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German Pages 380 Year 2015
Ethos und Pathos der Geisteswissenschaften
Historia Hermeneutica Series Studia
Herausgegeben von Lutz Danneberg Wissenschaftlicher Beirat Christoph Bultmann ‧ Fernando Domínguez Reboiras Anthony Grafton ‧ Wilhelm Kühlmann ‧ Ian Maclean Reimund Sdzuj ‧ Jan Schröder Johann Anselm Steiger ‧ Theo Verbeek
Band 12
Ethos und Pathos der Geisteswissenschaften
Konfigurationen der wissenschaftlichen Persona seit 1750 Herausgegeben von Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase und Dirk Werle
DE GRUYTER
ISBN 978-3-11-037499-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-037500-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038625-7 ISSN 1861-5678 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase, Dirk Werle Vorwort | 7 Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase, Dirk Werle Ethos und Pathos der Geisteswissenschaften. Forschungsbericht und Problemskizze | 13 Teil I: Historische Studien | Simone De Angelis „er lebt quasi nur noch durch seinen Kopf“ Diderots Ethos der Anerkennung in seiner Beziehung zu d’Alembert und was das mit der Aufklärung zu tun hat | 4 Steffen Martus Der Mut des Fehlens Über das literaturwissenschaftliche Ethos des Fehlermachens | 6 Hans-Harald Müller Zwischen Gelehrtenbehavioristik und Wissenschaftsethik Wissenschaftliche Selbstreflexion bei Wilhelm Scherer | Horst Thomé † Der heroische Forscher | 9 Olav Krämer Ethos und Pathos des Metaphysikverzichts bei Ernst Mach, Max Weber und Robert Musil | 10 Denis Thouard Ein Philologe in der Dreyfus-Affäre: Louis Havet Über Expertisen und wissenschaftliches Ethos | 13 Toni Bernhart „Von Aalschwanzspekulanten bis Abendrotlicht“ Buchstäbliche Materialität und Pathos im Häufigkeitswörterbuch der deutschen Sprache von Friedrich Wilhelm Kaeding | 1
6 | Inhalt Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase, Dirk Werle Andrea Albrecht „Wahrheitsgefühle“ Zur Konstitution, Funktion und Kritik ‚epistemischer Gefühle‘ und Intuitionen bei Leonard Nelson | 19 Christopher D. Johnson Pathosformeln Warburg, Cassirer und der Fall Giordano Bruno | 2 Alexander Nebrig Die Rhetorik von Leo Spitzers Stilistik | 2 Cornelis Menke A Note on Science and Democracy? Robert K. Mertons Ethos of Science | 2 Teil II: Systematische Reflexionen | 29 Jörg Schönert Zu Nutz und Frommen kooperativer Praxis in der Literaturwissenschaft | Ruth Amossy Das Ethos des Wissenschaftlers im Spannungsfeld von Neutralität und Engagement | 32
Wolfgang Detel Pathos und Wahrheit | 35 Autorenverzeichnis | 37 Personenverzeichnis | 3
Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase, Dirk Werle
Vorwort
Die geisteswissenschaftliche Wissenschaftsforschung hat in den vergangenen Jahrzehnten große Fortschritte gemacht. Das betrifft sowohl die materiale Erschließung wichtiger Quellen als auch die theoretisch informierte Interpretation der Befunde und ihre Integration in übergreifende historische Darstellungen. Im Zuge dieser Prozesse gewann die Selbstreflexion der Kulturund Geisteswissenschaften zunehmend interdisziplinären Charakter: Die geisteswissenschaftlichen Fächer erweiterten ihren Fokus bei der Erforschung der eigenen Fachgeschichten hin zu einer allgemeineren Sichtweise, die wissenschaftshistorische, wissenschaftssoziologische und wissenschaftstheoretische Stimmen ins Gespräch brachte, Theorien und Konzepte aus der naturwissenschaftlichen Wissenschaftsforschung integrierte, zunehmend nach den Praxisformen der Wissenschaften fragte und so die historische und systematische Beschäftigung mit dem eigenen Tun neu perspektivierte. Die Wissenschaftsgeschichte der Literaturwissenschaft nahm im deutschsprachigen Bereich bei der