutsche Staaten (Hannover, Kurhessen, Nassau, Frankfurt am Main und Schleswig-Holstein), die das Pech gehabt hatten, auf der falschen Seite zu stehen, und er zwang Österreich, seine Politik stärker in Richtung auf den Balkan umzusteuern, was damals allerdings auch ungarischen Interessen entsprach. Die Balkanproblematik bildete ein zentrales Element der österreichischen Außenpolitik, und diese bekam eine neue Dimension, als nach dem Regierungsantritt des Zaren Nikolaus I. im Jahre 1825 immer deutlicher wurde, daß Rußland, – gewissermaßen gegen den Geist des Wiener Kongresses – in die Rolle des Verteidigers der orthodoxen Slawen im Balkanraum schlüpfte. Das führte nicht nur zur Schwächung der Heiligen Allianz, sondern zugleich auch zum Auftauchen jenes Gespenstes, das dann besonders die österreichische, später die ungarische und auch die deutsche Politik als eine negative Herausforderung wahrnahm, nämlich zum Aufdie besondere menschliche Disposition hingewiesen hat, die verschiedene konkret-sinnliche Zeichen mit einem bestimmten geistigen Sinn verbinden (vgl. Ernst Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Darmstadt 1959, S. 175). 3 Auf diese Weise schien die Besitzumverteilung des Alten Reiches, die freilich schon 1795 angefangen hatte (Sonderfriede in Basel, preußischer Verzicht auf das linke Rheinufer), definitiv bestätigt zu werden. 4 Besonders in den Fürstentümern des Rheinbundes (1806), durch deren Entstehung Österreich die Kontrolle über die deutschen Staaten im Reich faktisch verlor, öffnete sich, wie auch in den französisch verwalteten Gebieten, ein Weg zu Reformen, die die betroffenen deutschen Länder unwiderruflich in eine liberale Entwicklung zogen, welche freilich in Preußen (Stein-Hardenbergsche Reformen) und in Österreich (mit den Reformen von Stadion und Metternich) mit alten konservativen beziehungsweise restaurativen Bestrebungen und mit der Sehnsucht nach einer Bewahrung der Vergangenheit verbunden wurden. 5 Eigentlich war das, was in Wien große Aufmerksamkeit erregte, die Restmasse Mitteleuropas, die einer Neuordnung harrte, an welcher nun alle Mächte beteiligt wurden. Man stritt sich um die Landstriche von Holland bis Sizilien und von Polen bis zur Schweiz, in etwa also um die Gebiete des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches (Vgl. Furet/Koselleck [wie Anm. 1], S. 204), wobei man die Territorialordnung und die Verfassungsform aufeinander bezogen hat.

Mitteleuropäische Alternativen zum Nationalstaat

79

tauchen des Panslawismus, der insbesondere unter den Südslawen auf lebhaftes Interesse stieß. Im Zusammenhang mit der politischen Entwicklung innerhalb des Deutschen Bundes nach der Revolution von 1848/49 gewann die Mitteleuropaidee an Bedeutung und mit ihr auch ein deutscher Machtanspruch auf den geopolitischen Raum östlich von Deutschland. Als einen Repräsentanten derartiger Konzepte hat Wolfgang J. Mommsen den preußischen liberalen Politiker Constantin Frantz herausgestellt, für den „Mitteleuropa ein internationaler Ordnungsbegriff für eine politische Kultur war, die die Traditionen des christlich-abendländischen Europa fortführen sollte. In dieser sollte das deutsche Element im kulturellen, keinesfalls aber im nationaldeutschen Sinne eine Vorrangstellung einnehmen, ja mehr noch, dieser seine Prägung verleihen“6 – und das hieße, auf diese Weise eine pro-westliche (hier besonders eine anti-russische und anti-panslawistische) Orientierung der dort lebenden Slawen zu befördern. Für Frantz war schon 1848 klar, daß es darauf ankomme, die Polen und die Donauslawen dazu zu bringen, sich nicht Rußland, sondern Deutschland (beziehungsweise dem Kaiserreich Österreich) anzuschließen, da sonst „Asien bis an Elbe reichen werde“7. Deswegen versuchte Frantz die preußische Politik nachdrücklich zu einer Verständigung mit den Polen zu bewegen, wie er zugleich die historische Aufgabe Österreichs in der engen Anbindung der südosteuropäischen Völker an das Haus Habsburg sah. Im Hintergrund stand eine Prognose (die man schon bei Tocqueville und auch bei Hegel, wenngleich nicht so explizit formuliert, findet), daß Europa langfristig mit dem Aufstieg neuer Großreiche rechnen müsse und diese zu fürchten habe, nämlich Rußland im Osten und die Vereinigten Staaten von Amerika jenseits des Ozeans. Stärker nationalistisch als die deutschen Liberalen orientierten die österreichischen Liberalen auf ein deutsches Mitteleuropa, genauer: auf ein deutsch geführtes Mitteleuropa, das, wie es der Nationalökonom Friedrich List sah, „auf dem engen Bündnis der beiden deutschen Großmächte Preußen und Österreich beruhen und sich zwischen … Hamburg und Triest“ als den beiden großen Hafenstädten erstrecken würde.8 Ein ähnliches Konzept wie bei Constantin Frantz und Friedrich List findet man auch bei dem österreichischen Politiker Leo Graf Thun, der schon fünfzehn Jahre vor Frantz die Notwendigkeit erkannt hatte, daß dem slawischen Element im mitteleuropäischen Raum eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zukäme.

6 Wolfgang J. Mommsen: Die Mitteleuropaidee und die Mitteleuropapläne im Deutschen Reich (1995). In: Ders.: Der erste Weltkrieg. Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters. Frankfurt am Main 2004, S. 94 – 118 (hier S. 96); ähnlich auch: Roman Schnur: Mitteleuropa in preußischer Sicht: Constantin Frantz. In: Der Staat 25 (1986). 7 Ebd. 8 Nach Mommsen (wie Anm. 6), S. 96.

80

Milosˇ Havelka

Doch erst nach dem Krimkrieg9 – der eine Umkehr der Grundachsen der europäischen Politik aus ihrer alten Süd-Nord- in eine neue West-Ost-Orientierung symbolisierte10 und der aus Rußland, das noch auf dem Wiener Kongreß ausschließlich als eine Macht des Nordens bezeichnet wurde, definitiv eine Kraft des europäischen Ostens machte – ist im vollen Sinne des Wortes in den Vordergrund getreten, was die Mitteleuropäer als Mitteleuropa, die Engländer als Central Europe und die Deutschen als Ostmitteleuropa bezeichnen, das heißt der politische und kulturelle Raum zwischen den beiden Flügelmächten Rußland und Deutschland. Den Begriff selbst, nämlich Europe intermdiaire, benutzte man freilich schon früher, zum ersten mal etwa auf dem Wiener Kongreß, wo er – ich zitiere diesmal Reinhardt Koselleck – „als eine Bezeichnung für Landstriche … von Holland bis Sizilien und von Polen bis zur Schweiz benutzt wurde, … grob gesprochen für Gebiete des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches“.11 Und um diese Gebiete stritt man besonders. Nur am Rande sei darauf verwiesen, daß sich verschiedene mental maps von Mitteleuropa ungefähr in dieser Zeit der Umorientierung der politischen Grundachsen Europas erstmals hatten stabilisieren können: eine deutsche Sicht auf Mitteleuropa, die freilich bei der der älteren West-Ost Achse blieb, sich später um die Annahme eines zivilisatorischen West-Ost-Gefälles erweiterte und mit welcher (wie bei Friedrich Naumann) auch ein Machtanspruch verbunden sein konnte; daneben ein historisch akzentuiertes polnisches Intermarium zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer12, ein ungarischer, sozial-politisch zu verortender Karpatenbogen,13 ein tschechischer, machtpolitisch jedoch stets bedrohter Streifen von kleinen Nationen zwischen Deutschland und Rußland14 ; und schließlich die österreichische kulturell einzigartige und politisch produktive K.u.K. Monarchie.15 9 Er begann mit der russischen Besetzung der Donaufürstentümer im Jahre 1853 und endete 1856 nach der Eroberung von Sewastopol mit dem Pariser Frieden. Das Zarenreich verspielte aufgrund seiner imperialen Ambitionen seinen politischen Kredit und fand sich allein im Krieg gegen das Osmanische Reich, das seinerseits auf die militärische Hilfe Frankreichs und Englands bauen konnte. 10 Zur Entstehung dieses Gegensatzes vgl. z. B. Johan Huizinga: Wenn die Waffen schweigen. Basel 1945, bes. S. 34 – 58. 11 Furet/ Koselleck: Revolutionen (wie Anm. 1), S. 204; vgl. dazu auch Jan Krˇen: Dveˇ stolet strˇedn Evropy. [Zwei Jahrhunderte von Mitteleuropa]. Praha 2005, S. 26. 12 Zur polnischen Diskussion des Intermarium-Begriffs vgl. bes. den Beitrag von Stefan Troebst: Intermarium und Vermählung mit dem Meer: Maritime Begründungen polnischer Geschichtspolitik, auf dem 43. Deutschen Historikertag Eine Welt – Eine Geschichte, 26. bis 29. September 2000. 13 Vgl. Arpad Gönz: Karpaty a prilahly´ kosmos. Eseje a reflexie, [Karpaten und anliegender Kosmos, Essays und Reflexionen] (slowakisch). Bratislava 1999; ähnlich György Konrad: Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen. Frankfurt am Main 1985; ders.: Stimmungsbericht. Frankfurt am Main 1987. 14 Vgl. hier besonders Jan Krˇen mit seiner achthundertseitigen Mitteleuropageschichte (wie Anm. 2), bzw. Jan Krˇen: Palacky´s Mitteleuropavorstellungen 1848/49. In: Acta creationis, hrsg. von Vilm Precˇan. Steinfeld 1980, S. 119 – 152. Vgl. dazu auch Milosˇ Havelka: Mittel-

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Nach dem 11. August 1804, als der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Franz II. als Franz I. den Titel eines Kaisers von Österreich annahm,16 war freilich nicht ganz klar, was der Begriff „Haus Österreich“ eigentlich meinte, wer die Österreicher waren, was das Österreichertum bedeuten sollte und wie man jenes ältere, nunmehr berühmte Kürzel AEIOU – nämlich Austria est imperare omni universo – beziehungsweise Alles Erdreich ist Österreich Untertan eigentlich verstehen sollte.17 Ähnliche Fragen, die freilich älter waren, und die sich schon im Zusammenhang mit theresianischen und josefinischen Bemühungen um eine Zentralisierung und Modernisierung der veralteten Staatsstrukturen Österreichs gestellt hatten, wurden durch die Entstehung des Kaisertums Österreich wieder aktuell.18 Sollte dieses Kaisertum nun auf den Theresianischen Staatskern des Landes hinweisen, der nach dem Verlust Schlesiens entstand, und mit dem Kaiser Franz I. nach 1815 in den Deutschen Bund eintrat,19 oder bezeichnete es umgekehrt alle Gebiete, die von Habsburgern beherrscht wurden? Daneben konnte man die Bezeichnung „Österreich“ aber auch eingeschränkt benutzten und damit nur die beiden ursprünglichen österreichischen Erzherzogtümer meinen, die der Fluß Ems teilte – und die auch heute den territorialen Kern des österreichischen Staates bilden. Der böhmische wie auch der ungarische Adel betonten demgegenüber eher die selbständige machtpolitische Identität Österreichs als eine Verbindung von drei historischen Staatsgebilden – Österreich, Böhmen und Ungarn –, wozu auch ein weitgehendes europäische Mitteleuropakonstruktionen oder: Wo liegt die Mitte und wer sind die Mitteleuropäer? In: Geographische Revue, Jg. 9, 2007, Heft 1 – 2, S. 5 – 17. 15 Erhardt Busek/Gerhard Wilfinger (Hrsg.): Aufbruch nach Mitteleuropa. Rekonstruktion eines versunkenen Kontinents. Wien 1985; Hans-Peter Burmeister/Frank Boldt/Gyorgy Me˙sza¯ros: Mitteleuropa. Traum oder Trauma? Überlegungen zum Selbstbild einer Region. Bremen 1988; Hanns-Albert Steger/Renate Morell (Hrsg.): Ein Gespenst geht um: Mitteleuropa. Dokumentation der Internationalen Tagung „Grenzen und Horizonte. Zur Problematik Mitteleuropas in Vergangenheit und Gegenwart in Regensburg 1986“. München 1987; Bernard Willms/Paul Kleinewefers: Erneuerung aus der Mitte. Prag – Wien – Berlin. Diesseits von Ost und West. Herford 1988. Vgl. auch: Claudio Margis: Habsbursky´ my´tus v modern rakousk literaturˇe, (Il mito absburgico nella letteratura austriatica moderna, 1963). Brno 2000. Carl, E. Schorske: Fin de Siecle-Vienna. Politic and Culture. New York 1981; William H. Johnston: The Austrian Mind – An Intellectual and Social History 1848 – 1938. University of California Press 1972. 16 In mancherlei Hinsicht wurde hierdurch eine unterschiedliche Entwicklung Westmitteleuropas und Ostmitteleuropas verursacht. In Deutschland führte dies zur Entstehung eines Nationalstaates, Österreich wurde hingegen immer stärker verschiedenen multinationalen Wirkungen und Identitätsproblemen ausgesetzt. Auch deswegen bemühte sich Metternich im Vormärz darum, im Deutschen Bund jede nationale (und demokratische) Bewegung zu paralysieren. 17 Vgl. Heinrich Koller: Zur Bedeutung des Begriffs „Haus Österreich“. In: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, 68/1970, S. 338 – 346. 18 Ebd. 19 Die Tatsache, daß die beiden größten deutschen Staaten Preußen und Österreich dem Deutschen Bund nur mit einem Teil ihrer Territorien beitraten, hat einige Dissonanzen des Alten Reiches reproduziert und zugleich – im Zusammenhang mit dem Aufkommen der Nationalbewegung unter den Westslawen und Magyaren – neue hinzugefügt.

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politisches Desinteresse der böhmischen und besonders der ungarischen Adligen an Ereignissen sowohl im Alten Reich als auch später im Deutschen Bund gehörte. Ganz anders stellten sich solche Identitätsfragen (und die sich aus ihnen entwickelnden nationalen Ideologien) für die im Staate nebeneinander koexistierenden einzelnen nationalen Gesellschaften, die aus der doppelten Revolution20 hervorwuchsen, nämlich aus der Französischen Revolution von 1789 und der gleichzeitig sich durchsetzenden Industriellen Revolution. Spätere Bezeichnungen von Österreich – beziehungsweise von Österreich-Ungarn – wie „Donaumonarchie“, „Doppelmonarchie“, „K. und K. Monarchie“, „Habsburger Monarchie“, oder auch „Kakanien“ bzw. „Völkergefängnis“, deuten diese Unsicherheit an. Die nicht immer deutlichen und klaren Identitäten boten zwar am Anfang ein gewisses Potenzial für eine teilweise andere Entwicklung und Gestaltung von ethnischen Beziehungen und für die Suche nach einer alternativen politischen und kulturellen Ordnung dieses neu zu gestaltenden Zentraleuropas,21 das freilich bald in ethnischen Spannungen und Nationalitätenproblemen erstickte. Für Österreich und später besonders für Österreich-Ungarn stellten selbstverständlich alle nationalen Bewegungen einschließlich der deutschen bzw. der großdeutschen eine eindeutige Bedrohung dar. Auf einer solchen allgemeinen Grundlage bildeten sich im Verlauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts recht unterschiedliche Auffassungen von der österreichischen Identität heraus,22 eine supraethnische und eine multinationale. Beide waren auch deswegen wichtig, weil sie dem großdeutschen Identitätskonzept entgegenwirkten. Sie wurzelten in der historisch entstandenen Situation Österreichs und hatten sich – im Vergleich mit sich zeitgleich weitaus deutlicher durchsetzenden NationalisACHTUNGREmen – eher auf die Vernunft und auf das allgemeine Interesse als auf Emotionen berufen. Beide Auffassungen hingen eng mit den ursprünglich konservativen und antizentralistischen Interessen des Landesadels zusammen. Die erste, supraethnische Auffassung konnte an die aufklärerische Identitätsauffassung als einer österreichischen raison d’etat anknüpfen, die sich schon in der Zeit der theresianisch-josefinischen Reformen, besonders in Kreisen des höheren Beamtentums, in der Armee und später, nach Entstehung des Kaisertums, auch in der Kirche verbreitet hatte.23 Ein Mitglied des Staatsrates, Freiherr Tobias Philip Gebler, 20

Eric Hobsbawm: Europäische Revolutionen. 1789 bis 1848. Köln 2004, S. 5. Helmut Rumpler: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie. Wien 1997. 22 Folgender Versuch einer Identitätentypologie stützt sich auf die Unterscheidung von fünf nationalpolitischen Tendenzen in Österreich; vgl.: Jirˇ Korˇalka: Cˇesˇi v habsbursk rˇsˇi a v Evropeˇ 1815 – 1914. [Die Tschechen im Habsburgischen Reich und in Europa 1815 – 1918]. Praha 1996, bes. S. 16 – 83. 23 Die Grundlage des sogenannten Josefinismus, der in der Aufklärung wurzelt, war die nichtethnische Auffassung einer politischen Nation, für welche die deutsche Sprache nur ein allgemeines und integratives Kommunikationsmittel bilden sollte. Der Josefinismus hat sich besonders im wirtschaftlich und gesellschaftlich entwickelten und relativ stark urbanisierten 21

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hatte dieser Auffassung im August 1780 mit folgenden Worten Ausdruck verliehen: „Der Staat muss dazu arbeiten, um schrittweise eine Nation werden zu können … Der Staat lebt ewig, das bedeutet über alle Zeiten, demnach wie ein Monarch als auch ein Beamter aus diesem Gesichtspunkt denken und handeln müssen“.24 Solch eine neue „politische Nation“, die aus der Wirksamkeit des Staates entstehen sollte, nahm freilich die ethnische Komponente nicht wahr, und sie entsprach auch nicht den konservativen Interessen der Adligen, die sich gerade durch jene Reformen in ihren Rechten eingeschränkt sahen. Kaiser Franz I. hat diese Identitätsvorstellung dann in ein absolutistisches Prinzip umgewandelt, nach dem die Einheit des Staates vor allem durch den Monarchen verkörpert sei und das davon ausging, daß der österreichische Staatspatriotismus vor allem aus der Treue (als Tugend) und der Loyalität (als Verhaltensweise) bestehe. Dadurch sollten besonders exzentrische nationalpolitische Aktivitäten einzelner Ethnien ausgeschlossen oder zumindest abgeschwächt werden. Aus der Perspektive einer historischen Soziologie ist „Loyalität“ allgemein als eine Frage nach ihren Funktionen in verschiedenen lokalen und sozialen Bevölkerungsgruppen anzusehen, oder speziell als Problem von Formen, in denen sich eine Beziehung solcher Gruppen zum Staat äußert (vertikale Loyalität), beziehungsweise als eine Frage nach dem Maß einer Loyalität und deren Intensität innerhalb einzelner sozialer Gruppen (horizontale Loyalität).25 So kann man auf die Existenz von verschiedenen, manchmal auch miteinander konkurrierenden Loyalitäten hinweisen, um ihre Gründe verständlich zu machen. So hatte z. B. die von tschechischen Nationalisten wiederholt kritisierte Loyalität der tschechischen Sozialdemokratie zu Österreich in der Zeit vor und während des Ersten Weltkriegs andere vertikale (das heißt: auf den Staat sich orientierende) Merkmale, als z. B. die Loyalität der sogenannten Masaryk-„Realisten“. Und aus horizontaler Perspektive war das Loyalitätsmaß des „Austroslawismus“ deutlich höher als im Falle der „positiven Politik“, und hier wieder höher als im „staatsrechtlichen Radikalismus“. Im tschechischen Milieu wurde lange Zeit der bekannte Heerführer Josef Vclav Radecky´ z Radcˇe als moralisches Symbol jenes supraethnischen Österreichertums hochgehalten, weil er tschechischer Herkunft war, meistens tschechisch sprach und von den tschechischen Soldaten nicht nur für ihren Landsmann, sondern sogar für ihren „Vater“ gehalten wurde, treu für den Kaiser und für die österreichische Heimat kämpfend. Daß eine solche supraethnische Identitätsauffassung beziehungsweise der österreichische Reichspatriotismus eine reale Kraft und ein sozial wirkendender Habitus Böhmen verbreitet, und zwar im Unterschied zu anderen Teilen der Monarchie, wo sich Josef II. nur auf aufgeklärte Eliten stützen konnte, deren nicht-offizielle Organisationen oft Freimaurerlogen waren. 24 Zitiert nach Korˇalka (wie Anm. 22), S. 20. 25 Vgl. Martin Schulze Wessel: Loyalitäten in der Tschechoslowakischen Republik 1918 – 1938. Politische, nationale und kulturelle Zugehörigkeiten. München 2004, S. 2.

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waren, belegt die tschechoslowakische Publizistik aus der Zeit nach Entstehung eines selbständigen Staates, als man über die Notwendigkeit einer „Entösterreicherung“ des tschechischen Lebens diskutierte, d. h. über die Frage, wie das „Österreichertum“ in den tschechischen Seelen beseitigt werden könne.26 Nur am Rande sei bemerkt, daß man der Neigung, eine österreichische bürgerliche Identität in supranationaler Perspektive zu konstruieren, noch am Ende des 19. Jahrhunderts in einer gruppensoziologischen Theorie von Ludwig Gumplovicz (1838 – 1909) begegnete, der in diesem Zusammenhang von einem historischen Amalgamierungsprozess sprach. Aufgrund religiöser, politischer, sozialer und besonders wirtschaftlicher Gemeinsamkeiten und durch Kämpfe mit anderen Gruppierungen entstehen nach ihm aus einem ursprünglichen „Polygenismus“, d. h. aus einer Vielheit der ethnischen Ursprünge verschiedene größere Einheiten eines politischen Zusammenlebens. Gesellschaften – ebenso wie Ethnien – waren für Gumplowicz geschichtsphilosophische Bezeichnungen für eine „Vielheit der im Staat zur Ausbildung gelangten sozialen Gruppen, Kreise, Klassen und Stände in ihren gegenseitigen Aktionen und Reaktionen …“.27 In Böhmen zeigte sich diese transnationale Identitätsauffassung besonders in Gestalt des historisch und territorial orientierten, genuin auf Landespatriotismus beruhenden „Bohemismus“. Dieser erwuchs aus der Vorstellung eines „gemeinsamen Geistes der Heimat“ innerhalb einer zweisprachigen böhmischen (politischen) Nation und hatte daher auch einen deutlichen Hang zum „sprachlichen Utraquismus“,28 der Wissenschaftler wie Frantisˇek Palacky´, Schriftsteller wie Karel Sudimr Sˇnajdr, Karel Hynek Mcha,29 Bozˇena Neˇmcov, Karel Havlcˇek oder Josef Wenzig (Autor der Libreti von Smetanas Opern „Dalibor“ und „Libusˇe“) prägte. Dieser „sprachliche Utraquismus“ hat für relativ lange Zeit den „Bohemismus“ (besonders in jüdischen Kreisen) überlebt, oft verwandelte er sich sogar in einen „kulturellen Utraquismus“ um und brachte hervorragende Übersetzer hervor, wie den schon erwähnten Josef Wenzig, später Otokar Fischer, Paul Eisner, Hugo Siebenschein, aber auch andere Exponenten der tschechischen Kultur, wie z. B. Max Brod, der für Europa unter anderem den Komponisten Leosˇ Jancˇek und den Schriftsteller Jaroslav Hasˇek „entdeckte“. In einigen Regionen, so in Südmähren, wurde die deutsch26 Vgl. z. B. Alexander Batek: Odrakousˇtit a prˇevychovat [Entösterreichern und Umerziehen]. Praha 1919; Vojteˇch A. Fricˇ : Odrakousˇteˇte sv dusˇe! [Entösterreichert eure Seelen!]. Praha 1919, und viele ähnliche Aufsätze und Broschüren. 27 Ludwig Gumplowitz: Grundriß der Soziologie (1885). Innsbruck 1926, S. 69. 28 Vgl. dazu z. B. Vclav Maidl: Landespatriotismus, Nationalitätenwechsel und sprachlich-nationale Divergenz. In: Steffen Höhne/Andrea Ohme: Prozesse kultureller Integration und Desintegration. Deutsche, Tschechen, Böhmen im 19. Jahrhundert. München 2005, S. 31 – 51. 29 Bei mehreren von ihnen, besonders im Fall von Jugendschriften, begegnet man sogar einer Alternation der Namen, z. B. Franz Palacky – Frantisˇek Palacky´, Karl Schneider – Karel Sudimr Sˇnajdr, Karl Ignaz Macha – Karel Hynek Mcha, Franz Klutschak – Frantisˇek Klucˇk, Karl Klostermann – Karel Klostermann usw.

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tschechische Bilingualität lange Zeit auch in den Volksschichten verbreitet, was – nebenbei gesagt – zur Folge hatte, daß die nationale Identität eher als formale Entscheidung empfunden wurde, und daß dort nach dem Zweiten Weltkrieg, während der Vertreibungen, die „Nationalitätengrenze“ manchmal auch zwischen Geschwistern verlief. Die Hauptparole des adligen Bohemismus formulierte Anfang der 1840er Jahre Graf Josef Matthias Thun in seiner polemischen Broschüre „Der Slawismus in Böhmen“: „Ich bin weder ein Tscheche, noch ein Deutscher, ich bin nur ein Böhme … Neben einem schwächeren zu stehen halte ich für mich eine ritterliche Pflicht.30 Eine ähnliche Situation wie zu Anfang des 19. Jahrhunderts hat sich nach 1848 wiederholt. Das neoabsolutistische Bemühen des österreichischen Innen- und Justizministers Alexander Freiherr von Bach, das Reich administrativ-politisch zu vereinigen – was letztlich allerdings nur auf eine weitere Einschränkung der alten Gewohnheiten und Rechte hinauslief – führte zur langsamen Verdrängung des älteren „Landespatriotismus“, der die Rechte und die Bedeutung des böhmischen Königtums hervorhob und bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Zusammenarbeit mit dem deutschen Element im Lande betonte. Dieser Landespatriotismus wurzelte ursprünglich im böhmischen Adel, er wurde jedoch bald auch von den aufgeklärten bürgerlichen Eliten akzeptiert. „Bis zu dem Jahr 1848 beherrschten uns die Adeligen und wir waren dem Adel untertan. Seit dem Jahre 1848 beherrscht uns eine Bürokratie, und wir sind ihr gleichermaßen untertan, und zwar gemeinsam mit Adel, unserer gewesenen Obrigkeit“, seufzte damals der liberale tschechische Publizist Karel Havlcˇek.31 Der Bohemismus existierte neben der adligen Variante zugleich auch in einer bürgerlichen Form, die sich mit dem Wirken von Persönlichkeiten wie der des Mathematikers und Logikers Bernard Bolzano, des slawischen Philologen Josef Dobrovsky´ und – für gewisse Zeit – des Begründers der modernen tschechischen Historiographie, Frantisˇek Palacky´, verband. Aus dem Vergleich der beiden Versionen der historischen Hauptwerke Palacky´s, seiner „Geschichte Böhmens“ vom Ende der ˇ echch a na Moraveˇ“, erschienen Ende 1830er Jahre und „Deˇjin nrodu cˇeskho v C der 1850er Jahre, kann man, im Hinblick auf Akzentverschiebungen, Umformulierungen und Ergänzungen, den Übergang Palacky´s vom Bohemismus zum Tschechentum anschaulich nachvollziehen. Die daneben entstandene multinationale Identitätsauffassung von Österreich wuchs aus der verspäteten Akzeptanz nationalpolitischer Eigenart und eigenständiger Existenz der einzelnen Nationen und Ethnien im Gesamtstaat. Erste Impulse in diese Richtung kamen aus den Reihen des alten deutsch-tschechischen Landesadels. Hier verschmolzen verschiedene Interessen miteinander: Zentral war ein natürliches 30

Josef Matthias Thun: Der Slavismus in Böhmen. Prag 1845, S. 17. Karel Havlcˇek: Co jest byrokracie. Cˇlnek napsany´ k poucˇen pana redaktora Prazˇsky´ch novin (Slovan 11. VI. 1850). In: Karel Havlcˇek Borovsky´, Lid a nrod. Praha 1981, S. 462 – 463. 31

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Mißtrauen des Adels (im Sinne der Konservativismustypologie von Samuel Huntington32) gegenüber emanzipatorisch-demokratisierenden Tendenzen, die sich besonders im mittelständischen politischen Nationalismus verbargen.33 Fortwährend wirkte auch ein kompensatorisches Bemühen, die durch die absolutistisch orientierten Reformen geschwächte eigene Stellung zu festigen. Dem entsprachen auch die verschiedensten legitimierenden Hinweise auf ältere Traditionen, aus denen sich dann bald eine spürbare Unterstützung historischer Forschungen durch adlige Kreise entwickelte.34 Die Verehrung der großen Vergangenheit des böhmischen Königtums, die patriotische Pflege historischer Denkmäler sowie das Interesse an Kunst- und Literaturgeschichte gehörten ebenso dazu wie die Unterstützung industrieller Aktivitäten, die Förderung der Bildung und der Unterhalt diverser kultureller Institutionen. In Anlehnung an Constantin Frantz setzte sich insbesondere Leo Graf von Thun in seiner Broschüre „Über den gegenwärtigen Stand der böhmischen Literatur und ihre Bedeutung“35 dafür ein, daß der Landesadel sich die tschechische Sprache und Literatur aneignen sollte, um eine führende Kraft der tschechischen Nationalbewegung werden zu können. Thun war nämlich davon überzeugt, daß eine „Germanisierung“ der Tschechen nicht mehr möglich sei, und daß die tschechische Nationalbewegung eine immer größere Rolle spielen werde. Gerade deswegen sollten die Tschechen in Österreich als eine der staatstragenden Kräfte anerkannt werden, um auf diese Weise zugleich als ein Gegengewicht zur Gefahr eines russischen Panslawismus zu wirken. Durch seine Betonung verschiedener historischer Spezifika, der ethnischen Unterschiede und Rechte einzelner Länder, wirkte der Multinationalitätsanspruch nicht nur als ein Mittel zur Ablehnung des Konzeptes einer universellen österreichischen Nation beziehungsweise der Abwehr gesamtdeutscher Vereinigungssehnsüchte, sondern grenzte sich zugleich auch vom „Bohemismus“ ab. Dem entsprachen Formulierungen wie z. B. die des Publizisten Jakub Maly´ aus dem Jahre 1845: „Wir sind Tschechen, wenn auch als Tschechen sind wir auch Österreicher, d. h. Mitglieder eines Völkerbundes, von seinem Überdauern ist auch unsere eigene Existenz abhängig …“.36 Die Achtung vor Österreich als einer Größe, welche die tschechische Existenz schützen und verteidigen soll, die man aus diesen Worten heraushören mag, deutet hier eine spezifisch tschechische Auffassung des österreichischen Multina32 Samuel Huntington: Conservatism as an Ideology. In: The American Political Science Review. 51 (1957), S. 454 – 473. 33 Die Französische Revolution hat gezeigt, daß der moderne Nationalstaat eine Form darstellt, in der sich das Land modernisieren und demokratisieren kann. Weil besonders Österreich kein Nationalstaat war, drohten Modernisierungs-, Demokratisierungs- und Nationalisierungsprozesse ihn auf lange Sicht zu sprengen. 34 Vgl. dazu Josef Hanusˇ : Narodn museum a nasˇe obrozen. [Nationalmuseum und unsere Wiedererweckung]. Praha 1921. 35 Prag 1842. 36 Jakub Maly: Worte eines Tschechen, veranlasst durch die Graf Jos. Math. v. Thunsche Broschüre: Der Slavismus in Böhmen. Leipzig 1845, S. 16.

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tionalismus, den sogenannten „Austroslawismus“ an, der bis in die Zeit kurz vor der Gründung der Tschechischen Republik wirkte, nachvollziehbar etwa in den politischen Zeitungskommentaren des Historikers Josef Pekarˇ.37 Die bekannteste Prägung gab dem Austroslawismus der bereits erwähnte Historiker Frantisˇek Palacky´, der seiner Haltung im Revolutionsjahr 1848 in einem bonmot Ausdruck verlieh: „… wenn es Österreich nicht gäbe, müssten wir es schaffen“.38 Diese Haltung grundierte auch die meisten späteren tschechischen Mitteleuropareflexionen, und selbst später, nach dem Scheitern der tschechischen Trialismushoffnungen seufzte Palacky´ : „Wir waren vor Österreich und werden auch nach ihm existieren“. Zu einer politischen Schwächung des tschechischen Austroslawismus ist es freilich erst am Anfang des vorigen Jahrhunderts, nach dem Fall des Premierministers Badeni und nach dem Scheitern seiner „Sprachenordnung“ (1898) gekommen. Doch noch am Ende des 19. Jahrhunderts versuchte der gemäßigte jungtschechische Politiker und Volkswirtschaftler Josef Kaizl nach Palacky´ noch einmal zu wiederholen: „Extra Austriam non est vita“, wie Joseph Roth in seiner Novelle „Kapuzinergruft“ über diese Sehnsüchte schrieb: „Derweilen die Slawischen Völker im Reiche Gott behüte Österreich sangen, wollten es die Österreicher mit Wacht am Rhein übertönen“. Seit dem Jahre 1848 war der Austroslawismus auch mit politischen Föderalismusansprüchen verbunden, die mit dem historischen tschechischen Staatsrecht legitimiert wurden, was ihn von der multinationalen Auffassung unterschied, die eine gewisse Asymmetrie der politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung der einzelnen Nationen voraussetzte. Noch im Verlauf des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts glaubte Premierminister Graf Eduard Taaffe (1879 – 1893), daß es möglich sei, die desintegrative politische Emanzipation einzelner Nationen Öster37

Josef Pekarˇ (1870 – 1937) gehörte zu den Repräsentanten des sogenannten „historischen tschechischen Stadtrechts“, dessen „transnationale“ Dimension er wiederholt betonte. Nach ihm handelte es sich nicht um ein ausschließlich tschechisch-nationales Programm, sondern um ein politisches Konzept, das auch den Deutschen im Lande die gleichen Perspektiven anbot (zitiert nach Josef Hanzal/Josef Pekarˇ : Zˇivot a dlo. Praha 2002, S. 13). 38 Diese These Palackys lief darauf hinaus, daß jede nationale Existenz der Tschechen ausschließlich im Rahmen eines starken, modernen, unabhängigen und föderalisierten Österreich-Ungarns möglich schien. In Böhmen war es besonders die Angst vor dem von Otto von Bismarck vereinigten Deutschland. Schon zu Beginn der 1870er Jahre formulierte es Ministerpräsident Graf Belcredi in einem Aphorismus, daß nämlich der Corpus Germanicus für Europa zu groß und zu schwer werde. Doch zugleich wirkte die tschechische Enttäuschung über Rußland, seinen Despotismus und über den politischen Panslawismus, den man als einen kaum verhüllten russischen Imperialismus verstand. In diesem Zusammenhang sind dann die spezifischen tschechischen Mitteleuropavorstellungen entstanden, die mehr oder weniger mit dem föderalisierten Habsburgerreich verbunden wurden. Systematischer dazu Krˇen: Placky´s Mitteleuropavorstellungen (wie Anm. 14). Unter Bezugnahme auf Palacky´ versucht Krˇen zu zeigen, daß man im frühen tschechischen Nationalismus staatsbejahende und auf einen nationalen Kompromiß zielende Faktoren finden kann, die dann auch in spätere Mitteleuropadiskussionen eingeflossen sind.

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reichs administrativ im Namen des Ganzes zu bremsen und dies zugleich durch die Unterstützung ihrer kulturellen Entwicklung zu kompensieren. Der britische Sozialanthropologe und Nationalismustheoretiker Ernst Gellner sprach in diesem Zusammenhang von indirect rules der österreichischen Herrschaft, er betonte dabei zugleich ihre integrative und staatserhaltende Kraft, und noch am Ende des vorigen Jahrhunderts glaubte er sogar, daß diese Herrschaftspraxis als ein Modell zur Vermeidung moderner nationaler Konflikte verwendbar sei.39 Doch im mainstream der politischen Entwicklungen in Zentraleuropa haben sich derartige Intentionen, den multinational bestimmten, doch kulturhistorisch weitgehend einheitlichen mitteleuropäischen Raum alternativ zu gestalten, nicht durchzusetzen vermocht. Man kann selbstverständlich abwägen, warum einschlägige Versuche politisch gescheitert sind. Die nachlassenden politischen Aktivitäten der adligen Großgrundbesitzer (was sich in Böhmen in Form der Marginalisierung der „Alttschechischen Partei“ äußerte), eine Stärkung der „großdeutschen“ Auffassung der österreichischen Politik (wie es Joseph Roth in seiner „Kapuzinergruft“ formulierte) und die Unfähigkeit der Großungarn wie der Deutschnationalen, Verständnis für und Konsensus mit den Minderheiten aufzubauen (was z. B. das Scheitern der „Sprachanordnungen“ aus dem Jahre 1898 beweist), schließlich eine deutliche Asymmetrie zwischen dem ökonomisch starken Bürgertum und seinen politischen Mitbestimmungsmöglichkeiten (die Machtzentren des österreichischen Staates, Außen- und Kriegsministerium, und auch die Regierungen waren immer fest in Händen des Großadels) sind neben den allgemeinen europäischen Modernisierungsprozessen zweifellos die wichtigsten Gründe für das Scheitern einschlägiger Bemühungen. Vergleichbare Illusionen, Wünsche und Sehnsüchte, wie sie sich z. B. in den Mitteleuropa-Diskussionen der 1980er Jahre wiederfanden, haben unterschwellig lange Zeit überlebt. Erst mit dem Ende des Kommunismus verwandelten sich die Mitteleuropavorstellungen in die Bezeichnung für eine historische Region oder in eine idealtypisch konstruierte Forschungsperspektive. Heute sind sie besonders fruchtbar für eine transnationale Kontextualisierung und für den Vergleich historisch individueller kultureller, politischer und sozialer Konstellationen.

39 Ernst Gellner: Freedom and Civilisation. In: Ders.: Encounter with Nationalism. Oxford 1994, S. 176.

Nationsbildungsprozesse und ihre Voraussetzungen in Mitteleuropa Von Milosˇ Rˇeznk (Chemnitz) I. Moderne Nation und kollektive Identität Das Zeitalter, an dessen Anfangsphase neben mehreren anderen historischen Umbrüchen auch der Untergang des Heiligen Römischen Reiches steht, und das symbolisch den Übergang vom Europa der Monarchen zum Europa der nationalen Volkssouveränität markiert, wird unter anderem als „das nationale Zeitalter“ apostrophiert. Damit wird neben den Wandlungen in der Wirtschaft, Sozialstruktur, Ideologie, Kultur, Technik und Technologie ein Prozess angesprochen, der sich im Bereich der kollektiven Identitäten entwickelte, und der, zusammen mit den anderen Prozessen, unter dem so kritisch diskutierten und doch kaum verzichtbaren Modernisierungsbegriff subsumiert wird. Die modernen Nationsbildungs- und Nationalisierungsprozesse haben bereits eine relativ lange und reiche Historisierungsgeschichte.1 Kritische, von der Legitimation eigenen „nationalen Erwachens“ abstrahierende Analysen der nationalen Bewegungen gehören heutzutage bereits fast überall in der europäischen Geschichtswissenschaft zu den klassischen Forschungsgebieten. Trotzdem – oder eben deswegen – bleiben immer noch viele der grundsätzlichsten Fragen nicht nur der Interpretation, sondern überhaupt der Herangehensweise offen, darunter auch das Problem jener Begriffe, die im direkten Mittelpunkt stehen – der Nation und des Nationalismus. Daraus resultierend, erscheint etwa auch die Frage nach der Modernität der Nationskategorie immer wieder strittig.2 Zu den diskutierten Problemen gehört auch der Blick auf die eigentlichen historischen Ursachen, Impulse und Voraussetzungen der nationalen Formation. Im folgenden soll dieser Frage besondere Aufmerksamkeit geschenkt und ein Beitrag zu den Debatten über die Nationalisierung geleistet werden. Der Aufsatz erhebt nicht den Anspruch, die Problematik umfassend in ihrer Breite und Komplexität darzustellen. Da er sich aus diesen Gründen zusammenfassend und essayistisch orientiert, 1 Vgl. unter anderem Sekumar Periwal (Hrsg.): Notions of Nationalism. Budapest 1995 (hier vor allem die Beiträge von J. A. Hall, J. Armstrong, M. Mann, M. Hroch und N. Stargardt); J. A. Armstrong: Theories of Nationalism. 2. Aufl. London 1983. 2 Vgl. bspw. Philip Gorski: The Mosaic Moment. An Early Modernist Critique of Modernist Theories of Nationalism. In: American Journal of Sociology 105 (2000), S. 1420 – 1457.

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wird auf einen umfangreicheren Begleitapparat verzichtet. Hinweise werden lediglich dort gegeben, wo sich der Aufsatz direkt auf konkrete Werke stützt, wo es der spezifische Charakter des angesprochenen Problems erfordert oder wo eine Weiterführung besonders wichtig erscheint.3 Die Interpretationen der modernen Nationsbildung lassen sich auf vier Grundtypen reduzieren. Sie können als primordialistisch, quantitativ-evolutionaristisch, kulturell-konstruktivistisch und sozial-kulturell charakterisiert werden. In allen Fällen wird von der Beobachtung ausgegangen, daß sich seit dem Beginn der Moderne in der Entwicklung von kollektiven Identitäten und „Nationen“ etwas Grundsätzliches geändert hat. Aufgrund dieser Beobachtung werden unterschiedliche Antworten auf eine Reihe von Fragen gegeben: inwieweit der Wandel in der langfristigen Entwicklung von Nationen bzw. einer Nation (Stichwort nationale Wiedergeburt, nationales Erwachen) oder in der Formierung einer Nation als ein völlig neues Phänomen zu gelten hat; wie grundsätzlich dieser Wandel war; und inwiefern er Kategorien betraf, die als objektiv verstanden werden können. Die primordialistische Interpretation ist für die Träger der ethnisch-nationalen Bewegungen und Identitäten typisch. Sie wird manchmal als „nationalistische Illusion“ bezeichnet, als eine Sichtweise, die den Nationalisten und denjenigen eigen ist, die dieser „optischen Täuschung“ unterliegen. Sie geht von der Überzeugung einer objektiven und althergebrachten Existenz der Nation in ihrer gesamten Entwicklung aus. Die gegenwärtige Nation sei prinzipiell derselbe Organismus wie die mittelalterliche Nation oder – im äußersten Fall – wie eine Nation, die bei dem Bau des Turmes von Babel entstand oder aus der unbekannten Vergangenheit während der Völkerwanderung auftauchte.4 Diese Vorstellung arbeitet mit der Überzeugung, daß im Lauf der Geschichte ein Untergang des Nationalbewußtseins bzw. seine Unterdrückung erfolgte, und daß die Grundlage der neuzeitlichen Nationalbewegung eben in einem neuerlichen „Erwachen“ der Nation bestehe. Der Begriff der „nationalen Wiedergeburt“ hat solche Quellen, und es ist kein Wunder, daß er in die nationalen Terminologien mehrerer Länder Eingang gefunden hat. Als quantitativ-evolutionistisch könnte eine Herangehensweise bezeichnet werden, die zwar die kulturelle und subjektive Bedingtheit der nationalen Identität nicht prinzipiell negiert, doch den entscheidenden Wandel in der Tatsache erblickt, daß sich der schon vorher existente Nationalismus in einer bisher unbekannten Intensität allmählich in allen sozialen Gruppen verbreitete und damit aufhörte, eine Angelegenheit nur einer schmalen politischen und intellektuellen Elite zu sein. Diese Perspektive ist einem Teil der Mediävistik und der Frühneuzeitforschung eigen, wobei 3

Der vorliegende Text entspricht nicht exakt dem Vortrag auf der Chemnitzer Tagung im Dezember 2006, in dem ein kursorischer Überblick über die wichtigsten Aspekte der modernen Nationsbildung im Kontext der allgemeinen historischen Entwicklung von kollektiven Identitäten vermittelt wurde. 4 Shmuel Noah Eisenstadt/Bernhard Giesen: The Construction of Collective Identity. In: Archives Europennes de Sociologie 36 (1995), Num. 1, S. 75 – 104.

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auf die mittelalterlichen Formen der ethnisch-nationalen Ausgrenzung, die Existenz eines vormodernen Nationsbegriffs (bzw. mehrerer vormoderner Nationsbegriffe) sowie auf die Beispiele vormoderner sprachlich-nationaler Argumentation hingewiesen wird. Solche Denkweisen sollten sich dann in der Epoche der Modernisierung auf Angehörige aller Bevölkerungsschichten ausweiten. Die Kritiker dieser Sichtweise wenden ein, daß hier die grundsätzlichsten qualitativen Veränderungen marginalisiert oder sogar übersehen werden: daß zur Nation bzw. zu Mitgliedern der Nation in der Moderne alle Angehörigen einer Ethnie und Sprache werden, daß dieser Nationsbegriff allmählich alle ständischen Konnotationen verliert (bzw. daß der moderne Nationsbegriff in seinem Prinzip antiständisch ist) und daß das nationale Interesse im Unterschied zum Mittelalter oder zur Frühneuzeit zur ersten und zweifelsfreien Legitimationsinstanz erhoben wird.5 Die Kritik an einer solchen metaphorisch wohl als „mediävistisch“ zu bezeichnenden Sichtweise wird unter anderem auch von den Positionen der kulturell-konstruktivistischen Herangehensweise geführt, die einem großen Teil der gegenwärtigen historiographischen Auseinandersetzung mit dem Problem des Nationalismus eigen ist und im Zusammenhang mit den postmodernen Akzentuierungen einen Aufschwung erlebt hat, der aus der Theorie der Dekonstruktion und dem so genannten linguistic turn resultiert. In diesem Kontext wird zwar einerseits die Bedeutung der ökonomischen und sozialen Neuerungen für die Nationsbildung nicht abgelehnt, andererseits wird diesen Neuerungen als Grundlagen der modernen Nationsformierung aber entweder nachrangiges Interesse gewidmet, oder die moderne Nationsbildung wird als ein Prozeß interpretiert, der beinahe ausschließlich durch Umwandlungen im kulturellen und ideologischen Bereich hervorgerufen wurde. Eine notwendige Folge dieser Herangehensweise ist eine – manchmal ausschließliche – Betonung der Subjektivität der nationalen Identität. Dabei ist oft schwer zu sagen, ob ein gewisses Übersehen von sozialen und wirtschaftlichen Neuerungen als unabdingbaren Voraussetzungen für die moderne Nationsbildung aus der Ablehnung ihrer Bedeutung oder aber lediglich aus der Forschungsorientierung auf die geistige, ideologische und kulturelle Sphäre resultiert. Die sozial-kulturelle Perspektive schließlich hat in den letzten Jahrzehnten den grundsätzlichen Konstruktcharakter der Nation akzeptiert, doch wird hier gleichzeitig großer Wert auf die sozialen und ökonomischen Veränderungen der beginnenden Moderne gelegt, denn diese werden sowohl als eine zentrale Vorbedingung und zugleich als ein Aspekt der Umwandlungen im kulturellen und ideologischen Bereich und damit auch im Bereich der kollektiven Identitäten gesehen. Wiewohl solche Herangehensweisen im äußersten Fall in eine dogmatische (marxistische, liberal-ökonomistische) Hierarchisierung von „Basis“ und „Überbau“ ausarten können, sind es doch Interpretationen dieser Art, welche den Wandel kollektiver Identitäten sowie die Bedingungen für diesen Wandel mittels einer Annäherung an 5 Hans-Ulrich Wehler: Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen. München 2001, S. 11; Isaiah Berlin: Der Nationalismus. Meisenheim 1990.

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das Modellpostulat der Komplexität sozialer, ökonomischer, ideologischer und kultureller Aspekte erklären können. Damit werden auch diese Aspekte als objektive Bedingungen angesprochen, trotz der Tatsache, daß dieser Begriff unter dem Druck einer banalisierenden historiographischen Rezeption der Postmoderne mittlerweile beinahe unzulässig erscheint. Im Kontext der modernen sozio-kulturellen Interpretation wird jedoch unter dem Begriff der „objektiven Bedingungen“ nichts weiter verstanden als das Muster von Bedingungen, die zwar das menschliche (darunter auch das kollektive) Bewußtsein beeinflussen, deren Funktion dadurch jedoch nicht erschöpft wird. Unter „Objektivität“ wird hier mithin keine Eigenschaft gemeint („Unparteilichkeit“, „Unvoreingenommenheit“ oder „Richtigkeit“), sondern ein erhebliches Maß an Autonomie in bezug auf die beobachtete Erscheinung des kollektiven Bewußtseins. Um das mit einem konkreten Beispiel zu verdeutlichen: Die moderne Nation ergibt sich unter vielem anderen und indirekt sicher auch aus den Interessen, Projekten und Wünschen der Akteure der Nationsbildung, sie formiert sich aber nicht als Umsetzung dieser Interessen, und sie kann durch den Willen von Menschen oder Menschengruppen weder geschaffen noch aufgelöst werden. Das Gegenteil zu glauben, wäre banal. So ist die moderne Nation Ausdruck der subjektiven Identifikationsprozesse von Massen von Individuen, doch die Massenhaftigkeit dieser Erscheinung, die Massenhaftigkeit von subjektiven Identifikationen sowie die Selbstverständlichkeit, mit der die nationale Identität unbesehen als natürlich, althergebracht und angeboren angesehen wird, schafft in der Moderne eine objektive Bedingung für die Identifikationen jedes Einzelnen mit der „Nation“– objektiv in dem Sinne, daß sie sich dem subjektiven Willen des Einzelnen entzieht. Die Bedeutung des Problems der Voraussetzungen für die Entstehung moderner nationaler Identitäten besteht darin, daß es sich dabei um die Frage nach den Ursachen für Nationalbewegungen und Nationalismen handelt, um die Frage, was sich geändert hat, damit die staatlich-politisch oder ethnisch-kulturell definierte kollektive Identität allmählich eine dominierende Rolle spielen und weitere soziale und kulturelle Segmente mitbestimmen konnte. Um sich diesen Bedingungen besser nähern zu können, scheint es angebracht, kurz hervorzuheben, worin sich vor allem die moderne Nationalidentität von den früheren Kollektividentitäten unterscheidet. Sie bezieht sich auf ein anderes Subjekt und auf andere bzw. anders gedeutete Werte. Was sie aber im Vergleich zu anderen Identitätsformen vollends einzigartig macht, sind vor allem folgende Merkmale: 1. Moderne nationale Identität erhält die höchste Legitimationskraft in einer Weise, daß keine andere kollektive Identität im Stande ist, mit ihr zu konkurrieren, während vorher unter verschiedenen Umständen und in verschiedenen Milieus diese Rolle sowohl eine ständische Landesidentität als auch etwa die konfessionelle, staatliche oder dynastische Identität übernehmen konnten. Zwar gilt auch für die Moderne das Postulat der – oft mißverstandenen und begrifflich nicht besonders glücklich formulierten – multiple identities sowie die situations- und rollenabhängige Funktion der verschiedenen Identitätsbezüge; auch kann die Bedeutung anderer als

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nationaler Identitäten nicht angezweifelt werden. Doch tendiert die Gewichtung ihrer Legitimationskraft deutlich zugunsten der nationalen Argumente. 2. Moderne nationale Identität bezieht alle Einwohner eines bestimmten Raumes, politischen Rahmens oder einer bestimmten Sprache ein. Sie bezieht sich oder soll sich ohne Unterschied auf alle Menschen in diesem nationalen Rahmen oder Raum beziehen. Die Menschen werden als Mitglieder der Nation durch die Tatsache ihrer Geburt, Staatsangehörigkeit und Sprache angesehen, tendenziell sogar ohne Rücksicht darauf, ob sie sich dessen bewußt sind oder nicht. 3. Die Zugehörigkeit zu einer Nation wird als natürlich angesehen und durch die bloße sprachliche oder politisch-staatliche Angehörigkeit konstituiert. Alle anderen Aspekte spielen eine zwar nicht unbedeutende, jedoch deutlich nachgeordnete Rolle. Vor der Perspektive der Zugehörigkeit zum kollektiven Subjekt sind alle Menschen gleich. Die moderne Nation ist daher in ihrem Prinzip als eine demokratische Form der kollektiven Identität zu sehen, wiewohl dies Hierarchien in allen anderen Richtungen nicht ausschließt. 4. Zur Begründung der „natürlichen Rechte“ einer Nation sind weder rechtliche Dokumente noch liturgische Texte von Propheten oder Erlösern unabdingbar nötig, obgleich gelegentlich Substitute dafür gefunden und bei der Umsetzung nationaler Interessen benutzt wurden. Die Nationalität ist primär keine Identität derjenigen, die sich zur Wahrheit eines Textes bekennen oder ihr Privileg haben. Die Nation ist vielmehr eine umfassende Gemeinschaft von Menschen auf einem relativ großen Territorium und auf der Ebene von mehreren, grundsätzlich „allen“ sozialen Schichten. Um eine solche Gemeinschaft wahrnehmen und sie sich in dem Maße vorstellen zu können, daß man sich mit ihr identifizieren kann, musste sie nicht nur ein Konstrukt, sondern ein Konstrukt mit hohen abstrakten Ansprüchen sein. 5. Die Nation war also in den Augen derer, die diese Identität in der Epoche der erfolgreichen Nationsbildungsprozesse teilten, weder durch den Text (konfessionelle, kulturelle Identität) noch durch das Privileg (ständische Landesidentität, städtische Bürgerschaft) gebildet oder gegründet worden. Sie existierte völlig „natürlich“, „seit je“, und die Zugehörigkeit zu ihr war bis auf Ausnahmesituationen im damaligen Verständnis unvermeidlich und notwendig, zudem natürlich, unveränderlich und objektiv. Die nationale Identität war dadurch stärker als ihre Vorgängerinnen auf der Überzeugung vom primordialen Charakter der Nation sowie der unveränderlichen Objektivität sowohl der nationalen Existenz als auch der nationalen Zugehörigkeit gegründet. Deshalb benötigte die Nation nicht unabdingbar eine textuelle oder andere Fixierung ihrer Rechte: Diese Rechte waren natürlich und durch die bloße Existenz der Nation gegeben. 6. Damit die Nation unter diesen Bedingungen zu einem unanzweifelbaren Wert werden konnte, mußte ihre Einzigartigkeit nicht nur in den äußeren Distinktionszeichen bestehen. Die äußeren Zeichen als Ausdruck von „inneren“, geistigen und zugleich einzigartigen und unwiederholbaren Werten, als Indikatoren eines „Nationalgeistes“, waren integrales Element nationaler Identitäten.

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Alle diese Eigenschaften sind bei weitem nicht die einzigen Kennzeichen nationaler Identitäten. Doch sie spielen für deren Wahrnehmung eine zentrale Rolle, auch und gerade in ihrem Zusammenwirken. Erst die „nationale“ Variante des kollektiven Bewußtseins sollte sich unterschiedslos auf alle sozialen Schichten erstrecken. Moderne nationale Identität konnte sich nun allerdings nur aufgrund spezifischer Voraussetzungen entwickeln. Das mit einem stärkeren Maß der Abstraktion verbundene kollektive Bewußtsein mußte in breitem Rahmen vermittelt werden, was eine entsprechende Ebene und Intensität sozialer Kommunikation und Mobilität implizierte. Zur Erfüllung des Postulats primärer Gleichheit in der Zugehörigkeit zur Nation war es notwendig, die Bedeutung der ständischen Unterschiede zu relativieren und zumindest auf dem theoretischen und ideologischen Niveau die Überzeugung von der Gleichheit der Menschen und von der Notwendigkeit ihrer Solidarität zu formulieren. Um nationale Rechte zu beanspruchen, mußte sich die nationale Gruppe auf die Konzeption des Naturrechts stützen, die unabhängig vom Willen und den Entscheidungen der Herrscher, Landtage und Parlamente war; und sie mußte auf eine juristische Theorie rekurrieren, die direkt zur Konzeption der Menschenrechte und zu bürgerlichen Freiheiten führte. Um schließlich die Heiligkeit der Nation damit begründen zu können, daß durch ihren einzigartigen Charakter die absoluten geistigen Werte einer Nation ausstrahlen, mußte man zunächst eine Besinnung auf eine geistige Welt vornehmen, welche vorgeblich die wahre und echte Welt sein sollte. Daraus aber folgten nicht nur entsprechende „technische“ Modernisierungen mit Entsprechungen in der ökonomischen und sozialen Sphäre, sondern auch zwei große kulturelle Phänomene: einerseits die rational-aufgeklärten Konstrukte und Konzepte des Naturrechts, der Menschenrechte und der Gleichheit, andererseits eine post-rationalistische Zuneigung zum geistigen Charakter der Welt. II. Landespatriotismus und Aufklärungspatriotismus Der territorial-politische Landespatriotismus als frühneuzeitliche Form kollektiven Bewußtseins, die zum großen Teil den ständischen Gemeinschaften eigen war, stellte einen wichtigen Ausgangspunkt bei der Definierung und Propagierung der Nation dar. Eine wichtige Rolle haben auch andere vormoderne Identitäten gespielt – z. B. die konfessionellen –, doch der Landespatriotismus stand in vielen Situationen bedeutungsmäßig aus mehreren Gründen an erster Stelle. Vor allem kann für West-, Südwest-, Mittel- und Nordeuropa konstatiert werden, daß der Anfang nationaler Agitation sich unter den Bedingungen der relativ abnehmenden politischen und kulturellen Bedeutung der Religion und der Kirchen und zeitgleich mit oder kurz nach der Säkularisierung der europäischen Kulturen abspielte, die von den kulturellen Umwandlungen ausging und vom Staat unterstützt oder sogar geleitet wurde. Die Konfession konnte zwar auch im 19. und 20. Jahrhundert einen durchaus noch mitprägenden Anteil an der Definition des nationalen Charakters und der nationalen

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Identität haben,6 doch die Idee des zentralen identitätsstiftenden Wertes der Nation resultierte aus jenen ideologischen Strömungen, die zur Verdrängung des Religiösen in die Privatsphäre führten. Die Religion verlor damit allmählich den Status einer öffentlichen Angelegenheit, den stattdessen das Interesse des Landes als politische Einheit zunehmend gewann. Die Bedeutung des Landesbewußtseins nahm in der Skala der kollektiven Identifikationen von Menschen in dem Maße zu, in dem es sich langsam von seinem ständischen Charakter entfernte. Der ständische Patriotismus blieb freilich noch lange Zeit eine der wichtigsten Formen von Landespatriotismus, zumindest solange die ständische Verfassung Bestand hatte; zugleich bekannten sich zum Landespatriotismus auch unprivilegierte Menschen nichtadliger Herkunft, insbesondere Gelehrte. Gerade in ihren Reihen verstärkten sich jedoch im 18. Jahrhundert Gefühle einer intensiven Identifikation mit dem Land oder dem Staat, und zwar einmal im antiständischen Sinne (z. B. im Namen der Reformen des Aufgeklärten Absolutismus, die häufig mit einer scharfen Adelskritik verbunden waren), zum anderen in Symbiose mit dem ständischen Bewußtsein. Eine tiefgreifende Umwandlung brachte hier die Abkehr von einer völligen Konzentration auf den Bestand historisch erworbener und durch Dokumente verankerter Landesprivilegien und ständischer Rechte mit sich, wiewohl dies selten eine Negation ihrer Bedeutung nach sich zog. Eine zentrale Rolle im patriotischen Diskurs übernahmen immer deutlicher die Werte „Entfaltung“ und „Glück des Landes“ – Werte, die wesentlich abstrakter waren, trotz ihrer rationalistischen Verankerung und Legitimation. Mit dieser geringeren Orientierung auf positiv verankerte Rechte und auf den ständischen Charakter sowie mit der wachsenden Rolle der naturrechtlichen und aufgeklärten Besinnung auf das Wohl der Menschheit und auf den Gemeinnutz hing auch eine gewisse Relativierung der politischen Landeseinheit als Bezugsobjekt des Aufklärungspatriotismus zusammen. Dieser konnte sich genauso gut auf einen Staat oder aber auf kleinere Einheiten und Räume beziehen, etwa auch auf eine Provinz, einen Kreis oder eine Stadt. Dort konnten sich dann häufig zwei Hauptlinien des aufgeklärten Patriotismus treffen: die intellektuelle, oft durch ausgebildete und geschulte Beamte repräsentiert, und die der Obrigkeit, von der sich ein Teil durch die aufgeklärten patriotischen Losungen der Arbeit für das Wohl des Landes und des Volkes inspirieren ließ, ohne dabei auf die Ideen des ständischen Patriotismus verzichten zu müssen. Zu den typischen Äußerungen des aufgeklärten Patriotismus gehörte eine zumindest verbale Besinnung auf Grundzüge der sozialen Gerechtigkeit (nicht der Gleichheit), ferner die Betonung der ökonomischen Entwicklung und des sozialen Aufstiegs des Volkes durch seine Bildung sowie die Einführung neuer Wirtschaftsmethoden. Einen starken Ausdruck fand diese Bewegung in der caritativen philanthropischen Tätigkeit eines Teiles der Obrigkeit, vor allem von Beamten und Gelehrten. Sicherlich ging es dabei oftmals bloß um eine Pose. Doch der neue 6 Vgl. Martin Schulze Wessel (Hrsg.): Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa. Stuttgart 2006.

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Bedarf, sie einzunehmen, weist darauf hin, daß sich im System der Werte einiges geändert hatte.7 Dieser aufgeklärte Patriotismus besaß allerdings einige sehr spezifische, in ihren Auswirkungen überraschende Eigenschaften, durch die er der späteren Entwicklung nationaler Bewegungen zahlreiche Impulse gab.8 Ein scheinbares Paradox könnte sein kosmopolitischer Charakter sein. Konnte denn ein – sogar bewußt artikulierter – Kosmopolitismus auf irgendeine Weise zu einem aufgeklärt-patriotischen Akzent in der Wahrnehmung lokaler Gesellschaften führen? Die Interessen, Ziele und Werte, zu denen sich die aufgeklärten Patrioten bekannten, basierten doch gerade auf der Abstraktion von den ständisch gefassten Ländereigentümlichkeiten, und sie waren eben dadurch der europäischen Aufklärung eng verbunden. Nicht nur Gelehrte, sondern auch Aristokraten hielten sich für Kosmopoliten und bekannten sich gern dazu, „Weltbürger“ oder „Weltkinder“ zu sein. Dies wurde allmählich zu einer Modeströmung, welche die breitesten adligen Kreise erfaßte. Auch im mitteleuropäischen Raum war der Kosmopolitismus nicht nur ein Privileg der höfischen Gesellschaften und der städtischen Metropolen oder der Gelehrten internationalen Ranges, sondern auch ein Metier des abseits lebenden Landadels. „Sans cesser d’Þtre en mouvement depuis le matin jusqu’au soir … ich bin ein völliges welt kind geworden“, schrieb zum Beispiel 1788 Marianne Dobrzensky, eine junge Edelfrau, die auf dem Familiensitz in der abgelegenen ostböhmischen Provinz lebte, ihren Verwandten in einen schlesischen Kurort stolz über ihren Aufenthalt in Prag.9 Dieser Kosmopolitismus in seiner kulturellen Dimension verbreitete nicht nur Ideen und Werte, sondern predigte auch deren Vertretung und Realisierung überall dort, wohin seine Träger kommen sollten. Eben deswegen mußte für einen aufgeklärten Patrioten die Frage seiner persönlichen territorialen Herkunft oder die Frage, ob er irgendwohin als „Fremder“ gekommen war, letztlich ohne Bedeutung sein: ein echter Aufklärungspatriot war Patriot überall dort, wohin er kam und wo er tätig sein sollte. Der Patriotismus wurde dadurch weniger territorial und mehr universell, sogar derart, daß seine Konnotierung mit einem konkreten Land oftmals nur eine zweitrangige Rolle spielen konnte und der Patriotismusbegriff immer allgemeiner mit dem Einsatz für das Gemeinwohl und für den Gemeinnutz verbunden wurde. Nur so wird es verständlich, wenn die Hauptaufgaben von Institutionen, die sich jetzt immer öfter patriotisch nannten, darin bestand, neue Methoden in Landwirtschaft, Viehzucht, Gewerbeförderung, Bildung und Kunst einzusetzen. Eine Impfung konnte genauso 7 Vgl. zum aufgeklärten Patriotismus u. a. Otto Dann/Miroslav Hroch/Johannes Koll (Hrsg.): Patriotismus und Nationsbildung am Ende des Heiligen Römischen Reiches. Köln 2003. 8 Zu diesem Zusammenhang des Regionalismus/Patriotismus und des Nationalismus Philipp Ther (Hrsg.): Regionale Bewegungen und Regionalismen in europäischen Zwischenräumen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Marburg 2003. 9 Marianne Dobrzensky an Josepha Dobrzensky, März 1788, Prag. Statn oblastn archiv [Staatliches Gebietsarchiv] Zmrsk (Tschechien), Familienarchiv Dobrzensky/Pottenstein, Kart. 1, Inv.-Nr. 17.

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patriotisch sein wie neue Düngemittel. Dieser Patriotismus verbreitete sich programmatisch insbesondere in der nichtpolitischen Sphäre, und zu seinen Postulaten wurde auch das Kennenlernen von Land, Region und Volk. Von hier aus resultierte das Gelehrteninteresse, das unter anderem immer mehr auf jene Eigenschaften und Merkmale der Bevölkerung abzielte, die mit deren folkloristischer und ethnographischer Eigenart zusammenhingen. Das neue Interesse für lokale Gewohnheiten, Gebräuche, Mundarten und Traditionen förderte die Besinnung auf ethnische und sprachliche Besonderheiten und machte aus ihnen ein wissenschaftliches Thema. Der kosmopolitische Charakter der aufgeklärten Patrioten und die Tatsache, daß die ethnisch unprivilegierten Gruppen entweder kein Rekrutierungsreservoir der Gelehrten- und Beamtengruppen darstellten, oder daß sich ihre Angehörigen durch den Aufstieg unter Gelehrten und Beamten assimilierten, führte zu einem nur scheinbaren Paradox – nämlich zu dem Umstand, daß die ersten Träger des gelehrten Interesses an der nichtherrschenden Ethnie Vertreter anderer Sprachmilieus waren, und daß die Ergebnisse ihrer Forschungen auch in anderen Sprachen veröffentlicht wurden.10 Die Rolle des Deutschen für die Anfangsphase der estnischen, lettischen, slowenischen und tschechischen Nationalbewegung hatte daher ähnliche Impulswirkungen wie die Rolle des Schwedischen für die finnische, des Polnischen bzw. des Russischen für die weißrussische, ukrainische und litauische, des Dänischen für die norwegische oder des Tschechischen für die slowakische Nationalbewegung. III. Ethnische Identität und vormoderne „Nation“ Die ethnische Alterität zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen ist zwar zum großen Teil eine kulturelle Frage und ein Problem der subjektiven Reflexion und Konstruktion, doch wird sie auch durch bestimmte reale äußere Unterschiede begründet. Die Thematisierung dieses Problems wird durch die Tatsache erschwert, daß die neuzeitliche Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts beinahe wie selbstverständlich die moderne Nationalkategorie zurück in die Vergangenheit projizierte und auf diese Weise der älteren Geschichte nationale oder sogar nationalistische Ausgangspunkte zugrundelegte.11 Es wurde vorausgesetzt, daß auch in der Vergangenheit die nationale Zugehörigkeit zentral war und die Nationen die handelnden Subjekte der Geschichte darstellten. Die Abkehr von diesen Vorstellungen erfolgte in größerem Maße seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, doch sie setzt sich auch heute noch manchmal schwer durch.12 Andererseits führt die Kritik an der 10 Miroslav Hroch: Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich. Göttingen 2005, S. 45 – 47. 11 Zur kulturellen Zuschreibung durch die Geschichte vgl. Wojciech Wrzosek: The Problem of Cultural Imputation in History. Relation between cultures versus history. In: Jerzy Topolski (Hrsg.): Historiography between Modernism and Postmodernism. Contribution to the Methodology of the Historical Research. Atlanta – Amsterdam 1994. 12 Vgl. Milosˇ Rˇeznk: Nrodn kategorie a soucˇasn historiografie [Die Nationalkategorie und die gegenwärtige Geschichtswissenschaft]. Deˇjiny – teorie – kritika 3, 2006, Nr. 1, S. 7 – 34.

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nationalen Geschichtsdeutung oftmals zu übertriebenen Reaktionen und zur Tendenz, die Relevanz von Nationalitäten- und ethnischen Kategorien für die Epoche vor der vormodernen Nationsbildung a priori abzulehnen, was wiederum „Entdeckungen“ von mittelalterlichen und frühneuzeitlichen „Nationalismen“ ermöglicht. Aufgrund von vielen historischen Quellen kann beim heutigen Kenntnissstand konstatiert werden, daß die Zugehörigkeit zu einer Ethnie in der vormodernen Zeit praktisch in allen sozialen Klassen eine Rolle spielte, insbesondere dort, wo die Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen aufeinander trafen oder wo diese ethnische Diversität durch konfessionelle Unterschiede verstärkt wurde. Die Menschen nahmen zumindest auf der elementaren Ebene ethnische Heterogenität und Gruppenzugehörigkeit wahr, gleichzeitig spielte aber dieses Bewußtsein keine zentrale Rolle und blieb in der Regel im Schatten von konfessionellen, lokalen, ständischen, territorialen und staatlich-dynastischen Identitäten. Die Intensität dieses ethnischen Bewußtseins war kontextgebunden und damit in verschiedenen Situationen unterschiedlich. Anthony Smith hat eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen zwei Typen vorgeschlagen, die auf eine relativ breite Akzeptanz gestoßen ist: Der Typ der „ethnischen Kategorie“ stellt die Situation dar, in der Menschen einer gewissen Gruppe spezifische Zeichen einer ethnischen Zugehörigkeit aufweisen, die sie für völlig selbstverständlich halten, und die sie zumeist auf der elementaren Ebene einer einfachen Verschiedenheit von einer anderen Gruppe wahrnehmen, falls sie mit einer solchen in Berührung kommen. Der Typ einer „ethnischen Kommunität“ hingegen setzt bereits eine tiefere Wahrnehmung dieser Zugehörigkeit voraus, was etwa in der bewußten Pflege der Gebräuche und Gewohnheiten Ausdruck findet, in ihrer Tradierung und Hervorhebung als spezifische Symbole des eigenen Kollektivs.13 In manchen Fällen konnte die ethnische Kommunität auch ein Entwicklungsstadium erreichen, das an den Typ der ethnischen Kategorie anknüpfte, indem es abstraktere ethnische Bewußtseinsformen entwickelte und zur späteren Etablierung des nationalen Bewußteins beitrug. Von diesem unterschied sich die Identität einer Kommunität vor allem dadurch, daß sie sich weiterhin in einem lokalen oder begrenzt territorialen Rahmen entwickelte, daß sie aus der ethnischen Gruppe nicht die grundsätzlichste Form der kollektiven Zugehörigkeit machte, und daß sie nicht auf eine entscheidende soziale Rolle fixiert, sondern tendenziell zur Akzeptanz des gegebenen sozialen und politischen Rahmens hin offen war. Es ist allerdings offensichtlich, daß das kollektive Bewußtsein einer ethnischen Kommunität Ausgangspunkt für die Formulierung nationaler Programme sein konnte. Soziale Gruppen mit diesem Niveau des ethnischen Bewußtseins wiesen auch eine bestimmte Ebene der kollektiven historischen Tradition auf und verfügten für sich über eine Gruppenbezeichnung.14 Bei der Betonung der zentralen Bedeutung territorial-ständischer Identitäten und der eher zweitrangigen Rolle des ethnischen Bewußtseins in den vormodernen Ge13 14

Anthony D. Smith: National Identity. London 1991, S. 20. Ebd.

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sellschaften ist allerdings zu fragen, in welchem Kontext die Sprache und der Nationsbegriff als Kategorien Bedeutung besitzen, wie das unzählige mittelalterliche und frühneuzeitliche Quellen belegen. Immer wieder wird darüber diskutiert, inwieweit daraus folgern würde, daß Nationen bereits im Mittelalter und der Frühneuzeit bestanden und eine wesentliche Relevanz für kollektive Identifikationen besessen hatten. In gewissen Grenzen kann das wohl auch nicht bestritten werden. Der Begriff der Nation – natio – spielte zweifellos eine Rolle, etwa in Konflikt- und Bedrohungssituationen oder in einem mehr oder weniger institutionalisierten Sinne (Ständewesen, Universitätsnationen) oder als Metapher, die für alle Menschengruppen mit besonderen Merkmalen verwendbar war.15 Im Fall des Heiligen Römischen Reiches setzte sich das Prädikat „deutscher Nation“ erst an der Schwelle zur Neuzeit durch – im engen Kontext der osmanischen Gefahr erschien es dauerhaft nicht nur in der Bezeichnung des Reiches, sondern als Stichwort, das zu Aktivitäten und Opfern im Interesse des Kampfes gegen die äußere Gefahr mobilisierte. Auch die Universitätsnationen waren vor allem Kategorien der Einordnung und Abgrenzung korporativer und rechtlicher Art. Im tschechisch-böhmischen Fall etwa, wo die Benutzung der nationalen Akzente gegen die „Deutschen“ häufig betont wird, waren solche Akzente als Gegenpositionen zu Fremden im Allgemeinen präsent. Bekanntlich ist jede kollektive Zugehörigkeit implizit immer auch eine Form der Abgrenzung gegenüber denjenigen, die dem „eigenen“ Kollektiv nicht angehören. Daneben orientierte sich jedoch die mittelalterliche und frühneuzeitliche Entwicklung deutlich an einem Nationsverständnis im politischen, korporativen Sinne: Die politische Nation galt als Kollektiv derjenigen, die an den politischen Mitspracherechten teilhatten, und sie setzte sich allmählich als eine ständische Nation durch, d. h. als eine Nation der Mitglieder der ständischen Gemeinde. Zusammen mit der Formierung der ständischen Monarchien festigte sich die Gleichsetzung von Nation und Ständen, die sich auch im Absolutismus erhalten konnte, der an der Existenz und an der klaren rechtlichen Abgrenzung der Stände in der Regel nichts oder nur wenig änderte. Diese korporative Definition der Nation hatte auf den ersten Blick mit der modernen Nation wenig mehr als die Bezeichnung gemeinsam. Doch besteht zwischen der ständischen und der modernen Nation eine enge Beziehung, auch wenn man, wie die „Modernisten“,16 die grundsätzlichen Unterschiede betont: Das Volkssouveränitätsprinzip, in dem das Volk eines konkreten Staates als Nation bezeichnet wird und damit die Grundlage zum politischen („bürgerlichen“, „westlichen“) Nationsverständnis gelegt wird – etwa im Gesellschaftsvertrag Rousseaus – 15 Zur Begriffsgeschichte z. B. U. Dierse/H. Rath: Nation, Nationalismus, Nationalität. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. Joachim Ritter/Karlfried Gründer. Bd. 6. Darmstadt 1984, Sp. 406 – 414; Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 7, 2. Aufl., Stuttgart 1997, S. 171 – 245. 16 So fast im Sinne eines Kampfbegriffes Johan Holm: King Gustav Adolf’s Death. The Birth of Early Modern Nationalism in Sweden. In: Linas Eriksonas/Leos Müller (Hrsg.): Statehood Before and Beyond Ethnicity. Minor States in Northern and Eastern Europe, 1600 – 2000. Brussels 2005, S. 109 – 130, hier S. 112.

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muß nicht unbedingt als definitorische Umdeutung des Nationsbegriffes gesehen werden. Nur die Legitimität der Herrschaft wird anders, nämlich revolutionär formuliert; deren Träger werden erweitert, doch die Nation bleibt denjenigen vorbehalten, die am politischen Mitspracherecht direkt oder indirekt Anteil haben. Gleichwohl kann auch für das Mittelalter und die Frühneuzeit in vielen Fällen die Präsenz ethnischer Zeichen in verschiedenen Verwendungsformen des Nationsbegriffs nicht bestritten werden. Insbesondere im Mittelalter, vor oder während der Formierung der ständischen Monarchien, ging die Verwendung weit über das Korporative oder Ständische hinaus. Die Herkunft spielte dabei nicht selten eine wesentliche Rolle. Auch stand die zunehmende Rolle der Nationskategorie mit der Zentralisierung mittelalterlicher Staaten im Zusammenhang und erhielt überdies, wie erwähnt, als Losung zur Mobilisierung zum Kampf gegen einen Feind zusätzliche Legitimation. Zu Mitgliedern der Nation wurden dann diejenigen, die einem Herrschaftsraum, einem politischen Gebilde angehörten und einem Machtzentrum unterstanden, jene, die ihre Interessen mit ihm identifizierten oder sich seiner Macht und Gewalt fügen mußten. Das waren jene Gruppen, aus denen sich später auch politische Stände formieren sollten. Sie gefielen sich in der Rolle der Träger militärischer Kraft und früher oder später auch als Mitträger herrschaftlicher Gewalt. Nation wurde hier geradezu als Programm formuliert, wie man an einem konkreten Beispiel, der Idee der Nation im mittelalterlichen Polen, verdeutlichen kann.17 Die frühe Herrschaftsbildung im polnischen Raum erfolgte, ähnlich wie in Böhmen, Litauen und Rußland, mit der Durchsetzung eines territorialen, stammesmäßig definierten Zentrums gegen konkurrierende Zentren. Ein konkretes Zentrum konnte so in einem bestimmten Raum eine hegemoniale Stellung erreichen und die Ausschaltung von Konkurrenzzentren erzielen, wie das im 10. Jahrhundert bei der Durchsetzung von Gnesen (Gniezno), dem Zentrum der Polanen und ihrer Herzöge, der Fall war. Dies bedeutete jedoch nicht, daß das Bewußtsein einer Stammeszugehörigkeit an Bedeutung verloren und daß sich stattdessen ein „einheitliches“, „polnisches“ Bewußtsein durchgesetzt hätte. Dem standen die Geschlossenheit lokaler Gesellschaften, die fehlende Mobilität und Kommunikation, ein zumindest minimaler Machteingriff der herzoglichen Verwaltung und das Fehlen von Vorstellungen über gemeinsame Interessen sowie über ein gemeinsames Kollektiv entgegen. Ein Hauptmotor für die zunehmende Identifikation mit einer mittelalterlichen Nation war zweifellos das Erlebnis eines Krieges. Erinnert sei hier an den bereits erwähnten Fall der osmanischen Bedrohung als Mobilisationsfaktor der „teutschen Nation“ im 15. und 16. Jahrhundert. Auch im mittelalterlichen Polen hat sich der Krieg als „nationsbildender Faktor“ bereits früh ausgewirkt. Einigen Historikern zufolge brachten bereits die Kämpfe Boleslaws des Tapferen (Chrobry) gegen 17 Die folgenden Absätze stützen sich im Wesentlichen auf: Ireneusz Ihnatowicz/Antoni Ma˛czak/Benedykt Zientara/Janusz z˙arnowski: Społeczen´stwo polskie od X do XX wieku. 2. Aufl., Warszawa 1988, hier insb. S. 68 – 88 und 179 – 204; Juliusz Bardac/Bogusław Les´nodorski/Michał Pietrzak: Historia ustroju i prawa polskiego. 3., korrig. Aufl., Warszawa 1996.

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deutsche Herrscher in den ersten Jahrzehnten nach Durchsetzung der Hegemonie Gnesens das Erlebnis von gemeinsamen Kämpfen der Eliten aus verschiedenen Teilen des Polanenherzogtums mit sich. Damit trugen eben diese Kriege zur Integration der Eliten sowie zur allmählichen ethnischen, sprachlichen, kulturellen und politischen Vereinigung bei. Es kann angenommen werden, daß dies auch durch das symbolische Prestige des Herrschers gefördert wurde, der sich schnell unter den mächtigsten europäischen Herrschern etablierte und die königliche Würde erreichte. Doch bald sollte sich die Kraft der zentripetalen Tendenzen zeigen. Sie gingen nicht nur von den alten stammlich-territorialen Traditionen aus, sondern auch von neuen Erscheinungen, vor allem von den großen Magnatendomänen, deren Inhaber nicht mehr direkt vom Dienst beim Landesherrn abhängig und an der Reichweite seiner Macht nicht weiter interessiert waren. Die lokale Selbständigkeit dieser Magnaten war eine Begleiterscheinung der politisch-territorialen Zersplitterung des mittelalterlichen Polens zwischen dem 11. und dem 14. Jahrhundert. Gleichwohl verstärkte sich in weiteren Konflikten – nachdem die Piastengebiete Gegenstand von Angriffen verschiedenster Seiten wurden – das Bewußtsein der Solidarität und der gemeinsamen Interessen, die einer kollektiven Verteidigung wert wären. Zu Beginn des 12. Jahrhunderts setzte sich unter den Magnaten dann bereits eine Art dynastische und staatliche Identität durch, die sich auf die Piastenfürsten hin orientierte. Zentripetale Tendenzen der Magnaten richteten sich nun eher auf die Schwächung der zentralen Macht zur Sicherung lokaler Machtsphären, weniger jedoch auf eine wirkliche territoriale Zergliederung. Die ambivalente Beziehung zur Entfaltung der landesherrlichen Verwaltung resultierte vor allem aus der Tatsache, daß der Machtapparat des Landesherrn als Mittel zur Unterdrückung des bäuerlichen Widerstandes gegen die sich durchsetzende feudale Abhängigkeit eingesetzt werden konnte. Neue Verwaltungsformen etablierten sich teilweise unabhängig von früheren Stammesterritorien und brachten dadurch deren Integration mit sich; der sich formierende Verwaltungsapparat vermochte allmählich immer mehr „an sich“ zu funktionieren, ohne stets eines starken Landesherrn zu bedürfen. Der Adel war vor diesem Hintergrund an der Entwicklung der Verwaltung im eigenen Sinne interessiert. Das Interesse eines Großteils der polnischen Machteliten an der Integration piastischer Länder verstärkte sich im 13. Jahrhundert, als ihre außenpolitische Schwäche und die politische Zersplitterung zwischen einzelnen Linien und Angehörigen des Piastengeschlechtes offenbar wurde und das Land zugleich den zerstörenden Tatareneinfällen ausgesetzt war. Nun intensivierte sich der Zusammenhalt einzelner Gebiete, und der Adel verschiedener Territorien begann seperate Verbindungen in seinem Kampf gegen mächtige Magnaten anzuknüpfen. Ein wichtiger Verbündeter konnte dem Adel dabei ein starker Herrscher werden. Eine bedeutende Rolle bei der Propagierung der „nationalen“ Integration übernahm zudem die Kirche, die im Rahmen der Gnesener Erzdiözese seit dem frühen 11. Jahrhundert territorial und organisatorisch gefestigt war und deren Güter sich ähnlich wie bei vielen großen weltlichen Territorien über die Grenzen einzelner Herrschaftsgebiete hinaus aus-

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dehnten. Ohne diese Voraussetzungen sind weder die inneren Konflikte noch die Wiedererlangung der königlichen Würde oder gar die Vereinigung Polens im späten 13. und frühen 14. Jahrhundert zu verstehen. Der nichtpolitische Ausdruck dieser Intergrationstendenzen in der polnischen Gesellschaft war eine relativ einheitliche elitäre Kultur mit starker Präsenz des polnischen Patriotismus. Die Einheitsidee propagierte zum Beispiel sehr stark die Chronik von Wincenty Kadłubek aus dem frühen 13. Jahrhundert. Sie wurde durch den Kult des Krakauer Bischofs Stanislaus repräsentiert, der im 13. Jahrhundert heiliggesprochen wurde, oder auch durch das berühmte Bogurodzica-Lied, das in dieser Zeit entstand, starke Popularität erlangte und zum Symbol der Einheit des Staates und der mittelalterlichen Nation Polens wurde. Grundlage dieser Nation war der Adel, der sich als soziale Gruppe in diesem Jahrhundert mit beschleunigtem Tempo formierte. In der Periode der stärker zentralisierten polnischen Monarchie der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts konnte daher der Adel nicht nur als Untertan des Königs auftreten, sondern sich zugleich als Repräsentant des Königreichs und als Mitträger seiner Staatlichkeit positionieren. In dieser Rolle und in diesem herausgehobenen sozialen Rahmen konstituierte sich der Adel als politische Nation. Der Begriff der Corona Regni Poloniae, der sich damals durchsetzte, war mehr als eine formale Novität: In ihm spiegelte sich der Wandel vom Verständnis des polnischen Königreichs im Sinne eines königlichen Patrimoniums zu dessen Betrachtung als eines eigenen, von der Person des Königs unabhängigen Organismus. Neben der Dynastie – insbesondere nach dem Aussterben der Piasten – konnte daher die mittelalterliche Nation zum neuen Hauptsubjekt werden, mit dem sich polnische Staatlichkeit und Tradition verknüpften. Es muß wohl nicht besonders betont werden, daß dies auch im politischen Anspruch des Adels einen klaren Ausdruck fand. Die Notwendigkeit, nach dem Tod des letzten Piastenkönigs einen neuen Herrscher zu bestimmen, ermöglichte es dem Adel in den 1370er und 1380er Jahren, seine beanspruchte „staatstragende“ Rolle zu erfüllen. Dies wurde am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Frühneuzeit zum Ausgangspunkt für einen kontinuierlichen Ausbau ständischer Rechte, was dann im 16. Jahrhundert in einem außerordentlich entwickelten ständischen System mit einer minimalisierten Rolle des Königs und einem einständischen Charakter der politischen Repräsentation kulminierte, aus welchem die Städte ausgeschlossen waren, und wo sich die Idee der Einheitlichkeit des adligen Standes ohne jegliche formal-rechtliche Differenzierung durchsetzte. Die adlig-republikanische Ideologie wurde vom 16. bis zum 18. Jahrhundert zur Inkarnation der Nation, die nur aus der Gruppe der politisch partizipierenden Menschen, also den Angehörigen des Adels bestand.18 Nicht nur in Polen hat sich, zusammen mit der Formierung des ständischen Systems, die Tendenz zur Identifizierung der Nation mit der Ständegemeinde im Zusammenhang damit durchgesetzt, wie sich die Stände abschlossen und stabilisier18 Vgl. Jerzy Topolski: Polska w czasach nowoz˙ytnych (1501 – 1795). Poznan´ 1994, S. 109 – 113.