skizzierten Entwicklung eine Vorreiterrolle ein. Dabei konnte sie unter anderem genuin literaturwissenschaftliche methodologische Kompetenzen für das Interesse an der Wissenschaftsforschung fruchtbar machen, indem sie etwa nach Darstellungsformen wissenschaftlicher Texte, nach ihrer rhetorischen Faktur und ihrer argumentativen Funktionalisierung fragte. Der vorliegende Band verfolgt Fragen weiter, die im Rahmen der skizzierten Entwicklung aufgetaucht sind. Er bewegt sich im Konvergenzraum von Wissenschaftsgeschichte und der Erforschung der Darstellungsformen wissenschaftlicher Texte: Im Mittelpunkt steht die Frage, wie die in diesen Texten propagierten Wissensansprüche nicht allein durch rein rationale, logisch rekonstruierbare Argumentationsaufbauten vertreten und plausibilisiert, sondern auch durch soziale und rhetorische Strategien, vornehmlich durch die Konstruktion unterschiedlicher Formen von wissenschaftlichem Ethos sowie durch den Einsatz pathetischer Redeweisen, befördert werden. Diese Strategien sind korreliert mit dem Aufbau von wissenschaftlichen Personae im Text, deren Eigenarten und Funktionen durch literaturwissenschaftliche Textanalyse rekonstruierbar werden. Bei der Erforschung von Formen und Funktionen der wissenschaftlichen Persona knüpfen die Beiträge des Bandes in theoretischer Hinsicht an Ergebnisse der literaturtheoretischen Debatten um Konzepte von Autorschaft sowie an
8 | Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase, Dirk Werle Ergebnisse der internationalen wissenschaftshistorischen Theoriebildung an. Dabei lassen sie sich jedoch in erster Linie weniger von einem wissenschaftstheoretischen als vielmehr von einem wissenschaftshistorischen Interesse leiten: Sie leisten einen Beitrag zur historischen Epistemologie der Geisteswissenschaften. Die Beiträge des Bandes behandeln die skizzierte Thematik in Form von Fallstudien zur Geschichte der Geisteswissenschaften (mit Ausblicken auf die Geschichte der Natur- und Sozialwissenschaften). Die historischen Untersuchungen decken mit dem Zeitraum von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart jene Phase der Wissenschaftsgeschichte ab, in der sich die modernen Geisteswissenschaften aus den entsprechenden Bereichen vormoderner Gelehrsamkeit herausbildeten. Die historischen Studien zeigen an exemplarischen Konstellationen, wie und warum es bei der Herausbildung und Durchsetzung moderner Geisteswissenschaften zur Herausbildung spezifischer Ethosformen sowie zum Einsatz pathetischer Redeweisen kam. So zeigt SIMONE DE ANGELIS am Beispiel der Enzyklopädisten Denis Diderot und Jean Le Rond d’Alembert, wie die aufgeklärte Gelehrsamkeit des 18. Jahrhunderts einem Ethos der Freundschaft affin war, das sich aus der Vorstellung epistemischer Unterschiede zwischen Individuen herleitet, die man als Gelehrter anerkennen und akzeptieren müsse. Auf dieser Basis kann die Persona des epistemisch von der eigenen Haltung abweichenden Freundes als alter ego des je eigenen gelehrten Tuns erscheinen, in Auseinandersetzung mit dem man seine Philosophie entwickelt. Die genaue Beschäftigung mit Jacob Grimm durch STEFFEN MARTUS macht sichtbar, wie zu der neuen Form von Wissenschaftlichkeit in den Geisteswissenschaften ein Ethos des Fehlens gehört, das heißt, eine lehr- und lernbare wissenschaftliche Haltung, die vor dem Hintergrund der strukturellen Überforderung des modernen Wissenschaftler-Individuums, der Multinormativität der Geisteswissenschaften sowie der institutionellen Verbindung von Forschung und Lehre einen kompetenten Umgang mit Fehlern und ein Produktivmachen von Fehlern für den Prozess des Erkenntnisfortschritts ermöglicht. Am Beispiel des Germanisten Wilhelm Scherer demonstriert HANS-HARALD