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ten.19 Die Nation wurde unter den frühneuzeitlichen Bedingungen, zumindest in Mittel- und Ostmitteleuropa, zu jenem kollektiven Subjekt, dessen Loyalität und Solidarität in einem ständischen Landespatriotismus Ausdruck fanden. Vielleicht könnte die These aufgestellt werden, daß die frühneuzeitliche Nation noch mehr politisch und noch weniger ethnisch als ihre mittelalterliche Vorgängerin war. Im späten Mittelalter scheint das ethnische Argument doch eine nicht unbedeutende Rolle gespielt zu haben, was wohl mit dem noch nicht abgeschlossenen Prozeß der ständischen Formation zusammenhängen mochte. Insbesondere zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert lassen sich ethnische Akzentuierungen finden, die häufig in Haßausfällen gegen Fremde umschlugen. Neben vielen Fällen, die aus der deutschen oder der polnischen Geschichte bekannt sind – z. B. die Verteidigung eigener Traditionen gegen fremde Einflüsse durch den Erzbischof von Gnesen S´winka, die in der Periode der polnischen Regierung des Przemysliden-Königs Wenzel II. formuliert wurde, als in polnische Ämter Funktionsträger deutscher und böhmischer Herkunft eingesetzt wurden – wird im tschechischen Kontext häufig auf die antideutsche Einstellung der Chronik des sogenannten Dalimil hingewiesen. In allen diesen Fällen wird allerdings klar, daß der Widerstand vor allem durch den formellen und informellen Einfluß der Ausländer im Staat, in den Ämtern und in den Städten hervorgerufen wurde. Wiewohl die ethnische Definition des „Feindes“ präsent war, orientierte sie sich dennoch primär an der Verteidigung landständischer Interessen: den ausschließlichen Zugang zu den Landesämtern für die Angehörigen des heimischen Adels bzw. der Ständegemeinde. Auch die mittelalterliche und frühneuzeitliche ethnische Argumentation richtete sich auf die politische Nation, und sie hat daher mit dem modernen Nationalismus nur die Form, nicht aber den Inhalt gemeinsam. Ein Einwand könnte in diesem Kontext die böhmische bzw. tschechische Hussitenbewegung sein. Doch sowohl Mediävisten als auch „Modernisten“,20 die auf diesen Fall hinweisen, stimmen in der Bewertung der Außerordentlichkeit des Hussitentums unter den mittelalterlichen „Nationalismen“ überein,21 welche in der sozialen Aufladung ihrer ethnisch-nationalen Ideen bestand. Die tschechischen Hussiten würden hier also einen singulären Fall darstellen. Berücksichtigt man jedoch, daß die Adressaten der hussitischen Agitation primär die tschechischsprachigen Volksschichten waren, da die Grenze zwischen den Anhängern und Gegnern 19 Vgl. zum böhmischen Nationsverständnis im frühneuzeitlichen Kontext Vladimr Urbnek: The Idea of State and Nation in the Writings of Bohemian Exiles After 1620. In: Linas Eriksonas/Leos Müller (Hrsg.): Statehood Before and Beyond Ethnicity. Minor States in Northern and Eastern Europe, 1600 – 2000. Brussels 2005, S. 67 – 83; Anna M. Drabek: Patriotismus und nationale Identität in Böhmen und Mähren. In: O. Dann/M. Hroch/J. Koll (Hrsg.): Patriotismus und Nationsbildung am Ende des Heiligen Römischen Reiches (wie Anm. 7), S. 151 – 169. 20 Vgl. Anm. 16. S. auch Joachim Ehlers: Die Entstehung des Deutschen Reiches. München 1994, S. 8 – 9. 21 Frantisˇek Graus: Nationenbildung der Westslawen im Mittelalter. Sigmaringen 1980; Frantisˇek Sˇmahel: The Idea of the „Nation“ in Hussite Bohemia. Historica 16. Praha 1969, S. 143 – 247, und Historica 17. Praha 1969, S. 93 – 197.

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des „Kelches“ größtenteils zwischen der tschechischsprachigen und der deutschsprachigen Bevölkerung verlief, dann scheint diese vermeintliche „Anomalie“ vielleicht doch nicht so außergewöhnlich zu sein. Ihre Logik bestand in der Berufung auf das Volk, das vom Kelch die Kommunion empfing und dabei tschechisch sprach, als Mitträger der politischen Macht: „Nation“ sind hier also wiederum diejenigen, die an dieser Macht einen – wenn auch nur illusorischen – Anteil haben (sollen). Der Unterschied beruht nicht auf dem Charakter, sondern nur auf dem Umfang dieses Kollektivs. Die frühneuzeitliche Nation blieb während der Epoche der ständischen Landespatriotismen, wie bereits erwähnt, eine primär politisch geprägte Größe, obgleich auch in ihrem Kontext sprachliche und ethnische Merkmale mitbestimmend waren. In dieser Hinsicht kann eine Kontinuität zum Mittelalter konstatiert werden. Es lassen sich zahlreiche Beispiele anführen, in denen die Sprache im Mittelalter und in der Frühneuzeit in der patriotischen Argumentation eine zentrale Bedeutung besaß.22 Zu den älteren, bereits erwähnten Fällen aus Böhmen (Dalimil, Hussiten), wo die lingua bohemica sogar eine Bezeichnung für das Kollektiv wurde, gesellte sich das Polnische als Zeichen der spätmittelalterlichen polnischen Nation, und auch im Westen finden sich ähnliche Tendenzen, etwa bei Regino von Prüm, dem Abt von Trier und Autor einer Weltchronik zu Anfang des 10. Jahrhunderts, oder bei Guibert von Nogent, der in seinen Gesta dei per Francos zu Anfang des 12. Jahrhunderts seinen Vorstellungen über die französische Nation Ausdruck verlieh.23 Diese Autoren betrachteten bereits Herkunft, Sprache und Recht oder den politischen Verband als Grundlagen der nationalen Eigenheit. Auch die Frühneuzeit kehrte zur Sprache und zu den Gebräuchen als Spezifika „nationaler“ Identität immer wieder zurück. Sehr modern klang der Versuch einer Nationsdefinition, den der Kanoniker Mikołaj Dauksza/Mikalojus Dauksˇa (1527 – 1613) in seiner Verteidigung der litauischen Sprache 1599 (auf polnisch) formulierte und sich dabei auf die vaterländische Erde und deren Gebräuche stützte. Es war dabei kein Zufall, daß sich Dauksˇa an die Bewohner des Großherzogtums Litauen wandte, von denen die große Mehrheit kein Litauisch sprach, und daß er dies in der Zeit nach der Lubliner Union tat, als die litauische ständische Repräsentation begann, die Eigenart ihres Landes und die Rechte ihrer Ständegemeinde gegen das Übergewicht des polnischen Teils der Rzeczpospolita zu verteidigen.24 Auch ein Teil der Stände des Königlichen Preußen in Pommerellen legte noch im 18. Jahrhundert großen Wert 22 Anja Stukenbrock: Sprachnationalismus. Sprachreflexion als Medium kollektiver Identitätsstiftnug in Deutschland (1617 – 1945). Berlin 2005. 23 Vgl. Frantisˇek Sˇmahel: Die nationes im Mittelalter. In: Robert Maier (Hrsg.): Die Präsenz des Nationalen im (ost)mitteleuropäischen Geschichtsdiskurs. Hannover 2002, S. 35 – 43; Joachim Ehlers: Elemente mittelalterlicher Nationsbildung in Frankreich (10. – 13. Jh.). Historische Zeitschrift 231 (1980), S. 586 – 587. 24 Zuletzt zu der polnisch-litauischen Beziehung in dieser Epoche Mathias Niendorf: Das Großfürstentum Litauen. Studien zur Nationsbildung in der Frühen Neuzeit (1569 – 1795). Wiesbaden 2006.

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auf die Sprache, weil die traditionelle Rolle des Deutschen ihr Land mit eigener Ständegemeinde vom übrigen Königreich Polen unterschied. Der führende Verteidiger der preußischen Autonomie, der Danziger Historiker Gottfried Lengnich (1689 – 1774), betonte damals, daß die „Preußen“ ihre eigene Sprache, Sitten, Kleidungsart und Lebensweise besäßen und deswegen mit den Polen wenig gemeinsam hätten.25 Er tat dies vor allem auch deshalb, um die partikularen Rechte der preußischen Stände bzw. des Landes zu unterstützen. Der Hinweis auf ethnische Besonderheiten spielte in seiner Argumentation eine eher untergeordnete Rolle. Schließlich kann an die Verteidigungen der tschechischen Sprache erinnert werden, nicht nur in der Zeit der Schlacht am Weißen Berg 1620. Bekanntlich beharrten die böhmischen Stände damals auf Tschechischkenntnissen als Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der böhmischen Ständegemeinde. Am bekanntesten ist wohl der Beschluß des böhmischen Landtags von 1615, in dem diese Bedingung nochmals wiederholt wurde. Erst die „Verneuerte Landesordnung“ Kaiser Ferdinands II. (1627) verankerte als eine der politischen Folgen der Niederlage des böhmischen Ständeaufstandes auch Deutsch neben dem Tschechischen als Landessprache. Doch noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts benutzte der oppositionelle, meist deutsch- und französischsprachige böhmische Adel die tschechische Sprache als Hinweis auf den Sondercharakter des Landes ebenso wie zur Betonung einer stärkeren ständischen Landesautonomie gegen die Wiener Zentrale des habsburgischen Gesamtstaates.26 Es kann daher festgehalten werden, daß die ethnische und sprachliche Argumentation im Mittelalter und insbesondere in der Frühneuzeit eine unterstützende Rolle bei der Formulierung politischer Rechte und Ansprüche von Kollektivsubjekten spielte. Diese Argumentation mobilisierte vor allem die Angehörigen der am politischen Mitspracherecht beteiligten Bevölkerungsgruppe. Sie war deswegen primär sozial orientiert und wurde zum Großteil lediglich durch die intellektuellen und politischen Eliten formuliert. Die ethnischen Argumente wurden dort benutzt, wo sie eine unterstützende Funktion übernehmen konnten. Aus diesem Grund bezog sich zwar die Sprache im frühneuzeitlichen Kontext auf den Nationsbegriff, wurde aber auch als Merkmal einer spezifischen Eigenheit der politischen Nation und dadurch als Merkmal des Landes angesehen. In diesem Zusammenhang wurde die Sprache als Zeichen der landesspezifischen Besonderheiten, nicht unbedingt jedoch als Ausdruck der ethnisch-nationalen Spezifika betrachtet und instrumentalisiert, indem sie zum Mittel der Legitimierung von Sonderprivilegien und Rechten einer politisch-ständischen Einheit wurde.27

25 Vgl. Gottfried Lengnich: Geschichte der Preußischen Lande Königlich Polnischen Antheils. Bd. 1, Danzig 1722, S. 7. 26 Vgl. Anna Maria Drabek: Die Desiderien der böhmischen Stände von 1791. In: Ferdinand Seibt (Hrsg.): Die böhmischen Länder zwischen Ost und West. Festschrift Karl Bosl zum 75. Geburtstag. München/Wien 1983, S. 132 – 142. 27 Vgl. Johan Holm: King Gustav Adolf’s Death (wie Anm. 16), S. 109 – 130.

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IV. Die Krise des Ancien Rgime Eine wesentliche Grundlage der modernen Nation sind die den ständischen Traditionsrahmen sprengenden Gleichheitsforderungen. Der Einzelne ist Angehöriger der Nation als Staatsbürger oder als Mitglied einer Sprachgruppe. Damit solche Konzepte formuliert werden und sich durchsetzen konnten, mußte es zur Abschaffung der ständischen Gesellschaft oder zur Infragestellung ihrer Legitimität kommen. Die Krise des Ancien Rgime, das auf der ständischen Verfassung und der monarchischen, von Gott ausgehenden Macht beruhte, bildete so eine unabdingbare Voraussetzung der modernen Nationsbildung. Doch die Formulierung alternativer gesellschaftlicher Projekte einschließlich der modernen Nationsvision war nicht die Folge, sondern ein wichtiger Bestandteil dieser Krise. Zu ihren Voraussetzungen gehörten bekanntlich neue Erscheinungen in der langfristigen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung, die sich auf moderne, „kapitalistische“ Verhältnisse, auf die mit ihnen verbundenen Lebenswelten und auf die Emanzipation neuer sozialer Gruppen stützten, die ihren Anspruch auf politische Partizipation weder von Rechtstiteln noch von ihrer Abstammung herleiteten. Doch war dieser Anspruch nicht bloßer Ausdruck von Prestige, Selbstbewußtsein oder Machtgier; in dem Maße, in dem die neuen, aufsteigenden Gruppen an Bedeutung gewannen, wurde ihre Anteilnahme an politischen und ökonomischen Entscheidungen zur Notwendigkeit, um eigene, gruppenbezogene oder individuelle Interessen realisieren zu können. Für Kaufleute und Unternehmer war es ab einem bestimmtem Umfang ihrer Handelsaktivitäten, der über den lokalen oder regionalen Rahmen hinausging, notwendig, immer mehr Einfluß auf Entscheidungen über wirtschaftliche und finanzielle Fragen zu gewinnen, man wollte die Steuerverwaltung, die Finanz- und Zollpolitik und schließlich auch die auswärtigen Beziehungen beeinflussen, die mit den jeweiligen Handelsinteressen eng zusammenhingen. Ähnliche Bedürfnisse begannen auch Angehörige anderer sich emanzipierender und aufsteigender Gruppen zu entwickeln. Zu diesen zählten die Intelligenz und das Beamtentum, deren Angehörige zwar häufig über außerordentliche Positionen, aber nicht über einen entsprechend garantierten Einfluß verfügten, der es ihnen ermöglicht hätte, ihre gesellschaftlichen Projekte zu realisieren. Ein wichtiger Umstand bei alledem waren die Fähigkeit und der Bedarf dieser Gruppen und ihrer Angehörigen, ihre Ansprüche auf die von ihnen erbrachte Leistung zu stützen. Durch die neu verstandene und sozio-kulturell aufgewertete Leistungskategorie sowie durch eine neue Leistungsrationalität konnten sie Vermögen und informellen Einfluß akkumulieren, was zu ihrem Mangel an direktem politischen Einfluß scharf kontrastierte. Ihre bisherige politische Marginalität war mit dem Umfang neuer Interessen, Bindungen und Ansprüche kaum mehr vereinbar. Es war daher kein Wunder, daß die durch materiellen Gewinn, Ausbildung und Fähigkeiten symbolisierte Leistung zum Ausgangskriterium für eine alternative Elitenformation wurde – Leistung als gemeinnütziger Beitrag zugunsten der Gesellschaft interpretiert, und individuelles Wohl, das zum Wohl aller wird. Vor diesem Hintergrund

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beschäftigte sich die aufgeklärte Ethik des 18. Jahrhunderts bereits intensiv mit der Frage nach den Auswirkungen des individuellen Glücksstrebens und der Vereinbarkeit der individuellen mit den gesamtgesellschaftlichen Interessen. Leistung, auf diese Weise als Beitrag zum Gemeinwohl angesehen, legitimierte sich gleichzeitig als gerechte Grundlage des politischen Einflusses und des Anteils an der politischen Macht. Die „bedrohten Eliten“ der alten Gesellschaft haben diese Entwicklung weder passiv hingenommen, noch sich auf deren bloße Negierung beschränkt, sondern es zum Teil vermocht, auf neue Herausforderungen und Unsicherheiten dynamisch zu reagieren, eigene Vorstellungen zu formulieren und Strategien des „Obenbleibens“ zu realisieren. Sie bemühten sich um die Erhaltung des eigenen elitären Status oder um die Teilnahme an der Formierung neuer Eliten, was häufig die Akzeptanz des Leistungskriteriums nach sich zog. Ein konsequenter Abschied von den Prinzipien der ständischen Ungleichheit und der edlen Geburt korrespondierte mit dem Konzept der prinzipiellen und potentiellen Chancengleichheit aller und mit der damit verbundenen politischen Partizipation einer nun „neuen“ Elite.28 Die nach wie vor existierenden Hürden ständisch-korporativer Art mußten früher oder später fallen. Sollten nun aber die öffentlichen Angelegenheiten eine Angelegenheit aller werden, sollte der Ausgangspunkt der Entscheidungsbildung ein Kollektiv von Menschen werden, das nicht länger durch die rechtliche Voraussetzung der ständischen Zugehörigkeit definiert wurde, dann wurde auch dieses Kollektiv neuer Art ein Element der Willensbildung. Es wurde durch Staatsgrenzen oder durch Sprachgrenzen abgegrenzt und definiert. Das – neugeschaffene – kollektive Subjekt der Nation als souveränes Volk im Rahmen eines konkreten Staates war nun weder durch die lokale 28 Zur Elitenfrage vgl. aus der Sicht der historiographischen Konzeptualisierung exemplarisch Wolfgang Zorn: Deutsche Führungsschichten des 17. und 18. Jahrhunderts. Forschungsergebnisse seit 1945. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 6 (1981), S. 176 – 197; Rudolf Braun: Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben: Adel im 19. Jahrhundert. In: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Europäischer Adel 1750 – 1850. Göttingen 1990, S. 87 – 95; Michael G. Müller: Adel und Elitenwandel. Fragen an die polnische Adelsgeschichte im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert. In: Zeitschrift für OstmitteleuropaForschung 50 (2001), S. 497 – 513; Frantisˇek Svtek: Politick elity v historiografii a politologii: ncˇrt problematiky ideologie – slova – pojmu elity [Politische Eliten in der Geschichtsund Politikwissenschaft. Problemabriß der Ideologie – des Wortes – des Begriffs Elite]. In: Ivana Koutsk / Frantisˇek Svtek (Hrsg.): Politick elity v Cˇeskoslovensku 1918 – 1948 [Politische Eliten in der Tschechoslowakei 1918 – 1948]. Praha 1994, S. 33 – 64; Heinrich Best: Politische Modernisierung und Elitenwandel 1848 – 1997. Die europäischen Gesellschaften im intertemporal-interkulturellen Vergleich. In: Historical Social Research 22/3 (1997), S. 4 – 31; Jirˇ Pesˇek: Prazˇsk meˇstsk elity strˇedoveˇku a ranho novoveˇku. vodn zamysˇlen [Prager Stadteliten im Mittelalter und der Frühneuzeit. Einführende Überlegungen]. In: Olga Fejtov / Vclav Ledvinka / Jirˇ Pesˇek: Prazˇsk meˇstsk elity strˇedoveˇku a ranho novoveˇku. Jejich promeˇny, zzem a kulturn profil [Prager Stadteliten im Mittelalter und der Frühneuzeit. Ihre Umwandlungen, Hintergrund und kulturelles Profil]. Praha 2004, S. 7 – 22; s. auch Theodor Schieder: Zur Theorie der Führungsschichten in der Neuzeit. In: Hanns Hubert Hofmann / Günther Franz (Hrsg.): Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit. Eine Zwischenbilanz. Büdinger Vorträge 1978. Boppard am Rhein 1980, S. 13 – 28.

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Landgesellschaft noch durch einen Stand oder durch die traditionelle territoriale Einheit innerhalb des Staates begrenzt. Das politische Konzept der Staatsnation war damit zum Durchbruch gelangt.

V. Kommunikation und Modernisierung Es war allerdings nicht nur die Durchsetzung der modernen Konzeptionen der Volkssouveränität, der potentiellen Chancengleichheit und der Leistung als Rekrutierungskriterium von Eliten,29 welche die früheren ständischen Barrieren und die Geschlossenheit lokaler Gesellschaften sprengte. Auf Überwindung dieser Grenzen mittels einer sich entfaltenden Kommunikation zielten nicht nur die modernen Gesellschaften des europäischen Westens, sondern auch die aufgeklärt-absolutistischen Staaten des mittleren und südlichen Europa. In gewissem Sinne fand das Bürgerideal seine Parallele im aufgeklärt-absolutistischen Erziehungsideal vom Untertanen, der zu guten Sitten und zu einem dynastisch-staatlichen Patriotismus geleitet wurde, welcher wiederum mit der Loyalität zur Monarchie, zum Landesherrn und zum „System“ identisch war. Mit der Aufgabe, die Staatsuntertanen zu einem solchen Patriotismus zu erziehen, wurden zwei der einflußreichsten Instanzen der damaligen Zeit beauftragt: die Kirche, welche zunehmend der völligen Kontrolle absolutistischer Staaten unterstellt war, und das Schulwesen, das Gegenstand modernisierender Reformen wurde. Es ist kein Zufall, daß die allgemeine Schulpflicht und die Durchsetzung eines einheitlichen Unterrichtsinhalts zentrale Bestandteile der aufgeklärt-absolutistischen Reformen gewesen sind. Ganzen Generationen sollten auf diese Weise dieselben Werte und Grundsätze beigebracht werden. Dies bedeutete einen großen Schritt hin zur Herausbildung ähnlicher Inhalte und Kategorien im gesellschaftlichen Bewußtsein breiter Schichten innerhalb eines Staatswesens. Eine ähnliche Rolle spielten die sich vergrößernden regulären Armeen, die auf verschiedenen Rekrutierungssystemen basierten, dennoch aber ein staatliches Heer darstellten, dessen Soldaten nicht nur einer physischen, sondern auch einer moralischen Disziplinierung unterlagen. Schließlich gehört in diesen Kontext auch der verstärkte Eingriff des Staates in die Angelegenheiten auf dem Lande – nicht nur durch den Ausbau des Schulwesens, sondern auch durch immer tiefere Regulierungen der ländlichen Verhältnisse, vor allem des Urbarialwesens, wobei immer mehr Aufgaben der öffentlichen Verwaltung auf die Schultern der Grundobrigkeiten übertragen wurden. Dies alles förderte allmählich das Bewußtsein breiter Schichten der Landbevölkerung, nicht nur Angehöriger des eigenen Milieus in der Gemeinde und ihrer Umgebung zu sein, sondern sich auch als Untertanen des Staates zu fühlen. „Staat“ war hierbei bereits eine relativ 29

Dabei ist hier von Programm, Legitimation und Selbstdarstellung die Rede, ohne die Kontinuitäten der Erbschaftskriterien bei der Elitenrekrutierung bis in die heutige Zeit in Frage stellen zu wollen. Vgl. Michael Hartmann: Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft. Frankfurt am Main 2002.

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abstrakte Kategorie, wiewohl er sich im Bewußtsein der Menschen häufig in der Person des Monarchen symbolisierte. Damit wurde der Boden zur Herausbildung von Identitäten bereitet, bei denen Mitglieder des kollektiven Subjekts Menschen waren, die sich größtenteils niemals trafen. Diese Wandlungen betrafen auch die Einwohner kleinerer und mittlerer Städte sowie die Unterschichten der größeren Städte – und nicht zuletzt Teile der Dorfbevölkerung. Anders war das bei den sozialen, politischen und intellektuellen Eliten, die häufiger daran gewöhnt waren, in solch abstrakten Kategorien zu denken. In den gebildeten Schichten gewannen diese Gefühle gleichfalls durch die Entwicklung intellektueller Kommunikationsformen sowie einer zahlreicher werdenden Leserschaft an Intensität, deren wachsende Bedeutung es im 18. Jahrhundert ermöglichte, sich immer mehr mit neuen Ideen bekannt zu machen und ähnliche Denkkategorien in einem Umfeld zu diskutieren, das über die sprachlichen und politischen Grenzen hinausging. Die unterschiedlichen Wege der Verarbeitung dieser Inhalte in verschiedenen Milieus und Regionen im Rahmen des Kulturtransfers30 waren integrale Bestandteile dieses tendenziell unifizierenden Prozesses, der mit neuen kulturellen Alteritäten nur scheinbar im Widerspruch stand. Dies alles setzte eine Entwicklung in Gang, die zur Etablierung von Elementen der späteren Massengesellschaften führen sollte. Nur ein Massenbewußtsein und eine Massenmobilisierung sollten später über die Erfolge der nationalen Identitäten entscheiden – diese conditio sine qua non resultierte bereits aus der nichtständischen und überlokalen Fundierung der modernen Nation. Dort, wo jedoch trotz aller bisher angesprochenen Entwicklungstendenzen keine schnelleren sozialen und kulturellen Umwandlungen einschließlich der Entstehung von neuen Gruppen und Bevölkerungsmigrationen erfolgten, blieb auch die Bedeutung des begrenzten Rahmens lokaler Gesellschaften durchaus erhalten. Dadurch kann erklärt werden, warum die ländlichen Schichten in den meisten Nationalbewegungen lange Zeit inaktiv blieben, und warum sich hier die nationale Identität am spätesten verbreitete, obwohl gerade bei diesen Schichten die unverdorbene, „reine“ nationale Kultur und Tradition gesucht wurde. Wer freilich aus diesen oder traditionellen kleinstädtischen bzw. kleinbürgerlichen Schichten einen sozialen Aufstieg durch Bildung, durch eine Beamten-, Lehrer-, Militär-, kirchliche oder andere Laufbahn durchmachte, wer seine Landgebiete verließ und zur Lohnarbeit in die Stadt zog, wer in den Prozeß der Entstehung von Gruppen von Lohnarbeitern einbezogen wurde, der verlor auch seinen bisherigen traditionellen lokalen Rahmen. Doch nicht nur das: Ein Adliger, dessen Vorstellung über eine Weltordnung durch die Infragestellung oder Abschaf30

Vgl. dazu etwa Christiane Eisenberg: Kulturtransfer als historischer Prozess. Ein Beitrag zur Komparatistik. In: Hartmut Kaelble/Jürgen Schriewer (Hrsg.): Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2003, S. 399 – 417; Michel Espagne: Transferanalyse statt Vergleich. Interkulturalität in der sächsischen Regionalgeschichte. In: Ebd., S. 419 – 438; Wolfgang Schmale: Historische Komparatistik und Kulturtransfer. Europageschichtliche Perspektiven für die Landesgeschichte. Eine Einführung unter besonderer Berücksichtigung der sächsischen Landesgeschichte. Bochum 1998.

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fung der ständischen Verfassung und durch liberale Adelskritik erschüttert wurde; ein Kleinbürger, der seinen Geburtsort oder sein väterliches Haus verließ und durch Studium oder Karriere einen sozialen Aufstieg erlebte; ein Landmann, der von seinem Dorf in die Stadt zog – sie alle verloren nicht nur ihre traditionellen Bindungen, die sie als selbstverständlich und natürlich empfunden hatten, sondern sie verloren zumeist auch ihre Zugehörigkeitssicherheit in bezug auf ihre Herkunftsgesellschaften, und sie machten dabei auf kollektiver und individueller Ebene eine Identitätskrise durch, die in summa zur Herausformung neuer kollektiver Identitäten beitrug, welche es wiederum ermöglichen sollten, einen eigenen Platz in der Welt und der Gesellschaft zu finden und sich in ihnen zu orientieren.31 VI. Die „romantischen“ Wurzeln Mit einer gewissen Vereinfachung könnte man behaupten, daß ohne Aufklärung das Konzept der staatlichen, politischen „Bürger“-Nation mit ihren Postulaten von Gleichheit und Volkssouveränität nicht denkbar wäre, ohne Romantik jedoch die ungeheure Anziehungskraft nicht zu erklären wäre, die das Konzept der durch ethnische Kriterien definierten Nation entfaltete. Die Romantiker des frühen 19. Jahrhunderts gingen bekanntlich von der Annahme des geistigen Wesens der Welt aus, sie erkannten die Existenz der geistigen Dimension der Welt an, und sie versuchten den verlorenen Zugang zu dieser geistigen Welt freizulegen.32 „Geist“ offenbarte sich ihnen dabei vor allem in der menschlichen Geschichte, in Sprache und Kultur, besonders in der „Volkskultur“. In diesem Zusammenhang wird – mit Blick auf die Formierung nationaler Kategorien – immer wieder auf Johann Gottfried Herder verwiesen. Und dies zu Recht. Denn Herder richtete seine Aufmerksamkeit auf die ethnischen und folkloristischen Eigentümlichkeiten gerade der nicht herrschenden Bevölkerungsgruppen in einem Land. Er betonte die Einzigartigkeit der kulturellen Ausdrucksformen dieser Volksgruppen und rief mit alldem ein breites Echo bei den „kleinen Völkern“ des ostmitteleuropäischen Raumes hervor.33 So wurde Herder zu einer Autorität, auf die sich die Vertreter der nationalen Agitationen insbesondere in Ostmitteleuropa stützen konnten. Herders Beitrag aus der Perspektive der zukünftigen Entwicklung der nationalen Identitäten bestand darin, eine besonders geeignete Grundlage für ihre Legitimation vorbereitet zu haben.

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Miroslav Hroch: Vorkämpfer der nationalen Bewegungen bei den kleinen Völkern Europas. Praha 1968; ders.: Social Preconditions of National Revival in Europe. A Comparative Analysis of the Social Composition of Patriotic Groups among the Smaller Nations. Cambridge 1985. 32 Vgl. z. B. Gerhard Schulz: Romantik. Geschichte und Begriff. München 1996; ferner Maria Janion/Maria Zmigrodzka: Romantyzm i historia [Romantik und Geschichte]. Warszawa 1978. 33 Zu Herders Ansichten, unter anderem im Kontext der neuen Aufwertung ethnischer Sprachen, Charles Taylor: Der Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt am Main 1993, S. 19 – 20.

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Für Herder konkretisierte sich der Entwicklungsgang der Menschheitsgeschichte mit ihrem „Ziel“ der Erfüllung des Humanitätsideals in den spezifischen Geschichtsverläufen einzelner Länder und Völker, die als singulär und unwiederholbar angenommen wurden. Das Studium der Geschichte einzelner Völker ermöglichte es daher am besten, den „Geschichtsgeist“ zu begreifen. Mutatis mutandis galt das auch für die Folklore einzelner ethnischer Gruppen als Widerspiegelung der geistigen Welt. Herder selbst begeisterte sich während seiner Tätigkeit in Riga für die bis dahin so ungeachtete Volkskultur der Balten und später auch für die slawischen Kulturen, sodaß die Wortführer der slawischen Nationalbewegungen auf ihn gern hingewiesen haben – um so mehr, als sie in Herders Autorität gleichzeitig einen Vertreter der deutschen Kultur sahen.34 Der Einfluß des „Herderismus“ wurde im Zusammenhang mit dem Aufschwung nationaler Bewegungen sowohl überschätzt als auch unterschätzt. Die Überbewertung bestand unter anderem in der Darstellung Herders als Initiator nationaler Bewegungen, mit der Annahme, daß die nationalen Bewegungen mit ihrem Konzept der Nation direkt an Herder anknüpften. Demgegenüber ist festzuhalten, daß das Interesse für ethnische Gemeinschaften und folkloristische Kulturen sowie deren Propagierung in vielen Fällen um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ohne Kenntnisse der Herderschen Ideen begannen. Andererseits waren es Herder und die ihm folgende romantische Weltbetrachtung, die der Nation und den Nationalbewegungen zumindest nachträglich eine besondere Legitimation verliehen: Der ethnisch definierten Gemeinschaft bot sich nicht nur eine attraktive Möglichkeit kollektiver Identifikation, sondern darüber hinaus ein Wert an sich, ein Wert höchsten Ranges, der eine enge Beziehung zum Sinn der Welt, der Geschichte und der menschlichen Existenz besaß. So konnten sich die frühen Nationalbewegungen aufgrund des „Herderismus“ legitimieren. Damit einher ging freilich auch eine wachsende Infragestellung des Kosmopolitismus und der kosmopolitischen Kultur, die der Aufklärungspatriotismus noch so sehr geschätzt hatte. Denn sie übersetzten ja die heimischen Quellen und Traditionen der Kultur einzelner Länder in eine imaginäre „Weltsprache“. Das wurde nun anders, nun begann die Auseinandersetzung mit der eigenen heimischen Kultur, mit dem eigenen Land – und mit der Volkssprache. Äußerungsformen dieses Trends waren die Kritik an der Französischsprachigkeit der elitären Hochkultur und die Forderung nach der Rückkehr zur eigenen Sprache. Diese kam in der deutschen Kultur und Wissenschaft am stärksten zum Ausdruck, wobei dies charakteristischerweise auch die Eliten der böhmischen Länder betraf: Bevor der böhmische Adel mit den Forderungen der tschechischen Nationalaktivisten konfrontiert wurde, sich zur tschechischen ethnischen Nation zu bekennen, wurde er im 18. Jahrhundert aufgefordert, auf allen Kommunikationsebenen die deutsche Sprache zu benutzen und neben der 34 Vgl. Jan Tuczyn´ski: Herder i herderyzm w Polsce [Herder und Herderismus in Polen]. Gdan´sk 1999; Zur Herder-Rezeption in Ost- und Südosteuropa. Berlin 1987 (hier z. B. den Beitrag von Karol Rosenbaum: Herder und die slowakische nationale Wiedergeburt).

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französischen Kultur auch die Existenz des deutschen Theaters und der deutschen Literatur zur Kenntnis zu nehmen.35 Die Propagierung des deutschen Schrifttums sollte dann zum Bestandteil der intellektuellen Neubesinnung des deutschen, österreichischen und böhmischen Adels im 18. Jahrhundert gehören. Einen ähnlichen Akzent auf die eigene Sprache in Opposition zum Französischen setzten auch die polnischen und die russischen Nationalbewegungen.36 Das Erlernen, die Pflege und das wissenschaftliche Studium der eigenen Sprache wurde bei jenen ethnischen Gruppen, deren Sprachen in entsprechenden Regionen dominant waren, bereits lange vor dem Aufbruch der nationalen Bewegungen zur kulturellen oder sogar politischen Forderung (Deutschland, Polen), die in vielen Fällen (Österreich) mit der Sprachenpolitik des aufgeklärten Absolutismus übereinstimmte. Auch das war eine Voraussetzung für das Interesse an Folklore und Sprache, das für die Anfangsphase der nationalen Bewegungen so bezeichnend gewesen ist.37 Die „ästhetische Revolution“ des 18. Jahrhunderts (A.-M. Thiesse),38 zu deren Symptomen die Bewegung für die Emanzipation deutscher Kultur ebenso gehörte wie der „Herderismus“, öffnete den Nationalbewegungen den Weg zur Kritik des kulturellen Kosmopolitismus in seiner französischsprachigen Variante.

VII. Rückblick und Ausblick Die hier angesprochenen Voraussetzungen für die moderne Nationsbildung haben den kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bereich mit einbezogen. In allen vier Bereichen wurden jeweils maßgebliche Einzelprobleme angesprochen, doch erst in ihrer Verbindung ergeben sie ein einigermaßen konsistentes Gesamtbild. Sicherlich war der Aufschwung des Nationalen eine Antwort auf Identitätskrisen; die Propagierung und Durchsetzung des Nationalen hat jedoch bei vielen Individuen und bei verschiedenen Gruppen Identitätskrisen erst ausgelöst. Sicherlich schuf die durch die räumliche und soziale Mobilität bedingte Relativierung lokaler und ständischer Sonderexistenzen Raum für die Nationalidentität; doch gerade deren Verbreitung hat in vielen Fällen auch wiederum günstige Bedingungen für eine weitere Steigerung sozialer Kommunikation überhaupt erst geschaffen. Auch für die Beziehung zwischen Romantik und Nationalbewegung gilt nicht das Verhältnis eines eindimen35 So bereits Josef Hanusˇ : Nrodn museum a nasˇe obrozen. Kniha 1. Kulturn a nrodn obrozen sˇlechty cˇesk v XVIII. a prvn pu˚li XIX. stolet. Jeho vy´znam pro zalozˇen a pocˇtky musea [Nationalmuseum und unsere Wiedergeburt. 1. Buch. Die kulturelle und nationale Wiedergeburt des böhmischen Adels im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ihre Bedeutung für die Gründung und die Anfänge des Museums]. Praha 1921. 36 Vgl. z. B. im polnischen Kontext Witold Taszycki: Wste˛p [Einführung]. In: Ders. (Hrsg.): Obron´cy je˛zyka polskiego. Wiek XV – XVIII [Verteidiger der polnischen Sprache. Das 15. – 18. Jahrhundert]. Wrocław 1953, S. III – LXXXIX. 37 Vgl. Miroslav Hroch: Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich. Göttingen 2005, S. 68 – 74. 38 Anne-Marie Thiesse: La cration des identits nationales. Europe XVIIIe-XXe sicle. Paris 1999.

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sionalen Einflusses. Man muß vielmehr beide – Romantik und moderne Nation – als Antworten auf dieselben sozialen und kulturellen Phänomene verstehen, was ihrer beider Wechselwirkung nicht ausschließt.39 Damit werden Kausalität und Dialektik auch für die Debatten über Nation und nationale Identität zu einem ungelösten Interpretationsproblem. Seine Lösung ist wohl nur bedingt möglich, doch seine Erörterung wirkt vielversprechend für weitere Diskussionen und Forschungsvorhaben. Die Pluralität von Voraussetzungen und deren komplexe Wechselbeziehungen können auch hier in besonderer Weise innovatives Potential in bezug auf die zentralen Fragen der modernen historischen Nationalismusforschung freisetzen. Wird dabei das Nicht-Modellhafte und Unwiederholbare, eventuell auch das Zufällige und Unvorhersehbare nicht völlig aus dem Blick verloren, dann kann man sich viele neue Impulse auch zum Historischen Vergleich und für die Transferforschung im Kontext der nationalen Formierungsprozesse vorstellen.

39 Zum Thema „Kausalität und Geschichte“ vgl. vor allem Werner Heil: Das Problem der Erklärung in der Geschichtswissenschaft. Ein Beitrag zum Selbstverständnis und zur Objektivität in der Geschichtswissenschaft. Frankfurt am Main 1988; Chris Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie. Köln 1997, hier bes. S. 65 ff.

III. Nationalitätenprobleme, Minderheitenfragen und Volksgruppenpolitik in Ostmitteleuropa während der Zwischenkriegszeit (1919 – 1939)

Die europäische Minderheitenfrage nach dem Ersten Weltkrieg und der deutsch-polnische Minderheitenstreit Von Ralph Schattkowsky (Rostock/Thorn) Im Zusammenhang mit dem Versailler System und der Entstehung der sogenannten Nachfolgestaaten ist in Politik und Literatur oft von Geburtsfehlern die Rede. Wenn es denn wirklich einen gegeben hat und man sich auf diese Argumentation einlässt, dann ist es der auf Seiten vieler dieser Staaten vorhandene Unwille zu einer staatspolitisch integrativen Haltung gegenüber den nationalen Minderheiten, der genährt wurde durch die durchgängige Nichtbereitschaft der „Mutterländer“, den bestehenden und weitestgehend geregelten Status quo anzuerkennen. Ohne diese Grundvoraussetzungen zu ihrer Realisierung mussten die international getroffenen Regelungen ins Leere laufen, oder gar – ihrer eigentlichen befriedenden Aufgabe beraubt – selbst zu Mitteln der Destabilisierung des Versailler Nachkriegssystems werden. Obwohl das Prinzip des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen als unangefochtener Grundsatz der Alliierten galt, hatten sie doch am Ausgang des Ersten Weltkrieges recht verschwommene Vorstellungen von der territorialen und staatsrechtlichen Gestaltung Nachkriegseuropas, und die Realisierung des Staatskonzeptes lag zum großen Teil in der Hand der Nachfolgestaaten selbst. Das heißt jedoch keineswegs, daß sich die Siegermächte nicht der Schwierigkeiten und besonderen Problemlagen, die damit im ostmitteleuropäischen Raum verbunden waren, bewußt gewesen sind. Dazu gehörte ganz gewiß die Minderheitenfrage, d. h. die Existenz von andersnationalen Bevölkerungsgruppen in den zu errichtenden Staaten. Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen förderte zwar die Nationalstaatsbildung in Ostmitteleuropa, räumte aber genauso den andersnationalen Gruppen existentielle Rechte ein, welche die Minderheitenfrage als solche erst entstehen ließen und eine Minderheitenpolitik einforderten – eine Minderheitenpolitik im Sinne einer nationalen Gesetzgebung, die den andersnationalen Gruppen dieses Selbstbestimmungsrecht in gewisser Weise gewährte und im Sinne eines internationalen Kontrollmechanismus, der rechtliche Möglichkeiten der Einflußnahme zuließ. Das Problembewußtsein bei den Alliierten war soweit entwickelt, daß es sogar Vorstellungen gab, die Souveränität der neuen Staaten solange einzuschränken und sie vollkommen internationaler Kontrolle zu unterstellen, bis sie den Nachweis der Demokratiefähigkeit und des rechtmäßigen Umgangs mit den Minderheiten erbracht

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hätten.1 Das schien umso mehr gerechtfertigt, als die Minderheiten in den Staatskonzeptionen der Nachfolgestaaten nur eine geringe oder gleich gar keine Rolle spielten. Auch von einer gewissen strukturellen Hilflosigkeit ihnen gegenüber angesichts des dominanten Organisationsprinzips des „totalen Nationalstaates“2 zu sprechen, scheint nicht abwegig. Trotz des vorhandenen Problembewußtseins und der signifikanten ethnischen Mischlagen in Ostmitteleuropa, die eine befriedigende Grenzziehung nach nationalen Kriterien ausschlossen, wurde in der praktischen Politik bei der Schaffung einer europäischen Nachkriegsordnung in der Minderheitenfrage recht zögerlich verfahren, und zur Unterzeichnung eines Minderheitenschutzvertrages kam es erst als Anhang bzw. im Nachtrag zu den Versailler Vorverträgen mit den Nachfolgestaaten.3 Die hier zugestandenen staatsbürgerlichen und kulturellen Grundrechte oblagen dem Schutz des Völkerbundes und waren somit an seine Kompetenz und Durchsetzungsfähigkeit gebunden, die wiederum das Schicksal des Versailler Nachkriegssystems teilten.4 Schon die abgeschlossenen Verträge waren in sich eine politische und rechtliche Gratwanderung, denn sie hatten den Schutz der Minderheiten vor dem Staat genauso zu berücksichtigen wie die Verhinderung der Destabilisierung des Staates durch die Minderheiten, die auf Grund der territorialen Streitigkeiten und des Vorhandenseins sogenannter Grenzlandminderheiten,5 die zu einer Legitimierung von Revisionsforderungen genutzt werden konnten, durchaus realen Gehalt besaß. Vorstellungen einer sukzessiven politischen Assimilierung der nationalen Minderheiten wurden von den „Mutterstaaten“ dann auch vehement abgelehnt,6 und die Minderheitenstaaten selber sahen in den Minderheitenschutzverträgen eine Einschränkung ihrer nationalen Souveränität. Nicht zuletzt die Gefahr 1

Bastiaan Schot: Nation oder Staat? Deutschland und der Minderheitenschutz. Zur Völkerbundspolitik der Stresemann-Ära. Marburg 1988, S. 2. 2 Hagen Schulze: Staat und Nation in der europäischen Geschichte. München 1994, S. 273 ff., 294; Andrzej Korbonski: Poland: 1918 – 1990. In: The Columbia History of Eastern Europe in the Twentieth Century, ed. by Joseph Held. New York 1992, S. 229 – 276, hier S. 234 f.; Werner Conze: Die Strukturkrisen des östlichen Mitteleuropa vor und nach 1919. In: Ders.: Gesellschaft – Staat – Nation. Gesammelte Aufsätze. Stuttgart 1991, S. 401 – 421. 3 Dietrich A. Loeber: Die Minderheitenschutzverträge – Entstehung, Inhalt, Wirkung. In: Ostmitteleuropa zwischen den beiden Weltkriegen (1918 – 1939). Stärke und Schwäche der neuen Staaten, nationale Minderheiten, hrsg. von Hans Lemberg. Marburg 1997, S. 189 – 200; Erwin Viefhaus: Die Minderheitenfrage und die Entstehung der Minderheitenschutzverträge auf der Pariser Friedenskonferenz 1919. Eine Studie zur Geschichte des Nationalitätenproblems im 19. und 20. Jh. Würzburg 1960, S. 152 ff. 4 Jakob Robinson: Were the Minority Treaties a Failure? New York 1943, S. 265; Richard Veatch: Minorities and the League of Nations. In: The League of Nations in the retrospect. Berlin 1983, S. 380. 5 Zu den Typen nationaler Minderheiten vgl. Wolfgang Kessler: Die gescheiterte Integration. Die Minderheitenfrage in Ostmitteleuropa. In: Ostmitteleuropa zwischen den beiden Weltkriegen, S. 161 – 188, hier S. 71 f.; ebenda, S. 169 ff. auch statistische Angaben über die Verteilung der Minderheiten in den neuen Staaten nach dem Ersten Weltkrieg. 6 Ebd., S. 163, 174 f.

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des Irredentismus, oft genug Bestandteil ihres eigenen politischen Programms, generierte die ablehnende Haltung der neuen Staaten gegenüber dem Minderheitenschutzvertrag, der von ihnen nur widerwillig unterzeichnet wurde und dessen inhaltliche Liquidierung ein außenpolitisches Ziel war. So sahen die Verträge dann auch keine Autonomierechte für die Minderheiten vor, um die Entstehung staatsferner Strukturen zu vermeiden. Darüber hinaus bildeten die Minderheiten, durchaus im Einklang mit dem Völkerrecht, für sich keinen Rechtskörper, der es ermöglicht hätte, vor dem Völkerbund zu klagen. Die Folge war ein äußerst kompliziertes und langwieriges Petitionsverfahren,7 das eine Klageerhebung an die Aufnahme durch Ratsmitglieder band, damit aber auch die Rolle des Minderheitensekretariats des Völkerbundes, das demzufolge als erste Anlauf- und vor allem Schiedsstelle galt, stark betonte. In der Praxis erwies sich dieses Prinzip des Minderheitenschutzes für Klagen gegen nationale Unterdrückungspolitik einzelner Minderheiten als wenig praktikabel und kaum durchschaubar, nützte aber jenen im Minderheitenrecht versierten Staaten wie Deutschland, die Minderheitenfrage als Minderheitenproblem, das zu einem Minderheitenstreit eskalierte, im internationalen Rahmen permanent zu offerieren.8 Auch musste das ganze Verfahren in der öffentlichen Wahrnehmung und angesichts der politischen Meinung über die Tätigkeit des Völkerbundes eher dazu beitragen, seine Fähigkeit zur Konfliktregulierung eher zu relativieren und schließlich die ohnehin verbreitete Auffassung über die europäische Nachkriegsordnung als weitestgehende Fehlkonstruktion, der man zunehmend weniger vertraute, zu bestätigen.9 Damit geriet, einmal mehr, das gesamte System der Ausführung der Bestimmungen des Versailler Vertrages ins Zwielicht. Gerade diese Minderheitenfragen nahmen bei der Vielschichtigkeit der Problemstellungen, die nach dem Ersten Weltkrieg die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen so enorm belasteten, eine zentrale Position ein. Befreit man sie ihrer emotionalen Komponenten, so zeigt sich in der Stellung und Behandlung der Minderheiten auch eine europäische Dimension der bilateralen Spannungen – unterlagen doch beide Länder an einer historisch sensiblen Nahtstelle territorialer und machtpolitischer Gegebenheiten der Unvollkommenheit und Widersprüchlichkeit der Nachkriegsordnung in exponierten Positionen. Dreh- und Angelpunkt des deutsch-polnischen Konfliktes war die territoriale Frage. Mit Unterstützung der Siegermächte forderte Polen bei der Festlegung seiner staatlichen Konfiguration am Ausgang des Ersten Weltkrieges aus einem historischen Anspruch heraus preußische Ostgebiete ein. Dem standen Vorstellungen über den zukünftigen Grenzverlauf auf deutscher Seite gegenüber, die jeglichen Konsens grundsätzlich verhinderten. Auf einer Besprechung des Reichsaußenministers mit 7

Schot: Nation oder Staat? (wie Anm. 1), S. 7 ff. Ralph Schattkowsky: Deutsch-polnischer Minderheitenstreit nach dem Ersten Weltkrieg. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 48 (1999), Heft 4, S. 524 – 554. 9 Martin Scheuermann: Minderheitenschutz contra Konfliktverhütung? Die Minderheitenpolitik des Völkerbundes in den zwanziger Jahren. Marburg 2000. 8

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„allen interessierten Kreisen“ über die „Ostfragen“ am 14. März 1919 wurde in Vorbereitung der Friedensverhandlungen die bereits vorher vielfach geäußerte Grundhaltung zur Abtretung deutschen Reichsgebietes an Polen erneut formuliert, nämlich daß dies „allerhöchstens im Posener Gebiet in Frage kommt, aber auch hier nur auf der Grundlage einer genauesten Prüfung“, ob und wo in der Provinz Posen „unzweifelhaft polnische Bevölkerung sitzt“.10 Der durch den Friedensvertrag bestimmte Verlust von Reichsgebiet an Polen brachte Deutsche unter polnische Staatshoheit und wirkte als Initialzündung zur Entstehung einer Minderheitenfrage, die im Kompendium deutsch-polnischer Spannungen um die Abtretungsgebiete zum Minderheitenkonflikt eskalierte, und die zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Friedensvertrages – als fester Bestandteil einer Revisionspolitik – geistiges Allgemeingut breitester Kreise der Weimarer Republik geworden war. Die mit der Abtretung verbundene Existenz einer beachtlichen deutschen Minderheit in Polen war frühzeitig Gegenstand der Gestaltung der Politik gegenüber Polen, denn, abgesehen von einer alsbald definierten strategischen Funktion, stand der deutsche Staat gegenüber den Deutschen in Polen, die in der Masse ohne ihr Zutun der originären Staatsbürgerschaft verlustig gegangen waren, unbestritten in einer Obhutspflicht, die jene auch einforderten. Über die Mittel, diese Obhutspflicht zu realisieren, gab es schon konkrete Vorstellungen. Überlegungen, welche Wege hier einzuschlagen waren, wurden unmittelbar angestellt. Unter den damaligen angespannten Beziehungen wurde jedoch die Frage, wie weit eine gebotene Unterstützung der Landsleute im grenznahen Bereich gehen konnte und wann der Irredentismus anfing, bestimmend und von beiden Seiten unterschiedlich beantwortet. Sie bildete den Kern des deutsch-polnischen Minderheitenstreits auf bilateraler und internationaler Ebene: ob nämlich die deutsche Politik mit der Unterstützung ihrer Minderheit in den Abtretungsgebieten stringent auf eine Revision der territorialen Bestimmungen des Friedensvertrages hinarbeitete und die gesamte Minderheitenbzw. Deutschtumsarbeit darauf ausrichtete, wie Polen es behauptete, oder ob Polen beständig die elementaren Rechte der Deutschen in Polen beschnitt und eine gezielte Verdrängungspolitik betrieb, wie es die deutsche Seite als sicher annahm und diese vermeintliche Tatsache wiederum als Begründung zum Ausbau der Minderheitenarbeit nutzte. Am Tage der Unterzeichnung des Versailler Vertrages, am 28. Juni 1919, trafen sich maßgebliche Vertreter der Ostgebiete – Oberpräsidenten, Regierungspräsidenten und Reichskommissare – mit Walter Loehrs vom Preußischen Ministerium des Innern und dem Legationsrat in der Ostabteilung des Auswärtigen Amtes, Erich Zechlin, zu einer „Besprechung über die Friedensfragen“.11 Hier wurden Festlegungen getroffen, welche die Grundlinien der Politik gegenüber dem östlichen Nachbarn nachhaltig prägten und sie vor allem für die zwanziger Jahre, namentlich 10 Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik (ADAP), Ser. A, Bd. 1. Göttingen 1982, Dok. 182, S. 332 f. 11 Ebd., Bd. II. Göttingen 1984, Dok. 81, S. 139 ff.

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die Jahre bis 1925, inhaltlich zu einem großen Anteil bestimmten. Als Hauptziel wurde erklärt, in Verhandlungen auf Polen einzuwirken, den unbeschadeten Verbleib der Deutschen in Polen, vor allem in den Abtretungsgebieten, zu sichern. Insbesondere der „Schutz der Deutschen, die nach dem 1. 1. 1908 zugezogen sind“ und damit der „Gefahr der Liquidation ihres gesamten Eigentums“ unterlagen, sollte in den Mittelpunkt gestellt werden – mit dem Ziel, noch vor Unterzeichnung des Friedensvertrages von Polen die Zustimmung zu erhalten, diesen Bevölkerungsteil ebenso zu behandeln wie die Optanten. Im Klartext bedeutete das eine direkte Einflußnahme auf die Festlegungen des Friedensvertrages über die Staatsbürgerschaft und den Inhalt der Optantenbestimmungen, d. h. im wesentlichen auf jene Regelungen, die festschrieben, wer als Bürger deutscher Nationalität in Polen verbleiben konnte bzw. seinen Besitz behielt. Artikel 91/1 des Friedensvertrages legte fest, daß jene Deutschen, die nach dem 1. Januar 1908 in die ehemaligen preußischen Ostgebiete gekommen waren, bewußt von einer automatischen Übertragung der polnischen Staatsbürgerschaft ausgenommen blieben. Damit wurden Möglichkeiten geschaffen, sich der Bevölkerungsgruppe zu entledigen, die nach Auffassung der Initiatoren dieser Bestimmung ganz offensichtlich zum Zweck der Germanisierung und zur Realisierung einer polenfeindlichen Politik in die zum preußischen Staatsgebiet gehörenden historischen polnischen Westgebiete gekommen und somit nicht Vertreter einer natürlichen Besiedlung waren.12 Die Handschrift der polnischen Delegation bei den Friedensverhandlungen ist hier unverkennbar. Das Datum wurde gewählt, weil 1908 das sogenannte Enteignungsgesetz durch den Preußischen Landtag beschlossen worden war, das es erlaubte, Polen gehörendes Land zu konfiszieren, und das damit eine weitere Verschärfung der durch die Ansiedlungskommission betriebenen Germanisierungspolitik darstellte, die eine Verdrängung der polnischen Bevölkerung beabsichtigte.13 Die nach dem Stichtag zugezogenen Personen konnten die polnische Staatsbürgerschaft nur aufgrund einer in Artikel 91/2 festgelegten „besonderen Ermächtigung“ erhalten. Hätte die deutsche Seite es nun erreicht, diese Gruppe in die Rechte der Optanten einzusetzen, so hätte jene, wie die übrige deutsche Bevölkerung im polnischen Staat, die Möglichkeit erhalten, nach Artikel 91/3 des Friedensvertrages innerhalb von zwei Jahren nach seinem Inkrafttreten für Polen zu optieren, also polnische Staatsbürger mit vollen Rechten zu werden. Selbst wenn diesen Personen das Optionsrecht bestritten würde, so wäre ihnen noch die Möglichkeit verblieben, als Optant ohne Optionsrecht zu gelten, was 12 Jerzy Krasuski: Grundfragen der deutsch-polnischen Beziehungen in der Periode zwischen dem I. Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise. In: Die deutsch-polnischen Beziehungen 1919 – 1932 (Schriftenreihe des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung, Bd. 22/VIII). Braunschweig 1985, S. 11 – 17, hier S. 16. 13 Martin Broszat: Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik. 3. Auflage, Frankfurt am Main 1981, S. 158 ff.; Hans-Ulrich Wehler: Polenpolitik im deutschen Kaiserreich. In: Krisenherde des Kaiserreiches 1871 – 1918. 2. Auflage, Köln 1979, S. 184 – 202, hier S. 193 ff. Mit einer kritischen Wertung der Literatur vgl. Wolfgang Hofmann: Das Ansiedlungsgesetz von 1904 und die preußische Polenpolitik. In: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, 38, (1989), S. 251 – 285.

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nach Artikel 91/5/6 bedeutete, den beweglichen Besitz veräußern bzw. unverzollt nach Deutschland verbringen und unbewegliche Habe mit uneingeschränktem Verfügungsrecht in Polen behalten zu können. Es kann wohl nicht davon ausgegangen werden, daß auf der Besprechung am 28. Juni 1919 den Beteiligten die Zusammenhänge zwischen Staatsbürgerschaft, Option und Liquidation14 in allen Einzelheiten bewußt waren. Dazu ließ der Wortlaut des Friedensvertrages zuviel Interpretationsmöglichkeiten zu, und gerade diese Fragen waren Gegenstand breiter völkerrechtlicher Abhandlungen nachfolgender Jahre und einer Flut von Literatur in der Spannbreite von politischen Kampfschriften bis hin zu Handreichungen zur Wahrnehmung individueller Rechte. Dennoch wurde deutlich, daß bei der Erörterung eines dieser Probleme die beiden anderen sofort Berücksichtigung finden mußten, und es herrschte Klarheit darüber, daß ihre gegenseitige Bedingtheit den „Schutz der Deutschen“ wesentlich ausmachte. Der Ausgangspunkt aller dieser Überlegungen war die Gefahr der Liquidation, d. h. die zwangsweise Veräußerung privaten deutschen Eigentums in Polen, ermöglicht durch die Artikel 92/4 und 297 des Friedensvertrages. Das bedeutete in jedem Fall eine ökonomische Schwächung der Deutschen in Polen und hieß in logischer Konsequenz auch, ihr Verbleiben in Frage zu stellen und mit ihrer Rückkehr nach Deutschland rechnen zu müssen. Die Liquidation mußte also zu einer qualitativen und quantitativen Schwächung der Deutschen in Polen führen. Dieser Zusammenhang beider Komponenten war der Betrachtungsweise des Problems der Deutschen in den Abtretungsgebieten immanent. Carl Georg Bruns, der sich als Jurist schon Anfang der 1920er Jahre zum anerkannten und einflußreichen Theoretiker der Minderheitenfragen profilierte, erfaßte den Kern der Sachlage, als er schrieb, „daß es nicht allein auf die Bevölkerungszahl, sondern auf die Qualität der Bevölkerung ankomme, Grundbesitz und allgemein wirtschaftliche Höhe“.15 Eine Abwanderung war also keinesfalls im Interesse der Deutschen im Osten und schon gar nicht Bestandteil der deutschen außenpolitischen Konzeption gegenüber Polen. Einer Abwanderung sollte in jedem Fall entgegengewirkt werden, und das Postulat des „Schutzes der Deutschen“ hieß hier erst einmal nichts anderes als Sicherung ihres Verbleibens in Polen. Für Polen besaß die Minderheitenfrage schon aus der widersprüchlichen Perspektive nationalstaatlichen Anspruchs und multinationaler Realität einen elementaren Stellenwert. Im Osten waren es das quantitative Gewicht der ukrainischen Bevölkerung und im Westen die deutsche Minderheit – diese vor allem durch ihre ökonomische Potenz und politische Brisanz – die das volle Augenmerk der Behörden auf sich zogen.16 Alle Fragen der Westgebiete waren von höchster Bedeutung sowohl 14 Dazu auch Helmut Lippelt: „Politische Sanierung“. Zur deutschen Politik gegenüber Polen 1925/26. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 19 (1971), S. 323 – 372. 15 Carl Georg Bruns: Deutschtumsfragen im abgetretenen Posen und Westpreußen. In: Ders.: Gesammelte Schriften zur Minderheitenfrage. Berlin 1933, S. 254 – 282, hier S. 255. 16 Deutsche und Polen zwischen den Kriegen. Minderheitenstatus und „Volkstumskampf“ im Grenzgebiet. Amtliche Berichterstattung aus beiden Ländern 1920 – 1939. Polacy i Niemcy

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in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht, und sie wurden von vorneherein als existentiell für die junge Staatlichkeit betrachtet. Wenn auch Mittel, Methoden und Ausmaß umstritten waren, so ließ es doch kein polnischer Staatsmann aus, sich hierzu eindeutig zu artikulieren. Vor allem die polnische Nationaldemokratie, zusammen mit einflußreichen, prononciert antideutschen Kreisen, wie dem Westmarkenverein, wurden immer dann vorstellig, wenn ein Nachlassen in dem Bestreben sichtbar wurde, sich mit Entschiedenheit der Mittel zu bedienen, die der Friedensvertrag für den Zugriff auf die deutsche Minderheit zur Verfügung stellte, oder wenn ein polnisches Entgegenkommen bei deutschen Forderungen zur Sicherung der Deutschen in Polen geargwöhnt wurde. Die deutsche Minderheit war Dauerthema im Regierungslager und Profilierung in dieser Frage geradezu ein Überlebensprinzip angesichts der vorhandenen schwachen parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse. Unter diesem politischen Dogma wurden alle, vor allem aus dem polnischen Außenministerium vorgebrachten fruchtbaren Ansätze zur Verständigung im Sinne eines Eingehens auf deutsche Forderungen verworfen. Außenpolitische Grundsätze, wie sie der für deutsche Fragen zuständige Beamte und spätere Gesandte in Berlin, Kazimierz Olszowski, 1923 formulierte, um „wenigstens einen gewissen Zeitraum Frieden“ an der Westgrenze zu erreichen,17 fanden kaum Gehör. Wesentlich beeinflußt waren die Streitfragen auch durch die Widersprüchlichkeit der durch den Friedensvertrag getroffenen Festlegungen zum Umgang mit den Minderheiten, ihren Rechten und Pflichten und der Rolle des Staates ihnen gegenüber, die in der Beurteilung und Handhabung von Staatsbürgerschaft, Option und Liquidation breite Interpretationsmöglichkeiten zuließen. Ausschlaggebend dafür waren u. a. Änderungen im Vertragssystem aufgrund polnischer Wünsche oder deutschen Einspruchs, mitunter noch Stunden vor Abschluß des Textes, die neue Ebenen in das Vertragswerk einzogen und das ohnehin durch seinen Kompromißcharakter zwischen den unterschiedlichen Wünschen der Ententemächte nicht ausgeglichene juristische Gebilde weiter aus dem Gleichgewicht brachten und damit Spielraum für Deutungen und Auslegungen zuließen, die nicht selten geeignet waren, den eigentlichen Sinn zu verkehren. So verhielt es sich auch mit der sogenannten „y compris-Klausel“, die den Polen das eigentlich nicht vorgesehene Entschädigungsrecht durch Anwendung der Liquidation auch auf privates Eigentum in den Abtretungsgebieten einräumte. Der bekannte und durch seine Studien zu den rechtlichen Problemen, die sich aus dem Versailler Vertrag für die deutsch-polnischen Beziehungen ergaben, als Kenner der Materie geltende Berliner Jurist Erich Kaufmann ging davon aus, daß das in Artikel 297 b festgelegte Recht Polens auf die Liquidation privater Güter im Abtretungsgebiet eine in letzter Minute auf Betreiben Polens vorgenommene Einfügung darstellte. Er belegte dies damit, daß in dem Gemie˛dzy wojnami. Status mniejszos´ci i walka graniczna. Reporty władz polskich i niemieckich z lat 1920 – 1939, hrsg. von Rudolf Jaworski und Marian Wojciechowski, bearbeitet von Mathias Niendorf und Przemysław Hauser, 2 Halbbände. München u. a. 1997. 17 Zit. bei Ralph Schattkowsky, Deutschland und Polen von 1918/19 bis 1925. Deutschpolnische Beziehungen zwischen Versailles und Locarno, Frankfurt am Main u. a. 1994, S. 245.

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neralbericht Andr Tardieus vom 6. Mai 1919 die abzutretenden Gebiete in der Formulierung des Artikel 297 b noch fehlten, dafür aber als Stichtag zur Voraussetzung der Verleihung der polnischen Staatsbürgerschaft in Artikel 91 noch der 26. April 1886, das Datum des preußischen Ansiedlungsgesetzes, auftauchte. Somit sah Kaufmann die Veränderung des Datums auf den 1. Januar 1908 als Kompensation für die „y compris-Klausel“ an, die eben die von Deutschland an Polen abzutretenden Gebiete als „mit einbegriffen“ erklärte in das Polen zugewiesene Territorium und die dafür geltenden Regelungen.18 Die Ententemächte, vor allem Großbritannien, gingen grundsätzlich davon aus, daß Polen keine Rechte auf Entschädigung hatte.19 Selbst bei der nun gefundenen Lösung waren weder Großbritannien noch Frankreich bereit, Polen die gleichen Rechte zuzugestehen, die ihnen selbst hinsichtlich der Liquidation zustanden. Sie schränkten sie dadurch ein, daß für staatliches Eigentum eine Verrechnung bei der Wiedergutmachungskommission erfolgen mußte (Artikel 256) und für das private Eigentum Artikel 297 h/2 die direkte Ausbezahlung des Liquidationserlöses an den Liquidierten forderte, ihm allerdings gleichzeitig das Recht zur Klage einräumte.20 Dies war eine Regelung, die den eigentlichen Sinn der Liquidation bezüglich einer Entschädigungsfunktion völlig in Frage stellte, zumal sie durch die Optantenregelung ohnehin bereits beschnitten war. In der praktischen Ausführung übernahmen diese Einschränkungen gleichsam eine Schutzfunktion21 für deutsches Eigentum, oder sie ließen zumindest eine Auslegung in dieser Richtung zu. Die Tragweite und das wachsende Gewicht der Minderheitenfrage in den deutschpolnischen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg werden jedoch erst deutlich, wenn der Stellenwert dieses Problems innerhalb der europäischen Nachkriegsordnung Beachtung findet. Angesichts der Zerschlagung oder territorialen Umgestaltung der traditionell den osteuropäischen Raum beherrschenden Großmächte 18

Erich Kaufmann: Studien zum Liquidationsrecht. Berlin 1925, S. 14. Fritz Epstein: Zur Interpretation des Versailler Vertrages. Der von Polen 1919 – 1922 erhobene Reparationsanspruch. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 5, (1957), S. 315 – 335, hier S. 324. Sehr aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang auch das Schreiben des britischen Repräsentanten in der Reparationskommission H. J. Levin an die britische Regierung vom 24. April 1920, das die britische Haltung nachhaltig bekräftigte (Documents on British Foreign Policy 1919 – 1939 (DBFP), First Series, Bd. X, London 1960, Nr. 133, S. 212 ff.). In der polnischen Fachliteratur findet sich deshalb die Auffassung, daß die Entschädigungsfestlegungen Polen eher als ein besiegtes Land und nicht als Mitglied der Siegerkoalition behandelten (Jerzy Krasuski: Stosunki polsko-niemieckie [Deutsch-polnische Beziehungen], Bd. 1: 1919 – 1925. Poznanˇ 1962, S. 205). 20 Kaufmann (wie Anm. 18), S. 14 und Paul Thieme, Bruno Schuster: Das polnische Liquidationsverfahren. Ein Handbuch für die Praxis, S. 6 gehen davon aus, daß diese Einschränkungen auf Intervention der deutschen Friedensdelegation hin erfolgten. Die Änderungen der betreffenden Passagen sind dargestellt in: Der Friedensvertrag. Unter Hervorhebung der abgeänderten Teile. Berlin 1919, S. 57, 156 f.; Die Gegenvorschläge der Deutschen Regierung zu den Friedensbedingungen, Berlin 1919, S. 26; Antwort der alliierten und assoziierten Mächte, Berlin 1919, S. 66. 21 Thieme/Schuster (wie Anm. 20), S. 2 ff. 19

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Deutschland, Österreich-Ungarn und Rußland und der Schaffung neuer Staaten in weitestgehender ethnisch-territorialer Inkongruenz war die Entstehung größerer Minderheiten, meistenteils sogar in den jeweiligen Nachbarstaaten als sogenannte Grenzlandminderheit in umstrittenen Gebieten, frühzeitig erkannt und zum Gegenstand intensiver Diskussionen gemacht worden. Sichtbarstes Ergebnis des Bewußtseins für die Notwendigkeit eines internationalen Kontroll- und Schutzsystems für diese Minderheiten waren der parallel zum Versailler Vertrag abgeschlossene Minderheitenschutzvertrag22 und die Schaffung eines Sekretariats beim Völkerbund, das sich ausschließlich mit dem Minderheitenschutz zu beschäftigen hatte. Kein Geringerer als Lloyd George umriß in seinem sogenannten Fontainebleau-Memorandum vom März 1919 den großen Stellenwert der Minderheitenfrage und gerade der deutschen Minderheit im Osten Europas mit Blick auf die Herstellung einer stabilen europäischen Friedensordnung.23 Das Problem war also über die Dimension einer zwischen Deutschland und Polen zu regelnden Fragestellung hinaus international verankert und ließ zumindest die Möglichkeit zu, Unstimmigkeiten auf höchster Ebene zu verhandeln und damit den bilateralen Konflikt zu internationalisieren. Grundlage für die völkerrechtliche Anerkennung einer deutschen Minderheit in Polen war die Staatsbürgerschaftsfrage, denn nur wer die polnische Staatsbürgerschaft erhielt, konnte den Minderheitenstatus in Anspruch nehmen und sich der damit verbundenen Rechte bedienen. Ansonsten war er Ausländer, unterlag dem Ausländerrecht und konnte somit jederzeit ausgewiesen werden. Daß diese Sicht keineswegs Allgemeingut war, zeigte die Tatsache, daß sich das Auswärtige Amt Anfang 1921 wiederholt genötigt sah, Rundschreiben an alle Ressorts zu senden, in denen die Einflußnahme auf den Verbleib der Deutschen in Polen zur Pflicht gemacht wurde,24 woraufhin im März ein entsprechender Kabinettsbeschluß erfolgte.25 Die anfängliche Unsicherheit in der Staatsbürgerschaftsfrage resultierte aus dem Zögern der Staatsorgane, von sich aus die Deutschen in Polen der polnischen Staatsbürgerschaft zu überantworten. Nunmehr wurde jedoch betont, daß diese Deutschen als Polen deutscher Nationalität zu gelten hätten. Das bedeutete die praktische Anerkennung der Artikel 91/1/2 und 278 des Friedensvertrages und eröffnete die Perspektive der Sicherung von Deutschen mit polnischen staatsbürgerlichen Rechten als deutsche Minderheit, die darüber hinaus das Optionsrecht besaßen, was einen zusätzlichen Schutz ihres Eigentums darstellte. Verstärkte Aufklärungsarbeit hinsichtlich der mit Inkrafttreten des Friedensvertrages nunmehr als gegeben angenommenen polnischen Staatsbürgerschaft, zumindest für jene, die vor dem 1. Januar 1908 zugezogen waren, war notwendig, da theoretische Abhandlungen und auch die praktische Tätigkeit im 22

Vgl. Anm. 3. Martin Gilbert: The Roots of Appeasement. London 1966, S. 190. 24 Bundesarchiv (BA), Abt. Potsdam, Auswärtiges Amt (AA) Film, Nr. 4672, Bl. D 570356 f. 25 Norbert Krekeler: Revisionsanspruch und geheime Ostpolitik der Weimarer Republik. Die Subventionsgewährung der deutschen Minderheit in Polen 1919 – 1939. Stuttgart 1973, S. 50. 23

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administrativen Bereich zeigten, daß dies nicht durchgängig so gehandhabt wurde. Ein Schreiben des Reichsfinanzministeriums vom 18. Mai 1920 ging noch davon aus, daß bis zur vertraglichen Regelung der Optionsfrage zwischen dem Deutschen Reich und Polen, d. h. bis zu dem Augenblick, wo mit der Schaffung einer Optionsmöglichkeit eine individuelle Entscheidungsfreiheit über die Staatsbürgerschaft gegeben war, die Deutschen in den abgetretenen Gebieten noch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen würden.26 Bruns wies in einer Stellungnahme an das Auswärtige Amt vom 3. Mai 1920 mit Nachdruck darauf hin, daß der polnischen Regierung gegenüber deutlich gemacht werden müsse, daß alle vor dem 1. Januar 1908 in den Abtretungsgebieten wohnhaften Deutschen eo ipso die polnische Staatsbürgerschaft besäßen.27 Als inhaltlicher Hauptaspekt ergab sich daraus, daß der Personenkreis, der die polnische Staatsbürgerschaft erhalten konnte bzw. die Rechte der Optanten genoß, so groß wie nur möglich sein sollte. Um den Optionsstatus zu erweitern, sollten Ausnahmeregelungen für alle Deutschen im Abtretungsgebiet zur Anwendung gelangen, damit auch die nach dem 1. Januar 1908 Zugezogenen Optantenrechte erhielten28 und, wenn schon nicht optionsberechtigt, so doch damit vor der Liquidation geschützt waren sowie einen freien Abzug zugesichert bekamen – eine Auslegung, die selbst von deutschen Theoretikern des Völkerrechts bestritten wurde.29 Die Regelung der Optionsfrage wurde von deutscher Seite zur conditio sine qua non für den erfolgreichen Abschluß laufender deutsch-polnischer Verhandlungen gemacht. Die Möglichkeiten, auf diese Weise Einfluß auf die qualitative und quantitative Erhaltung der deutschen Minderheit zu nehmen, schienen durch die Artikel 92/4 und 98, welche deutsch-polnische Verhandlungen über im Friedensvertrag nicht getroffene Festlegungen vorschrieben, nach wie vor gegeben. Schon am 25. Februar 1920 wurde Otto Göppert als Mitglied der deutschen Friedensdelegation in Paris durch das Auswärtige Amt beauftragt, dem Vorsitzenden der Friedenskonferenz, Alexandre Millerand, den Entwurf eines deutsch-polnischen Vertrages über die Optionsfrage zu übergeben, was am 28. Februar erfolgte.30 In einer Begleitnote wurde auf die Not26

BA, Abt. Potsdam, AA Film, Nr. 17677, Bl. L 176783. Ebd., Bl. L 176800. 28 In Richtlinien hinsichtlich der Liquidation, die mit Schreiben vom 5. Juni 1920 der deutschen Gesandtschaft in Warschau zugeschickt wurden, wird als Standpunkt des AA erklärt, daß „sämtliche vor oder nach 1908 zugezogenen Bewohner der Abtretungsgebiete als Optanten anzusehen sind, wenn auch als deutsche Staatsbürger und somit die in den Absätzen 6, 7 und 8 des Artikels 91 des Friedensvertrages festgeschriebenen Rechte genießen“ (BA, Abt. Potsdam, Reichsministerium des Innern (RMdI), Nr. 2658, Bl. 232 ff.). 29 Erich Kaufmann ging grundsätzlich von der Rechtlichkeit der Liquidation des Eigentums der von dem Staatsangehörigkeitswechsel ausgeschlossenen Personen aus (BA, Abt. Potsdam, RMdI, Nr. 2658, Bl. 233) und legte diese Theorie in seinen Studien zum Liquidationsrecht (wie Anm. 9), S. 14 dar. Ebd., S. 38 interpretiert er den Friedensvertrag dahingehend, daß der leitende Gedanke der Liquidation „die Herauslösung der abgetretenen Gebiete aus den wirtschaftlichen Zusammenhängen des Staates, zu dem sie bis dahin gehörten“, sei. 30 ADAP, Ser. A, Bd. III, Göttingen 1985, Dok. 45, S. 82 f. 27

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wendigkeit einer Regelung hingewiesen, da völlig offen sei, in welcher Weise das Optionsrecht ausgeübt werden könne. Tatsächlich wurde dieses Problem im Friedensvertrag nicht berücksichtigt, und es bedurfte bilateraler Vereinbarungen, da ohne eine Bestimmung der praktischen Wahrnehmung des Optionsrechtes alle diesbezüglichen prinzipiellen und im wesentlichen klaren Festlegungen eigentlich gegenstandslos waren. Das scheinbare Bemühen um die Schaffung von Ausführungsbestimmungen war aber offensichtlich nur der Aufhänger, um zur Änderung der Optionsbestimmungen „ihrem Inhalte nach“ zu gelangen, die „in verschiedener Richtung zu Zweifel Anlaß geben“. So enthielt denn auch der Entwurf zu einer Optionsordnung31 Bestimmungen, die auf verschiedenen Wegen die Optionsrechte der nach dem 1. Januar 1908 zugezogenen deutschen Staatsbürger sichern sollten. Eine stärkere Konzentration auf die Optionsfrage gebot sich für Deutschland auch angesichts der Tatsache, daß spätestens seit Anfang 1920 die Stimmen aus dem Abtretungsgebiet immer lauter wurden, die von der deutschen Regierung Maßnahmen zur Sicherung der Ausübung des Optionsrechtes forderten32 und sie damit unmißverständlich an ihre immer wieder gegebenen Versprechen zur Sicherung der Interessen der Landsleute im Osten erinnerten. Diese Interessen gingen offensichtlich in Richtung einer massenweisen Option für Deutschland und einer Abwanderung ins Reich. Zum anderen hatte der polnische Staat begonnen, Festlegungen zu treffen, um die Liquidation deutschen Eigentums vorzubereiten. Es waren Gesetze und Verordnungen erlassen worden, die nochmals mit Nachdruck deutlich machten, in welchem Maße die Frage der Liquidation privaten deutschen Eigentums von der Handhabung der Optionsbestimmungen abhängig war. So wie die Optionsfrage zu diesem Zeitpunkt von deutscher Seite gestellt wurde, erfüllte sie eine Doppelfunktion. Einerseits sollte der Kreis der Optionsberechtigten maximal vergrößert werden, wenn möglich sogar mit dem Recht auf die polnische Staatsbürgerschaft auch für die nach dem 1. Januar 1908 Zugewanderten, andererseits waren Bemühungen, die unmittelbare Option selbst zu verhindern, unübersehbar. Solange es keine Möglichkeit zur Option gab, blieben die Optanten als Polen deutscher Nationalität mit der vollen Sicherung ihrer Person, dem Schutz vor Liquidation und ausgerüstet mit dem theoretischen „Recht auf Heimkehr“ in Polen, wo sie auch bleiben sollten. Ein Idealzustand war aus deutscher Sicht unter den gegebenen Bedingungen also ein Deutscher, der polnischer Staatsbürger geworden war, 31 Dieser „Entwurf eines die Bestimmungen über die Option ergänzenden Abkommens mit Polen“ stammte ursprünglich vom Juli 1919 (BA, Abt. Potsdam, Reichsjustizministerium (RJM), Nr. 7268, Bl. 9 ff.) und war Anfang August im AA bestätigt worden (Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA) Bonn, Direktoren, Handakten Zechlin, Minderheit, Staatsangehörigkeit, Ansiedler, Optanten, Bl. 186). 32 Bericht an das AA aus Gnesen vom 26. Februar 1920. In: BA, Abt. Potsdam, AA Film, Nr. 17677, Bl. L 176867. Der Landesdirektor des DRK der Provinz Brandenburg schrieb am 11. Juni 1920, die zweifelsfreie Klärung der Option nach jeder Richtung sei auch deshalb notwendig, weil in Posen und Bromberg „die immer noch nicht erfolgte Regelung der Optionsfrage … viele Deutsche zur Abwanderung veranlaßt“ (ebd., Bl. L 176851).

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und nicht optieren konnte, aus dem – nach geschaffener Optionsmöglichkeit – ein Deutscher wurde mit polnischer Staatsbürgerschaft, der nicht optieren wollte, d. h. in Polen blieb, und zwar aus dem Gefühl der Einsicht in eine vaterländische Notwendigkeit oder aus ökonomischem Vorteil heraus, nicht jedoch aus nationalpolnischer Überzeugung. Dies konnte nur erreicht werden, wenn hinreichend für eine materielle Sicherung gesorgt wurde – wofür entsprechende Maßnahmen eingeleitet wurden –, und wenn durch intensive Arbeit der Deutschtumsorganisationen eine Beeinflussung der Deutschen in Polen auf den vielfältigsten Gebieten erfolgte. Das polnische Interesse, die Option zu realisieren, war in jedem Fall der Doktrin untergeordnet, sich aus politischen und vordergründig ökonomischen Gründen der Deutschen zu entledigen, und das ergab eine ganze Reihe von Streitpunkten, die von der deutschen Seite genutzt wurden, um Polen auf internationaler Ebene, vor allem gegenüber den Ententemächten, als Staat hinzustellen, der die Bestimmungen des Friedensvertrages in eigennütziger Weise auslegte und verfälschte. Die ungeschickte Argumentation der polnischen Seite tat ein übriges. Auf antideutscher Einstellung beruhendes Fehlverhalten und Eigenmächtigkeiten örtlicher Behörden, die oft genug den angestrebten Regelungen vorgriffen, lieferten ständig Munition für Zwistigkeiten. Schließlich war es die Uneinigkeit im polnischen Regierungslager hinsichtlich der Festlegung der außenpolitischen Konzeption, die als latenter Unsicherheitsfaktor den Umgang mit dem polnischen Verhandlungspartner erschwerte und auch oftmals willkommenen Anlaß dazu bot, Polens internationale Position zu unterminieren. In dem ohnehin durch politische Krisen und häufigen Regierungswechsel (11 Kabinette zwischen 1919 und 1926) geschüttelten parlamentarischen System Polens war eine mehrheitliche Unterstützung für ein einheitliches außenpolitisches Vorgehen nur schwer zu erreichen und blieb ständigen Schwankungen unterworfen. Das Urteil einer insgesamt nicht den Gegebenheiten angepaßten, anachronistischen polnischen Außenpolitik erscheint somit als nicht überzogen,33 zumal mit der Tschechoslowakei im Juni und Juli 1920 Wirtschaftsverträge geschlossen worden waren, die Zugeständnisse in der Liquidations- und Optionsfrage enthielten,34 was der deutschen Seite zusätzlichen Argumentationsstoff lieferte. Ganz abgesehen von dem psychischen Druck, dem die Optionswilligen in den Abtretungsgebieten ausgesetzt waren, wurden sie in eine zunehmend schwierigere Rechtssituation gebracht, und der bestehende Schwebezustand bot Angriffspunkte für antideutsche Attacken örtlicher polnischer Behörden.35 Andererseits hingen jene, 33 Janusz Z˙arnowski: Uwagi o syntezie stosunkw mie˛dzynarodowych Polski w okresie mie˛dzywojennym [Bemerkungen über die internationalen Beziehungen Polens in der Zwischenkriegszeit]. In: Polska – Niemcy – Europa. Studia z dziejw mys´li politycznej i stosunkw mie˛dzynarodowych [Polen – Deutschland – Europa. Studien zur Geschichte des politischen Denkens und der internationalen Beziehungen]. Poznanˇ 1977, S. 397 – 403, hier S. 401. 34 Der Vertrag mit der Tschechoslowakei über den Artikel 297 des Friedensvertrages wurde am 29. Juni in Prag unterzeichnet (BA Koblenz, R 43 I, Nr. 149, Bl. 59 ff.). 35 In einem Schreiben vom 18. September 1920 an den Reichskanzler forderte das Preußische Ministerium des Innern (PMdI) die schnellste Klärung der Optionsfrage, da der beste-

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die in irgendeiner Weise bereits für Deutschland optiert hatten – sei es vor den entsprechenden polnischen Instanzen, um sich vor dem Militärdienst zu schützen, was angesichts des andauernden polnisch-sowjetischen Krieges nur allzu verständlich war, oder vor Behörden, die dafür nicht vorgesehen waren – völlig in der Luft. Sie waren für Polen nunmehr Deutsche und somit Ausländer, für die deutschen Behörden aber immer noch polnische Staatsbürger deutscher Nationalität, was ihnen die Rückkehr nach Deutschland zunächst in der Regel unmöglich machte und sich auch negativ auf etwaige Schadenersatzforderungen auswirkte. Nicht anders verhielt es sich mit jenen Deutschen, die nach dem 1. Januar 1908 zugezogen waren und die, ohne daß eine entsprechende Regelung mit Polen getroffen worden war, von der deutschen Seite als Optanten betrachtet wurden, somit aus dieser Sicht auch nicht der Liquidation unterlagen und ihr Vermögen nach dem polnischen Registrierungsgesetz vom 4. März 1920 nicht anzumelden brauchten. Wurde dieser Standpunkt von polnischer Seite nicht akzeptiert, so unterlagen sie der Gefahr starker finanzieller Schädigung.36 Diese Fragen ließen sich natürlich nicht beliebig lange offenhalten, ohne die eigene Konzeption der Minderheitenpolitik schwer zu schädigen oder gar zu zerstören. Das galt um so mehr, als ein Anfang 1921 gezogenes Fazit der Minderheitenarbeit in den abgetretenen Gebieten ein negatives Ergebnis zeigte, das geradezu herausforderte, alle zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um die Deutschen in Polen zu halten. Die Bilanz, die vom Auswärtigen Amt am 25. Februar 192137 eröffnet wurde, zeigte eine starke und weiter anhaltende Abwanderungstendenz. Von der deutschen Bevölkerung der Abtretungsgebiete, die mit 1,1 Millionen beziffert wurde, waren bereits 200.000 bis 400.000 abgewandert, wobei man die Zahl von 200.000 als von vorneherein zu niedrig einschätzte. Diese Abwanderung machte sich vor allem in den Hochburgen der Deutschen, den Städten, besonders schmerzlich bemerkbar.38 Die vom Auswärtigen Amt dazu abgegebene Stellungnahme resümierte, daß – obwohl eine gewisse Abwanderung unvermeidbar sei – sie doch jenes Maß übersteige, „das in wirtschaftlichen und politischen Gründen eine ausreichende Erklärung findet“, und daß daher „einer weiteren Abwanderung … mit allen Mitteln hende ungeregelte Rechtszustand geeignet sei, durch die polnische Devisenverordnung und dergl. das Recht der Optanten auf ungehinderte Mitnahme des beweglichen Vermögens zu beeinträchtigen (BA, Abt. Potsdam, Alte Reichskanzlei, Nr. 118, Bl. 19 f.). 36 Auf diesen Sachverhalt machten die „Deutschen Nachrichten“ (Organ der Vereinigung des Deutschtums in Polen) in einem Schreiben an das AA vom 12. August 1920 aufmerksam und verbanden dies mit der Anfrage, ob dann eine entsprechende Entschädigung durch das Reich erfolgen würde (BA, Abt. Potsdam, AA, Nr. 66613, Bl. 24). 37 BA, Abt. Potsdam, Präsidialkanzlei, Nr. 149, Bl. 37 ff. Am 15. März war diese Analyse des AA Gegenstand der Sitzung des Reichsministeriums, in der das Kabinett der Meinung des Reichsaußenministers zustimmte, es sei alles zu unternehmen, um die Abwanderung zu stoppen (BA Koblenz, R 43 I, Nr. 380, Bl. 29). 38 Gotthold Rhode: Das Deutschtum in Posen und Pommerellen in der Zeit der Weimarer Republik. In: Die deutschen Ostgebiete zur Zeit der Weimarer Republik (Studien zum Deutschtum im Osten, Bd. 3). Köln 1966, S. 88 – 132, hier S. 100.

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entgegengetreten werden“ muss. Unter dem Aspekt, „keine Anreize zur Abwanderung zu schaffen und umgekehrt, wo es irgend angängig ist, den Willen zum Ausharren zu stählen“, wurden Richtlinien festgelegt, die einerseits die finanzielle Unterstützung der Deutschen in Polen erweiterten und andererseits ihre Rückkehr und existentielle Sicherstellung in der Heimat erschwerten. Ein Kabinettsbeschluß vom 15. März 1921 erklärte diese Richtlinien für alle Ressorts als verbindlich.39 Durch den Ausbruch des dritten schlesischen Aufstandes am 3. Mai 1921 spitzten sich die deutsch-polnischen Beziehungen erneut scharf zu. Im Abschlußbericht zu seiner Tätigkeit in der deutschen Gesandtschaft in Warschau stellte Herbert von Dirksen im Sommer 1921 rückblickend fest, daß „Korfantys Aufstand … eine Aussöhnung mit Deutschland vielleicht unmöglich gemacht und selbst eine formelle Verständigung auf lange hinaus geschoben“40 hat. Hinzu kam eine verstärkte Durchführung der Liquidation durch den polnischen Staat gegenüber den deutschen Kolonisten ab Frühjahr 1921. Die rechtlichen Grundlagen bildeten Verordnungen des Präsidenten des polnischen Hauptliquidationsamtes, Kazimierz Kierski, vom 18. März und 14. Mai 192141 zur Ausführung des Gesetzes vom 15. Juli 1920. Die Maßnahmen richteten sich zuerst gegen die Domänenpächter in den abgetretenen Gebieten, denen am 10. Mai die Aufforderung zugeschickt worden war, ihre Domänen bis zum 1. Juli zu verlassen, und für deren Besitzungen bereits am 11. Mai eine Neuverpachtung ausgeschrieben wurde.42 Der polnische Staat berief sich dabei auf Rechte, die ihm aus Artikel 256 des Friedensvertrages zustanden, wonach Polen das Eigentum des deutschen Staates sowie der Mitglieder des preußischen Herrscherhauses übernahm. Somit ging auch der Besitz der preußischen Ansiedlungskommission, die bis 1918 aus staatlichen Mitteln 21.683 Kolonistenwirtschaften mit insgesamt 308.583 ha im preußischen Teilungsgebiet errichtet hatte,43 auf den polnischen Staat über – mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Rechtsnachfolge einschließlich des Wiederkaufsrechtes der Ansiedlerstellen. Polen gedachte, gerade durch die Einverleibung des domanialen Besitzes, seine Entschädigungsforderungen zu tilgen,44 und so richteten sich zwangsläufig die ersten Maßnahmen, die schon Mitte 1920 begannen, gegen die Domänenpächter als eine soziale Gruppierung, die am engsten mit dem Eigentum des preußischen Staates und 39 Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Das Kabinett Fehrenbach. Boppard 1972, Nr. 204, S. 563. 40 ADAP, Ser. A, Bd. V, Göttingen 1987, Dok. 78, S. 160. 41 Thieme/Schuster (wie Anm. 20), Bl. L 177954 f. 42 Aide-mmoire des AA an das polnische Außenministerium vom 21. Juli 1921. In: ADAP (wie Anm. 40), Dok. 57, S. 113 ff. 43 Statistische Angaben zur Tätigkeit der Ansiedlungskommission sind zu finden in: Die Ostgebiete des Deutschen Reiches. Würzburg 1956, S. 16. 44 In einem Gespräch mit dem französischen Präsidenten Millerand am 5. Juli 1920 hatte ein führender polnischer Politiker die deutschen Domänen als eine vorrangige Quelle bezeichnet, aus der Polen seine Entschädigungen beziehen wollte (Archiwum Akt Nowych Warszawa (AAN), Ministerstwo Spraw Zagranicznych (MSZ), Gabinet Ministra, sygn. 21, Bl. 1 f.).

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seines Herrscherhauses verbunden war. Im Herbst 1921 dehnte Polen die Liquidationsmaßnahmen auf die Ansiedler aus, indem das Hauptliquidationsamt im Oktober 1920 an 3.600 deutsche Ansiedler die Aufforderung schickte, ihre Wirtschaften bis zum 1. Dezember 1921 zu verlassen.45 Der polnische Staat verlangte den entschädigungslosen Abzug jener deutschen Ansiedler, die bis zum 11. November 1918 nicht Besitzer der genutzten Wirtschaft geworden waren, und bei denen die Ansiedlungskommission noch als Besitzer im Grundbuch fungierte. Für die Liquidation kamen von den 21.500 im Abtretungsgebiet angesetzten Kolonistenstellen etwa 6.000 in Frage, von denen bis Ende 1921 3.500 für eine Liquidation ausgewählt wurden.46 Angesichts des Vorgehens gegen die Kolonisten sperrte sich die deutsche Seite nicht nur gegen jegliche weitere Bearbeitung des bestehenden Verhandlungsprogramms, sondern ging auch auf internationaler Ebene stärker gegen Polen vor. Neben Denkschriften zu dieser Frage, die nach Warschau und an den Botschafterrat gesandt wurden, formulierte der Deutschtumsbund als zentrale Organisation der Deutschen in den abgetretenen Gebieten am 12. November 1921 eine Beschwerde an den Völkerbund.47 In den Anschuldigungen wurde Polen eine Verletzung der Optantenbestimmungen hinsichtlich der Liquidation vorgeworfen. Polen stellte bei seinen Maßnahmen gegen die Kolonisten den Artikel 256 des Friedensvertrages in den Vordergrund und vernachlässigte bei der praktischen Durchführung der Exmissionen von Pächtern und Ansiedlern die Festlegungen über die Staatsbürgerschaft, so daß es faktisch auch zum Vorgehen gegen polnische Staatsbürger kam. Neben Übergriffen örtlicher Behörden sorgte das Hauptliquidationsamt selbst für Verwirrung, weil es in zweifelhaften Fällen die Entscheidung über die Staatsbürgerschaft eigenmächtig treffen konnte. Die deutsche Seite ging ohnehin von dem unbestätigten Grundsatz aus, daß auch den nach dem 1. Januar 1908 zugezogenen Personen Optantenrechte zustünden. Dabei darf nicht vergessen werden, daß die Widersprüchlichkeit des Versailler Vertrages und des Minderheitenschutzvertrages, die in der Beurteilung und Handhabung der Optionsfrage schon Schwierigkeiten machte, in der Liquidationsproblematik namentlich bei den Kolonisten eine noch weitere Auslegung zuließ. So war es dann auch für Polen schwierig, die deutsche Argumentation zu entkräften, die diese Liquidationsbestimmungen auf alle Eingriffe in deutsches Eigentum bezog und schlicht alle Ansprüche des polnischen Staates auf das Eigentum deutscher Bürger – und als solches konnte zumindest teilweise das der Ansiedler angesehen werden – von vorneherein als eine Liquidation im Sinne des Artikels 92 bzw. 297 h/2 betrachtete. Somit wurde eine gewisse Schutzfunktion realisiert, die eine entschädi45 Bericht des Ministeriums für Landwirtschaft, Domänen und Forsten vom 8. Dezember 1921. In: Geheimes Staatsarchiv Berlin-Dahlem (GStA), Rep. 77, Tit. 856, Nr. 34, Bl. 55 Rs; Bruns: Deutschtumsfragen (wie Anm. 15), S. 267. 46 Das preußische Landwirtschaftsministerium legte hier polnische Angaben zugrunde (GStA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 34, Bl. 71 Rs). 47 Deutsche Tageszeitung, 15. November 1921. Das vollständige Material ist zu finden in: PA Bonn, Pol. Abt. IV Po, Politik 25, Bd. 8, Bl. 61 ff.

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gungslose Enteignung als unzulässig erscheinen lassen mußte und ihre Wirkung auf die Ententemächte nicht verfehlte. Die Klage des Deutschtumsbundes kam am 28. März 1922 vor den Völkerbund und bezog sich sowohl auf Pächter als auch auf Kolonisten. Polen wurde veranlaßt, die Kolonisten nicht vor dem 1. Oktober 1922 zu liquidieren. Der Rat setzte eine Rechtskommission unter Vorsitz des Brasilianers Dominicio da Gama ein, die am 30. September 1922 ein Gutachten vorlegte, wonach gegen jene Kolonisten, die ihre Auflassung vor dem 11. November 1918 erhalten hatten, in keiner Weise vorgegangen werden durfte. Daraufhin erklärte die polnische Regierung am 7. Dezember 1922 den Völkerbund in dieser Frage als inkompetent.48 Stellt man die enge Bindung Polens an die Siegermächte in Rechnung, so war dieser Schritt ein Eklat gegenüber den westlichen Partnern und unterstrich den Stellenwert, den die Kolonistenfrage für Polen einnahm. Die währenddessen zwischen deutschen und polnischen Vertretern in Warschau und Berlin vereinzelt geführten Gespräche drehten sich naturgemäß fast ausschließlich um die Kolonistenfrage, ließen aber im Spätsommer 1921 immer deutlicher den Zusammenhang mit der nach wie vor offenen Optantenfrage erkennen. Die in Artikel 91/3 des Friedensvertrages festgelegte Optionsfrist endete am 10. Januar 1922 und machte es damit für beide Seiten erforderlich, die Option zu ermöglichen, am besten selbstverständlich durch ein Optionsabkommen. Der polnische Staat zeigte nach wie vor ein außerordentliches Interesse an der Regelung der Option und versuchte gegen Zugeständnisse in der Kolonistenfrage mit Deutschland zu einem Abkommen zu gelangen bzw. eine Verlängerung des Optionstermins zu erwirken. Dabei spielte sicher der Gesichtspunkt eine Rolle, daß ein längerer Optionszeitraum mehr Deutschen in Polen die Möglichkeit geben würde, für Deutschland zu optieren und das Land zu verlassen.49 Kaum geringere Bedeutung hatten für Polen jedoch Vereinbarungen über die Vereinheitlichung der Optionsvorschriften, die auch eine Regelung der Option für die im Reich lebenden Polen bringen sollten. Das war für den polnischen Staat vorderhand ein soziales Problem.50 Er mußte im allgemeinen davon ausgehen, daß für einen Polen in Deutschland eine Option für Polen gleichbedeutend mit der Heimkehr war.51 Kam aber keine Optionsvereinbarung zustande, so bestand die Gefahr, daß die Schutzbestimmungen des Artikels 91 keine Anwendung fanden, dafür aber der deutsche Fiskus die Ausländer stark belastete. Der Pole wäre als armer Mann heimgekommen, der vom polnischen Staat Schadenersatz fordern und eine Beschäftigung verlangen konnte, und das bei der wirtschaftlichen Misere und der hohen Arbeitslosigkeit in Polen. Er hätte also dem Staat auf der Tasche gelegen. Nachdem er sein Leben lang in Deutschland gearbeitet und dort 48

Krasuski: Stosunki (wie Anm. 19), S. 268 f. So Bruns in einem Schreiben an das AA am 21. September 1921 (BA, Abt. Potsdam, AA Film, Nr. 17678, Bl. L 178008). 50 Stellungnahme des polnischen Generalkonsuls in Berlin „Option und soziale Sicherung“ vom 22. Dezember 1921. In: AAN, MSZ, Ambasada Berlin, sygn. 3524, Bl. 303. 51 Schreiben des polnischen Attachs für Auswanderungsfragen im polnischen Generalkonsulat in Berlin an die polnische Emigrationsbehörde vom 4. November 1921, ebd., Bl. 291. 49

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Steuern gezahlt hatte, würde er nun in Polen die Altersversorgung in Anspruch nehmen. Die zuständigen Stellen erwogen deshalb, die Polen in Deutschland von der Option abzuhalten, auf sie den Artikel 278 des Friedensvertrages in Anwendung zu bringen und ihnen damit automatisch die polnische Staatsbürgerschaft bei einer Rückkehr zu sichern. Somit hatte der polnische Staat kein besonders großes Interesse daran, daß die ausgewanderten Polen ins Land zurückkehrten. Es gab jedoch prinzipiell keine Vorbehalte dagegen, daß die Polen im Reich die polnische Staatsbürgerschaft annahmen; in gewissen Grenzen wurde das im Sinne der Stärkung eines polnischen Staatsgedankens sogar unterstützt. Die Zielstellung war, die Polen in Deutschland zu halten, weil sie bei einer Rückkehr keine Beschäftigung finden würden und, wenn sie doch nach Polen kämen, zu gewährleisten, daß sie ihren in Deutschland erarbeiteten Besitz mitnehmen konnten. Diese Situation entspannte sich für Polen erst, als die Vertreter der polnischen Minderheitenorganisationen in Deutschland dem polnischen Außenministerium gegenüber erklärten, daß nur jene Polen für den polnischen Staat optieren und Deutschland verlassen würden, denen eine Arbeit in Polen sicher war,52 und bei denen die deutschen Behörden Anfang 1922 auf die Anwendung des Steuerfluchtgesetzes verzichteten.53 Der Erlaß der deutschen Optionsverordnung am 3. Dezember 1921,54 die an der einseitigen Auffassung festhielt, daß auch die nach dem 1. Januar 1908 Zugewanderten unter die Optantenrechte fielen, ohne freilich selber optionsberechtigt zu sein,55 dürfte dem Auswärtigen Amt als federführendem Ressort um so leichter gefallen sein, als klar war, daß der für die Option zur Verfügung stehende Zeitraum von etwa einem Monat den Kreis jener Optanten, die zur Option praktisch in der Lage waren, von vorneherein einschränkte,56 zumal die Optionsverordnung viele praktische Fragen offen ließ. Beruhigend wird auch gewirkt haben, daß nach Angaben des Landwirtschaftsministeriums die Zahl der Optionswilligen unter den Kolonisten aufgrund der Regelung der Entschädigungsfragen stark zurückgegangen war.57 52

AAN, MSZ, Wydział Zachodni, sygn. 4879 b, Bl. 3 f. Am 14. Februar 1922 wies der Reichsfinanzminister an, auf solche Personen, die im Sinne der Optionsordnung vom 3. Dezember rechtswirksam für Polen optiert hatten, das Steuerfluchtgesetz nicht mehr in Anwendung zu bringen (BA, Abt. Potsdam, RJM, Nr. 7268, Bl. 209). 54 Reichsgesetzblatt 1921, S. 1491; Vossische Zeitung, 8. Dezember 1921. 55 Begründung zum Entwurf der Optionsverordnung. In: BA, Abt. Potsdam, Präsidialkanzlei, Nr. 675, Bl. 23. 56 In einer Aufzeichnung aus der zweiten Dezemberhälfte, die wahrscheinlich aus dem deutschen Generalkonsulat in Posen stammte, wurden gegenüber der Optionsverordnung und ihrer Durchführung Bedenken geäußert, daß „mit Rücksicht auf die Kürze der Zeit und den ungünstigen Verkehrsverhältnissen … viele Deutsche nicht in der Lage sein [werden], ihre Optionserklärung abzugeben“ (ebd., AA Film, Nr. 17679, Bl. L 178252). Aus dem PMdI wurde am 22. April 1922 gemeldet, daß zahlreiche Optionswillige von ihrem Optionsrecht nicht Gebrauch machen konnten, weil sie von den das Optionsverfahren regelnden Bestimmungen ohne ihr Verschulden nicht oder nicht rechtzeitig Kenntnis erhalten hatten (ebd., Bl. L 178828). 57 GStA, Rep. 77, Tit. 856, Nr. 34, Bl. 28, 70. 53

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Schließlich hatte auch der Deutschtumsbund die Zeit intensiv genutzt und deutlich gemacht, „daß der Verzicht auf die Option nicht nur eine völkische Pflicht sei, sondern daß er, abgesehen von Ausnahmefällen, auch im wohlverstandenen wirtschaftlichen Interesse des Einzelnen läge“.58 Bei dem gesamten Komplex von Maßnahmen, die Deutschen in Polen von der Option abzuhalten, spielte neben der weiteren Gewährung von Unterstützungsgeldern bei Nichtoption59 die Zusicherung unbürokratischer Wiedereinbürgerung im Falle der Rückkehr ins Reich zu einem späteren Zeitpunkt eine zentrale Rolle. Die Debatten, die hierüber geführt wurden, zeigen sehr genau, daß man es für unerläßlich hielt, den Nichtoptierenden die Wiedereinbürgerung zu erleichtern, um ihnen den Schritt zur Nichtoption nahezubringen und die Obhutspflicht des Staates zu demonstrieren. Trotz aller optionseinschränkenden Maßnahmen war der Andrang im Generalkonsulat in Posen um die Jahreswende 1921/22 weitaus größer als erwartet.60 Es wurden 29.000 Optionserklärungen abgegeben, die insgesamt 59.521 Personen umfaßten.61 Das waren etwa 9 % aller optionsberechtigten Deutschen im Abtretungsgebiet, die sich damit für Deutschland erklärt hatten, wobei Kolonisten und Landwirte in ihrer Mehrzahl auf ihre Option verzichteten.62 Diese Zahl allein ist allerdings wenig aussagekräftig, da sie alle schriftlichen Optionen, die nicht der vorgeschriebenen Form entsprachen, ebenso unberücksichtigt läßt wie jene 96.557 Personen, die vor polnischen Behörden für Deutschland optiert hatten,63 was von den deutschen Behörden nicht anerkannt wurde. Es ist sehr schwierig festzustellen, wieviel von diesen Optanten Polen unmittelbar verlassen haben. Während das Generalkonsulat davon ausging, daß ein Großteil der Optanten in Polen bleiben werde, gaben die polnischen Behörden mehr als die Hälfte der Optanten als Abwanderer an.64 Noch im Oktober 1922 sprach der zuständige Mitarbeiter des Reichsinnenministeriums von einem erheblichen Flüchtlingsstrom, der nicht abreißen wolle, und dem unbedingt entgegengewirkt werden müsse. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich ca. 38.000 Personen in 28 Flüchtlingslagern im Reich.65 58

BA, Abt. Potsdam, AA Film, Nr. 17679, Bl. L 178653. Bruns schrieb am 13. Dezember 1921 an das AA, daß „die deutschen Organisationen und die deutschen Zeitungen … mit einer großzügigen Aufklärungsarbeit gegen die Option für Deutschland eingesetzt [haben]“ (ebd., Bl. L 178225). 59 Eine entsprechende Anweisung ging vom AA am 20. Oktober 1921 an das Reichsfinanzministerium (BA, Abt. Potsdam, AA Film, Nr. 17678, Bl. L 178035); vgl. auch weitere Besprechungen über diesen Gegenstand, ebd., RMdI, Nr. 2659, Bl. 257; ebenda, Deutsche Stiftung, Nr. 1070, Bl. 462 ff. 60 Bericht des Generalkonsulats in Posen vom 4. Januar 1922. In: BA, Abt. Potsdam, AA Film, Nr. 17678, Bl. L 179040. 61 Optionsstatistik für das Generalkonsulat, ebd., Deutsche Stiftung, Nr. 1069, Bl. 332 f. 62 Bericht des Generalkonsulats vom 14. Januar, ebd., AA Film, Nr. 17679, Bl. L 179041 f. 63 Bericht des Generalkonsulats vom 30. August 1922, wobei man sich auf den Kurjer Poznanˇski vom 25. August bezog, ebd., Bl. L 178436. 64 Vorwärts, 26. Januar 1922. 65 BA, Abt. Potsdam, Deutsche Stiftung, Nr. 1070, Bl. 228 f.

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Da die eigentliche Option durch die Praxis im wesentlichen entschieden war, lag der deutschen Seite nunmehr daran, jenen Deutschen, die für Deutschland optiert hatten, einen Minderheitenstatus zu sichern, d. h. ihren Verbleib als Deutsche mit deutscher Staatsbürgerschaft in Polen unter Wahrung ihres Besitzstandes zu erreichen. Den rechtlichen Ansatz hierzu bot der Artikel 91/6 des Versailler Vertrages, der den Optanten den Abzug aus Polen freistellte. Aus dieser Haltung heraus entspann sich in der Folgezeit einer der schärfsten deutsch-polnischen Konflikte der Nachkriegszeit, denn es gehörte zu den grundlegenden Bestandteilen der polnischen Politik bei der Ausführung des Friedensvertrages, daß jene Deutschen, die die polnische Staatsbürgerschaft zugunsten der deutschen abgelegt hatten, das Land verlassen sollten. Polen berief sich hierbei auf Artikel 3 des Minderheitenschutzvertrages, der einen Passus enthielt, der den Abzug der Optanten zur Pflicht machte. Die Berufung auf diesen Artikel war für Polen jedoch nicht ungefährlich, da er auch eine weitere Auslegung der Staatsbürgerschaft zuließ, weil darin kein Zeitraum für den Aufenthalt auf späterem polnischen Gebiet als Voraussetzung zum Erhalt der polnischen Staatsbürgerschaft festgelegt, sondern nur der Stichtag des 1. Januar 1908 fixiert war. Beide Seiten nutzten also wiederum die Widersprüchlichkeit der vertraglichen Formulierungen und legten sie in ihrem Sinne aus, waren sich dabei aber durchaus bewußt, daß die nur in Grundlinien vom Versailler Vertrag umrissene Staatsbürgerschaftsfrage einer Reihe von Regelungen bedurfte, und daß diese Fragen gründlich verhandelt werden mußten. Ende März 1923 wurde eine Kompromißlösung gefunden, die einerseits eine allgemeine Abzugspflicht, andererseits aber auch jegliche Bevorzugung der deutschen Optanten ausschloß.66 Damit war erst einmal eine Hauptzielstellung der deutschen Forderungen erfüllt. Man rechnete immerhin mit 150.000 Optanten, die sich noch in Polen befanden und eine beachtliche ökonomische Größe darstellten. Die deutsch-polnischen Verhandlungen waren in Polen begleitet von scharfen innenpolitischen Kontroversen über die Haltung gegenüber den besonders in den Westgebieten lebenden Deutschen und über die Art und Weise des Umgangs mit der Minderheit. Noch vor Antritt der Regierung von Wincenty Witos hatte Ministerpräsident Wladyslaw Sikorski in einer zumindest bei ihm ungewohnt scharfen Form anläßlich eines Empfangs im Posener Rathaus zur Frage der deutschen Minderheit Stellung genommen und gefordert, daß der Prozeß der Entdeutschung in möglichst schnellem Tempo vollendet und die bisher schwankende polnische Politik in der Liquidationsfrage geändert werden müsse. Darüber hinaus sollten die deutschen Optanten die Konsequenz aus ihrer Option ziehen,67 d. h., das Land verlassen. Bereits zuvor hatte der deutsche Gesandte in Warschau, Ulrich Rauscher, in einer ausführ66

Bericht Olszowskis vom 27. März. In: AAN, MSZ, Ambasada Berlin, sygn. 1108, Bl. 132 ff.; Wochenberichte des AA über Fragen der auswärtigen Politik, 31. März. In: BA, Abt. Potsdam, Präsidialkanzlei, Nr. 738, Bl. 2. 67 Telegramm des Gesandtschaftsrates und Geschäftsträgers der deutschen Botschaft in Warschau Erich Benndorfs vom 11. April. In: ADAP, Ser. A, Bd. VII, Göttingen 1989, Dok. 198, S. 488, Anm. 6.

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lichen Analyse der Anerkennung der polnischen Ostgrenze durch die Westmächte am 15. März 1923, die eine formelle Konsolidierung des polnischen Staates bedeutete, und der damit „entfachte[n] nationale[n] Energie Polens“ die Gefahr einer verschärften Minderheitenpolitik gesehen.68 Deutlich zeichnete sich auch eine breite Zustimmung für das Prinzip eines stärkeren Zugriffs auf die deutsche Minderheit ab. Auf der Sejmsitzung am 15. März wurde von allen Parteien ein Antrag verabschiedet, der die Regierung aufforderte, unverzüglich von allen Polen durch den Versailler Vertrag zugesprochenen Rechten bezüglich der deutschen Kolonisten in Polen Gebrauch zu machen.69 Erneut wurde die strikte Ausführung der Polen zustehenden Festlegungen des Friedensvertrages angemahnt und damit die Liquidation deutschen Eigentums und der Abzug der deutschen Optanten gefordert, ohne daß man die Ergebnisse irgendwelcher Verhandlungen abwarten wollte, denen man ohnehin nicht traute. Gerade in der Frage der Optanten übte der polnische Generalstab starken Druck aus, um die strategisch wichtigen Westgebiete ”von einer deutschen Bevölkerung zu befreien”. Er begründete seine Forderungen mit der Feststellung, daß eine ins Auge gefaßte Erweiterung des Abzugszeitraumes auf den 10. Mai nur dazu führen würde, das Vertrauen der deutschen Optanten, die sich in Polen befanden, in die Unterstützung durch das Reich zu stärken und durch die Verhandlungen ihren endgültigen Verbleib zu sichern, wodurch seit dem 1. Januar 1923 kein Optant mehr Polen verlassen habe.70 Ab Frühjahr 1923 verfolgte die polnische Regierung dann auch eine schärfere Gangart gegenüber der deutschen Minderheit. Unter der Regierung Sikorski war die verstärkte Forderung nach Liquidation und Ausweisung der Optanten noch eher politische Rechtfertigung gegenüber dem rechten Flügel,71 diente der Festigung der eigenen Position und Legitimation und hatte im politischen Krisenjahr 1923 auch eine Art Ventilfunktion zur inneren Stabilisierung. Für die Regierung Witos hingegen waren diese Maßnahmen Bestandteil des praktischen politischen Programms. Realistische Stimmen aus dem polnischen Außenministerium – Olszowski war sicher dazu zu rechnen – die sich für ein Zusammenleben mit der deutschen Minderheit einsetzten und vor übereilten Handlungen warnten, welche die Beziehungen zum Reich nur weiter verschlechtern konnten und auch international dem Ansehen Polens schadeten, fanden zunehmend weniger Gehör. Olszowski warnte eindringlich vor einem unüberlegten Vorgehen gegen die deutschen Optanten in Polen, welches leicht 68

Rauscher an AA am 21. März, ebd., Dok. 156, S. 372. PA Bonn, Büro des Reichsministers 10, Polen, Bd. 2, Bl. 50. 70 Entsprechende Schreiben richtete der Generalstab am 8. Januar und 24. Mai an verschiedene Ressorts (AAN, MSZ, Ambasada Berlin, sygn. 1225, Bl. 18 ff.) und machte in der Optantenfrage am 16. April eine Eingabe an den Ministerrat (einen entsprechenden Hinweis gibt das Schreiben der Rechtsabteilung des MSZ vom 18. April, ebd., Bl. 22 ff.). 71 Der Kurjer Poznanˇski kommentierte die Rede Sikorskis am 10. April in Posen folgendermaßen: „General Sikorski will sich die Sympathien des nationalen Lagers sichern und zwar dadurch, daß er die Entdeutschung der Westmarken im Sinne der Bevölkerung Großpolens und Pommerellens vorschiebt“ (PA Bonn, Pol. Abt. IV Po, Politik 2, Politische Beziehungen zu Deutschland, Politik, Bd. 11, Bl. 101). 69

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zu einem nicht endenden Streit zwischen Deutschland und Polen führen konnte. Eine plötzliche Ausweisung würde auch eine große innenpolitische Belastung mit sich bringen, wenn man berücksichtige, so Olszowski, daß Bismarck ab 1885 Jahre gebraucht habe, um mit großem administrativen Aufwand 30.000 Polen aus Preußen auszuweisen.72 Der Mitarbeiter der Rechtsabteilung des polnischen Außenministeriums, Stefan Bratkowski, der sich mehrfach als Gutachter zur Optantenproblematik äußerte, machte in einer Stellungnahme vom 28. April darauf aufmerksam, daß es schwierig wäre, alle Deutschen aus Polen zu vertreiben, daß Polen als Nachbar Deutschlands immer Deutsche auf seinem Territorium gehabt habe und haben würde – so wie in Deutschland stets polnische Bevölkerungsteile gelebt hätten –, und daß es daher ganz natürlich sei, daß die Konzentration der Deutschen in den Westgebieten höher sei als in den übrigen Teilen Polens.73 Die Ergebnislosigkeit der deutsch-polnischen Verhandlungen in Dresden waren Anfang Juli 1923 Gegenstand von Beratungen im Völkerbund, da Polen und Deutschland zur Klärung der Auslegung des Artikels 4 des Minderheitenschutzvertrages über das Ausmaß der Verleihung der polnischen Staatsbürgerschaft zu Absprachen auf bilateraler Ebene verpflichtet worden waren. Wenige Tage nach Abbruch der Beratungen intervenierte der deutsche Gesandte in Genf beim Generalsekretär des Völkerbundes, schilderte die Aussichtslosigkeit der Verhandlungen und verband dies mit einer Schuldzuweisung an Polen.74 Auf sein Drängen hin sowie mit Unterstützung von Hjalmar Branting und Lord Robert Cecil gab der Völkerbund die Frage der Auslegung des Artikels 4 am 11. Juli zur Begutachtung an den Gerichtshof im Haag weiter und entzog diesen Gegenstand damit praktisch der bilateralen Ebene. Am 10. September fällte der Ständige Gerichtshof das lang erwartete Urteil zur Kolonistenfrage und am 15. das zur Auslegung des Artikels 4. Der Richterspruch erkannte die Zuständigkeit des Völkerbundes in diesen Fragen, die von Polen im Dezember 1922 bestritten worden war, an und erklärte letztlich die polnischen Maßnahmen gegen die Kolonisten für ungültig. Hinsichtlich der Auslegung des Artikels 4 wurde die Geburt von auf dem Gebiet des späteren Polen ansässigen Eltern als ausreichend zur Verleihung der polnischen Staatsbürgerschaft angesehen. Zugleich wurde der von Polen verlangte Zeitraum der Ansässigkeit vom 1. Januar 1908 bis 10. Januar 1920 unberücksichtigt gelassen, damit also der deutsche Standpunkt sanktioniert. Am 27. September akzeptierte der Völkerbundsrat dieses Urteil,75 zusammen mit einer von Lord Cecil am 18. September eingebrachten Note, welche die 72

AAN, MSZ, Ambasada Berlin, sygn. 1224, Bl. 74. AAN, MSZ, Ambasada Berlin (wie Anm. 73), sygn. 1225, Bl. 2 ff. 74 Niederschrift Olszowskis vom 27. Dezember 1923. In: AAN, MSZ, Ambasada Berlin, sygn. 1226, Bl. 3. 75 Legationsrat Walter Poensgen an AA am 28. September. In: ADAP, Ser. A, Bd. VIII. Göttingen 1990, Dok. 168, S. 424 f.; Bemerkungen des MSZ zum Haager Urteil vom 23. Oktober. In: AAN, MSZ, Ambasada Berlin, sygn. 1225, Bl. 272. 73

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deutsche Interpretation von Artikel 3 des Minderheitenabkommens als bindend vorschlug.76 Es war damit jener Fall eingetreten, den Polen am meisten befürchtet und wovor Olszowski eindringlich gewarnt hatte – daß nämlich nach einem Scheitern der deutsch-polnischen Verhandlungen Kolonisten- und Staatsbürgerschaftsfrage vor den Ständigen Gerichtshof gekommen waren und ein für Polen ungünstiges Urteil gefällt wurde, dem es sich nur unter großen moralischen Verlusten widersetzen konnte. Olszowski hatte darauf aufmerksam gemacht, daß Polen letztlich verpflichtet sein werde, Entscheidungen des Völkerbundes zu achten, und zwar wegen der starken Abhängigkeit von diesem Gremium, und er sah jede Zuwiderhandlung als folgenschwer an. In den Bemerkungen zum Haager Urteil vom 13. Oktober wurde dann auch im polnischen Außenministerium festgestellt, daß dieses Urteil zwar nur den Charakter eines Gutachtens trage, daß aber aufgrund der Autorität des Haager Tribunals sich keine Institution der Welt dagegen stellen werde.77 Der Haager Gerichtsspruch und seine Übernahme durch den Völkerbund waren für Polen ein schwerer Schlag und riefen scharfe Reaktionen im Lande hervor. Auf deutscher Seite boten die getroffenen Entscheidungen Anlaß zu zunehmender Eile, um zu bindenden Übereinkünften über die Minderheiten zu kommen. Solche Übereinkünfte empfahlen sich auch als Konsequenz aus den von Polen forcierten Maßnahmen zur Ausführung der Bestimmungen des Versailler Vertrages, vor allem hinsichtlich der Kolonisten und der Liquidation. Es wurde immer deutlicher, daß ein weiteres Hinauszögern von vertraglichen Abschlüssen nur schaden konnte, denn die Praxis zeigte, daß selbst bei für Deutschland positiven Urteilen doch wertvolle Zeit verging und darüber hinaus Polen nicht gezwungen war, sich an die Festlegungen zu halten. Selbst wenn Polen sich beugte, so bedeutete das noch nicht, daß der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt werden mußte. Seitdem die deutsche Seite die Frage des Artikels 4 vor den Völkerbund gebracht hatte, ließ sie keinen Zweifel mehr daran, daß alle ihre Bemühungen darauf gerichtet waren, „die Gesamtheit der Staatsangehörigkeitsfragen … unter der Vermittlung des Völkerbundsrates in Genf zur Verhandlung zu bringen“.78 Darin bezog sie wie selbstverständlich die Optantenfrage mit ein, und zwar sowohl das Problem des Verbleibs von Optanten als auch die Frage der Anfechtung erfolgter Optionen. Deutschland sah diesen Anspruch gestützt durch die Entscheidung des Völkerbundes vom 27. September, die die Note Lord Cecils vom 18. September akzeptierte. Die angestrebten praktischen Ergebnisse im Sinne von vertraglichen Regelungen hatte somit das Jahr 1923 nicht gebracht, und der nun fixierte Ausgangspunkt war gleichfalls nicht neu. Die gefällten Urteile und Beschlüsse auf internationaler Ebene enthielten jedoch Festlegungen, die 76

Bericht Olszowskis vom 16. November. In: AAN, MSZ, Ambasada Berlin, sygn. 1490, Bl. 74. 77 Ebd., sygn. 1225, Bl. 272. 78 Schreiben des AA an die Gesandtschaft Warschau vom 8. Januar 1924. In: BA, Abt. Potsdam, Deutsche Stiftung, Nr. 153, Bl. 106.

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alle beteiligten Seiten stärker, als es bisher der Fall gewesen war, in die Pflicht nahmen und Entscheidungen zu den vorliegenden Streitfällen in einem kontrollierbaren und absehbaren Zeitraum einforderten. Am Vorabend der Völkerbundssitzung vom 14. März 1924, deren Tagesordnung auch die deutsch-polnischen Verhandlungen umfaßte, zeigten sich in den Verhandlungsorten Genf und Warschau wesentlich die gleichen Ergebnisse: keine Einigung in Sachfragen bei prinzipieller Anerkennung eines Schiedsverfahrens. Zwar hatte Polen mit Unterstützung des Leiters des Minderheitensekretariats beim Völkerbund, des Norwegers Eric Colban, durch die Schiedsgerichtsvariante eine Art Sicherung gegen das Haager Gericht eingebaut, sah sich aber insgesamt in einer schwierigen Situation. Immerhin war in den Genfer Verhandlungen deutlich geworden, daß der dafür abgestellte Völkerbundsvertreter, der Brasilianer Luis de Souza Dantas, offen den deutschen Standpunkt vertrat und um den britischen Vertreter Lord Parmoor, unterstützt von Branting, ohnehin eine feste deutsche Lobby existierte. Die deutsche Konzeption abzuwenden, sowohl Staatsbürgerschafts- als auch Optantenfragen vor den Haager Gerichtshof zu bringen, konnte nur gelingen, wenn der französische und der tschechoslowakische Vertreter, Hanoteaux und Benesˇ, sich für Polen einsetzten. Nach reichlichem Zögern kam es in letzter Minute zu einer Verständigung. Es ist anzunehmen, daß entscheidenden Einfluß darauf die Erklärung des polnischen Vertreters Kozminski in der Sitzung des Völkerbundsrates hatte, worin er versicherte, daß die polnische Regierung in der Zeit der Verhandlungen keinerlei Maßnahmen durchführen werde, die Personen schädigen könnten, die vom Ergebnis der Verhandlungen betroffen sein würden.79 Die verabschiedete Völkerbundsresolution sprach sich dann auch für ein Schiedsverfahren aus und beauftragte den Vorsitzenden des Gemischten deutsch-polnischen Schiedsgerichts für Oberschlesien, den belgischen Juristen Georges Kaeckenbeeck, mit der Wahrnehmung der Schiedsfunktion. Sämtliche Vermittlungsversuche Kaeckenbeecks schlugen indes fehl, und nach dem gesetzten Termin vom 31. Mai bereitete er einen Schiedsspruch vor, den er am 10. Juli fällte.80 Kaeckenbeeck regelte damit prinzipiell alle wesentlichen noch offenen Fragen, die das Verbleiben von Deutschen in Polen zum Gegenstand hatten. Das ebenfalls im Mittelpunkt des Interesses stehende Problem der Kolonisten hatte dadurch, daß Polen nicht verpflichtet war, sie wieder anzusiedeln, an Brisanz verloren und sich auf die Entschädigungsfrage reduziert. Hierzu war mit dem Sekretariatsbeschluß des Völkerbundes vom 14. März eine Dreierkommission unter der Leitung von Lord Phillmore eingesetzt worden, die diese Frage in Warschau verhandelte. Ende Mai einigten sich polnische Regierung und Dreierkommission auf eine einmalige Abfindung in Höhe von 200 Pfund Sterling.81 Am 17. Juni faßte der 79

BA, Abt. Potsdam (wie Anm. 78), AA, Nr. 63995, Bl. 16. ADAP, Ser. A, Bd. X, Göttingen 1992, Dok. 196, S. 490 f.; Wochenberichte des AA über Fragen der auswärtigen Politik vom 12. Juli. In: BA, Abt. Potsdam, Präsidialkanzlei, Nr. 738/1, Bl. 14 f. 81 Informationsüberblick des polnischen Außenministeriums vom Juni 1924. In: AAN, MSZ, Department polityczno-ekonomiczne, Nr. 1487, Bl. 21 f. 80

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Völkerbundsrat eine entsprechende Resolution über die Entschädigung der Ansiedler, die zum Zeitpunkt der Annullation polnische Staatsbürger waren. Als Vertrauensmann der polnischen Regierung zur Ausführung des Beschlusses wurde das Mitglied der deutschen Fraktion des Sejm, Senator Erwin Hasbach, ernannt. Auch der Streit um die Liquidation war in den Hintergrund getreten und in den Verhandlungen ausgesetzt worden. Eine forcierte Liquidation deutscher Güter, wie Polen sie ab Oktober 1923 in Angriff zu nehmen versucht hatte, war ohnehin nicht realisiert worden, da dem Fiskus die nötigen Mittel fehlten und die polnischen Behörden hier weit hinter ihren eigentlichen Vorhaben zurückblieben.82 Kaeckenbeecks Urteil anerkannte in der Staatsbürgerschaftsfrage den deutschen Standpunkt, entschied jedoch in der Optantenfrage für den Artikel 4 des Minderheitenschutzabkommens, der bestimmte, daß die Optanten, die für das Mutterland votiert hatten, dort auch Wohnsitz nehmen mußten83 und übernahm damit die polnische Argumentation. Für beide Entscheidungen gab es rein rechtlich gesehen genug Argumente, die ein Für und Wider zuließen, und auch bei näherem Hinschauen ist eine rein rationale Begründung nicht zu finden außer daß ein wirklicher Ausgleich hergestellt werden sollte und Kaeckenbeeck bemüht war, einen Kompromiß zu finden, der nach jahrelanger Verschleppung geeignet war, eine für beide Seiten akzeptable Lösung zu finden. Die polnische Regierung war dann auch leidlich zufrieden, weil sie mit der Möglichkeit der Abschiebung der deutschen Optanten an sichtbarer Stelle Rechte aus dem Versailler Vertrag und dem Minderheitenschutzvertrag wahrnehmen konnte und sich damit dem wachsenden Druck rechter Kräfte zu entziehen vermochte. Bereits im Januar hatte der Westmarkenverein von der Regierung eine „massenweise Ausweisung der deutschen Staatsbürger und Optanten“ gefordert,84 und am 16. Juli begab sich erneut eine Delegation verschiedener rechtsbürgerlicher Parteien zum Premierminister Władysław Grabski und beklagte sich dort über die unzureichende Ausführung der Bestimmungen des Versailler Vertrages.85 Die deutsche Seite hingegen dürfte vom Schiedsspruch einigermaßen enttäuscht gewesen sein und hatte sich vor allem von der Person Kaeckenbeecks mehr versprochen.86 Nach außen hin zeigte sie sich jedoch befriedigt darüber, daß „in Einzelheiten doch allerhand erreicht worden“ sei.87 82 Bericht des Generalkonsulats Posen an das AA vom 9. Oktober 1923. In: BA, Abt. Potsdam, AA, Nr. 65089, Bl. 7. Einen weiteren vergeblichen Anlauf gab es im Frühjahr 1924 (Bericht des Generalkonsulats vom 29. April 1924, ebd., Nr. 63995, Bl. 43). 83 Bericht der Sächsischen Gesandtschaft an das Ministerium in Dresden vom 19. Juli 1924. In: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (SHSA), Gesandtschaft Berlin, Nr. 341, np.; vgl. auch das Telegramm des Staatssekretärs im Ministerium des Innern und Bevollmächtigten für die deutsch-polnischen Verhandlungen Theodor Lewald an den Staatssekretär des AA Ago Graf von Maltzan vom 10. Juli. In: PA Bonn, Pol. Abt. IV Po, Politik 2 A, Bd. 18. Bl. 221. 84 Abschrift aus dem Dziennik Bydgoski vom 29. Januar 1924. In: BA, Abt. Potsdam, Deutsche Stiftung, Nr. 153, Bl. 56 f. 85 Kurjer Warszawski, 17. Juli 1924. 86 Lewald berichtete am 17. Dezember 1924 vor dem Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten über die Verhandlungen und bemerkte zur Person Kaeckenbeecks, daß „man …

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Weder Deutschland noch Polen hatten nach dem Schiedsspruch ein Interesse daran, als destruktiver Faktor in der Weltpolitik zu erscheinen, und waren in den eingeleiteten Verhandlungen in Wien darum bemüht, zu einem schnellen, konfliktlosen Abschluß zu kommen. Dieser wurde am 30. August 1924 in Form des Wiener Abkommens über Staatsbürgerschafts- und Optionsfragen erreicht. Eine der deutschen Seite passende Auslegung der Staatsbürgerschaftsfrage – d. h. die Erweiterung des Kreises der Deutschen, die die polnische Staatsbürgerschaft für sich beanspruchen konnten – wurde insofern getroffen, als ein zweiter Wohnsitz der zwischen 1908 und 1920 in dem Polen zuerkannten Gebiet wohnhaften Personen sowie eine Unterbrechung des Wohnsitzes zugelassen wurden. Personen, die in diesen Gebieten geboren worden waren, hatten ebenfalls ein Recht auf die polnische Staatsbürgerschaft, wenn sie sich am 10. Januar 1920 dort aufhielten oder vor dem 10. Juli 1924 dorthin zurückgekehrt waren bzw. nachweislich Schritte zum Erwerb der polnischen Staatsbürgerschaft unternommen hatten.88 Die Optanten mußten entsprechend ihrer Bindung an Grund und Boden und ihrer Siedlungslage Polen in drei Phasen zwischen dem 1. August 1925 und dem 1. Juli 1926 verlassen,89 wobei die Optionserklärungen unter bestimmten Bedingungen anfechtbar waren. Die getroffenen Vereinbarungen wurden noch dadurch aufgewertet, daß sie in einen Zeitraum fielen, in dem mit dem Jahr 1924 die Minderheitenfrage allgemein stärker in das internationale Interesse rückte. Die Behandlung der nationalen Minderheiten war zwar von vorneherein ein zentrales Problem der europäischen Nachkriegsordnung, wurde aber durch Fragen der Grenzregelung und der Entschädigung sowie durch die innenpolitischen Nachkriegswirren zunächst in den Hintergrund gedrängt. An der innerhalb wie außerhalb des Völkerbundes wachsenden Hinwendung zur Minderheitenfrage waren das „Wachhalten der Minderheitenprobleme“ durch die Klagen der deutschen Minderheit in Polen, insbesondere im Abtretungsgebiet, und die Tätigkeit deutscher Rechtsgelehrter im internationalen Völker- und Minderheitenrecht stark beteiligt.

ursprünglich zu Capenbeck [in der Quelle fälschlich so bezeichnet – R. S.] großes Vertrauen gehabt [habe], doch sei dieses mehr und mehr erschüttert worden“. Auch habe er ”weniger einen juristischen als einen politischen Schiedsspruch gefällt [und] sich vor allem allzusehr von der polnischen Erklärung einschüchtern lassen, daß Polen den Vertrag nicht ratifizieren werde, wenn seinem Standpunkt in der Optionsfrage nicht Rechnung getragen werde” (SHSA, Gesandtschaft Berlin, Nr. 341, np.). Noch während der Verhandlungen in Wien hatte Legationsrat Paul Roth als Mitglied der deutschen Delegation bei den deutsch-polnischen Verhandlungen am 17. Mai berichtet, „daß Kaeckenbeeck sowohl in seiner persönlichen Gesinnung als auch in rechtlicher Hinsicht der deutschen Seite günstiger gegenübersteht als der polnischen“ (ADAP, Ser. A, Bd. X, Dok. 87, S. 217). 87 SHSA, Gesandtschaft Berlin, Nr. 341, np. 88 Wochenbericht des Referats IV Polen des AA vom 1. bis 7. September 1924. In: BA, Abt. Potsdam, AA, Nr. 65514, Bl. 276 f. 89 Schreiben des RMdI an die außerpreußischen Landesregierungen vom 13. Oktober 1924, ebd., RMdI, Nr. 8319, Bl. 5 f.

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Auch in Polen war seit Beginn des Jahres 1924 die Minderheitenfrage zum Gegenstand breiter öffentlicher Debatten gemacht worden, und Rauscher wußte zu berichten, „daß weite polnische Kreise theoretisch die Bedeutung des Minderheitenproblems für Polens Außenpolitik anerkannt haben“.90 Im Zuge dieser verstärkten Diskussion entfaltete Polen zunehmend Aktivitäten, um aus dem seit jeher als Belastung empfundenen Minderheitenschutzvertrag entlassen zu werden, ihn aufzulösen oder in irgendeiner Form unwirksam zu machen. Eine Variante hierzu war, Deutschlands Eintritt in den Völkerbund von der Unterzeichnung des Minderheitenschutzvertrages abhängig zu machen.91 Diese Frage behandelte Polen mit höchster Priorität, denn das polnische Außenministerium ging davon aus, daß der Eintritt Deutschlands in den Völkerbund und der damit wahrscheinlich verbundene Sitz im Völkerbundsrat dazu genutzt werden würde, die Angriffe gegen die polnische Minderheitenpolitik noch zu verstärken, die deutsche Minderheit in Polen weiter zu sichern und auszubauen und auf dieser Grundlage die Forderung nach Revision der Grenze unmittelbar zu stellen. Da die polnische Regierung sich durch ihre Politik vor allem gegenüber der ukrainische und der jüdischen Minderheit vielfach in Mißkredit gebracht hatte und die deutsche Minderheit kaum eine Gelegenheit ungenutzt ließ, um den Finger in diese Wunde zu legen,92 war die Position des Angeklagten bei der Infragestellung des Minderheitenschutzvertrages eine denkbar schlechte Ausgangsbasis, und Polen mußte hierbei sehr vorsichtig zu Werke gehen. Die polnische Seite vermied deshalb auch jeden frontalen Angriff. Sie beschränkte sich vielmehr darauf, die anderen durch den Minderheitenvertrag verpflichteten Länder als Verbündete zu gewinnen und beim Völkerbund die Änderung der Verfahrensweisen bei Minderheitenklagen zu erreichen. So schlug man Colban im Januar 1925 von polnischer Seite vor, die Minderheitenklagen auf der Grundlage des Minderheitenschutzvertrages auf gerichtlichem Wege zu regeln und nicht durch politische Entscheidungen, wie dies vom Völkerbund gehandhabt wurde.93 Die zur Ausführung anstehende Optantenregelung bot durchaus noch Möglichkeiten, auf Verbleib und Besitz Deutscher in Polen Einfluß zu nehmen bzw. sie international als Minderheitenstreitfall behandeln zu lassen. Es standen drei Mög90

Rauscher an AA am 22. Mai. In: ADAP, Ser. A, Bd. X, Dok. 98, S. 245. Bastiaan Schot: Die Bedeutung Locarnos für die Minderheitenfragen. In: Locarno und Osteuropa. Fragen eines europäischen Sicherheitssystems in den 20er Jahren, hrsg. von Ralph Schattkowsky, Marburg 1994, S. 163 – 182, hier S. 168 f.; Paweł Korzec: Polen und der Minderheitenschutzvertrag (1919 – 1934). In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 22, (1974), S. 515 – 555, hier S. 528; vgl. auch die Niederschrift Olszowskis über Fragen der nationalen Minderheiten in Polen vom 18. Februar 1924. In: AAN, MSZ, Ambasada Berlin, sygn. 3870, Bl. 266 ff.; Aide-mmoire des polnischen Außenministeriums vom März 1924, ebd., sygn. 1353, Bl. 33 ff. 92 Rauscher schrieb am 22. Mai in einem Bericht über die polnische Minderheitenpolitik, „daß das schlechte Renomme Polens beim Völkerbund nicht auf ukrainische oder weißrussische Arbeit zurückzuführen, sondern der unermüdlichen Tätigkeit der Deutschtumsführer zu verdanken sei“ (ADAP, Ser. A, Bd. X, Dok. 98, S. 246). 93 AAN, MSZ, Delegacja RP przy Ligi Narodw, sygn. 222, Bl. 21 ff. 91

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lichkeiten zur Verfügung, den deutschen Optanten trotz international anerkannter vertraglicher Regelungen ein Verbleiben in Polen zu ermöglichen: man konnte – erstens – mit Polen weiter verhandeln, um die Festlegungen aufzuweichen oder ganz aufzuheben; mit der Ausnutzung der Anfechtungsklauseln war es – zweitens – möglich, die Zahl der Optanten zu reduzieren; schließlich konnte man – drittens – versuchen, international Druck auf Polen auszuüben, um von der Ausweisung Abstand zu nehmen. Letztere Möglichkeit war allerdings erst dann anwendbar, wenn Ausweisungen im Zusammenhang mit dem Wiener Abkommen erfolgten. Was die Anfechtung der Optionen anging, so hatte Generalkonsul Henting aus Posen schon Anfang Januar 1925 einen positiven Bericht gegeben.94 Auch sollte die deutsche Gesandtschaft in Warschau noch vor dem 1. Januar 1925, nach dem die Aufforderungen zum Verlassen des Landes ergehen konnten, prüfen, „ob eine Möglichkeit besteht, zu einer Vereinbarung über einen teilweisen oder gänzlichen Verzicht auf die Durchführung des Abwanderungszwanges zu gelangen“. Dabei sollten „gewisse Zugeständnisse“ in Aussicht gestellt, aber auch Drohungen formuliert werden, die 125.000 polnischen Wanderarbeiter in Deutschland zwecks Beschaffung von Wohnraum für die zurückkehrenden deutschen Optanten auszuweisen.95 Die zuständigen Stellen im Reich kalkulierten polnische Zwangsausweisungen fest ein und hofften, schon die erste Welle von etwa 15.000 deutschen Optanten, die bis zum 1. August Polen verlassen mußten, verhindern zu können, denn die Ausweisungsbescheide an die etwa 15.000 polnischen Optanten in Deutschland sollten erst als Reaktion auf entsprechende polnische Maßnahmen verschickt werden. Als dies dann Anfang Februar geschah, reagierte die deutsche Seite prompt.96 Mitte März wurden zwar neue Verhandlungen mit der polnischen Regierung über einen Verzicht auf die Abwanderungspflicht in Aussicht gestellt, doch wurden solchen Verhandlungen von vorneherein wenig Erfolgschancen zugemessen. Das Ergebnis bestand Ende Juni lediglich in einer Übereinkunft, wonach beide Staaten auf die Abwanderungspflicht der Konsularangestellten verzichteten und Aufenthaltsverlängerungen aus Humanitätsgründen gewährten. Wenige Wochen nach Ausbruch des Wirtschaftskrieges zwischen Deutschland und Polen im Juni 1925 verschärften sich die deutsch-polnischen Beziehungen durch die Zuspitzung der Optantenfrage erneut. Noch bevor durch den Ablauf der Abzugsfrist am 1. August die Frage nach der Zwangsausweisung gestellt wurde, er94

BA, Abt. Potsdam, AA Film, Nr. 17681, Bl. L 180172. Ebd., AA Film, Nr. 17681, Bl. L 180131 f. Die Drohung, die polnischen Wanderarbeiter auszuweisen, wurde auch in der Presse veröffentlicht (Schlesische Tagespost, 30. Dezember 1925). 96 Mit Schreiben des AA an das RMdI vom 14. Februar wurde angeregt, in Reaktion auf die Verschickung der Abwanderungsaufforderungen in Polen auch im Reich damit zu beginnen (BA, Abt. Potsdam, RMdI, Nr. 8319, Bl. 106). Entsprechende Anweisungen des RMdI erfolgten wenige Tage später (ebd., Bl. 108), und am 16. März konnte Stresemann feststellen, daß ausnahmslos allen polnischen Optanten im Reich die Aufforderung zur Abwanderung zugegangen sei (ebd., Bl. 151 f.). 95

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schien im Stresemannschen Sprachrohr, dem Hamburger Fremdenblatt, ein Grundsatzartikel zu dieser Frage, der die Überschrift „Der Optantenkrieg“ trug und einen solchen als gegeben ansah.97 Diese Formulierung spielte offensichtlich auf das internationale Klima im Vorfeld der Konferenz von Locarno an, wo in einer Atmosphäre der Diskussion über Sicherheit und über eine europäische Friedensordnung der Begriff „Krieg“ ein besonderes Reizwort darstellen mußte und jedes Land, das damit in Verbindung gebracht werden konnte, von vorneherein ins politische Abseits gestellt war. Zwar hatte die polnische Regierung noch keine Ausweisungsmaßnahmen praktiziert, aber Stresemann wandte sich in seiner Rede vor dem Reichstag am 6. August 192598 prinzipiell gegen die Abwanderungspflicht und die diesbezügliche Haltung des polnischen Staates überhaupt. Er bediente sich bei seinen Vorwürfen gegenüber Polen einer Schärfe, wie sie seit der Zeit der schlesischen Aufstände nicht vorgekommen war. Polen trage die alleinige Schuld am Scheitern der Handelsvertragsverhandlungen, was „zu einem Kampfzustand“ geführt habe. Er bezichtigte den Nachbarn – infolge des Abwanderungszwangs für Optanten – „politischer Gewaltmaßnahmen“ gegen Deutschland, die der international anerkannten „Notwendigkeit der Befriedung“ Europas entgegenstünden. Stresemann machte die Optantenfrage zum Kriterium für die deutsch-polnischen Beziehungen schlechthin, und sie wurde zu einem wesentlichen Element der Revisionspolitik Stresemannscher Prägung weit über die deutsch-polnischen Beziehungen hinaus, um auf dem Hintergrund der Locarnopolitik als Beweis für eine wortbrüchige und aggressive polnische Politik und schließlich für die Untragbarkeit der Bestimmungen von Versailles zu dienen. Es sollte so die Notwendigkeit belegt werden, „daß nunmehr die Zeit gekommen sei, bei der Revision der Bestimmungen des Versailler Vertrages entscheidende Schritte zu gehen“. Die rechtliche Argumentation von polnischer Seite – auch in Reaktion auf die Rede Stresemanns und auf eine im gleichen Geiste am 10. August an die polnische Regierung gesandte Note – wurde weitergeführt, erwies sich in der Praxis aber nahezu als wirkungslos. Die polnische Analyse des deutschen Vorgehens war nüchtern und zeigte die Gefahr der politischen Isolierung auf, offenbarte jedoch auch die ganze Hilflosigkeit der eigenen Position.99 Es wurde sehr wohl gesehen, daß die deutsche Taktik darauf hinauslief, das gesamte Vertragswerk zur Optantenfrage zu annullieren und Polen als friedensstörenden Faktor hinzustellen, was „eine große Gefahr für die Sicherheit Polens“ bedeutete. Letztlich blieb der polnischen Seite aber nichts weiter übrig, als die deutsche Haltung „als einfach unmoralisch“ zu verurteilen und ihre Defensivposition durch die Aussetzung jeglicher Maßnahmen gegen die noch im Lande verbliebenen

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Hamburger Fremdenblatt, 20. Juli 1925. Gustav Stresemann: Vermächtnis, Bd. 2. Berlin 1933, S. 545 f. 99 Schreiben der polnischen Botschaft in Berlin an das polnische Außenministerium vom 11. August. In: AAN, MSZ, Ambasada Berlin, sygn. 3537, Bl. 60 ff. 98

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deutschen Optanten zu unterstreichen.100 Dennoch blieben auch danach Ausweisungen und Übergriffe polnischer Behörden nicht aus und heizten die antipolnische Stimmung weiter an. Britische diplomatische Kreise und auch der französische Außenminister Aristide Briand hatten gegenüber dem deutschen Botschafter in Paris ihr Mißfallen über die polnische Haltung in der Optantenfrage zum Ausdruck gebracht,101 und Ago Graf von Maltzan konnte am 20. August aus Washington melden, daß die dortige öffentliche Meinung den deutschen Standpunkt vertrete.102 Dieses Entgegenkommen der Westmächte bestärkte die deutsche Außenpolitik in ihrem Bemühen, die Verhinderung von Ausweisungen ebenso durchzusetzen wie den Abzugszwang für die zweite bzw. dritte Kategorie der Optanten zum 1. November 1925 (500 Familien mit insgesamt 1.800 Personen) bzw. zum 2. Juli 1926 (1.500 Familien mit ca. 4.500 Personen). Durch die deutsche Politik wurde nunmehr das Optantenproblem erst recht zu einem Gradmesser „friedvollen Handelns“ gemacht, was die Position dieser doch in internationaler Hinsicht eher marginalen Frage in der gegebenen politischen Situation nochmals unterstreicht. Es vergingen auch nur Stunden nach der Unterzeichnung des Vertrages von Locarno, bis Austen Chamberlain Gelegenheit nahm, den polnischen Außenminister Aleksander Skrzynski in bestimmender Weise auf die Notwendigkeit der Einstellung der Optantenausweisung aufmerksam zu machen.103 Entsprechend reagierte auch Olszowski aus Berlin am 18. Oktober104 mit der Feststellung, daß es angesichts der Vertragsunterzeichnung von Locarno wichtig sei, „unsere Politik gegenüber Deutschland zu überdenken und neue Grundsätze festzulegen“. An die erste Stelle setzte er dabei die Optantenfrage und hielt im Interesse einer positiven Gestaltung der Beziehungen zu Deutschland, aber auch zu Frankreich und Großbritannien, „schließlich auch hinsichtlich der öffentlichen Meinung“ eine Durchführung der Wiener Konvention, d. h. eine Ausweisung der deutschen Optanten zum 1. November, für „im Augenblick … absolut ausgeschlossen“. Wenn er dann noch davon sprach, daß man trotzdem „keinesfalls von einer Resignation unserer Seite gegenüber unserem Recht … reden sollte“, so war dies, wie auch die Stellungnahme Skrzynskis vor dem Sejm, in der er auf Prinzipien und vertragliche Regelungen pochte, reine Staffage. Es ist als sicher anzunehmen, daß sich in Warschau in der Optantenfrage eine für die deutschen Forderungen positive Meinung gebildet hatte, als Olszowski am 100

Schreiben des Ministerialdirektors im PMdI Edgar Georg Loehrs an den Reichsaußenminister vom 15. August. In: BA, Abt. Potsdam, AA Film, Nr. 17683, Bl. L 181632 und die Meldungen des AA vom 17., 18., und 19. August, ebd., RMdI, Nr. 8319, Bl. 411 ff., 475. 101 Harald von Riekhoff: German-polish relations 1918 – 1933. Baltimore/London 1971, S. 65. 102 BA, Abt. Potsdam, AA Film, Nr. 17683, Bl. L 181910. 103 Schreiben Chamberlains an den Unterstaatssekretär im britischen Außenministerium Sir William George Tyrell vom 17. Oktober 1925. In: DBFP, Series I A, Bd. I, London 1966, Nr. 6, S. 21 ff. 104 AAN, MSZ, Ambasada Berlin, sygn. 786, Bl. 140 ff.

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22. Oktober von Stresemann darauf aufmerksam gemacht wurde, „daß es die öffentliche Meinung in allen Ländern nicht verstehen würde, wenn Polen nach Locarno Optanten ausweise“. Von einer gefestigten Position aus verlangte Stresemann von vornACHTUNGREherein den völligen Verzicht auf eine Ausweisung und machte deutlich, daß ein Aufschub allein „wertlos sei“.105 Schon am nächsten Tag teilte Skrzynski Rauscher mit, Polen sei bereit, das Optantengespräch „im neuen Geiste wieder aufzunehmen [und dem] oft geäußerten deutschen Wunsche zu entsprechen und auf [das] Recht zu verzichten, am 1. November die Ausweisung der Optanten zu verfügen“.106 Die deutsche Seite reagierte ihrerseits mit der Aussetzung der Ausweisung polnischer Optanten und sah eine Verzichtserklärung als selbstverständlich an.107 Rauscher brachte es auf den Punkt, wenn er dazu bemerkte, daß „die ersten Locarneser Früchte auf meinem polnischen Baum gereift sind“.108 Unter der Hand beeilten sich die entsprechenden polnischen Stellen, darauf hinzuweisen, die Verzichtserklärung sei unbedingt als definitiv anzusehen, andersartige Verlautbarungen lägen in innenpolitischen Schwierigkeiten begründet.109 Für die nunmehr getroffene Optantenregelung stand schließlich Chamberlain im Wort, der Ende Oktober verbreiten ließ, er habe diese Lösung erreicht.110 Die positive Aufnahme der polnischen Haltung durch Großbritannien und Frankreich machte eine Rücknahme der Zugeständnisse zusätzlich unmöglich. Nach diesem Erfolg war Deutschland versucht, im politischen Windschatten von Locarno auch die Liquidationsfrage im deutschen Sinne zu klären, um damit die letzte große Bastion des polnischen Zugriffs auf die deutsche Minderheit in ihrer materiellen Grundlage zu stürmen. Die Verhandlungen begannen am 23. November 1925, und die deutsche Delegation verlangte die sofortige Einstellung der Liquidation ohne vertragliche Gegenleistungen, späterhin dann den völligen Verzicht auf die aus dem Artikel 297 des Versailler Vertrages stammenden Rechte auf deutschen Besitz. Rauscher betonte gegenüber Skrzynski Ende November, daß „die Fortsetzung der Liquidation mit [dem] Geist von Locarno unvereinbar [sei] und [die] weitere Entspannung der deutsch-polnischen Beziehungen immer wieder stört“.111 Die Verhandlungen erreichten im März 1926 einen toten Punkt. Zu einer Regelung zum Vorteil der deutschen Seite kam es erst im Zuge des Youngplanes mit dem Liquidationsabkommen vom 31. Oktober 1929.112 Die Fragen der Sicherung der 105

BA, Abt. Potsdam, AA Film, Nr. 17683, Bl. L 182228. Ebd., Nr. 4674, Bl. D 571926. 107 Lippelt: „Politische Sanierung“ (wie Anm. 14), S. 342. 108 Ebd., Anm. 67. 109 Bericht Rauschers vom 24. Oktober. In: BA, Abt. Potsdam, AA Film, Nr. 17683, Bl. L 182271. 110 Ebd., Bl. L 182265; SHSA, Gesandtschaft Berlin, Nr. 341 np. 111 BA, Abt. Potsdam, AA Film, Nr. 4674, Bl. D 571939. 112 Maria Oertel: Beiträge zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen in den Jahren 1925 – 1930, Diss. phil. Berlin 1968, S. 219 ff.; Czesław Łuczak: Die deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen in den Jahren 1918 – 1932. In: Die deutsch-polnischen Bezie106

Die europäische Minderheitenfrage nach dem Ersten Weltkrieg

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Deutschen waren zu diesem Zeitpunkt durch die Eindämmung der Abwanderung jedoch im wesentlichen entschieden, und die deutsche Minderheitenpolitk hatte sich über den deutsch-polnischen Rahmen hinaus auf den internationalen Minderheitenschutz konzentriert. Die Positionierung Deutschlands als Anwalt der Minderheiten, aber auch die Tätigkeit des Europäischen Nationalitätenkongresses113 ab 1925, nicht zuletzt jedoch der Austritt Polens aus dem Minderheitenschutzvertrag 1934 – all das schien die Auffassung vom tendenziellen Scheitern der Minderheitenpolitik zu bestätigen und die Sicht auf die multinationale Existenz ostmitteleuropäischer Nationalstaaten als genetischen Defekt, Geburtsfehler oder zumindest Handycap. Mögen nationale Positionen und die Haltung internationaler Gremien im einzelnen auch unterschiedlich gewesen sein – die Wahrnehmung der Minderheitenfrage als elementarer Störfaktor und Gefährdungspotential114 der nationalstaatlichen Ausgangslage war nahezu politisches Allgemeingut und zu einer destruktiven Selbstverständlichkeit geworden, mit großen Weiterungen für die europäische Politik im allgemeinen und für die Existenz nationaler Minderheiten in Ostmitteleuropa im besonderen.

hungen, S. 125 – 136, hier S. 130. Statistische Angaben finden sich bei Rhode: Das Deutschtum (wie Anm. 38), S. 106; Krasuski: Stosunki (wie Anm. 20), S. 282; ders., Mie˛dzy wojnami [Zwischen den Kriegen], Warszawa 1985, S. 56 f. 113 Sabine Bamberger-Stemmann: Der Europäische Nationalitätenkongreß 1925 bis 1938. Nationale Minderheiten zwischen Lobbyistentum und Großmachtinteressen. Marburg 2000. 114 Hans Lemberg: Das östliche Europa 1919. In: Das Jahr 1919 in der Tschechoslowakei und Ostmitteleuropa, hrsg. von Hans Lemberg und Peter Heumos. München 1993, S. 33 – 50, hier S. 40 ff.

Böhmischer Adel und nationale Frage nach 1918 Von Jiri Georgiev (Prag) Es läßt sich nicht bezweifeln, daß die einzelnen Aspekte des hier zu behandelnden Themas in der tschechischen Fachliteratur der letzten Jahrzehnte in Teilen intensiv diskutiert worden sind. Gleichwohl gibt es bisher keine Monographie, die aus divergierenden Forschungsansätzen ein komplexes Bild der Stellung des böhmischen Adels nach dem Zerfall der Donaumonarchie herausgearbeitet hat.1 In der Zeit der kommunistischen Diktatur waren die Schicksale des böhmischen Adels in der sogenannten ersten Tschechoslowakischen Republik im Rahmen der wissenschaftlichen Beiträge zur Erforschung der Bodenreform (M. Othal, A. Kubacˇk) mehrfach Gegenstand der Erörterung, allerdings auf dem Boden der marxistischen Phraseologie. Auch die nichtoffizielle Geschichtswissenschaft hat sich damals mit den damit zusammenhängenden Fragen beschäftigt. Der Historiker Jirˇ Dolezˇal hat eine Abhandlung zum Adel in der CˇSR verfasst, die nicht publiziert werden konnte – ein wesentlicher Bestandteil dieses Aufsatzes wurde der Öffentlichkeit erst im Jahre 1986 durch die Exilzeitschrift Sveˇdectv vermittelt.2 Dem deutschen Leser stand zu jener Zeit vor allem ein Aufsatz von Oswald Kostrba-Skalicky zur Verfügung.3 Nach dem Fall des Kommunismus wurden Abhandlungen zum Adel in der Tschechoslowakischen Republik von Milan Buben, Zdeneˇk Krnk und Frantisˇek Svtek publiziert. Letzterer hat das Thema im Zusammenhang mit der Elitenforschung behandelt4 und damit eine neue Dimension eröffnet, die dann von Eagle Glassheim in seinem frisch und souverän geschriebenen Werk konsequent realisiert wurde. Im Unterschied zu den Werken von David Cannadine über den englischen Adel5 oder Stephan Malinowski über den preußisch-deutschen Adel im 20. Jahr1 Symptomatisch für die Periode der „Götterdämmerung“ ist das Buch von Rudolf Bacˇkovsky´ : By´val cˇesk sˇlechta, obwohl es sich natürlich nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung handelt. 2 Jirˇ Dolezˇal hat mit seinem Aufsatz (vahy o cˇesk sˇlechteˇ v cˇase Prvn republiky. In: Sveˇdectv 77/1986) den in Wien verbleibenden Prinzen Frantisˇek Schwarzenberg dazu bewogen, eine Antwort zu verfassen, in der sich Schwarzenberg auch mit der Frage der nationalen Zugehörigkeit des Adels beschäftigte. Sveˇdectv 79/1986. 3 Oswald Kostrba-Skalicky: Die Burg und der Adel, Tradition und Revolution. In: Die Burg. Einflußreiche politische Kräfte um Masaryk und Benesˇ. München/Wien 1974, S. 153 – 180. 4 Frantisˇek Svtek: K deˇjinm socilnch elit prvn Cˇeskoslovensk republiky. In: Soudob deˇjiny 2 – 3/1995, S. 169 – 200, hier S. 178 f. 5 David Cannadine: The Decline and Fall of the British Aristocracy. London 1996.

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hundert6 definiert Glassheim den Adel nach dem Jahre 1918 als eine sozial relativ fest abgeschlossene Gruppe, die zugleich als spezifischer Bestandteil der neuen republikanischen Eliten zu betrachten sei.7 Nicht Untergang und Verfall, wie bei Cannadine oder Malinowski, sondern Eingliederung in die neue Oberschicht, kennzeichneten daher die entsprechende Entwicklung in Böhmen. Ähnlich argumentieren auch Heinz Reif oder Peter Mandler im Blick auf die Rolle der Aristokratie in der bürgerlichen Gesellschaft.8 Für das Gesellschaftsleben und die Wirtschaftsordnung der CˇSR gilt gleichfalls die These von der Eingliederung des Adels in die neuen Eliten, wie sie Frantisˇek Svtek formuliert hat. Das traf auch deshalb zu, weil es eine dichte Konzentration des Grundbesitzes in Händen von einigen wenigen Adelsfamilien auch nach der Bodenreform gab, was – im Vergleich zu anderen mitteleuropäischen Ländern – durchaus bemerkenswert war, etwa zu Polen und Ungarn, wo der prozentuelle Anteil der Adeligen an der Bevölkerung wesentlich höher lag. Im politischen Bereich mag die „Eingliederungsthese“ problematischer erscheinen. Denn soziale Diskrepanzen und nationale Spannungen hatten einen tiefen Graben zwischen den Adeligen und der bürgerlichen Gesellschaft in den böhmischen Ländern geschaffen. Im Unterschied zu England, aber auch zu Polen und Ungarn, gab es hier keine verbindende Mittelschicht, keine gentry, und auch keine Einbringung des Adels als Reservoir der neuen Eliten. Den national bedingten Ursachen dieser Lage in Böhmen soll im folgenden nachgegangen werden. Es war eine im mitteleuropäischen Raum eher ungewöhnliche Lage, in die der böhmische Adel nach 1918 geriet. In anderen Nationalstaaten mußte sich der Adel gegenüber neuen sozialen Gewohnheiten der bürgerlichen Gesellschaft abgrenzen oder sich ihnen anpassen, in der Tschechoslowakei hingegen ging es um mehr. Im Unterschied zu Ungarn, Deutsch-Österreich oder Polen war dieser habsburgische Nachfolgestaat national gespalten. Er war gleichsam ein „Österreich-Ungarn“ im Kleinen. Besonders schwierig war unter diesen Umständen die Lage des böhmischen Adels. Diese soziale Schicht wurde in der Öffentlichkeit als Verbündeter der Habsburgerdynastie betrachtet, und deswegen war das Verhältnis zwischen der politischen Führung des neu gegründeten Staates und der Aristokratie gespannt. Eines 6 Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Deutscher Adel und Nationalsozialismus. Berlin 2003. 7 Diese Perspektive wurde übrigens schon am 25. Dezember 1925 in der Zeitung Bohemia angedeutet: „Auf diesem Wege wird sich die Verschmelzung des Adels mit dem Bürgerstande oder wenigstens eine enge Bindung ihrer Interessengemeinschaft ganz von selbst sehr bald vollzogen haben. Dagegen ist von einer Amalgamierung anderer Art, nämlich von dem Abschluß unstandesgemäßer Ehen […] nur äußerst selten die Rede. Die Hochfinanz findet hier nicht wie etwa in Frankreich bereitwillig geöffnete Türen.“ 8 Vgl. Einleitung von H. Reif in: Heinz Reif (Hrsg.): Adel und Bürgertum in Deutschland. I, Berlin 2000, S. 7 – 8. Weiterhin Peter Mandler: The Fall and Rise of the British Aristocracy. In: E. Conze/M. Wienfort (Hrsg.): Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2004, S. 41 – 58.

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der ersten Gesetze, die in der Tschechoslowakei verabschiedet wurden, hat die Adelstitel aufgehoben und ihre Nutzung bei Strafe verboten.9 Der Adel als Reservoir des militärischen und diplomatischen Dienstes und als Fundus für die kaiserlichen Regierungen war nun von der politischen Macht entfernt. Nach Nicholas von Preradovich waren im Jahre 1918 noch 56 % der österreichischen Diplomaten Adelige, im Verwaltungswesen waren es 57 %, in den höheren Dienststellen des Heeres 25 %.10 Diese hervorragende Stellung war über Nacht dahin. Auch das Herrenhaus des österreichischen Reichsrates und die Kurie des Großgrundbesitzes am böhmischen Landtag hatten keinen Platz mehr in der gesetzgebenden und politischen Vertretung des neuen Staates. Mit der Resignation des Prager Erzbischofs Paul Huyn im Jahre 1919 und des Erzbischofs von Olmütz Leo Skrbensky von Hrzistie im Jahre 1920 verließen Adelige auch Spitzenämter der Kirchenverwaltung. Die Neuordnung der politischen Landschaft sollte jedoch nicht der letzte Schritt sein. Die allgemein geteilte Forderung nach einer Bodenreform sollte auch die wirtschaftliche Basis des Adels schmälern und seine soziale Stellung auf dem Lande schwächen. Dieser Überzeugung waren sowohl die politischen Parteien der Linken, als auch die stärkste Partei der Rechten, die Agrarpartei (Republikanische Partei).11 Als Legitimierungsgrund galt die Forderung nach Wiedergutmachung der Schlacht am Weißen Berg. Dieser Mythos der Schlacht von 1620, nach der die böhmische Staatlichkeit angeblich verloren ging (Ernst Denis), hat die politische Diskussion und die tschechische Publizistik schon vor der Entstehung des tschechoslowakischen Staates beherrscht. Dazu gehörte auch die These, daß der alte, authentische böhmische Adel damals konfisziert und vertrieben wurde oder im Laufe des Dreißigjährigen Krieges ausgestorben sei, und daß sein Platz von fremden Adelsgeschlechtern aus dem deutschen Sprachraum besetzt worden war. Diese These war ein Produkt der herrschenden literarisch-historischen Betrachtung der böhmischen Geschichte, die das tschechische Volk als bäuerlich-bürgerliches Gefüge ohne Adel darstellte. In breiten Schichten der tschechischen Bevölkerung wurde dieses Vorurteil damals gehegt und von Schriftstellern wie Alois Jirsek und Historikern wie Josef Holecˇek12 popularisiert. Die Vorstellung von einem kaisertreuen österreichischen Adel, der dem Leben und der Sprache des tschechischen Volkes fern stand, lässt sich schon in der ersten Generation der tschechischen nationalen Wiedergeburt feststellen. Karl Hynek Thm bezichtigte in seiner Verteidigung der tschechischen 9

Ladislav Soukup: Zrusˇen sˇlechtictv v CˇSR. In: Prvneˇhistorick studie 17/1973, S. 101 –

112. 10 Hannes Stekl: Zwischen Machtverlust und Selbstbehauptung. Österreichs Hocharistokratie vom 18. bis ins 20. Jahrhundert. In: H.-U. Wehler (Hrsg.): Europäischer Adel, 1750 – 1950. Göttingen 1990, S. 144 – 165, hier S. 161. 11 Vlastislav Lacina: Vy´voj prˇedstav agrrn strany o fflpraveˇ pozemkov drzˇby do uzkoneˇn pozemkov reformy v roce 1919. In: Politick a stavovsk zemeˇdeˇlsk hnut ve 20. stolet. Studie Slovckho muzea 5/2000, S. 149 – 152. Auch Vladimr Dostl: Agrrn strana. Jej rozmach a znik. Brno 1998, S. 107 ff. 12 Besonders Josef Holecˇek: Cˇesk sˇlechta. Vy´klady cˇasov i historick. Praha 1918.

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Sprache aus dem Jahre 1783 den Adel der Vernachlässigung der Landessprache und der Schmähung des Vaterlandes. Jedoch haben sich schon damals in der Tschechoslowakischen Republik Stimmen erhoben, die einer solchen Simplifizierung entgegentraten. Es handelte sich nicht nur um das umfassende Werk „Nrodn museum a nasˇe znovuzrozen“ [Nationalmuseum und unsere Wiedergeburt], dessen beide Bände in den Jahren 1921 und 1923 durch den Historiker Josef Hanusˇ herausgegeben wurden. Er hat auf viele Zeugnisse des adeligen Engagements für den Aufbau der böhmischen kulturellen Einrichtungen und für vaterländische Projekte hingewiesen. Als direkte Polemik gegen die These von der notwendigen Wiedergutmachung für die Schmach des Weißen Berges verfasste auch Josef Pekarˇ seine Abhandlung „Omyly a nebezpecˇ pozemkov reformy“ [Irrungen und Gefahren der Bodenreform] aus dem Jahre 1923. Pekarˇ als führende Figur der tschechischen Geschichtswissenschaft hat darin nachgewiesen, wie stark sich der Bodenbesitz durch die Jahrhunderte hinweg gewandelt hat. Die Bodenreform konnte demgemäß mit den Konfiszierungen nach der Niederlage der protestantischen Stände im 17. Jahrhundert keinen ursächlichen Zusammenhang haben. Der nach dem Weißen Berg konfiszierte Boden gelangte zumeist in die Hände der altböhmischen katholischen Familien. Im Jahre 1772 gehörten 37 % des adeligen Bodens den altböhmischen Familien, 27 % den später hinzugekommenen Familien, 31 % den zwischen 1648 und 1750 angesiedelten Adelsgeschlechtern und 5 % ausländischen Fürsten.13 Zudem verwies Pekarˇ auf die Tatsache, daß der eigentliche „Verlierer“ von 1620 die germanisch-protestantische Kultur gewesen sei, während die romanisch-katholische Kultur den Sieg davontrug. Der neu ankommende Adel stammte vor allem aus den Alpenländern, aus Frankreich oder aus südeuropäischen Ländern, nicht aus deutschen protestantischen Gebieten. Als einzig verbindender Faktor für die neu formierte adelige Gemeinschaft galt nicht etwa die Sprache oder die Volkszugehörigkeit, sondern der katholische Glaube. Pekarˇ wies auf, inwieweit dieser neue Adel in wenigen Generationen mit dem Lande verschmolz. Der Landespatriotismus und das Interesse an der Geschichte des Landes gewannen besonders nach den zentralistischen Reformen des Aufgeklärten Absolutismus beim Adel an Gewicht.14 Dies stärkte das adelige Engagement für die Erhaltung des mit großer Zuneigung beobachteten „einfachen Lebens“ des tschechischen Volkes. Die Schriften von Leo Thun aus der Zeit des Vormärz sind hier beispielhaft.15 Der Name von Leo Thun erweckt unsere Aufmerksamkeit noch in einer anderen Hinsicht. Thun gehörte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den führenden Politikern der böhmischen adeligen Konservativen. Mit seinem Schwager Heinrich Jaroslaw Clam-Martinic, mit Karl III. zu Schwarzenberg, Georg Kristian Lobkowicz, 13

Josef Pekarˇ : Omyly a nebezpecˇ pozemkov reformy. Praha 1923, S. 12. Ebd., S. 13. 15 Vgl. Jirˇ Rak: By´vali Cˇechov. Cˇesk historick my´ty a stereotypy. Jinocˇany 1994, S. 73 ff. 14

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Robert Hildprandt und Egbert Belcredi führte er den Kampf um die Eigenständigkeit und staatsrechtliche Anerkennung der böhmischen Krone im Rahmen der habsburgischen Monarchie. Diese föderalistische Opposition gegenüber den deutschen zentralistischen Liberalen führte die Partei des konservativen Großgrundbesitzes nahe heran an die tschechischen Liberalen. Ein festes Bündnis zwischen Heinrich Clam und Frantisˇek Ladislav Rieger hatte wechselseitige Wirkungen. Auf der einen Seite haben die tschechischen Liberalen die staatsrechtlich-historische Argumentation des föderalistischen Programmes aufgenommen, auf der anderen Seite begannen die adeligen Konservativen einen nationalen Ausgleich in der Verwaltung und im Schulwesen zu unterstützen. Diese Verbindung hat nicht nur Zustimmung gefunden. Von der so genannten Nationalen Partei der Alttschechen hat sich die Freisinnige Nationale Partei geschieden. Unter den Adeligen führte die Furcht vor dem slawischen nationalen Separatismus zur Konstituierung der Partei des Verfassungstreuen Großgrundbesitzes, die vor allem kaisertreu war und der zentralistischen Verfassungsordnung zugestimmt hatte. Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte man als Begleiterscheinung der politischen Spaltung des Adels eine gewisse nationale Polarisierung beobachten. Die eindeutige nationale Zugehörigkeit entsprach sicher nicht dem adeligen Lebensstil, seinem kosmopolitischen Milieu und seinem Landespatriotismus, der in der Geschichtswissenschaft als Bohemismus beschrieben wird.16 Den wesentlichen Unterschied zwischen dem adeligen Landespatriotismus und der neuen Nationalitätsidee hat später Karl Schwarzenberg in der Vorrede zur Herausgabe einer Abhandlung über einen seiner Vorfahren, den sogenannten Landsknecht Friedrich Schwarzenberg so umschrieben: „Patriotismus ist ein elementares Gefühl: jeder Stand zieht dieses Gefühl zu jenem, was er selbst geschaffen hat und was er am besten versteht. Deswegen liebt der Herrenstand das Land und den Staat, der Bürgerstand hinwiederum liebt die Sprache. Es ist zu verstehen, daß mit dem Siege des Bürgertums auch seine Auffassung des Patriotismus siegte.“ Noch im Jahre 1937, als diese Sätze verfasst wurden, konnte man darin Bedenken eines Adeligen gegenüber der modernen Nationalzugehörigkeit herauslesen.17 Falls jedoch der Adel im politischen Leben des liberalen Staates eine Rolle spielen wollte, musste er sich in irgendeiner Weise an dessen Wertewelt anpassen. Die nationale Zugehörigkeit war im Falle der böhmischen Adeligen primär eine politische Wahl, und erst in zweiter Linie eine kulturelle Angelegenheit. Die Adelsgeschlechter, die in der Donaumonarchie eine Föderalisierung des Reiches und die Einführung des böhmischen Staatsrechtes unterstützten, wählten häufig tschechische Gelehrte als Erzieher für die eigenen Kinder – als Beispiele lassen sich Jan Bohumil

Jirˇ Korˇalka: Cˇesˇi v habsbursk rˇsˇi a v Evropeˇ 1815 – 1914. Praha 1996, S. 40 ff. Karel Schwarzenberg (Hrsg.): Lancknechta Bedrˇicha Schwarzenberga Sˇpaneˇlsky´ denk a Zrozen revoluc. Praha 1937, S. 12. 16 17

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Novk bei der Familie Schwarzenberg,18 Jan Erazim Vocel bei den Harrachs, Antonn Vrtˇtko beim Freiherrn Hildprandt und beim Grafen Harrach,19 sowie der später sehr bekannte Schriftsteller Karel Cˇapek beim Grafen Lazˇansky´ anführen. Bei den Fürsten von Lobkowicz, von Schwarzenberg zu Worlik und bei anderen benutzte man die tschechische Sprache auch in der internen Familienkorrespondenz. Bei öffentlichen Auftritten während patriotischer Veranstaltungen sowie auf den Landtagen haben die Führer des konservativen Großgrundbesitzes bewußt tschechisch geredet. Dies wurde auch bei ihren Gegnern als politische Geste anerkannt. In Wien und bei den deutschen Liberalen hingegen wurde die tschechische Neigung der adeligen Konservativen mit Mißtrauen beobachtet.20 Es gab Fälle, in denen die Familien national gespalten waren (Czernin, Kinsky) und solche, bei denen verschiedene Generationen derselben Familie unterschiedliche nationale Präferenzen wählten, etwa bei den Familien Clam-Martinic, Harrach, Lazˇansky oder Thun-Hohenstein. In Lebensschicksalen wie denen des Ministerpräsidenten Heinrich Clam und des Außenministers Otto Czernin kann man sogar von einer grundsätzlichen persönlichen Entwicklung sprechen.21 Auch das belegt die These von der überwiegend politisch motivierten Wahl der Volkszugehörigkeit beim Adel. Die Gründung der Republik im Jahre 1918 beschleunigte dann bestimmte Tendenzen, die man schon in der Monarchie beobachten konnte. Der neue Staat war national definiert. Der Anfang des ersten Satzes der Präambel der Verfassungsurkunde aus dem Jahre 1920 lautete: „Wir das tschechoslowakische Volk“. Besonders bei den ehemals verfassungstreuen Adeligen erweckten der Niedergang der Monarchie und die Feindseligkeit der Republik gegenüber dem adeligen Stand Unmut. Auch die Adeligen der früheren Mittelpartei in Mähren (oder der sogenannten Nebulosen in Böhmen) neigten nun, nach der persönlichen Erfahrung mit der Republik, zur negativen Beurteilung der neu entstandenen Verhältnisse. Rudolf Graf CzerninMorzin, der sich früher um die deutsch-tschechische Versöhnung bemühte, führte nach dem Einmarsch der tschechoslowakischen Truppen ins Grenzgebiet bei Hohenelbe, wo seine Herrschaft lag, eine Beschwerde gegen das Verhalten der Soldaten. Ebenso hat die Bodenreform und die adelsfeindliche Stellung der Dienststellen die Haltung mancher Adeliger negativ beeinflußt, z. B. die der Thuns oder der Buquoys, 18 Zdeneˇk Bezecny´ : Prˇlisˇ uzavrˇen spolecˇnost. Orlicˇt Schwarzenbergov a sˇlechtick spolecˇnost v Cˇechch v druh polovineˇ 19. a na pocˇtku 20. stolet. Jindrˇichu˚v Hradec 2005, S. 83 ff. 19 Ferdinand Mencˇk: Jan hrabeˇ Harrach. Praha 1898, S. 5. 20 F.F. Graf von Beust (Aus drei Viertel-Jahrhunderten. II, Stuttgart 1887, S. 24), schreibt über die Brüder Thun: „Zum Czechenthum neigten sie von früh an, obschon die Familie damit historisch nicht verwebt war, und oft hörte ich Leo sagen: Ich bin kein Deutscher, ich bin ein Böhme.“ Damit wird klar gezeigt, inwieweit sich eben die Erben und Träger des böhmischen Landespatriotismus selbst als Vertreter des mehrheitlich tschechischen Landesvolkes betrachteten. 21 Zdeneˇk Krnk: Sociln a nrodn vazby politicky´ch postoju˚ a jednn cˇesk aristokracie. vaha nad osudy cˇesk aristokracie na pocˇtku 20. stolet. In: Studie k socilnm deˇjinm 19. stolet, 6/1996, S. 7 – 45.