MÜLLER, wie gegen die alte Leitvorstellung des Gelehrten seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein neuer Wissenschaftlertypus die Bühne der Wissenschaftsgeschichte betritt, der sein gelehrtes Ethos an eine auf strikter Orientierung am Logos basierende Methodik und Wissenschaftstheorie bindet, und wie Teil dieses Ethos die Vermittlung professioneller Methodik und wissenschaftstheoretischer Reflektiertheit an Schülergruppen ist, die ihrerseits das ‚rationale Ethos‘ tradieren. HORST THOMÉ zeigt darüber hinaus, wie gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein in mancher Hinsicht verwandter, in manch anderer jedoch konträrer Typus pathetischer
Vorwort | 9
Selbst- und Rollenstilisierung mehr und mehr Einfluss in den GeisteswissenGeisteswissenschaften gewinnt, der als ‚heroischer Forscher‘ beschrieben werden kann. Dieser Typus wird von dem Philosophen Friedrich Nietzsche besonders wirkmächtig vorgeführt und später von dem Gründervater der Soziologie, Max Weber, eingehender charakterisiert und inszeniert. Dass ein Ethos des Metaphysikverzichts bei Max Weber, Ernst Mach und später bei dem philosophisch und naturwissenschaftlich ausgebildeten Romancier Robert Musil durchaus keine bescheidene Haltung des Wissenschaftlers implizieren muss, insofern dahinter eine emphatisch-pathetische Konzeption des Wissenschaftlers als moralisch integrer Person stehen kann, erläutert weiterführend OLAV KRÄMER. Zur gleichen Zeit wie das Ethos des Gelehrten als heroischen Forschers entsteht auch das alternative Ethos des Gelehrten als politisch engagierten Intellektuellen, wie DENIS THOUARD am Beispiel der Rolle des Philologen Louis Havet in der Dreyfus-Affäre zeigt. Dass gelehrtes Pathos auch eine Frage der historischen Wirkung ist, führt TONI BERNHART am Beispiel des Sprachlexikographen Friedrich Wilhelm Kaeding vor, dessen Unternehmen eines Häufigkeitswörterbuchs der deutschen Sprache rückblickend als Ausdruck eines Pathos der Akribie gedeutet werden kann, insofern es mit ungeheurem quantitativem Aufwand ein scheinbar esoterisches Außenseiterprojekt umsetzt, wobei der Eindruck des Pathos jedoch in erster Linie durch den Umstand bedingt ist, dass das verfolgte Projekt spätere Rezipienten hinsichtlich Anschlussfähigkeit und Verständlichkeit mit Schwierigkeiten konfrontiert. ANDREA ALBRECHT geht darüber hinaus Tendenzen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach, das Ideal der Rationalität mit personenbezogenen Theorien der Produktion und Weitergabe von Wissen zu vermitteln, etwa in philosophischen Theorien eines ‚Wahrheitsgefühls‘, das der Persona des Wissenschaftlers bei der Erkenntnisgewinnung einen zentralen Stellenwert zuschreibt, vornehmlich bei Leonard Nelson. CHRISTOPHER JOHNSON führt am Beispiel des Kunsthistorikers Aby Warburg und des Philosophiehistorikers Ernst Cassirer vor, wie historische Exempel eines Pathos gelehrter Erkenntnis zum Referenzpunkt für die Konstruktion des wissenschaftlichen Ethos des Ideenhistorikers werden können. Am Beispiel des Romanisten Leo Spitzer zeigt ALEXANDER NEBRIG, wie im selben Zeitraum mit der Hinwendung zu einem spezifischen Ethos und zu einer pathetischen Wissenschaft die programmatische Abwendung vom Ideal des Logos verbunden sein und wie das Bild der wissenschaftlichen Persona nach dem Muster des Mystagogen und Belebers toter Texte gestaltet werden kann. Die Studien zu Ethos und Pathos im 20. Jahrhundert münden in der wissenschaftshistorischen Situierung von Robert K. Mertons einflussreichen Bemühungen um eine Theoretisierung des