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die zur Partei des konservativen Großgrundbesitzes gehörten. Man sollte auch in Betracht ziehen, daß die Großgrundbesitzer neben der Gefahr der Bodenreform und der allgemeinen Steuerbelastung auch eine spezielle Vermögensabgabe in Höhe von 25 % bis 30 % des Vermögenspreises leisten mussten. Dieser Abgabe, die in Naturalien bezahlt werden konnte, fielen z. B. aus dem riesigen Bodenvermögen von Karl Buquoy insgesamt 2696 Hektar zum Opfer.22 Es war nicht einfach, unter diesen Umständen tschechoslowakischer oder tschechischer Patriot zu werden. Die deutsche kulturelle Ausrichtung und deutsche Sprache als Einigungspunkt der aufgelösten und rasch nostalgisch verklärten Donaumonarchie erleichterte die Annäherung vieler nicht nationalistisch geprägter Familien an das sudetendeutsche Milieu. Auf der anderen Seite waren die Repräsentanten der ehemaligen Partei des konservativen Großgrundbesitzes, die ihre Güter meist in tschechischsprachigen Gebieten besaßen, eher zu Kompromissen mit der tschechischen politischen Macht bereit. So erklärten zum Beispiel die Fürsten Lobkowicz, die die Schreibung des Familiennamens schon im Jahre 1913 der alttschechischen Schreibart (von Lobkowitz zu Lobkowicz) angepasst hatten, am 31. Oktober 1918, d. h. drei Tage nach der Gründung der Republik, ihre Loyalität zum tschechoslowakischen Nationalkomitee als der Interimsregierung des neuen States.23 Andere Familien (Deym, Schlik) bekundeten später in unterschiedlichen Denkschriften und Proklamationen, die an das Bodenamt oder an die Präsidentenkanzlei adressiert waren, ihre tiefe historische Verbindung mit dem böhmischen Land und seinem tschechischen Volk. Und diese Kompromißbereitschaft und Loyalität zahlte sich aus bei der Durchführung der Bodenreform. Dazu waren nicht nur Kontakte zur Tschechoslowakischen Volkspartei (G. Mazanec, F. Sˇamalk) und zu den Nationaldemokraten hilfreich, sondern auch Interventionen beim Staatspräsidenten Masaryk. In den Reihen der Nationaldemokratischen Partei wirkte ein Flügel der Großgrundbesitzer, unter ihnen F. Masˇek, R. Bergman und vor allem Frantisˇek Malnsky´, der gleichzeitig Abgeordnete der Nationalversammlung stellte. Der tschechische Historiker Antonn Kubacˇk weist darauf hin, daß diese Vermittlungen nicht ganz erfolglos waren. Systematisch sollte demselben Zweck auch die bereits erwähnte Gründung von Interessenvertretungsverbänden dienen. Im Unterschied zur Slowakei24 und zu Mähren, wo die nationale Profilierung nicht so maßgeblich war, wurden die zumeist in Böhmen ansässigen Familien in zwei Verbänden organisiert. Neben dem Verband der deutschen Großgrundbesitzer in der Tschechoslowakischen Republik, dessen Aktivitäten im internationalen Kontext noch zu erwähnen sind, war dies vor allem 22 Die ganze Buquoysche Domäne in Südböhmen umfasste 16.036 Hektar. Vgl. Antonn Kubacˇk: Cˇinnost Svazu cˇeskoslovensky´ch velkostatkrˇu˚ v letech 1919 – 1943. In: Sbornk archivnch prac 37/1987, S. 325 – 371, hier S. 363. 23 Eagle Glassheim: Noble Nationalists. The Transformation of the Bohemian Aristocracy. London 2005, S. 79. 24 Der slowakische Verband der Großgrundbesitzer wurde von J. Walterskirchen geführt, der mährische vom Grafen Belcredi. Dieser ging von der Tradition der mährischen Mittelpartei aus. Vgl. E. Glassheim: Noble Nationalists (wie Anm. 23), S. 92.

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Svaz cˇeskoslovensky´ch velkostatkrˇu˚ (Bund tschechoslowakischer Großgrundbesitzer). Dieser Bund war gegenüber dem tschechoslowakischen Staat und seiner Verfassung positiv eingestellt und hatte als seine Umgangssprache bewußt Tschechisch gewählt. Auch deswegen fühlte sich der ehemals in Österreich verfassungstreue und kulturell ganz oder weitgehend deutsch gesinnte Adel verpflichtet, einen eigenen deutschen Bund auch in der Tschechoslowakei zu gründen. Die Einstellung zur tschechoslowakischen Idee wurde aber auch unter den adeligen Mitgliedern des Bundes der tschechoslowakischen Großgrundbesitzer zum Thema der Debatte. Während Bedrˇich Schwarzenberg auf der eindeutig tschechischen Profilierung beharrte, haben Ervn Ndherny´ und Bedrˇich Lobkowicz eine eher integrale Politik befürwortet. Trotz unterschiedlicher national-politischer Präferenzen arbeiteten beide Verbände in konkreten Fragen des gemeinsamen Interesses zur Verteidigung des Großgrundbesitzes zusammen.25 Auch in der personellen Zusammensetzung gab es partielle Überschneidungen – Nachkommen der Familien Thun-Hohenstein, Trauttmansdorff oder Waldstein waren Mitglieder in beiden Verbänden. Aus 246 Mitgliedern des tschechoslowakischen Bundes im Jahre 1927 waren insgesamt 16 gleichzeitig Glieder des deutschen Verbandes. Nach dem Beschlagnahmegesetz von 1919 sollte Ackerboden über einer Grenze von 150 Hektar und Bodenbesitz über 250 Hektar insgesamt enteignet werden. Die Beschlagnahme infolge des Gesetzes galt als Voraussetzung zur späteren Konfiszierung gegen eine relativ solide Abgeltung.26 Ohne finanzielle Entschädigung ist nur die Einziehung von Vermögen der Habsburgerfamilie (nach dem Gesetz explizit auch einschließlich der fürstlichen Familie Hohenberg) erfolgt.27 Andere Großgrundbesitzer hatten die Möglichkeit, den Verlauf der Bodenreform zu beeinflussen. Einmal waren Ausnahmen bis zu 500 Hektar nach dem Beschlagnahmegesetz möglich,28 das Zuteilungsgesetz von 1920 ermöglichte darüber hinaus, auch Bodenbesitz jenseits dieser Grenze von der Beschlagnahme

25 Im Rahmen dieser Zusammenarbeit wurden gemeinsame Denkschriften gegen die Bodenreform verfasst. Weiter Lubomr Slezk: Tvu˚rci, kritikov a odpu˚rci pozemkov reformy. In: Modern deˇjiny 1/1993, S. 197 – 215, hier S. 198 ff. 26 Übersichtlich Antonn Kubacˇk: Pozemkov reforma v obdob prvn republiky. In: Historicky´ obzor IV/1997, S. 84 – 87. 27 Daraus entstanden Streitfälle, bei denen das tschechoslowakische Oberste Verwaltungsgericht als oberste Instanz entscheiden mußte, wer als Mitglied der Herrscherfamilie zu betrachten und infolgedessen entschädigungslos zu enteignen sei. Vgl. vor allem die Entscheidungen vom 1. 7. 1922, 17. 10. 1923 und 31. 10. 1923 (Sammlung Bohuslav A 1465/22, 2769/23, 2770/23 und 2817/23), in denen u. a. bestätigt wurde, daß auch die Habsburger aus der Linie Toskana und die Fürsten von Hohenberg in diesen Bereich fallen. 28 Diese Ausnahmen betrafen eher die bürgerlichen Großgrundbesitzer, weil die adeligen Domänen meistens ausgedehnter waren.

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auszunehmen – wegen Bestimmungen des Denkmalschutzes oder wegen der Naturund Heimatpflege.29 In der Praxis machte man von diesen Bestimmungen häufig Gebrauch. Nach statistischen Angaben aus dem Jahre 1938 blieben 56 % des Bodens, der nach dem Gesetz beschlagnahmt werden sollte, in den Händen der ursprünglichen Besitzer. Beim Ackerland waren es 34 %. Nur in politisch klar definierten Fällen war die Bodenreform radikal. So wurden z. B. der Bodenbesitz des Ministerpräsidenten Heinrich Clam-Martinitz (paradoxerweise war er der Neffe des Führers der böhmischen adeligen Autonomisten, Heinrich Jaroslaw Clam-Martinic) rasch und vollständig konfisziert.30 Die zeitgenössische Publizistik verdeutlicht, inwieweit nicht nur die soziale Einstellung, sondern auch die nationale Gesinnung in Betracht genommen werden sollte.31 Die Großgrundbesitzer, die nicht tschechoslowakische Staatsangehörige waren, versuchten deswegen auch ihre eigenen Regierungen gegen die einheimische Bodenreform zu mobilisieren. Unter diesem Druck hat das staatliche Bodenamt seit 1925 dann einen neuen Kurs eingeschlagen. Die Ausnahmegrenze von 500 Hektar wurde häufiger überschritten, und der Staat machte zunehmend auch den nicht verteilten Restboden von der Beschlagnahme wieder rückgängig. Besonders die Waldanpflanzungen in Grenzgebieten (z. B. der Familien Buquoy, Clam-Gallas, Harrach oder Waldstein) blieben so weitgehend erhalten. Die deutschen Großgrundbesitzer begannen auch den Völkerbund und vor allem seine Schutzregelung für nationale Minderheiten auszunutzen. Neben den deutsch geprägten österreichischen Adelsfamilien hatten auch Mitglieder des nun reichsdeutschen Adels (z. B. Hohenlohe-Langenburg, Hohenzollern-Sigmaringen, Schaumburg-Lippe, Thurn und Taxis) ausgedehnte Besitzungen in der Tschechoslowakei. Es wurden zwischen 1920 und 1931 insgesamt 13 Streitfälle vor dem Internationalen Gerichtshof verhandelt, die vom Völkerbund aufgrund der Beschwerden eingereicht worden waren. Die Entscheidungen hatten keinen verbindlichen Charakter, aber der internationale Druck spielte eine große Rolle. Auch Staatspräsident Masaryk war sich der Tatsache bewußt, daß eine radikale Bodenreform für die Verbündeten in Westeuropa (England und Frankreich) inakzeptabel war. Eine wichtige Rolle spielte in diesem Zusammenhang die Deutsche Völkerbundliga als pressure group, die der böhmische Großgrundbesitzer Wilhelm von Medinger gegründet hatte. Auch Erwein Nostitz-Rieneck und Alfons Clary-Aldringen haben aktiv an der Arbeit der Völkerbundliga teilgenommen. Allerdings lagen die Ergebnisse der Liga eher im Bereich der öffentlichen Popularisierung ihrer Angelegenheiten im internationalen Milieu; rechtliche Mittel standen ihr nicht zur Verfügung. 29 Jana Psˇenicˇkov: Ochrana historicky´ch pamtek a prˇrodnch krs prˇi provdeˇn pozemkov reformy v CˇSR. In: Politick a stavovsk zemeˇdeˇlsk hnut ve 20. stolet. Studie Slovckho muzea 5/2000, S. 158 – 171. 30 Antonn Kubacˇk: Pozemkov reforma (wie Anm. 26), S. 86. 31 Zur nationalen Dimension der Bodenreform weiter Lubomr Slezk: Sudetsˇt Neˇmci a hospodrˇstv prvn republiky. In: Modern deˇjiny 2/1994, S. 123 – 142, hier S. 132 ff.

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Der letzte Schritt bei der Auflösung der ehemaligen adeligen Herrschaften bestand in der Aufhebung der Fideikommisse im Jahre 1924. Die Fideikommisse hatten bisher einen großen Teil des adeligen Besitzes konserviert. Es handelte sich um 57 Einheiten in Böhmen und 18 Domänen in Mähren, die 11,2 % bzw. 8,1 % der gesamten Bodenfläche bedeckten.32 In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre waren Umfang und Ausmaß der Bodenreform weitgehend vorgegeben und in Teilen bereits realisiert. Die wirtschaftliche Stellung des Adels war geschwächt, aber nicht zerstört worden. Viele Adelige saßen in Verwaltungsgremien von Banken und industriellen Betrieben.33 Nach den Entscheidungen des Obersten Verwaltungsgerichtes konnten die adeligen Stiftungen in der Republik geschwächt weiterbestehen.34 Auch die Jagd und exklusive Clubs prägten weiterhin den Lebensstil des Adels.35 Nach der Bodenreform stellte sich die Frage nach der Einbeziehung des Adels ins politische Leben des Landes. Hier versuchten Adelige neue Pläne zur Zusammenarbeit auf der mitteleuropäischen bzw. der europäischen Ebene zu erarbeiten. Richard Coudenhove-Kalergi entwarf eine liberal-pazifistische Vision des europäischen Projektes, die tschechische Ausgabe seines Buches Paneuropa aus dem Jahre 1926 enthielt ein Vorwort des Außenministers Edvard Benesˇ. Coudenhoves Aufsatz „Totaler Staat – totaler Mensch“ aus dem Jahre 1937 war dann Staatspräsident Masaryk direkt gewidmet. Als Gegenpol zu Coudenhove kann man Karl Anton Rohan erwähnen, den Gründer der Europäischen Revue und geistigen Vater des Projektes einer auf konservativer Basis beruhenden, von Deutschland ausgehenden europäischen Zusammenarbeit. Die Einbeziehung des Adels in den Bereich des Politischen brachte eine Stärkung seiner nationalen Profilierung. Das war vor allem bei den deutsch geprägten Adeligen der Fall, die ohnehin eine Mehrheit des Adels in Böhmen stellten. Nach Angaben, die in der Dissertation von Eagle Glassheim zu finden sind, haben 73 % der ˇ SR die deutsche Volkszugehörigkeit gewählt, während böhmischen Adeligen in der C sich nur 27 % für die tschechische entschieden. Auch bei den ursprünglich böhmischen Adelsfamilien war die tschechische Mehrheit mit 56 % nur relativ knapp. Der mehr kosmopolitisch bzw. deutsch geprägte Adel mit einer österreichisch-verfassungstreuen Vorgeschichte hat ganz eindeutig für die deutsche Richtung optiert.36 32 Wilhelm Medinger: Grossgrundbesitz, Fideikommiss und Agrarreform. Wien 1919, S. 65 – 69. Weiter Jirˇ Georgiev: Cˇesk fideikomisy v poslednch letech sv existence (Poznmky k aspektu˚m archivnm a prvnm). In: Paginae historiae 9/2001, S. 71 – 97, hier S. 72. 33 Einen nützlichen Überblick (Alte Geschlechter in neuer Zeit) mit Einzelaufstellung bietet das Montagsblatt vom 27.12.1937. 34 Vgl. vor allem die Entscheidung des Obersten Verwaltungsgerichtes Nr. 17323/33, worüber auch die Nrodn politika am 30. Januar 1934 kurz informiert. 35 Das Interesse an der Heraldik und Sippenkunde wird aus der Mitgliedschaft in verschiedenen Vereinen deutlich, die sich mit diesem Bereich beschäftigten. Vgl. J. Dolezˇal (wie Anm. 2), S. 43 f. 36 E. Glassheim: Noble Nationalists (wie Anm. 23), S. 98.

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Die Ideen von Karl Rohan und die Erinnerungsberichte von Alfons Clary-Aldringen geben interessante Einblicke in die Gedankenwelt dieser Adeligen in der Tschechoslowakei. Auf der anderen Seite dokumentieren die Memoiren von Frantisˇek Schwarzenberg den komplizierten Annäherungsprozeß eines böhmischen Adligen an die tschechoslowakische Staatsordnung.37 Die politischen Parteien des sudetendeutschen Milieus waren stark an adeligen Mitgliedern interessiert. Die deutsche Minderheit erhielt in ihnen einen wichtigen und mächtigen Verbündeten. Schon am 10. November 1929 kritisierte die Zeitung ˇ SR Bohemia in einem Artikel „Was bieten die Republiken?“ die Haltung der C gegenüber dem Adel. Bemängelt wurden vor allem der Zwang zur Namensänderung infolge der Aufhebung des Adels, die nachfolgende gesellschaftliche Nivellierung und die Verabsolutierung des Geldes zum Maß aller Dinge.38 Auf tschechischer Seite erhoben sich solche Stimmen erst Anfang der 1930er Jahre.39 Zwei nationaldemokratische Abgeordnete – A. Hajn und J. Sˇpacˇek – kritisierten damals, dass die Republik das Potential des Adels in der Diplomatie und im öffentlichen Dienst nicht auszunutzen vermochte.40 In der Führung und der parlamentarischen Vertretung der deutschen politischen Parteien konnte man Namen wie Wilhelm Medinger, Eugen Ledebour-Wicheln, Rudolf Lodgman von Auen, Friedrich Stollberg und Moritz Vetter-Lilie finden. Eine besonders wichtige Rolle spielte die Gruppe der so genannten Grusbacher Herren (Karl Khuen-Lützow, Adolf Dubsky, Alfons Clary-Aldringen, Karl Buquoy und Ulrich Kinsky) in den 1930er Jahren beim Aufbau der internationalen Kontakte der Sudetendeutschen Partei, besonders dank ihrer Kontakte in England. Die diplomatische Mission von Lord Runciman, die vor dem Münchner Abkommen die Lage der Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei sondieren sollte, wurde von diesen Adeligen auf ihren Schlössern betreut. Nach dem Zusammenbruch der Tschechoslowakei kam es dann aber nicht zu einer Revision der Bodenreform, nur die Führung von Adelstiteln war im Protektorat Böhmen und Mähren wieder offiziell erlaubt. Der zunächst adelsfreundliche Kurs, der vom Reichprotektor Konstantin von Neurath eingeschlagen wurde, fand unter seinem nationalsozialistischen Nachfolger Reinhard Heydrich ein Ende.41 Auch im Milieu der tschechisch orientierten Adelsfamilien läßt sich in den 1930er Jahren von einem Umbruch sprechen. Hier gab es manche Gemeinsamkeiten mit der Vgl. Vladimr Sˇkutina: Cˇesky´ sˇlechtic Frantisˇek Schwarzenberg. Praha 1990. In der tschechischen Presse (Cˇeskoslovensk republika 12. 11. 1929) führte dieser Artikel zu einem offenen Dissens. 39 Die Zeitung Cˇesk slovo konnte dann am 20. August 1931 die rechtsorientierte Nrodn politika wegen ihrer Adelsfreundlichkeit schmähen. 40 Brüsk wurden jedoch die beiden Nationaldemokraten in Vecˇern Cˇesk Slovo am 1. Februar 1935 kritisiert. 41 Petr Neˇmec: Cˇesk a moravsk sˇlechta v letech nacistick okupace. In: Deˇjiny a soucˇasnost 1/1993, S. 26 – 29. 37 38

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zeitgenössischen Wiederbelebung des Katholizismus, die in der Versammlung der tschechoslowakischen Katholiken in Prag im Jahre 1935 und im Anstieg der katholischen Literatur und Publizistik ihren Ausdruck fand. In der schwierigen Situation der existenziellen Bedrohung der Tschechoslowakei hat sich dann dieser Teil des böhmischen Adels für ein klares Bekenntnis zur Loyalität gegenüber dem tschechoslowakischen Staat entschieden, das von der Presse mit lobender Anerkennung kommentiert wurde.42 Aus den Traditionen des Landespatriotismus heraus haben nicht nur die alt-böhmischen Familien slawischen Ursprungs wie Bubna-Littitz, Czernin, Daczicky, Dlauhowesky, Dobrzensky, Dohalsky, Hruby´, Kinsky, Kolowrat, Lobkowicz, Mladota, Nadherny, Podstatzky, Sternberg, Strachwitz und Wratislaw, sondern auch die vor Jahrhunderten angekommenen Familien Baillet-Latour, Battaglia, Belcredi, Hildprandt, Parish, Palffy, Schlik, Schwarzenberg oder Serenyi in diesem Sinne optiert. Diese entsprechende Deklaration des Adels,43 die im Jahre 1939 dem Protektoratspräsidenten Hacha überreicht wurde, betonte nachdrücklich die tschechische Volkszugehörigkeit der Unterzeichner. Die Konfiszierung ihrer Domänen und Schikanen waren die Antwort der damaligen Herrscher.44 Abschließend läßt sich feststellen, daß der Adel am stärksten unter der nationalen und sozialen Polarisierung der tschechoslowakischen Gesellschaft gelitten hat. Am Vorabend des Krieges, und dann erst recht während und nach der Kriegszeit, war im Unterschied zu den Ländern des Westens, die von entsprechenden historischen Umbrüchen verschont geblieben waren, keine Möglichkeit mehr gegeben, den Adel in das neu formierte Gesellschaftsgefüge zu integrieren. In der heutigen Tschechischen Republik kann man nur geringe Spuren seiner ehemals führenden Stellung wiederfinden. Diesen Spuren nachzugehen, wäre aber ein Thema für eine andere Abhandlung.

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Nrodn osvobozen und Nrodn listy 18. 9. 1938, Nrodn politika und Lidov noviny 25.1.1939. 43 Dieses Manifest folgte einer Proklamation, die schon am 17. September 1938 dem tschechoslowakischen Staatspräsidenten Benesˇ überreicht wurde. Beide Texte abgedruckt in: Revue Prostor 21/1992, englische Version dann in: Eagle Glassheim: Noble Nationalists (wie Anm. 23), S. 237 ff. Weiter dazu Zdeneˇk Krnk: Cˇesk nrodn aristokracie ve 20. stolet jako sociln vrstva? loha Prvn republiky ve formovn nrodn identity cˇesk aristokracie. In: Studie k socilnm deˇjinm 7/2001, S. 243 – 259, hier S. 251 ff. 44 Dazu Milan Buben: Peripetie cˇesk sˇlechty po zniku rakousko-uhersk monarchie. In: Prostor 21/1992, S. 31 – 37.

IV. Nationalsozialistische Expansionspolitik, Vertreibung der Deutschen und sowjetische Vorherrschaft in Ostmitteleuropa (1939/45 – 1989/90)

Ausgrenzung – Vertreibung – Vernichtung. Judenverfolgung im Nationalsozialismus bis zur Kriegswende 1941/1942 Von Hendrik Thoß (Chemnitz) Am Montag, den 16. Juli 2007, reichte der prominente, in Tel Aviv ansässige Rechtsanwalt Gideon Fisher im Namen mehrerer tausend Nachkommen von HoloACHTUNGREcaust-Überlebenden vor einem Gericht seiner Heimatstadt Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland ein.1 Gegenstand des sich damit anbahnenden Rechtsstreits waren insbesondere jene Traumata, von denen Angehörige der zweiten Generation der Holocaust-Überlebenden in der Auseinandersetzung mit dem Schicksal ihrer Eltern und deren ermordeter Verwandter und Freunde befallen wurden. In erster Linie ging es hier jedoch weniger um eine Entschädigung – so zumindest Fisher –, sondern vielmehr um eine Übernahme von Therapiekosten für psychologische bzw. psychiatrische Behandlungen, wie dies etwa in den Niederlanden bereits praktiziert werde. Etwa fünf Prozent der 350.000 Nachkommen bedürften dieser Hilfe, die sie wieder „lebenstauglich“ machen solle.2 Diese Meldung illustriert in auffälliger Weise die unveränderte Aktualität und Brisanz des Massenmords an den europäischen Juden, der sich dem Historiker sonst zumeist in einer kaum mehr überschaubaren Zahl wissenschaftlicher Literatur mitteilt, die Jahr für Jahr die Auseinandersetzung mit dem Holocaust pflegt, und die der Öffentlichkeit die Schrecken der Verfolgung und des insbesondere an den deutschen und europäischen Juden begangenen Massenmords zwischen 1933 und 1945, den Jahren der Verfolgung und Jahren der Vernichtung (Saul Friedländer) mit Nachdruck verdeutlicht.3 1 Vgl. dazu Inge Günther: Wenn die psychischen Narben nicht verheilen. Israelischer Anwalt verklagt Deutschland wegen der Folgen des Holocaust für die zweite Generation. In: Frankfurter Rundschau vom 19. 7. 2007, Nr. 165, S. 5. 2 Vgl. ebd. 3 Die Literatur zum Holocaust ist mittlerweile unüberschaubar. Nachfolgend seien exemplarisch einige wenige Arbeiten aus der aktuellen Forschung benannt: David Bankier: Die öffentliche Meinung im Hitler-Staat. Die „Endlösung“ und die Deutschen. Eine Berichtigung. Berlin 1995; ders.: Fragen zum Holocaust. Interviews mit prominenten Forschern und Denkern. Göttingen 2006; Yehuda Bauer: Die dunkle Seite der Geschichte. Die Shoa in historischer Sicht, Interpretationen und Re-Interpretationen. Frankfurt am Main 2001; Richard Breitman: Der Architekt der „Endlösung“. Himmler und die Vernichtung der europäischen Juden. Paderborn u. a. 1996; Christopher Browning: Die Entfesselung der „Endlösung“. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939 – 1942. München 2003; Philippe Burrin: Warum die Deutschen?

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Der vornehmlich in bundesdeutschen Fachkreisen in den 1980er Jahren um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenverfolgung und -vernichtung geführte Historikerstreit sowie die erregten, auch auf transatlantischer Ebene gepflegten Debatten um die Bücher von Daniel Goldhagen Hitlers willige Vollstrecker (1996) bzw. Norman Finckelstein Die Holocaust-Industrie (2000), die heute wieder verebbt sind und in Teilen bereits selbst Eingang in die Geschichte der HolocaustForschung gefunden haben, bilden auf ihre Art die in Permanenz laufende wissenschaftliche Dimension der Auseinandersetzung mit dem Holocaust ab.4 Im folgenden sollen neben der Frage nach den weltanschaulich-ideologischen Wurzeln der Judenverfolgung insbesondere die ersten Planungen und Konzeptionen zur „Lösung der Judenfrage“ bis zum Jahreswechsel 1941/42 im Mittelpunkt der Darstellung stehen. Markiert doch das Jahr 1941 mit dem Überfall Deutschlands auf die UdSSR und der Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten in der Forschung zugleich auch den Übergang von der nationalsozialistischen Judenpolitik im Stile einer ethnischen Säuberung zum Beginn des systematischen Massenmords, dem bis 1945 Millionen europäischer Juden zum Opfer fallen sollten.5 Die Geschichte des europäischen Antisemitismus – auch in seiner modernen, rassistischen Variante – läßt sich räumlich keineswegs allein auf Deutschland beschränken.6 Der moderne Rassenantisemitismus kulminierte mit Beginn des 20. Jahrhunderts in der Überlagerung dreier zentraler Formen kollektiver Identität: der Nationalität, der Rasse sowie der Religionszugehörigkeit. Insbesondere das Element Antisemitismus, Nationalismus, Genozid. Frankfurt am Main 2004; Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. Bd. I: Die Jahre der Verfolgung 1933 – 1939. München 1998; ders.: Bd. II: Die Jahre der Vernichtung 1939 – 1945. München 2006; Raul Hilberg: Die Quellen des Holocaust. Entschlüsseln und Interpretieren. Frankfurt am Main 2002; Alexander Brakel: Der Holocaust. Judenverfolgung und Völkermord. Berlin 2008. 4 Zum deutschen Historikerstreit vgl. Historikerstreit. Die Dokumentation um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, hrsg. von Ernst Piper. München 1987. Zur Auseinandersetzung mit Daniel Goldhagen vgl. Fred Kautz: Gold-Hagen und die „Hürnen Sewfriedte“. Die Holocaust-Forschung im Sperrfeuer der Flakhelfer. Berlin 1998; Zu FinACHTUNGREckelstein vgl. Ernst Piper (Hrsg.): Gibt es wirklich eine Holocaust-Industrie? Zur Auseinandersetzung mit Norman Finckelstein. 2. Aufl. München 2001. 5 Vgl. Christopher Browning: Ganz normale Männer oder ganz normale Deutsche? In: David Bankier (Hrsg.): Fragen zum Holocaust. Interviews mit prominenten Forschern und Denkern. Göttingen 2006, S. 101 f. Eine Auseinandersetzung mit der Funktionalismus-Intentionalismus-Debatte unterbleibt hier. Vgl. dazu Ian Kershaw: Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick. Hamburg 1999. Zugleich wird auf eine Darstellung der von den Nationalsozialisten geplanten und mit der Lösung der Judenfrage verknüpften gewaltigen Bevölkerungsverschiebungen in Europa verzichtet; Christopher Browning: Nazi Resettlement Policy and the Search for a Solution to the Jewish Question 1939 – 1941. In: German Studies Review 3 (1986), S. 492 – 515. – Wenn im folgenden eine Trennung politischweltanschaulich konnotierter Motive von eugenisch-biologistischen vorgenommen wird, dann ist dies einer besseren Veranschaulichung geschuldet. Selbstverständlich sind die benannten Faktoren in engstem Kontext zu betrachten. 6 Vgl. – statt vieler – die vorzügliche Darstellung von Patrik von zur Mühlen: Rassenideologien. Geschichte und Hintergründe. Berlin/Bonn-Bad Godesberg 1977.

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Rasse musste sich dabei für europäische Juden als eine unüberwindbare Schranke erweisen, die einer Konversion oder Assimilation und damit einer vollständigen Eingliederung in die Strukturen des modernen Nationalstaates unüberwindlich entgegenstand.7 Die Nationalsozialisten griffen in den frühen 1920er Jahren das Bild vom Judentum mit den drei benannten Ingredienzen auf und instrumentalisierten die Katalysatoren Kriegsniederlage, das als nationale Schmach empfundene Versailler Vertragswerk, die ungeliebte westliche Demokratie, Inflation und Wirtschaftskrise für ihre ganz eigenen Zwecke. Wenn Hitler in seiner 1925 erstmals erschienenen Bekenntnisschrift Mein Kampf „den Juden“ als Parasiten und Schmarotzer denunzierte, als einen schädlichen Bazillus, der jeden an sich gesunden Volkskörper befallen und verderben könne, dann handelte es sich keineswegs allein um die wirren Äußerungen eines einzelnen antisemitischen Fanatikers.8 Vielmehr entsprachen diese Haßtiraden – ob in Teilen oder in seiner kruden Totalität – durchaus dem Zeitgeist des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts, welcher in ganz erheblichem Maß auch von den Naturwissenschaften geprägt war, von einer Übertragung des genuin auf die Tier- und Pflanzenwelt bezogenen Darwinismus auf die Völker und Nationen Europas. Joseph Arthur Graf von Gobineau, Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Houston Stewart Chamberlain trugen mit ihren weltweit beachteten und diskutierten Werken Essay über die Ungleichheit der Rassen (Gobineau), Juden und Indogermanen (Lagarde), Rembrandt als Erzieher (Langbehn) und Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts (Chamberlain) zu einer Popularisierung des Gedankens von rassischer Ungleichheit und unüberbrückbarem Gegensatz zwischen Juden und Germanen bei. Hitler erfuhr seine politische Sozialisation bekanntlich im Wien der Jahrhundertwende, indem er sich die umlaufenden Schriften einer ganzen Reihe theoretisierender Rassisten und Populisten aneignete und zugleich Zeuge des Kults der Alldeutschen Partei um ihren Führer Georg Schönerer wurde.9 Neben Schönerer avancierten Joseph Adolf Lanz und Guido List, Arthur Trebitsch und Otto Weininger zu geistigen Promotoren Hitlers in Wien, deren Ideen von rassischer Reinheit, Abgrenzung und sozialer Hygiene einerseits, sowie der unabdingbaren Eliminierung fremdrassigen, insbesondere jüdischen Lebens andererseits, bei Hitler Stück für Stück in einem ganz eigenen Weltbild zueinander fanden.10 Dem rassisch-biologistischen Element gesellte sich im Zuge der Kriegsniederlage von 1918, die Hitler als Soldat des deutschen Heeres durchlebte, das politischweltanschauliche Ingredienz der bolschewistischen Verschwörung des Marxismus hinzu, die – seiner Sichtweise gemäß – ursächlich für den verlorenen Weltkrieg gewesen sei. Dieselben „marxistischen Angriffs- und Sturmkolonnen“ trugen denn 7

Vgl. Philippe Burrin: Warum die Deutschen? (wie Anm. 3), S. 33 ff. Vgl. Adolf Hitler: Mein Kampf. München 1942, S. 334. 9 Vgl. ebd., S. 21 f.; Brigitte Hamann: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators. München 1996, S. 337. 10 Vgl. ebd., S. 293 ff. 8

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auch für Hitler die Verantwortung für den vollständigen geistig-moralischen wie wirtschaftlichen Zusammenbruch des deutschen Volkes, der sich für ihn in der Weimarer Demokratie manifestierte.11 Welches Schicksal einem „vom Juden“ beherrschten Deutschland aber bestimmt schien, zeigte die Entwicklung Rußlands nach dem endgültigen Sieg der Bolschewiki. In der dem internationalistischen Kommunismus verpflichteten Sowjetführung habe man „den im zwanzigsten Jahrhundert unternommenen Versuch des Judentums zu erblicken, sich die Weltherrschaft anzueignen“. Zugleich vertrat Hitler angesichts der auch im Ausland wohl bekannten Gewalttaten der Sowjets während des Bürgerkrieges sowie im Verlauf von Säuberungsaktionen innerhalb wie außerhalb der kommunistischen Partei die Meinung, „daß die Regenten des heutigen Rußlands blutbefleckte, gemeine Verbrecher sind, daß es sich hier um einen Abschaum der Menschheit handelt, der … Millionen seiner führenden Intelligenz in wilder Blutgier abwürgte und ausrottete“.12 Der Kampf gegen die jüdisch-bolschewistische Sowjetunion mußte somit das Signum einer finalen Auseinandersetzung in sich bergen, die dann mit letzter Konsequenz zu führen war. Rassenhygiene und Eugenik gehen nicht auf Erfindungen des deutschen Nationalsozialismus zurück. Vielmehr erwachte im ausgehenden 19. Jahrhundert im Gefolge des allgemeinen Aufschwungs der Naturwissenschaften – insbesondere der Biologie – ein reges Forschungsinteresse auch an sämtlichen im Zusammenhang mit der Untersuchung des menschlichen Körpers stehenden Fragen. Sollten sich bestimmten Körper- bzw. Rassetypen klar definierte Charakterzüge bzw. Krankheiten zuordnen lassen, so stünde, wie nicht zuletzt auch viele Wissenschaftler annahmen, der Medizin mit der Eugenik ein Mittel zur Isolation bzw. Selektion antisozialer, schwacher, gestörter oder gebrechlicher Menschen zur Verfügung. Rassehygienische Diskurse prägten daher bereits vor dem Ersten Weltkrieg, weit mehr jedoch in der Zwischenkriegszeit, die humanbiologisch-psychiatrischen, sozial- und kriminalwissenschaftlichen Debatten in den Industriestaaten Europas ebenso wie in den USA.13 Bereits hier, geprägt vom modernistischen Denken der Ära der Hochindustrialisierung im beginnenden 20. Jahrhundert, sind jedoch die Argumentationslinien sowie die später von den Nationalsozialisten genutzte eliminatorische Diktion zu finden. Francis Galton,14 dessen späte Arbeiten in erheblichem Maße von den Forschungen Gregor Johann Mendels geprägt waren, stellte in mehreren Schriften 1904 bzw. 1905 der „positiven Eugenik“, einer Förderung der Fortpflanzung „Erbgesun11

Vgl. Hitler: Mein Kampf (wie Anm. 8), S. 409 ff. Ebd., S. 750 f. Aussagen betreffend die Entfernung der Juden aus Deutschland finden sich zudem im Parteiprogramm (25-Punkte-Programm) vom 24. Februar 1920. Am selben Tag erfolgte die Umbenennung der DAP in NSDAP. Vgl. dazu: Eberhard Jäckel: Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft. Erw. und überarb. Neuausg. Stuttgart 1991, S. 57 f. 13 So zum Beispiel angeregt durch die Arbeiten von Francis Galton (1822 – 1911) in England oder Alfred Ploetz (1860 – 1940) in Deutschland. 14 Vgl. Wolfgang Walter: Der Geist der Eugenik. Francis Galtons Wissenschaftsreligion in kultursoziologischer Perspektive. Bielefeld 1983. 12

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der“, eine „negative Eugenik“ gegenüber, die eine Fortpflanzung „Erbkranker“, d. h. von Menschen mit einem „minderwertigen Erbgefüge“ zu unterbinden hätte.15 Der studierte Arzt und Nationalökonom Alfred Ploetz16 gilt als Wegbereiter der Eugenik in Deutschland, der in seinem 1895 erschienen Werk Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen den Begriff „Rassenhygiene“ prägte. Seit 1904 gab er die monatlich erscheinende Zeitschrift Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie heraus, die sich rasch zum führenden Fachblatt im deutschen Sprachraum entwickelte und bis 1944 erschien. Es scheint unzweifelhaft, daß die Nationalsozialisten sowohl die Zeitschrift als auch die Tätigkeit der gleichfalls von Ploetz 1905 bzw. 1910 gegründeten Gesellschaft für Rassenhygiene/Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene sehr wohl zur Kenntnis genommen haben, zumal Ploetz im Rahmen von Vorträgen bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine hochgradig exterminatorischeliminatorische Diktion pflegte und vor dem Stillstand des Bevölkerungswachstums sowie einem Vordringen osteuropäischer Völker in den Westen Europas warnte.17 Die wissenschaftliche wie öffentliche Debatte um die Rassenhygiene in der Weimarer Republik wurde neben Ploetz von einer ganzen Reihe international renommierter Wissenschaftler geprägt, so durch Fritz Lenz und seine Münchener Gesellschaft für Rassenhygiene sowie von Otmar von Verschuer und der Berliner Gesellschaft für Rassenhygiene.18 Letztlich haben sich die Erwägungen radikaler Rassen- bzw. Sozialhygieniker während der Weimarer Republik in der Praxis jedoch kaum niederzuschlagen vermocht. Gleichwohl stießen die in diesen Kreisen diskutierten Leitgedanken zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit des „Volkskörpers“ im alltäglichen Wirken des kommunalen Gesundheits- und Sozialwesens, insbesondere bei Sozialwissenschaftlern und Medizinern, auf ein nachhaltiges Echo.19 Daher scheint es alles andere als ungewöhnlich, daß mit Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 sowie unter dem Eindruck der steigenden Belastungen des Sozialstaates die

15 Vgl. Manfred Kappeler: Der schreckliche Traum vom vollkommenen Menschen. Rassenhygiene und Eugenik in der Sozialen Arbeit. Marburg 2000, S. 134 f. 16 Vgl. Werner Doeleke: Alfred Ploetz (1860 – 1940). Sozialdarwinist und Gesellschaftsbiologe. Med. Diss., Frankfurt/M. 1975. 17 Vgl. Manfred Kappeler: Der schreckliche Traum vom vollkommenen Menschen (wie Anm. 15), S. 145. Ploetz verwies gleichwohl auch auf die der Rassenhygiene abträglichen Folgen moderner Kriege, die in besonderem Maße jene Bevölkerungsteile träfen, die sich durch größeren Unternehmungsgeist und höhere Intelligenz, durch Abenteuerlust und Draufgängertum auszeichneten. 18 Vgl. Hans-Peter Kröner: „Rasse“ und Vererbung: Otmar von Verschuer (1896 – 1969) und der „wissenschaftliche Rassismus“. In: Josef Ehmer/Ursula Ferdinand/Jürgen Reulecke (Hrsg.): Herausforderung Bevölkerung. Zu Entwicklungen des modernen Denkens über die Bevölkerung vor, im und nach dem „Dritten Reich“. Wiesbaden 2007, S. 201 – 213, hier S. 208. 19 Vgl. Ute Planert: Der dreifache Körper des Volkes: Sexualität, Biopolitik und die Wissenschaften vom Leben. In: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 539 – 576, hier S. 572.

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Idee einer aktiven Gestaltung dieses „Volkskörpers“ im Sinne einer Ausmerzung „lebensunwerten Lebens“ an Anhängerschaft und Attraktivität gewann.20 Ein annähernd vergleichbares Interesse wurde im ausgehenden 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert, zum Teil auch in direkter Auseinandersetzung mit den ökonomisch konnotierten Interpretationen von Karl Marx und Friedrich Engels, dem Begriffspaar Raum und Bevölkerung zuteil. Friedrich Ratzel21 repräsentierte als Geograph in seinem 1897 erstmalig erschienenen Werk Politische Geographie die Idee eines geographischen Determinismus, ein Konstrukt, das von dem schwedischen Staatsrechtler Rudolf Kjellen22 aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. Eine herausragende Rolle im öffentlichen Diskurs im Deutschland der Zwischenkriegszeit dürfte darüberhinaus Hans Grimms erstmals 1926 erschienener Roman Volk ohne Raum eingenommen haben, der bis Kriegsende mehr als eine halbe Million mal verlegt wurde und auch bei Hitler auf lebhaftes Interesse stieß.23 Und dies nicht ohne Grund. Werden doch in Grimms Werk mehr oder minder unterschwellig konstitutive Elemente der Weltanschauung des Nationalsozialismus transportiert: Dolchstoß und Versailler „Schanddiktat“, Idealisierung des Bauerntums in scharfem Kontrast zur Großstadt, „jüdisches Kapital“ und – unablässig wiederkehrend – die Raumnot des deutschen Volkes. Am 30. Januar 1933 hatte mit Adolf Hitler der Führer einer Partei die Amtsgeschäfte in der Reichskanzlei übernommen, deren aggressive Militanz allenfalls noch von ihrem radikalen Rassenantisemitismus übertroffen wurde. Und dennoch führte kein direkter Weg vom Brandenburger Tor, das 25.000 Nationalsozialisten und Stahlhelm-Mitglieder am Abend der Machtergreifung in einem mehrstündigen triumphalen Fackelzug durchschritten hatten, zu den Gaskammern und Krematorien der Vernichtungslager in Auschwitz-Birkenau, Majdanek, Sobibor, Belzec, Chelmno oder Treblinka. Vielmehr vollzog sich dieser Prozeß alles andere als geradlinig und systematisch, trotz der bereits in Hitlers Kampfschrift enthaltenen Auslassungen mit eindeutig eliminatorischem Charakter. Die hier wie in den frühen Publikationen anderer führender Nationalsozialisten prophezeite Reinigung des Volkskörpers von fremden Elementen – und zuallererst von den Juden – erfuhr durch Eugenik und

20 Vgl. Josef Ehmer: „Nationalsozialistische Bevölkerungspolitik“ in der neueren historischen Forschung. In: Rainer Mackensen (Hrsg.): Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik im „Dritten Reich”. Opladen 2004, S. 21 – 44, hier S. 31, sowie ders.: Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1800 – 2000. München 2004, hier insbes. S. 64 – 69. 21 Vgl. Gerhard H. Müller: Friedrich Ratzel (1844 – 1904). Naturwissenschaftler, Geograph, Gelehrter, Neue Studien zu Leben und Werk und sein Konzept der „Allgemeinen Biogeographie“. Stuttgart 1996. 22 (1864 – 1922). 23 So zumindest die Aussage von Hans Grimm: Warum – Woher – aber Wohin? Lippoldsberg 1955, S. 133.

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Rassenhygiene nunmehr eine spezifische Ergänzung.24 Überdies stieß das ab 1933 sich verstärkende Interesse der neuen Machthaber an den Arbeiten der deutschen Rassenhygieniker und Bevölkerungswissenschaftler dort kaum auf Vorbehalte, sondern wurde vielmehr von einem Großteil lebhaft begrüßt und als willkommene Aufwertung der eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit interpretiert.25 Mit dem am 14. Juli 1933 erlassenen Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses wurde ihnen die rechtliche Handhabe gegeben, auf der Basis einschlägiger Diagnosen Zwangssterilisationen vorzunehmen. Heike Petermann wies am Beispiel des Rassenhygienikers Karl Astel darauf hin, daß die vom nationalsozialistischen Staat erlassenen gesetzlichen Bestimmungen – neben dem oben erwähnten Gesetz traf dies auch für das Ehegesundheitsgesetz bzw. das Gesetz zur Erhaltung der Erbgesundheit des deutschen Volkes zu – zahlreichen Wissenschaftlern im Sinne einer wirksamen Gestaltung des künftigen Volkskörpers nicht weit genug gingen.26 „Noch zittert man nicht um sein Leben – aber um Brot und Freiheit“, befand Victor Klemperer am 22. März 193327 und diagnostizierte damit treffend die Praxis des NS-Regimes gegenüber den deutschen Juden, die vorerst gezählt und statistisch erfasst werden sollten, gleichwohl nunmehr Tag für Tag erfuhren, daß sie keinesfalls länger als Bürger des „neuen Deutschland“ betrachtet würden. Daß die in dieser Zeit vor allem seitens der SA einsetzenden Gewaltmaßnahmen sich nicht bereits 1933 zu einem regelrechten Flächenbrand ausweiteten, war wohl in erster Linie einer erzwungenen Rücksichtnahme auf das Ansehen der neuen deutschen Machthaber im Ausland, insbesondere in Großbritannien und in den USA, aber auch genuin innenpolitischen Faktoren geschuldet.28 1935 wurde der Leiter der Abteilung für Bevölkerungsstatistik im Statistischen Reichsamt, Friedrich Burgdörfer, vom Leiter des Rassenpolitischen Amts der NSDAP, Walter Groß, damit beauftragt, eine Schätzung der Gesamtzahl der in Deutschland lebenden „Juden und Judenmischlinge“ vorzunehmen,

24 Zum „Bild des Juden“ bei führenden Nationalsozialisten vgl. Frank-Lothar Kroll: Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich. 2., durchges. Aufl. Paderborn/München/Wien/Zürich 1999. 25 Vgl. dazu exemplarisch Götz Aly: Das Posener Tagebuch des Anatomen Hermann Voss, Biedermann und Schreibtischtäter. Materialien zur deutschen Täterbiographie. Berlin (West) 1987. 26 Heike Petermann: Die Vorstellungen der Rassenhygieniker und das Bevölkerungsprogramm im „Dritten Reich“. In: Rainer Mackensen (Hrsg.): Bevölkerungslehrer und Bevölkerungspolitik im „Dritten Reich“ (wie Anm. 20), S. 136. 27 Vgl. Victor Klemperer: Das Tagebuch 1933 – 1945. 2. Aufl. Berlin 1997, S. 14. 28 Zu diesem Zeitpunkt sahen sich Hitler und seine Gefolgsmänner mit den konservativbürgerlichen Koalitionspartnern, dem Reichspräsidenten und der Reichswehr nach wie vor politisch einflussreichen Machtgruppen gegenüber, auf die Rücksicht zu nehmen war. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die Angriffe auf Synagogen, jüdische Geschäfte und Warenhäuser sowie auf die vom 1. bis 3. April 1933 laufende Boykottaktion verwiesen, die wiederum jüdische Geschäfte, Arztpraxen und Rechtsanwaltskanzleien trafen.

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bei der man schließlich auf eine Zahl von 850.000 Menschen kam, die im Rahmen der für 1939 geplanten Volkszählung zu verifizieren war.29 Offen blieb indes die Option einer Auswanderung. So erhielten für die 1933 an die Macht gekommenen Nationalsozialisten jene – im übrigen auch von Hitler gepflegten – Vorstellungen zunächst ein besonderes Gewicht, die auf die Aussiedlung der Juden aus Deutschland und aus ganz Europa abgezielt hatten.30 Hier sahen sie sich jedoch mit dem Umstand konfrontiert, daß es aufgrund der durch die Weltwirtschaftskrise verursachten gravierenden ökonomischen und sozialen Verwerfungen wohl kaum einer großen Zahl deutscher Juden möglich sein würde, Deutschland zu verlassen.31 Überdies mußten sich geeignete Aufnahmeländer finden, da insbesondere die gleichfalls von der Wirtschaftskrise in Mitleidenschaft gezogenen klassischen Einwanderungsländer allenfalls bereit waren, Zuwanderer mit technischen Qualifikationen oder Landwirte aufzunehmen.32 Als sich zudem in Paris, London und New York in scharfer Form Protest gegen den allzu offenkundigen Antisemitismus in Deutschland erhob, gerieten mit Palästina und Madagaskar rasch andere Optionen verstärkt ins Blickfeld der nationalsozialistischen Machthaber. Indes: Auch derartige Planungen waren alles andere als neuen Datums und keine Erfindung Hitlers oder seiner Helfershelfer. Die Idee der Gründung eines jüdischen Staates in Palästina, welche durch die zionistische Bewegung im ausgehenden 19. Jahrhundert eine völlig neue Qualität erfahren hatte, ging bis ins 17. Jahrhundert zurück33 und wurde in der angespannten Lage, in der sich die deutschen Juden nach der Machtergreifung Hitlers befanden, von der Zionistischen Vereinigung für Deutschland als Möglichkeit aufgegriffen, diese für die Ideen des Zionismus zu begeistern. Gleichwohl blieb das Wirken zionistischer Organisationen unter den Juden in Deutschland wie in den anderen Staaten Europas stets umstritten. Hingegen ging die Vorstellung, die Judenfrage durch eine Deportation nach Madagaskar zu lösen, wiederum auf Paul de Lagarde zurück. In seinem 1903 erschienenen Deut29 Vgl. Florence Vienne: Die „Lösung der Bevölkerungsfrage“ im Nationalsozialismus. Richard Korherrs und Friedrich Burgdörfers Beiträge zur Vernichtung der Juden in der Geschichte der Bevölkerungswissenschaft. In: Rainer Mackensen (Hrsg.): Bevölkerungslehrer und Bevölkerungspolitik im „Dritten Reich“ (wie Anm. 20), S. 153. 30 In den 1920er Jahren setzte sich Hitler in zahlreichen Reden mit der Frage auseinander, wie in einem nationalen Staat mit den Juden zu verfahren sei. Indem er von „Entfernung“ sprach, trat er für eine Ansiedlung außerhalb Europas ein, wobei einmal auch Palästina als mögliche Aufnahmeregion benannt wurde. Zuvor sollte den Juden die Staatsbürgerschaft aberkannt werden. Vgl. Hans Jansen: Der Madagaskar-Plan. Die beabsichtigte Deportation der europäischen Juden nach Madagaskar. München 1997, S. 178 ff. 31 Im umgekehrten Fall galt allerdings, daß vermögende deutsche Juden bei ihrer Auswanderung einen Teil ihres Besitzes dem an akutem Devisenmangel leidenden NS-Staat überschreiben mussten. 32 Vgl. Hermann Graml: Die Auswanderung der Juden aus Deutschland zwischen 1933 und 1939. In: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte. Bd. I, München 1958, S. 79 f. 33 Vgl. dazu exemplarisch Jacob Toury: Emanzipation und Judenkolonien in der öffentlichen Meinung Deutschlands 1775 – 1819. In: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte 11 (1982), S. 17 – 53, hier S. 45 ff.

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schen Schriften wies der Orientalist und Professor für semitische Philologie und Bibelwissenschaften auf die Möglichkeit hin, die Juden, die aufgrund ihrer asiatischen Abstammung ohnehin nichts in Europa zu suchen hätten, auf Madagaskar anzusiedeln.34 Mögen Planungen für eine Umsiedlung der europäischen Juden in das Gelobte Land Palästina noch nachvollziehbar scheinen, so gilt dies für eine Ansiedlung auf der am Horn von Afrika gelegenen Insel Madagaskar doch wohl nur sehr eingeschränkt. Offensichtlich basierten solche Planungen auf dem bis ins 20. Jahrhundert hinein weit verbreiteten Glauben, zwischen den Eingeborenen Madagaskars und den Juden Palästinas bestünden uralte Beziehungen.35 Die Palästina-Option stand im Mittelpunkt des Ende August 1933 zwischen der Zionistischen Vereinigung für Deutschland und der Anglo Palestine Bank einerseits sowie dem Reichswirtschaftsministerium andererseits geschlossenen Haavara-Abkommens, in dem ein Modus für die Auswanderung deutscher Juden gefunden werden sollte, die dabei allerdings die Hälfte ihres Vermögens zurücklassen mussten, um damit deutsche Exporte nach Palästina zu finanzieren. Organisatorisch unterstützt von der Berliner Palästina-Treuhandstelle und der in Tel Aviv ansässigen Trust and Transfer Office Haavara Ltd. machten bis 1939 mehrere zehntausend deutsche Juden von dieser Möglichkeit der Emigration Gebrauch.36 Insgesamt blieb diese Form der Auswanderung jedoch auf einen überschaubaren Kreis vermögender deutscher Juden beschränkt, während die große Mehrheit weder die Möglichkeiten noch – und dies trotz des zunehmenden Drucks durch die Nationalsozialisten – ein Interesse daran hatte, ihrer Heimat den Rücken zu kehren und fernab ein neues Leben aufzubauen. Weitere antisemitische Gesetze schränkten von nun an das Leben der Juden in Deutschland ein. Neben dem Ehe- und Erbgesundheitsgesetz diente das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums nebst Durchführungsverordnung ab April 1933 der Verhängung von Berufsverboten gegen jüdische Anwälte, Richter und Ärzte. Im Gesetz gegen die Überfüllung von deutschen Schulen und Hochschulen begrenzte der nationalsozialistische Staat noch im gleichen Monat den Zugang jüdischer Schüler und Studenten zu deutschen Bildungseinrichtungen. Das ab 1935 gültige Wehrgesetz schloß „Nichtarier“ vom Wehrdienst aus. Im Blutschutzgesetz wurde Juden die Eheschließung mit „Staatsangehörigen deutschen und artverwandten Blutes“ untersagt; das Reichsbürgergesetz nahm die deutschen Juden vom Besitz des Bürgerrechtes und damit auch vom Rechtssystem aus. Zur gleichen Zeit setzte sich der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS (SD) intensiv mit der Aussiedlung deutscher Juden aus Europa auseinander. Angesichts der nach wie vor nur geringen Bereitschaft der Juden, trotz des immensen Drucks deutscher Behörden, Deutschland zu verlassen, müsse „irgendwo auf der Welt ein jüdischer Staat“ ge34

Vgl. Jansen: Der Madagaskar-Plan (wie Anm. 30), S. 48. Vgl. dazu ausführlich ebd., S. 52 ff. 36 Vgl. Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. Bd. I: Die Jahre der Verfolgung 1933 – 1939 (wie Anm. 3), S. 76. Während Friedländer eine Zahl von 60.000 emigrierten Juden angibt, zählt Jansen 45.000 Personen. Vgl. Jansen: Der Madagaskar-Plan (wie Anm. 30), S. 199. 35

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gründet werden, der ausreichend Platz für die Masse einwandernder Juden böte.37 Palästina sei letztlich jedoch viel zu klein, um die deutschen Juden aufnehmen zu können. Zudem stieße diese Einwanderung, die ohnehin nur im Einvernehmen mit Großbritannien und Frankreich erfolgen könne, bei den in Palästina ansässigen Arabern auf zunehmenden Widerstand.38 Tatsächlich ließ seit 1935 auch bei den an Deutschland grenzenden Ländern die Bereitschaft, eine größere Zahl Juden aufzunehmen, spürbar nach. Dies lag einerseits an den Folgen der Weltwirtschaftskrise und der damit verbundenen hohen Arbeitslosigkeit, die den Hilfsmöglichkeiten enge Grenzen setzte. Zum anderen sahen sich die Regierungen mit Befürchtungen konfrontiert, es könne zu regelrechten Aufständen kommen, wenn eine große Zahl jüdischer Immigranten in das eigene Land ströme. Auch hatten seit 1933 jährlich 100.000 Juden Polen in Richtung Palästina verlassen und die judenfeindliche Politik in Rumänien, Ungarn und den baltischen Staaten trug gleichfalls zum Anschwellen der Flüchtlingsströme bei.39 Dennoch ebbten die von den Nationalsozialisten betriebenen Bemühungen um eine rasche und umfassende Ausbürgerung der deutschen Juden bis zur letztlich erfolglosen internationalen Flüchtlingskonferenz in Evian les Bains40 im Sommer 1938 ebenso wenig ab wie die in Frankreich, Großbritannien oder den Vereinigten Staaten geführte Diskussion über die Ansiedlung jüdischer Flüchtlinge in Palästina oder auf Madagaskar.41 Befördert wurde dieser Prozeß durch die sich 1938 erneut verstärkenden Repressalien. Mit der Ausschaltung der Juden aus der deutschen Wirtschaft, welche die mit dem Reichsbürgergesetz einher gehenden Berufsverbote nun auch auf den Wirtschaftssektor ausdehnte, und die nach dem „Anschluß“ im März 1938 umgehend auch in Österreich zur Anwendung kam, vollzog sich die sogenannte Arisierung jüdischer Unternehmen, Fabriken, Betriebe, Banken, Praxen und Geschäfte. Mitte 1938 waren bereits weit mehr als 60 Prozent aller jüdischen Unternehmen in Deutschland arisiert bzw. liquidiert worden.42 Juden, aber auch ihre nichtjüdischen 37 Vgl. ebd., S. 201. Von den drei großen jüdischen Organisationen in Deutschland sprach sich einzig die Zionistische Vereinigung für Deutschland für die Auswanderung nach Palästina aus. 38 Vgl. ebd., S. 203. Jansen verweist darüber hinaus auf die vom Sicherheitsdienst (SD) ins Spiel gebrachte Möglichkeit, zusätzlich auch auf das französische Mandatsgebiet Syrien zurückzugreifen. 39 Karl A. Schleunes: The Twisted Road to Auschwitz. Nazi Policy Toward German Jews 1933 – 1939. 2. Aufl. Chicago 1990, S. 185 ff. 40 Das einzige greifbare Ergebnis der Konferenz stellte die Gründung des Intergovernmental Committee for Refugees (IGCR) dar, das sich mit der deutschen Führung in Verbindung setzen und zugleich nach einer neuen Heimat für die Juden suchen sollte. Auf der Konferenz selbst hatte sich keines der teilnehmenden Länder dazu bereit erklärt, deutsche Juden aufzunehmen. 41 So zum Beispiel im Zusammenhang mit der 1936 von der britischen Regierung unter der Leitung von Lord William Robert Peel eingesetzten Peel-Kommission. 42 Vgl. Bernd Jürgen Wendt: Deutschland 1933 – 1945. Das Dritte Reich. Hannover 1995, S. 174.

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Ehepartner waren nunmehr verpflichtet, ihr in- wie ausländisches Vermögen anzugeben, sofern es einen Wert von 5.000 Reichsmark überstieg, jüdische Gewerbebetriebe wurden zwecks Konfiskation registriert. Ab Ende Juli 1938 waren Juden verpflichtet, sich eigene Kennkarten ausstellen zu lassen; drei Wochen später, am 17. August 1938, erging die Anweisung, zusätzliche Vornamen anzunehmen: Israel bzw. Sara.43 Mit Befriedigung konnte Reichspropagandaminister Josef Goebbels notieren, daß das Judentum „planmäßig zurückgetrieben“ werde. Die Juden würden so von Land zu Land getrieben und „die Früchte ihrer ewigen Intrigen, Hetzkampagnen und Gemeinheiten“ ernten.44 Als dann der deutsche Legationssekretär Ernst von Rath in der deutschen Botschaft in Paris einem Mordanschlag zum Opfer fiel, ergriff Josef Goebbels die Chance, dieses Attentat gegen die deutschen Juden zu instrumentalisieren. Die deutsche Presse erhielt die Anweisung, bei ihrer Berichterstattung darauf hinzuweisen, daß der Pariser Mord nicht der erste Angriff von Juden gegen deutsche Amtsträger war. Bereits Anfang 1936 hatte ein angehender Rabbiner den schweizerischen NS-Funktionär Wilhelm Gustloff ermordet. Schon zu diesem Zeitpunkt ging man beim SD davon aus, daß diese Bluttat Teil einer umfassenden jüdischen Verschwörung sei. Nun stachelte Goebbels die Parteigänger der NSDAP zu antisemitischen Demonstrationen an und wurde so zum Verantwortlichen für den Terror und die Zerstörungen der „Reichskristallnacht“ vom 9. zum 10. November 1938. Mehrere hundert Synagogen und Gebetshäuser steckten die Nationalsozialisten in Brand, sie zerstörten zudem weit mehr als 800 Geschäfte, viele Tausend fielen Plünderungen zum Opfer. Zwischen 20.000 und 30.000 Juden verbrachte man in Konzentrationslager, u. a. nach Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald. Letztlich wurden sie nach mannigfaltigen Quälereien und Demütigungen allein unter der Bedingung freigelassen, umgehend aus Deutschland auszuwandern.45 Eine finanzielle Entschädigung für die ihnen entstandenen materiellen Verluste erhielten die Betroffenen nicht. Im Gegenteil. Der nationalsozialistische Staat konfiszierte nicht nur die Zahlungen der Versicherungen an die geschädigten Geschäftsinhaber und Betriebseigentümer in Höhe von mehr als 200 Millionen Reichsmark, sondern belegte die deutschen Juden insgesamt – als „harte Sühne“ für das Attentat Grynszpans in Paris – mit hohen Kontributionszahlungen. Mehr als eine Milliarde Reichsmark gelangten auf diese Weise in die Staatskassen des Großdeutschen Reiches. Sowohl unter westlichen Diplomaten als auch beim Intergovernmental Committee for Refugees herrschte Einigkeit darüber, daß es sich bei diesem brutalen und rücksichtslosen Vorgehen um eine neue Qualität in der auf eine vollständige Vertreibung der Juden abzielenden Politik der NS-Machthaber handelte.

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Vgl. ebd., S. 175. Elke Fröhlich (Hrsg.): Die Tagebücher von Josef Goebbels. Teil I: Aufzeichnungen 1923 – 1941. Bd. 6. München 1998, S. 33 bzw. S. 65. 45 Philippe Burrin: Hitler und die Juden. Frankfurt am Main 1993, S. 59. 44

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Kein Zweifel: Hitler und seine Satrapen wollten die Juden möglichst bald aus Deutschland entfernt wissen, und ihnen war es völlig gleichgültig, in welchen Teil der Welt sie zu verbringen waren. In diese Richtung zielte auch ein ausführlicher Artikel des SS-Wochenblattes Das Schwarze Korps vom 24. November 1938, in dem man mit Häme und unverhohlener Gehässigkeit das Agieren der „gepriesenen Demokratien, die teils von Juden und Freimaurern, teils immerhin von Judenfreunden beherrschten Weltmächte“ kommentierte, die samt und sonders nicht bereit seien, sich an der Lösung der Judenfrage – beispielsweise durch die Einrichtung eines eigenen Staates für die Juden – zu beteiligen. Zugleich jedoch brachte der Artikel auch „die andere“, also eine gewaltsame Lösung der Judenfrage in Deutschland ins Spiel, zu der Deutschland von den Großmächten offensichtlich gezwungen werde. Das Resultat bestünde im tatsächlichen und endgültigen Ende des Judentums in Deutschland. „Man sage jedoch nicht, daß wir nicht bereit wären, konstruktive Beiträge zur Lösung internationaler Probleme beizusteuern.“46 Mit dieser Drohung stand die SS-Postille keinesfalls allein. Auf Hitlers Geheiß hatte Hermann Göring am 12. November mehr als einhundert Beamte der an der „Lösung der Judenfrage“ beteiligten Ministerien und Behörden einschließlich Vertretern der deutschen Versicherungswirtschaft zu einer Konferenz in das Berliner Reichsluftfahrtministerium eingeladen. Im Zentrum der Gespräche stand dabei eine Erörterung der wirtschaftlichen Folgen des Pogroms vom 9./10. November 1938. Der SD-Chef Reinhard Heydrich sprach sich in der Runde für ein hartes, zielgerichtetes Vorgehen gegen die Juden aus, um deren Auswanderung zu beschleunigen. Eine zentrale Auswanderungsbehörde, wie im angegliederten Österreich kurzerhand eingeführt, konnte dem Vorhaben zusätzlichen Nachdruck verleihen.47 Hermann Göring indes wurde in diesem Kreis noch deutlicher. Sollte das Deutsche Reich in absehbarer Zeit in außenpolitische Konflikte verwickelt werden, so der Oberbefehlshaber der Luftwaffe und Vierjahresplanbeauftragte, dann müsse auch „eine große Abrechnung mit den Juden“ erfolgen.48 Diese Äußerung Görings griff inhaltlich sowohl dem Artikel vom 24. November als auch Hitlers viel zitierter Rede vom 30. Januar 1939 anläßlich des sechsten Jahrestages der Machtergreifung 1933 vor, in welchem der „Führer und Reichskanzler“ für den Fall eines Krieges das Ende der jüdischen Rasse in Europa prophezeien sollte. Diese Rede mit ihrer düsteren Ankündigung ist seither als Beweis für die systematische und kontinuierliche Vorbereitung des Holocaust herangezogen worden. Aktuelle Forschungen haben allerdings zu einer Neubewertung dieser ultimativen Drohung Hitlers geführt. Sie sehen

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Zit. nach Jansen: Der Madagaskar-Plan (wie Anm. 30), S. 260. Vgl. Richard Breitman: Der Architekt der „Endlösung“. Himmler und die Vernichtung der europäischen Juden. Paderborn 1996, S. 77. 48 Zit. nach Hermann Graml: Reichskristallnacht. Antisemitismus und Judenverfolgung im „Dritten Reich“. München 1988, S. 181 f. Das prahlerische Naturell des ehemaligen Jagdfliegers und Pour-le-Mrite-Trägers erschwert jedoch insbesondere im Hinblick auf etwaige konzeptionelle Erwägungen Görings eine Wertung und Einordnung dieser Aussage. 47

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in dieser Rede eine Art Erpressungsversuch, mit dem Hitler die Großmächte in bezug auf die Aussiedlung der deutschen Juden zu aktivem Handeln zwingen wollte.49 Immerhin hatten die festgefahrenen Verhandlungen über den Status der deutschen Juden am Jahresende 1938 neuerlich Impulse erhalten. Noch im November 1938, wenige Wochen nach der „Reichskristallnacht“, führte Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht aus Anlaß einer internationalen Tagung in Basel ein Gespräch mit dem Gouverneur der Bank of England. Schacht eröffnete Montagu Norman, daß er beabsichtige, alsbald nach London zu reisen, um mit ihm und weiteren britischen Finanzfachleuten Fragen der Finanz- und Wirtschaftspolitik zu erörtern – finanzielle Aspekte der Judenfrage in Deutschland ausdrücklich eingeschlossen. Schachts Plan, der nach vorheriger Absprache mit Hitler entwickelt worden war, sah die Auswanderung mehrerer hunderttausend Juden binnen fünf Jahren vor. Lediglich alte und kranke deutsche Juden – es handelte sich um etwa 200.000 Menschen – sollten unbehelligt in ihrer Heimat verbleiben dürfen. Internationale jüdische Organisationen sollten mit einem Kredit von 1,5 Milliarden Reichsmark dazu beitragen, dieses zweigleisige Projekt zu finanzieren. Ein Betrag in gleicher Höhe wurde den deutschen Juden als Abgabe auferlegt. Schachts Vorstellungen gingen dahin, die Gesamtsumme von 3 Milliarden Reichsmark je zur Hälfte für die Ansiedlung der Auswanderer und die Förderung des Exports deutscher Waren einzusetzen.50 Zwar wurde Hjalmar Schacht bereits am 20. Januar 1939 als Reichsbankpräsident entlassen – offiziell gab man unüberbrückbar gegensätzliche Auffassungen in finanzpolitischen Fragen zwischen Hitler und Schacht als Motiv für die Amtsenthebung an –, doch setzte nun Hermann Göring, der persönlich ein großes Interesse an einer Fortsetzung der Gespräche hegte, Ministerialdirektor Helmut Wohltat aus seiner Vierjahresplanbehörde als deutschen Verhandlungsführer ein. Als dann am 1. und 2. Februar 1939 George Rublee für das Intergovernmental Committee und Helmut Wohltat für die Reichsregierung eine Vereinbarung unterzeichneten, die im wesentlichen den Vorschlägen des Schacht-Planes entsprach, schien einer Auswanderung der deutschen Juden tatsächlich nichts mehr im Wege zu stehen.51 Allerdings wurde der Erfolg des Wohltat-Rublee-Abkommens nur zu rasch überschattet von zahlreichen Problemen, die sich eng an die Umsetzung der Übereinkunft knüpften. Denn in der Praxis zeigte sich das Großdeutsche Reich wenig geneigt, den Fahrplan des Projekts einzuhalten und einen Treuhandfonds aufzulegen, mit dem die Verschiffung der deutschen Juden finanziert werden sollte. Andererseits standen die Briten und die US-Amerikaner bei der Suche nach geeigneten Siedlungsräumen für die Emigranten vor massiven Problemen. Die vier eigens gebildeten Kommissionen konnten bis Ende März 1939 keine verbindlichen Resultate vorweisen. Verschärft wurde die Situation zudem durch Vorstellung des so genannten White Papers am 49

So z. B. Hans Mommsen: Hitlers Reichstag Speech. In: History and Memory 9 (1997), 1 – 2, S. 151. 50 Zum Madagaskar-Plan Schachts vgl. ausführlich Jansen: Der Madagaskar-Plan (wie Anm. 30), S. 268 – 276. 51 Vgl. ebd., S. 294.

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17. Mai 1939. In dem von Malcom MacDonald verfassten Dokument nahm die Regierung Großbritanniens endgültig von dem 1917 im Rahmen der Balfour Declaration gegebenen Versprechen Abstand, den Juden in ihrem Mandatsgebiet Palästina ein Nationalheim zuzugestehen.52 Da sich auch im Hinblick auf die Finanzierungsfrage keine Lösung abzeichnete – privat wie staatlich finanzierte Modelle hatten sich letztlich als nicht umsetzbar erwiesen –, bewegte sich das Projekt mehr und mehr im Kreis und wurde nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges endgültig zu den Akten gelegt.53 Der mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 beginnende Zweite Weltkrieg erlangte von Beginn an auch im Hinblick auf das Schicksal der Juden eine herausragende, ja existentielle Bedeutung. Der im Gefolge des Ersten Weltkrieges und der Pariser Vorortverträge neu gegründete polnische Staat wurde auf der Basis des Zusatzprotokolls zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 aufgeteilt. Während die Sowjetunion im Osten 200.000 Quadratkilometer mit 13 Millionen Einwohnern annektierte, eignete sich das Deutsche Reich weite Teile Westpolens mit einer Fläche von 95.000 Quadratkilometern und 10 Millionen Einwohnern an. In dem sich zwischen diesen beiden Zonen erstreckenden zentralen Teil Polens, dem sogenannten Generalgouvernement, das von den Deutschen besetzt, aber nicht annektiert worden war und in etwa dieselbe Fläche einnahm, lebten 12 Millionen Menschen. Der kurze und siegreiche Feldzug gegen Polen hatte allerdings auch dazu geführt, daß sich im Hinblick auf die im gesamten deutschen Machtbereich, der neben Teilen Polens bekanntlich auch das Sudetenland sowie das Protektorat Böhmen und Mähren umfaßte, nun völlig neue Fragen hinsichtlich des Verbleibs der in diesen Ländern lebenden Juden stellten. Hatten die nationalsozialistischen Machthaber bis September 1939 im Rahmen der „Judenfrage“ ausschließlich die deutschen bzw. österreichischen Juden in den Blick genommen, so mußten sie nunmehr mit mehreren Millionen Juden rechnen, die sich im gesamten deutschen Einflußbereich aufhielten und dem Problem endgültig eine europäische Dimension verliehen. Überdies wurden die fragilen Auswanderungspläne durch die am 3. September 1939 an Deutschland ergangene britisch-französische Kriegserklärung obsolet.54 Offensichtlich führten die Eroberung Polens und 52

Vgl. ebd., S. 300. Vgl. Breitman: Der Architekt der „Endlösung“ (wie Anm. 47), S. 89. 54 Über die Zahl der vor Kriegsausbruch in Polen lebenden Juden liegen widersprüchliche Angaben vor. Konservative Schätzungen gehen von etwa zwei Millionen polnischer Juden aus. Vgl. dazu: Christopher Browning: Die Entfesselung der Endlösung. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939 – 1942. München 2003, S. 30 bzw. Anm. 1. Norman M. Naimark: Flammender Haß. Ethnische Säuberung im 20. Jahrhundert. München 2004, nennt auf S. 93 eine Zahl von etwa drei Millionen polnischen Juden. Hans Jansen spricht hingegen von dreieinhalb Millionen Juden, die ursprünglich allein im Oktober 1939 an Deutschland angeschlossenen Teil Polens lebten, sowie weiteren zwei Millionen Juden im Generalgouvernement. Vgl. Jansen: Der Madagaskar-Plan (wie Anm. 30), S. 308. Anschauliches Zahlenmaterial zu den 1940 bzw. 1941 in Europa und Nordafrika lebenden Juden bietet Götz Aly: Endlösung. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden. Frankfurt am Main 1995, S. 303. 53

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der damit verknüpfte faktische Kriegszustand mit den beiden Westmächten bei den mit der „Judenfrage“ befaßten führenden Nationalsozialisten dazu, die bisherige, vorzugsweise auf eine Abschiebung ausgerichtete Strategie zu überdenken. Und dies geschah ohne größeren Zeitverzug. Reinhard Heydrich sprach in einem Schreiben vom 21. September 1939 von einem Judenreservat an der äußersten Peripherie des Reiches sowie von Ghettos in polnischen Großstädten, in denen man alle bislang in den ländlichen Gebieten Westpolens ansässigen Juden, die Juden aus dem Reich sowie die „Zigeuner“ ansiedeln wolle. Allerdings stieß Heydrich hier auf den entschiedenen Widerstand der Wehrmachtsführung unter Walther von Brauchitsch und auf die Einwände von Hans Frank, dem Leiter des Generalgouvernements, die sich beide gleichermaßen gegen die in Aussicht genommenen gewaltigen Bevölkerungsverschiebungen innerhalb des Einflußbereichs der deutschen Militärverwaltung verwahrten.55 Als jedoch Ende Oktober 1939 der Übergang von der Militärzur Zivilverwaltung offiziell vollzogen wurde, gewann Heydrich für seine Planspiele neuen Handlungsraum. In der Tat wurden nun in den Gauen Wartheland und DanzigWestpreußen Juden vertrieben und in das Generalgouvernement verbracht – sehr zum Mißfallen von Hans Frank –, der aber den Machtkampf mit Himmler, Heydrich und der SS verlieren sollte und keine Möglichkeiten besaß, diese Umsiedlungen bzw. Deportation zu verhindern.56 Parallel zum Vormarsch der deutschen Heeresverbände in Polen nahmen Einsatzgruppen des SS-Sicherheitsdienstes SD, Waffen-SS-Einheiten, aber auch Wehrmachtstruppenteile und Polizeiverbände gezielte Tötungen im großen Stil an der Zivilbevölkerung vor, in deren Verlauf sich die Zahl jüdischer Opfer rasch erhöhte, und die ab Oktober 1939 den Charakter systematischer Liquidierungen annahmen.57 Derartige Massenexekutionen, denen bis zum Jahresende 1939 etwa 50.000 Polen zum Opfer fielen, waren durchaus als Ergänzung zu den angelaufenen Umsiedlungs- und Vertreibungsaktionen innerhalb der von den deutschen Truppen besetzten bzw. in das Großdeutsche Reich eingegliederten polnischen Territorien zu verstehen. Die „Lösung der Judenfrage“ fügte sich hier ebenso wie die Auslöschung der nichtjüdischen polnischen Eliten nahtlos in den Kontext einer ethnischen Flurbereinigung ein, die der geplanten Neuansiedlung Volksdeutscher aus dem Osten bzw. Südosten Europas vorauszugehen hatte.58 Jedoch vermochten weder die in zahlreichen Städten errichteten Ghettos noch das große „Juden-Reservat“ im Distrikt Lublin die Menschenmassen aufzunehmen, die zudem – insbesondere im Lubliner „Reichsghetto“ – unter unvorstellbaren Bedingungen ihr Leben zu fristen hatten. Zwar hegten Hitler und Himmler die perfide Hoffnung, daß Hunger und Seuchen das 55

Vgl. Aly: Endlösung (wie Anm. 54), S. 30. Vgl. Naimark: Flammender Haß (wie Anm. 54), S. 93. 57 Vgl. Browning: Die Entfesselung der Endlösung (wie Anm. 54), S. 54 ff. 58 Vgl. ebd., S. 64. Zu den vielfältigen Problemen, die sich im Zuge der von Himmler forcierten Umsiedlungspolitik ergaben vgl. ders.: Der Weg zur Endlösung. Entscheidungen und Täter. Reinbek 2002, S. 18 ff. 56

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ihre dazu beitragen würden, die „Judenfrage“ in Polen auf diesem Wege zu klären. Dem standen allerdings Befürchtungen hinsichtlich negativer Auswirkungen auf die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten sowie strategische Erwägungen der Wehrmachtsführung hinsichtlich der Vorbereitung und Einrichtung operativer Ausgangsbasen für den in Aussicht genommenen Feldzug gegen die Sowjetunion gegenüber.59 Nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser Überlegungen erhielten die Planungen für die Abschiebung sämtlicher im deutschen Machtbereich lebender Juden nach Madagaskar, Palästina oder Äthiopien neue Nahrung. Vornehmlich Hans Frank bemühte sich im Zeitraum zwischen dem Ende des Polenfeldzuges und dem Beginn des Westfeldzuges 1940 im Rahmen von Unterredungen mit Hitler darum, den provisorischen Charakter der Deportation hunderttausender Juden in das Generalgouvernement zu betonen, der seiner Sichtweise nach einer Überflutung gleichkäme, die praktisch mehr Probleme schüfe als löse. Am Ende des Krieges müsse daher die Ansiedlung der Juden „zum Beispiel auf Madagaskar“ stehen.60 Der Chef des Generalgouvernements stand mit dieser Haltung keineswegs allein. Selbst Heinrich Himmler sah sich zwei Wochen nach Beginn des Feldzuges gegen Frankreich und die Benelux-Staaten in einem Memorandum dazu genötigt festzustellen, daß sich durch die Möglichkeit „einer großen Auswanderung sämtlicher Juden nach Afrika oder sonst in eine Kolonie“ die Chance eröffne, dieses Problem endgültig zu lösen. Tatsächlich gestalteten sich für die NS-Führung die Umstände, ihre Pläne hinsichtlich der Vertreibung der Juden aus Europa verwirklichen zu können, wenigstens zu diesem Zeitpunkt äußerst günstig. Der Westfeldzug war für Frankreich bereits nach dem rasanten Übergang deutscher Panzerverbände über die Maas ab dem 13. Mai 1940 verloren, und die endgültige Niederlage der Dritten Republik, die am 22. Juni 1940 im Waffenstillstandsdokument von Compigne kulminierte, schien für Hitler und seine Satrapen völlig neue Handlungsspielräume auch im Hinblick auf die Judenfrage zu eröffnen.61 Noch vor Ende der Kampfhandlungen in Frankreich setzte sich Franz Rademacher, Legationsrat in der Abteilung „Jüdische Angelegenheiten“ der Deutschlandabteilung im Auswärtigen Amt, in einer umfänglichen Konzeption mit dem Judenproblem auseinander. Rademacher versprach sich von der Verbannung sämtlicher Juden West-, Mittel- und Osteuropas nach Madagaskar bzw. vom Verbleiben der osteuropäischen Juden in Lublin als Faustpfand für ein Stillhalten der Juden in den Vereinigten Staaten die größten Chancen, die „Judenfrage“ in Europa im Sinne des nationalsozialistischen Deutschlands lösen zu können.62 Eine Umsiedlung nach Palästina lehnte der Legationsrat hingegen ab. Zu groß schien ihm die Gefahr, die Juden könnten aus einem Nationalheim in Palästina ein „Zweites Rom“ 59

Vgl. Naimark: Flammender Haß (wie Anm. 54), S. 94. Zit. nach Jansen: Der Madagaskar-Plan (wie Anm. 30), S. 312 f. 61 Vgl. Browning: Der Weg zur Endlösung (wie Anm. 58), S. 26. 62 Zum Madagaskar-Plan des Auswärtigen Amtes vgl. Breitman: Der Architekt der „Endlösung“ (wie Anm. 47), S. 165 sowie ausführlich Jansen: Der Madagaskar-Plan (wie Anm. 30), S. 320 – 335. 60

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schaffen. Rademacher bat seinen Vorgesetzten Martin Luther, den Leiter der Deutschlandabteilung im Auswärtigen Amt, bei Außenminister Joachim von Ribbentrop bezüglich der grundsätzlichen Planungen für die Friedensverhandlungen mit Frankreich vorstellig zu werden, da es sich bei Madagaskar um eine französische Kolonie handelte. Offensichtlich sah man zu diesem Zeitpunkt innerhalb des Auswärtigen Amtes die Möglichkeit, sich in Abgrenzung zu konkurrierenden Institutionen, wie beispielsweise Himmlers SS, aktiv in die anstehenden deutsch-französischen Friedensverhandlungen einbringen zu können.63 Bei den der geplanten Konferenz vorausgehenden Konsultationen zwischen Hitler und Ribbentrop auf deutscher sowie Mussolini und Ciano auf italienischer Seite, bemühte sich Hitler mit Nachdruck darum, die Belastungen für Frankreich trotz der umfassenden Forderungen, die der „Duce“ und Ministerpräsident Italiens und sein Außenminister erhoben, in Grenzen zu halten. Für ihn stand vielmehr das Interesse im Vordergrund, eine Fortführung der Kriegshandlungen in Nordafrika und die Übernahme der starken und intakten französischen Flotte durch die Briten zu vermeiden. Zugleich stellten die nach deutscher Auffassung moderat gehaltenen Waffenstillstandsbedingungen ein weiteres indirektes Angebot an Großbritannien dar, nunmehr gleichfalls Gespräche zur Beendigung des Kriegszustandes mit Deutschland aufzunehmen. Immerhin erzielten Hitler und Mussolini hinsichtlich der Madagaskar-Frage Einigkeit.64 Angesichts der nach der raschen Beendigung des Krieges gegen Frankreich und des erwarteten Einlenkens der Briten für Hitler im Sommer 1940 so positiven strategischen Lage, schien nun auch die alsbaldige Abschiebung der europäischen Juden in greifbarer Nähe. Josef Goebbels stellte sich Madagaskar als ein von den Juden bewohntes deutsches Schutzgebiet unter einem deutschen Polizeigouverneur vor, keinesfalls jedoch als ein eigenständiges Staatswesen.65 Ende Juni 1940 schalteten sich auch Reinhard Heydrich sowie dessen Referatsleiter und Deportationsfachmann Adolf Eichmann gezielt in die laufenden Gespräche ein. Eichmann selbst setzte Anfang Juli 1940 in Wien Vertreter jüdischer Organisationen von den anstehenden Planungen in Kenntnis, die nach einer Beendigung des Krieges umgehend in die Tat umgesetzt werden sollten. In seinem Auftrag trug ein eigens zu diesem Zweck nach Paris entsandter SD-Mann im französischen Kolonialministerium relevante Materialien über Madagaskar zusammen, die zur Ausarbeitung eines Umsiedlungsplanes durch das Reichssicherheitshauptamt dienen sollten.66 Zur gleichen Zeit 63

Vgl. Browning: Die Entfesselung der Endlösung (wie Anm. 54), S. 132. Vgl. ebd., S. 28. Browning spricht in diesem Zusammenhang von „Frustration, die sich bei der NS-Führung in den vergangenen neun Monaten angesichts der Probleme bei der demographischen Neuordnung Osteuropas aufgestaut“ habe. Weiterhin ausführlich Jansen: Der Madagaskar-Plan (wie Anm. 30), S. 326. 65 Elke Fröhlich (Hrsg.): Die Tagebücher von Josef Goebbels. Teil I: Aufzeichnungen 1923 – 1941. Bd. 8. München 1998, S. 238. 66 Vgl. Serge Klarsfeld: Vichy-Auschwitz. Die Zusammenarbeit der deutschen und französischen Behörden bei der „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich. Nördlingen 1989, S. 38. 64

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setzten sich Hitler und Frank im Rahmen einer Besprechung mit dem künftigen Status des Generalgouvernements auseinander. Vornehmlich kamen dabei die zahlreichen politischen, ökonomischen und sozialen Probleme in dem besetzten Territorium zur Sprache. Hitler gab Frank deutlich zu verstehen, daß nach Kriegsende sämtliche Juden in eine amerikanische oder afrikanische Kolonie abgeschoben werden sollten, und daß man sich wohl für Madagaskar entscheiden werde. Zugleich erhielt Frank von Hitler zwei weitreichende Zusagen hinsichtlich des Status des Generalgouvernements: den Aufnahmestop für Juden, die aus anderen Teilen des deutschen Hegemonialbereichs in Europa in das Generalgouvernement verbracht werden sollten, und die Zusicherung, das gesamte Gebiet in das Deutsche Reich einzugliedern.67 In vergleichbarer Manier wie im Osten setzten ab Juli 1940 nun auch in Frankreich die deutschen Maßnahmen zur Trennung der jüdischen von der nichtjüdischen Bevölkerung ein. Besonderes Augenmerk galt hier den für die unmittelbare Rückgliederung in das Deutsche Reich bestimmten Gebieten Elsaß und Lothringen, aus denen – trotz französischen Protests – umgehend Juden in die nichtbesetzte Zone Vichy-Frankreichs abgeschoben wurden, und denen in den Folgemonaten Juden aus Baden und der Pfalz folgten.68 Im Sommer bzw. Herbst 1940 wurde der NS-Führung angesichts der militärischen Sachlage jedoch klar, daß man mit einer raschen Umsetzung der vom Auswärtigen Amt bzw. vom Reichssicherheitshauptrat konzipierten Abschiebepläne nicht rechnen konnte. Auf Befehl des Premierministers Winston Churchill griffen britische Streitkräfte die an der nordafrikanischen Mittelmeerküste vor Mers el-Kebir liegende französische Flotte an und fügten ihr schwere Verluste zu. Churchill hatte mit dieser Offensivmaßnahme nicht allein seine Entschlossenheit demonstriert, den Krieg gegen Deutschland auch ohne Frankreich weiterzuführen. Zugleich waren die französischen Schiffe dem deutschen Zugriff und damit der Verwendung für eine Landung an der britischen Küste entzogen. Als die von August bis Dezember 1940 vornehmlich über den britischen Inseln geführte Luftschlacht um England für Görings Luftwaffe in eine Niederlage mündete, die dem Widerstandswillen der Briten zusätzlichen Auftrieb gab, mussten Hitler und seine Gefolgsleute davon ausgehen, daß eine Deportation der Juden aus Europa unter den gegebenen Umständen nicht zu realisieren war.69 Mittlerweile befanden sich mehrere Millionen Juden im deutschen Herrschaftsbereich, der 1940/41 weite Teile Europas umfasste und sich durch den in Vorbereitung begriffenen Überfall auf die Sowjetunion, Churchills „Festlandsdegen“, bald weit nach Osten verschieben sollte.70 67 Vgl. Breitman: Der Architekt der „Endlösung“ (wie Anm. 47), S. 168 f.; Jansen: Der Madagaskar-Plan (wie Anm. 30), S. 333. 68 Vgl. Aly: Endlösung (wie Anm. 54), S. 148. 69 Vgl. exemplarisch Klaus A. Maier: Die Luftschlacht über England. In: Wolfgang Michalka: Der zweite Weltkrieg. Analysen, Grundzüge, Forschungsbilanz. Weyarn 1997, S. 513 – 522. 70 Aly spricht mit Hinweis auf die Eichmann-Definition des Begriffs „europäischer Wirtschaftsraum des deutschen Volkes“ von 5,8 Millionen Juden (S. 198), Naimark nennt – in

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Dieser Angriff, die Operation „Barbarossa“, begann am 22. Juni 1941. Hitler hatte die Wehrmachtsführung bereits im Frühjahr 1941 darauf hingewiesen, daß dieser Feldzug kein gewöhnlicher Krieg, sondern vielmehr ein Weltanschauungskampf zwischen zwei Ideologien sein würde, bei dem die völkerrechtlichen Normen für die Kriegführung nicht zur Anwendung kommen dürften. Die Sowjetunion müsse daher als solche ebenso vernichtet werden wie die sie repräsentierende „jüdisch-bolschewistische Intelligenz“.71 In diesen Kontext sind auch die vom Oberkommando der Wehrmacht am 6. Juni 1941 erlassenen „Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare“, der sogenannte „Kommissarbefehl“ einzuordnen, der die sofortige Erschießung dieser Offiziere ohne Gerichtsverhandlung vorsah. Gleichwohl wäre es falsch, den Beginn dieses Krieges zeitlich mit dem Auftakt zum industrialisierten Massenmord an den Juden gleichzusetzen. Philippe Burrin weist darauf hin, daß kein Dokument existiert, in dem Hitler die Vernichtung der sowjetischen Juden vor Beginn des Rußlandfeldzuges anordnete. Vielmehr hielten Hitler und seine Gefolgsleute nach wie vor an der Idee einer Vertreibung der Juden aus Europa fest. War eine Deportation nach Madagaskar nicht möglich, dann konnten nach dem Sieg über das kommunistische Reich Stalins Territorien weit im Osten gleichermaßen geeignet sein.72 Josef Goebbels und Reinhard Heydrich stimmten im Verlaufe von Gesprächen im September 1941 darin überein, daß eine Verbringung der Juden in die von den „jüdischen Bolschewisten“ eingerichteten Gulags, in denen zuvor bereits Millionen Menschen umgekommen waren, durchaus passend sei.73 Mit Beginn des Feldzuges gegen die UdSSR begannen SD-Einsatzgruppen, aber auch Wehrmachtseinheiten mit der gezielten Tötung der pauschal als Saboteure, Partisanen und Feinde Deutschlands abgestempelten Juden in den Gebieten hinter der Front. Der proletarische Internationalismus der Kommunisten und die „jüdische Weltverschwörung“ verschmolzen im Denken und Handeln der NS-Führung zu einer brisanten Melange, die Wehrmacht wie SS zur Anwendung jeder nur denkbaren Form von Gewalt berechtigte, und die selbstverständlich auch vor Kriegsgefangenen nicht halt machte. In der zweiten Hälfte des Jahres 1941 nahm die nationalsozialistische Tötungsmaschinerie in weiten Teilen Osteuropas geradezu apokalyptische Ausmaße an. Und dieser Völkermord an den Juden vollzog sich nicht allein im Rückraum der kämpfenden Front durch Massenexekutionen, sondern vielmehr auch in den zahlreichen Ghettos und Straflagern im Generalgouvernement, im Baltikum und in Weißrußland, in denen die Eingepferchten schlicht verhungerten oder an Krankheiten zugrunde gingen, da selbst eine minimale Versorgung aufgrund des Krieges kaum noch gewährleistet war. „Unnütze Esser“ ließen sich auf diesem Weg bequem beseitigen.74 Bezug auf die noch im August 1940 zur Deportation nach Madagaskar vorgesehenen Juden – hingegen eine Zahl von 4 Millionen (S. 96). 71 Vgl. Wendt: Deutschland 1933 – 1945 (wie Anm. 41), S. 574. 72 Vgl. Philippe Burrin: Hitler und die Juden (wie Anm. 45), S. 115 f. 73 Elke Fröhlich (Hrsg.): Die Tagebücher von Josef Goebbels. Teil 2: Diktate. Bd. 1. München 1996, S. 480. 74 Zit. nach Naimark: Flammender Haß (wie Anm. 54), S. 104.

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Bis zum 31. Oktober 1941 wurden 537.000 Juden aus dem Reich sowie 30.000 Juden aus dem Protektorat Böhmen und Mähren in den Osten deportiert. Während sich nun NS-Führer in vielen Teilen des Deutschen Reiches mit Forderungen zu Wort meldeten, auch die verbliebenen deutschen Juden in die polnischen Ghettos abzuschieben, nahmen die Vorstellungen Hitlers, Himmlers und Heydrichs im Hinblick auf die sich im deutschen Machtbereich befindlichen Juden Ende 1941 eine neue, grausige Gestalt an. Angesichts der massiven Verluste an der Ostfront – der Vormarsch auf Moskau war im November 1941 zum Stehen gekommen und die Rote Armee am 5. Dezember zum Gegenangriff angetreten – und des Kriegseintritts der Vereinigten Staaten aufgrund der deutschen Kriegserklärung vom 11. Dezember 1941, war ein siegreiches Ende des Krieges in weite Ferne gerückt. Wenn nun Hunderttausende deutscher Soldaten ihr Leben im Kampf verlören – so Hitler in einer Rede vor Gauleitern am 12. Dezember 1941 – weshalb sollten dann die Juden, die „Urheber dieses blutigen Konflikts“, weiterleben?75 Ohne Zweifel knüpfte der Diktator hier an seine Rede vom 30. Januar 1939 an, in der er für diesen Fall mit der Vernichtung der europäischen Juden gedroht hatte. Wenige Tage später, am 16. Dezember, äußerte sich Hans Frank in ähnlicher Weise und gab in bezug auf die Form, in der die Juden „verschwinden“ sollten, weitere Einzelheiten preis. Man könne die 3,5 Millionen Juden weder erschießen noch vergiften, aber man müsse dennoch Eingriffe vornehmen, die zu einem Vernichtungserfolg führten.76 Frank spielte hier offensichtlich auf die enormen Schwierigkeiten an, mit denen die Exekutionskommandos bei den Massenerschießungen konfrontiert waren, und die bereits ab Juli bzw. August 1941 zur Suche nach alternativen Tötungsformen, etwa durch Sprengstoffeinsatz, beitrugen. Wie Richard Breitman beschreibt, erinnerte sich zu dieser Zeit Adolf Eichmann in einem Gespräch mit dem Kommandanten des Konzentrationslagers Auschwitz, Rudolf Höß, an die im Rahmen des Euthanasie-Programms unter dem Decknamen „Aktion T 4“ ab Ende 1939 massenhaft praktizierte Tötung mittels Diesel-Abgasen. Allerdings sei auch dieses Modell so nur eingeschränkt anwendbar, da hierfür zahlreiche Gebäude neu errichtet werden müssten, und da es generell fraglich sei, ob sich Kohlenmonoxyd in ausreichender Menge beschaffen ließe.77 Bekanntlich lief der in den stationären und mobilen Vergasungsstationen betriebene Mord bis August 1941, als Clemens August Graf von Galen, der katholische Bischof von Münster, die NS-Führung in einer Predigt direkt des Massenmordes an Geisteskranken anklagte, und sich Hitler gezwungen sah, das Euthanasie-Programm offiziell zu stoppen. Heinrich Himmler, der im Sommer 1941 in Minsk selbst Zeuge von Massenerschießungen gewesen war und daher der Tötung durch Vergasen als einer wesentlich 75 Elke Fröhlich (Hrsg.): Die Tagebücher von Josef Goebbels. Teil 2: Diktate. Bd. 2. München 1996, S. 498 f. 76 Vgl. Naimark: Flammender Haß (wie Anm. 54), S. 102. 77 Vgl. Breitman: Der Architekt der „Endlösung“ (wie Anm. 47), S. 260. Zur „Aktion T 4“ vgl. Götz Aly: Aktion T 4 1939 – 1945. Die „Euthanasie“-Zentrale in der Tiergartenstraße 4. Berlin (West) 1987.

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geordneteren, weniger nervenaufreibenden Form der physischen Vernichtung der Juden zuneigte, sorgte dafür, daß sich SS-Fachleute auch weiterhin mit Möglichkeiten zur Weiterentwicklung der „T 4“-Tötungstechnologie auseinandersetzen konnten. Im Herbst 1941 entstanden im Osten des Reiches und im Generalgouvernement unter der Aufsicht von SS-Brigadeführer Odilo Globocnik und Himmlers Wirtschaftsfachmann Oswald Pohl Vernichtungslager mit Gaskammern und Krematorien. Hatten SS-Mannschaften in Lublin, Minsk und anderen Städten des Ostens ab Herbst 1941 mit den verschiedensten Methoden des Massenmordes, mit Massenerschießungen, Sprengstoff oder Kfz-Abgasen experimentiert, um einen möglichst hohen Wirkungsgrad des Tötens zu erzielen, so führte man in Auschwitz ab Anfang September 1941 Versuche an sowjetischen Kriegsgefangenen und Kranken mit dem Schädlingsbekämpfungsmittel Zyklon B durch.78 Der binnen kürzester Zeit unzweifelhaft erkannte mörderische Wirkungsgrad dieses Giftstoffes wies den Weg zum industriellen Massenmord an den Juden Europas. Die Nationalsozialisten beschritten ihn ohne Zögern. Hitler und seine Gefolgsleute hatten zu keiner Zeit Zweifel daran aufkommen lassen, daß die nationalsozialistische Machtergreifung, die „nationale Revolution“, auch die Stunde der „Abrechnung“ mit den deutschen Juden sein werde. Die aus rassistisch-antisemitischen Ressentiments gespeiste NS-Weltanschauung, die von den Komponenten einer biologistischen Pseudowissenschaft flankiert wurde, sah für die Juden im neuen Deutschland keinen Platz mehr. Mochte die aggressiv-militante Sprache der Nationalsozialisten nahelegen, daß die Endlösung in Form der physischen Vernichtung der Juden bereits beschlossene Sache sei, so bestand ihr Ziel doch zuallererst in einer Erfassung und sodann in einer geschlossenen Vertreibung der Juden ins benachbarte Ausland oder deren Ansiedlung außerhalb Europas. Diese Projekte ließen sich für die nationalsozialistischen Machthaber jedoch weder vor September 1939 noch später umsetzen. Die Auswanderungsoption scheiterte am Willen der NS-Führung, zwar einen Großteil der Juden gehen zu lassen, deren gesamtes Vermögen jedoch einzuziehen. Hinzu kam die mangelnde Bereitschaft diverser Aufnahmeländer, größeren Kontingenten deutscher Juden eine neue Heimat zu bieten. Im Zuge des Krieges gewann das „Judenproblem“ für die NS-Machthaber dann eine gleichsam doppelte Dynamik: einerseits durch die sich mit jedem Feldzug erhöhenden Zahlen von Juden, die sich im deutschen Einflußbereich befanden, und andererseits aufgrund der konsequenten Weiterführung der Kampfhandlungen durch Großbritannien nach der Kapitulation Frankreichs im Sommer 1940, wodurch eine Einschiffung mehrerer Millionen europäischer Juden in Richtung Madagaskar unmöglich wurde. An die Stelle der über mehrere Jahre mit großem Aufwand von verschiedenen NS-Institutionen verfolgten Madagaskar-Projekte trat mit Kriegsbeginn 1939 die Variante der Verbringung der Juden in den Osten Polens, ab Juni 1941 78 Vgl. Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden 1939 – 1945. Die Jahre der Vernichtung. München 2006, S. 264 bzw. S. 387.

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dann der Deportation in die Weiten Rußlands. Bei keinem dieser Vorhaben war jedoch daran gedacht, den Juden eine Existenz innerhalb geordneter staatlicher bzw. wirtschaftlicher Strukturen zu ermöglichen. Im Gegenteil. Auch hier stand das Todesurteil fest, welches durch die klimatischen Bedingungen, durch mangelnde Ernährungs- und Arbeitsmöglichkeiten, durch dauerhafte Isolation an irgendeinem Ort der Welt fernab aller Zivilisation langsam vollstreckt werden sollte. Für die Täter war der Unterschied zwischen der einen oder der anderen Form des Massenmordes letztlich so groß nicht.

„Völkische Flurbereinigung“. Die Politik der Rückführung deutscher Minderheiten aus Osteuropa im Dritten Reich Von Alexander Brakel (Berlin) Der Tübinger Osteuropa-Historiker Dietrich Beyrau hat im Hinblick auf Ostmitteleuropa im Zweiten Weltkrieg vom „Schlachtfeld der Diktatoren“ gesprochen.1 Mit der gleichen Berechtigung ließe sich auch vom „Verschiebebahnhof der Diktatoren“ reden, wobei neben Gütern in erster Linie Menschen verschoben, das heißt umgesiedelt oder deportiert wurden. Die über 400.000 Personen, die infolge der sowjetischen Besatzung in Ostpolen und im Baltikum nach Sibirien und Kasachstan deportiert wurden, sollen uns an dieser Stelle nicht weiter beschäftigen.2 Gegenstand dieses Aufsatzes sind vielmehr die ungleich gewaltigeren Umsiedlungspläne der Nationalsozialisten, die ab September 1939 schrittweise umgesetzt wurden. Ihre ideologische Basis hatten diese Pläne in den Raumvorstellungen Adolf Hitlers, die dieser bereits in seiner Landsberger Haft in Mein Kampf niedergelegt hatte. Demzufolge sollte im „Osten“ ein riesiger deutscher Siedlungsraum entstehen.3 In Heinrich Himmler fand diese Idee ihren treuesten Anhänger und Weiterentwickler, der damit auch die Vorstellung einer Höherzüchtung des deutschen Volkes verband. Der entscheidende Faktor in Himmlers Denken war das Blut, genauer der Gegensatz von germanischem und asiatischem Blut. Während asiatisches Blut die Grundlage aller niederen Existenzformen sei, bildete das germanische Blut in Himmlers Anschauung die unabdingbare Voraussetzung für jegliche schöpferische und organisatorische Leistung. Himmlers Glaube an die Wirkungsmächtigkeit des Blutes ging so weit, daß er auch den Führern der sogenannten „asiatischen Horden“, die über Europa „hergefallen“ waren – etwa Attila, Dschingis-Khan oder Stalin – bescheinigte, daß in ihren Adern germanisches Blut geflossen sei, da sie andernfalls 1 Dietrich Beyrau: Schlachtfeld der Diktatoren. Osteuropa im Schatten von Hitler und Stalin. Göttingen 2000. 2 Siehe hierzu Günther Häufele: Zwangsumsiedlungen in Polen 1939 – 1941. Zum Vergleich sowjetischer und deutscher Besatzungspolitik. In: Dittmar Dahlmann/Gerhard Hirschfeld (Hrsg.): Lager, Zwangsarbeit, Vertreibung und Deportation. Dimension der Massenverbrechen in der Sowjetunion und in Deutschland 1933 bis 1945. Essen 1999 (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte – Neue Folge. Bd. 10), S. 515 – 533. 3 Adolf Hitler: Mein Kampf. München, 286.–290. Aufl. 1938, S. 742 – 758.

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zu derartigen militärischen und organisatorischen Leistungen nicht im Stande gewesen wären. Nur die dem Germanentum verlorengegangenen „nordisch-germanisch-arischen“ Blutsteile hätten diese Menschen im „Völkerbrei von Millionen Untermenschen“ zu Führernaturen erhoben.4 Die neben dem Blutsgedanken sowohl für Hitler als auch für Himmler konstitutive Idee eines ständigen Kampfes zwischen Germanen und Asiaten beziehungsweise zwischen Ariern und Nichtariern ließ es notwendig erscheinen, dem deutschen Volk soviel gutes Blut zuzuführen wie nur möglich. 1938 fasste Himmler diese Überlegung in einer Rede folgendermaßen zusammen: „Alles gute Blut auf der Welt, alles germanische Blut, was nicht auf deutscher Seite ist, kann einmal unser Verderben sein. Es ist deswegen jeder Germane mit bestem Blut, den wir nach Deutschland holen und zu einem deutschbewußten Germanen machen, ein Kämpfer für uns und auf der anderen Seite ist einer weniger. Ich habe wirklich die Absicht, germanisches Blut in der ganzen Welt zu holen, zu rauben und zu stehlen, wo ich kann.“5 Und bereits zwei Jahre zuvor hatte die SS erste Pläne zur Umsiedlung deutscher Volksgruppen aus Ostmittel- und Osteuropa nach Deutschland ausgearbeitet, die diesem Prinzip entsprachen.6 Relevant wurden diese Pläne jedoch erst mit Beginn des Krieges. Wichtiger als der militärische Sieg über Polen war hierfür die im Hitler-Stalin-Pakt erzielte diplomatische Einigung mit der Sowjetunion: Weit über die polnischen Grenzen hinaus definierten die beiden Diktatoren im geheimen Zusatzprotokoll, das durch den Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939 noch eine leichte Korrektur erfuhr, ihre Einflußsphäre im gesamten ostmitteleuropäischen Raum. Die Sowjetunion erhielt darin unter anderem das Baltikum zugesprochen und damit ein Gebiet, in dem seit Jahrhunderten – oder im Fall von Litauen zumindest seit gut hundert Jahren – Deutsche siedelten. Zugleich gewährte der Grenz- und Freundschaftsvertrag dem Deutschen Reich das Recht, eben diese „Volksdeutschen“, wie sie in der NS-Terminologie genannt wurden, in das eigene Gebiet zu überführen.7 Knapp zwei Wochen später, am 6. Oktober 1939, teilte Hitler in einer Rede vor dem Reichstag der Öffentlichkeit seinen Plan mit, nicht nur die Deutschen aus Lettland und Estland, sondern auch aus anderen Gegenden Osteuropas umzusiedeln. Sein Ziel war eine großangelegte ethnische Flurbereinigung, die zur „Entmischung“ der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen führen sollte. Er begründete diese Entscheidung mit der Notwendigkeit, bestehende Konfliktherde zwischen den unterschied4 Josef Ackermann: Heinrich Himmler als Ideologe. Zürich/Frankfurt am Main 1970, S. 172 – 178, 205 – 211. 5 Zit. nach ebd., S. 206; ferner Frank-Lothar Kroll: Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich. 2. Aufl. Paderborn/München/Wien/Zürich 1999, S. 209 – 255. 6 Harry Stossun: Die Umsiedlung der Deutschen aus Litauen während des Zweiten Weltkrieges. Untersuchungen zum Schicksal einer deutschen Volksgruppe im Osten. Marburg 1993, S. 27 (= Historische und landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien. Bd. 12). 7 Isabel Röskau-Rydel: Galizien. In: Dies. (Hrsg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Galizien, Bukowina, Moldau. [Berlin] [1999], S. 15 – 212, hier S. 192.

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lichen Nationalitäten zu beseitigen.8 Damit brach Hitler mit der bisher gegenüber den Auslandsdeutschen betriebenen Politik. Bis dato war es Kurs des Dritten Reichs gewesen, die Auslandsdeutschen zu ermutigen, in ihren bisherigen Siedlungsgebieten wohnen zu bleiben, weil das Vorhandensein einer deutschen Minderheit der Reichsregierung einen Hebel in die Hand gab, Druck auf den jeweiligen Staat auszuüben. Dieses sechs Jahre lang verfolgte Prinzip wurde nun von einem auf den anderen Tag aufgegeben. Am 7. Oktober 1939 ernannte Hitler den Reichsführer-SS Heinrich Himmler zum Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums (RKF) und übertrug ihm die Aufgabe, die Deutschen aus Osteuropa ins Reich zu holen. Der frisch Ernannte ging sogleich mit großem Eifer ans Werk und richtete bereits einen Tag später die Einwanderungszentrale ein, um die notwendigen Maßnahmen zu koordinieren.9 Die ersten, die all das betraf, waren die in Lettland und Estland lebenden Deutschen. Sie wurden aufgefordert, sich zur Umsiedlung ins Deutsche Reich zu melden. Auch wenn die deutsche Propaganda wegen des deutsch-sowjetischen Freundschaftsvertrages damals nicht die „bolschewistische Gefahr“ beschwor, war es doch genau diese Angst vor der sowjetischen Herrschaft, die die meisten Deutschbalten dazu veranlasste, dieses Angebot anzunehmen. Zwar war das Baltikum bislang noch nicht besetzt, aber zumindest informell übte Moskau bereits Druck auf die Regierungen in Reval und Riga aus. Zudem dürfte den meisten Baltendeutschen klar gewesen sein, daß die baltischen Staaten ihrem großen östlichen Nachbarn wenig entgegenzusetzen hatten und ihm im Falle eines Angriffs hoffnungslos unterlegen gewesen wären. Bei einigen deutschbaltischen Politikern und Privatleuten, beispielsweise beim Repräsentant der IG-Farben, Claus von Kursell, war die Angst vor der sowjetischen Besatzung sogar derart groß, daß sie dort von sich aus die deutsche Regierung bedrängten, eine Evakuierung der gesamten deutsch-baltischen Bevölkerung aus dem Baltikum vorzubereiten. Die hohe Bedeutung, die die Bedrohung durch den Bolschewismus in den Augen der Deutschbalten hatte, zeigte sich nicht zuletzt darin, daß die Zahl der „Umsiedlungswilligen“ nach dem sowjetischen Angriff auf Finnland schlagartig in die Höhe schnellte. Der größte Teil der Deutschbalten schloß sich jedoch bereits im Oktober 1939 der Umsiedlung an. Bis zum Jahresende verließen etwa 14.000 Personen Estland und 52.200 Personen Lettland. Zwischen vier- und siebentausend blieben in ihrer alten Heimat, einige von ihnen schlossen sich einer weiteren Umsiedlung im Frühjahr des Folgejahres an.10 Angesichts der nicht nur von der deutschen Propaganda gezeichneten, sondern tatsächlich 8 Max Domarus (Hrsg.): Hitler: Reden und Proklamationen 1932 – 1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen. München 1965, Bd. II, 1, S. 1377 – 1393. 9 Robert L. Koehl: RKFDV: German Resettlement and Population Policy 1939 – 1945. A History of the Reich Commission for the Strengthening of Germandom. (= Harvard Historical Monographs. Vol. XXXI). Cambridge/Mass. 1957, S. 54. 10 Michael Garleff: Die Deutschbalten als nationale Minderheit in den unabhängigen Staaten Estland und Lettland. In: Gert von Pistohlkors (Hrsg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Baltische Länder. [Berlin] [1994], S. 452 – 550, hier S. 534 – 541.

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überaus realen Bedrohung, die von der Sowjetunion ausging, bezeichnet der Historiker Dietrich Loeber das Umsiedlungsangebot als „diktierte Option“ für die Deutschbalten.11 Ob letzteren das Paradoxon bewußt war, Schutz ausgerechnet in dem Staat zu suchen, dessen Politik ihre Bedrohung überhaupt erst verursacht hatte, sei dahingestellt. In Ermangelung anderer Optionen dürften solche Erwägungen jedoch selbst für die politisch Hellsichtigen unter ihnen kaum eine Rolle gespielt haben. Die Umsiedlung der Deutschbalten stellte nur das erste Glied in einer langen Kette dar: Bereits im Dezember 1939 begann die Evakuierung der Deutschen aus den sowjetisch besetzten Gebieten Ostpolens, aus Galizien und Wolhynien. Auch hier war die Bereitschaft der Betroffenen groß, das Umsiedlungsangebot anzunehmen – zumal sie, anders als die Deutschen im Baltikum, bereits erste Erfahrung mit den Realitäten sowjetischer Politik – Verstaatlichungen, Massenverhaftungen sowie ersten Ansätzen der Kollektivierung – gemacht hatten. Vielfach meldeten sich auch Personen, die kaum Deutsch sprachen und nur anhand von Urkunden ihre deutsche Herkunft nachzuweisen versuchten. In solchen Fällen mußten die Leiter der deutschen Ortskommissionen bestimmen, wer als Deutscher zu gelten hatte. Neben der tatsächlichen Volkszugehörigkeit spielten dabei auch politische Gesichtspunkte eine Rolle: Wer vor dem Krieg ein als „deutschfeindlich“ empfundenes Verhalten an den Tag gelegt hatte, durfte sich kaum Hoffnungen auf eine „Eindeutschung“ machen. Personen mit positiv beschiedenen Gesuchen mußten einen Teil ihrer Habe auf Pferdewagen laden, auf denen sie auch selbst die Reise gen Westen antraten; nur Kinder, Frauen, Alte und Gebrechliche reisten mit der Eisenbahn. Infolge großer Kälte – die Transporte der Wolhynien- und Galiziendeutschen fanden mitten im Winter bei Temperaturen um vierzig Grad unter Null statt – brachen vor allem viele ältere Leute und Kinder zusammen oder wurden krank.12 Entgegen ihren Erwartungen wurden die Volksdeutschen nicht im Deutschen Reich, sondern in den dem Reich angeschlossenen Gebieten Polens, vor allem in den Gauen „Wartheland“ und „Danzig-Westpreußen“ angesiedelt. Denn anders als die deutsche Propaganda ihnen vorgaukelte, ging es weder Hitler noch Himmler um die „Heimholung“ der Auslandsdeutschen, sondern um die „Eindeutschung“ der dem Reich einverleibten polnischen Gebiete. Zu diesem Zweck sollten einerseits die Deutschen aus dem Ausland dort angesiedelt, andererseits die dort lebenden Polen ins besetzte, aber nicht annektierte „Rest-Polen“, ins sogenannte Generalgouvernement ausgesiedelt werden. Geplant war, daß etwa 7,8 Millionen Polen und rund 700.000 Juden, die 1939 in den westlichen Gebieten lebten, innerhalb von zehn Jahren vollständig vertrieben werden sollten.13 Über die rein ideologische Zielset11 Dietrich A. Loeber (Hrsg.): Diktierte Option. Die Umsiedlung der Deutsch-Balten aus Estland und Lettland 1939 – 1944. Dokumentation. Neumünster 1974. 12 Röskau-Rydel: Galizien (wie Anm. 7), S. 191 – 195. 13 Wolfgang Benz: Der Generalplan Ost. Germanisierungspolitik in den besetzten Ostgebieten. In: Ders.: Herrschaft und Gesellschaft im nationalsozialistischen Staat. Studien zur Struktur- und Mentalitätsgeschichte. Frankfurt am Main 1990, S. 72 – 82, hier S. 72 – 73.

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zung hinaus ergab sich die Aussiedlung schon allein als Notwendigkeit, um für die auslandsdeutschen Umsiedler Platz zu schaffen. Und dies erwies sich als ungeahnt schwierig. Das den Volksdeutschen gegebene Versprechen, in der neuen Heimat nicht schlechter als in der alten Heimat gestellt zu sein, machte es erforderlich, für jeden von ihnen mindestens zwei bis drei Polen nach Osten abzuschieben, deren zumeist kleine Höfe zu einer größeren Wirtschaft zusammenzulegen und diese dann den Balten-, Wolhynien- und Galiziendeutschen zu übergeben. Dem NS-Regime war es dabei jedoch nicht nur um soziale Wohltaten für die Neusiedler zu tun, sondern es verfolgte ebenso wirtschafts- und bevölkerungspolitische Ziele. Durch den Zusammenschluß sollten effizientere landwirtschaftliche Betriebe entstehen, durch die insgesamt negative Wanderungsbilanz sollte das Problem der vermeintlichen Überbevölkerung bekämpft werden. Um diese hohen Ziele zu erreichen, war zunächst die Abschiebung von einer Million Polen und Juden geplant worden, aber bereits im Dezember wurden die Margen stillschweigend auf 80.000 gesenkt. Zudem begann die Deportation mit einmonatiger Verspätung. Auch die nachfolgenden Abschiebungen erreichten die projektierten Ziffern nicht und zogen sich deutlich länger hin als geplant. Statt der für erforderlich gehaltenen weit über anderthalb Millionen waren bis Frühsommer 1940 erst rund 250.000 Polen abgeschoben worden. Zwei Faktoren störten von Anfang an die hochtrabenden Umsiedlungspläne: die fehlenden Transportkapazitäten sowie der mangelnde Wille von Generalgouverneur Hans Frank, das von ihm verwaltete Gebiet zur „Müllkippe“ des Reichs werden zu lassen und all diejenigen aufzunehmen, die aus ideologischen Gründen andernorts unerwünscht waren. Ein weiteres Problem kam bald hinzu. Aus wirtschaftlichen Gründen waren die Planer des Reichskommissariats für die Festigung des deutschen Volkstums daran interessiert, den landwirtschaftlichen Produktionsprozeß so wenig wie möglich zu stören. Die polnischen Bauern sollten deshalb bis kurz vor Ankunft der volksdeutschen Übersiedler ihre Äcker bestellen, ihr Vieh füttern und dann nahtlos durch die deutschen Neusiedler ersetzt werden. Da ein gleichzeitiges Umsiedeln aller polnischen Bauern wegen der unzureichenden Transport- und Personalkapazitäten ausgeschlossen war, und statt dessen sukzessive vorgegangen werden mußte, ließen sich die deutschen Planungen unmöglich geheimhalten. Die betroffenen Polen erfuhren so meist lange vorher von ihrer geplanten Abschiebung und konnten sich absetzen. Und obwohl die Deutschen das Problem frühzeitig erkannten, hatten sie keine Möglichkeit, es zu lösen. Bis zu 40 Prozent der für die Deportation Vorgesehenen entzogen sich ihrer Abschiebung durch Flucht und Verstecken. An eine „Depolonisierung“ der annektierten Gebiete war unter diesen Umständen nicht zu denken.14 Die Abschiebung von Polen ins Generalgouvernement stellte indes nicht den einzigen Versuch dar, Platz für die Umsiedler zu schaffen. Auch der erste Massenmord des NS-Regimes stand in diesem Zusammenhang. In einer Verschränkung von 14 Christopher R. Browning: Die Entfesselung der „Endlösung“. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939 – 1942. München 2003, S. 75 – 90.

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ideologischen und pragmatischen Gründen wurden zwischen Oktober 1939 und Frühjahr 1940 mehr als zehntausend Geisteskranke aus Anstalten in Danzig, Gdingen, Swinemünde und Stettin von zwei SS-Kommandos umgebracht. Bald darauf wurde dieses Mordprogramm auf Anstaltsinsassen im Warthegau ausgedehnt. Die „freigewordenen“ Anstalten und Krankenhäuser wurden daraufhin als Durchgangslager zur Unterbringung der Übersiedler genutzt, denn für die meisten von ihnen standen immer noch keine dauerhaft nutzbaren Häuser und Wohnungen zur Verfügung.15 Trotz all dieser Probleme, die bereits die Ansiedlung der Deutschen aus dem Baltikum, Wolhynien und Galizien bereiteten, kam es im Spätsommer 1940 zur Umsiedlung weiterer volksdeutscher Gruppen, diesmal aus Südosteuropa. Nachdem die Sowjetunion ihre Ansprüche auf die zu Rumänien gehörige Nordbukowina und auf Bessarabien erhoben hatte, drängte das Deutsche Reich seinen Verbündeten Ion Antonescu zum Nachgeben. Im Zweiten Wiener Schiedsspruch wurden die beiden Gebiete der Sowjetunion zugeschlagen. Für die dort siedelnden Deutschen ergab sich damit eine Situation wie für die Deutschbalten im Jahr zuvor. In Verhandlungen mit Moskau erreichte Berlin das Einverständnis zur Umsiedlung der Bukowina-Deutschen ins Deutsche Reich zwei Monate nach Beginn der sowjetischen Besatzung. Die Eindrücke dieser ersten beiden Monate müssen auf die Bevölkerung der Nordbukowina einen mindestens ebenso negativen Eindruck gemacht haben wie im vorangegangenen Jahr auf die Bewohner Ostpolens, denn allem Anschein nach griffen nicht nur Deutschstämmige nach dem Rettungsanker der Umsiedlung ins Reich. Etwa 30.000 Antragsteller wurden allein in der nördlichen Bukowina von den Umsiedlungskommissionen wegen „unzureichender Deutschstämmigkeit“ zurückgewiesen. Zahlreiche Ehen wurden noch kurz vor Beginn der Umsiedlung geschlossen, vielfach verstanden die nichtdeutschen Ehepartner kein einziges deutsches Wort. Reiche Rumänen boten hohe Geldsummen, um das Land verlassen zu können. In Unkenntnis der deutschen antisemitischen Politik befanden sich auch zahlreiche Juden unter den Antragstellern. Insgesamt wurden aus der Nordbukowina 95.770 Personen umgesiedelt, obwohl die Zahl der dort lebenden Deutschen im Jahr zuvor mit lediglich 75.000 angegeben worden war.16 Zugleich bestürmte die rumänische Regierung Hitler, die im restlichen Staatsgebiet lebenden Deutschen aussiedeln zu dürfen, um damit Platz für rumänische Flüchtlinge aus der Nordbukowina zu schaffen. Die Reichsregierung, die in den Verhandlungen über die territoriale Neuregelung zuvor zweimal gegen Rumänien 15 Götz Aly: „Endlösung“. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden. Frankfurt am Main 1995, S. 114. 16 Emanuel Turczynski: Die Bukowina. In: Röskau-Rydel: Deutsche Geschichte (wie Anm. 7), S. 213 – 328, hier S. 319 – 323; Ute Schmidt: Der „Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums“. Fallbeispiel Transfer der Bessarabiendeutschen. In: Johannes Houwink ten Cate/Gerhard Otto (Hrsg.): Das organisierte Chaos. „Ämterdarwinismus“ und „Gesinnungsethik“. Determinanten nationalsozialistischer Besatzungsherrschaft. Berlin 1999, S. 199 – 230 (= Nationalsozialistische Besatzungspolitik in Europa 1939 – 1945).

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und zugunsten Ungarns und der Sowjetunion entschieden hatte, wußte, daß sie nun Bukarest Zugeständnisse machen mußte, wenn sie den wegen seiner Erdölvorräte eminent wichtigen Bündnispartner nicht verlieren wollte. Zugleich schien der Sieg im Westen nur noch eine Frage weniger Wochen zu sein. Nach Beendigung des Krieges – so das Kalkül – stünden ohnehin wieder Transportkapazitäten in ausreichendem Maße zur Verfügung, um die polnische Bevölkerung aus dem Warthegau und Danzig-Westpreußen aussiedeln und so Platz für die volksdeutschen Umsiedler schaffen zu können. Die Aufnahme der Deutschen aus der Südbukowina und dem Dobrudscha-Gebiet schien mithin durchführbar zu sein, weshalb am 24. September 1940 die ersten Trecks in Richtung Westen abgingen. Erstmalig mußten die deutschen Behörden jedoch Druck ausüben, um die deutschstämmige Bevölkerung möglichst vollständig zur Umsiedlung zu bewegen, weil im unbesetzten Teil Rumäniens das wichtigste Argument, die Angst vor der sowjetischen Herrschaft, wegfiel. Mit einer Mischung aus Druck und Propaganda versuchten sowohl reichsdeutsche Stellen als auch die Führung der deutschen Minderheit in Rumänien, die Zögernden umzustimmen. Dennoch blieben etwa zehn Prozent der Deutschen in ihrer alten Heimat. Angesichts der anhaltenden Unterbringungsprobleme in den annektierten Gebieten sahen sich die Behörden des RKF sogar gezwungen, die Rückkehr nach Rumänien unter Strafe zu stellen, was im Extremfall auch KZ-Haft bedeuten konnte. Nie zuvor war das eigentliche Ziel der Umsiedlungen so deutlich geworden.17 Im Stabshauptamt des RKF formulierte man es im Dezember 1940 mit folgenden Worten: „Die zusammenhanglos vorgeschobenen deutschen Minderheiten im Osten Europas müssen ohne wehleidige Romantik umgesiedelt und dort, wo sie das deutsche Volk am dringendsten braucht, neu angesetzt werden. Sie dürfen nicht zum Dünger für die dortigen Völker werden.“18 Anderthalb Jahre später drückte Heinrich Himmler sich noch drastischer aus: „Jedes gute Blut […] das Sie irgendwo im Osten treffen, können Sie entweder gewinnen oder Sie müssen es totschlagen“, erklärte er in einer Rede vor SS- und Polizeiführern am 16. September 1942.19 Vorerst aber stellten sich ihm und seinen Mitarbeitern andere Probleme. Wie bekannt, erfüllten sich die deutschen Siegeshoffnungen nicht. Weder kapitulierte England, noch ließ es sich auf einen Friedensschluß mit Hitler ein. Infolgedessen sah dieser nun die Notwendigkeit, seinem letzten Gegner im Westen durch einen Sieg über die UdSSR „den Festlandsdegen“ aus der Hand zu schlagen. Ab Spätsommer 1940 liefen die Vorbereitungen für den Krieg gegen die Sowjetunion und verlangten nach Mobilisierung sämtlicher Kapazitäten. Dementsprechend markierten die Angriffsvorbereitungen auch das vorläufige Ende der Umsiedlungspläne.20 17 Günter Schödl: Lange Abschiede: Die Südostdeutschen und ihre Vaterländer (1918 – 1945). In: Ders. (Hrsg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Land an der Donau. [Berlin] [1995], S. 455 – 649, hier S. 621 – 627. 18 Zit. nach: Schödl: Lange Abschiede (wie Anm. 17), S. 626. 19 Zit. nach: Ackermann: Himmler als Ideologe (wie Anm. 4), S. 209. 20 Browning: Entfesselung (wie Anm. 14), S. 172; Schmidt: Reichskommissar (wie Anm. 16).

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Die Beendigung der Umsiedlungen löste indes noch nicht die Probleme der bereits in den inkorporierten Gebieten des Reichs befindlichen Volksdeutschen. Die mangelnden Wohnmöglichkeiten in den für die Neuansiedlung vorgesehenen Regionen sorgten dafür, daß die Mehrzahl der Volksdeutschen zunächst in vorläufigen Quartieren wie Schul- und Versammlungshallen oder gar Sammellagern untergebracht wurden. Durch den getrennten Transport von Männern und Frauen waren viele Familien auseinandergerissen worden, und mitunter dauerte es Monate, bis sie wieder zusammenfanden. Während insbesondere für die ersten Umsiedler aus Estland, Lettland und dem ehemaligen Ostpolen vergleichsweise schnell Ansiedlungsmöglichkeiten gefunden wurden, mußten die meisten Rumäniendeutschen häufig Monate oder gar Jahre in Lagern ausharren. Viele dieser Lager waren heillos überbelegt, pro Person standen nur zwei bis drei Quadratmeter zur Verfügung, mitunter fehlte sogar die Möglichkeit, an die frische Luft zu kommen, worunter insbesondere die Kinder litten, von denen viele erkrankten. In zahlreichen Fällen war die Ernährung unzureichend, die Lagerleitung erwies sich als ungeschult und war mit der Situation sichtlich überfordert. In ihren Erinnerungen schildern einige Umsiedler das Lagerpersonal als arrogant und überheblich. In Einzelfällen brachten die Betroffenen ihr Mißfallen bereits während des Lageraufenthalts zum Ausdruck, was einigen von ihnen sogar KZ-Haft eintrug. Aber nicht nur die Lagerleitung, auch die übrige deutsche Bevölkerung machte nicht immer einen positiven Eindruck auf die Umsiedler. Die ansässigen Deutschen sahen in den Neuankömmlingen häufig eine unwillkommene Konkurrenz. Insbesondere solche Volksdeutsche, die nur schlecht oder überhaupt kein Deutsch konnten, beklagten sich, wie Ausländer behandelt und sogar den ausländischen Zwangsarbeitern gleichgestellt worden zu sein. Als Schock wirkte für viele darüber hinaus die Konfrontation mit dem NS-Staat, der keinen Raum für die traditionelle, von großer Eigenständigkeit geprägte Lebensweise in den Heimatregionen ließ. Der Bekämpfung der Religion brachten die mehrheitlich gläubigen Umsiedler erst recht kein Verständnis entgegen. Eine zusätzliche Belastung stellte für einen Teil von ihnen die Konfrontation mit der Vertreibung der Polen dar. Der Gedanke, auf geraubtem Gut zu wohnen, trieb einige sogar in den Selbstmord. Andere wiederum konnten mit dieser Situation offensichtlich recht gut leben und erfüllten bereitwillig die ihnen von den NS-Ideologen zugedachte Herrenrolle. Daß aber auch sie in deren Augen nicht mehr waren als Werkzeuge zur Inbesitznahme und Umgestaltung der eroberten Gebiete, zeigte sich nicht zuletzt daran, daß ihre früheren Dorfgemeinschaften zerschlagen und langjährige Nachbarn in großer Entfernung voneinander untergebracht wurden. Himmler wollte so auf jeden Fall vermeiden, daß sich balten-, wolhynien- oder galiziendeutsche Volksgruppen zusammenfanden und ein kulturelles Eigenleben führten. Mit der Umsiedlung war in seinen Plänen auch die Umgestaltung der „Volksgemeinschaft“ verbunden. Die Auslandsdeutschen stellten in diesem Prozeß nicht mehr dar als „nützliches Menschenmaterial“.21 21 Garleff: Deutschbalten (wie Anm. 10), S. 543 – 544; Turczynski: Bukowina (wie Anm. 16), S. 624 – 627; Röskau-Rydel (wie Anm. 7), S. 194 – 195; Richard Breyer/Wilfried Gerke/

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Nirgendwo offenbarte sich diese Ideologie deutlicher als bei den unter rassischen Gesichtspunkten vorgenommenen „Selektionen“. Ende 1939 erklärte Heinrich Himmler unumwunden, sein Ziel sei es, im annektierten polnischen Gebiet eine „blonde Provinz“ zu schaffen und der Entwicklung von „Mongolentypen“ vorzubeugen. Zu diesem Zweck wurde die „Deutsche Volksliste“ geschaffen, in die sämtliche Personen, die sich um den Erhalt der deutschen Staatsangehörigkeit bewarben, eingeordnet werden sollten. Auch die volksdeutschen Umsiedler in den Aufenthaltslagern wurden rassekundlichen Untersuchungen unterzogen. Bei dieser Prozedur, deren eigentlicher Zweck vor den Umsiedlern mit der Behauptung, es handle sich um eine Gesundheitsprüfung, verschleiert wurde, teilten die Rassenexperten die Untersuchten in vier rassische Kategorien ein: Als am hochwertigsten galten „rein nordische oder fälische“ Personen, während sogenannte „völlig unausgeglichene Mischlinge“, „rein ostische oder ostbaltische“, „Fremdblütige“ und Menschen mit „außereuropäischem“ Einschlag der untersten Kategorie zugerechnet wurden. Neben den rassischen wurden auch eugenische Aspekte für die Einteilung herangezogen und erbkranke Männer und Frauen unabhängig von ihrem äußeren Erscheinungsbild in die vierte Kategorie sortiert. Zudem wurde eine fünfstufige Skala zur Erfassung der politischen Haltung entworfen, die von „aktiven Kämpfern für das Deutschtum“ über „Mitläufer“ bis zu „aktiven Kämpfern in einer fremden Gruppe“ reichte. Die schwerwiegendsten Konsequenzen brachte diese Einteilung für die Erbkranken, die unverzüglich in das Euthanasieprogramm einbezogen wurden. Aber auch für Gesunde hatte die Kategorisierung schwerwiegende Folgen. Nur die Angehörigen der ersten beiden rassischen Kategorien erhielten die deutsche Staatsbürgerschaft, solche der vierten Kategorie sollten in ihre Ursprungsländer zurückgeschickt werden. Wer zur dritten Kategorie gerechnet wurde, konnte nicht unmittelbar eingedeutscht werden, seine Staatsangehörigkeit wurde vorläufig mit „unbekannt“ angegeben. Wegen seiner grundsätzlich „eindeutschungsfähigen“ Anlagen sollte jedoch der Versuch unternommen werden, ihn – oder zumindest seine Nachfahren der zweiten oder dritten Generation – zum „vollwertigen Deutschen“ zu erziehen. Das Mittel dafür war der Arbeitseinsatz im Altreich. Dieses Schicksal traf mindestens 35.000 Umsiedler.22 Ein besonderes Schicksal wurde den Deutschen aus Litauen zuteil. Wegen des schleppenden Verlaufs der Ansiedlung der übrigen „Volksdeutschen“ im ehemaligen Polen wurden die Evakuierungen aus Litauen immer weiter verschoben. Im Frühjahr 1941 drängte die Zeit, wollte die deutsche Führung verhindern, daß die „Volksdeutschen“ in Litauen nach dem geplanten deutschen Angriff auf die Sowjetunion einer besonderen Gefährdung ausgesetzt würden. Im März desselben Jahres begann Joachim Rogall: Die Deutschen in Polen im Zweiten Weltkrieg. In: Joachim Rogall (Hrsg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Land der großen Ströme. Von Polen nach Litauen. [Berlin] [1996], S. 424 – 447, hier S. 432 – 436. 22 Koehl: RKFDV (wie Anm. 9), S. 107 – 112, S. 119 – 123.

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daraufhin die Umsiedlung von über 50.000 Deutschen aus Litauen. Um Platz für sie zu schaffen, hatte Reinhard Heydrich als Chef der Sicherungspolizei die beschleunigte Deportation von Juden und Polen aus den annektierten Gebieten ins Generalgouvernement gefordert. Die bereits in vollem Gang befindlichen Kriegsvorbereitungen und der damit verbundene Mangel an Transportkapazitäten verhinderten jedoch eine Umsetzung dieser Forderung. Fast alle Litauendeutsche mußten deswegen in Lagern untergebracht werden. Insgesamt befanden sich damit im Mai 1941 270.000 volksdeutsche Umsiedler nicht in von Polen geräumten Wohnungen und Häusern, sondern in Umsiedlungslagern.23 Wenige Monate später überfiel die Wehrmacht die Sowjetunion, Litauen wurde innerhalb weniger Wochen erobert. Obwohl Hitler noch im November 1941 ausdrücklich verboten hatte, ins Reich umgesiedelte Volksdeutsche wieder in ihre Ursprungsgebiete zurückzulassen, wurden 30.000 Deutschlitauer, die von den Untersuchungskommissionen für „rassetauglich“ befunden worden waren, genau dafür vorgesehen. Neben dem Versuch, ein Ventil für die angespannte Situation in den Umsiedlungslagern zu schaffen, war Himmler dabei vor allem daran gelegen, bei der Neuordnung der besetzten Ostgebiete seinem Rivalen Alfred Rosenberg in die Quere zu kommen. Zudem erhoffte sich der Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums von der Wiederansiedlung der Litauendeutschen eine wirtschaftliche und sicherheitspolitische Beruhigung des eroberten Landes. Denn die Wiederansiedlung war nicht so sehr als Rückkehr in die alte Heimat gedacht. Vielmehr sah man in ihr den Beginn der deutschen Besiedlung des Baltikums.24 Die im Herbst 1940 vorübergehend zurückgestellten Siedlungspläne erhielten durch die militärischen Erfolge gegen die Sowjetunion neue Nahrung. Endlich schien die Verwirklichung der Lebensraumpläne, die Hitler schon seit Mitte der 1920er Jahre beschäftigt hatten, in greifbare Nähe gerückt. Himmler beauftragte daraufhin verschiedene Stellen mit der Ausarbeitung des Generalplans Ost. Die vorgelegten Konzepte wichen im Einzelnen zwar deutlich voneinander ab, gingen aber alle von einer deutschen Besiedlung des europäischen Kontinents bis an den Ural aus. Mittels deutscher Siedlungsschwerpunkte sollte Osteuropa ein Teil des germanischen Großreiches werden. Die einheimische Bevölkerung sollte größtenteils vernichtet oder umgesiedelt werden, nur einige Heloten für die deutschen Herren durften in ihren angestammten Wohnorten verbleiben. Als Zeithorizont sahen die Planer 25 bis 30 Jahre vor. Himmler, dem der von ihm beauftragte Professor für Raumplanung Konrad Meyer im Sommer 1942 seine Version des Generalplans vorlegte, zeigte sich insgesamt zwar zufrieden, 23 Harry Stossun: Litauen vom Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. In: Rogall: Deutsche Geschichte (wie Anm. 21), S. 461 – 492, hier S. 485 – 491; Christoph Dieckmann: Plan und Praxis. Deutsche Siedlungspolitik im besetzten Litauen 1941 – 1944. In: Isabel Heinemann/Patrick Wagner (Hrsg.): Wissenschaft – Planung – Vertreibung. Neuordnungskonzepte und Umsiedlungspolitik im 20. Jahrhundert. Stuttgart 2006, S. 93 – 118, hier S. 93 – 101 (= Beiträge zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Bd. 1). 24 Heinemann: Wissenschaft – Planung – Vertreibung (wie Anm. 23), S. 101 – 118; Stossun: Litauen (wie Anm. 23), S. 491 – 492.

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forderte aber eine dichtere deutsche Besiedlung und vor allem ein deutlich höheres Tempo. Estland, Lettland und das Generalgouvernement – so seine Forderung – sollten bereits in zwanzig Jahren vollständig eingedeutscht sein, was unter anderem bedeutete, daß dort keine nichtdeutsche Bevölkerung mehr gewohnt hätte.25 Erste Schritte zur Umsetzung dieser gigantischen Pläne wurden noch während des Krieges unternommen. In der Gegend um Zamos´c´ – und damit aus nicht dem Reich angegliederten Gebieten, sondern im Generalgouvernement – wurden zwischen November 1942 und Sommer 1943 rund 50.000 Polen enteignet und nach rassischen Kriterien erfaßt. Einige Hundert wurden für „eindeutschungsfähig“ befunden und zur Umerziehung ins Altreich oder in den Warthegau geschickt. Sechseinhalb Tausend galten als „rassisch minderwertig“. Die Arbeitsfähigen unter ihnen wurden zur Zwangsarbeit nach Auschwitz deportiert, die übrigen in sogenannte „Rentendörfer“ umgesiedelt, wo sie langsam zu Tode gehungert werden sollten. Die allermeisten aber galten als „würdig“, im Reich oder auf ihren alten Höfen zu arbeiten, allerdings unter Aufsicht und Befehl der neuen Herren – das waren etwa 27.000 Volksdeutsche, die in diesem ersten „deutschen Großsiedlungsgebiet“ angesiedelt wurden. Der weitere Kriegsverlauf und die zunehmende Verschlechterung der deutschen Sicherheitslage in Polen setzten im Sommer 1943 dem Projekt Zamos´c´, aber auch weiteren Siedlungsvorhaben vergleichbarer Art, ein Ende.26 Die letzten Volksdeutschen, die noch umgesiedelt wurden, die „Schwarzmeerdeutschen“ und Deutsche aus der Ukraine, verließen ihr angestammtes Siedlungsgebiet gleichzeitig mit der Wehrmacht, die sich vor der Roten Armee zurückzog.27 Am Ende dieses Rückzugs standen sowjetische Truppen in Berlin, das Deutsche Reich hatte aufgehört zu existieren. Das Baltikum wurde sowjetisch, die annektierten polnischen Gebiete wurden der Volksrepublik Polen zugeschlagen. Trotz der Umsiedlung und Vernichtung von rund 1,2 Millionen Polen und der Ansiedlung von rund 500.000 Volksdeutschen waren die annektierten polnischen Gebiete nicht eingedeutscht worden, der Anteil der Deutschen an der Gesamtbevölkerung war lediglich von zehn auf 20 bis 25 Prozent gestiegen und nicht, wie vorgesehen auf über 50 Prozent. Die meisten „Volksdeutschen“, die erst wenige Jahre zuvor aus ihrer ursprünglichen Heimat dorthin umgesiedelt worden waren, mußten erneut nach 25 Bruno Wasser: Himmlers Raumplanung im Osten. Der Generalplan Ost in Polen 1940 – 1944. (= Stadt – Planung – Geschichte. Bd. 15). Basel/Berlin/Boston 1993; Mechthild Rössler/ Sabine Schleiermacher (Hrsg.): Der „Generalplan Ost“. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs-und Vernichtungspolitik. Berlin 1993; Czesław Madajczyk (Hrsg.): Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan. München [u. a.] 1994 (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin. Bd. 80); Isabel Heinemann: Wissenschaft und Homogenisierungsplanungen für Osteuropa. Konrad Meyer, der „Generalplan Ost“ und die Deutsche Forschungsgemeinschaft. In: Dies./Wagner: Wissenschaft (wie Anm. 23), S. 45 – 72. 26 Koehl: RKFDV (wie Anm. 9), S. 152 – 208; Götz Aly/Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung. Frankfurt am Main5 2004, S. 432 – 437. 27 Detlef Brandes: Von der Verfolgung im Ersten Weltkrieg bis zur Deportation. In: Gerd Stricker (Hrsg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Rußland. [Berlin] [1997], S. 131 – 213, hier S. 210 – 212.

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Westen fliehen. Die Raumpläne der Nationalsozialisten brachten nicht die Germanisierung des Ostens, sondern das weitgehende Ende deutscher Siedlungen in Osteuropa.

Die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa am Ende des Zweiten Weltkriegs Von Manfred Kittel (Berlin) Die hier präsentierte Ursachenanalyse der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa1 konzentriert sich auf die beiden – sehr unterschiedlichen – Fälle mit den größten Opferzahlen: die Vertreibung von etwa zehn Millionen Deutschen aus den alten Reichsgebieten (in den Grenzen vom 31. Dezember 1937),2 sowie die Vertreibung von über drei Millionen Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei. Dieser „case“, der als die intensivste „ethnische Säuberung“ im Rahmen der großen Vertreibung von 1945/46 charakterisiert worden ist,3 wird gleichsam stellvertretend für die prinzipiell ähnlich gelagerten – aber hier nur perspektivisch einbezogenen – Fälle der „Volksdeutschen“ in Polen, der Slowakei, Ungarn und Jugoslawien bzw. den rumänischen Sonderfall4 ausführlicher behandelt. Geklärt werden soll vor allem, welches Ausmaß an Verantwortung bei Tätern wie Opfern dieses „Verbrechens

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Aus der reichhaltigen neueren Literatur vgl. allgemein Norman Naimark: Flammender Haß. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert. München 2004, bes. S. 16 f.; vgl. auch Michael Mann: Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung. Hamburg 2007; Benjamin Lieberman: Terrible fate. Ethnic cleansing in the making of modern Europe. Chicago 2006; zur Vertreibung der Deutschen speziell Hans Fenske: „Reiner Tisch wird gemacht werden“. Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Vorgeschichte, Verlauf, Integration in Nachkriegsdeutschland. In: Historische Mitteilungen (der Ranke-Gesellschaft), 17 (2004), S. 228 – 288, sowie Winfrid Halder: „… in ordnungsgemäßer und humaner Weise“ – Vertreibung aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches und dem Sudetenland 1945 – 1947. Voraussetzungen – Verlauf – Konjunkturen des historiographischen und öffentlichen Diskurses. In: Frank-Lothar Kroll/Matthias Niedobitek (Hrsg.): Vertreibung und Minderheitenschutz in Europa. Berlin 2005, S. 15 – 42. – Daß auch die Flüchtlinge, die vielfach an der Rückkehr in ihre Heimat gehindert wurden, in einem weiteren Sinn unter dem Begriff „Vertriebene“ zu fassen sind, wird im folgenden vorausgesetzt. 2 Die Zahlen beziehen sich auf die Vorkriegsbevölkerung einschließlich der Freien Stadt Danzig, für deren deutsche Bevölkerung in den alliierten Nachkriegsplanungen keine Behandlung vorgesehen wurde, die sich von der Politik gegen die Altreichsdeutschen unterschieden hätte. 3 Diesen Hinweis, der sich auf das Verhältnis von Territorium, involvierter Bevölkerung und Zeitraum des sog. Odsun bezieht, bei dem 70 Prozent der Bevölkerung des böhmisch-mährischen Raumes die übrigen 30 Prozent, die ebenfalls seit Jahrhunderten dort lebten, vertrieben, verdanke ich dem früheren deutschen Botschafter in Prag, Michael Libal. 4 Dies gilt auch für die Vertreibung der Wolgadeutschen innerhalb der Sowjetunion oder andere kleinere deutsche Volksgruppen.

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gegen die Menschlichkeit“5 im einzelnen vorlag: bei Hitler-Deutschland, Sowjetrußland und den westlichen Alliierten, auf Seiten der deutschen Bevölkerung in den Vertreibungsgebieten selbst sowie bei den politisch Verantwortlichen in Ostmitteleuropa (bzw. deren Exilregierungen). Dort arbeiteten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kommunistische, sozialdemokratische und bürgerliche Kräfte im Zeichen antifaschistischer „Blöcke“ oder „Fronten“ zumindest noch so lange zusammen, daß die Politik der Vertreibung auch der prinzipiellen Zustimmung demokratischer Politiker in Warschau, Prag und Budapest bedurfte6 und nicht einfach mit dem Hinweis auf die kriminellen Energien des kommunistischen Totalitarismus erledigt werden kann. Von zentraler Bedeutung für die unmittelbare Vorgeschichte der Vertreibung der Deutschen war die Politik der Nationalsozialisten, die mit dem Völkermord an Millionen Juden „ethnische Säuberungen“ von bislang ungekannter Radikalität durchführten und darüber hinaus weitere Maßnahmen des „population cleansing“ konzipierten. Im „Generalplan Ost“ faßte Heinrich Himmlers „Reichskommissariat für die Festigung deutschen Volkstums“ die rassistischen Visionen für den Osten im Juli 1941 wie folgt zusammen:7 Innerhalb von 30 Jahren sollten Ostpolen, das Baltikum, Weißruthenien und Teile der Ukraine durch Deutsche besiedelt, die Mehrheit der dort lebenden, nicht „gutrassigen“ einheimischen Bevölkerung nach Westsibirien vertrieben werden. Dutzende von Millionen Menschen wären nach diesen bürokratischen Planspielen „verschrottet“, „verstreut“ oder zumindest „rassisch ausgelaugt“ worden. Die „tschechische Frage“ sollte durch die Liquidierung des tschechischen Volkes als ethnische Einheit gelöst werden. Etwa die Hälfte der den NS-Rassekriterien genügenden tschechischen Bevölkerung sollte germanisiert, der andere Teil in den Osten ausgesiedelt oder, wie es in entsprechenden Dokumenten hieß, „vernichtet“ bzw. „ausgemerzt“ werden.8 Die Realisierung des letzteren Vorhabens mußte die NS-Führung mit Rücksicht auf die kriegswirtschaftliche 5 So auch die New York Times im Oktober 1946. Thomas Darnstädt/Klaus Wiegrefe: Massenflucht nach Plan. „Eine teuflische Lösung“. In: Stefan Aust/Stephan Burgdorff (Hrsg.): Die Flucht. Über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Stuttgart/München 2002, S. 103 – 115, hier S. 114. 6 Auch Detlef Brandes: Der Weg zur Vertreibung 1938 – 1945. Pläne und Entscheidungen zum ,Transfer der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen. München 2001, S. 1, ist deshalb von der Frage ausgegangen, „warum unzweifelhaft demokratische Politiker wie Benesˇ und Sikorski“ die Vertreibung der Deutschen für unumgänglich hielten. Die zweite überarbeitete und erweiterte Auflage des Buches, die München 2005 erschienen ist, bietet keine grundlegend neuen Erkenntnisse. 7 Vgl. zusammenfassend die Einführung zur Dokumentation von Czesław Madajczik (Hrsg.): Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan. München 1994, sowie Mechthild Rössler/Sabine Schleiermacher (Hrsg.): Der „Generalplan Ost“. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik. Berlin 1993. 8 Jaroslava Milotov: Die NS-Pläne zur Lösung der „tschechischen Frage“. In: Detlef Brandes/Edita Ivanicˇkov/Jirˇ Pesˇek (Hrsg): Erzwungene Trennung. Vertreibungen und Aussiedlungen in und aus der Tschechoslowakei 1938 – 1947 im Vergleich mit Polen, Ungarn und Jugoslawien. Essen 1999, S. 25 – 37, hier S. 28.

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Bedeutung des Protektorats Böhmen und Mähren auf die Zeit nach dem „Endsieg“ zurückstellen.9 Andere staatskriminelle Projekte wurden dagegen rasch in Angriff genommen. Aus den Gebieten Westpolens, deren Annexion an das Deutsche Reich Hitler nach dem siegreichen Feldzug im September 1939 anordnete und die über das Territorium Posens und Westpreußens bis 1918 weit hinausgingen, wurden etwa 900.000 Polen vertrieben. Die deutschen Machthaber schoben sie in das unter Militärverwaltung gestellte Generalgouvernement ab – „häufig in bis dahin von Juden bewohnte Behausungen“, deren Bewohner zunächst ghettoisiert und dann ermordet wurden.10 An Stelle der Polen verfügte die NS-Rassenpolitik die Ansiedlung von über einer halben Million volksdeutscher Umsiedler aus dem Baltikum, Bessarabien und anderen Gebieten – östlich der 1939 im Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes vereinbarten Linie –, die in den folgenden Jahren vor allem im sogenannten Warthegau neuen Wohnraum zugewiesen bekamen. Auch auf dem Gebiet des 1941 von den Achsenmächten besiegten und in mehrere Staaten bzw. Verwaltungszonen aufgeteilten Königreichs Jugoslawien erzwang die deutsche Besatzung bereits Bevölkerungsverschiebungen. So wurden Zehntausende Deutsche aus der Gottschee und anderen – bosnischen oder serbischen – Sprachinseln in den Norden Sloweniens umgesiedelt, wo sie als Wehrbauern an der Save in Höfe einrückten, deren Bewohner vorher vertrieben worden waren.11 Die Lage der Deutschen in Ungarn und die der Volksgruppen in Rumänien änderte sich infolge des Zweiten Wiener Schiedsspruchs 1940 in ganz anderer Weise, als die in „Achsenpartnerschaft“ mit dem Dritten Reich verbundenen Regierungen in Budapest und Bukarest sich dazu verpflichteten, die Nationalitätenrechte ihrer deutschen Minderheiten voll anzuerkennen. Der Preis dafür bestand allerdings teilweise in der politischen Gleichschaltung der Volksgruppen und in ihrer Fernsteuerung durch das nationalsozialistische Deutschland, was sie zunehmend als dessen „Fünfte Kolonne“ erscheinen ließ. Illoyalität gegenüber dem eigenen Staat war denn auch ein Vorwurf, der am Ende des Zweiten Weltkrieges in Ostmitteleuropa oft dazu diente, die kollektive Vertrei9 Vgl. Detlef Brandes: Die Tschechen unter deutschem Protektorat, 2 Bde. München/Wien 1969 – 1975; ders.: Nationalsozialistische Tschechenpolitik im Protektorat Böhmen und Mähren. In: Der Weg in die Katastrophe. Deutsch-tschechoslowakische Beziehungen 1938 – 1947 (Für die deutsch-tschechische und deutsch-slowakische Historikerkommission hrsg. von dems. und Vclav Kural). Essen 1994, S. 39 – 56. 10 „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden…“. Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945 – 1950. Dokumente aus polnischen Archiven. Bd. 1: Zentrale Behörden, Wojewodschaft Allenstein, hrsg. von Włodzimierz Borodziej und Hans Lemberg, Marburg 2000, S. 41. Vgl. auch die Studie von Götz Aly: Endlösung. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden. Frankfurt am Main 1995, die den bereits in früheren Arbeiten Alys aufgezeigten Zusammenhang zwischen der Umsiedlung der Volksdeutschen östlich der HitlerStalin-Linie von 1939 und dem Holocaust ausführlich herausgearbeitet hat. 11 Hans Hermann Frensing: Die Umsiedlung der Gottscheer Deutschen. Das Ende einer südostdeutschen Volksgruppe. München 1970.

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bung der Deutschen zu rechtfertigen. Das Argument greift aber als genereller Erklärungsschlüssel zu kurz; nicht nur, weil es ausgerechnet auf die größte Gruppe der Vertreibungsopfer, die „reichsdeutschen“ Schlesier, Pommern, Ostpreußen und Ostbrandenburger nicht angewandt werden konnte. Überdies lagen die Verhältnisse in den einzelnen Fällen sehr unterschiedlich, und sie müssen deswegen auch entsprechend differenziert bewertet werden. Während bei den nationalprotestantisch geprägten Siebenbürgen in Rumänien die Bereitschaft, dem Deutschen Reich „nicht mehr als selbständiger Faktor“ gegenüberzutreten, sehr weit ging12 und sich in der Gründung einer eigenen NSDAP niederschlug, behielten in Ungarn – wo dies nicht geschah – viele Deutsche eine spürbare Distanz zu dem von Himmlers Volksdeutscher Mittelstelle gesteuerten „Volksbund“.13 Zehntausende schlossen sich sogar der vom katholischen Klerus inspirierten anti-nationalsozialistischen „Treubewegung“ an.14 Auf dem Gebiet des 1941 zerschlagenen Jugoslawien entwickelten sich die Organisationen der deutschen Volksgruppen im „Unabhängigen Staat Kroatien“ und im Westbanat, das zum militärisch verwalteten Serbien gehörte,15 zu einer Art „Staat im Staate“. Durch die Mitwirkung bei der Partisanenbekämpfung oder den Eintritt in die Waffen-SS wurde die deutsche Bevölkerung „zu einem Rad in der Unterdrückungsmaschinerie des Hitler-Regimes“.16 Im Banat versuchte die Volksgruppenführung sogar, wenn auch 12 Vgl. Konrad Gündisch (unter Mitarbeit von Mathias Beer): Siebenbürgen und Siebenbürger Sachsen. München 1998, S. 205. Vgl. auch Johann Böhm: Hitlers Vasallen der Deutschen Volksgruppe in Rumänien vor und nach 1945. Frankfurt am Main 2006; ders.: Die Deutschen in Rumänien und das Dritte Reich 1933 bis 1940. Frankfurt am Main 1999; ders.: Das nationalsozialistische Deutschland und die deutsche Volksgruppe in Rumänien 1936 bis 1944. Frankfurt am Main 1985; Paul Milata: Zwischen Hitler, Stalin und Antonescu. Rumäniendeutsche in der Waffen-SS. Köln 2007. 13 Ingomar Senz: Die Donauschwaben. München 1994, S. 98, 103. Vgl. auch Norbert Spannenberger: Der Volksbund der Deutschen in Ungarn 1938 – 1944 unter Horthy und Hitler, 2., verb. Auflage München 2005, sowie die wegen ihrer Tendenz, die Vertreibung aus der Politik der Volksgruppenführung zu rechtfertigen, problematische Studie von Lorant Tilkovsky: Ungarn und die deutsche Volksgruppenpolitik 1938 – 1945. Köln/Wien 1981. 14 Jean-Lon Muller: Lexpulsion des allemands de Hongrie 1944 – 1948. Politique internationale et destin mconnu dune minorit. Paris 2001, S. 33 f., 40 f. Nach der Besetzung Ungarns durch die deutsche Armee wurden prominente Gegner des „Volksbundes“ verhaftet, darunter der frühere Vorsitzende des Ungarländischen Deutschen Volksbildungsvereins, Gustav Gratz, der nach Mauthausen gebracht wurde. 15 Senz: Die Donauschwaben (wie Anm. 13), S. 106, 113 f. Vgl. auch Ekkehard Völkl: Der Westbanat 1941 – 1944. Die deutsche, die ungarische und andere Volksgruppen. München 1991. 16 Holm Sundhaussen: Die Deutschen in Kroatien-Slawonien und Jugoslawien. In: Günter Schödl: Land an der Donau. Berlin 1995, S. 291 – 348, hier S. 335 f. Bereits am Tag des Kriegsausbruchs, am 6. April 1941, hatte der Leiter der deutschen Minderheitsorganisation „die gesamte Volksgruppe in militärischer Hinsicht“ der Sabotageabteilung des Amtes Ausland/ Abwehr im OKW unterstellt (Europa unterm Hakenkreuz. Die Okkupationspolitik des deutschen Faschismus (1938 – 1945). Hrsg. vom Bundesarchiv, Bd. 8. Analysen. Quellen. Register. Zusammengestellt und eingeleitet von Werner Röhr, Heidelberg 1996, S. 275), was aber, „nicht zuletzt weil der Großteil der Volksdeutschen selbst zur Jugoslawischen Armee eingezogen

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„von der Mehrheit ungewollt“, die reichsdeutsche Außenpolitik „,rechts zu überholen“.17 In Polen charakterisierten Parteienzersplitterung und Heterogenität die deutsche Volksgruppe bis 1939 derart stark, daß sie als „Fünfte Kolonne“ nur bedingt geeignet war. Selbst in den Vorkriegstagen stellten Spionage- und Sabotagetätigkeit zugunsten des Dritten Reiches bei polnischen Staatsbürgern deutscher Nationalität alles andere als eine Massenerscheinung dar.18 Gewiß hatte es zu Weimarer Zeiten Verbindungen zwischen dem Reich und den Volksdeutschen in Polen gegeben, aber war es wirklich schon illoyal, an Sprache und kulturellen Traditionen festzuhalten und sich angesichts der fragwürdigen „Entdeutschungspolitik“ der eigenen, polnischen Regierung19 von anderen helfen zu lassen?20 Selbst während der Zeit der NS-Herrschaft, als die Volksdeutschen von den Machthabern in Berlin unablässig ermahnt wurden, „den Polen als Herren gegenüberzutreten“, konnten sie „keineswegs als einheitliche Gruppe betrachtet werden“, da vor allem in Mittelpolen viele eng, teilweise auch familiär mit ihren polnischen Nachbarn verbunden und nicht bereit waren, diese Kontakte abzubrechen.21 Das Mißtrauen des NS-Regimes gegen die „Beutedeutschen“ in Polen erklärt auch, weshalb mittlere und höhere Verwaltungspositionen oft nicht einheimischen „Volksgenossen“, sondern „Reichsgermanen aus Niedersachsen oder Bayern übertragen wurden.22 Eine größere Rolle für die Okkupationspolitik als im Generalgouvernement spielte die deutsche Bevölkerung dagegen im annektierten Teil Polens.23 Schon im wurde“ (Akiku Shimizu: Die deutsche Okkupation des serbischen Banats 1941 – 1944 unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Volksgruppe in Jugoslawien. Münster 2003, S. 442), kaum etwas bewirkte. 17 Shimizu: Die deutsche Okkupation (wie Anm. 6), S. 442. 18 Joachim Rogall: Land der großen Ströme. Von Polen nach Litauen. Berlin 1996, S. 408. Von einer nur geringen Beteiligung der Volksdeutschen an Sabotageakten spricht auch Albert S. Kotowski: Polens Politik gegenüber seiner deutschen Minderheit 1919 – 1939. Wiesbaden 1998, S. 349. 19 Vgl. hierzu Marian Wojciechowski: Die deutsche Minderheit in Polen (1920 – 1929). In: Deutsche und Polen zwischen den Kriegen. Minderheitenstatus und „Volkstumskampf“ im Grenzgebiet 1920 – 1939. Hrsg. im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte und der Generaldirektion der polnischen Staatsarchive von Rudolf Jaworski und Marian Wojciechowski. München 1997, S. 3 – 26. 20 Wie Norbert Krekeler: Revisionsanspruch und geheime Ostpolitik der Weimarer Republik. Die Subventionierung der deutschen Minderheit in Polen 1919 – 1933. München 1973, aufgezeigt hat, hätte die deutsche Volksgruppe ohne die mit „primär ökonomischen Mitteln“ (ebd., S. 149) arbeitende geheime Deutschtumspolitik des Auswärtigen Amtes und anderer Weimarer Regierungsstellen nach 1919 wohl rasch ihre Substanz verloren. 21 Rogall: Land der großen Ströme (wie Anm. 18), S. 427. 22 Vgl. ebd. S. 428. Der berüchtigte Gauleiter im Warthegau, Arthur Greiser, war ein ehemaliger Posener, der seine Heimat nach 1918 verlassen hatte. 23 Europa unterm Hakenkreuz (wie Anm. 6), S. 278. Vgl. auch Jerzy Marczewski: The Nazi Nationality Policy in the Warthegau 1939 – 1945 (An Outline). In: Polish western affairs 30 (1989), S. 31 – 50.

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Zuge des deutschen Angriffs auf Polen im Herbst 1939 hatte der „Volksdeutsche Selbstschutz“ vor allem in Westpreußen unter Leitung von SS-Stäben binnen kurzem über 100.000 wehrfähige Männer aus der deutschen Minderheit rekrutiert und Zehntausende Angehörige der polnischen Elite und der jüdischen Bevölkerung ermordet24 – teils aus Rassenwahn, teils aus Rache für frühere vermeintliche oder tatsächliche Diskriminierungen, auch unter dem Eindruck des – von der NS-Propaganda noch dazu instrumentalisierten – „Bromberger Blutsonntages“ vom 3. September 1939, als polnische Militär- und Zivilpersonen mindestens 600 Volksdeutsche wegen Diversionstätigkeit für den Feind ermordet hatten.25 Bei den Sudetendeutschen bezog sich der Vorwurf der Illoyalität im Kern auf ihr politisches Verhalten bis zur international sanktionierten Abtretung ihrer Heimat an Deutschland im Münchner Abkommen von 1938. Dabei kann keine Bewertung davon absehen, daß sie dem neuen tschechoslowakischen Staat unter Bruch des gerade proklamierten Selbstbestimmungsrechts nach dem Ersten Weltkrieg eingegliedert worden waren. Ähnlich wie die Mehrheit der Tschechen 1918 endlich in einem eigenen Staat und nicht länger unter der Habsburgermonarchie leben wollte – obwohl sich diese infolge des verlorenen Krieges demokratisiert hätte –, wünschten die meisten Sudetendeutschen 1938 nichts sehnlicher, als aus dem tschechoslowakischen Staatsverband auszuscheiden und ihre Heimat unter deutscher Oberhoheit zu sehen, auch wenn es sich beim Deutschen Reich zwischenzeitlich um eine Diktatur handelte. Die Sudetendeutsche Heimatfront bzw. die Sudetendeutsche Partei (SdP) Konrad Henleins, der nicht vom Nationalsozialismus, sondern von der – auf eigene Weise problematischen – archaischen Idee der „christlichen Ständegesellschaft“ (Othmar Spann) geprägt war,26 hatten keineswegs von Anfang an unbeirrt auf eine Sezession des Sudetenlandes von der Tschechoslowakei hingearbeitet. Henlein bekannte sich noch auf einer Massenkundgebung in Böhmisch-Leipa im Herbst 1934 zur tschechoslowakischen Republik und distanzierte sich ausdrücklich von Pangermanismus und Panslawismus, aber auch vom Nationalsozialismus, der die grundlegenden Menschenrechte des Individuums leugne. Allerdings revidierte Henlein seine NSkritische Position, nachdem die Basis seiner Bewegung bald so stark von Anhängern der im Sudetenland um die Jahrhundertwende entstandenen – 1933 verbotenen – Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei unterwandert war, daß sich im Zeichen eines eskalierenden Nationalitätenkonflikts nach den Parlamentswahlen

24 Christian Jansen/Arno Weckbecker: Der „Volksdeutsche Selbstschutz“ in Polen 1939/40. München 1992. 25 Rogall: Land der großen Ströme (wie Anm. 18), S. 408. 26 Im tieferen Sinne von der Lehre des Wiener Professors durchdrungen war Henlein aber nicht, dafür „fehlten ihm wohl auch die intellektuellen Voraussetzungen“. Bei Ralf Gebel: „Heim ins Reich“. Konrad Henlein und der Reichsgau Sudetenland (1938 – 1945), 2. Aufl. München 2000, S. 49. Ebd., S. 43 – 50, wird ein differenziertes Porträt Henleins auf der Höhe der Forschung gezeichnet.

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vom Mai 1935 die innerparteiliche Machtfrage stellte.27 Henlein, früher immer wieder Objekt von Angriffen des NSDAP-Hauptorgans „Völkischer Beobachter“, bot schließlich in einem Schreiben vom 19. November 1937 dem „Führer“ seine Sudetendeutsche Partei als „Faktor der nationalsozialistischen Reichspolitik“ an.28 Nach dem „Anschluß“ Österreichs im März 1938 griff Hitler dieses Angebot auf und begann Hand in Hand mit Henlein, den Nationalitätenkonflikt anzuheizen und auf die Angliederung des Sudetenlands an das Deutsche Reich hinzuarbeiten. Der Begriff der „Fünften Kolonne“ beschreibt also die Politik der SdP seit November 1937 oder spätestens seit März 1938 bis zum Münchner Abkommen durchaus angemessen.29 Die Partei ähnelte jetzt immer mehr einer „verkleinerte[n] Ausgabe der NSDAP in der Tschechoslowakischen Republik“,30 die die Sudetengesellschaft gleichsam einer Politik der „Vervolksgemeinschaftung“ unterwarf und auch nicht vor der „Einschüchterung gegnerischer Wahlhelfer und Kandidaten“ zurückschreckte.31 Richtig ist aber auch, daß die SdP noch bei den Parlamentswahlen 1935 zwar die große Mehrheit (etwa zwei Drittel), nicht jedoch die Gesamtheit der Sudetendeutschen hinter sich gebracht hatte.32 Vor allem viele sudetendeutsche Sozialdemokraten, aber auch Liberale und Katholiken setzten noch länger auf Autonomie innerhalb des tschechoslowakischen Staates.33 Angesichts der Politik der SdP und des massiven nationalsozialistischen Druckes entwickelte sich in den krisenhaften Wochen vor dem Münchner Abkommen beim tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Benesˇ die Überzeugung, die Zahl der Deutschen müsse um der politischen Stabilität der CSR willen deutlich reduziert 27 Hierzu und zum folgenden Ronald M. Smelser: Das Sudetenproblem und das Dritte Reich 1933 – 1938. Von der Volkstumspolitik zur nationalsozialistischen Außenpolitik. München/Wien 1980, v. a. die Kapitel 4 bis 6. 28 Ebd., S. 185. 29 Für die vorhergehende Phase zwischen 1935, als der SdP-Wahlkampf bereits mit Geldern des Vereins für das Deutschtum im Ausland (VDA) unterstützt worden war, und 1937 taugt der Begriff kaum. Denn der VDA, dessen nationalkonservativer Leiter Hans Steinacher erst Mitte Oktober 1937 abgesetzt wurde, läßt sich „nicht als Instrument der nationalsozialistischen Außenpolitik bezeichnen“. Gebel: „Heim ins Reich“ (wie Anm. 26), S. 52. Vgl. auch Rudolf Luther: Blau oder Braun? Der Volksbund für das Deutschtum im Ausland (VDA) im NS-Staat 1933 – 1937. Neumünster 1999; Tammo Luther: Volkstumspolitik des Deutschen Reiches 1933 – 1938. Die Auslandsdeutschen im Spannungsfeld zwischen Traditionalisten und Nationalsozialisten. Wiesbaden 2004. 30 Gebel: „Heim ins Reich“ (wie Anm. 26), S. 57. 31 Christoph Boyer/Jaroslav Kucˇera: Die Deutschen in Böhmen, die Sudetendeutsche Partei und der Nationalsozialismus. In: Horst Möller/Andreas Wirsching/Walter Ziegler (Hrsg.): Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich. München 1996, S. 273 – 285, hier S. 274, 283. 32 Selbst bei den Gemeindewahlen im Frühjahr 1938 erhielt die SdP – anders als in der Literatur gelegentlich bis heute zu finden – nicht etwa 90, sondern ca. 75 Prozent der sudetendeutschen Stimmen. Gebel: „Heim ins Reich“ (wie Anm. 26), S. 58. 33 Und auch in der SdP gab es (laut Gebel: „Heim ins Reich“ [wie Anm. 26], S. 58) noch im Sommer 1938 Kräfte, die „ernsthaft auf eine Autonomielösung hinarbeiteten“.