10 | Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase, Dirk Werle wissenschaftlichen Ethos, die der Wissenssoziologe, wie CORNELIS MENKE zeigt, vor allem unternimmt, weil er das Ethos der Wissenschaft für das angemessene Verständnis des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft für wesentlich hält. Abgerundet wird der Band durch gegenwartsbezogene Studien zu Tendenzen der Ablösung vom Bild der Geisteswissenschaften als Individualwissenschaften hin zu einem Ethos der Kooperation (JÖRG SCHÖNERT), zu unterschiedlichen Weisen der Ethoskonstruktion durch die Darstellungsform politischer Analysen, die von einem Ethos der Distanz bis hin zu einem Ethos des Engagements changieren (RUTH AMOSSY), sowie zu Formen des angemessenen, wahrheitsbezogenen, aber auch des unangemessenen, rein rhetorischen Pathos in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung (WOLFGANG DETEL). Der Band zum Verhältnis von Ethos und Pathos in der Wissenschaftsgeschichte der Geisteswissenschaften wurde vorbereitet durch eine von der Fritz Thyssen Stiftung geförderte, internationale und interdisziplinäre Tagung, die unter dem Titel „Ethos und Pathos des Logos. Wissenschaftliches Ethos und Pathos der Wissenschaften in historischer und systematischer Perspektive“ vom 24. bis 26. November 2011 anlässlich des 60. Geburtstags von Lutz Danneberg am Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand.1 Er ist Teil umfangreicherer Forschungen zur historischen Epistemologie der Geisteswissenschaften, die von der Forschungsstelle Historische Epistemologie und Hermeneutik an der Humboldt-Universität zu Berlin vorangetrieben werden. Bisher erschienene Bände widmeten sich den Darstellungsformen der Wissenschaften, der Bedeutung von Stilen, Schulen und Disziplinen für die Wissenschaftsgeschichte, dem Verhältnis von Begriff, Metapher und Imagination in wissenschaftlichen Texten, der Rolle von Kontroversen für die Weiterentwicklung wissenschaftlichen Wissens, Modellierungen unsicheren Wissens im Kontext von Skeptizismus und Wahrscheinlichkeitstheorie sowie der Theorie des Wissenstransfers.2 Der vorliegende Band knüpft an diese Studien an und baut auf ihnen auf. || 1 Vgl. die Tagungsberichte von Stefan Descher in: JLTonline (23.1.2012) [http://www.jltonline.de/index.php/conferences/article/view/463/1147; letzter Zugriff am 16. Januar 2015] und von Claudia Löschner in: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 22 (2012), S. 406–408. 2 Lutz Danneberg und Jürg Niederhauser (Hrsg.), Darstellungsformen der Wissenschaften im Kontrast. Aspekte der Methodik, Theorie und Empirie, Tübingen 1998; Lutz Danneberg, Wolfgang Höppner und Ralf Klausnitzer (Hrsg.), Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion (I), Frankfurt a.M. u.a. 2005 (Berliner
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Die Herausgeber danken Marius Reisener (Berlin) für Hilfe bei der Redaktion des Bandes, Dominique Renner (Berlin) für den Satz sowie Jacob Klingner, Julia Gernth und Maria Zucker vom Verlag Walter de Gruyter für professionelle Betreuung. Berlin, im 0DL 2015
|| Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 8); Ralf Klausnitzer und Carlos Spoerhase (Hrsg.), Kontroversen in der Literaturtheorie/Literaturtheorie in der Kontroverse, Bern u.a. 2007 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 19); Lutz Danneberg, Carlos Spoerhase und Dirk Werle (Hrsg.), Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte, Wiesbaden 2009 (Wolfenbütteler Forschungen 120); Carlos Spoerhase, Dirk Werle und Markus Wild (Hrsg.), Unsicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit 1550–1850, Berlin 2009 (Historia Hermeneutica. Series Studia 7); Jan Behrs, Benjamin Gittel und Ralf Klausnitzer, Wissenstransfer. Konditionen, Praktiken, Verlaufsformen der Weitergabe von Erkenntnis. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion (II), Frankfurt a.M. u.a. 2013.
Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase, Dirk Werle
Ethos und Pathos der Geisteswissenschaften. Forschungsbericht und Problemskizze 1. In seiner vermutlich 1927 verfassten Erzählung Der Tag ohne Abend erzählt Leo Perutz eine Geschichte aus dem Jahr 1912, deren Handlung manche Paralle-len mit Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl aufweist: Berichtet wird von einer Figur, die in die Situation gerät, einer Duellforderung entsprechen zu sollen, und von der Zeit, die die Figur bis zu diesem existenziellen Termin verbringt.1 Perutzʼ Protagonist ist aber aus ganz anderem Holz geschnitzt als Schnitzlers Gustl: Die Figur mit Namen Georges Durval teilt manche Eigenschaften mit Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, insofern es sich um einen Menschen handelt, der zahlreiche Begabungen besitzt, die er alle nur halbherzig ausübt, und keine der damit verbundenen Tätigkeiten zu Ende bringt. Eine dieser Bega-bungen ist die mathematische. Die Zeit bis zum Duell vertreibt Durval sich mit der Lösung eines mathematischen Problems, das „den Kreis und Kurven dritter Ordnung zum Gegenstand hat. Er überflog die ersten Seiten [der ihm in die Hände gefallenen Abhandlung über das Problem, d. Verf.] und fand, daß der Verfasser an der Möglichkeit, durch Transformation zweier Formeln gewisse Eigenschaften allgemeiner Formeln höheren Grades festzustellen, achtlos vorübergegangen war. Sein Interesse war geweckt und er begann, die Untersuchung nach dieser Richtung hin weiterzuführen.“2 Kurz vor Beginn des Duells hat Durval seine Arbeit nach Auskunft des Erzählers „zu Ende gebracht“ und wird kurz darauf erschossen.3 Ein Clou der Geschichte ist der, dass diese letzte, angeblich abschließende mathematische Arbeit Durvals nur in seinem Kopf stattgefunden hat; der Mathematiker findet keine Zeit mehr, sie aufzuschreiben. Der letzte Satz der Erzählung lautet: „Sie ist verteilt auf die Rückseite einer Wäscherechnung, auf die Marmorplatte eines Kaffeehaustisches und auf ein kleines Blatt aus dem Notizblock, das der Wind verweht hat.“4
|| 1 Leo Perutz, Der Tag ohne Abend [~1927], in: ders., Herr, erbarme dich meiner. Erzählungen, Reinbek bei Hamburg 1989 [zuerst 1930], S. 161–169. 2 Ebd., S. 163f. 3 Ebd., S. 168. 4 Ebd., S. 169.