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werden. In einem Frankreich vorgelegten Geheimplan vom 17. September 1938, dem „Fünften Plan“, sprach er davon, die CSR könne lediglich 1 bis 1,2 Millionen Deutsche verkraften. Gleichzeitig erklärte sich Benesˇ bereit, drei Gebiete in Westund Nordböhmen und in Österreichisch-Schlesien mit einer Bevölkerung von gut 800.000 Deutschen an das Dritte Reich abzutreten, wenn dieses im Gegenzug rund eine Million Deutscher aufnehme. Als „Modell“ diente der griechisch-türkische „Bevölkerungsaustausch“ nach der Konferenz von Lausanne 1923.34 Mit dem Gedanken einer Aussiedlung der Sudetendeutschen hatten seit 1848 zwar nur radikale Teile des tschechischen Nationalismus gespielt,35 doch auch die Gründerväter der demokratischen Tschechoslowakei offenbarten 1918/19 ein nicht ganz unproblematisches Verhältnis zu den Deutschen im Lande. Das von Außenminister Benesˇ der Pariser Friedenskonferenz vorgelegte Memoire III mit dem Titel „Das Problem der Deutschen in Böhmen“ ging davon aus, daß die Deutschen „nur Kolonisten oder Abkömmlinge von Kolonisten“ seien.36 Staatspräsident Tomsˇ G. Masaryk, der diese Auffassung zu teilen schien,37 zeigte sich in einem Presseinterview im Januar 1919 überzeugt, „daß eine sehr rasche Entgermanisierung dieser Gebiete vor sich gehen wird“.38 Zwar verhinderte die demokratische Struktur der tschechoslowakischen Gesellschaft „aus ihren Funktionsweisen heraus“ die Durchführung einer planmäßigen Assimilierungspolitik, die etwa Tschechisch als Pflichtfach an den Grundschulen eingeführt hätte.39 Dennoch blieb das Hauptmerkmal der Prager Sprachenpolitik darauf gerichtet, eine „manchmal unzweckmäßige, auf dem Prestigedenken beruhende Präponderanz der Sprache des Mehrheitsvolkes“40 durchzusetzen. Daran vermochte auch die langjährige Beteiligung „aktivistischer“ deutscher Parteien an Prager Koalitionsregierungen zwischen 1925

34 So Detlef Brandes: Benesˇ, Jaksch und die Vertreibung/Aussiedlung der Deutschen. In: Brandes u. a.: Erzwungene Trennung (wie Anm. 8), S. 101 – 110, hier S. 101 f. Das Lausanner Abkommen hatte offensichtlich eine positive Mythologie entfaltet, obwohl der Bevölkerungsaustausch in Wirklichkeit ausgesprochen brutal und gewaltsam verlaufen war. Vgl. Norman M. Naimark: Das Problem der ethnischen Säuberung im modernen Europa. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 48 (1999), S. 317 – 349, hier S. 328 f. 35 Vgl. Odsun. Die Vertreibung der Sudetendeutschen. Dokumentation zu Ursachen, Planung und Realisierung einer „ethnischen Säuberung“ in der Mitte Europas 1848/49 – 1945/ 46. Band 1: Vom Völkerfrühling und Völkerzwist bis zum Münchner Abkommen und zur Errichtung des „Protektorats Böhmen und Mähren“ 1939. Auswahl, Bearbeitung und Zusammenstellung von Roland J. Hoffmann/Alois Harasko. München 2000, S. 106, 214. 36 Ebd., S. 557. 37 Vgl. seine Ansprache an die Nation vom 22. Dezember 1918. Smelser: Das Sudetenproblem (wie Anm. 27), S. 13. 38 Le Matin (Paris), 10. Januar 1919. 39 Jaroslav Kucˇera: Minderheit im Nationalstaat. Die Sprachenfrage in den tschechischdeutschen Beziehungen 1918 – 1938. München 1999, S. 312. 40 Ebd., S. 307.

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und 1935 nichts zu ändern.41 Nachdem bereits die Durchführungsverordnung zum Sprachengesetz von 1926 „die Tür zu einer zumindest in Ansätzen einvernehmlichen Regelung weitgehend“ verschlossen hatte, erwiesen sich die tschechischen Parteien auch in der Folgezeit als „nicht … imstande, die zweifellos kühne und zukunftsweisende Entscheidung“ der „aktivistischen“ Sudetendeutschen zur Mitwirkung an der Stabilisierung des Staates noch vor der Weltwirtschaftskrise und der NSMachtergreifung „mit entsprechenden nationalpolitischen Zugeständnissen zu honorieren“.42 So bleibt das zwei Jahrzehnte nach dem Friedensschluß von St. Germain 1938 gezogene Resümee des britischen Beobachters Lord Runciman – wie immer man seine Objektivität einschätzt – doch bemerkenswert: Die CSR habe im Sudetenland „so viel kleinliche Intoleranz und Diskriminierung“ an den Tag gelegt, daß sich die Unzufriedenheit der deutschen Bevölkerung „unvermeidlich zum Aufstand fortentwickeln mußte“.43 Nach der gewaltsamen Zerschlagung der „Rest-Tschechei“ durch Hitler im März 1939 plädierte Benesˇ als Präsident der Exilregierung in London zunächst dafür, in Fortentwicklung des „Fünften Planes“ die Zahl der Sudetendeutschen in der Nachkriegstschechoslowakei um etwa die Hälfte zu reduzieren und bei der Ausweisung individuelle Schuldkriterien zugrunde zu legen. Doch schon seit 1940 machte eine Mehrheit der wissenschaftlichen Berater des britischen Foreign Office geltend, daß die Orientierung an einem schwer zu objektivierenden Schuldkriterium den Umfang des anzustrebenden Bevölkerungstransfers beeinträchtigen müßte; zur Stabilisierung der Nachkriegstschechoslowakei sei die Aussiedlung von zwei Dritteln der sudetendeutschen Volksgruppe erforderlich. Unter dem Eindruck der deutschen Luftangriffe wandelte sich die Stimmung in der britischen Öffentlichkeit so weit, daß schließlich im Juli 1942 auch das britische Kriegskabinett die Vertreibung deutscher Minderheiten aus Ostmitteleuropa – also nicht nur aus dem Sudetenland – grundsätzlich billigte: „in Fällen, wo dies notwendig und wünschenswert erscheint“.44 In der Folgezeit verschärfte die tschecho-

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Welcher Impuls zur Zusammenarbeit auch von wirtschaftlichen Interessen ausging, zeigt Christoph Boyer: Nationale Kontrahenten oder Partner? Studien zu den Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen in der Wirtschaft der CSR 1918 – 1938. München 1999. 42 Kucˇera: Minderheit im Nationalstaat (wie Anm. 44), S. 309, 311. 43 Odsun: Die Vertreibung der Sudetendeutschen (wie Anm. 35), S. 778. Eine wie immer geartete Rechtfertigung für die Methoden nationalsozialistischer Gewaltpolitik im Zusammenhang mit dem Münchner Abkommen läßt sich aber auch aus dem Befund Runcimans nicht ableiten. Zum Münchner Abkommen nach wie vor grundlegend: Boris Celovsky: Das Münchner Abkommen 1938. Stuttgart 1958; vgl. auch Peter Glotz/Karl-Heinz Pollok/Karl Schwarzenberg/John van Nes Ziegler (Hrsg.): München 1938. Das Ende des alten Europa. Essen 1990. 44 Brandes: Der Weg zur Vertreibung (wie Anm. 6), S. 425. Vgl. auch Lothar Kettenacker: Krieg zur Friedenssicherung. Die Deutschlandplanung der britischen Regierung während des Zweiten Weltkrieges. Göttingen/Zürich 1989.

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slowakische Exilregierung ihre bisherigen Vertreibungspläne.45 Dies geschah ganz wesentlich unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Repressionspolitik im sogenannten Protektorat Böhmen und Mähren, vor allem der Massaker von Lidice und Lezˇki im Juni 1942. Diese wurden insofern als verschärfte Fortsetzung des alten Nationalitätenkampfes wahrgenommen, als auch Sudetendeutsche, an der Spitze der aus der Henlein-Bewegung kommende Karl Hermann Frank, im NS-Besatzungsapparat wichtige Positionen innehatten. Aber nicht erst Lidice war das entscheidende Motiv für die tschechische Vertreibungspolitik, sondern bereits München, d. h. die Erfahrung der Zerstörung des tschechischen Staates 1938/39 – unter maßgeblicher Beteiligung der Sudetendeutschen Partei. Benesˇ selbst hat rückblickend betont, er habe das Ziel einer radikalen Reduzierung der Minderheiten seit 1938 – zunächst vorsichtig, „mit der Entwicklung des Krieges dann entschlossener und grundsätzlicher“46 – verfolgt. Schon im September 1941 teilte er dem Zentralausschuß des Heimatwiderstandes mit, die Totalaustreibung der Deutschen sei sein Maximalziel, auch wenn er nach außen hin noch zurückhaltender agierte.47 In seinem 10-Punkte-Plan vom November 1943 wurde dann aber ganz deutlich, daß die tschechische Politik nicht mehr daran glaubte, die als nötig erachtete Reduzierung der deutschen Minderheit durch den „Transfer“ ausschließlich jener zu erreichen, denen diese Maßnahme als strafrechtliche Sanktion für ihre Taten, für ihre individuelle Schuld, auferlegt werden konnte. In dem Vertreibungsplan ging Benesˇ vielmehr über den Kreis der unbestrittenen Exponenten und Nutznießer des NS-Regimes einschließlich der SdP-Funktionäre hinaus und erfaßte pauschal auch die Angehörigen der gesellschaftlichen Eliten (Juristen, Ingenieure, Lehrer) sowie jene, die in uniformierten Einheiten an der Front oder im Hinterland gedient hatten. Ganz im Sinne des 10-Punkte-Plans erklärte Benesˇ wenige Wochen später in Moskau, daß sich der „Transfer“ auch auf einen Teil der deutschen Bevölkerung beziehen werde, der nicht aktiv an der staatsfeindlichen Tätigkeit gegen die Tschechoslowakei beteiligt gewesen sei.48 Die prinzipielle Überzeugung, durch „nationale Entflechtung“ die Grundlagen einer stabilen Nachkriegsordnung in Ostmitteleuropa legen zu können, teilte Benesˇ, wie schon angedeutet, mit den Briten. Churchill hatte dabei auch den schmutzigen Südtirol-Deal Hitlers und Mussolinis vom Sommer 1939 über die Zwangsaussiedlung von Deutschsprachigen aus ihrer alpenländischen Heimat als Präzedenzfall vor Augen. Ihm sowie führenden amerikanischen Politikern galt indes vor allem das 45

Detlef Brandes: Großbritannien und seine osteuropäischen Alliierten 1939 – 1943. Die Regierungen Polens, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens im Londoner Exil vom Kriegsausbruch bis zur Konferenz von Teheran. München 1988, v. a. S. 392 – 404. 46 Edvard Benesˇ : Pameˇti. Od Mnichova k nov vlce a k novmu vtezstv. Praha 1947, S. 312 ff. 47 So Fenske: „Reiner Tisch wird gemacht werden“ (wie Anm. 1), S. 246, gestützt auf Studien von Brandes. 48 Jaroslav Kucˇera: „Der Hai wird nie wieder so stark sein“. Tschechoslowakische Deutschlandpolitik 1945 – 1948. Dresden 2001, S. 38.

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Abkommen von Lausanne als Referenz für eine Politik „ethnischer Säuberungen“. So äußerte US-Präsident Roosevelt in einem Gespräch mit dem britischen Außenminister Anthony Eden im März 1943: „Wir sollten Vorkehrungen treffen, um die Preußen aus Ostpreußen auf die gleiche Weise zu entfernen, wie die Griechen nach dem letzten Krieg aus der Türkei entfernt wurden.“49 Churchill begründete im Dezember 1944 im Britischen Unterhaus auch öffentlich, weshalb die Vertreibung der Deutschen so zukunftweisend sei: „There will be no mixture of population to cause endless trouble. A clean sweep will be made“.50 Für diese harte britische Haltung spielte der Zivilisationsbruch, dessen sich das Dritte Reich schuldig gemacht hatte,51 ebenso eine Rolle wie die spezielle Erfahrung mit der Instrumentalisierung der Nationalitätenkonflikte durch Hitler in der Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs (zuletzt vor allem in Bezug auf Danzig und den Korridor), aber auch mit dem Verhalten von Volksdeutschen während des Krieges. Ein Memorandum des Foreign Office über die deutsche Minderheit in Jugoslawien kam etwa 1943 zu dem Schluß: Angesichts der zweifelhaften Dienste als Gestapo-Agenten und Nazi-Spione könnten nach dem Abzug der Wehrmacht keine Volksdeutschen mehr in dem Land bleiben.52 Wie sich zudem die Annexions- und Vertreibungskonzepte der Exilregierungen in London wechselseitig radikalisierten, konnte man schon in den frühen 1940er Jahren gut beobachten, als noch über eine Konföderation Polens und der Tschechoslowakei nach dem Krieg diskutiert wurde: Der Chef der polnischen Exilregierung warnte in diesem Kontext Benesˇ 1941 ausdrücklich davor, auf das Egerland zu verzichten, das für die Sicherheit des anvisierten gemeinsamen Staatenbundes unverzichtbar sei.53 Der lange Weg zur Totalaustreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei führte schließlich auch über Polen, dessen Westverschiebung nach Ansicht ihrer Protagonisten mit noch größeren „Bevölkerungsverschiebungen“ verbunden sein sollte. Und was man den Polen gewährte – diese Auffassung setzte sich nicht nur in Großbritannien mehr und mehr durch –, konnte man den Tschechen kaum verweh-

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Unterredung am 15. März 1943, Foreign Relations of the United States (FRUS) 1943/III,

S. 15. 50 Die Bemerkung Churchills zur Notwendigkeit der Vertreibung bezog sich in diesem Fall auf die Zukunft Polens. Winston S. Churchill: His complete speeches 1987 – 1963. Ed. by Robert Rhodes James, vol. VII 1943 – 1949. New York/London 1974, S. 7069. 51 Vor diesem Hintergrund – so Norman Naimark: Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert und die Problematik eines deutschen „Zentrums gegen Vertreibungen“. In: Bernd Faulenbach/Andreas Helle (Hrsg.): Zwangsmigration in Europa. Zur wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzung um die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Essen 2005, S. 19 – 29, hier S. 21 – demonstrierten die Gespräche zwischen Stalin, Churchill und Roosevelt auf den Kriegskonferenzen, wenn immer es um die Deutschen ging, „eine Gefühllosigkeit gegen menschliches Leben, … die sich nur mit nationaler Stereotypisierung erklären läßt“. 52 Arnold Suppan: Zwischen Adria und Karawanken. Berlin 1998, S. 415. 53 Brandes: Der Weg (wie Anm. 6), S. 102.

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ren.54 Die zumindest theoretische Möglichkeit der Annexionen ohne Zwangsmigrationen wurde im Falle der Oder-Neiße-Gebiete bezeichnenderweise erst gar nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Wenn Polen diese Provinzen zusammen mit ihrer deutschen Bevölkerung übernähme, so die Argumentation, würde sich seine strategische Position gegenüber der Zwischenkriegszeit ja nicht, wie erhofft, verbessern, sondern sogar noch verschlechtern.55 Forderungen der polnischen Exilregierung in London zunächst auf Annexion Ostpreußens und Danzigs hatten noch 1939 rasch eingesetzt. Sie wurden bis 1943 auf Oberschlesien und Nordostpommern (ungefähr bis Stolpmünde) ausgedehnt, wobei die Sicherheit vor einem neuen deutschen Angriff das wesentliche Argumentationsmuster bildete. Die Nationaldemokratie, Massenpartei auf der polnischen Rechten, hatte bereits vor Beginn des von Hitler entfesselten Krieges die OderNeiße-Linie „als mögliches Friedensziel“ „ins Auge gefaßt.“56 Im Sommer 1940 forderte die nationalkonservative polnische Untergrundzeitung „Szaniec“ („Die Schanze“) eine „Verteidigungslinie“ entlang der Oder und der Lausitzer Neiße; und auch die „Narodowe Sile Zbrojne“ („Volksverteidigungskräfte“), d. h. die stärkste Gruppierung der polnischen Untergrundbewegung, sah in einer Grenze an der Lausitzer Neiße den Preis Deutschlands für den Überfall auf Polen.57 Unter den Kräften des polnischen Untergrundstaates und der Exilregierung in London vertraten zunächst allerdings nur Politiker der Bauernpartei ähnlich radikale Forderungen. Die mehr oder weniger weit gespannten territorialen Ambitionen waren zwar auch, aber nicht nur eine Reaktion auf die verbrecherische Polenpolitik des Dritten Reiches seit 1939. Vielmehr wurzelte der sogenannte Westgedanke schon tief im 54 Ebd., S. 296. Lediglich der Umfang und die praktische Durchführung der Vertreibung waren noch länger umstritten, wie die Arbeit des im Herbst 1943 vom britischen Kriegskabinett eingesetzten „Interdepartmental Committee on the Transfer of German Populations“ zeigte. Brandes: Der Weg (wie Anm. 6), S. 243 – 273. 55 Einleitung von Borodziej. In: Borodziej/Lemberg: Unsere Heimat, S. 51; vgl. auch Brandes: Großbritannien (wie Anm. 45), S. 240 f., 247. Hermann Graml: Die Alliierten und die Teilung Deutschlands. Konflikte und Entscheidungen 1941 – 1948. Frankfurt am Main 1985, S. 99, hat dazu bemerkt, die „hypothetische Koexistenz von Deutschen und Polen in Schlesien oder Brandenburg“ wäre „ohnehin nur die Folge eines mit unvertretbaren Mittels durchgesetzten unvertretbaren Besitzanspruchs gewesen“. 56 Włodzimierz Borodziey: Die polnische Grenzdiskussion im Lande und im Exil. In: Hans Lemberg (Hrsg.): Grenzen in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Aktuelle Forschungsprobleme. Marburg 2000, S. 137 – 148, S. 142. Wie groß in nationalistischen Kreisen lange vor Hitler vor allem der Appetit auf Ostpreußen war, erhellt z. B. aus einem Diktum des polnischen Generalkonsuls in Königsberg von 1925: „Keine Opfer können zu groß sein“, so sagte er, um Ostpreußen „in den Kreislauf des Polentums“ einzubeziehen. Andreas Kossert: Ostpreußen. Geschichte und Mythos. München 2005, S. 224. 57 Krzysztof Ruchniewicz: Die Westverschiebung Polens. In: Flucht und Vertreibung. Europa zwischen 1939 und 1948. Mit einer Einleitung von Arno Surminski. Hamburg 2004, S. 187; Mirosław Dymarski: Ziemie postulowane (ziemie nowe) w prognozach u dzialaniach polskiego ruchu oporu 1939 – 1945. Breslau 1997, S. 123 f.; Bronisław Pasierb: Polska Mys´l polityczna okresu II wojny s´wiatowej wobec Niemiec. Posen 1990, S. 247 f.

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polnischen politischen Denken des 19. Jahrhunderts.58 Unter dem Eindruck nicht zuletzt der antipolnischen Politik des neugegründeten Deutschen Kaiserreichs war in den späten 1880er Jahren vor allem bei den frühen Nationaldemokraten im preußischen (Posener) Teilungsgebiet die Überzeugung herangereift, am Untergang des polnischen Staates in den 1790er Jahren sei die Aufgabe westlicher, ethnisch polnischer Gebiete zu Gunsten eines nach Osten überdehnten multiethnischen Staates schuld gewesen. Die erstrebte Wiedergeburt Polens war deshalb für die nationaldemokratische Bewegung und ihren Führer Roman Dmowski nur im Zuge von Gebietszuwachs im Westen, d. h. auf Kosten Deutschlands, vorstellbar.59 Daß im polnischen Staatsgründungsprozeß am Ende des Ersten Weltkriegs dann nacheinander sowohl die westlich orientierten, piastischen, als auch die jagellionischen Kräfte mit ihrem Drang nach Osten zum Zuge kamen, schlug sich in einer nach beiden Seiten expansiven polnischen Politik nieder. Schon bei den Versailler Friedensverhandlungen 1919 veranlaßten die polnischen Verhandlungsführer den italienischen Außenminister zu dem Stoßseufzer: „Wenn es nach ihnen gegangen wäre, wäre halb Europa ehemals polnisch gewesen und hätte wieder polnisch werden müssen.“60 Ältere annexionistische Sehnsüchte des polnischen Nationalismus spielten für die territorialpolitischen Entscheidungen der Großmächte während des Zweiten Weltkriegs aber nur insofern eine Rolle, als sie von Stalin instrumentalisiert werden konnten. Das Hauptproblem bestand darin, daß die ostpolnische Beute Stalins aus seinem Teufelspakt mit Hitler vom August 1939 (Ribbentrop-Molotov-Linie) weitgehend mit jener Curzon-Linie A übereinstimmte, die der britische Außenminister nach dem Ersten Weltkrieg als die unter ethnischen Aspekten gerechteste Ostgrenze Polens ermittelt hatte.61 Unter Ausnutzung der russischen Schwäche hatte Polen jedoch über die Curzon-Linie weit hinausgegriffen und sich mehrheitlich meist von Ukrainern, Weißrussen und Litauern bewohnte Gebiete gewaltsam einverleibt. Zudem hatte Warschau in seinen „Ostgebieten“ zwischen den Kriegen eine ausge58 Marian Mroczko: Mys´l zachodnia 1918 – 1939. Kształtowanie i upowszechnienie. Posen 1986; Robert Brier: Der polnische „Westgedanke“ nach dem Zweiten Weltkrieg (1944 – 50), S. 10 ff. Vgl. auch Roland Gehrke: Der polnische Westgedanke bis zur Wiedererrichtung des polnischen Staates nach Ende des Ersten Weltkrieges. Genese und Begründung polnischer Gebietsansprüche gegenüber Deutschland im Zeitalter des europäischen Nationalismus. Marburg 2001. 59 Brier: Der polnische „Westgedanke“ (wie Anm. 58), S. 10. 60 Stefan Scheil: Mitteleuropäische Gedankenspiele nach Versailles. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Juni 2006, S. 47. 61 Strittig war deshalb in den Grenzdebatten während des Zweiten Weltkrieges nur, ob nicht doch auch noch die Region um Lemberg zum polnischen Staat gehören sollte, wie es die Variante B der Curzon-Linie vorsah. Die Ribbentrop-Molotov-Linie wich darüber hinaus auch im Bereich der Region Białystok, die zur Sowjetunion geschlagen wurde, zu Ungunsten Polens von der Curzon-Linie ab. Schließlich machte aber Stalin zumindest hier den polnischen Kommunisten ein kleines Zugeständnis. Hierzu nach wie vor Gotthold Rhode: Die Entstehung der Curzon-Linie. In: Osteuropa 5 (1955), S. 81 – 92, sowie Romain Jakemtchouk: La ligne Curzon et la IIe guerre mondiale. Louvain 1957.

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sprochen repressive Minderheitenpolitik betrieben, die 1930 in einer „breitangelegte[n] Terrorwelle gegen die ukrainische Bevölkerung“ gipfelte.62 Vor diesem Hintergrund hatte die britische wie die amerikanische Diplomatie von vornherein nur wenig Neigung, Moskau die Hitler-Stalin- alias Curzon-Linie wieder auszureden. Schon 1941 schloß Stalin eine Rückgabe seiner Beute an Polen kategorisch aus. Gegenüber dem Chef der polnischen Exilregierung Władysław Eugeniusz Sikorski brachte er im Dezember 1941 erstmals den Gedanken einer groß angelegten Westverschiebung Polens bis zur Oder ins Spiel.63 Auch während der Verhandlungen mit Eden im gleichen Monat bestand die Sowjetunion auf ihrer sogenannten Westgrenze vom 22. Juni 1941.64 Die britische Außenpolitik hatte für diese Idee von Anfang an Verständnis,65 scheute aber vor konkreten Festlegungen noch zurück.66 Denn London stand vor dem Dilemma, seinem polnischen Verbündeten, dessentwegen man 1939 in den Krieg gezogen war, einen beträchtlichen Gebietsverlust zumuten zu müssen. Wenigstens aber wußte Eden seit März 1942 von Sikorski, daß dieser zu Konzessionen an der polnischen Ostgrenze bereit war, sofern wenigstens Lemberg und Wilna polnisch blieben und als Kompensation für die Verluste im Osten ganz Ostpreußen an Polen käme.67 Schließlich verständigten sich die Westmächte auf der Teheraner Konferenz Anfang Dezember 1943 mit der Sowjetunion im Grundsatz auf eine Westverschiebung Polens bis zur Oder-Linie „unter Einschluß Ostpreußens und Oppelns“.68 Über die bisher schon diskutierten Annexionen (Ostpreußen, Danzig und Oberschlesien)69 62 Martin Scheuermann: Minderheitenschutz kontra Konfliktverhütung? Die Minderheitenpolitik des Völkerbundes in den zwanziger Jahren. Marburg 2000, S. 408. 63 Eugeniusz Duraczyn´ski: Granice Polski w polityce koalicji antyhitlerowskiej i w polityce polskiej. In: Włodzimierz Borodziej/Artur Hajnicz: Kompleks wype˛dzenia. Krakau 1998, S. 299 – 327, hier S. 310 – 313. Zu Sikorski Sarah Meiklejohn Terry: Polands Place in Europe. General Sikorski and the Origin of the Oder-Neisse-Line 1939 – 1943. Princeton 1983, S. 69 – 71. 64 Jochen P. Laufer: Stalins Friedensziele und die Kontinuität der sowjetischen Deutschlandpolitik 1941 – 1953. In: Jürgen Zarusky (Hrsg.): Stalin und die Deutschen. Neue Beiträge der Forschung. München 2006, S. 131 – 157, hier S. 136 f.; vgl. auch: Die UdSSR und die deutsche Frage 1941 – 1948. Dokumente aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation, bearb. und hrsg. von Jochen P. Laufer, 3 Bde. Berlin 2004. Aus der älteren Literatur vgl. Alexander Fischer: Sowjetische Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg 1941 – 1945. Stuttgart 1975; ders. (Hrsg.): Teheran, Jalta Potsdam. Die sowjetischen Protokolle von den Kriegskonferenzen der „Großen Drei“. Köln 1968. 65 Michael A. Hartenstein: Die Oder-Neiße-Linie. Geschichte der Aufrichtung und Anerkennung einer problematischen Grenze. Frankfurt am Main 1997, S. 23. 66 Laufer: Stalins Friedensziele (wie Anm. 64), S. 136 f. 67 Brandes: Großbritannien (wie Anm. 45), S. 562. 68 Alfred M. De Zayas: Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen. Vorgeschichte, Verlauf, Folgen. München 1977, S. 65. 69 Vgl. Churchills Schreiben an Eden vom 6. Oktober 1943 in: Gotthold Rhode/Wolfgang Wagner: Quellen zur Entstehung der Oder-Neiße-Linie in den diplomatischen Verhandlungen während des Zweiten Weltkrieges. Stuttgart 2. Aufl. 1959, Dok. Nr. 32, S. 42 f. Vgl. auch

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hinaus gerieten damit vor allem Hinterpommern und Ostbrandenburg neu ins Visier der alliierten Deutschlandplaner, von Niederschlesien freilich vorerst nur der kleinere Streifen nordöstlich der Oder. Nimmt man alle, teils widersprüchlichen Erkenntnisse70 zusammen, wie dies Carsten Lilge in einer instruktiven Untersuchung zum Thema getan hat, so findet sich jedenfalls „keine Bestätigung für die Behauptung“, daß bereits in Teheran die östliche Lausitzer Neiße und damit fast ganz Niederschlesien im Gespräch war.71 Allerdings dürfte die grundsätzliche Konzessionsbereitschaft des Westens Stalin dazu motiviert haben, seine Pläne in diese Richtung auszudehnen;72 zumal Churchill, Eden und Roosevelt in den Wochen und Monaten nach Teheran in ihrem Bemühen, die polnische Exilregierung für die Westverschiebung zu gewinnen, Aussagen machten, die nicht nur als Plazet zur Annexion ganz Schlesiens verstanden werden konnten, sondern damals wohl auch so gemeint waren.73 Mit der Verständigung von Teheran verstießen Churchill und Roosevelt gegen die von ihnen selbst am 14. August 1941 verkündeten Prinzipien der Atlantik-Charta, wonach territoriale Veränderungen am Kriegsende nur mit dem frei geäußerten Willen der betroffenen Völker vorgenommen werden sollten; doch die militärisch seit Stalingrad vor Kraft strotzende Sowjetunion handelte aus einer Position der Stärke, während die Streitkräfte der Demokratien Ende 1943 die Invasion an der Atlantik-Küste erst noch vor sich hatten. Obendrein war es keineswegs Churchill, der während der Teheraner Konferenz auf die Oder-Linie drängte, sondern Stalin, dem Churchill lediglich entgegenkam,74 indem er die Westverschiebung Polens in legendärer Weise mittels dreier Streichhölzer illustrierte, die Rußland, Polen und Deutschand darstellten: Als er das russische Streichholz nach Westen schob, gerieten auch das polnische und das deutsche Streichholz in Bewegung: „Das gefiel Stalin …“.75 So eingängig diese Geschichte ist – eines sollte nicht übersehen werden: Als reine Kompensation für die eigentlichen polnischen Ostgebiete vor allem um Lemberg,76 Wolfgang Wagner: Die Entstehung der Oder-Neiße-Linie in den diplomatischen Verhandlungen während des II. Weltkrieges. 3. Aufl. Marburg 1964. 70 Zur Widersprüchlichkeit der diesbezüglichen Aussagen Churchills vgl. Michael A. Hartenstein: Die Geschichte der Oder-Neiße-Linie. München 2006, S. 63 f. 71 Carsten Lilge: Die Entstehung der Oder-Neiße-Linie als Nebenprodukt alliierter Großmachtpolitik während des Zweiten Weltkrieges. Frankfurt am Main 1995, S. 82. 72 Lothar Kettenacker: Die Oder-Neiße-Linie als Faustpfand. In: Adolf M. Birke (Hrsg.): Großbritannien und Ostdeutschland seit 1918. München 1992, S. 61 – 79, hier S. 70. 73 Lilge: Die Entstehung der Oder-Neiße-Linie (wie Anm. 71), S. 101 f. 74 Vgl. ebd. 75 De Zayas: Die Anglo-Amerikaner (wie Anm. 68), S. 64. Vgl. auch FRUS (Foreign Relations of the United States. Diplomatic Papers. 1943): The Conferences at Cairo and Tehran. Washington 1961, S. 512. 76 Vor allem Lemberg selbst, das „kleine Wien“, war eine zentrale Stätte polnischer Kultur und besaß zusammen mit Wilna nach Einschätzung Philipp Thers für Polen sogar „eine noch

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wo etwa eineinhalb bis zwei Millionen Polen lebten, hätten Ostpreußen und/oder Oberschlesien vollauf genügt, ja man kann sogar fragen, ob aus „wohnungspolitisch“-kompensatorischen Gründen überhaupt deren Vertreibung „nötig“ war, wenn bereits vom polnischen Staatsgebiet der Zwischenkriegszeit etwa eine Million Volksdeutsche vertrieben und zusätzlich eine halbe Million Ukrainer und Weißrussen in die Sowjetunion „repatriiert“ wurden.77 Tatsache ist jedenfalls, daß später nur ca. 30 Prozent der polnischen Neusiedler in den Oder-Neiße-Gebieten aus dem verlorenen polnischen Osten kamen.78 Eine andere Frage war, ob und wie man für die ungeheuren Verwüstungen Polens durch den Nationalsozialismus – zu schweigen von seinen Millionen Todesopfern – auch einen territorialen Entschädigungskoeffizienten mit einrechnen würde. Doch spielte dies für die Entscheidungen der Großmächte keine wesentliche Rolle. Den Plan einer Westverschiebung Polens lehnte die polnische Exilregierung in London vehement ab. Sie kämpfte vielmehr darum, die für Polen außerordentlich günstige Vorkriegsgrenze im Osten wiederzuerlangen und gleichzeitig die – möglichst großen – Gebietserwerbungen im Westen in einem Rahmen zu halten, der den Mächten kein weiteres Argument für territoriale Zessionen im Osten lieferte. Wer sich während des großen Orlogs auch nur einen halbwegs kühlen Kopf zu bewahren und außenpolitisch strategisch zu denken vermochte, der mußte eigentlich auch sehen, welch schwere Belastung des deutsch-polnischen Verhältnisses – zu Gunsten des lachenden Dritten in Moskau – aus einer Oder-Neiße-Grenze langfristig resultieren würde. Dennoch war zu beobachten, wie schwer diese Einsicht führenden polnischen Exilpolitikern mit dem Fortschreiten des Krieges – und angesichts der radikaleren Konzeptionen der Untergrundparteien bzw. Widerstandsgruppen in der Heimat79 – fiel: So forderten auch Sikorski und sein Minister Marian Seyda im Dezember 1942 Gebiete bis zu einer „natürlichen Sicherheitslinie“ an Oder und Lausitzer Neiße, ja sogar einschließlich Stettins und der Insel Rügen als Besatzungszone.80 Ob damit längerfristig auch einer so weit reichenden Annexion deutgrößere Bedeutung als Breslau und Königsberg für Deutschland“. Philipp Ther: Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945 – 1956. Göttingen 1998, S. 105. 77 Churchill selbst hat im übrigen schon in Teheran geltend gemacht, daß der polnische Gewinn in den (tatsächlich nur teilweise) industrialisierten deutschen Ostgebieten viel größer sei als der Verlust der „Pripetsümpfe“ im Osten. De Zayas: Die Anglo-Amerikaner (wie Anm. 68), S. 64. 78 Vgl. die Argumentation von Josef Joachim Menzel: Die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa 1944 – 1948. In: Bernd Heidenreich/Sönke Neitzel (Hrsg.): Neubürger in Hessen. Ankunft und Integration der Heimatvertriebenen. Wiesbaden 2006, S. 9 – 30, hier S. 20; zum Thema jetzt auch die Dokumentation von Stanisław Ciesielski (Hrsg.): Umsiedlung der Polen aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten nach Polen in den Jahren 1944 – 1947. Marburg 2006. 79 Vgl. Brandes: Großbritannien (wie Anm. 45), S. 117, 407. 80 Włodzimierz T. Kowalski: ZSSR a granica na Odrze i Nysie Łuz˙yckiej 1941 – 1945. Warschau 1965, S. 55 ff.; Viktoria Vierheller: Polen und die Deutschlandfrage 1939 – 1949. Köln 1970, S. 27 f.; Georg W. Strobel: Die polnische „Preußenkrankheit“ und ihre politische

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scher Gebiete vorgearbeitet worden wäre, bleibt zwar eine hypothetische Frage, doch hat Hans Fenske argumentiert, daß die „Umgrenzung der Besatzungszone“ darauf hindeutete, daß die „Sicherheitslinie“ als Grenze gedacht war.81 Unter dem wachsenden sowjetischen Druck in Richtung Curzon-Linie sind derartige Vorstellungen allerdings ohnehin nicht intensiv weiter verfolgt worden. Vielmehr beschränkte Stanisław Mikołajczyk, der nach Sikorskis tödlichem Flugzeugabsturz im Juli 1943 das Amt des Exil-Ministerpräsidenten übernahm, die Annexionswünsche in einem Memorandum vom 18. November 1943 auf Ostpreußen, Danzig und Oberschlesien.82 Gegen eine Angliederung Breslaus und Stettins brachte Mikołajczyk starke Bedenken vor, da diese Städte „fast völlig deutsch“ seien.83 Zwar deutete Mikołajczyk schließlich unter massivem Druck Stalins und Churchills im November 1944 Kompromißbereitschaft hinsichtlich einer Westverschiebung Polens bis zur Oder-Neiße-Linie an, doch zwangen ihn die Minister des Exilkabinetts, die eine Revision der Ostgrenze mehrheitlich nach wie vor ablehnten, am 24. November zum Rücktritt. Die neue Exilregierung unter Tomasz Arciszewski bekräftigte am 15. Dezember 1944 abermals: „Wir wollen weder Breslau noch Stettin“.84 Bis ans Kriegsende hielten die Exilpolen an dieser Position fest. Aber sie hatten seit 1944 immer weniger politisches Gewicht, weil die Rote Armee gerade im Begriff war, die fraglichen Gebiete im Alleingang (zurück-)zuerobern und sich im polnischen Befreiungskomitee eine willfährige kommunistische Nachkriegsregierung zu schaffen. Das Ende Dezember 1944 von Moskau als Regierung anerkannte sogenannte Lubliner Komitee hatte zudem bereits im Juli 1944 in einem geheimen Grenzvertrag mit der Sowjetunion den Verlust der ehemals polnischen Ostgebiete bestätigt bzw. schweren Herzens bestätigen müssen. Die Bildung einer Moskau-hörigen provisorischen Regierung in dem von deutschen Truppen befreiten Warschau und die Weigerung, Mitglieder der demokratisch legitimierten Londoner Exilpolen einreisen zu lassen, schürten Anfang 1945 in London und Washington die Ängste vor einer geplanten Bolschewisierung des Landes durch Stalin. So wollten die Westmächte ihre früher gemachten Versprechungen hinsichtlich einer polnischen Westgrenze an der Oder mit dem „Zuschlag Stettins“ bei der Konferenz von Jalta im Februar 1945 nicht mehr ohne weiteres bekräftigen: „Wir müssen an die Lubliner Polen … nicht die gleichen ZugeständInstrumentalisierung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 53/1997, S. 21 – 33, hier S. 26; Hartenstein: Die Geschichte (wie Anm. 70), S. 55. 81 Fenske: „Reiner Tisch wird gemacht werden“ (wie Anm. 1), S. 245. Vgl. in diesem Sinne auch das Dokument Nr. 11 bei Rhode/Wagner: Quellen (wie Anm. 69), S. 17 f. 82 Die Denkschrift ist abgedruckt ebd., Nr. 34, S. 44 f. 83 So eine Äußerung von ihm im Herbst 1944. Brandes: Der Weg zur Vertreibung (wie Anm. 6), S. 359. 84 Hartenstein: Die Oder-Neiße-Linie (wie Anm. 65), S. 34. Vgl. auch Antony Polonsky: The Great Powers and the Polish Question 1941 – 1945. A Documentary Study in Cold War Origins. London 1976, S. 226 ff.; Rhode/Wagner: Quellen (wie Anm. 69), Nr. 94, S. 132 f.

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nisse machen, die wir Herrn Mikołajczyk für die Klärung der polnischen Frage machen wollten.“85 Als Molotov während der Konferenz auf die Oder-(Lausitzer)Neiße-Linie einschließlich Stettins pochte, ließ sich Churchill spürbar vorsichtiger ein als noch in Teheran und bestand darauf, daß jede Grenz- und Bevölkerungsverschiebung „im Verhältnis zu dem bleiben“ müsse, „was Polen verdauen und was nach Deutschland überführt werden“ könne.86 Allerdings bewogen die gerade bei Roosevelt noch lebendigen Hoffnungen auf ein demokratisches Nachkriegspolen – sprich: die laufenden Verhandlungen für die Bildung einer Vorläufigen Regierung der Nationalen Einheit unter Beteiligung von Lubliner und Londoner Polen – den Westen auch in Jalta zu Zugeständnissen hinsichtlich „beträchtlichen Landgewinns“ für Polen „im Norden und Westen“.87 So vage dieser am 10. Februar in Jalta beschlossene, die endgültige Regelung der Grenzfragen einer Friedenskonferenz zuweisende Text klingt, so eindeutig ist aufgrund einer Reihe von Äußerungen Churchills und Roosevelts zumindest eines: Damit war wie in Teheran – noch – keine Grenzziehung an der westlichen, Lausitzer Neiße gemeint,88 sondern weiter östlich an der Glatzer Neiße. Anders als es ein oft zu hörendes, unausrottbar scheinendes Gerücht nach 1945 verbreitet hat, wußten die Westmächte nämlich sehr wohl, daß es zwei Flüsse namens Neiße gab89 – man werfe dazu nur einen Blick auf die offizielle Landkarte der US-Delegation bei der Konferenz von Jalta.90 Zurückzuweisen ist auch die These, die Anglo-Amerikaner hätten in Jalta durch ihren Beitrag zu einem „Zustand der Rechtsunsicherheit hinsichtlich des Grenzverlaufes“ die östliche Seite geradezu herausgefordert, „vollendete Tatsachen“ zu schaffen,91 d. h. möglichst schnell möglichst viele Deutsche aus den fraglichen Gebieten zu vertreiben. Zwar ist unbestreitbar, daß die Westmächte in Jalta schwere Fehler begingen; doch die genannte These ist erstens geeignet, die tatsächlichen Verantwortlichkeiten für die Vertreibung auf den Kopf zu stellen, und zweitens ist keineswegs ausgemacht, ob nicht auch und gerade die sichere Gewißheit des künftigen Besitzes Ostdeutschlands Vertreibungsenergien auf russischer und polnischer Seite freigesetzt hätte. Klar ist jedenfalls, daß weite Teile Niederschlesiens zwischen Oder, Glatzer und Lausitzer Neiße – die Heimat von fast drei Millionen Menschen – 85

Ruchniewicz: Die Westverschiebung Polens (wie Anm. 57), S. 193. De Zayas: Die Anglo-Amerikaner (wie Anm. 68), S. 73. 87 Ebd., S. 76. 88 Irreführend deshalb die gegenteilige Behauptung von Klaus-Dietmar Henke: Der Weg nach Potsdam – Die Alliierten und die Vertreibung. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen. Frankfurt am Main 1985, S. 49 – 69, hier S. 53. 89 Von einer Verwechslung beider Flüsse war schon in einer britischen Unterhausdebatte Ende August 1945 die Rede; vgl. Rhode/Wagner: Quellen (wie Anm. 69) Nr. 168, S. 279 ff. 90 De Zayas : Die Anglo-Amerikaner (wie Anm. 68), S. 74 f. Auch im britischen Kabinett gab es in den Tagen vor Jalta eine Mehrheit gegen die Oder-Neiße-Grenze, nicht zuletzt weil Deutschland „genügend agrarische Anbaufläche erhalten“ bleiben müsse. Kettenacker: Krieg (wie Anm. 44), S. 470. 91 Henke: Der Weg nach Potsdam (wie Anm. 88), S. 53. 86

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vor allem deshalb zum Vertreibungsgebiet wurden, weil Stalin mit List und Tücke auf diese westliche Variante der Oder-Neiße-Linie hinarbeitete. So trat Stalin in Jalta dem britischen Premierminister mit der Lüge entgegen, die meisten Deutschen aus den fraglichen Gebieten seien ohnehin schon vor der Roten Armee geflohen. Auf der Potsdamer Konferenz der Siegermächte, die gut zwei Monate nach Kriegsende am 17. Juli 1945 begann, wiederholte sich diese Vorgehensweise. Nur wirkte daran neben Stalin nunmehr auch eine polnische Delegation der Vorläufigen Regierung der Nationalen Einheit mit, die infolge von Jalta gebildet worden war und der als Vizechef auch der frühere Londoner Exilpremierminister und Bauernparteiführer Mikołajczyk angehörte. Dessen lange durchgehaltene Strategie der Zurückhaltung gegenüber allzu üppigen Annexionen im Westen hatte sich angesichts des unumkehrbar scheinenden Verlusts der polnischen Ostgebiete grundlegend gewandelt; und diese Neupositionierung bereitete den Boden für einen politischen Konsens in der polnischen Nachkriegsregierung über eine Westgrenze an Oder und Neiße. Es seien, so beteuerten die polnischen Vertreter zur Untermauerung ihrer piastischen Ansprüche in Potsdam unisono, nur noch anderthalb Millionen Deutsche in den umstrittenen Gebieten. Diese würden „freiwillig ziehen, wenn die Ernte vorbei ist“.92 Tatsächlich lebten aber damals noch etwa vier Millionen Deutsche in den Ostgebieten; und eine weitere Million versuchte, in ihre Heimat zurückzukehren. Ob Churchill bzw. sein Nachfolger Clement Attlee und Roosevelts Nachfolger Harry S. Truman ihre Zustimmung zur „Überführung der deutschen Bevölkerung oder von Bestandteilen derselben, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland“93 (Art. XIII. Potsdamer Protokoll) in der konkreten Situation des Sommers 1945 auch gegeben hätten, wenn sie von der östlichen Seite vorher korrekt über den Umfang der noch in ihrer Heimat verbliebenen oder auf Rückkehr drängenden Deutschen informiert worden wären, bleibt letztlich zwar eine spekulative Frage. Doch vieles spricht dafür, daß die Bedingungen für ihr Plazet, wenn auch weniger aus humanitären, denn aus praktisch-organisatorischen Überlegungen, zumindest um einiges härter ausgefallen wären.94 Auch so schon ließ der Text des Artikels XIII den Willen der anglo-amerikanischen Siegermächte erkennen, die letzte moralische Verantwortung für die Durchführung der Vertreibung nicht zu übernehmen – und natürlich ihr Besatzungsgebiet möglichst nicht vor kaum unterzubringenden und zu ernährenden Flüchtlingsmassen überquellen zu lassen. Die angesichts der sozialen und wirtschaftlichen Realität im besetzten Deutschland wachsende Zurückhaltung der Westmächte drückte sich vor 92

De Zayas: Die Anglo-Amerikaner (wie Anm. 68), S. 104. Rhode/Wagner: Quellen (wie Anm. 69), Nr. 160, S. 266. Ob von der Formulierung „Polen“ die Vertreibung der Deutschen aus den rechtlich bis zu einem Friedensvertrag nach wie vor deutschen Oder-Neiße-Gebieten gedeckt war, die de jure (nach Art. IXb) lediglich unter polnische Verwaltung kamen, ist nicht unumstritten. Allerdings ist zu sehen, daß in diesem Zusammenhang (weiter unten wörtlich zitiert) ausdrücklich von „früher deutschen Gebieten“ die Rede ist. 94 Vgl. De Zayas: Die Anglo-Amerikaner (wie Anm. 68), S. 104 f. 93

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allem in zwei Bestimmungen des Artikels XIII aus. Zum einen hieß es in Futurform, daß jede „derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll“; zum anderen wurden die polnische und die tschechische Regierung sowie der Alliierte Kontrollrat in Ungarn ausdrücklich „ersucht …, weitere Ausweisungen der deutschen Bevölkerung“ solange „einzustellen“, bis der Alliierte Kontrollrat in Deutschland das Problem geprüft habe.95 Zwei Monate nach der Potsdamer Konferenz stellte US-Außenminister James F. Byrnes in einem Telegramm an den amerikanischen Botschafter in Prag noch einmal klar: Seine Regierung habe mit dem Abkommen keineswegs zu unterschiedslosen und ungeregelten Vertreibungen anregen wollen. Im Fall des Sudetenlands war das US-Außenministerium davon ausgegangen, daß mindestens 800.000 „Nazigegner“ von der Vertreibung ausgenommen würden. Im deutsch-polnischen Fall hatte die englische Regierung in Potsdam nur die „Ausweisung“ ebenso vieler Deutscher gutgeheißen, wie Polen aus dem von der Sowjetunion annektierten Gebiet östlich der Curzon-Linie ausgesiedelt würden: zwei bis drei Millionen.96 Selbst nach einer früheren Expertise des Foreign Office aus dem Jahr 1942 waren nur sieben Millionen Vertriebene – und nicht etwa zwölf oder vierzehn – das Maximum dessen, was ein besiegtes und stark zerstörtes Deutschland aufnehmen konnte.97 Die Politik der Zwangsaussiedlung vermochten solche westalliierten Bedenken freilich nicht zu stoppen.98 Weder in Potsdam noch vorher in Jalta und Teheran waren die demokratischen Mächte gewillt, die als wichtiger erachteten Fragen der künftigen polnischen Staatsform bzw. der deutschen Reparationen mit härterem Widerstand gegen die Oder- bzw. die Oder-Neiße-Linie und eine ungeregelte Massenvertreibung der Deutschen zu belasten.99 Gegen die sowjetische Forderung, Reparationsansprüche auch aus den westlichen Besatzungszonen (Ruhrgebiet) zu befriedigen, verwiesen die Westmächte in Potsdam darauf, daß Deutschland mit der Annexion der Oder-Neiße-Gebiete seine Hauptkornkammer verlieren und auf die verbleibende Industrieproduktion angewiesen sein werde, um von deren Ertrag Nahrungsmittel importieren zu können. Bestehe Moskau auf seinen Reparationsforderungen, so das Junktim der Westalliierten, dann könne es kein Plazet zur Oder95 De Zayas: Die Anglo-Amerikaner (wie Anm. 68), S. 255 f. Aus dem Text des Potsdamer Protokolls zum Problem des „Transfers“ geht klar hervor, daß es sich um eine gemeinsame Stellungnahme zu einem andernorts (Moskau, Warschau, Prag) getroffenen und bereits teilweise durchgeführten Beschluß handelte. Wäre es ein originärer Beschluß gewesen, hätte von „a transfer“ und nicht von „the tranfer“ gesprochen werden müssen und auch nicht von „recognize“ sondern von „have decided“ o. ä. Vgl. hierzu auch das Manuskript des früheren deutschen Botschafters in Prag, Michael Libal: Der „Odsun“ in Politik und Öffentlichkeit. Anmerkungen zum zehnten Jahrestag der Deutsch-Tschechischen Erklärung. 96 Ebd., S. 106 f. Die wirklichen (niedrigeren) Zahlen sind oben bereits genannt worden. 97 Henke: Der Weg nach Potsdam (wie Anm. 88), S. 55. 98 Zu „some general responsibility for what is done“ bekannte sich die Deutschlandabteilung des Foreign Office Anfang Juli 1945 ausdrücklich auch selbst. Kettenacker: Krieg (wie Anm. 44), S. 475. 99 Vgl. Henke: Der Weg nach Potsdam (wie Anm. 44), S. 53 f.

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Neiße-Grenze erwarten.100 Das drohende Scheitern der Konferenz verhinderte nur ein „package deal“, der auf einem Einlenken Stalins in der Reparationsfrage bei gleichzeitiger Hinnahme der neuen deutsch-polnischen Grenze durch die Westmächte bestand.101 Daß dieser von amerikanischer Seite vorgeschlagene Kompromiß auch den schieren machtpolitischen Verhältnissen Rechnung trug – im westdeutschen Industriegebiet standen britische Truppen, in den Oder-Neiße-Gebieten die Rote Armee – ist ebenso offensichtlich102 wie der Umstand, daß die demokratischen Staatsmänner ein Scheitern der Konferenz und das Platzen der Anti-Hitler-Koalition kaum ein Vierteljahr nach dem 8. Mai 1945 – und auch angesichts des fortdauernden Krieges gegen Japan – ihren Parlamenten und ihrer Öffentlichkeit schlechterdings nicht hätten vermitteln können. Die anglo-amerikanische Bereitschaft, einen großen Teil der preußisch-deutschen Ostgebiete als Verhandlungsmasse herzunehmen, um die Konferenz nicht scheitern zu lassen, gründete obendrein in tiefen Vorbehalten gegen das Preußentum und den vielbesagten „preußischen Militarismus“. Die Gebiete, um die es ging – Ostpreußen, Ostbrandenburg, Hinterpommern und Schlesien –, waren schließlich auch die Heimat der „preußischen Junker“. Deren „Vorherrschaft“ und vor allem deren Rolle in der Osthilfe-Frage, die Weimar scheitern und Hitler an die Macht habe kommen lassen, war nicht nur für Oxforder Regierungsberater ein Argument zugunsten der Abtretung Ostpreußens.103 Fast noch stärker war der Anti-Junker-Reflex bei den Führern der Labour-Party. So bildeten die ostelbischen Gutsbesitzer laut einem Positionspapier des damaligen Vizepremierministers und Labour-Chefs Attlee vom Sommer 1943 das „eigentlich aggressive Element“ der deutschen Gesellschaft. Ein für alle Mal ausgelöscht werden könne der „preußische Virus“ nur durch die „Liquidierung der Junker als gesellschaftliche Klasse“.104 So holzschnittartig diese Analyse war,105 so sehr entsprach sie den Überzeugungen auch konservativer briti100 Manfred Müller (Hrsg.) : Die USA in Potsdam 1945. Die Deutschlandpolitik der USA auf der Potsdamer Konferenz der Großen Drei. Berlin 1996, S, 55 f. 101 Ebd., S. 61 – 65, sowie Lilge: Die Entstehung der Oder-Neiße-Linie (wie Anm. 71), v. a. S. 145, 152 f. 102 So auch Graml: Die Alliierten (wie Anm. 55), S. 97. 103 Kettenacker: Krieg (wie Anm. 44), S. 448. Auch als es später um die Abtretung Hinterpommerns ging, spielte die Überlegung eine Rolle, daß damit die dortigen Junker depossediert würden. Ebd., S. 450. 104 Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600 – 1947. 2. Aufl. München 2007, S. 764. 105 Zur Notwendigkeit eines differenzierteren „Junker“-Bildes vgl. Patrick Wagner: Bauern, Junker und Beamte. Lokale Herrschaft und Partizipation im Ostelbien des 19. Jahrhunderts. Göttingen 2005, oder Dominic Lieven: Abschied von Macht und Würden. Der europäische Adel 1815 – 1914. Frankfurt 1995, vor allem S. 322 – 330. Nach Wagner: Bauern (wie Anm. 105), S. 584 f., ruhte der Einfluß der Junker auf gesamtstaatlicher Ebene jedenfalls schon am Ende des Kaiserreichs nicht mehr „auf einer soliden Basis traditioneller Herrschaftsstrukturen in den Landkreisen Ostelbiens“. Außerdem wird gerne übersehen, daß der mit dem Junker-Begriff zumindest in erster Linie gemeinte Adel in allen ostelbischen Provinzen nur noch eine Minderheit innerhalb des Großgrundbesitzes darstellte (Wagner: Bauern [wie Anm. 105], S. 409),

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scher Staatsmänner wie Churchill oder amerikanischer Politiker bis hin zu Roosevelt, der in Sachen Vertreibung oft spürbar radikaler agierte als seine zurückhaltenderen Beratergremien.106 Deren Credo war es vor allem, daß sich die Zwangsaussiedlung der Deutschen tunlichst nur auf politisch besonders belastete Gruppen erstrecken (selektiver Transfer) und ohne Hast in geregelter Form erfolgen solle. Diese Position brachten sie den Briten, der eigentlich treibenden westalliierten Kraft in der Vertreibungsfrage, bis Anfang 1945 „wieder und wieder … zu Gehör“.107 Für Roosevelt hatte dagegen ein gutes Verhältnis zur Sowjetunion eindeutig Priorität vor den unterschiedlichsten polnischen Wünschen. Der US-Präsident brauchte Stalin, weil er einen amerikanischen Krieg führen wollte oder mußte, d. h. „mit beispiellosem Materialeinsatz und vergleichsweise geringen Opfern an amerikanischen Menschenleben“.108 Ein Blick auf die tatsächlichen Verluste – 13,6 Millionen Sowjetsoldaten, aber „nur“ 260.000 amerikanische verloren im Zweiten Weltkrieg ihr Leben – läßt so auch erkennen, weshalb Roosevelt in Teheran und Jalta der Sowjetregierung derart weitreichende Zugeständnisse machte. Zu der geringen Rücksicht auf Polen und die Millionen polnischer Immigranten, die bis zur Präsidentenwahl im Herbst 1944 so gut es ging hingehalten wurden,109 gesellte sich indes eine eiserne Härte gegenüber Deutschland. Erste antideutsche Ressentiments hatten sich bei dem jungen Roosevelt schon vor 1914 bei Fahrradtouren durch das Wilhelminische Kaiserreich gebildet. In Hitler sah er dann keineswegs einen Betriebsunfall der deutschen Geschichte, sondern das natürliche Ergebnis eines „aggressiven, preußisch-deutschen Nationalcharakters“.110 „Punishing the Germans“111 war für Roosevelt, der sogar hinter den Grundtendenzen des Morgenthau-Planes stand, folglich eines der wichtigsten Kriegsziele. Zwar fragte er „Onkel Joe“ in Teheran unter vier Augen einmal treuherzig, ob die aus Polens Westverschiebung resultierende Bevölkerungsumsiedlung auf freiwilliger Basis möglich sein werde,112

aber auch wie unterschiedlich die Macht der „lokalen Junker“ in den preußischen Ostprovinzen sich entwickelt hatte: Während sie in Mittelschlesien 1910 noch zehn von 23 Landräten stellten, waren es in Ost- und Westpreußen nur noch fünf von 60 Amtsträgern (Wagner: Bauern [wie Anm. 105], S. 584). 106 Vgl. Clark: Preußen (wie Anm. 104), S. 9, 765 f.; Brandes: Der Weg (wie Anm. 6), S. 427. 107 Henke: Der Weg nach Potsdam (wie Anm. 88), S. 56. 108 Detlef Junker: Roosevelt und das nationalsozialistische Deutschland. In: Europas Mitte. Günther Franz zum 85. Geburtstag. Göttingen/Zürich 1987, S.145 – 165, hier S. 156. 109 Der polnische Premier Sikorski hatte aber schon 1943 die Hoffnung auf die Unterstützung der USAweitgehend verloren. Stanisław Zabiello: O rzad i granice. Walka dyplomatyczna o sprawe polka w II wojnie s´wiatowej. 2. Auflage Warschau 1970, S. 129. 110 Junker: Roosevelt und das nationalsozialistische Deutschland (wie Anm. 108), S. 161. 111 Conrad Black: Franklin Delano Roosevelt. Champion of Freedom. New York 2003, S. 884. 112 Detlef Junker: Franklin D. Roosevelt. Macht und Vision: Präsident in Krisenzeiten. Göttingen 1979, S. 143.

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doch war er vor allem an einer entscheidenden Schwächung Deutschlands interessiert. So protestierte Roosevelt auch ebensowenig wie Churchill entschieden genug, als die Sowjetunion in den Tagen vor und nach Jalta im Februar 1945 die Oder-NeißeGebiete kurzerhand – noch vor Kriegsende – polnischer Verwaltung unterstellte.113 Ihre faktische Zustimmung zu der stalinistischen Maximalvariante der westlichen Oder-Neiße-Linie gaben die Westmächte schließlich erst im Artikel IX des Potsdamer Protokolls vom 2. August 1945. Neben dem reparationspolitischen und antiborussischen Motiv spielte dabei nach wie vor die illusionäre Hoffnung auf freie Wahlen in Polen, die im gleichen Artikel des Papiers verheißen wurden, eine wichtige Rolle. Mikołajczyk hatte nämlich u. a. in einem Brief an den US-Botschafter in Moskau, William A. Harriman, deutlich gemacht, daß der Wahlsieg seiner Bauernpartei sicher sei, wenn er den landlosen Bauern neues Ackergebiet in den deutschen Ostprovinzen zusichern könne; von einer zögerlichen Haltung der Westmächte in der Grenzfrage könnten dagegen nur die polnischen Kommunisten profitieren.114 Die „Häupter der Regierungen“ der USA, Großbritanniens und der UdSSR, so heißt es im Artikel IX des Protokolls wörtlich, stimmen darin überein, „daß bis zur endgültigen Festlegung der Westgrenze Polens die früher115 deutschen Gebiete östlich der Linie, die von der Ostsee unmittelbar westlich von Swinemünde und von dort die Oder entlang bis zur Einmündung der westlichen Neiße und die westliche Neiße entlang bis zur tschechoslowakischen Grenze verläuft, einschließlich des Teiles Ostpreußens, der nicht unter die Verwaltung der Union der Sozialistische Sowjetrepubliken … gestellt wird und einschließlich des Gebietes der früheren Freien Stadt Danzig, unter die Verwaltung des polnischen Staates kommen und in dieser Hinsicht nicht als Teil der sowjetischen Besatzungszone betrachtet werden sollen“.116 Zwar hatten dem Potsdamer Protokoll nur die Regierungschefs, nicht die Parlamente der USA und Großbritanniens zugestimmt; und fraglich ist auch, ob der im Blick auf die Sowjetunion im Sommer 1945 schon recht realistische Churchill, der mitten während der Konferenz vom neuen Labour-Premier Attlee abgelöst wurde, dem Dokument so zugestimmt hätte.117 Doch andererseits wurde die juristisch klare Vorläufigkeit der 113

Zum Beschluß des Obersten Verteidigungsrates der UdSSR siehe Lilge: Die Entstehung der Oder-Neiße-Linie (wie Anm. 71), S. 132, 138 ff. 114 FRUS. The Conference of Berlin (The Potsdam Conference) 1945, Washington 1960, vol. 2, S. 1141. 115 Kursiv-Setzung vom Verfasser. 116 Potsdam 1945. Quellen zur Konferenz der „Großen Drei“. Hrsg. von Ernst Deuerlein. München 1963, S. 364. 117 In seinen Erinnerungen bestreitet Churchill dies. Immerhin hatte er wenige Wochen vorher tatsächlich vergeblich auf Truman eingewirkt, die anglo-amerikanischen Truppen nicht ohne Gegenleistung aus der künftigen sowjetischen Besatzungszone abzuziehen. Kettenacker: Krieg (wie Anm. 44), S. 473. Zudem hatte Churchill am 25. Juli 1945 (auf der 9. Vollversammlung) gesagt, die Frage der Westausdehnung Polens werde zum Prüfstein für den Erfolg

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Übereinkunft nicht nur dadurch in Frage gestellt, daß die betreffenden Gebiete aus dem Kreis der Besatzungszonen und faktisch auch aus dem Verantwortungsbereich des Alliierten Kontrollrats ausgegliedert wurden,118 sondern vor allem auch durch die prinzipielle Zustimmung zur „Übersiedlung“ der deutschen Bevölkerung.119 Die infolge des Potsdamer Prüfauftrags am 2. November 1945 von den Besatzungsmächten beschlossene Maßnahme sah vor, 6,65 Millionen Deutsche aus Polen – einschließlich der deutschen Ostgebiete (!) –, der Tschechoslowakei und Ungarn zu vertreiben.120 Ohne die Bereitschaft der Westalliierten, einen großen Teil davon in den eigenen Zonen aufzunehmen, hätte die Vertreibung vielleicht nicht ganz in dieser gewaltigen Dimension und atemverschlagenden Geschwindigkeit stattfinden können, da Stalin wenig Neigung verspürt haben dürfte, sämtliche Zwangsumgesiedelte in seine eigene kleine Besatzungszone hineinzupferchen.121 Andererseits wäre Stalin ohne weiteres zuzutrauen gewesen, trotz eines Aufnahmestops in den Westzonen die ostdeutsche Bevölkerung derart zu terrorisieren (etwa durch Deportation nach Sibirien im großen Stil), daß die öffentliche Meinung in den USA und Großbritannien alsbald auf eine Rücknahme dieses Schritts gedrängt hätte. Festzuhalten bleibt: Die anglo-amerikanische Bereitschaft zur Hinnahme eines massiven Bevölkerungstransfers lag auf einer ganz anderen Ebene als die Motivation der östlichen Staaten, die vom Massenexodus der Deutschen nicht nur potentiell politisch-strategisch, sondern ganz real-materiell profitierten. Nicht deutlich genug kann unterstrichen werden, daß die organisierte Zwangsmigration schon viele Wochen vor dem Beginn der Potsdamer Konferenz – und dem konditionierten Plazet Londons und Washingtons – im Gange war und daß sie auch danach trotz des Moratoriumsbeschlusses nicht zum Stillstand kam. Das heißt, die führenden Politiker in Ostmitteleuropa waren selbst fest entschlossen, ihre deutsche Bevölkerung auszuweisen. Der polnische und tschechoslowakische Wunsch, die deutsche Bevölkerung auszuweisen, entsprach – wie ein russisches Delegationsmitglied in Potsdam bemerkte –, „einer historischen Mission …, welche die sowjetische Regierung keider Konferenz werden. Polen als fünfte Besatzungsmacht zuzulassen, würde das Scheitern der Gespräche bedeuten. Hartenstein: Die Geschichte (wie Anm. 70), S. 108. 118 Auch wenn etwa der neue britische Außenminister Ernest Bevin davon ausging, daß die Oder-Neiße-Gebiete, obwohl administrativ nicht Teil der russischen Zone, „weiterhin der Jurisdiktion des Kontrollrats unterlagen“. Kettenacker: Krieg (wie Anm. 44), S. 477. 119 Insofern ist Fenske zuzustimmen, der dazu bemerkt hat: „An entscheidender Stelle meinte das Potsdamer Abkommen etwas anderes als sein Wortlaut sagte“. Diese Widersprüchlichkeit habe indes daraus resultiert, daß ein eindeutiges Festhalten der Westmächte „an dem noch zu Beginn der Konferenz bestätigten Deutschland-Begriff vom 5. Juni 1945“ (der Erklärung der drei Regierungen über die Besatzungszonen in Deutschland) „vermutlich zu einem schweren Konflikt“ mit Stalin geführt hätte. Fenske: „Reiner Tisch wird gemacht werden“ (wie Anm. 1), S. 258. 120 Hans-ke Persson: Rhetorik und Realpolitik, Großbritannien, die Oder-Neiße-Grenze und die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Potsdam 1997, S. 113; Ernst Deuerlein: Potsdam 1945. Ende und Anfang. Köln 1970, S. 149 f. 121 So auch Graml: Die Alliierten (wie Anm. 55), S. 100.

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neswegs zu verhindern suche“122 – und an der sie sich im nördlichen Ostpreußen und andernorts selbst beteiligte. So wurde bei der Annexion des Königsberger Gebietes durch die Sowjetunion, die sich ursprünglich sogar ganz Ostpreußen hatte einverleiben wollen, das abenteuerliche Argument bemüht, der Landstrich sei „ursprünglich russisches Gebiet“. In Grußadressen der sowjetischen Werktätigen Kaliningrads an Stalin hieß es bald: „Wir alle kamen in die neue Oblast mit einem Gedanken, mit einem Ziel – die slawische Erde wiedererstehen zu lassen“.123 Sowjetrußland unterstützte die Vertreibung der Deutschen also auch aus einer neu entflammten „panslawistischen Haltung heraus“.124 In eine ähnliche Richtung ging die Argumentation, mit der polnische Politiker auf Sitzungen der Außenminister sowie in Einzelgesprächen während der Potsdamer Konferenz ihre Territorialansprüche über das Vergeltungs- und Entschädigungsmotiv hinaus historisch-politisch begründeten: Bis zur Oder und Neiße habe, so hieß es, auch schon der mittelalterliche polnische Staat gereicht, „die Wiege der polnischen Nation“.125 Der Panslawismus von Mitgliedern der tschechischen Nachkriegsregierung erinnerte den „Manchester Guardian“ im Juni 1945 gar an Hitlers Pangermanismus.126 Auch Benesˇ ließ während einer Rede in der einstigen HussitenHochburg Tabor erkennen, daß beim Entschluß zur Vertreibung historisch tiefer liegende Motive des Nationalitätenkonflikts eine Rolle spielten: „Erinnert Euch dessen, was uns durch die Germanisierung über diese ganzen Jahrhunderte seit der Hussitenzeit geschehen ist“.127 Die Anspielung auf die Hussitenzeit war besonders insofern bemerkenswert, als in den Jahren nach 1419 bereits einmal deutschsprachige Böhmen vor allem aus Prag und einigen Sprachinseln vertrieben worden waren.128 Wesentlich zur Radikalisierung älterer nationalistischer Affekte hatten aber in der Tschechoslowakei wie in den anderen Vertreiberstaaten die jüngsten Erfahrungen mit Deutschland und den Deutschen beigetragen. Da das deutsche Volk „in diesem Krieg aufgehört [habe] menschlich zu sein, menschlich erträglich zu sein“,129 und „in 122

De Zayas: Die Anglo-Amerikaner (wie Anm. 68), S. 102. Kossert: Ostpreußen (wie Anm. 56), S. 339. 124 Naimark: Das Problem der ethnischen Säuberung (wie Anm. 34), S. 336. 125 Brandes: Der Weg zur Vertreibung (wie Anm. 6), S. 407. 126 Wolfgang Brügel: Tschechen und Deutsche, Bd. 2: 1939 – 1946. München 1974, S. 155 f. 127 Lidov Democracie, 17. Juni 1945. Auch wenn für Benesˇ, wie der österreichische Historiker Niklas Perzi: Die Benesˇ-Dekrete. Eine europäische Tragödie, St. Pölten/Wien/Linz 2003, argumentiert, eine positivistisch-szientistische Motivation beim Entschluß zur Vertreibung eine wesentliche Rolle gespielt haben mag, wäre es wohl zu einfach, seine chauvinistischen Äußerungen seit 1919 ausschließlich als Rhetorik abzutun. 128 Friedrich Prinz: Böhmen und Mähren (Deutsche Geschichte im Osten Europas). Berlin 1993, S. 162 f. 129 Benesˇ, Rede in Brünn, 12. Mai 1945, zit. nach Brandes: Der Weg zur Vertreibung (wie Anm. 6), S. 377. 123

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seiner Gesamtheit“ die Verantwortung für den Nationalsozialismus und dessen Verbrechen trage, waren Benesˇ und mit ihm die große Mehrheit der tschechischen Gesellschaft überzeugt, das „deutsche Problem“ definitiv liquidieren (vylikvidovat) zu müssen.130 Ähnlich wie tschechische Politiker131 äußerten sich 1945 auch jugoslawische oder polnische. Als Beispiel genannt sei der Befehl, den die Führung der zweiten polnischen Armee ihren Einheiten gab, „mit den Deutschen so zu verfahren wie sie mit uns verfuhren“.132 Ebenso klang es aus einer Ansprache des Vorsitzenden der slowenischen Volksregierung auf dem Marburger Hauptplatz am 5. Mai 1945: „Aus den nördlichen Gebieten müssen die Reste des Deutschtums verschwinden. … Diese Leute, die den Schweiß des Volkes ausgesaugt haben, diese Leute, die mithalfen, unser Volk zu versklaven, diese Leute dürfen nicht mehr hier bleiben“.133 Vor dem Hintergrund der Entschlossenheit führender ostmitteleuropäischer Politiker, das „deutsche Problem“ ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen, waren die sogenannten „wilden Vertreibungen“ zwischen Kriegsende und Potsdamer Abkommen durch Armee-Einheiten, „Nationalausschüsse“, „revolutionäre“ Milizen oder regulärer Polizei weniger ein spontaner Ausdruck des Volkszorns, als vielmehr staatlich gelenkte Aktionen, um vor der Potsdamer Konferenz und vor einem – zu Recht befürchteten – Nachlassen der (west-)alliierten Bereitschaft zur Vertreibung unumkehrbare Fakten zu schaffen. Einer Direktive des tschechoslowakischen Innenministers gemäß mußten grundsätzlich alle Personen ausgesiedelt werden, die sich bei der Volkszählung von 1930 (!) zur deutschen Nationalität bekannt hatten. Voraussetzung für die Durchführung waren in der Regel wohl mündliche Übereinkünfte zwischen lokalen tschechoslowakischen Behörden und untergeordneten russischen Militärbefehlshabern jenseits der tschechisch-sächsischen Grenze in der SBZ, während im amerikanisch befreiten Teil der CSR derartige Aktionen unterblieben.134 Begleitet von Aufrufen im Rundfunk oder in Flugblättern, die den Haß auf die Deutschen noch schürten, wurden bereits vor Potsdam 450.000 Deutsche aus der Tschechoslowakei vertrieben, aus dem polnischen Machtbereich immerhin 400.000.135 In den jugoslawischen Gebieten waren schon 1944 die Umsiedlungsaktionen der NS-Machthaber (aus Westslawonien) angesichts der militärischen Lage „in Evakuierungsmaßnahmen und Fluchtbewegungen“ übergegangen, „ohne daß die einen ohne weiteres von den anderen unterschieden werden könnten“; eine „unver130

Brandes: Der Weg zur Vertreibung (wie Anm. 6), S. 378. Sogar einige Geistliche wie Monsignore Stasˇek äußerten sich extrem nationalistisch: „Alle Deutschen sind schlecht und das Gebot der Nächstenliebe gilt für sie nicht.“ Zit. nach Emilia Hrabovec: Vertreibung und Abschub. Deutsche in Mähren 1945 – 1947. Frankfurt am Main 1995, S. 96. 132 Ther: Deutsche und polnische Vertriebene (wie Anm. 76), S. 55. 133 Zit. nach Suppan: Zwischen Adria und Karawanken (wie Anm. 52), S. 417. 134 Brandes: Der Weg zur Vertreibung (wie Anm. 6), S. 381 ff.; Kucˇera: Der Hai (wie Anm. 48), S. 43. 135 Vgl. Brandes: Der Weg zur Vertreibung (wie Anm. 6), S. 397; Ther: Deutsche und polnische Vertriebene (wie Anm. 76), S. 56 f. 131

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hüllte Austreibung“ Zehntausender Jugoslawiendeutscher erfolgte vor allem in Slowenien und Teilen Slawoniens.136 Die „wilden“ Vertreibungen vor der Potsdamer Konferenz sind vielleicht der wichtigste Beleg dafür, daß die politische Verantwortung für die Zwangsaussiedlung auch bei den führenden Exil- und Nachkriegspolitikern der ostmitteleuropäischen Staaten zu suchen ist. Nicht zuletzt traf dies für Jugoslawien zu, das im Potsdamer Abkommen überhaupt nicht erwähnt wurde, und wo es zu zahlreichen Grausamkeiten gegen die deutsche Volksgruppe kam.137 Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch daran, wie Benesˇ den Westmächten gegenüber hatte durchblicken lassen, die Vertreibung notfalls auch ohne deren Billigung im Zusammenwirken mit Moskau allein durchzuführen. Die Schätzungen über die Zahl der Menschen, die durch Kapitalverbrechen oder infolge der Begleitumstände der Vertreibung nicht „nur“ ihre Heimat, sondern ihr Leben verloren, reichen von einigen Hunderttausend bis über zwei Millionen.138 Eigens erwähnt seien auch die oft vergessenen ca. 400.000 Deutschen aus den Vertreibungsgebieten, die zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert wurden.139 Die Zwangsaussiedlung betraf – vom rumänischen Sonderfall abgesehen – zumindest große Teile der deutschen Bevölkerung oder führte sogar zu ihrer nahezu geschlossenen Vertreibung. Letzteres gilt für Jugoslawien und die Tschechoslowakei, wo die Zahl der Deutschen von über einer halben Million auf 60.000 (Volkszählung

136 Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, Bd. V: Das Schicksal der Deutschen in Jugoslawien, München 1984 (unv. Nachdruck der Ausgabe von 1960), S. 85E, 99E. Vgl. auch Suppan: Zwischen Adria und Karawanken (wie Anm. 52), S. 415 ff. 137 Leidensweg der Deutschen im kommunistischen Jugoslawien, hrsg. von der Donauschwäbischen Kulturstiftung, 4 Bde, München 1991 – 1995; Verbrechen an den Deutschen in Jugoslawien 1944 – 1948. Die Stationen eines Völkermords, hrsg. von der Donauschwäbischen Kulturstiftung, München 2000; Dieter Blumenwitz: Rechtsgutachten über die Verbrechen an den Deutschen in Jugoslawien 1944 – 1948. München 2002. 138 Vgl. Manfred Kittel: Eine Zentralstelle zur Verfolgung von Vertreibungsverbrechen? Rückseiten der Verjährungsdebatte in den Jahren 1964 bis 1966. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 54 (2006), S. 173 – 207, hier S. 177 f. Hans-Ulrich Wehler hat zu der ausgesprochen komplizierten Zahlenproblematik geschrieben: „Die riesige Verlustziffer liegt weit über einer Million, nähert sich aber vielleicht, wenn man die späteren Todesfälle als Folge wochenlang anhaltender Transporte oder Trecks mit einbezieht, sogar der Zwei-MillionenGrenze.“ Wehler: Einleitung (wie Anm. 5), S. 13. Neuere Forschungen zweifeln diese Zahl als überhöht an, doch wird dabei „wahrscheinlich die Korrektur überzeichnet“. Nach Fenske: „Reiner Tisch wird gemacht werden“ (wie Anm. 1), S. 264 f., sind in den älteren Berechnungen des Statistischen Bundesamtes (von 1958) die Wehrmachtsverluste in der ostdeutschen Zivilbevölkerung zu niedrig angesetzt worden, so daß die Zahlen von 2.225.000 auf 1.865.000 zu korrigieren wären. 139 Herbert Mitzka: Zur Geschichte der Massendeportation von Ostdeutschen in die Sowjetunion im Jahre 1945. Einhausen 1986. Zur zentralen Rolle sowjetischer Soldaten bei den Vertreibungsverbrechen Manfred Zeidler: Kriegsende im Osten. Die Rote Armee und die Besetzung Deutschlands östlich von Oder und Neiße 1944/45. München 1996.

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1953) bzw. von dreieinviertel Millionen auf 163.000 (1950) abnahm.140 In Polen wurden nach Abschluß der Vertreibung in den alten Grenzen, wo vor 1939 über eine Million Deutsche gelebt hatten, noch 300.000 gezählt.141 In den faktisch annektierten deutschen Ostgebieten, die von etwa zehn Millionen Deutschen „ethnisch gesäubert“ worden waren, verblieb vor allem in den nationalen Mischzonen Oberschlesiens und Masurens über eine Million sogenannter Autochthoner. Diese bekamen nicht nur die Gelegenheit, die polnische Staatsangehörigkeit freiwillig zu erwerben, sie wurde ihnen oft genug auch gegen ihren Willen aufgezwungen.142 Am unteren Ende der „Vertreibungsskala“ von 1945/46 steht Ungarn. Dort wurde die Zwangsaussiedlung erst auf der (schein-)legalen Basis des Beschlusses des Alliierten Kontrollrats vom 20. November 1945 in Gang gesetzt und schließlich – unter dem Druck der USA sowie gemäßigter innenpolitischer Kräfte – nicht zu Ende geführt, so daß rund die Hälfte der gut 500.000 Deutschen im Land bleiben konnte.143 Nach Deutschland wurden jene ungarischen Staatsbürger ausgesiedelt, die sich bei der letzten Volkszählung zur deutschen Nationalität oder Muttersprache bekannt hatten oder während des Krieges ihren magyarisierten Namen wieder in einen deutsch klingenden hatten ändern lassen, ferner Mitglieder des (schwabendeutschen) Volksbundes oder bewaffneter deutscher Formationen (SS). Über das Ausmaß der Zwangsaussiedlung hatte die ungarische Regierung lange gestritten, wobei die Kommunisten im Zusammenspiel mit Moskau zur Totalaustreibung drängten, während die Kleinlandwirte-Partei bürgerliche Eigentumsrechte gewahrt wissen wollte, zugleich aber von ihrem magyarischen Nationalismus zu weiterreichenden Maßnahmen verführt wurde. Vor allem die Sozialdemokraten legten eine skeptische Haltung gegenüber einer kollektiven Bestrafung der Deutschen an den Tag. Dabei spielte nicht zuletzt die – auch im Budapester Außenministerium besonders verbreitete – Rücksicht auf das ungeklärte Schicksal der Oberungarn in der Slowakei eine Rolle, für deren Behandlung die Vertreibung der Ungarndeutschen Modellfunktion haben konnte. Dennoch hat die Budapester Politik den Grundsatz des in-

140

Bei den 163.000 handelte es sich im übrigen nur zu einem kleinen Teil um Personen, die antifaschistische Gesinnung und Treue zur CSR bewiesen hatten, vielmehr um berufliche Spezialisten, die erst in der letzten Phase der Aussiedlung abgeschoben werden sollten, oder um Deutsche, die durch puren Zufall nicht „an die Reihe“ gekommen waren. Kucˇera: Der Hai (wie Anm. 48), S. 54. 141 Gerhard Reichling: Die deutschen Vertriebenen in Zahlen. Teil 1: Umsiedler, Verschleppte, Vertriebene, Aussiedler 1940 – 1985. Bonn 1986, S. 36. 142 Martin Broszat: 200 Jahre deutsche Polenpolitik. München 1963, S. 247; Rogall: Land der großen Ströme (wie Anm. 18), S. 459 f. Vgl. auch Andreas Kossert: Preußen, Deutsche oder Polen? Die Masuren im Spannungsfeld des ethnischen Nationalismus 1870 – 1956. Wiesbaden 2001. 143 gnes Tth: Migrationen in Ungarn 1945 – 1948. Vertreibung der Ungarndeutschen, Binnenwanderungen und slowakisch-ungarischer Bevölkerungsaustausch. München 2001, S. 174 f., 218.

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dividuellen Schuldnachweises stufenweise aufgegeben, die Verantwortung dafür aber wiederum auf die Alliierten zu übertragen versucht.144 Der generelle Zusammenhang zwischen der Politik der Vertreibung und der Bodenreform, die im östlichen Teil Europas nach 1945 forciert wurde, trat im ungarischen Fall auf besonders bemerkenswerte Weise zutage. Da der im ungarischen Tiefland von Kommunisten und Nationalisten geweckte Landhunger nur mit dem Boden der „Schwaben“ gestillt werden konnte, wurden gerade nicht die „Naziaktivisten“, die meist nur wenig oder gar kein Land besaßen, sondern die Eigentümer der mittelgroßen und noch größeren Hofstellen vertrieben, die den „Naziaktivitäten“ überwiegend ablehnend gegenübergestanden hatten.145 Vor diesem Hintergrund wird der Redebeitrag J|zsef Antalls auf einer Kabinettssitzung vom 22. Dezember 1945 verständlich, wo der ungarische Minister für Wiederaufbau betonte, es sei „aus nationalpolitischer Sicht nicht zu bezweifeln, daß es im Interesse Ungarns liegt, wenn möglichst viele Deutsche das Land verlassen. Es wird nie wieder eine solche Gelegenheit geben, die Deutschen loszuwerden“.146 Aber auch in Polen, Jugoslawien und der Tschechoslowakei sprachen die radikalen Enteignungsgesetze im Grunde „bereits die Sprache der kommunistischen Revolution, nur daß sie sich nicht im kommunistischen Sinne gegen den Klassenfeind, sondern im Sinne eines an seine äußersten Grenzen vorgetriebenen Nationalismus gegen den Nationalfeind richteten“.147 Benesˇ hatte schon Ende 1943 in Moskau bei seinem Werben um die sowjetische Zustimmung zum „Abschub“ der Sudetendeutschen die Vertreibung als Teil einer weiter reichenden „sozialen Revolution“ bezeichnet.148 Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, dies sei im Ergebnis der vorliegenden Untersuchung noch einmal festgehalten, ist nicht monokausal zu erklären, sondern nur mit Motivketten nationalpolitischer, machtpolitischer, ideologischer und massenpsychologischer Art,149 die von Land zu Land spezifisch zusammenwirkten. Grundsätzlich gilt: Die verbrecherische Außen- und Besatzungspolitik des Dritten Reiches hatte die bereits ältere Ideologie der „ethnischen Homogenisierung“ – vor allem auch durch den Bau von gigantischen Lagern zur industriellen Vernichtung der 144 Tth: Migrationen (wie Anm. 143), S. 10, S. 57. Vgl. auch gnes Tth: Rechtliche Regelungen zur Lage des Ungarndeutschtums 1938 bis 1950. In: Manfred Kittel/Horst Möller/ Jirˇj Pesˇek/Oldrich Tu˚ma (Hrsg): Deutschsprachige Minderheiten 1945. Ein europäischer Vergleich. München 2006, S. 253 – 295. 145 Tth: Migrationen (wie Anm. 143), S. 43, sowie S. 12 im Vorwort. 146 Ebd., S. 62. 147 Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa, Bd. IV: Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei, Bd. 1. München 1984 (unv. Nachdruck der Ausgabe von 1957), S. 86. 148 Brandes: Der Weg zur Vertreibung (wie Anm. 6), S. 205; vgl. auch ebd., S. 203 f. 149 Vgl. auch Arnold Suppan: Zwischen Rache, Vergeltung und „ethnischer Säuberung“. Flucht, Vertreibung und Zwangsaussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei und Jugoslawien 1944 – 1948. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003), S. 74 – 84, hier S. 75.