14 | Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase, Dirk Werle Die Geschichte ist in mancherlei Hinsicht bemerkenswert. In ihr werden explizite Aussagen des Erzählers über die Genialität Frühverstorbener in ein spannungsvolles Verhältnis mit dem Gehalt der erzählten Geschichte gebracht: Was ist ein abgeschlossenes, geniales Werk? Wann ist ein Œuvre abgeschlossen? Was hat der Abschluss des Werks mit dem Abschluss des Lebens zu tun? Die Problematik der Deutungshoheit über das Leben einer Person wird thematisiert – vor allem aber handelt es sich um eine Geschichte, in der sowohl ein Ethos als auch ein Pathos der Wissenschaft inszeniert wird.5 Ethos und Pathos werden seit Aristoteles’ Rhetorik als zusammengehöriges Paar rhetorischer Überzeugungsmittel gesehen.6 Der Protagonist von Perutz’ Erzählung ist nun gerade dadurch charakterisiert, dass er kein erkennbares wissenschaftliches Ethos in Gestalt einer ihm selbst bewussten Haltung, die er vielleicht etwa sogar anderen argumentativ vermitteln wollte, besitzt. Trotzdem tut er Dinge, die als exemplarisch für den guten Wissenschaftler gelten: Die Problemlösung ist ihm als solche wichtiger als ihre schriftliche Fixierung oder gar Verbreitung; das Problem absorbiert seine gesamte Aufmerksamkeit, so dass ihm sogar die existenzielle Bedrohung egal wird; für den Wissenschaftler ist das Problem mit der Lösung nicht aus der Welt; er nimmt sich vor, am Abend nach einer eleganteren Lösung zu forschen. Dass der Tag keinen Abend hat, betont der Titel der Erzählung. Das Exempel wissenschaftlicher Haltung wird jedoch nicht von dem Protagonisten selbst vermittelt, sondern vom Erzähler der Geschichte, der dabei mit rhetorischem Pathos zu Werke geht. Solche Formen pathetischer Darstellung der Wissenschaft, der Wissenschaftler und des wissenschaftlichen Handelns bilden die eine Seite der Thematik des vorliegenden Bandes. Doch wäre die Erforschung des Pathos der Wissenschaft ohne die Untersuchung des Ethos unvollständig, da pathetische Redeweisen und Pathetisierungsstrategien mit Blick auf Wissenschaft und Gelehrsamkeit zumeist von der Artikulation eines Ethos begleitet sind. Zwei weitere Textbeispiele mögen an einige Besonderheiten des Begriffspaars Ethos und Pathos erinnern, die in den Beiträgen des vorliegenden Bandes thematisch werden und deren Relevanz für das Verständnis des Gegenstands mit dem vorliegenden Band historisch plausibel gemacht werden soll.7 || 5 Weitere Aspekte deutet Lutz Danneberg an, Wie kommt die Philosophie in die Literatur? In: Christiane Schildknecht und Dieter Teichert (Hrsg.), Philosophie in Literatur, Frankfurt a.M. 1996, S. 19–51, hier S. 31–33. 6 Vgl. Arist. Rhet. 1356a. 7 Eher allgemeinen wissenschaftspolitischen Fragen nach der Zukunft der Geisteswissenschaften widmet sich Ian Hunter, The Mythos, Ethos, and Pathos of the Humanities, in: History of European Ideas 40 (2014), S. 11–36.