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Juden – in einer weltweit singulären Form radikalisiert.150 Ohne die nationalsozialistische Terrorpolitik, zu der neben millionenfachem Massenmord Vertreibungsaktionen ungeheuerlichen Ausmaßes gehörten, hätte weder die spätere Zwangsaussiedlung der Volksdeutschen noch die der Reichsdeutschen aus den Oder-NeißeGebieten stattgefunden. Doch reicht dieser Faktor allein, so entscheidend er seit 1938/39 zweifellos wurde, zur Erklärung des historischen Geschehens nicht aus. Vielmehr hatte die in einem langen Jahrhundert des Nationalismus aufgezogene Spirale der Gewalt bereits 1919 eine fatale Drehung erfahren, als Demonstrationen für das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen etwa im untersteirischen Marburg oder in einigen Städten des Sudetenlands blutig niedergeschlagen wurden. Nicht nur nationalistische Außenseiter forderten in Ostmitteleuropa bereits damals die „Aussiedlung des deutschen Elements“,151 auch führende Politiker taten dies oder ließen zumindest in ihrem Reden über die deutschen „Kolonisten“ Zweifel aufkommen, ob nicht auch sie an derartige Lösungen dachten. Die Friedensordnung von Versailles und St. Germain brachte also nicht das Ende, sondern Fortsetzung und Vertiefung des (Alb-)Traums vom ethnisch homogenen Nationalstaat. Probleme mit den teils sehr großen deutschen Volksgruppen, aber auch mit etlichen anderen ethnischen Minderheiten, bedeuteten für die erst 1918/19 neu- oder wiedergegründeten Staaten Ostmitteleuropas, bei denen es sich meist um ungefestigte, labile Demokratien handelte, unübersehbar eine existentielle Herausforderung. Daß ausgerechnet der bereits einige Jahrzehnte ältere, 1862 gegründete Staat Rumänien seine Deutschen später nicht vertrieb152 – und das seit 1867 weitgehend unabhängige Ungarn dies nur zu einem Teil tat –, scheint in dieser Perspektive kaum zufällig. Hinzu kam freilich, daß beide Staaten – anders als Polen, die CSR und Jugoslawien – fast bis ans Ende des Zweiten Weltkrieges dem „Großdeutschen Reich“ in Waffenbrüderschaft verbunden gewesen waren. Zu den Faktoren, die die rumänische Abweichung erklären, gehören zudem die gemeinsame Erfahrung der Deutschen und Rumänen in Siebenbürgen mit der restriktiven Politik der Ungarn bis 1918, aber auch die „auf Systemebene“ vorhandene Fähigkeit, die deutsche Minderheit nicht „wider besseren Wissens mit dem Dritten Reich gleichzusetzen“.153 Da Rumänien über keine Grenze zu Deutschland oder 150

So auch Götz Aly: Auschwitz und die Politik der Vertreibung. In: Faulenbach/Helle (Hrsg.): Zwangsmigration (wie Anm. 51), S. 35 – 44, hier S. 44. 151 So der tschechische Jurist und spätere Landesgerichtsrat Josef L. Steˇhule in einer vor Beginn der Pariser Friedensverhandlungen 1919 publizierten Schrift. 152 Dennoch wurde auch die deutsche Volksgruppe in Rumänien durch Verschleppung Zehntausender zur Zwangsarbeit nach Sibirien oder (noch 1951) Deportation in den Baragan, durch soziale Enteignung und nationale Entrechtung schwer getroffen und dezimiert. Vgl. etwa Georg Weber (u.a): Die Deportation von Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion 1945 – 1949. 3 Bde. Köln 1995. 153 Schödl: Land an der Donau (wie Anm. 16), S. 526. Zu den Gründen hierfür vgl. auch Doriana Lupu: Zur Teilnahme der Bevölkerung deutscher Nationalität in Rumänien am anti-

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Österreich verfügte, hätte Bukarest vor einer Vertreibung auch organisatorisch größere Schwierigkeiten überwinden müssen – bis hin zur Zustimmung seitens der möglichen Transitländer bzw. vorher der Wehrmacht. So hatte im Herbst 1944 der ehemalige Ministerpräsident Iuliu Maniu im Blatt der Hermannstädter Nationalzaranisten „Romania Noua“ geschrieben: „Die beste Lösung ist die Aussiedlung. Man müßte mit der deutschen Wehrmacht einen Frontabschnitt vereinbaren, durch den die Sachsen und Schwaben in ihr geliebtes Deutschland abziehen können.“154 Die Frage, wie die Deutschen 1945 behandelt wurden, hing auch damit zusammen, ob und inwieweit sie von den östlichen Völkern in den Jahrhunderten zuvor als eine Nation mit kulturellem Überlegenheits- und politischem Dominanzanspruch erfahren worden waren. Der eigentümliche ungarische „Mischfall“ verweist auf diesen Sachverhalt. Denn im Gegensatz zum deutsch-tschechischen Verhältnis bestand bei den Deutschen in Ungarn teilweise schon seit 1830 ein starker Assimilationsdruck zugunsten des Magyarentums. In einer Absetzbewegung vom reaktionären Habsburgerstaat begeisterten sich damals große Teile der deutsch-ungarischen Intelligenzschicht nicht nur für die ungarischen Freiheiten. Vielmehr wurde es im städtischen deutschen Bürgertum modern, „magyarisch zu sprechen, sich magyarisch zu kleiden und ungarische Sitten anzunehmen“.155 Anders als im tschechischen, südslawischen oder polnischen Bereich galten die Volksdeutschen in Ungarn später, selbst als sich im Oktober 1944 ein Aufstand gegen die NS-Besatzung vollzog, „nicht im vollen Wortsinn als Fremde“.156 Dies deutet ebenfalls sehr darauf hin, daß die Entscheidungsmotive für Ausweisung oder Duldung bei den (potentiellen) Vertreibungspolitikern „eben nicht nur eine Reaktion auf das Dritte Reich und seine Präsenz“ im Osten waren, sondern, zumindest sekundär, „auch eine Langzeitfolge früherer Weichenstellungen im Verhältnis zwischen Staatsnation und Minderheiten“.157 Die Reaktion der Vertreibungsfraktion in der ungarischen Gesellschaft war demgegenüber eher von Emotionen jüngeren Datums geleitet. Das heißt, das Revancheverlangen gegenüber den Donauschwaben hatte auch „mit einer schwer definierbaren Neigung“ zu tun, „die Wut über die eigene Niederlage“ auf einen Bevölkerungsteil zu projizieren, „der eben mit Deutschland, dem Partner in Krieg und Niederlage, identifiziert werden konnte“.158 Ein massenpsychologisch ähnliches Moment, wenngleich unter ganz anderen Vorzeichen, hat Emilia Hrabovec für die faschistischen Kampf in den Jahren 1933 – 1944. In: Forschungen zur Volks- und Landeskunde 19 (1976), 2, S. 5 – 35. 154 Hans Hartl: Das Schicksal des Deutschtums in Rumänien (1938-1945-1953). Würzburg 1958, S. 115. Zur 1947 nur knapp gescheiterten Deportation der Siebenbürger Sachsen in den Baragan vgl. etwa die Memoiren ihres Landesbischofs Friedrich Müller: Erinnerungen. Zum Weg der siebenbürgisch-sächsischen Kirche 1944 – 1964. Bukarest 1995, S. 22 ff., 51 ff. 155 Senz: Die Donauschwaben (wie Anm. 13), S. 38. 156 Schödl: Land an der Donau (wie Anm. 16), S. 525. 157 So ebd., S. 526, im Blick auf Ungarn, die Tschechoslowakei und Jugoslawien. 158 Ebd.

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tschechische Gesellschaft aufgezeigt. Der Entschluß zur Vertreibung der Deutschen sei hier auch aus dem kollektiven schlechten Gewissen eines Volkes entstanden, „das mit der eigenen jüngsten Vergangenheit, dem im wesentlichen kampf- und widerstandslosen Hinnehmen der Rückschläge der letzten sieben Jahre, nicht fertig werden konnte“. So sei „manche hypernationalistische Gebärde in Wirklichkeit nur ein verzweifelter Versuch“ gewesen, „die unrühmliche persönliche Vergangenheit, die Feigheit, Untätigkeit oder gar … die Kollaboration mit dem Feind zu kaschieren.“159 Wie wenig sich indes auch solche Motive verallgemeinern lassen, zeigt ein Blick auf Polen und Jugoslawien, wo sie in dieser Weise keine Rolle gespielt haben können – man denke nur an den verlustreichen Warschauer Aufstand von 1944 oder den blutigen Partisanenkrieg auf dem Balkan. Welchen Stellenwert besaß aber dann das unterschiedliche Ausmaß an Brutalität der nationalsozialistischen Besatzungspolitik von 1939 bis 1945 für den Entschluß zur Vertreibung oder Duldung der Deutschen? Die nationalsozialistische Besatzung der Tschechoslowakei gilt als „weitaus weniger gewalttätig“160 als die Polens – mit seinen vier bis sechs Millionen Todesopfern161 – oder Jugoslawiens, wo viele Menschen „um des nackten Überlebens willen zur Flucht in die Wälder oder zu den Partisanen gezwungen“162 worden waren. In der Vertreibungspraxis aber „waren die Tschechen“, wie Norman M. Naimark resümiert hat, 1945/46 „überraschenderweise“ „um keinen Deut weniger brutal“.163 Nun läßt sich darüber streiten, ob das wirklich so überraschend war, und ob Naimarks Bemerkung in der Sache weiterführt. Denn offensichtlich war die deutsche Besatzungspolitik in dem zum „Protektorat“ erniedrigten Tschechien allemal schrecklich genug, um auch dort das Gefühl auszulösen, nur mit knapper Not davon gekommen zu sein. Wichtiger war wohl auch hier ein psychologisches Moment: Zu den Hauptelementen der NS-Besatzungspolitik im Osten hatte – anders als im Westen – eine regelrechte Sklavenhaltermentalität in bezug auf die vermeintlichen slawischen „Untermenschen“ gezählt. Dies hat, auch wenn es sich regional unterschiedlich auswirkte, den Willen auf Seiten der Vertreibungsakteure, nach dem Krieg nicht länger mit ihren ACHTUNGRE– schon vor 1938/39 für sie schwierigen – deutschen Minderheiten 159 Emilia Hrabovec: Die Vertreibung der Deutschen und die tschechische Gesellschaft. In: Robert Streibel (Hrsg.): Flucht und Vertreibung. Zwischen Aufrechnung und Verdrängung. Wien 1994, S. 134 – 157, hier S. 136. 160 Naimark: Das Problem der ethnischen Säuberung (wie Anm. 34), S. 330. 161 Darunter ca. drei Millionen Menschen jüdischer Religionszugehörigkeit. Die höhere Opferzahl, noch von Papst Benedikt XVI. bei seinem Auschwitz-Besuch im Mai 2006 genannt, wird in der neueren Forschung zunehmend korrigiert. Vgl. Dieter Pohl: War, Occupation and the Holocaust in Poland. In: Dan Stone (Hrsg.): Historiography of the Holocaust. London 2004, S. 88 – 119, hier S. 105; Feliks Tych: Polish Societys Attitudes Towards the Holocaust. In: Beate Kosmala/Feliks Tych (Hrsg.): Facing the Nazi-Genocide. Non-Jews and Jews in Europe. Berlin 2004, S. 87 – 105, hier S. 91. 162 Vclav Kural: Tschechen, Deutsche und die sudetendeutsche Frage während des Zweiten Weltkrieges. In: Brandes: Erzwungene Trennung (wie Anm. 8), S. 73 – 99, hier S. 80. 163 Naimark: Das Problem der ethnischen Säuberung (wie Anm. 34), S. 330, 322.

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zusammenleben zu wollen,164 zweifelsohne maßgeblich beeinflußt, zumal die Politik des Dritten Reiches sämtliche Stereotypen über einen vermeintlich ewigen räuberischen deutschen Drang nach Osten auf extreme Weise bestätigte.165 Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang eine weitere Beobachtung Naimarks. Im Gegensatz zu allen anderen (von ihm untersuchten) Fällen „ethnischer Säuberung“ von den Armeniern bis zu den Tschetschenen bleibe „bei der Vertreibung der Deutschen ein Gefühl der Ambivalenz darüber zurück, wer Opfer war und wer Täter“; selbst die unpolitischsten Deutschen im Osten hätten zunächst von der Unterwerfung der lokalen slawischen Bevölkerung durch die Nationalsozialisten profitiert, und bei den nicht selbst der NSDAP oder SS angehörenden Personen wären „möglicherweise“ zumindest die Ehemänner, Brüder oder Väter Mitglied dieser NSOrganisationen gewesen.166 Ob man diese „moralische Perspektive“167 so teilt oder nicht – zur historischen Erklärung trägt sie einiges bei: Denn die Neigung, den OpferStatus von Menschen, die vorher – ob gewollt oder nicht – von NS-Taten profitiert hatten, in Zweifel zu ziehen, hat für das Urteil über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten tatsächlich eine zentrale Rolle gespielt. In diesem Sinne waren die Heimatvertriebenen Opfer zahlreicher ineinandergreifender Faktoren und Ereignisketten. Sie waren Opfer anglo-amerikanischer Überzeugungen von „ethnischer Entflechtung“, „Entpreußung“ und antinationalsozialistischer Realpolitik an der Seite Stalins – zu der wiederum Hitler, noch einmal sei dies an dieser Stelle ausdrücklich und unmißverständlich betont, den Anlaß geboten hatte. Es war das Deutsche Reich unter seinem „Führer und Reichskanzler“ Adolf Hitler gewesen, dessen Politik letztlich Stalin und seiner Roten Armee die Türen nach Osteuropa und insbesondere nach Ostdeutschland geöffnet hatte. Ohne die deutsche Kriegspolitik hätte es die Vertreibung nie gegeben. Die Vertriebenen fielen darüber hinaus aber auch einer radikal-nationalistischen ethnischen Säuberungspolitik ostmitteleuropäischer Regierungen bzw. Exil-Regierungen zum Opfer, deren Wurzeln älter waren als der Nationalsozialismus. Zudem wurden die Vertriebenen Opfer eigener Verstrickungen in das Dritte Reich, an deren verbrecherischer Politik sich eine nicht unerhebliche Zahl von Deutschen aus den historischen Siedlungsgebieten wie aus den östlichen Reichsgebieten selbst beteiligt hatte. Nur war die Schuld, die „Ostdeutsche“ dabei „kollektiv“ auf sich geladen hatten, keineswegs größer als die der Deutschen im Westen, die etwa in Franken, in Hessen oder in Schleswig-Holstein den Nationalsozialisten 164

Suppan: Zwischen Rache (wie Anm. 149), S. 75 ff. So schrieb der stellvertretende polnische Außenminister im Juli 1945 an den US-Botschafter in Moskau, „das gesamte östliche Kapitel der Geschichte Deutschlands … , jenes Kapitel, das die Geschichte der deutschen Raubgier erzählt“, müsse „gestrichen werden“. Brandes: Der Weg zur Vertreibung (wie Anm. 6), S. 405. Vgl. auch Wolfgang Wippermann: Der „deutsche Drang nach Osten“. Ideologie und Wirklichkeit eines politischen Schlagwortes. Darmstadt 1981. 166 Naimark: Europäische Geschichte (wie Anm. 51), S. 28. 167 Ebd. 165

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mindestens ebenso begeistert – und zum Teil sogar früher – zugejubelt hatten. Im größten Vertreibungsfall der östlichen Reichsgebiete stellten die besonders inkriminierten Junker überdies nur wenige Prozent der Bevölkerung und waren die großen Rittergüter von einer Welt bäuerlicher Landgemeinden umgeben.168 Wie wäre zudem der Sachverhalt zu bewerten, daß etwa Ostpreußens NS-Gauleiter Erich Koch, der mit seiner sinnlosen Durchhaltepolitik 1944/45 nicht wenig zur Vermehrung der Vertreibungsopfer beitrug, aus dem Rheinland stammte,169 und daß auch die Gauleiter von Danzig-Westpreußen, Pommern und Oberschlesien „West-Importe“ waren? Oder wie läßt sich, um ein letztes Beispiel zu nennen, die Vertreibung als Strafgericht über die Mitläufer und Wähler des Nationalsozialismus deuten, wenn doch ausgerechnet die Masuren, die in den preußischen Ostgebieten mit Abstand am meisten Stimmen für die NSDAP abgegeben hatten (an die 80 Prozent), als angeblich nur germanisierte Polen 1945 zu einem großen Teil von der Zwangsmigration verschont blieben? Nach alledem wäre es einigermaßen absurd, die Vertreibung mit einem überproportional hohen ostdeutschen Schuldanteil am Dritten Reich rechtfertigen zu wollen. Die wichtigste Rolle neben Hitler spielten ohnehin weder die Ostdeutschen selbst noch die Ostmitteleuropäer noch die Anglo-Amerikaner, sondern eindeutig Stalin. Auch wenn der Gegensatz zwischen Kommunismus und Demokratie zur Erklärung des Vertreibungsgeschehens nur sehr bedingt taugt, ist unübersehbar: Stalin war offensichtlich der einzige bzw. wäre in dem weitgehend von der Roten Armee beherrschten Ostmitteleuropa 1945 der einzige gewesen, der die Umsetzung kollektiver Schuldbezichtigungen gegen die Deutschen in die Praxis „ethnischer Säuberung“ hätte verhindern können. Doch Stalin hatte daran keinerlei Interesse. Aus Moskauer Sicht sprach neben großrussischen Ambitionen und panslawistischen Emotionen auch viel politisches Kalkül für eine Zwangsaussiedlung der Deutschen. Nicht nur die Pläne für eine radikale Bodenreform wurden dadurch erleichtert, auch die langfristige sowjetische Herrschaftssicherung im Osten Europas wurde begünstigt, weil die Massenvertreibung – vor allem jene infolge der Westverschiebung Polens – schwer auszuräumende Konfliktherde zwischen Deutschland und seinen östlichen

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Um 1910 befanden sich zwei Drittel der landwirtschaftlichen Nutzfläche Ostelbiens im Besitz von Bauern, nur ein Drittel gehörte Gutsbesitzern. Vor allem aber lebten nur ca. 16 Prozent der Landbevölkerung in Gutsbezirken, dagegen fast 84 Prozent in bäuerlichen Landgemeinden. Wagner: Bauern (wie Anm. 105), S. 15. Von den ca. 234.000 landwirtschaftlichen Betrieben in Ostpreußen beispielsweise waren (nach einer Zählung von 1925) nur 0,9 Prozent in der Hand von Großgrundbesitzern mit über 200 ha, 1 Prozent der Betriebe umfaßten zwischen 100 und 200 ha und 2,9 Prozent zwischen 50 und 100 ha. Fast zwei Drittel der Betriebe hatten nur bis zu 5 ha. Dieter Hertz-Eichenrode: Politik und Landwirtschaft in Ostpreußen 1929 – 1930. Opladen 1969, S. 134. 169 Vgl. Ralf Meindl: Ostpreußens Gauleiter. Erich Koch – eine politische Biographie. Osnabrück 2007.

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Nachbarn schaffen mußte.170 Obendrein gehörten bei den Sowjets die Vernichtung ganzer Volksschichten und die Deportation ganzer Völker zur gängigen Praxis totalitärer Herrschaftssicherung171 – anders als bei den Anglo-Amerikanern, die „wilde Vertreibungen“ im amerikanisch befreiten Teil der Tschechoslowakei 1945 unterbanden oder auf Ungarn 1946 Druck ausübten, die Vertreibung der Deutschen einzustellen.172 In einer westlichen Atmosphäre bürgerlicher Rechtsstaatlichkeit wäre auch unvorstellbar gewesen, was sich etwa in Jugoslawien 1945 zutrug: Dort nahm der Kommunist Josip Broz Tito den Agrarbetrieb eines ehemaligen deutschen Großgrundbesitzers in der Nähe von Belgrad gleich für sich selbst in Beschlag und siedelte die Familien seiner Gardeoffiziere im bis dahin deutschen Franztal bei Semlin an, nutzte also die Vertreibung der Deutschen zur Belohnung seiner Parteigänger.173 Die wesentliche Rolle des Faktors der kommunistischen Gewaltpolitik, im deutschen Vertreibungsdiskurs manchmal etwas unterbelichtet, ist bei der Beschäftigung mit dem Vertreibungsgeschehen in Ostmitteleuropa jedenfalls auch im Blick zu behalten.

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Zu Stalins „Doppelspiel“ in der Oder-Neiße-Frage vgl. auch Richard C. Raack: Stalin fixes the Oder-Neisse line. In: Journal of contemporary history 25 (1990), S. 467 – 488; ders.: Stalins drive to the West. The origins off the Cold War. Stanford 1995. 171 Neben den Deutschen wurden weitere sieben Ethnien aus der Gemeinschaft der Sowjetvölker „ausgestoßen“. Rudolf Grulich: „Ethnische Säuberung“ und Vertreibung als Mittel der Politik im 20. Jahrhundert. 3. Aufl. München 1999, S. 65. Zwar war auch die jahrelange Internierung von über 100.000 Japan-Amerikanern nach dem Überfall auf Pearl Harbour 1941, die Washington mit sicherheitspolitischen Motiven begründete, ein ausgesprochen problematisches Kapitel in der Geschichte der USA (vgl. Daniel Rogers: Prisoners without Trial. Japanese Americans and World War II. New York 1993; Miryam Leitner-Rudolph: Wie Fremde im eignen Land. Die Verfolgung, Internierung und Rehabilitation der Japan-Amerikaner. In: Nordamerikastudien [2000], S. 280 – 295), doch ist das Schicksal der Internierten in keiner Weise mit dem der Angehörigen „ausgestoßener Ethnien“ in der Sowjetunion vergleichbar. 172 Wohingegen Moskau bei den zögernden Ungarn massiv auf eine Zwangsaussiedlung der Deutschen drängte. Muller: Lexpulsion (wie Anm. 14), S. 138. 173 Suppan: Zwischen Rache (wie Anm. 149), S. 78 f.

Wider das Prinzip ethnischer Homogenität. Der Verbleib deutscher Minderheiten in Ostmitteleuropa nach dem Ende von Vertreibung und Zwangsaussiedlung Von Ingo Eser (Köln) Es mag zynisch klingen, aber daß es Ende der 1940er Jahre – nach Umsiedlungen, Flucht, Vertreibung und Massenausweisung – überhaupt noch deutsche Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa gab, scheint erstaunlich und bedarf der Erklärung. Schließlich hatte bereits das nationalsozialistische Regime das Seinige zum Verschwinden dieser Bevölkerungsgruppen beigetragen. Hitler hatte 1939 klar erkennen lassen, daß er eine grundlegende „Neuordnung der ethnographischen Verhältnisse“ in Europa anstrebe.1 In der Folge wurden während des Zweiten Weltkrieges nicht nur die Angehörigen slawischer Nationen verschleppt und vertrieben, Millionen von Juden verfolgt und ermordet, sondern auch knapp eine Million „Volksdeutsche“ umgesiedelt, die aus dem Baltikum, aus Ostpolen, Bessarabien, der Bukowina, der Dobrudscha, der Gottschee und anderen Regionen stammten.2 Ihre Heimat wurde einem außenpolitischen Pragmatismus geopfert, sie selbst wurden zur Verfügungsmasse einer völkischen Siedlungspolitik degradiert.3 Die spezifischen Kulturen und Identitäten dieser Minderheiten galten dabei als irrelevant, wenn nicht gar als schädlich für die Schaffung einer homogenen deutschen „Volksgemeinschaft“, die keine Partikularinteressen mehr kennen sollte.4 Was Wunder also, daß auch andere Staaten nicht vor einer vermeintlich einfachen, radikalen Lösung ihres „Minderheitenproblems“ zurückschreckten: Nie wieder 1

So in einer Rede im Reichstag am 6. Okt. 1939, vgl. Wolfgang Benz: Ausgrenzung, Vertreibung, Völkermord. Genozid im 20. Jahrhundert. München 2006, S. 109. 2 Ein zahlenmäßiger Überblick bei Hilde Kammer/Elisabet Bartsch: Lexikon Nationalsozialismus. Begriffe, Organisationen und Institutionen. Neuausgabe Reinbek bei Hamburg 1999, S. 262. 3 Vgl. den Beitrag von Alexander Brakel in diesem Sammelband. Ferner: Rainer Schulze: „Der Führer ruft!“ Zur Rückholung der Volksdeutschen aus dem Osten. In: Die „Volksdeutschen“ in Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei. Mythos und Realität, hg. v. Jerzy Kochanowski u. Maike Sach (Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau; 12). Osnabrück 2006, S. 183 – 204; Hans-Ulrich Wehler: Nationalitätenpolitik in Jugoslawien. Die deutsche Minderheit 1918 – 1978. (Sammlung Vandenhoeck) Göttingen 1980, S. 73 – 75. 4 Martin Broszat: Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1972, S. 288; Benz: Ausgrenzung (wie Anm. 1), S. 111.

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sollten „deutsche Volksgruppen“ als Instrument einer expansiven deutschen Außenund Hegemonialpolitik herhalten können, wie dies 1938 in der Tschechoslowakei5 und 1939 im Falle Polens6 zu beobachten gewesen war, aber auch z.B. in Ungarn, das sich mit Deutschland verbündet hatte.7 Die polnische Exilregierung ließ im September 1944 verlautbaren, daß nach den Erfahrungen mit der deutschen „Fünften Kolonne“ zu Kriegsbeginn und während der Okkupationszeit ein Zusammenleben von Polen und Deutschen in einem Staat nicht mehr möglich sei. Eine klare räumliche Trennung beider Völker sei unumgänglich, und wenn die Deutschen nicht freiwillig Polen verließen, müsse man Sie nötigenfalls unter Zwang aus dem Land entfernen.8 Diese Position entsprach durchaus der Stimmung im Land selbst, und die polnische Linke, die unter sowjetischer Kuratel agierte, verfolgte prinzipiell dasselbe Ziel.9 In der Tschechoslowakei betonte Präsident Benesˇ im Mai 1945 die Notwendigkeit, „das deutsche Problem definitiv zu liquidieren“,10 und im Herbst 1946 feierte die Staatsführung die Abfahrt der vermeintlich letzten Aussiedlungstransporte, weil

5 Vgl. Niklas Perzi: Die Benesˇ-Dekrete. Eine europäische Tragödie. St. Pölten/Wien/Linz 2003, S. 127 – 156. 6 Inwieweit sich die deutsche Minderheit illoyal gegenüber dem polnischen Staat verhielt und zum Sieg der Wehrmacht beitrug, ist bis heute umstritten; vgl. Richard Blanke: Orphans of Versailles. The Germans in Western Poland 1918 – 1939. Lexington/Kentucky 1993, S. 225 – 232; Albert S. Kotowski: Polens Politik gegenüber seiner deutschen Minderheit 1919 – 1939 (Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund; 23). Wiesbaden 1998, S. 338 – 344. Unstrittig ist hingegen, daß sich Hitler u. a. auf den vermeintlichen „Terror“ und „gesteigerten Druck auf die Volksdeutschen“ berief, um den Angriff auf Polen zu rechtfertigen; vgl. Reichstagsrede vom 1. Sept. 1939. In: Urkunden zur letzten Phase der deutschpolnischen Krise, hg. v. Auswärtigen Amt. Berlin 1939, Nr. 17, S. 24. 7 Vgl. Norbert Spannenberger: Zwischen Hakenkreuz und Stephanskrone. Der Volksbund der Deutschen in Ungarn 1938 – 1944. In: Die „Volksdeutschen“ in Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei, S. 235 – 255, hier S. 248 – 255. 8 Bernadetta Nitschke: Vertreibung und Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen 1945 bis 1949. 2. Auflage München 2004, S. 59; Piotr Lippczy/Tadeusz Walichnowski: Przesiedlenie ludnos´ci niemieckiej z Polski po drugiej wojnie s´wiatowej w s´wietle dokumentw [Die Umsiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen nach dem Zweiten Weltkrieg im Licht der Dokumente]. Warszawa, Łdz´ 1982, S. 178; The German Minority in Poland and the Problem of Transfer of Population, issued by the Polish Ministry of Preparatory Work Concerning the Peace Conference (Information Note; 6). London [1944 od. 1945], S. 21 – 24. 9 Edmund Dmitrw: Die Zwangsaussiedlung der Deutschen in der polnischen öffentlichen Meinung der Jahre 1945 – 1948. In: Deutsche Studien 32 (1995), H. 126/127, S. 226 – 234, hier S. 227 – 231; Krzysztof Ruchniewicz: Die Westverschiebung Polens. In: Flucht und Vertreibung. Europa zwischen 1939 und 1948, mit einer Einleitung von Arno Surminski. Hamburg 2004, S. 184 – 196. 10 Tomsˇ Staneˇk: Vertreibung und Aussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei 1945 – 1948. In: Der Weg in die Katastrophe. Deutsch-tschechoslowakische Beziehungen 1938 – 1947, hg. v. Detlef Brandes u. Vclav Kural (Veröffentlichungen des Instituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im Östlichen Europa; 3). Essen 1994, S. 165 – 186, hier S. 177 f.

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nunmehr die Tschechoslowakei „auch der Wirklichkeit nach ein Nationalstaat … der Tschechen und Slowaken“ geworden sei.11 Jene Staaten, die Opfer der deutschen Expansionspolitik geworden waren, strebten also nach ethnischer Homogenität, und auch die Alliierten befürworteten dieses Prinzip. In London zum Beispiel, wo Fragen des „Bevölkerungstransfers“ intensiv diskutiert wurden, stimmten Regierung und Opposition lange vor Kriegsende darin überein, daß Zwangsumsiedlungen zwar ein äußerst schmerzhaftes Mittel seien, die Entflechtung verschiedener Nationen aber langfristig gesehen doch am besten zur Friedenssicherung beitrage.12 Als die Alliierten im Juli und August 1945 in Potsdam übereinkamen, daß eine „Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, der Tschechoslowakei und in Ungarn verblieben sind, durchgeführt werden“ müsse (Punkt XIII des Schlußkommuniqus),13 stellte dies lediglich den Endpunkt einer politischen Entwicklung dar. Für die grundsätzliche Entscheidung, eine ethnische Homogenisierung mittels Umsiedlungen herbeizuführen, war die Konferenz – entgegen landläufiger Meinungen14 – jedoch nicht von zentraler Bedeutung, da dieser Punkt schon lange zuvor zwischen London, Washington und Moskau ausgehandelt worden war.15 Die Beschlüsse von Potsdam stellten insofern eine Zäsur dar, als daß sie die bisherige Vertreibungspraxis unterbanden, die durch ein erhebliches Maß an Willkür, Rücksichtslosigkeit und Gewalt geprägt gewesen war; Veränderungen stellten sich zwar nicht sofort, aber doch nach einigen Monaten ein. Im Winter 1945/46 verständigten sich Warschau, Prag und Budapest mit den alliierten Besatzungsbehörden in Deutschland auf die weitere Vorgehensweise, so daß die organisierten Massenaussiedlungen überall in der ersten Hälfte des Jahres 1946 beginnen konnten. Obwohl die Vorschriften, die eine „ordnungsgemäße“ und „humane“ Durchführung16 dieser Aktion gewährleisten sollten, sich nur schwer durchsetzen ließen und häufig mißachtet wurden, konnte das Gros der Deutschen noch vor Ende 1947 abgeschoben 11 Detlef Brandes: „Das deutsche Volk … erscheint uns nur noch als ein einziges großes menschliches Ungeheuer.“ Vertreibung und Zwangsaussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei. In: Flucht und Vertreibung, S. 150 – 164. 12 Broszat: Zweihundert Jahre (wie Anm. 4), S. 310 f.; Włodzimierz Borodziej: Einleitung. In: Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945 – 1950. Dokumente aus polnischen Archiven, hg. v. Włodzimierz Borodziej u. Hans Lemberg, Bd. 1 (Quellen zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas; 4/I). Marburg 2000, S. 37 – 114, hier S. 51 – 54. 13 Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin, 2. Aug. 1945, abgedruckt bei Michael Antoni: Das Potsdamer Abkommen – Trauma oder Chance? Geltung, Inhalt und staatsrechtliche Bedeutung (Völkerrecht und Politik; 13). Berlin 1985, S. 340 – 347, hier S. 346. 14 So z. B. die Äußerung des polnischen Sejmmarschalls Marek Jurek. In: FAZ, 28. Aug. 2006, S. 5, „Der Begriff der ,Vertreibung trennt uns“. 15 Vgl. Detlef Brandes: Der Weg zur Vertreibung 1938 – 1945. Pläne und Entscheidungen zum „Transfer“ der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum; 94). 2. Auflage München 2001. 16 So die Formulierung des Schlusskommuniqus von Potsdam, Punkt XIII; vgl. Antoni: Das Potsdamer Abkommen (wie Anm. 13), S. 346.

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werden. Trotzdem zogen sich die Aussiedlungen in die Länge und wurden auch später nicht wirklich abgeschlossen. Dafür waren, neben anderen Ursachen, vor allem organisatorische Defizite verantwortlich: Die „Überführung“ der Deutschen erfolgte auf der Grundlage der Potsdamer Beschlüsse nur noch in größeren Transporten, d.h. mit Zügen, die 1.200 bis 1.700 Personen umfassten. Die Infrastruktur (Telefon, Straßen, Eisenbahnlinien) lag jedoch darnieder, und die neuen Verwaltungsorgane waren hoffnungslos überfordert. Alte, gebrechliche und kranke Menschen durften zudem nur in gesonderten Transporten ausgesiedelt und Familien nicht auseinandergerissen werden. Bei der Zusammenstellung der Transporte kam es daher immer wieder zu Pannen, und so blieben einzelne Personen oder auch kleinere Gruppen zurück, die sich später kaum noch über die Landesgrenze abschieben ließen.17 Freilich hat es eine Vertreibung bzw. Aussiedlung deutscher Bevölkerungsteile nicht nur aus den Ländern gegeben, die in Punkt XIII der Potsdamer Beschlüsse genannt wurden. Auch Jugoslawien hat sich 1945/46 eines bedeutenden Teils seiner deutschen Minderheiten entledigt, allerdings ohne hierzu von den Alliierten ermächtigt gewesen zu sein. Eine deutsche Minderheit hat es danach in Slowenien und Slawonien offenbar nicht mehr gegeben.18 Die Sowjetunion wiederum hatte sich zwar in Potsdam das nördliche Ostpreußen gesichert (Punkt VI des Schlußkommuniqus),19 legte jedoch zunächst keinen Wert auf eine Aussiedlung. Erst als sich die verbliebene deutsche Bevölkerung als „problematisch“ erwies, da ihre Produktivität hinter den Erwartungen zurückblieb und sie als Sicherheitsrisiko eingestuft wurde, entschlossen sich die sowjetischen Behörden zu einer vollständigen Abschiebung (1947/48).20 Rumänien schließlich hat – von Repressionen und Deportationen in die UdSSR abgesehen – darauf verzichtet, die im Lande verbliebenen deutschen Minderheiten systematisch auszusiedeln.21 Allerdings war es vielen der Rumänien-

17 Zum Thema Vertreibung und Aussiedlung ausführlich auf Deutsch: Tomsˇ Staneˇk: Verfolgung 1945. Die Stellung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien (außerhalb der Lager und Gefängnisse), (Buchreihe des Institutes für den Donauraum und Mitteleuropa; 8). Wien u. a. 2002; Emilia Hrabovec: Vertreibung und Abschub. Deutsche in Mähren 1945 – 1947 (Wiener Osteuropa-Studien; 2). Frankfurt am Main [u. a.] 1995; gnes Tth: Migrationen in Ungarn 1945 – 1948. Vertreibung der Ungarndeutschen, Binnenwanderungen und slowakischungarischer Bevölkerungsaustausch (Schriften des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte; 12). München 2001. 18 Wehler: Nationalitätenpolitik in Jugoslawien (wie Anm. 3), S. 83 – 86; Arnold Suppan: Zwischen Rache, Vergeltung und „ethnischer Säuberung“. Flucht, Vertreibung und Zwangsaussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei und Jugoslawien 1944 – 1948. In: ZfG 51 (2003), S. 74 – 84. 19 Antoni: Das Potsdamer Abkommen (wie Anm. 13), S. 344. 20 Ruth Kibelka: Ostpreußens Schicksalsjahre 1944 – 1948. Berlin 2000, S. 229 – 265. 21 Mathias Beer: Umsiedlung, Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Südosteuropa am Ende des Zweiten Weltkrieges. In: Flucht und Vertreibung, S. 172 – 183, hier S. 176 f.

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deutschen nach Umsiedlung, Rekrutierung zur Waffen-SS, Evakuierung und Flucht nicht mehr möglich, nach 1945 in ihre alte Heimat zurückzukehren.22 Ethnisch-nationale Momente gaben nicht allein den Ausschlag für Vertreibung und Zwangsaussiedlung. In Polen, der Tschechoslowakei und in Ungarn diente der Bevölkerungsaustausch darüber hinaus dazu, den ökonomisch-sozialen und politischen Wandel zu forcieren: Die Kommunisten strebten an die Macht und versuchten, sich durch eine dezidiert antideutsche Politik zu profilieren. Durch die Kriegszerstörungen herrschte allenthalben blanke Not, sodaß die Bereitschaft zu einer grundlegenden Umgestaltung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse groß war. Was lag da näher, als zunächst auf das Eigentum derjenigen zurückzugreifen, die ohnehin als „Fremde“ galten, als „Verräter“, die mit einem verbrecherischen, aber besiegten Regime paktiert hatten? Dekrete zur Enteignung der Deutschen, zur Übernahme „ehemaligen deutschen Besitzes“, standen daher am Anfang der Entrechtung der Deutschen und bildeten den Auftakt der Vertreibung.23 Solche Rechtsakte schufen die Verfügungsmasse für Landreformen und ehrgeizige Siedlungsprojekte, durch die die Regierungen Ungarns, der Tschechoslowakei und Polens die Not ihrer besitzlosen Bevölkerung zu lindern hofften.24 In diesem Sinne war die Aufsiedlung der „Wiedergewonnenen Gebiete“ (Ziemie Odzyskane) Polens25 und des tschechischen „Grenzlandes“ (pohranicˇ)26 nicht nur ein nationales, sondern auch ein soziales Großprojekt.

22 Wohl deshalb wurde Rumänien in der westdeutschen Geschichtsschreibung zu den „Vertreibungsgebieten“ gezählt; vgl. Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus OstMitteleuropa, in Verbindung mit Werner Conze, Adolf Diestelkamp, Rudolf Laun, Peter Rassow u. Hans Rothfels bearb. v. Theodor Schieder, hg. v. Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, Bd. III: Das Schicksal der Deutschen in Rumänien. [Bonn] 1957; Die deutschen Vertreibungsverluste. Bevölkerungsbilanzen für die deutschen Vertreibungsgebiete 1939/50, hg. v. Statistischen Bundesamt. Wiesbaden/Stuttgart 1958, S. 46 f. 23 Deutschsprachige Minderheiten 1945. Ein europäischer Vergleich, hg. v. Manfred Kittel, Horst Möller, Jirˇi Pesˇek u. Oldrˇich Tu˚ma (Institut für Zeitgeschichte). München 2007, S. 15 – 26, 156 – 166 u. 256. 24 Vgl. Andreas Hofmann: Nachkriegszeit in Schlesien. Gesellschafts- und Bevölkerungspolitik in den polnischen Siedlungsgebieten 1945 – 1948 (Beiträge zur Geschichte Osteuropas; 30). Köln u. a. 2000, S. 90 – 186; Andreas Wiedemann: „Komm mit uns das Grenzland aufbauen!“ Ansiedlung und neue Strukturen in den ehemaligen Sudetengebieten 1945 – 1952 (Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa; 29 – Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Historikerkommission, Veröffentlichungen; 15). Essen 2007; Tth: Migrationen (wie Anm. 17), S. 70 – 108. 25 „Wiedergewonnenen Gebiete“ war die amtliche Bezeichnung für alle Landesteile „westlich und nördlich der [polnischen] Staatsgrenzen von 1939“; vgl. Dokumentation der Vertreibung, Bd. I/3, Dok. 29, Dekret vom 13. Nov. 1945 über die Verwaltung der Wiedergewonnenen Gebiete (= Dziennik Ustaw RzeACHTUNGREczyACHTUNGREpospolitej Polskiej [Gesetzblatt der Republik Polen, weiter: DzU RP] Nr. 51, Pos. 295 (wie Anm. 24)). 26 Auch dies eine Bezeichnung offiziellen Charakters; vgl. Wiedemann: „Komm mit …“, S. 30 – 32.

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Beschlagnahme, Verstaatlichung und Umverteilung deutschen Besitzes schienen umso dringlicher zu sein, da neben den Siedlern im Landesinneren weitere Migrantengruppen zu versorgen waren: Polen sah sich mit der Aufgabe konfrontiert, rund anderthalb Millionen Landsleute aus dem ehemaligen Ostpolen, den Kresy, aufzunehmen, die im Rahmen polnisch-sowjetischer Umsiedlungsverträge in den nach Westen verschobenen polnischen Staat „repatriiert“ wurden – nicht mitgezählt all diejenigen, die schon zuvor geflohen oder von der Roten Armee verschleppt worden waren.27 Diese „Repatrianten“ wurden – zusätzlich zu weiteren Neusiedlern aus Zentralpolen – vor allem in die bislang deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße geleitet, wo sich letztlich knapp eine Million von ihnen niederließ.28 Die deutlich kleinere Tschechoslowakei musste immerhin Platz für 200.000 „Reemigranten“ finden – meist tschechische Bevölkerungsgruppen, die seit Generationen in Ungarn, der Ukraine, Rumänien und anderen Staaten gelebt hatten.29 Ungarn wiederum sah sich genötigt, im Rahmen eines offiziell vereinbarten „Bevölkerungsˇ SR rund 90.000 Ungarn aus der Slowakei aufzunehmen,30 austausches“ mit der C daneben noch weitere 190.000 Flüchtlinge aus der Sowjetunion (Karpatoukraine), Rumänien (Siebenbürgen) und Jugoslawien (Vojvodina).31 Jenseits aller nationalen Ideologien gab es somit gewichtige praktische Gründe, die eine Entfernung der deutschen Bevölkerung zweckdienlich erscheinen ließen. Warum also wurden die Aussiedlungen nicht bis zum Ende, bis zum völligen Verschwinden deutscher Minderheiten fortgeführt? Zunächst ein Blick auf die Zahlen: In Polen wurden bei einem Zensus von 1950 rund 1,1 Millionen Menschen gezählt, die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg in den vormalig ostdeutschen und Danziger, nunmehr „wiedergewonnenen“ Gebieten Polens beheimatet gewesen waren.32 (Zum Vergleich: Vor dem Zweiten Weltkrieg besaßen Ostdeutschland und die Freie Stadt Danzig eine Wohnbevölkerung von rund 10 Millionen Menschen.33) Nach polnischer Lesart handelte es sich bei diesen 27

Jerzy Kochanowski: Przesunie˛cie granic [Grenzverschiebung]. In: Karta 24 (1998), S. 65 – 68, hier S. 67. 28 Die Umsiedlung der Polen aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten nach Polen in den Jahren 1944 – 1947, hg. u. eingeleitet v. Stanisław Ciesielski (Quellen zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas; 6). Marburg 2006, S. 71. 29 Wiedemann: „Komm mit …“ (wie Anm. 24), S. 258 – 276. 30 Tth: Migrationen (wie Anm. 17), S. 195. 31 György Gyarmati: Aussiedlung der Deutschen aus Ungarn 1945 – 1947. In: Erzwungene Trennung. Vertreibungen und Aussiedlungen in und aus der Tschechoslowakei 1938 – 1947 im Vergleich mit Polen, Ungarn und Jugoslawien, hg. v. Detlef Brandes, Edita Ivanicˇkov u. Jirˇ Pesˇek (Veröffentlichungen der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission; 8). Essen 1999, S. 273 – 277, hier S. 273. 32 Stefan Banasiak: Przesiedlenie Niemcw z Polski w latach 1945 – 1950 [Die Umsiedlung der Deutschen aus Polen in den Jahren …]. Diss. Łdz´ 1968, S. 219. 33 Dokumentation der Vertreibung, Bd. I/1, S. 5 E–8 E; Die deutschen Vertreibungsverluste, S. 38 u. 45; Historia Gdan´ska, hg. v. Edmund Cies´lak, Bd. 4,2: 1920 – 1945. Sopot 1998, S. 30 f.

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Überbleibseln der früheren Einwohnerschaft vor allem um „Autochthone“,34 also um Angehörige polnisch-slawiACHTUNGREscher Bevölkerungsgruppen, die im Laufe der Geschichte „germanisiert“ worden seien. Über eine Million von diesen „Autochthonen“ hatte sich nach 1945 einem „Verifizierungsverfahren“ (akcja weryfikacyjna) unterziehen müssen. Sie waren somit offiziell als „polnisch“ eingestuft und eingebürgert worden.35 Etwa 100.000 Bewohner der „Wiedergewonnenen Gebiete“ konnten oder wollten sich jedoch nicht „verifizieren“ lassen. Sie wurden von den Behörden als Deutsche angesehen, aber trotzdem im Lande behalten. Darüber hinaus lebten in den „alten Gebieten“ Polens (ziemie dawne), die schon 1939 zur Republik gehört hatten, weitere 80.000 Deutsche.36 Zumeist handelte es sich bei ihnen um „Volksdeutsche“, die bereits vor 1939 als Angehörige der deutschen Minderheit im polnischen Staat gelebt und die polnische Staatsangehörigkeit besessen hatten, in der Okkupationszeit aber in die „Deutsche Volksliste“ (eine Art provisorische deutsche Staatsangehörigkeit) eingetragen worden waren. Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde die Größe der deutschen Minderheit in Polen auf 742.000 bis 1,1 Millionen Personen geschätzt.37 In der Tschechoslowakei war ein ähnlicher Rückgang des deutschen Bevölkerungsanteils zu beobachten: Von einstmals über 3 Millionen Sudeten- und Karpatendeutschen waren 1950 nur etwa 165.000 geblieben (davon knapp 5.000 in der Slowakei), wobei es sich hier um Angaben eines amtlichen Zensus handelte, wohingegen westdeutsche Schätzungen deutlich höher ausfielen.38 Ein wichtiges Phänomen stellten die „Wechsler“ dar, die nach der Annexion des tschechischen Grenzgebietes („Sudetengebietes“) infolge des Münchner Abkommens von 1938 bzw. nach der Wiedererrichtung des tschechoslowakischen Staates im Jahre 1945 ihr nationales Bekenntnis änderten. Jüngsten Schätzungen zufolge umfasste die deut-

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Von altgriechisch autowhym = aus dem Land selbst stammend, eingeboren. Zur Verifizierung vgl. Jan Misztal: Weryfikacja narodowos´ciowa na Ziemiach Odzyskanych [Die nationale Verifizierung in den Wiedergewonnenen Gebieten]. Warszawa 1990; Hofmann: Nachkriegszeit in Schlesien (wie Anm. 24), S. 265 – 331. 36 Banasiak: Przesiedlenie Niemcw (wie Anm. 32), S. 219 f. 37 Dariusz Matelski: Niemcy w Polsce w XX wieku [Deutsche in Polen im 20. Jh.]. WarACHTUNGREszawa, Poznan´ 1999, S. 44 u. 189 – 192. Genauere Angaben zur Zahl der Deutschen in Polen in den 1930er Jahren sind nicht möglich, da von deutschen und polnischen Schätzungen und Zählungen unterschiedliche Kriterien angelegt wurden, um die Zugehörigkeit zur Minderheit zu bestimmen; vgl. Eustachy Noszczyn´ski: Szkolnictwo mniejACHTUNGREszos´ci niemieckiej na Grnym S´la˛sku w s´wietle polskiego prawa traktatowego [Das Schulwesen der deutschen Minderheit in Oberschlesien im Licht des polnischen Vertragsrechts]. Katowice 1939, S. 24 f.; Helmut Wecks: Die Zugehörigkeit des deutschen Schulkindes in Ostoberschlesien zur deutschen Minderheit, ihre Bestimmung und Geltendmachung. Staatsw. Diss. Innsbruck 1932, S. 4 – 9. 38 Jaroslav Kucˇera: Die rechtliche und soziale Stellung der Deutschen in der Tschechoslowakei Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre. In: Bohemia 32 (1992), S. 322 – 337, hier S. 322, Anm. 1. 35

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sche Minderheit in der Tschechoslowakei inklusive dieser „Wechsler“ bis zu 290.000 Personen.39 In Ungarn wiederum wurden die Aussiedlungen 1948 abgebrochen, nachdem wenig mehr als die Hälfte der ungarischen Deutschen abgeschoben worden war; rund 200.000 von ihnen blieben im Land zurück.40 Ungarn befand sich jedoch, verglichen mit Polen oder der Tschechoslowakei, geopolitisch in einer komfortablen Situation: Es musste sich für seine Grenzen weder rechtfertigen, noch sie durch einen umfassenden Bevölkerungsaustausch absichern. Zwar wurden die „Schwaben“, wie die Ungarn-Deutschen hier genannt wurden, vor allem aus den westlichen Landesteilen ausgesiedelt, um österreichischen Ansprüchen ein für allemal vorzubeugen.41 Auch musste Ungarn seine Gebiete aufgeben, die es mit Unterstützung des nationalsozialistischen Deutschlands wiedererworben hatte. Doch generell wurde das Land in seinen Grenzen von vor 1938 von den Alliierten bestätigt.42 Aus außenpolitischer Sicht sprach somit nichts dagegen, auf eine vollständige Aussiedlung der Deutschen zu verzichten, zumal die Alliierten immer weniger Neigung zeigten, weitere Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen. Umso schwerer wogen innenpolitische Momente: Die Entrechtung der „Schwaben“ und ihre Aussiedlung hatten zwar Besitz für die Bodenreform freigesetzt, doch dabei die landwirtschaftliche Produktion gefährdet und die beginnende Kollektivierung behindert.43 Der soziale Sinn dieser Maßnahme wurde damit in Frage gestellt. Da die Deutschen nach den Erfahrungen der Kriegszeit in Ungarn offenbar nicht so verhasst waren wie in Polen oder der Tschechoslowakei,44 war auch aus diesem Grund die Motivation geringer, die Aussiedlung zu vollenden. Schon in den 1950er Jahren bekannte sich der ungarische Staat wieder zu „seinen“ Deutschen, gewährte ihnen nach und nach juristische

39 Maria Rhode: Der Wechsel des nationalen Bekenntnisses in der Tschechoslowakei 1930 – 1950 und seine Bedeutung für die Zahl der sudetendeutschen Vertreibungsopfer. In: Erzwungene Trennung, S. 183 – 199. 40 gnes Tth: Die kollektive Schuld. Zum Vorgehen gegen die deutsche Minderheit in Ungarn 1945 – 1946. In: Die „Volksdeutschen“ in Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei, S. 319 – 331, hier S. 330 f. 41 Konrad Gündisch: Deutsche Migrationsbewegungen in Südosteuropa. In: Flucht, Vertreibung, Integration. Begleitbuch zur Ausstellung im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bonn, 3. Dez. 2005 bis 17. April 2006 […], hg. v. der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Red.: Petra Rösgen. Bielefeld 2005, S. 75 – 81, hier S. 79. 42 Thomas von Bogyay: Grundzüge der Geschichte Ungarns. 4. Aufl. Darmstadt 1990, S. 135 f. u. 140 – 142. 43 Tth: Migration (wie Anm. 17), S. 196 – 199, 202 – 204 u. 212 – 216; dies., Kollektive Schuld (wie Anm. 40), S. 327 f. 44 Man denke an die These von der Kollektivschuld der Deutschen, die, anders als in Polen oder der CˇSR, in Ungarn sehr kontrovers diskutiert wurde; vgl. Tth: Kollektive Schuld, S. 319 – 329.

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Gleichberechtigung und – im Rahmen des sozialistischen Systems – gewisse Minderheitenrechte, z.B. eigene Schulen.45 Auch die Tschechoslowakei verfolgte letztlich keine so radikale, konsequent auf ethnische Säuberung abzielende Politik, wie dies die Äußerungen führender tschechischer Politiker Mitte der 1940er Jahre vermuten lassen. Seit Beginn ihres Londoner Exils war es das Ziel der Regierung Benesˇ, das „deutsche Problem“ dahingehend zu lösen, daß die Minderheit innen- wie außenpolitisch nie wieder eine Rolle spielen würde. Um dies zu erreichen, wurden verschiedene Lösungswege erwogen: Durch freiwillige Abtretung von Grenzgebieten, die fast ausschließlich von Deutschen bewohnt wurden, sollte die Minderheit verkleinert werden, Deutsche, die eine staatsfeindliche Gesinnung offenbarten, sollten des Landes verwiesen, d.h. ausgesiedelt werden, und die restlichen wollte man schnellstmöglich assimilieren, wobei man auch an Umsiedlungen ins Landesinnere dachte. Im Laufe des Krieges und der damit einhergehenden Verschärfung der deutschen Besatzung hatten sich die Planungen jedoch radikalisiert: Die Bereitschaft zu Gebietsabtretungen war geschwunden, und gleichzeitig rückte die Forderung nach einer Abschiebung möglichst vieler Deutscher immer stärker in den Vordergrund.46 Aussiedlung war also nur eine – wenn auch die wichtigste – von mehreren Optionen zur Lösung der „deutschen Frage“, was den Verbleib deutscher Bevölkerungsteile grundsätzlich nicht ausschloß. Möglicherweise in diesem Zusammenhang ist auch Punkt XIII des Potsdamer Schlußprotokolls zu sehen, in dem ausdrücklich von einer „Überführung der deutschen Bevölkerung oder Teilen derselben“ die Rede ist.47 Zur Gruppe derjenigen Deutschen, die auch in einer künftigen Tschechoslowakei einen Platz finden sollten, gehörten vor allem die „Antifaschisten“, hauptsächlich also Kommunisten und Sozialdemokraten; sie behielten nach einem Dekret des Präsidenten Benesˇ vom 2. August 1945 ihre tschechoslowakische Staatsbürgerschaft. Alle anderen Deutschen verloren auf der Grundlage desselben Dekrets die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft, konnten jedoch ihre Wiederverleihung beantragen, sofern sie sich in den Jahren zuvor nicht illoyal gegenüber der Tschechoslowakei bzw. zum Schaden ihrer tschechischen und slowakischen Mitbürger verhalten hatten und ihre „nationale Zuverlässigkeit“ (nrodn spolehlivost) nachweisen konnten.48 45

Joachim Born/Sylvia Dickgießer: Deutschsprachige Minderheiten. Ein Überblick über den Stand der Forschung für 27 Länder, im Auftrag des Auswärtigen Amtes hg. v. Institut für deutsche Sprache. Mannheim 1989, S. 233 – 237; Gerhard Seewann: Das Ungarndeutschtum 1918 – 1988. In: Aspekte ethnischer Identität. Ergebnisse des Forschungsprojekts „Deutsche und Magyaren als nationale Minderheiten im Donauraum“, hg. v. Edgar Hösch u. Gerhard Seewann (Buchreihe der Südostdeutschen Historischen Kommission; 3). München 1991, S. 299 – 323, hier S. 310 – 323. 46 Dazu ausführlich Brandes: Weg (wie Anm. 15), hier besonders S. 462 f. 47 Antoni: Das Potsdamer Abkommen (wie Anm. 13), S. 346. 48 Jan Kuklk: Deutschland und die Personen deutscher Nationalität in der tschechoslowakischen Gesetzgebung (1940 – 1948]. In: Deutschsprachige Minderheiten 1945, S. 1 – 130,

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In der politischen Realität der unmittelbaren Nachkriegszeit waren Ausnahmeregelungen für „Antifaschisten“ jedoch nur schwer durchzusetzen. Der Drang, sich an den Deutschen zu rächen, sie zu bestrafen, sie aus dem Land zu werfen sowie die Versuchung, sich an den Deutschen zu bereichern, waren so groß (und wurden von der Regierung nicht wirkungsvoll eingedämmt), daß auch Gegner des Nationalsozialismus Opfer von Gewalt, Willkür und Repressionen wurden. Unter dem Eindruck solch schmerzlicher Erfahrungen entschlossen sich schließlich die meisten der deutschen „Antifaschisten“, ihre Heimat zu verlassen, wobei ihnen allerdings günstigere Aussiedlungsbedingungen eingeräumt wurden als den übrigen Teilen der Minderheit. Die Kommunisten gingen meist in die SBZ, um sich dort am Aufbau des Sozialismus zu beteiligen, die Sozialdemokraten ließen sich in die amerikanische Besatzungszone abschieben. Im Land blieben nur rund 30.000.49 In Polen hat es eine staatliche Politik, die darauf abzielte, deutschen Gegnern des Nationalsozialismus ein Bleiben zu ermöglichen, nicht gegeben. Mitgliedern linker Parteien, die sich aus eigener Initiative den Aussiedlungen anschlossen, wurden lediglich günstigere Ausreisebedingungen eingeräumt.50 Allerdings war in Polen auch die rechtliche Situation eine andere: Die allermeisten Deutschen waren hier in den „wiedergewonnenen“, ehemals deutschen Gebieten ansässig und hatten daher bislang die Staatsangehörigkeit des Deutschen Reiches besessen; insofern stellte sich für den polnischen Staat erst gar nicht die Frage, sie einzubürgern. Soweit deutsche Staatsangehörige nicht als „Autochthone“ „verifiziert“ wurden, galten sie den Behörden als unerwünschte Ausländer bzw. Staatenlose, die sich aufgrund einer polnischen Präsidialverordnung von 1926 abschieben ließen.51 Vergleichbar mit der Tschechoslowakei war allein die Situation der Deutschen in den „alten Gebieten“ Polens: Wer schon vor 1939 hier gelebt und die polnische Staatsangehörigkeit besessen hatte, zugleich aber eine „deutsche nationale Besonderheit“ (niemiecka odre˛bnos´c´ narodowa) zeigte, wurde aufgrund eines Dekrets vom 13. September 1946 ausgebürgert, enteignet und ausgesiedelt.52 Ausnahmen waren hierbei nicht hier S. 8 – 14 u. 95 – 97; Magdalna Bittnerov: Odsun Nemcu˚ z Liberecka a situace Neˇmcu˚ na Liberecku ve stnu odsunu [Der Abschub der Deutschen aus dem Reichenberger Land und die Situation der Deutschen im Reichenberger Land im Schatten des Abschubs]. Augsburg/Liberec [2004], S. 154. 49 Wiedemann: „Komm mit …“ (wie Anm. 24), S. 298 – 305; Uwe Schneider: Die deutschen Antifaschisten in der CˇSR im Jahre 1945, die Situation nach Kriegsende und Aussiedlung in die sowjetische Besatzungszone Deutschlands (SBZ). In: Odsun – Die Vertreibung der Sudetendeutschen. Begleitband zur Ausstellung (Veröffentlichung des Sudetendeutschen Archivs). München [1995], S. 257 – 275. 50 Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945 – 1950, Bd. 4, 2004, Dok. 8. 51 Zenon Romanow: Ludnos´c´ niemiecka na ziemiach zachodnich i płnocnych w latach [Die deutsche Bevölkerung in den westlichen und nördlichen Gebieten (Polens) in den Jahren] 1945 – 1947. Słupsk 1992, S. 46; Beata Ociepka: Niemcy na Dolnym S´la˛sku w latach [Die Deutschen in Niederschlesien in den Jahren] 1945 – 1970 (Acta Universitatis Wratislaviensis; 1396 – Niemcoznawnstwo [Deutschlandkunde]; 1). Wrocław 1992, S. 54 f. 52 Dokumentation der Vertreibung, Bd. 1/3, Dok. 73, Dekret vom 13. Sept. 1946 über den Ausschluss von Personen deutscher Nationalität aus der polnischen Gesellschaft (= DzU RP

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vorgesehen, und die polnischen Behörden gaben sich hierbei der Illusion hin, die Bevölkerung „sauber“ in Polen und Deutsche separieren zu können. Entsprechend lautete das nationalpolitische Motto jener Tage: „Wir wollen keinen einzigen Deutschen, wir geben keine einzige polnische Seele her“ (Nie chcemy ani jednego Niemca, nie oddamy ani jednej duszy polskiej).53 Die Wirklichkeit war freilich komplexer: In Gebieten, in denen sich jahrhundertelang polnische, deutsche und tschechische Kultureinflüsse überlagert hatten, besaß das Ansinnen, national eindeutige Verhältnisse herzustellen, immer etwas Gewaltsames, Willkürliches, Wirklichkeitsfremdes. Zweisprachigkeit war weit verbreitet, aber wenn sich jemand im privaten Umfeld bevorzugt einer – im weitesten Sinne – polnischen oder tschechischen Mundart bediente, bedeutete dies nicht, daß er sich damit auch automatisch als Pole oder Tscheche fühlte. Konfessionelle und regionale Momente waren für das Selbstverständnis der Menschen im Grenzgebiet mindestens ebenso ausschlaggebend wie der Geltungsanspruch nationaler Ideologien.54 Der polnische Staat verfolgte in seinen „wiedergewonnenen“ Gebieten eine Politik der „Repolonisierung“, die der einheimischen Bevölkerung keinen Raum für national ambivalente Verhaltensweisen ließ.55 Von den katholischen Schlesiern im Oppelner Gebiet zum Beispiel, aber ebenso von den Masuren und Ermländern des ehemaligen Ostpreußens, von den Kaschuben in Ostpommern und vergleichbaren Bevölkerungsgruppen im deutsch-polnischen Grenzgebiet56 wurde erwartet, daß sie auf einen bedeutenden Teil ihres Selbst – auf deutsche Traditionselemente, deutsche Sprachgewohnheiten, deutsche Vornamen – verzichteten, um sich voll und ganz in die polnische Gemeinschaft einzuordnen. Personen, die sich diesem Verlangen widersetzten, mussten mit schärfsten Sanktionen rechnen, wurden z.B. in einem Straflager interniert, nur weil sie fortgesetzt Deutsch sprachen, deutsche Lieder Nr. 55, Pos. 310); Grzegorz Janusz: Die rechtlichen Regelungen Polens zum Status der deutschen Bevölkerung in den Jahren 1938 bis 1950. In: Deutschsprachige Minderheiten 1945, S. 131 – 251, hier S. 145 – 153; Banasiak: Przesiedlenie (wie Anm. 32), S. 160 – 165. 53 Michael G. Esch: „Gesunde Verhältnisse“. Deutsche und polnische Bevölkerungspolitik in Ostmitteleuropa 1939 – 1950 (Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung; 2). Marburg 1998, S. 266. Besagtes Motto wurde vom schlesischen Wojewoden (Regierungspräsidenten) Aleksander Zawadzki geprägt. 54 Exemplarisch dazu die Darstellung des polnisch-tschechisch-deutschen Grenzgebietes bei Tomasz Kamusella: Wyłanianie sie˛ grup narodowych i etnicznych na S´la˛sku w okresie 1848 – 1918 [Die Entstehung nationaler und ethnischer Gruppen in Schlesien]. In: Sprawy narodowos´ciowe, Seria nowa [Nationalitätenprobleme, Neue Folge] 7 (1998) [2000], S. 35 – 72. 55 So z. B. in Oberschlesien, vgl. Bernard Linek: „Odniemczanie” wojewdztwa s´la˛skiego w latach 1945 – 1950 (w s´wietle materiałw wojewdzkich) [Die „Entdeutschung“ der Wojewodschaft Schlesien in den Jahren … (im Licht von Quellen aus der Wojewodschaft)]. Opole 1997. 56 Ein Überblick bei Piotr Madajczyk: Niemcy polscy [Die polnischen Deutschen] 1944 – 1989. Warszawa 2001, S. 38 – 51.

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sangen oder auch nur einem deutschen Kriegsgefangenen etwas zu essen schenkten.57 Doch gerade dieser Zwang zur Eindeutigkeit in allen nationalen Belangen trug erheblich zur Entfremdung genau jener Bevölkerungsgruppe bei, die der polnische Staat als „Autochthone“ für sich gewinnen wollte. Das Verfahren zur „Verifizierung“ der „autochthonen“ Bevölkerung litt von Anfang an unter der Rechtlosigkeit in den „Wiedergewonnenen Gebieten“ und den massiven Repressionen, denen sich alle deutschen Staatsangehörigen östlich von Oder und Neiße ausgesetzt sahen.58 In den ersten Monaten nach Einmarsch der Roten Armee und unmittelbar nach der Etablierung einer polnischen Verwaltung war zwischen Deutschen und „Autochthonen“ meist nicht unterschieden worden. Wer aber erst einmal Opfer von Gewalttaten geworden war, wem man das Zuhause genommen und wen man in ein Lager gesperrt hatte, wo unerträgliche Lebensbedingungen herrschten, wer zu schwerster Zwangsarbeit angehalten worden war, der fasste zum polnischen Staat meist kein Vertrauen mehr. Auch intensive Bemühungen der Behörden, aussiedlungswillige „Autochthone“ davon zu überzeugen, sich „verifizieren“ zu lassen, fruchteten dann nicht mehr, wie der Bericht einer Landarbeiterin aus dem früheren Ostpreußen zeigt: „Im Mai [1947] fuhr ein Transport ab. … Unser tägliches Morgen- und Abendgebet war, wann fahren wir. Kurz vorher wurden wir zum Nachbarort gefahren und sollten uns einpolen [d.h. verifizieren] lassen. Es wurde uns viel vorerzählt. Als letztes sagte man mir, ich würde in Deutschland mit meinen Kindern verhungern. Meine Antwort war: ,Bin ich deutsch geboren, will ich deutsch verhungern, wenn die Herren es meinen. Aber Pole werde ich nicht. ,Bockig, sagte der Landrat, ,na dann fahr man schon. Die Leute, die ein -ki am Ende hatten, zum Beispiel Ligowski, mussten dableiben. Die waren nach ihrer Ansicht Polen. Viele ältere Leute ließen sich auch einpolen, die blieben dann auf ihrem Hof.“59 Wie man an dieser Quelle sehen kann, fügten sich viele der vermeintlichen „Autochthonen“ nur aus pragmatischen Gründen in ihre „Verifizierung“. Sie wollten Konflikten mit den Behörden ausweichen, ihr Eigentum nicht verlieren oder einfach an ihrem alten Wohnsitz ausharren, bis Familienangehörige aus der Gefangenschaft oder von der Flucht zurückkehrten. Erfüllten sich ihre Hoffnungen auf eine Normalisierung des Lebens nicht, so verloren sie häufig ihr Interesse, im polnischen Staat zu bleiben und bemühten sich um ihre Abschiebung nach Deutschland.60 Auch daraus erklärt sich der Umstand, daß sich das Reservoir an Menschen, die als Deutsche über die Oder und Neiße abgeschoben wurden, nicht erschöpfte, und die Aussiedlungen nie wirklich zum Abschluß kamen. Das Problem der „Volksdeutschen“ trug ähnliche Züge: Alle polnischen Staatsangehörigen, die während der deutschen Besatzung als „Volksdeutsche“ eingestuft 57 58 59 60

Vgl. Die Deutschen östlich von Oder und Neiße, Bd. 2, 2003, Dok. 355. Vgl. Die Deutschen östlich von Oder und Neiße, Bd. 4, Dok. 80. Dokumentation der Vertreibung, Bd. I/2, Dok. 360. Vgl. Die Deutschen östlich von Oder und Neiße, Bd. 2, Dok. 372.

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worden waren, galten nach 1945 als Verräter und wurden interniert, häufig mißhandelt und enteignet. Dabei bleib außer Acht, unter welchen Bedingungen und mit welchen Zielen die Nationalsozialisten ihre „Rassen-“ und „Volkstumspolitik“ verfolgt hatten: Da die nichtdeutsche Bevölkerung auf vielfältige Weise benachteiligt und entrechtet wurde, war die Eintragung in die „Deutsche Volksliste“ häufig der einzige Weg gewesen, um günstigere Lebensmittelkarten zu ergattern, um der Zwangsumsiedlung zu entgehen oder andere Repressionen zu vermeiden. Darüber hinaus waren einige Gauleiter dazu übergegangen, auch slawischsprachige Bevölkerungsgruppen der „Deutschen Volksliste“ einzureihen, um auf diese Weise die Zahl der Wehrmachtsrekruten zu erhöhen, die Produktion kriegswichtiger Güter nicht zu gefährden oder auch nur, um mit möglichst hohen „EinACHTUNGREdeutschungsquoten“ aufwarten zu können.61 Die „alten Gebiete“ Polens waren nach 1945 voll von Menschen, die zwar rechtlich-administrativ der Gruppe der „Volksdeutschen“ angehörten, von den Behörden aber als Polen angesehen wurden und die Möglichkeit erhalten sollten, ein „Rehabilitierungsverfahren“ (akcja rehabilitacyjna) zu durchlaufen, um wieder in ihre früheren Bürgerrechte eingesetzt zu werden.62 An diesem Punkt trat neben die Absicht der nationalen Separierung das Moment der Bestrafung: Wer sich als Pole freiwillig als Volksdeutscher hatte einstufen lassen, sollte für diesen „Abfall von der Nationalität“ (odste˛pstwo od narodowos´ci) zur Verantwortung gezogen werden.63 Die Angst vor Strafe und Aussiedlung, die bereits vollzogene Enteignung und Ausgrenzung schufen jedoch äußerst ungünstige Voraussetzungen für die Rehabilitierung. Die Wiedereinsetzung in frühere Bürgerrechte bedeutete auch, daß die Besitzverhältnisse dieser Personen neu geklärt werden mussten. In der polnischen Bevölkerung waren die Widerstände gegen die Rehabilitierung beträchtlich, da die Wohnungen, Häuser und Gerätschaften früherer „Volksdeutscher“ schon längst neue Benutzer gefunden hatten und nur widerwillig zurückgegeben wurden.64 Noch im Jahr 1948 waren die Arbeitslager in Polen voll von „Volksdeutschen“, die weder rehabilitiert noch ausgesiedelt waren65 – auch dies ein Quell des nie versiegenden Aussiedlerstroms. 61 Isabel Heinemann: „Rasse, Siedlung deutsches Blut“. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas (Moderne Zeit; 2). 2. Aufl. Göttingen 2003, S. 261 – 274; Hans-Jürgen Bömelburg: Die deutsche Besatzungspolitik in Polen 1939 bis 1945. In: Die polnische Heimatarmee. Geschichte und Mythos der Armia Krajowa seit dem Zweiten Weltkrieg, hg. v. Bernhard Chiari (Beiträge zur Militärgeschichte; 57). München 2003, S. 51 – 86, hier S. 77 – 80. 62 Vgl. Jerzy Kochanowski: Verräter oder Mitbürger? Staat und Gesellschaft in Polen zum Problem der Volksdeutschen vor und nach 1945. In: Die „Volksdeutschen“ in Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei, S. 333 – 352, hier S. 339 – 348. 63 Dokumentation der Vertreibung, Bd. I/3, Dok. 64, Dekret vom 28. Juni 1946 über die strafrechtliche Verfolgung für den Abfall von der Nationalität während des Krieges 1939 – 1945. 64 Vgl. Die Deutschen östlich von Oder und Neiße, Bd. 4, Dok. 117. 65 Vgl. Die Deutschen östlich von Oder und Neiße, Bd. 4, Dok. 147.

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Auch in der Tschechoslowakei besaß die Frage der vermeintlichen „Volksdeutschen“ erhebliche Brisanz. Die sogenannten Morawzen im Hultschiner Ländchen (Hlucˇnsko), die Schlonsaken im Teschener Gebiet (Teˇsˇnsko) sowie die Bewohner des Weitra-Gebiets (Vitorazsko) in Südböhmen sprachen zwar tschechisch-slawische Mundarten, empfanden sich aber nicht unbedingt als Tschechen. Da das Hultschiner Ländchen und das Weitra-Gebiet historisch zu Preußen bzw. zu Niederösterreich gehörten, wurden beide Gebiete 1938 wieder in das sogenannte Altreich eingegliedert, ihre Bewohner als Deutsche eingestuft; die Schlonsaken wiederum wurden in die „Deutsche Volksliste“ eingereiht. Das war Grund genug besagte Bevölkerungsgruppen 1945 wie alle anderen „Sudetendeutschen“ zu behandeln – trotz ihrer vermeintlich slawischen Herkunft. Sie wurden so lange verfolgt und ausgesiedelt, bis Proteste im In- und Ausland diesen „Abschub“ slawischer Bevölkerungsteile zu stoppen vermochten.66 Inwieweit nach solchen Erfahrungen eine Integration in die tschechische Gesellschaft noch möglich war, scheint jedoch fraglich. Immerhin haben im Hultschiner Ländchen rund 40.000 Menschen – zumindest äußerlich – ihr nationales Bekenntnis gewechselt und wurden somit wieder als Tschechen geführt.67 Im Falle des sehr viel kleineren Weitraer Gebietes hat sich das Problem allerdings auf andere Weise erledigt: Die dort beheimatete, „tschechische“ Bevölkerung wurde, noch immer der nationalen Unzuverlässigkeit verdächtigt, 1952/53 ins Landesinnere zwangsumgesiedelt und dabei auseinandergerissen; damit hörte sie auf, als regionale Gemeinschaft zu existieren.68 Während in Polen die Kluft zwischen „deutsch“ und „polnisch“ aufgrund unterschiedlicher Konfessionen recht tief war – evangelisch war gleichbedeutend mit deutsch, katholisch mit polnisch –, verlief in den böhmischen Ländern die Trennlinie zwischen den Nationen quer durch die Familien. Deutsche Ehefrauen tschechischer Männer verloren zwar normalerweise ihre tschechische Staatsangehörigkeit, konnten aber nach dem Dekret vom 3. August 1945 ihre Wiederverleihung beantragen, wobei die Behörden angehalten waren, solche Anträge wohlwollend zu prüfen.69 War die Ehefrau Tschechin, so wurde ihr deutscher Mann zumindest seit 1946 nicht mehr in Aussiedlungstransporte eingereiht.70 In Polen setzte man hingegen andere Prioritäten: Polinnen, die mit Deutschen verheiratet waren, durften „den Wunsch äußern“, mit ihren Männern ausgesiedelt zu werden und verloren dann die polnische Staatsbürgerschaft.71 Wieviele national gemischte Ehepaare und Familien letztlich in 66 Hrabovec: Vertreibung (wie Anm. 17), S. 244 f.; Tomsˇ Staneˇk: Odsun Neˇmcu˚ z Cˇeskoslovenska [Der Abschub der Deutschen aus der Tschechoslowakei] 1945 – 1947. Praha 1991, S. 135 – 139. 67 Rhode: Wechsel (wie Anm. 39), S. 199. 68 Zum Weitraer Gebiet ausführlich Jan Mlynarik: Fortgesetzte Vertreibung. Vorgänge im tschechischen Grenzgebiet 1945 – 1953. München 2003. 69 Kuklk: Deutschland (wie Anm. 48), S. 13 u. 95 – 97. 70 Hrabovec: Vertreibung (wie Anm. 17), S. 238 – 240. 71 Dokumentation der Vertreibung, Bd. I/3, Dok. 73, Dekret vom 13. Sept. 1946 über den Ausschluss von Personen deutscher Nationalität aus der polnischen Gesellschaft, Art. 2.1.a).

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den beiden Ländern blieben, ist unklar. Für die polnische Statistik war allein die Nationalität des Familienoberhauptes, des Mannes, ausschlaggebend, sodaß hier keine Aussagen möglich sind, wie viele deutsche Frauen mit Polen verheiratet waren; als größeres Problem wurden die „Mischehen“ auf jeden Fall nicht wahrgenommen.72 In den böhmischen Ländern besaß dieses Phänomen hingegen ein erhebliches Gewicht: Die Anzahl der national gemischten Ehen wurde für 1947 mit 44.000 angegeben73 – eine beachtenswerte Zahl, wenn man bedenkt, auf welche Größe die deutsche Minderheit in den Jahren nach der Aussiedlung geschätzt wurde. Dabei ist davon auszugehen, daß viele Angehörige solcher Familien in den folgenden Jahren zu den „Wechslern“ gehörten, die zumindest äußerlich eine tschechische Nationszugehörigkeit bekundeten.74 Ökonomische Erfordernisse waren ein weiterer Grund, warum Tausende von Deutschen nicht ausgesiedelt wurden. Obwohl in den „Wiedergewonnenen Gebieˇ SR die Ansiedlung von Polen bzw. von Tscheten“ Polens und im Grenzland der C chen und Slowaken forciert wurde, ließ sich die Arbeitskraft der dort lebenden Deutschen nicht ohne Weiteres ersetzen. Dies betraf zunächst alle Zweige des Wirtschaftslebens, insbesondere die Landwirtschaft, später aber, nachdem mehr und mehr Tätigkeiten von den Neusiedlern übernommen wurden, vornehmlich solche Berufe, die spezielle Kenntnisse erforderten.75 Deutsche zu beschäftigen war nicht nur notwendig, sondern in vielen Bereichen auch vorteilhaft: Am unteren Ende der sozialen Leiter stehend, besaßen sie nicht dieselben Rechte wie andere Angestellte und Arbeiter und waren billig zu beschäftigen.76 So war es in manchen Regionen Polens durchaus nicht unüblich, daß die Bauern „ihren“ Deutschen hatten, der alle möglichen Arbeiten erledigen musste, und den man notfalls auch veräußern konnte.77 Vor allem die Industrie besaß ein großes Interesse daran, deutsche Fachkräfte zu halten. In Polen mussten Betriebe ihren Bedarf an deutschen Arbeitskräften anmelden („reklamieren“). Nach der Prüfung dieser Anträge durch die Behörden erhielten dann die Facharbeiter (fachowcy) sogenannte Reklamierungskarten (karty Beata Cholewa: Niemcy na Dolnym S´la˛sku [Deutsche in Niederschlesien]. In: Zbliz˙enia Polska – Niemcy, Pismo Uniwersytetu Wrocławskiego [Annäherung Deutschland – Polen. Eine Schrift der Universität Breslau] 1 (1991), S. 89 – 96, hier S. 90. 73 Kucˇera: Stellung (wie Anm. 38), S. 329. 74 Hrabovec: Vertreibung (wie Anm. 17), S. 240 – 244; Andreas Wiedemann: „Wir bauen ein glückliches Leben im tschechischen Grenzgebiet auf.“ Symbiose und Konflikte in der neuen Gesellschaft der ehemaligen Sudetengebiete 1945 – 1948. In: Die Deutschen und das östliche Europa. Aspekte einer vielfältigen Beziehungsgeschichte, Festschrift für Detlef Brandes zum 65. Geburtstag, hg. v. Dietmar Neutatz u. Volker Zimmermann. Essen 2006, S. 81 – 102, hier S. 97. 75 Borodziej: Die Deutschen (wie Anm. 12), S. 82 – 84; Staneˇk: Vertreibung (wie Anm. 10), S. 155 – 161 u. 290 – 318. 76 Bittnerov: Odsun (wie Anm. 48), S. 88; Ingo Eser/Witold Stankowski: Wojewodschaft Pommerellen und Danzig (Westpreußen), Einleitung. In: Die Deutschen östlich von Oder und Neiße, Bd. 4, S. 3 – 67, hier S. 46 – 49. 77 Die Deutschen östlich von Oder und Neiße, Bd. 4, Dok. 139 u. 140 f. 72

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reklamacyjne), die sie mitsamt ihrer engsten Familie von der Aussiedlung ausnahmen. Diese Bescheinigungen waren farblich abgestuft, je nachdem wie dringlich diese Facharbeiter benötigt wurden, und ob sie sich mittel- bis langfristig ersetzten (und danach aussiedeln) ließen. Die höchste Stufe stellte dabei die rote Karte dar: Wer sie besaß, sollte auf unbegrenzte Zeit in Polen bleiben.78 Vor allem in Pommern und Niederschlesien wurden viele Deutsche „reklamiert“ und überstanden hier die Zeit der Aussiedlungen. Sie wurden in der Fischerei und der Oderschifffahrt sowie in den Häfen eingesetzt, aber auch viele Staatliche Landwirtschaftsbetriebe (PGR) kamen nicht ohne deutsche Arbeitskräfte aus. Die meisten deutschen Facharbeiter waren jedoch Bergleute, die im Kohlerevier von Waldenburg (Wałbrzych) arbeiteten.79 Auf ähnliche Weise erhielten auch in der Tschechoslowakei Spezialisten und Facharbeiter (odbornci) spezielle Legitimationspapiere, die sie mitsamt ihren Familien von der Aussiedlung ausnahmen und vor einigen Formen der Diskriminierungen (Wohnungszuweisung, Lebensmittelkarten) bewahrten. Auf diese Weise waren noch 1949 schätzungsweise 25.000 bis 28.000 deutsche Facharbeiter in der tschechoslowakischen Industrie beschäftigt, davon allein 10.000 im Bergbau, der Rest in anderen Zweigen wie der Glas-, Porzellan- oder Textilindustrie, in der Schmuckherstellung oder der Fabrikation von Musikinstrumenten. Zusammen mit ihren Familienangehörigen betrug somit die Gruppe der deutschen Facharbeiter, die in der CˇSR blieben, rund 53.000 Personen.80 Nach dem Ende der Aussiedlungen lebten in der Tschechoslowakei die meisten der verbliebenen Deutschen – bedingt durch die große Zahl von Facharbeitern und „Antifaschisten“ – in den Industrierevieren Nordböhmens, entlang der Grenze zu Sachsen und Schlesien, von Asch (Asˇ) im Westen bis Trautenau (Trutnov) im Osten.81 In Polen bildeten die Wojewodschaften Stettin (Szczecin), Köslin (Koszalin) und Breslau (Wrocław) die Schwerpunkte der deutschen Restbevölkerung, zumindest sofern es sich um „anerkannte“ Deutsche, also nicht um „Autochthone“ handelte, die vor allem im Oppelner Gebiet (S´la˛sk Opolski), im oberschlesischen Industrierevier und in der Wojewodschaft Allenstein (Olsztyn) lebten.82 78 Die Deutschen östlich von Oder und Neiße, Bd. 1, Dok. 90; Romanow: Ludnos´c´ (wie Anm. 51), S. 105 – 116. 79 Borodziej: Die Deutschen (wie Anm. 12), S. 84 f.; Bogdan Koszel: Nationale Minderheiten in Polen nach 1945. In: Nationen, Nationalitäten, Minderheiten. Probleme des Nationalismus in Jugoslawien, Ungarn, Rumänien, der Tschechoslowakei, Bulgarien, Polen, der Ukraine, Italien und Österreich 1945 – 1990, hg. v. Valeria Heuberger u. a. Wien/München 1994, S. 210 – 231, hier S. 218 f. 80 Kucˇera: Die rechtliche und soziale Stellung der Deutschen (wie Anm. 38), S. 329 f.; Bittnerov: Odsun (wie Anm. 48), S. 87 f. 81 Born/Dickgießer: Deutschsprachige Minderheiten (wie Anm. 45), S. 225; Toni Herget: Die Deutschen in der Tschechoslowakei seit 1945 (Eckartschriften; 70). Wien 1979, S. 20 f. 82 Koszel: Nachkriegszeit (wie Anm. 24), S. 218 f.; Thomas Urban: Deutsche in Polen. Geschichte und Gegenwart einer Minderheit, 3. Aufl. München 1994, S. 80 f.

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Die Erkenntnis, daß man langfristig auf die Arbeitskraft und die Fachkenntnisse der Deutschen nicht verzichten konnte und wollte, sowie die deutsche Teilung, aus der 1949 die DDR hervorging, leiteten einen Kurswechsel gegenüber den Deutschen in Polen und der Tschechoslowakei ein (zumindest sofern es sich nicht um „Autochthone“ handelte). Im Zeichen eines sozialistischen Internationalismus sollten ethnische Konflikte nun von einem „Klassenstandpunkt“ aus betrachtet und gelöst werden. Entsprechend gab der tschechoslowakische Staatspräsident Gottwald die Losung aus, daß kein Deutscher wie der andere sei („Nen Neˇmec jako Neˇmec“),83 sprich: daß auch die im Lande verblieben Deutschen zu integrieren seien. In der Tschechoslowakei wurden seit Ende der 1940er Jahre, in Polen seit dem Staatsbürgerschaftsgesetz von 1951 vermehrte Anstrengungen unternommen, um all jenen, denen in den Jahren zuvor als Deutsche die Staatsbürgerschaft aberkannt worden war bzw. die bislang Angehörige des Deutschen Reiches gewesen waren, die tschechoslowakische bzw. polnische Staatsbürgerschaft zu verleihen. Auch wurden die meisten rechtlichen Diskriminierungen beseitigt (z.B. in der Sozialgesetzgebung und im Arbeitsrecht), was sich aber in der Praxis nur langsam umsetzen ließ; Deutsche blieben auf lange Zeit Bürger „zweiter Klasse“. Auch waren die Betroffenen häufig nicht daran interessiert, eingebürgert zu werden. Viele wollten förmlich als Deutsche gelten und ausreisen, weswegen sie es für ratsam hielten, die ihnen fremde Staatsangehörigkeit nicht anzunehmen. In Polen z.B. weigerten sich viele der „Autochthonen“, einen Fragebogen auszufüllen, den die Behörden benötigten, um die Personalausweise auszustellen, und zogen es vor, staatenlos zu bleiben.84 Bemerkenswert ist, daß den Deutschen gerade zur Zeit des Stalinismus erstaunliche kulturelle Freiheiten gewährt wurden, wenn auch im Rahmen der sozialistischen Raison. In der CˇSR konnten deutsche Kinder und Jugendliche an den Schulen deutsche Sprachzirkel besuchen, und in Niederschlesien und Pommern wurden gar deutsche Schulen eröffnet. Auch deutschsprachige Zeitschriften und Zeitungen wurden publiziert, die freilich streng der Parteilinie folgten. Nach einigem Zögern wurden sogar deutsche Minderheitenverbände zugelassen, so 1957 in Waldenburg die „Deutsche Soziokulturelle Gesellschaft“ (NTSK) und 1969 der deutsche „Kulturverband“ in Prag.85 83 Margarete Reindl-Mommsen: Die Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei nach 1945. In: Bohemia 8 (1967), S. 315 – 324, hier S. 318 f. 84 Beate Ihme-Tuchel: Die tschechoslowakische Politik gegenüber der deutschen Minderheit und das Verhältnis zur DDR zwischen 1949 und 1960. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 44 (1996), H. 11, S. 965 – 978; Kucˇera: Stellung (wie Anm. 38), S. 335 f.; Ociepka: Niemcy (wie Anm. 51), S. 48 – 72; Czesław Ose˛kowski: Społeczen´stwo Polski zachodniej i płnocnej w latach 1945 – 1956. Procesy integracji i dezintegracji [Die Gesellschaft West- und Nordpolens in den Jahren … Integrations- und Desintegrationsprozesse]. Zielona Gra 1994, S. 117 – 122. 85 Marek Zybura: Niemcy w Polsce [Die Deutschen in Polen], (A to Polska włas´nie [Und das eben ist Polen]) Wrocław 2001, S. 208 – 212; Ihme-Tuchel: Die tschechoslowakische Politik (wie Anm. 84), S. 967 – 970; Luksˇ Novotny´ : Die deutsche Minderheit in der Tschechischen Republik am Anfang eines neuen Jahrtausends. Skizze über das Leben der verbliebenen

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Trotzdem befanden sich die deutschen Minderheiten in beiden Ländern in einer prekären Lage: Auf der Grundlage zwischenstaatlicher Vereinbarungen mit der DDR, im Rahmen der Familienzusammenführung und unter Vermittlung des Roten Kreuzes wurden bereits in den frühen 1950er Jahren Möglichkeiten geschaffen, nach Deutschland auszureisen. Die Anzahl der Menschen, die auf diesem Weg Polen bzw. die Tschechoslowakei verlassen konnten, schwankte zwar von Jahr zu Jahr, oftmals war auch gar keine Ausreise möglich, insgesamt war jedoch ein kontinuierlicher Drang zur Abwanderung zu beobachten, der für die Minderheiten einen beständigen Aderlaß bedeutete.86 In Polen hatte die politische Liberalisierung von 1956 zur Folge, daß ein wahres Ausreisefieber einsetzte. Bereits Ende der 1950er Jahre war dadurch das deutsche Minderheitenleben, sofern es sich in der Legalität abspielte, weitestgehend zum Erliegen gekommen. Zu diesem Zeitpunkt waren die allermeisten Deutschen, die als solche auch anerkannt waren, vor allem die Facharbeiter, bereits nach Deutschland ausgereist.87 Daß hingegen die „Autochthonen“ Oberschlesiens, Masurens, des Ermlands und Pommerns eine deutsche Minderheit darstellen sollten, wurde von den polnischen Behörden energisch bestritten.88 Diesen Bevölkerungsgruppen wurden keinerlei Möglichkeiten gegeben, sich als Minderheit zu artikulieren oder die deutsche Sprache und Kultur zu pflegen. Erst der politische Umbruch Ende der 1980er Jahre brachte hier einen grundlegenden Wandel: Heute sind die Deutschen offiziell als Minderheit anerkannt und genießen im politischen Leben, z.B. beim Wahlrecht, gewisse Sonderrechte.89 Bei der jüngsten Volkszählung in Polen bekannten sich 153.000 Menschen als Deutsche, 280.000 Menschen, die sich selbst häufig als „Schlesier“ bezeichnen, besitzen sowohl den deutschen wie den polnischen Paß.90 In der Tschechoslowakei hat es eine ähnlich rapide Abwanderung nach Deutschland nicht gegeben, aber auch hier hat sich die Zahl der Deutschen beständig Deutschen und die Auswirkungen der Dekrete des Staatspräsidenten Benesˇ. In: Die BenesˇDekrete. Nachkriegsordnung oder ethnische Säuberung: Kann Europa eine Antwort geben?, hg. v. Heiner Timmermann u. a. (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen; 108). Münster 2005, S. 443 – 453, hier S. 445 f. 86 Ausführlich dazu Stanisław Jankowiak: Wysiedlenie i emigracja ludnos´ci niemieckiej w polityce władz polskich w latach [Die Aussiedlung und Emigration der deutschen Bevölkerung in der polnischen Regierungspolitik der Jahre …] 1945 – 1970. Warszawa 2005; Matelski: Niemcy (wie Anm. 37), S. 239 f. Zur CˇSR vgl. Ihme-Tuchel: Die tschechoslowakische Politik (wie Anm. 84), S. 967, 971 f. u. 976 f. 87 Cholewa: Niemcy (wie Anm. 72), S. 94 f.; Urban: Deutsche in Polen (wie Anm. 82), S. 89. 88 So z. B. noch 1984 von Wojciech Jaruzelski; vgl. Urban: Deutsche in Polen (wie Anm. 82), S. 96. 89 Joachim Rogall: Die deutschen Minderheiten in Polen heute. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 43 (1993), H. 48, S. 31 – 43. 90 Wulf Schade: Deutsche in Polen. Wo sind sie hin? In: Polen und wir 4/2003 (67), URL: [letzter Zugriff am 12. 12. 2006].