Ethos und Pathos der Geisteswissenschaften. Forschungsbericht und Problemskizze | 15
Erstes Beispiel: Im Jahr 1633 erschien eine vorgeblich autobiographische, auf das Jahr 1609 datierte Schrift des württembergischen Theologen Johann Valentin Andreae. Andreae ist heute vor allem als Autor der berüchtigten Rosenkreuzerschriften bekannt, die im 17. Jahrhundert unter den Gelehrten für Aufregung sorgten, und als Verfasser der reformprotestantischen Utopie Christianopolis. Die Schrift, auf die wir kurz eingehen möchten, trägt den Titel „Mora Philologica“, „Die philologische Verzögerung“. Es handelt sich um einen Dialog, in dem als Unterredner der junge Andreae und seine beiden Lehrer, David Magirus und Matthias Hafenreffer, auftreten. Vom Sprechgestus her handelt es sich um eine autobiographische Verteidigungsschrift, in der der Autor in Gestalt eines Lehrdialogs begründet, warum er mehr Zeit mit dem Studium auf der Artistenfakultät, näherhin mit dem Studium der Sprachen, der Mathematik und der Geschichtsforschung, zugebracht hat als eigentlich vorgesehen. Die dahingehende Sorge des jungen Eleven wird im Verlauf des Dialogs von den beiden Lehrern als unbegründet erwiesen. Der Eleve kommt zu den Lehrern mit einem Problem: Sein Umfeld verachtet seine Studien und erklärt sie für nutzlos, doch ihn treibt die Wissbegierde, was auch hier mit erkennbarem Pathos zum Ausdruck gebracht wird: „Sterben will ich lieber als unwissend bleiben.“8 Die Lehrer liefern als Lösung des Problems eine Studienanleitung in erbaulicher Form, in der für den Nutzen der Philologie, der Mathematik und der Historie für die Ausbildung eines guten Gelehrten und sogar eines guten Menschen wortreich argumentiert wird; die Kenntnis dieser Wissenschaften fördere so wichtige Fundamente aller weiteren Ausbildung wie Ausdrucksfähigkeit, Ordnung der Gedanken, Schönheit der Sprache, Urteilsfähigkeit und Erfahrung. In diesem Rahmen werden auch Ratschläge für ein anzustrebendes gelehrtes Ethos gegeben: „Der ist der beste Gelehrte, der immer lernt; und wer täglich entdeckt, was er nicht weiß, kommt am besten vorwärts.“9 Oder: „Langsamer nimmt die Leibesfrucht im Bauch Gestalt an als die Bildung bei ziemlich vielen.“10 Charakteristisch für Andreae ist dabei der Umstand, dass die Gelehrsamkeit stets eine christliche Gelehrsamkeit zu sein hat; ohne Frömmigkeit ist alle Gelehrsamkeit
|| 8 „[…] mori quàm nescire malo.“ Johann Valentin Andreae, Mora Philologica. Die philologische Verzögerung [1609], in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Wilhelm SchmidtBiggemann, Bd. 2: Nachrufe, Autobiographische Schriften, Cosmoxenus, bearbeitet, übersetzt und kommentiert von Frank Böhling u.a., Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 228–289, hier S. 234. 9 Ebd., S. 264: „Optimus ille doctor, qui semper discit; & qui quotidiè reperit, quod nesciat, plurimum proficit.“ 10 Ebd., S. 268: „Tardius in utero foetus formatur, quàm apud nonnullos eruditio.“
16 | Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase, Dirk Werle nichts: „Die Frömmigkeit macht aus einem Affen einen Menschen, die Wissenschaft aus einem Tölpel einen Affen.“11 Das Beispiel der Mora Philologica legt eine Vermutung nahe: Wissenschaftliches Ethos wird in der Regel nicht einfach so zum Thema. Im Falle des normalen Betriebs der Gelehrsamkeit beziehungsweise der Wissenschaft mag es vorhanden sein und sich im Handeln der Akteure zeigen, wenn der Beobachter richtig hinsieht. Damit es von historischen Akteuren explizit gemacht und thematisiert wird, bedarf es häufig einer Irritation in Gestalt der Infragestellung normaler wissenschaftlicher Praxis. Im Falle der Mora Philologica werden die autoritativen Leitfiguren der Lehrer, die das gelehrte