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verringert. Lange Zeit wurde die Existenz einer deutschen Minderheit in Abrede gestellt, nicht weil die Anwesenheit der Deutschen an sich bestritten wurde, wohl aber, weil dieser Teil der Bevölkerung zu sehr über das Land zerstreut lebe, um eine ethnische Gemeinschaft darstellen zu können. Erst durch eine Verfassungsreform von 1968 wurden die Deutschen als eine der Nationalitäten in der Tschechoslowakei anerkannt und anderen Minderheiten gleichgestellt.91 Bei der jüngsten Volkszählung haben in der Tschechischen Republik noch rund 39.000 Menschen angegeben, Deutsche zu sein.92 Heute, rund sechzig Jahre nach dem Ende der Vertreibungen und Aussiedlungen, hat die ethnische und kulturelle Vielfalt einiger Grenzgebiete Polens und Tschechiens somit aufgehört, ein ernsthaftes Problem zu sein. Die betroffenen Menschen haben die Möglichkeit, sich im Rahmen demokratischer Mitbestimmung auch als Minderheit zu artikulieren. Das Ausmaß früherer deutscher Bevölkerungsgruppen erreichen sie freilich nicht, und die gewaltsame Entfernung eines Großteils der deutschen Bevölkerung nach 1945 hat die Grenzgebiete Polens und Tschechiens nachhaltig verändert.93

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Herget: Die Deutschen in der Tschechoslowakei (wie Anm. 81), S. 9 u. 15 – 22; Novotny´ : Minderheit (wie Anm. 85), S. 444 f. 92 Vlda Cˇesk republiky, Rada vldy pro nrodnostn mensˇiny, Neˇmeck nrodnostn mensˇina [Regierung der Tschechischen Republik, Regierungsrat für nationale Minderheiten, Deutsche nationale Minderheit], URL: [letzter Zugriff am 10.08.2009]. 93 Vclav Houzˇvicˇka: Die sozialen Folgen des Austauschs der Bevölkerung in den tschechischen Grenzgebieten. In: Nationale Frage und Vertreibung in der Tschechoslowakei und Ungarn 1938 – 1948. Aktuelle Forschungen, hg. v. Richard G. Plaschka u. a. (ZentraleuropaSudien; 3). Wien 1997, S. 193 – 199, hier S. 197.

Eine neue Heimat finden? Zur Situation von Flüchtlingen und Vertriebenen in der DDR in den 1950er und 1960er Jahren Von Michael Parak (Görlitz/Berlin) Bis 1989 gehörte die Situation von Flüchtlingen und Vertriebenen in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR zu den weitgehend unerforschten Bereichen der Zeitgeschichte.1 Daran konnten auch einige Pilotstudien, die unter der Betreuung von Manfred Wille in Magdeburg entstanden waren, nur wenig ändern.2 Im Gegensatz dazu war die Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen in der Bundesrepublik in einer Vielzahl von Studien dokumentiert und untersucht worden. In 15 Jahren Forschungsanstrengungen konnte diese Asymmetrie jedoch weitgehend behoben werden. Namentlich die Arbeiten von Manfred Wille und Michael Schwartz haben dazu beigetragen, das Forschungsdefizit zu verringern. Dies gilt vor allem für die „Umsiedlerpolitik“ der SED auf zentraler Ebene, aber auch für regionale Bezugsfelder. Durch Unterstützung des Sächsischen Staatsministeriums des Innern konnte am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Leipzig die Eingliederung von Flüchtlingen und Vertriebenen in Sachsen beispielhaft auf breiter Grundlage erforscht werden.3 1 Auf westdeutscher Seite lag allein die Arbeit Peter-Heinz Seraphim: Die Heimatvertriebenen in der Sowjetzone. Berlin 1954. (= Untersuchungen zum deutschen Vertriebenenund Flüchtlingsproblem) vor. 2 Vgl. dazu Manfred Wille: Die „Umsiedler“-Problematik in der DDR-Geschichtsschreibung. In: Manfred Wille u. a. (Hrsg.): Sie hatten alles verloren. Flüchtlinge und Vertriebene in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Wiesbaden 1993, S. 3 – 11 (= Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund, Bd. 13). Eine neue Zusammenstellung der Forschungsarbeiten findet sich bei Torsten Mehlhase: „Umsiedler“-Forschung in der DDR. Manuskript zur Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung. Landesbüro Sachsen-Anhalt „Ende des Tabus? Flüchtlinge und Vertriebene in Sachsen-Anhalt ab 1945“ am 14. Oktober 2006 in Halle/S. [http://www.fes.de/Magdeburg/pdf/ 6_10_14_Mehlhase1.pdf [letzter Zugriff: 07. 04. 2009]. Vgl. jüngst auch Manfred Wille: Gehasst und umsorgt. Aufnahme und Eingliederung der Vertriebenen in Thüringen. Stadtroda 2006. 3 Ein erschöpfender Überblick über die aktuelle Forschung findet sich bei Andreas Thüsing: Die Aufnahme und Eingliederung von Flüchtlingen und Vertriebenen in Sachsen 1945 – 1950. In: Frank-Lothar Kroll/Matthias Niedobitek (Hrsg.): Vertreibung und Minderheitenschutz in Europa. Berlin 2005, S. 115 – 146, hier S. 115 – 122 (= Chemnitzer Europastudien, Bd. 1). Vgl. auch Andreas Thüsing/Wolfgang Tischner: „Umsiedler“ in Sachsen. Aufnahme und Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen 1945 – 52. Eine Quellensammlung. Leipzig/Berlin 2005.

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Allerdings thematisieren die vorliegenden Studien im Wesentlichen den Eingliederungsprozess vom Kriegsende bis 1949. Vereinzelt wird noch die Zeit bis 1952/53 besprochen, nach der in der staatlichen und parteiamtlichen Überlieferung keine offizielle „Umsiedlerpolitik“ in der DDR mehr festzustellen ist.4 Dieser Befund gilt weitgehend auch für die Arbeiten von Schwartz5 und Holz,6 die zwar laut Titel die Zeit bis zum Mauerbau behandeln wollen, jedoch nur punktuelle Einsprengsel ab Mitte der fünfziger Jahre bieten. Zudem können aus der Untersuchung von Ther7 vereinzelte Erkenntnisse über die Vertriebenenpolitik in der DDR und der Volksrepublik Polen bis zur Mitte der 1950er Jahre gewonnen werden. Dem Verbleib akademischer Eliten – den sogenannten „Flüchtlingsprofessoren“ – nach ihrer Flucht und Vertreibung ging ein Projekt des Autors nach, aus dem eine Ausstellung und eine wissenschaftliche Dokumentation entstanden sind.8 Zumindest für den Bereich der „Erinne4

Auch in der zeitgeschichtlichen Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Integration“ des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gibt es allenfalls Einsprengsel für die Zeit ab den fünfziger Jahren. Vgl. Michael Schwartz: „Umsiedler“ – Flüchtlinge und Vertriebene in der SBZ und DDR. In: Flucht, Vertreibung, Integration. Begleitbuch zur Ausstellung im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Hrsg. v. Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Red. Petra Rösgen. Bielefeld 2006, S. 90 – 101. 5 Michael Schwartz: Vertriebene und „Umsiedlerpolitik“. Integrationskonflikte in den deutschen Nachkriegs-Gesellschaften und die Assimilationsstrategien in der SBZ/DDR 1945 bis 1961. München 2004 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 61). 6 Martin Holz: Evakuierte, Flüchtlinge und Vertriebene auf der Insel Rügen 1943 – 1961 (=Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, Reihe 5, Bd. 39). Köln/ Weimar/Wien 2003; vorgelegt auch als Studienausgabe der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern: Martin Holz: Evakuierte, Flüchtlinge und Vertriebene in Mecklenburg-Vorpommern 1945 bis 1961 am Beispiel der Insel Rügen. Schwerin 2004; sowie Martin Holz: Evakuierung, Flucht, Vertreibung und Neuanfang aus der Perspektive der evangelischen und katholischen Kirche 1943 – 1961 am Beispiel Rügens. In: Norbert Buske (Hrsg.): Protestanci i Katolicy Pomorscy wobec hitleryzmu i stalinizmu = Protestanten und Katholiken in Pommern in der Zeit des Nationalsozialismus und Stalinismus. Materiały z sesji naukowej zorganizowanej przez Arbeitsgemeinschaft für pommersche Kirchengeschichte e.V. Instytut Politologii Uniwersytetu Szczecin´skiego, Zamek Ksia˛z˙at Pomorskich w Szczecinie, Archiwum Pan´stwowe w Szczecinie 24 kwietnia 2002 roku. Szczecin 2003, S. 35 – 68. 7 Vgl. Philipp Ther: Deutsche und polnische Vertriebene, Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945 – 1956. Göttingen 1998 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 127). 8 Vgl. Ausstellung „Flüchtlingsprofessoren“. Akademische Karrieren geflohener und vertriebener Hochschullehrer in der SBZ/DDR. Konzeption und Bearbeitung v. Michael Parak: 30 Tafeln. Bisherige Ausstellungsstationen: Geisteswissenschaftliches Zentrum der Universität Leipzig 23.11.2005 – 31.12.2005; Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald 15.05.2006 – 22.05.2006; Technische Universität Bergakademie Freiberg 2.11.2006 – 30.11.2006; Technische Universität Chemnitz 14.12.2006 – 31.01.2007. Vgl. Michael Parak: Wissenstransfer durch Flucht und Vertreibung – Deutsche Hochschullehrer aus dem östlichen Mitteleuropa als Fachkräfte in der SBZ/DDR. In: Dittmar Dahlmann/Reinhold Reith (Hrsg.): Elitenwanderung und Wissenstransfer. Essen 2008, S. 55 – 94 (= Migration in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3); Michael Parak / Carsten Schreiber: „Flüchtlingsprofessoren“. Karrieren geflohener und vertriebener Hochschullehrer in der SBZ/ DDR. Leipzig/Berlin 2008.

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rungspolitik“ der SED liegen neuere Ergebnisse vor: Christian Lotz untersucht in seiner Dissertation in komparativer Perspektive den öffentlichen Umgang mit dem Thema „Flucht und Vertreibung in der Bundesrepublik und in der DDR von 1945 bis 1972“.9 Dieser Forschungsstand resultiert vor allem aus der Quellenüberlieferung. Während für die Bundesrepublik Akten über die Tätigkeit des zuständigen Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte sowie von Organisationen der deutschen Heimatvertriebenen vorliegen, fehlt diesbezügliches Material für die DDR. 1948 wurde die Deutsche Zentralverwaltung für Umsiedler (DZVU) in die Deutsche Verwaltung des Innern eingegliedert. Zu Beginn der 1950er Jahre beschäftigte sich nur noch die Abteilung Bevölkerungspolitik im Innenministerium der DDR mit der Durchführung der „Umsiedlergesetze“. Diese agierte als subalterne Dienstelle, weniger als Think-tank.10 Mehr und mehr stand die Bekämpfung der wachsenden Republikflucht im Mittelpunkt der Abteilungsarbeit. Letzte Eigeninitiativen der Abteilung hinsichtlich der Lage der „Umsiedler“ sind auf Ende 1953 zu datieren.11 Selbst der Versuch des ehemaligen Vizepräsidenten der DZVU, Arthur Vogt, die Integrationsarbeit seiner Behörde zu dokumentieren, scheiterte 1957 am Widerstand der SEDKulturfunktionäre. Unter diesen Umständen ist ein Zugriff auf staatliche Bestände nur schwer möglich. Ähnlichen Schwierigkeiten unterliegt auch der Versuch, die Haltung des Ministeriums für Staatssicherheit zu den „Umsiedlern“ zu rekonstruieren. Angesichts der Bestandsgliederung und der Zugangsmöglichkeiten bei der BStU gleichen bisherige Erkenntnisse nur Zufallsfunden bzw. besitzen allenfalls exemplarischen Charakter.12 Schließlich existierten in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR nur in den ersten Jahren Kleinstformen von Vereinen, in denen sich Flüchtlinge und Vertriebene zusammenfanden, bis sie endgültig unterdrückt wurden.13 Institutionelle und strukturelle Relikte, die sich aktenmäßig niederschlagen, lassen sich partiell im Bereich der Kirchen finden, wo namentlich für Schlesien „Rest9 Vgl. Christian Lotz: Die Deutung des Verlusts. Erinnerungspolitische Kontroversen im geteilten Deutschland um Flucht, Vertreibung und die Ostgebiete (1948 – 1972). Köln/Weimar 2007 (= Neuere Forschungen zur schlesischen Geschichte, Bd. 15). Der Autor bedankt sich ausdrücklich bei Herrn Lotz, der ihm die Dissertation schon vor Drucklegung zur Verfügung gestellt hat. 10 Vgl. M. Schwartz: Vertriebene (wie Anm. 5), S. 390. 11 Vgl. ebd., S. 400; S. 410 – 411. 12 Vgl. C. Lotz: Deutung (wie Anm. 9), S. 29. 13 Vgl. Manfred Wille (Hrsg.): Die Vertriebenen in der SBZ/DDR. Dokumente. Bd. 3: Parteien, Organisationen, Institutionen und die „Umsiedler“ 1945 – 1953. Wiesbaden 2003, S. 337 – 348 (= Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund, Bd. 19,3); Michael Grottendieck: Egalisierung ohne Differenzierung? Verhinderung von Vertriebenenorganisationen im Zeichen einer sich etablierenden Diktatur. In: Thomas Großbölting/Hans-Ulrich Thamer (Hrsg.): Die Errichtung der Diktatur: Transformationsprozesse in der Sowjetischen Besatzungszone und in der frühen DDR. Münster 2003; P. Ther: Vertriebene (wie Anm. 7), S. 229 – 238; M. Schwartz: Vertriebene (wie Anm. 5), S. 464, 477 – 572.

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kirchen“ auf dem Gebiet der DDR bestanden.14 Die Rolle der evangelischen und der katholischen Kirche bei der Integration des vertriebenen Klerus steht im Mittelpunkt zweier aktueller Forschungsprojekte, die am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Leipzig durchgeführt werden.15 So kann die Forschungsperspektive weniger darin bestehen, den Umgang staatlicher und parteiamtlicher Akteure mit Fragen der Vertriebenenintegration nachzuzeichnen. Vielmehr geht es darum, Alltagsmomente zu rekonstruieren, bei denen die Herkunft aus den ehemaligen deutschen Siedlungsgebieten im östlichen Europa eine Rolle spielte. Flüchtlinge und Vertriebene werden damit als Teil der DDR-Gesellschaft betrachtet, der gleichsam ein besonderes historisches Merkmal aufwies. Welche Besonderheiten aus dieser Tatsache resultierten bzw. resultieren konnten, soll im Folgenden für die 1950er und 1960er Jahre nachgezeichnet werden. Die vorliegende Skizze basiert auf der bisherigen Forschungsliteratur sowie auf gedruckten und ungedruckten Lebenserinnerungen. Hier muß in Rechnung gestellt werden, daß die Zeit nach 1950 in autobiographischen Schriften Vertriebener zumeist nur einen kleinen Raum einnimmt. Zwar werden Flucht und Vertreibung sowie die unmittelbare Nachkriegszeit ausführlich geschildert, die folgenden Jahre jedoch zumeist nur in wenigen Sätzen zusammengefasst. Deshalb wurden zusätzlich Fragebögen sowie Zeitzeugeninterviews herangezogen, die im Rahmen einer Erzählwerkstatt am Schlesischen Museum zu Görlitz, welche exemplarisch Lebenswege von Schlesiern in der DDR nachzeichnet, dokumentiert wurden.16 Zunächst soll eine zahlenmäßige Annährung an den zu untersuchenden Personenkreis versucht werden. Die durch die Politik der SED gesetzten Rahmenbedingungen und die entsprechenden Anpassungsstrategien von Vertriebenen stehen im Mittelpunkt eines zweiten Untersuchungsabschnitts. Beispielhaft werden dann die The14

Vgl. für die katholische Kirche Franz Georg Friemel: Schlesische (und andere) Katholiken in der DDR. In: Winfried König (Hrsg.): Erbe und Auftrag der Schlesischen Kirche. 1000 Jahre Bistum Breslau/Dziedzictwo i posłannictwo s´la˛skiego Kos´cioła. 1000 lat diecezji wrocwskiej. Dülmen-Piechowice 2000, S. 300 – 309; sowie für die evangelische Kirche Christian-Erdmann Schott: Von der Kirchenprovinz Schlesien zur Evangelischen Kirche der schlesischen Oberlausitz. In: Jahrbuch für schlesische Kirchengeschichte 74 (1995/1996), S. 73 – 92; Die evangelische Kirche im Görlitzer Kirchengebiet im SED-Staat. Beobachtungen, Analysen, Dokumente, hrsg. v. d. Evangelischen Akademie Görlitz/Verein für Schlesische Kirchengeschichte, Red. Dietmar Neß. Görlitz 1997 (= Studien zur schlesischen und oberlausitzischen Kirchengeschichte, Bd. 2). Görlitz 1997; Hans-Dietrich Haemmerlein (Hrsg.): Zwischen Landeskrone und Knappensee. Berichte aus dem Görlitzer Kirchengebiet. Berlin (Ost) 1978. 15 Vgl. das Dissertationsprojekt von Markus Wustmann: Flüchtlings- und Vertriebenenintegration der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens von 1945 bis 1969 und das Dissertationsprojekt von Ulrike Winterstein: Der vertriebene Klerus in der SBZ/DDR 1945 – 1952. Eine regionale Untersuchung vertriebener Eliten am Beispiel des Bistums Meißen und des Erzbischöflichen Amtes Görlitz. 16 Für die Unterstützung bei diesem Projekt gilt Herrn Markus Lammert, Universität Leipzig, ein besonderer Dank. Vgl. jüngst Michael Parak (Hrsg.): Schlesier in der DDR. Berichte von Flüchtlingen, Vertriebenen und Umsiedlern. Görlitz 2009.

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menfelder Grenzen, Familie und Freundeskreis, Ausbildung und Arbeit sowie informelle Geselligkeit unter dem Dach der Kirchen vorgestellt. Schon die Frage nach der Anzahl von Flüchtlingen und Vertriebenen in der DDR ist nicht eindeutig zu beantworten. In der ersten DDR-Volkszählung vom 31. August 1950 wurde der momentane Wohnort in Bezug zum „Herkunftsland entsprechend dem Wohnort am 1. September 1939“ gesetzt. Da ab diesem Zeitpunkt Geborene nicht in die Statistik einbezogen wurden, sind die vorgelegten Werte nur als Annährung zu begreifen. Demnach hielten sich 3.213.415 Flüchtlinge und Vertriebene in der DDR (einschließlich Ost-Berlins) auf.17 Ein Nachtrag des Innenministeriums vermeldet bis Sommer 1951 noch einmal 78.380 bisher nicht erfasste Neuzugänge. Gerhard Reichling geht in einer auf breiterer Quellenbasis erstellten Studie sogar von insgesamt 4,1 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen – dies entspricht einem Bevölkerungsanteil von 22,3 Prozent – zu diesem Zeitpunkt aus.18 Von der Staatsgründung bis zum Mauerbau begaben sich über 800.000 Menschen aus diesem Personenkreis erneut auf die Wanderschaft.19 Ein Drittel der Zuwanderer aus der DDR in die Bundesrepublik waren Vertriebene. Bis 1959 flüchteten – gemessen am Bevölkerungsanteil– überproportional viele von ihnen aus der DDR.20 Gründe, einen Neuanfang in Westdeutschland zu versuchen, gab es viele, dies gilt im gleichen Maße für die einheimische wie für die zugewanderte Bevölkerung: Wirtschaftliche Verdrängung mittels Enteignungen und Kollektivierungen, Diskriminierung aufgrund sozialer und politischer Kriterien, allgemein die Hoffnung auf ein besseres Leben in der Bundesrepublik – all das konnte Anstoß für die Abwanderung in Richtung Westen sein. Da viele Vertriebene in ihrer wirtschaftlichen Existenz ungesichert und ihre Bindungen an die neue Umgebung und Gesellschaft weniger ausgeprägt waren als bei der einheimischen Bevölkerung, bestand auf Seiten dieser Gruppe

17 In der Aufstellung der „Wohnbevölkerung der Länder nach ihrer Herkunft entsprechend dem Wohnort am 1. September 1939“ werden „Gebiet östlich der Oder-Neiße-Grenze“ und „Ausland, Gebietsstand 1937“ als Sammelkategorien aufgeführt. Vgl. Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 2 (1956), S. 36. 18 Vgl. Gerhard Reichling: Die deutschen Vertriebenen in Zahlen. Hrsg. v. Kulturstiftung der Deutschen Vertriebenen. Teil 1: Umsiedler, Verschleppte, Vertriebene, Aussiedler 1940 – 1985. Bonn 1985, S. 59. 19 Vgl. P. Ther: Vertriebene (wie Anm. 7), S. 340 geht basierend auf den Statistiken bei Helge Heidemeyer: Flucht und Zuwanderung aus der SBZ, DDR 1945/1949 – 1961. Die Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik Deutschland bis zum Bau der Berliner Mauer. Düsseldorf 1994, S. 44 (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 100) von 838.800 Wegzügen aus. Alexander von Plato/Wolfgang Meinicke: Alte Heimat – neue Zeit. Flüchtlinge, Umgesiedelte, Vertriebene in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR. Berlin 1991, S. 79 operieren mit Werten von etwa 1 Million Flüchtlingen. 20 Vgl. Helge Heidemeyer: Vertriebene als Sowjetzonenflüchtlinge. In: Dierk Hoffmann u. a. (Hrsg.): Vertriebene in Deutschland. Interdisziplinäre Ergebnisse und Forschungsperspektiven. München 2000, S. 237 – 249, hier S. 239 (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer).

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eine höhere Mobilität. Auch von den westdeutschen Eingliederungshilfen wie dem Lastenausgleich scheint ein gewisser Anreiz ausgegangen zu sein.21 Nicht nur durch Abwanderung oder demographische Faktoren veränderte sich der Personenkreis derjenigen, die ursprünglich auf dem Staatsgebiet des Deutschen Reichs oder in deutsch geprägten Siedlungsgebieten gewohnt hatten. Ein gewisser Zustrom erfolgte in den fünfziger Jahren aus der Volksrepublik Polen, wo viele der dort bis dato verbliebenen Deutschen ausreisten. Zwischen 1952 und 1954 durften ca. 10.000 Personen in die DDR ausreisen, allein 1959 weitere 22.000.22 Weitere, gesicherte statische Zahlenwerte, insbesondere für die Zeit nach dem Mauerbau, liegen nicht vor. So kann also nicht einmal festgestellt werden, zu welchem Anteil die Bevölkerung der DDR aus Personen bestand, die beispielsweise in Schlesien, Pommern oder Ostpreußen geboren waren. Nach 1961 werden es weiterhin fast drei Millionen Einwohner gewesen sein. Auch die Zeit nach der politischen „Wende“ brachte in dieser Hinsicht keine eindeutige Klärung. Deshalb muß weiterhin mit Schätzwerten operiert werden. Nach 1989 bestand die Möglichkeit, eine „einmalige Zuwendung an die im Beitrittsgebiet lebenden Vertriebenen“ zu beantragen. Die Auszahlung wurde an die Statuten des Bundesvertriebenengesetzes gebunden. Personen, die nach dem 8. Mai 1945 rechtsbeständig Bodenreformland oder Zuwendungen aus Landesmitteln erhalten hatten, waren von diesem Bundesgesetz ausgeschlossen. Bis Ende 2000 wurden für 1.270.351 Personen Bewilligungsbescheide erteilt.23 Um die Lebensverhältnisse von Flüchtlingen und Vertriebenen in der DDR zu beschreiben, reicht es nicht aus, gleichsam eine Negativfolie zur Bundesrepublik aufzulegen und ausschließlich die nicht vorhandene Koalitionsfreiheit und fehlende Möglichkeit der kulturellen Brauchtumspflege hervorzuheben. Die Staatspartei setzte – wie auch in anderen Gesellschaftsbereichen – auf Zwang, um nichtkonforme Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen zu unterdrücken. Diskussionen über die Oder-Neiße-Grenze wurden mit teilweise nervöser Aufmerksamkeit verfolgt. Das Zentralkomitee der SED ließ sich dazu von der parteieigenen Informationsabteilung Lageeinschätzungen zusammenstellen.24 Auch konnte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) im Laufe der Zeit seinen Überwachungs21

Vgl. ebd. S. 240 – 242. Vgl. Beate Ihme-Tuchel: „Meinetwegen sperrt sie ein …“ Die deutsche Minderheit in Polen als Problem der ostdeutsch-polnischen Beziehungen in den Jahren 1949 bis 1963. In: Heiner Timmermann (Hrsg.): Die DDR. Erinnerung an einen untergegangenen Staat. Berlin 1999, S. 485 – 507, hier S. 496, S. 502. 23 Statistische Übersicht Vertriebenenzuwendungsgesetz. Stand: 31. 12. 2000, hrsg. v. Bundesamt zur Regelung offener Vermögensfragen. Quelle: http://www.badv.bund.de/ 003_menue_links/e0_ov/h0_service/a0_publikationen/c0_statistik/vertriebenenstatistik.pdf [letzter Zugriff am 12. 12. 2006]; Gesetz über eine einmalige Zuwendung an die im Beitrittsgebiet lebenden Vertriebenen vom 27. September 1994. In: BGBl. I 1994, S. 2624. 24 Vgl. C. Lotz: Deutung (wie Anm. 9), S. 149. 22

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apparat ausbauen und perfektionieren. So wurden Treffen oftmals schon im Vorfeld unterbunden, eine gewaltsame Auflösung schien nicht mehr notwendig. Bis in die 1950er Jahre hinein trafen sich Vertriebene zu bestimmten Anlässen, wobei zu einigen dieser Treffen durchaus mehrere hundert Personen erschienen. Beispielsweise boten der Leipziger oder der Hallenser Zoo die Kulisse für solche informellen Begegnungen mit Nachbarn aus der alten Heimat. Nach dem 17. Juni 1953 fanden diese öffentlichen Großveranstaltungen in der Grauzone zwischen Legalität und Illegalität jedoch ein Ende.25 Für einen gewissen Erfolg der SED-Politik sorgte allerdings nicht nur die zweifelsfrei ausgeübte Repression. Christian Lotz macht auch die zunehmende wirtschaftliche Integration dafür verantwortlich, daß sich die Vertriebenen langfristig mit der DDR arrangierten: „Die anfangs enorme Wut und Verzweiflung, die sich in den arbeits-, obdach- und perspektivlosen Flüchtlingsmassen verdichtet hatte, hätte sehr wohl das Potential für eine Dynamisierung des Protestes enthalten. Im nachlassenden sozialen Druck ist daher wahrscheinlich die wesentliche Ursache zu suchen, dass die autoritäre Verbotspolitik keine solche Dynamisierung von Unzufriedenheit hervorrief, wie sie etwa gesamtgesellschaftlich (also unter Vertriebenen und Einheimischen) im Vorfeld des 17. Juni 1953 oder auch später vor 1989 beobachtet werden konnte.“26 Gleichzeitig wurden Erinnerungen, die nicht der SED-Deutung entsprachen immer mehr an den Rand gedrängt. Wie Artikel in der (Ost-) CDU-nahen Zeitung „Neue Zeit“ verdeutlichen, war es aber noch in der Mitte der 1950er Jahre möglich, öffentlich Mitgefühl für die Vertriebenen aufzubringen, sofern ein Bezug zur „Friedenspolitik“ der DDR hergestellt wurde: „Es ist natürlich, dass die Bürger unserer Republik, die bei uns eine neue Heimat gefunden haben, auch an die Erde zurückdenken, auf der ihnen zum ersten Male die Sonne aufgegangen ist, die für sie verbunden ist mit liebevollen Erinnerungen an die Jahre der glücklichen Kindheit, an Hoffnung und Jugend und die erste Bewährung im Leben. Aber gerade die Menschen, die den Krieg und die Konsequenzen einer Aggression auch in ihrem persönlichen Schicksal erfahren haben, müssen heute als erste zu der Erkenntnis fähig sein, dass der Krieg aufgehört hat, eine Fortführung der Politik mit anderen Mitteln zu sein, dass der Krieg endlich aus der Geschichte der Menschheit ausgetilgt werden muss.“27 Zudem ermöglichte es fiktionale Literatur, das Thema Flucht und Vertreibung aufzugreifen.28 25

Vgl. M. Schwartz: Vertriebene (wie Anm. 5), S. 535 – 539. Vgl. dazu auch Erhardt Thum: Chronik der Vertreibung der Deutschen aus Postrum, unveröffentlichtes Manuskript. Leipzig 2004, S. 14 (Schlesisches Museum zu Görlitz, Erzählwerkstatt). 26 C. Lotz: Deutung (wie Anm. 9), S. 178. 27 Otto Nuschke: „Heimatvertriebene“. In: Neue Zeit vom 11. September 1955, zitiert bei C. Lotz: Deutung (wie Anm. 9), S. 175. 28 Vgl. Elke Mehnert: Vertriebene versus Umsiedler. Der ostdeutsche Blick auf ein Kapitel Nachkriegsgeschichte. In: Elke Mehnert (Hrsg.): Landschaften der Erinnerung. Flucht und Vertreibung aus deutscher, polnischer und tschechischer Sicht. Frankfurt am Main 2001,

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Zur zentralen Argumentationslinie der SED zählte der Revisionismus-Vorwurf, der besonders mit den Organisationen der Heimatvertriebenen in der Bundesrepublik verbunden wurde. Da diese Verbände in der DDR rigoros unterdrückt und verboten waren, erhielt die parteiamtliche Agitation eine Stoßrichtung, die sich vor allem in Richtung Westen orientierte. Erst durch die Kombination mit den Vorwürfen der Rückwärtsgewandtheit und Kriegshetze erhielt die SED-Propaganda ihre spezifische Durchschlagskraft.29 Der staatlich verordnete Antifaschismus konnte allerdings auch unter den Vertriebenen in der DDR eine gewisse Bindekraft entfalten, da die Bundesrepublik und mit ihr die Vertriebenenverbände als entgegengesetztes Zerrbild dargestellt wurden: „Meine Erfahrungen in diesem Zusammenhang in der DDR waren so, dass der Antifaschismus nicht staatlich verordnet wurde, wie immer wieder behauptet wird, nein, er wurde staatlich hoch geachtet, antifaschistisches Bewusstsein wurde gefördert, wo es nur ging, Erinnerungen bewahrt und große persönliche Leistungen im antifaschistischen Kampf von Tausenden gewürdigt.“30 Der Politik der SED kam auch ein Zeitfaktor zugute. Denn je länger die ehemaligen deutschen Gebiete unter polnischer, tschechischer und sowjetischer Verwaltung standen, desto aussichtsloser mußte der Wunsch nach Rückkehr oder gar Rückgewinnung erscheinen, wie er unter anderem von landsmannschaftlichen Organisationen in der Bundesrepublik artikuliert wurde.31 Grenzveränderungen mit friedlichen Mitteln schienen angesichts der politischen Rahmenbedingungen illusorisch. Territoriale Revisionsvorstellungen bedeuteten in der Argumentation der SED zwangsläufig kriegerische Auseinandersetzungen, die im Hinblick auf die jüngste Vergangenheit vehement verurteilt wurden. Erinnerungen von Vertriebenen, die im Rahmen einer Fragebogenaktion des Schlesischen Museums dokumentiert wurden, zeigen, daß die Betroffenen durchaus einen Zusammenhang zwischen dem von Deutschland verursachten Zweiten Weltkrieg und dem Verlust ihrer Heimatgebiete herstellten und verinnerlichten. Gleichwohl wurde es als „ungerecht“ empfunden, daß man ihre Vertreibung

S. 133 – 157, hier S. 144 – 153; Saskia Handro: Geschichtsunterricht und historisch-politische Sozialisation in der SBZ und DDR (1945 – 1961). Eine Studie zur Region Sachsen-Anhalt. Weinheim 2002, S. 189 – 191 (= Schriften zu Geschichtsdidaktik, Bd. 13); Saskia Handro: „Ein Tabuthema“ oder „Die andere Geschichte“. Zum öffentlichen Umgang mit „Flucht und Vertreibung“ in der SBZ und DDR. In: Bettina Alavi/Gerhard Henke-Bockschatz (Hrsg.): Migration und Fremdverstehen. Geschichtsunterricht und Geschichtskultur in der multiethnischen Gesellschaft. Idstein 2004, S. 177 – 192, hier S. 189 – 191; Petra Wohlfahrt: Das Thema „Umsiedler“ in der DDR-Literatur. In: Flucht, Vertreibung, Integration (wie Anm. 4), S. 102 – 107; Jörg B. Bilke: Unerwünschte Erinnerungen: Flucht und Vertreibung in der DDR-Literatur. In: Lisaweta von Zitzewitz (Hrsg.): Pommern in der Literatur nach 1945. Materialien einer Tagung in Külz, 11.–14. September 2003. Kulice 2005, S. 137 – 162. 29 Vgl. C. Lotz: Deutung (wie Anm. 9), S. 183. 30 Hubert Schnabel: Unvergessene Spuren. Flucht, Vertreibung, Umsiedlung. Taucha 2005, S. 74. 31 Vgl. C. Lotz: Deutung (wie Anm. 9), S. 184.

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in der DDR als „gerecht“ darstellte und die Bevölkerungsgruppe der Vertriebenen den größten Teil der Kriegsfolgen zu tragen hatte.32 So resultieren Haltungen von Vertriebenen in der DDR nicht allein als Reaktion auf den Repressions- und Überwachungsstaat. Zunächst wurde ihnen die Möglichkeit der Selbstorganisation genommen, dann eine dogmatische Sicht auf die Erinnerung an Flucht und Vertreibung etabliert. In Kombination mit Anreizen und Möglichkeiten in beruflicher aber auch in anderer Hinsicht, konnte eine gewisse Loyalität zum neuen Staat entstehen. Zielstrebigen und anpassungswilligen Vertriebenen bot die SED verschiedene Aufstiegsmöglichkeiten im Bereich der Parteien und gesellschaftlichen Organisationen.33 Der im östlichen Teil von Guben (nach 1945 Gubin) geborene Wilhelm Pieck amtierte bis 1960 als Präsident der DDR. Zu den prominentesten Vertretern von Staat und Partei, die ihre Geburtsorte östlich von Oder und Neiße hatten, gehörten auch die SED-Politiker Hans Modrow, der 1928 in Jasenitz (Landkreis Randow, Provinz Pommern, nach 1945 Jasienica) auf die Welt kam, und von November 1989 bis März 1990 das Amt des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR wahrnahm, und Egon Krenz (*1937 in Kolberg, nach 1945 Kołobrzeg), FDJ-Vorsitzender und für wenige Wochen als Nachfolger Erich Honeckers SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender der DDR. Günter Mittag (* 1926 in Stettin, nach 1945 Szczecin) war als langjähriges Mitglied des Politbüros der SED die zentrale Figur in der Planwirtschaft der DDR. Mit Heinz Keßler (*1920 in Lauban, nach 1945 Luban´) bestimmte ein gebürtiger Schlesier lange Jahre die Dienstgeschäfte des Ministeriums für Nationale Verteidigung. Bei einer Durchsicht einschlägiger biographischer Nachschlagewerke stößt man auf viele Funktionäre auf Staats- und Parteiebene, deren Geburtsorte östlich von Oder und Neiße lagen.34 Auch ranghohe Mitarbeiter der Sicherheitsorgane35, bekannte Künstler und Schriftsteller36 oder Mitglieder der Blockparteien37 zählten zu diesem Personenkreis. 32 „Wenn man sich beklagte, so hieß es gleich: Ihr habt es ja nicht besser gewollt, verdient, habt Hitler und somit den Krieg gewählt. Dabei war ich 1933 zehn Jahre und sicher haben auch die in Mitteldeutschland nicht anders gewählt als die Vertriebenen. Es war ja einfach, uns als Sündenböcke hinzustellen. So hatte man ein gutes Gewissen, wenn man voll war, während die „Schuldigen“ Hunger hatten und im Winter froren.“ Vgl. Fragebogen Frau. B. (* 1922 in Rengersdorf, Kr. Sagan) vom 03. 03. 2007 (Schlesisches Museum zu Görlitz, Erzählwerkstatt). 33 Vgl. C. Lotz: Deutung (wie Anm. 9), S. 178. 34 Die folgenden Angaben finden sich bei Helmut Müller-Enbergs u. a. (Hrsg.): Wer war wer in der DDR? Ein biographisches Lexikon. Bonn 2000. 35 Alfred Scholz (* 11. Februar 1921 in Groß Ullersdorf/Mähren, † 1978), 1975 stellvertretender Minister für Staatssicherheit der DDR. 36 Helmut Johannes Baierl (* 23. Dezember 1926 in Rumburg/Nordböhmen; † 2005), Schriftsteller, 1974 – 1990 Vizepräsident Akademie der Künste der DDR; Willi Sitte (* 28. Februar 1921 in Kratzau/Nordböhmen), bildender Künstler, 1974 – 1988 Präsident des Verbandes Bildender Künstler (VBK) der DDR. 37 Lothar Bolz (* 1903 in Gleiwitz/Oberschlesien – 1986); KPD, später NDPD; 1953 bis 1965 Minister für Auswärtige Angelegenheiten der DDR.

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Systemnähe und Vertriebenenhintergrund bildeten keine Ausschlußkriterien. Auch der politisch instrumentalisierte Begriff des „Umsiedlers“ wurde nicht von allen Betroffenen abgelehnt, vielmehr erweckte die Rede von „Vertriebenen“ und die Übernahme bundesdeutscher Gesetze nach 1989 negative Assoziationen: „In der DDR kannten wir diesen Status Vertriebener nicht. Die Umsiedler waren allen Bürgern der DDR gleichgestellt und wir fühlten uns in der Tat nicht als geduldete Vertriebene.“38 Dies bedeutet im Umkehrschluß natürlich nicht, daß sich alle Flüchtlinge und Vertriebene problemlos mit dem SED-Staat arrangierten. Ob die ablehnende Haltung ursächlich aus der eigenen Biographie oder aus den aktuellen Lebensverhältnissen in der DDR resultierte, ist schwer zu klären. Bei der Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen in der DDR, die sich am 17. Juni 1953 entlud, spielte vor allem in Görlitz und Umgebung, wo ein großer Teil der Bevölkerung Flüchtlinge und Vertriebene waren, der Verlust der Heimatgebiete östlich von Oder und Neiße eine Rolle.39 So skandierten Demonstranten im unweit von Görlitz gelegenen Dorf Zodel in Sprechchören: „Wir fordern: eine freie Regierung, die Beseitigung der SED, freie Wahlen, Schlesien zurück, die Absetzung des Abgabesolls, die Gleichstellung aller Bauern, die Rückkehr des Großbauern EnckeACHTUNGREvort, den Wegfall des Russischunterrichts und der Gemeinschaftskunde in den Schulen.“40 Eine ähnliche Verbindung von allgemeinen, politischen und wirtschaftlichen Forderungen mit einer Infragestellung der Oder-Neiße-Grenze scheint jedoch für die DDR etwas Besonderes gewesen zu sein. Für andere Kreise und Gemeinden, in denen ebenfalls viele Flüchtlinge und Vertrieben ihren Wohnort genommen hatten, sind jedenfalls keine Aktivitäten belegt, die mit Görlitz und seinem Umland vergleichbar gewesen wären.41 Flüchtlinge und Vertriebene, die sich entschlossen, dauerhaft in der DDR zu bleiben, mußten sich mit Grenzen in Ost und West auseinandersetzen: Oder und Neiße trennten das Staatsgebiet der Volksrepublik Polen von dem der DDR. Persönliche 38

H. Schnabel: Unvergessene Spuren (wie Anm. 30), S. 75 – 77. Vgl. Heidi Roth: Der 17. Juni 1953 in Sachsen. Köln 1999, S. 246 – 247, 264; S. 292, 295 (= Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, Bd. 11). Bei der Befreiung von politischen Häftlingen aus dem Görlitzer Gefängnis spielte der 1921 in Oberschlesien geborene Günter Assmann eine führende Rolle. Er wurde daraufhin zu acht Jahren Zuchthaus verurteil. Vgl. Podiumsgespräch „Der 17. Juni 1953 aus der Perspektive von Zeitzeugen“. In: Der 17. Juni 1953. Widerstand als Vermächtnis. XIV. Bautzen-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung. Büro Leipzig. 8. und 9. Mai 2003, Red. Michael Parak, Leipzig 2003, S. 113 – 120; Aufstand veränderte Assmanns Leben. In: Niederschlesischer Kurier Görlitz v. 23.06.2007. Zur Reaktion der Ereignisse um den 17. Juni 1953 in Polen vgl. Krzysztof Ruchniewicz/Andrzej Maiewicz: Das niederschlesische Echo des Juniaufstandes in der DDR von 1953. In: Matthias Weber (Hrsg.): Silesiographia. Stand und Perspektiven der historischen Schlesienforschung. Festschrift für Norbert Conrads zum 60. Geburtstag. Würzburg 1998, S. 463 – 477. 40 Zitiert bei H. Roth: Der 17. Juni 1953 (wie Anm. 39), S. 295. 41 Vgl. z. B. M. Holz: Evakuierte auf Rügen 1943 – 1961 (wie Anm. 6), S. 365 – 366. 39

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Kontakte zu Verwandten und Bekannten in der Bundesrepublik, sehnsüchtige Blicke auf die Auswirkungen des Wirtschaftswunders sowie die zunehmende Brandmarkung des westdeutschen Staates durch die SED markierten den Zwiespalt, in dem sich DDR-Bürger im Hinblick auf die Westgrenze befanden. Dabei bestand bis zum Mauerbau die Möglichkeit, in Richtung Westen abzuwandern, während eine Rückkehr in die ehemalige Heimat jenseits von Oder und Neiße ausgeschlossen war. In Richtung Osten stand die SED vor dem Parodoxon, einen Fluß, der gemeinhin für das Trennende steht, propagandistisch als Symbol für die Einheit mit dem sozialistischen „Bruderstaat“ umzudeuten. Seit Ende der 1940er Jahre galt das Diktum der „Friedensgrenze“ an Oder und Neiße. Die Haltung hierzu avancierte zum Prüfstein der Loyalität gegenüber der Arbeiter- und Bauern-Macht.42 Die Einheitspartei verstand sich selbst als bester Sachwalter der sozioökonomischen Gruppeninteressen der Vertriebenen. Da auch einer Selbstorganisation unter kulturellen Vorzeichen keine Notwendigkeit zugestanden wurde, konnten aus Sicht der SED alle Zusammenschlüsse auf landsmannschaftlicher Ebene letztlich nur darauf abzielen, die Grenze in Frage zu stellen.43 Im Vorfeld der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die DDR erreichte die Bespitzelung und Überwachung einen neuen Höhepunkt. Vereinigungen der Vertriebenen sowie „alle Angriffe gegen die deutsch-polnische Friedensgrenze in Wort, Schrift und Bild“ wurden pauschal als „Verbrechen“ gegen die Verfassung der DDR bewertet.44 Vielen Oberschülern wurde ein Bekenntnis zur Oder-Neiße-Linie als eine Art Gesinnungsprüfung abverlangt.45 Nachdem Otto Grotewohl und Jozef Cyrankiewicz am 6. Juli 1950 das Abkommen über die „Markierung der festgelegten und bestehenden deutsch-polnischen Staatsgrenze“ unterzeichnet hatten, setzten beide Staaten vor allem auf kanonisierte Begegnungen. Unkontrollierte Beziehungen bargen aus Sicht der Parteiführungen unabsehbare politische Risiken.46 42 Vgl. Rainer Gries: Jenseits der „Brücken der Freundschaft“. Propaganda und Alltag der Oder-Neiße-„Friedensgrenze“ in den siebziger Jahren. In: Der Zweite Weltkrieg in Europa und Asien. Grenzen, Grenzräume, Grenzüberschreitungen. Professor Dr. Bernd Martin zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Susanne Kuß/Heinrich Schwendemann. Freiburg 2006, S. 107 – 127, hier S. 110. 43 Vgl. M. Schwartz: Vertriebene (wie Anm. 5), S. 535. 44 Vgl. P. Ther: Vertriebene (wie Anm. 7), S. 238. 45 „Ich erinnere mich, dass ich in der Oberschule 11. Klasse eine schlechte Beurteilung auf dem Zeugnis bekam – ich hätte mich negativ über die Oder/Neiße Friedensgrenze geäußert. Die Oder-Neiße Friedensgrenze sollte das Unrecht gut machen, welches die Deutschen durch den „Eroberungskrieg“ ausgelöst hatten.“ Vgl. Fragebogen Frau P (* 1938 in Breslau) vom 13.03.2007 (Schlesisches Museum zu Görlitz, Erzählwerkstatt) sowie auch S. Handro: Geschichtsunterricht (wie Anm. 28); S. 262; S. 376 – 379. 46 Vgl. R. Gries: Brücken der Freundschaft (wie Anm. 42), S. 111. Unkontrollierte Fahrten von Schülern aus der DDR nach Polen stellten eine absolute Ausnahme dar. Der Lehrer Hartmut Heinze (* 1940 in Schlesiersee/Schlawa) unternahm 1967 – nachdem er zuvor erstmals wieder seinen Geburtsort besucht hatte – eine Abschlussfahrt mit seiner 10. Klasse ins Riesengebirge.

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Bis Mitte der 1950er Jahre hielten sich auch in der SED halblaute Diskussionen um die Grenze.47 Nichtöffentlich debattierte die SED-Führung um Ulbricht kurzzeitig über mögliche Gebietsforderungen gegenüber Polen, da der dortige Reformkurs den DDR-Genossen mißfiel.48 Insgesamt galt aber das Diktum einer festgeschriebenen Grenze, die als „Friedensgrenze“ zwischen zwei sozialistischen „Bruderstaaten“ überhöht wurde. Darüber, wie sich Vertriebene allmählich damit abfanden bzw. abfinden mußten, daß eine Rückkehr in die alte Heimat aus dem Bereich des Möglichen rückte, erfahren wir wenig in staatlichen Überlieferungen. Aber auch Selbstzeugnisse geben sich in dieser Frage bedeckt und verweisen vielmehr auf die Anstrengungen, die nötig waren, um sich eine Existenz in der DDR aufzubauen. Ebenso sind Geschäftsoder Privatreisen, die in den 1950er und 1960er Jahren zu einem Wiedersehen des ehemaligen Hauses und zu Begegnungen mit den dort seit 1945 lebenden Menschen führen konnten, noch nicht ausreichend untersucht. In den 1960er Jahren waren Reisen von DDR-Bürgern in das Nachbarland Polen noch eine Seltenheit.49 Unter denjenigen, die die Grenze an Oder und Neiße überquerten, waren auch viele Flüchtlinge und Vertriebene. Sie nutzen die Gelegenheit, um abseits der vorgeschriebenen Reiserouten ihre Geburts- und Heimatorte zu besuchen. Dabei traten sie in Kontakt zu den neuen Bewohnern dieser Landstriche, machten die Erfahrung, daß manche Polen ebenfalls zwangsweise ihre Heimat hatten verlassen müssen, stellten aber auch fest, wie tief das gegenseitige Mißtrauen zwischen Deutschen und Polen noch immer war.50 Einen Quantensprung hinsichtlich alltäglicher, unkontrollierter Begegnungen bildete die Möglichkeit, ab dem 1. Januar 1972 bis zum 30. Oktober 1980 nur unter Vorlage des Personalausweises nach Polen bzw. in die DDR zu reisen. Insgesamt waren bis 1980 mehr als 53 Millionen Einreisen von Polen in die DDR und mehr als 37 Mil-

Vgl. Stella Pfeiffer/Elz˙bieta Opiłowska: Görlitz-Zgorzelec. Zwei Seiten einer Stadt. Dwie strony miasta. Dresden 2005, S. 204 – 206. 47 Vgl. Bundesarchiv Berlin: SAPMO, DY 30/IV 2/5/ FBS 124/4058, Bd. 280, fol. 15, Abt. Leitende Organe der Partei und Massenorganisationen, Sektor Parteiinformation: „Wochenbericht“. Berlin, 20. Juli 1955, zitiert bei: C. Lotz: Deutung (wie Anm. 9), S. 29. 48 Vgl. C. Lotz: Deutung (wie Anm. 9), S. 175. 49 Zwischen 1960 und 1971 reisten im jährlichen Durchschnitt rund 65 000 DDR-Bürger nach Polen. Vgl. Czesław Ose˛kowski: Der pass- und visafreie Personenverkehr zwischen der DDR und Polen in den siebziger Jahren. In: Basil Kerski (Hrsg.): Zwangsverordnete Freundschaft? Die Entwicklung der Beziehungen zwischen der DDR und Polen 1949 – 1990. Osnabrück 2003, S. 123 – 133, hier S. 125. 50 Wie stark das Bedürfnis sein konnte, den Heimatort wiederzusehen, zeigt das Beispiel eines gebürtigen Breslauers, der 1964 seine Hochzeitsreise mit einem ersten Wiedersehen der Stätten seiner Kindheit verband. Vgl. Fragebogen Herr. S. (* 1939 in Breslau) vom 06.03.2005 (Schlesisches Museum zu Görlitz, Erzählwerkstatt). Vgl. auch das Kapitel „Erinnerungsreisen“ bei Albrecht Lehmann: Im Fremden ungewollt zuhaus. Flüchtlinge und Vertriebene in Westdeutschland 1945 – 1990. München 1991, S. 108 – 150.

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lionen Ausreisen von Bürgern der DDR nach Polen zu verzeichnen.51 Wahrscheinlich stand das Kunden-Konsumenten- bzw. Arbeits-Verhältnis in den daraus resultierenden gegenseitigen Beziehungen im Vordergrund. Doch auch Bezüge auf die Vergangenheit vor 1945 waren zu beobachten. So beklagten sich DDR-Bürger darüber, als „Nazischweine“ oder „Faschisten“ beschimpft worden zu sein. Auch würden einige Polen die Haltung „damals Besatzer – heute Besatzer“ vertreten.52 Nicht nur im Hinblick auf die Grenze an Oder und Neiße reflektierten Flüchtlinge und Vertriebene ihre Lebensbedingungen in der DDR. Bis zum 13. August 1961 gab es eine lebhafte Reisetätigkeit sowie einen Informationsaustausch mit Bewohnern der Bundesrepublik. Dabei standen zunächst persönliche Kontakte zu Familie und Freunden im Mittelpunkt. Erschwerte, schließlich versiegende Reisemöglichkeiten ließen diese Begegnungen allerdings sporadischer werden. Der Abstand vergrößerte sich, auch durch Themen, für die es in der DDR kein Äquivalent gab: „Lastenausgleich, Sicherung des Eigentums in Schlesien durch einen Grundbucheintrag mit Einheitswertbestimmung, […] Steuervorteile, […] Landsmannschaftstreffen und […] Heimatzeitungen.“53 Obwohl die SED jegliche Kontakte zu Landsmannschaften oder Heimatkreisen in der Bundesrepublik mit dem Revisionismus-Vorwurf belegte, ließen sich Verbindungen, insbesondere zwischen den ehemaligen Einwohnern von Städten und Gemeinden nicht einfach durchtrennen. Die lebhafte Reisetätigkeit von Vertriebenen zwischen Ost und West wurde allerdings mit dem Mauerbau fast völlig zum Erliegen gebracht, sieht man einmal von einzelnen „Rentner-Reisen“ ab. Den Versand vermeintlicher „Hetzschriften“ oder die Einschleusung von Heimatzeitungen und Heimatbriefen konnte die SED aber selbst nach 1961 nicht vollständig unterbinden. Zudem nutzten Mitarbeiter der Landsmannschaften Reisen in die DDR, um Informationen über die Lebensbedingungen der dort ansässigen Flüchtlinge und Vertriebenen zu gewinnen.54 Daneben erhielt der Austausch von Briefen und Paketen eine wachsende Bedeutung. Vertriebene in der DDR, die an ihren Wohnorten noch nicht auf eingespielte Netzwerke und Beziehungen zurückgreifen konnten, gelangten über die „Westpakete“ an stark nachgefragte Güter – vom Kaffee bis zur Medizin. Wie Christian Lotz zeigen konnte, gingen jährlich unzählige Postsendungen von Mitgliedern der westdeutschen Heimatgruppen in Richtung DDR. Allein zu Weihnachten 1961 schickten ehemalige Einwohner des schlesischen Landkreises Militsch-Trachenberg über 1.500 und 1962 über 1.600 Pakete an ihre Nachbarn, Kollegen und Bekannten, die 51

Vgl. R. Gries: Brücken der Freundschaft (wie Anm. 46), S. 116. Vgl. allgemein hierzu R. Gries: Brücken der Freundschaft (wie Anm. 46), S. 120 – 121. 53 Erwin Galisch: Evakuierung der Familie Galisch aus Schlesien ohne Wiederkehr. Zeitdokumentation ab dem 19. Januar 1945, dem Tag des Verlassens der Heimat, Manuskript, gesammelt und aufgeschrieben in der Zeit der Monate März 1999 bis Ostern 2000, S. 53 – 54 (Schlesisches Museum zu Görlitz, Erzählwerkstatt). 54 Vgl. C. Lotz: Deutung (wie Anm. 9), S. 246. 52

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nach 1945 ihren Wohnsitz in der SBZ/DDR genommen hatten. Die hierfür erforderlichen Adressen hatten sie aus der Zeitung der Bundesheimatgruppe entnommen.55 Wenngleich das MfS auch privaten Briefverkehr als „Diversion“ betrachtete,56 blieben selbst nach dem Mauerbau Restkontakte zwischen Vertriebenen aus der Bundesrepublik und der DDR bestehen. Ob diese als „entscheidender Faktor dissidenter Kommunikation“57 so hoch gewertet werden sollten, wie es Michael Schwartz tut, müssen allerdings weitere Untersuchungen klären. Die Situation von Flüchtlingen und Vertriebenen in der DDR wurde durch eine Politik geprägt, die aus Diskussionen um die Staatsgrenze sowohl in Ost als auch in West sofort den Vorwurf des Revanchismus und der Illoyalität gegenüber dem SED-Staat konstruierte. Manche Vertriebene nutzen die Möglichkeit, bis 1961 in die Bundesrepublik abzuwandern. Diejenigen die blieben mußten bzw. wollten sich mit diesen Grenzen arrangieren. Bei allen Schwierigkeiten, ein neues Leben in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR aufzubauen, bildeten familiäre und freundschaftliche Beziehungen eine wichtige Konstante, die eine aktuelle Stütze, aber auch Rückbesinnung auf vermeintlich bessere Zeiten bieten konnte.58 Gegenseitige Besuche und Feiern eröffneten die Möglichkeit, sich wieder zu sehen, auch wenn das Schicksal einen an weit entfernte Wohnorte geführt hatte. Hier wurden Erinnerungen ausgetauscht, auch wie selbstverständlich der heimatliche Dialekt gepflegt. Das dabei entstandene „Heimatgefühl“ sollte allerdings nicht ausschließlich in einem politischen Sinne gedeutet werden: „Wenn sich diese Familien und dazu noch die Familie Weinmann aus ACHTUNGREDröschACHTUNGREkau, unsere früheren Nachbarn, gegenseitig besuchten, war dies für alle eine Freude, sich über alte und neue Ereignisse austauschen zu können. Keine Konfirmation, weder Silberhochzeit noch runder Geburtstag, aber auch Trauerfeierlichkeit verging, wo nicht einige Familienmitglieder dieses Personenkreises anwesend waren. Bei ihren Gesprächen bemerkten sie aber kaum, dass sie sich plötzlich im schlesischen Dialekt verständigten […] Begegnete ich später im Alltag einer Person mit gleicher Aussprache, überkam mich stets ein Gefühl des Glückes und der Freude. Der Grund war gewiss keine Heimaterinnerung, vielmehr entwickelte es sich durch den Umstand, dass bei uns zu Haus oder bei Besuchen dann Sonn- oder Feiertag war.“59 Bekannte Dialekte oder Bräuche sorgten für eine Geborgenheit, die zuallererst im familiären Raum vorstellbar war und mit diesem assoziiert wurde. Dafür, daß sich dieser Bereich zunehmend öffnete, sorgten neben sich vereinheitlichenden Arbeitsbedingungen vor allem Eheschließungen zwischen Einheimischen 55

Vgl. C. Lotz: Deutung (wie Anm. 9), S. 142. Vgl. ebd., S. 242. 57 M. Schwartz: Vertriebene (wie Anm. 5), S. 523. 58 „In der gemeinsamen Verklärung der Vergangenheit ließ sich die Schwere des Neuanfangs leichter ertragen“. E. Thum: Chronik der Vertreibung (wie Anm. 25), S. 13. 59 E. Galisch: Evakuierung (wie Anm. 53), S. 57 – 58. 56

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und Vertriebenen. Eine Studie für Schwerin in den Jahren von 1947 bis 1954 zeigt, daß 26,6 Prozent der Ehen unter Einheimischen, 42,7 Prozent unter Vertriebenen und 30,7 Prozent zwischen Einheimischen und Vertriebenen geschlossen wurden.60 Da kurz nach Flucht und Vertreibung die Hoffnung auf eine Rückkehr in die alte Heimat noch groß war, kam es erst allmählich zum Konnubium zwischen Einheimischen und Vertriebenen: „Als er [Onkel G. R.] nach dem Krieg in Aizendorf, Kreis Rochlitz zum ersten Mal zum Tanz ging, stellte er an die andere Dorfjugend die Frage: „Ist denn hier nicht ein Mädchen aus Schlesien dabei?“ Er war damals überzeugt davon, dass es in spätestens einigen Jahren in die Heimat zurückgehen müsse. Da ihm mehr am Heiraten als am Tanzen lag, wollte er niemandem etwas versprechen, wenn es später durch die große Entfernung zwischen Sachsen und Schlesien zu familiären Spannungen kommen könnte.“61 In fast allen Erinnerungen von Flüchtlingen und Vertriebenen wird die Bedeutung der Familie als Ort der Selbstvergewisserung und Möglichkeit zum Rückzug hervorgehoben. Allerdings konnte dies nicht verhindern, daß sich durch berufliche und soziale Mobilität familiäre Bindungen lockerten und damit auch ein Stück alte Identität durch eine neue ersetzt wurde. Auch das Ableben der Großeltern und Eltern, die innerfamiliär die Erinnerung an die Herkunftsregion wach gehalten hatten, sorgte schrittweise für Veränderungen.62 „Als ich merkte, dass es ein Makel war, ein Umsiedlerkind zu sein, die für arm und dümmer gehalten wurden, richtete ich mich mehr und mehr nach den guten Schülern und auch nach den einheimischen Kindern aus. Ich war lebhaft und kameradschaftlich und hatte keine Probleme in der Schule.“63 Aussagen wie diese durchziehen die Erinnerungen von Vertriebenen, dies gilt gleichermaßen für die Bundesrepublik wie für die DDR.64 Wenngleich man in Rechnung stellen muß, daß solche Äußerungen 60

Vgl. Karin Wiechhusen: Die Integration der Vertriebenen in der Stadt Schwerin, dargestellt am Beispiel der Eheschließungen. In: Die Integration der Vertriebenen in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen. Symposium vom 25.–29. April 1991 in Magdeburg. Bad Homburg 1991, S. 138 – 151, hier S. 143. 61 E. Galisch: Evakuierung (wie Anm. 53), S. 58. 62 „Flucht und Vertreibung waren immer allgegenwärtig. Es wurde bis zum Tod meines Vaters 1962 fast täglich über die Heimat in vielfältigster Form gesprochen.“ Fragebogen Herr K. (* 1938 in Sagan) vom 02.03.2007 (Schlesisches Museum zu Görlitz, Erzählwerkstatt Schlesien). 63 Brigitta Tottewitz (* 1938 in Cosel). In: Astrid von Friesen/Wendelin Szalai (Hrsg.): Heimat verlieren, Heimat finden. Geschichten von Krieg, Flucht und Vertreibung. Dresden 2002, S. 298. 64 „Ich meine, dass die Vertriebenen deshalb besonders hart und fleißig waren, um zu beweisen, dass sie etwas leisten konnten (den Einheimischen gegenüber). Fragebogen Frau K. (* 1936 in Schluckenau) vom 01.03.2005 (Schlesisches Museum zu Görlitz, Erzählwerkstatt Schlesien). Die Bedeutung von Flüchtlingen und Vertriebenen beim wirtschaftlichen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland ist jüngst unter dem programmatischen Titel „Aufbau West“ in einer Ausstellung dokumentiert worden. Vgl. Dagmar Kift (Hrsg.): Aufbau West. Neubeginn zwischen Vertreibung und Wirtschaftswunder. Ausstellungskatalog Westfälisches Industriemuseum, Zeche Zollern II/IV Dortmund, 18.9.2005 – 26.3.2006. Essen 2005.

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erst lange Zeit nach der Ausbildung oder dem Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben getroffen wurden, bleibt doch eine Feststellung wichtig: Leistungsbereitschaft im schulischen und beruflichen Alltag, die über die der einheimischen Bevölkerung hinausgehen mußte, wird als entscheidender Faktor für die selbstbestimmte Gestaltung des Lebens und damit des eigenen Selbstbewußtseins gedeutet. In der Tat ist danach zu fragen, inwieweit sich in der Aufbaugesellschaft der DDR eine berufliche Mobilität ergab, die vielleicht in der alten Heimat nicht möglich gewesen wäre.65 Dies galt jedoch nicht generell für alle Altersgruppen. Von denjenigen, die schon vor 1945 einen Beruf ausgeübt hatten, gelang es in den 1940er Jahren den wenigsten, ihre alte Tätigkeit fortzusetzen. Gute Möglichkeiten existierten – auch durch die Bodenreform – auf dem landwirtschaftlichen Sektor oder im Staatsdienst. Ther schätzt, daß bei Gründung der DDR nur ein Viertel der Vertriebenen ihrem alten Beruf nachgehen konnte, ein weiteres Viertel vorübergehend in der Landwirtschaft untergekommen war, während die andere Hälfte sich mit Gelegenheitsarbeiten durchschlagen mußte, wenn sie nicht gar arbeitslos war.66 In den 1950er Jahren konnte dann aber mehr und mehr eine Angleichung an die einheimische Bevölkerung festgestellt werden. Berufliche Möglichkeiten zeichneten sich vor allem durch den forcierten Ausbau der Grundstoff- und Schwerindustrie ab. Gerade die Bezirke Cottbus, Frankfurt und Potsdam mit Stalinstadt/Eisenhüttenstadt, Lauchhammer, Schwarze Pumpe, LübACHTUNGREbeACHTUNGREnau-Vetschau, Guben, Frankfurt/Oder und Schwedt hatten daran einen wesentlichen Anteil. Bei einer hohen Belegschaftsfluktuation blieben vor allem diejenigen, die sich einen Aufstieg erhofften: Vertriebene, die zum Teil aus Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit hergezogen waren, aber auch Bereitschaft zeigten, einen neuen Aufbruch zu wagen, wenn sich verbesserte Bedingungen abzeichneten.67 Je nach Gebiet und Berufszweig variierend, stellten Vertriebene ca. 20 Prozent der Industriearbeiter, in den neuaufgebauten Betrieben teilweise 30 bis 40 Prozent. Dafür war weniger eine gezielte Sozialpolitik für Vertriebene entscheidend. Vielmehr stellte der hohe Arbeitskräftebedarf der Wirtschaft der DDR einen wichtigen Faktor der Vertriebenenintegration dar.68 Darüber hinaus wurde nicht nur die Berufswelt, sondern auch das Freizeitverhalten angeglichen. Die Transformation bestimmter Wirtschaftszweige erfasste Einheimische wie Vertriebene gleichermaßen, so daß die Herkunft eine immer geringere Rolle spielte.69 65 Zur Berufs- und Bildungsförderung vgl. S. Handro: Geschichtsunterricht (wie Anm. 28), S. 343 – 349. 66 Vgl. P. Ther: Vertriebene (wie Anm. 7), S. 268 – 269. 67 Vgl. Peter Hübner: Vertriebenenintegration durch industrielle Erwerbsarbeit in den fünfziger und sechziger Jahren am Beispiel des Landes Brandenburg. In: Christoph Kleßmann u. a. (Hrsg.): Vertreibung, Neuanfang, Integration. Erfahrungen in Brandenburg. Potsdam 2001, S. 112 – 122, hier S. 119. 68 Vgl. P. Hübner: Vertriebenenintegration (wie Anm. 67), S. 120 – 121. 69 Vgl. P. Ther: Vertriebene (wie Anm. 7), S. 268 – 269.

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Angleichungen und Perspektiven zeigten sich auch im Bildungswesen, wo gerade im Sekundärbereich ein umfassender Personalaustausch vollzogen worden war.70 Eine Eintrittsschwelle in den Lehrberuf bildete zunächst eine frühere Mitgliedschaft in der NSDAP, ab Ende der 1940er Jahre wurde dieses Kriterium zunehmend von einer „positiven“ Einstellung zur DDR und ihrer Staatspartei abgelöst. 1950 stellten Flüchtlinge und Vertriebene ein knappes Drittel der Lehrer in der DDR. Sie hatten ihr Auskommen in den weniger begehrten Lehrstellen auf dem Lande und in Kleinstädten gefunden. Unter den Neulehrern waren sie überrepräsentiert, nicht jedoch in leitenden Stellungen.71 Stichproben zeigen, daß ein Studium als Möglichkeit zur persönlichen Qualifizierung und zum sozialen Aufstieg begriffen und genutzt wurde. Aussagen wie „Ich war in meiner Familienreihe der erste Student“72 zeugen von einer gewissen Verbundenheit mit dem Staat, der Flüchtlingen und Vertriebenen bzw. ihren Kindern ermöglichte, ein Hochschulstudium zu absolvieren. Insgesamt kann eine zunehmende Angleichung der Arbeits- und damit partiell auch der Lebensverhältnisse von Vertriebenen und einheimischer Bevölkerung festgestellt werden – dies allerdings unter den Bedingungen einer allgemeinen Nivellierung des Lebensstandards. Eine höhere berufliche Position als in der alten Heimat trug wesentlich zur Zufriedenheit des Einzelnen und zur Akzeptanz der DDR bei.73 Dies galt allerdings nicht für alle Vertriebenen gleichermaßen. Wie zuvor beschrieben, wanderte ein Fünftel von ihnen bis zum Jahr des Mauerbaus in die Bundesrepublik ab. Anders als gesellschaftliche Organisationen und Vereinigungen konnten die Kirchen in der DDR ihre institutionelle Autonomie wahren. Sie boten ein Dach für eine informelle Geselligkeit, die nicht unter dem Primat der SED stand. Dies gilt auch für die Beschäftigung mit dem Thema „Flucht und Vertreibung“ sowie für die Seelsorge der davon betroffenen Personen. Gerade die in den 1950er Jahren noch gesamtdeutsch veranstalteten Katholiken- oder Evangelischen Kirchentage bezogen Stellung in Vertriebenenangelegenheiten. Auch befassten sich 1965 Synoden evangelischer Kirchen in der DDR mit der Ost-Denkschrift der EKD.74 70 So hatten 71,7 Prozent der Volksschullehrer auf dem Gebiet der späteren DDR der NSDAP angehört und wurden zum überwiegenden Teil aus dem Lehramt entfernt. Zudem änderte sich die Lehrer-Schüler-Relation durch die geburtenstarken Jahrgänge 1933 – 39 sowie durch den Zuzug von Flüchtlingen und Vertriebenen, die – da ihre Heimatgebiete stärker agrarisch geprägt waren – kinderreicher waren. Vgl. Lothar Mertens: Der Austausch einer Funktionselite. Die sogenannten Neulehrer in der SBZ/DDR. In: Stefan Hornbostel (Hrsg.): Sozialistische Eliten, Horizontale und vertikale Differenzierungsmuster in der DDR. Opladen 1999, S. 31 – 43, hier S. 32. 71 Vgl. P.-H. Seraphim: Heimatvertriebene (wie Anm. 1), S. 109, 112. 72 Fragebogen Herr S. (* 1939 in Gamna/Ungarn) vom 27.04.2005 (Schlesisches Museum zu Görlitz, Erzählwerkstatt). 73 Vgl. P. Ther: Vertriebene (wie Anm. 7), S. 336 – 337. 74 M. Schwartz: Vertriebene (wie Anm. 5), S. 558.

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Ab 1950 wurden Selbstorganisationen, die unter dem Schutz der Kirche standen, zum bevorzugten Objekt des DDR-Polizeiapparates. Dies galt nicht nur für die Junge Gemeinde, die dem Alleinvertretungsanspruch der FDJ entgegenstand. Auch jede kirchliche Vertriebenenaktivität erschien den SED-Machthabern suspekt.75 Doch in den katholischen wie evangelischen Gemeinden in der DDR besaßen Vertriebenenfragen nicht nur institutionell, sondern auch personell einiges Gewicht, da der Klerus sich zu gewissen Anteilen aus Personen rekrutierte, die bis 1945 in den Gebieten jenseits von Oder und Neiße gewirkt hatten.76 Zudem befanden sich die administrativen Reste der zur „Evangelischen Kirche der altpreußischen Union“ zählenden Landeskirchen Pommerns und Schlesiens auf dem Gebiet der DDR. Erst 1968 konnte die SED die Umbenennung der Landeskirche Pommern zur „Landeskirche Greifswald“ erzwingen.77 Mit dem Namen „Evangelische Kirche von Schlesien“ konnte sich die SED Mitte der 1950er Jahre zumindest arrangieren, obwohl der Begriff Schlesien den Bezugsraum trotz des Verlusts ideell zu wahren suchte. Diese Haltung rührt auch daher, daß die Kirchenleitung dazu überging, den überwiegenden Teil ihres externen Schriftverkehrs unter der Bezeichnung „Görlitzer Kirchenbezirk“ zu führen, und der Name „Evangelische Kirche von Schlesien“ immer mehr zum innerkirchlichen Sprachgebrauch wurde.78 Letztlich wurde der Name aber analog zur pommerschen Landeskirche in „Evangelische Kirche des Görlitzer Kirchengebietes“ umbenannt. Auf katholischer Seite existierte ein Teil des Erzbistums Breslau in der DDR fort. 1946 wurde das Erzbischöfliche Amt Görlitz eingerichtet, in dem der Breslauer Kapitelsvikar seinen Sitz nahm. Als 1972 der Vatikan die Diözesangliederung in Polen neu regelte, wurde der westlich von Oder und Neiße gelegene Teil auch de iure aus dem Erzbistum Breslau ausgegliedert und zu einem selbständigen Jurisdiktionsbezirk, der Apostolischen Administratur Görlitz erhoben.79 Fragt man nach der Bedeutung der Kirchen für Flüchtlinge und Vertriebene, so fällt die Antwort relativ eindeutig aus: Sie bildeten einen wichtigen Bezugspunkt als Ort des religiösen Lebens, als Kontaktbörse sowie als Kommunikations- und Informationseinrichtung.80 Allerdings sollte nicht übersehen werden, daß sich inner-

75

Ebd., S. 566. Vgl. dazu die am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Leipzig entstehenden Dissertationsprojekte (wie Anm. 15). 77 Vgl. M. Schwartz: Vertriebene (wie Anm. 5), S. 570. 78 Vgl. C.-E. Schott: Kirchenprovinz Schlesien (wie Anm. 14), S. 87 – 90. 79 Vgl. Wolfgang Müller: Der deutsche Restteil des Erzbistums Breslau – die Diözese Görlitz. In: W. König: Erbe und Auftrag (wie Anm. 14), S. 310 – 337. 80 „Wir sind eine christliche, evangelische Familie und unsere Eltern haben uns auch zum Glauben erzogen. Direkt eine Rolle hat die Kirche bei der Integration sicher nicht gespielt aber man fühlte sich in der Gemeinde unter den Christen angenommen.“ Vgl. Fragebogen Frau P (* 1938 in Breslau) vom 13.03.2007 (Schlesisches Museum zu Görlitz, Erzählwerkstatt). 76

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halb der Kirchgemeinden ähnliche Konflikte zwischen Einheimischen und Vertriebenen abspielen konnten, wie dies gesamtgesellschaftlich der Fall war. Konkret lassen sich vor allem in den 1950er Jahren sogenannte „Umsiedlerandachten“ oder „Umsiedlergottesdienste“ nachweisen.81 In Leipzig ist für die evangelisch-lutherische Kirche ein breites und langjähriges Engagement in der Vertriebenenseelsorge bis 1960 belegt. Da diese Aktivitäten aber nicht auf die Kirchenleitung oder das Hauptbüro des Hilfswerkes zurückgingen, sondern auf den persönlichen Einsatz eines ausgesprochen streitbaren Diakons, ist dieses Beispiel nicht unbedingt auf andere Städte und Gemeinden der DDR übertragbar.82 Zumindest kann exemplarisch verdeutlicht werden, daß noch um 1960 eine „Sonntagsstunde“ mit etwa 300 Familien existierte, „die für das Gros der in Leipzig angesiedelten Menschen aus den Ostgebieten einen belebenden Faktor darstellen und davor bewahren [sollte], dass diese ganze Schicht von Menschen in der Großstadtwüste versandet“, wie die zuständige Fürsorgerin rechtfertigend schreibt.83 Auf katholischer Seite zeigte sich in Wallfahrten zur Kapelle „Maria Meeresstern“ in Sellin bei Rügen beispielhaft, daß bestimmte Frömmigkeitsvorstellungen von Flüchtlingen und Vertriebenen auch in der neuen Heimat fortbestanden. Die Wallfahrten waren ein religiöses Gemeinschaftserlebnis, zugleich aber auch eine Möglichkeit zum Wiedersehen.84 Insgesamt kann davon ausgegangen werden, daß die innerkirchliche Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen weitgehend abgeschlossen war, indem es zu keinen nennenswerten innerkirchlichen Konflikten mehr um Fragen von Gottesdienstund Frömmigkeitskultur oder um die Einbindung von Vertriebenen in kirchgemeindliche Gremien kam.85 Welche Bedeutung die Kirchen aus der Sicht von Vertriebenen gerade in kommunikativer und in kultureller Hinsicht besaßen, bedarf mit Blick auf die 1950er und 1960er Jahre hingegen noch eingehender Untersuchungen. Angesichts des bisherigen Forschungsstandes über die Lebensbedingungen von Flüchtlingen und Vertriebenen in der DDR erscheint es schwierig, ein Fazit zu treffen, daß über eine generelle Aussage hinausgeht. Aus mehreren Gründen entschied sich etwa ungefähr ein Fünftel von ihnen, in die Bundesrepublik abzuwandern. Mindestens ein weiteres Fünftel verharrte zwar im Land, blieb aber zumindest gegenüber Teilen der neuen Ordnung negativ eingestellt. Die Mehrheit wurde allerdings in Gesellschaft und Staat integriert, wozu diverse Faktoren beitrugen.86

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Vgl. M. Schwartz: Vertriebene (wie Anm. 5), S. 567. Vgl. Markus Wustmann: Grundlinien der Flüchtlings- und Vertriebenenintegration der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, unveröffentlichtes Manuskript. Leipzig 2006, S. 15. 83 Ebd., S. 14. 84 M. Holz: Evakuierte auf Rügen 1943 – 1961 (wie Anm. 6), S. 411 – 448. 85 Vgl. M. Wustmann: Flüchtlings- und Vertriebenenintegration (wie Anm. 82), S. 16. 86 Vgl. P. Ther: Vertriebene (wie Anm. 7), S. 347. 82

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Stellt man die Frage, ob die Vertriebenen eine neue Heimat fanden, so müssen die Antworten je nach Alter unterschiedlich ausfallen. Allerdings entstammen die vorliegenden Erinnerungsberichte vornehmlich den Geburtsjahrgängen zwischen 1930 und 1945. Für diese Generation können noch Zeitzeugenbefragungen veranlasst werden. Die Einstellung älterer Geburtsjahrgänge verbleibt zumeist im Dunkeln. Partiell finden sich auch Reflexionen über die Elterngeneration, wie die Darlegungen des 1937 in Schlesien geborenen Siegfried Rönsch verdeutlichen: „Haben wir nun in Sachsen eine neue Heimat gefunden? Auf die Frage fällt die Antwort unterschiedlich aus. Meine Großeltern mütterlicherseits, 1883 und 1885 geboren, haben den Verlust ihrer schlesischen Heimat sicherlich nie ganz verwunden. Immer wieder kreisten ihre Gespräche und Gedanken um das kleine Siedlerhaus in Ober-Schönfeld, um die schlesische ländliche Idylle, in der sie über 60 Jahre gelebt, gearbeitet, gedarbt, aber auch viele glückliche Stunden verbracht haben […] Bei meiner Mutter, Jahrgang 1916, war die Gefühlswelt gemischt. Sicherlich hatte sie starke Wurzeln in OberSchönfeld […] Aber als kontaktfreudiger Mensch fand sie schnell Anschluss in Sachsen und hat hier eine neue Heimat gefunden. Bei mir stellt sich die Lage nun wieder völlig anders dar. Für mich ist meine Heimat Dresden, wo ich seit 1961 lebe, mit seiner in der Welt einzigartigen Architektur […] Dresden ist meine Heimat, wie übrigens 45 Prozent der Befragten einer Forsa-Studie, die den Ort, an dem sie leben, als Heimat bezeichnen […] Heimat ist für mich aber auch jenes legendäre „Jägerhaus“, in welchem ich meine – im nachhinein darf ich das resümieren – unbeschwerte Kindheit und Jugend verbracht habe und zu dem es mich immer wieder zieht […] Ja, wir haben unsere alte Heimat verloren, wir haben aber auch eine neue gefunden.87 Ähnliche Äußerungen fallen in zahlreichen Zeugnissen der Erinnerungsliteratur. Aus ihnen wird deutlich: die DDR wurde mit der Zeit mehr und mehr „als neue Heimat angenommen.“88 Doch einigen Vertriebenen gelang dieser Schritt nicht. Im Konjunktiv führt Siegfried Gokisch, der 1932 in Schlesien geboren wurde, Faktoren an, die seines Erachtens für eine Integration wichtig gewesen wären: „Ich wohne nun schon über 40 Jahre in Radebeul und habe mit meiner Familie vor und nach der Wende manche beschwerlichen Umstände durchlebt. Die Landschaft und die Stadt Radebeul können erst dann für mich zur neuen Heimat geworden sein, wenn ich ein erfülltes Arbeitsleben mit behaglichen Wohnverhältnissen hätte und eine Geborgenheit in der Verbindung zu engen Verwandten, Freunden und zahlreichen Bekannten vorfände. Leider blieb davon einiges unerfüllt. Ich fühle mich zwar in Radebeul etwas heimisch, aber von einer wahrhaft neu gefundenen Heimat kann ich nicht sprechen. Mir bleibt deshalb unvergessen meine schlesische Heimat mit unseren ländlichen Traditionen und Gewohnheiten, aber auch mit unserem unverwechselbaren schlesischen Brauchtum.“89 87

Siegfried Rönsch (* 1937 in Ober-Schönfeld, Kr. Bunzlau). In: A. Friesen/W. Szalai: Heimat verlieren (wie Anm. 63), S. 144 – 145. 88 E. Galisch: Evakuierung (wie Anm. 53), S. 72. 89 Siegfried Gockisch (* 1932 in Seifersdorf, Kr. Bunzlau). In: A. Friesen/W. Szalai: Heimat verlieren (wie Anm. 63), S. 225.

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Um dieses ambivalente Bild schärfer zu konturieren, bedarf es noch weiterer Forschungsanstrengungen. Dabei könnte nicht nur der Blick auf die Situation von Flüchtlingen und Vertriebenen in der Bundesrepublik, sondern insbesondere der Vergleich mit „Umsiedlern“ aus den polnischen Ostgebieten produktiv sein, die gezwungen waren, sich eine neue Existenz in der sozialistischen Volksrepublik Polen aufzubauen.90

90 Vgl. Krzystof Ruchniewicz: Warum Wrocław nicht Breslau ist. Überlegungen zur Nachkriegsgeschichte der niederschlesischen Hauptstadt. In: Krzystof Ruchniewicz: Zögernde Annährung. Studien zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen im 20. Jahrhundert. Dresden 2005, S. 225 – 240, hier S. 228, 239; Beata Halicka: „Mein Haus an der Oder“. Erinnerungen von Neusiedlern. In: Osteuropa 56 (2006), H. 11/12, S. 245 – 258; Małgorzata Ruchniewicz: Zwangsumsiedlungen in Ostpolen. In: Flucht und Vertreibung. Europa zwischen 1939 und 1948. Mit einer Einleitung von Arno Surminski. Hamburg 2004, S. 198 – 207.

Die Autoren des Bandes Dr. Alexander Brakel Referent beim Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien in Berlin. . Dr. Ingo Eser Dozent am Historischen Seminar der Universität zu Köln. . Dr. Jiri Georgiev Berater des Senatsausschusses für Europäische Angelegenheiten im Tschechischen Parlament in Prag. . Prof. Dr. Milosˇ Havelka Professor für Historische Soziologie an der Karls-Universität Prag. . Prof. Dr. Manfred Kittel Direktor der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin. . Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll Inhaber des Lehrstuhls für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Technischen Universität Chemnitz. . Prof. em. Dr. Helmut Neuhaus Von 1989 bis 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Geschichte I an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen. . Dr. Michael Parak Geschäftsführer des Vereins Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. in Berlin. .

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Die Autoren des Bandes

Prof. Dr. Milosˇ Rˇeznk Inhaber der Professur für Europäische Regionalgeschichte an der Technischen Universität Chemnitz. . Prof. Dr. Ralph Schattkowsky Professor für Neueste Geschichte mit dem Schwerpunkt der Geschichte Osteuropas an der Universität Rostock. . Prof. Dr. Matthias Stickler Apl. Professor am Lehrstuhl für Neueste Geschichte an der Universität Würzburg. . Dr. Hendrik Thoß Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Technischen Universität Chemnitz.