Ethos zur Zerstreuung der Irritation vermitteln sollen, im Rahmen einer kongenialen Textsorte, des Lehrdialogs, inszeniert. Unser zweites Textbeispiel entstammt dem 20. Jahrhundert, aber ebenfalls dem disziplinären Zusammenhang von Mathematik und Philosophie: Im Jahr 1918 erschien das erste Buch eines 27jährigen Philosophen und Mathematikers, Edgar Zilsel, mit dem Titel Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal, mit einer historischen Begründung.12 In seiner Schrift wendet sich Zilsel gegen die in der Zeit verbreitete Vorstellung, große, historische, weltbewegende Leistungen auf allen gesellschaftlichen und kulturellen Gebieten, vor allem auch in der Wissenschaft, würden durch geniale Einzelne hervorgebracht, die von der Masse der Normalmenschen durch ihre absolute Selbständigkeit sowie durch Tiefe ihres Denkens und Handelns grundsätzlich verschieden seien. Zilsel entlarvt diese Vorstellung als dogmatisch, quasi-religiös und vor allem als massenpsychologisch begründet, als Suggestion. Gegenüber dieser Form der Genieverehrung entwickelt Zilsel eine Theorie des wissenschaftlichen Ethos. Tiefe sei, so Zilsel, ein irrationaler Begriff, der gegenüber Eigenschaften von Gedanken wie Wahrheit, Konsequenz, Allgemeinheit, Fruchtbarkeit, Originalität lediglich ein fragwürdiges Surplus in Gestalt einer Emotionalisierung und Subjektivierung des Denkens biete. Beim Konzept der genialen Tiefe handle es sich um ein nicht epistemisches, sondern ästhetisches Kriterium, das sich zudem nicht auf den Gedanken, sondern auf den Denker beziehe. Genieverehrung führe in die Skepsis, den Eklektizismus und den Feuilletonismus, alles Tendenzen, die Zilsel für rationale Wissenschaft ablehnt. Am in die Genieverehrung führenden modernen Persönlichkeitsideal
|| 11 Ebd., S. 258: „Pietas ex simia hominem, ars ex bruto simiam efficit.“ 12 Edgar Zilsel, Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal, mit einer historischen Begründung [1918], hrsg. und eingeleitet von Johann Dvořak, Frankfurt a.M. 1990.
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kritisiert Zilsel, es beruhe auf einem Pathos der Distanz, auf der Ehrfurcht der Masse vor der Würde des großen Einzelnen. Das Genie sei, so Zilsel, ein Mythos, geschaffen aus einem Bedürfnis nach Staunen und Ehrfurcht. Gelten lässt Zilsel zwei Aspekte des Genieideals: den ethischen Aspekt der „Lehre von der Ehrlichkeit und Unbeugsamkeit des Genies, die dieses vom Charlatan unterscheidet“,13 und den pädagogischen Aspekt, indem die Figur der großen Persönlichkeit eine stärker anfeuernde Wirkung auf junge Menschen ausübe als die „Wirkung der reinen Sache“.14 Dieser Hinweis deutet bereits die Richtung der kurzen, abschließenden pars construens von Zilsels Abhandlung an, die er der ausführlichen Kritik am Genieideal folgen lässt: Er setzt ihm das „Ideal der Sache“ entgegen, das Streben nach Objektivität, das sich nur auf Gegenstände, nicht auf Personen, nur auf Gedanken, nicht auf Denker beziehen kann.15 Gegen skeptische Zersetzung und metaphysische Dogmatik der Wissenschaft führt Zilsel Werte wie Wahrheit, Präzision und Rationalität ins Feld. Mit Zilsels Ausführungen verbunden ist eine Abwertung des Pathos gegenüber dem Ethos, die für das Selbstverständnis der Wissenschaft spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts konstitutiv zu sein scheint. Die unterschiedliche Bewertung der beiden Konzepte mag damit zusammenhängen, dass Ethos, gerade auch wissenschaftliches Ethos, im neuzeitlichen Verständnis nicht mehr wie bei Aristoteles vorrangig eine rhetorische Kategorie zu bezeichnen scheint, sondern eine moralische Haltung, die auf für bindend geltenden Werten und Normen beruht, deren Befolgung den guten Wissenschaftler ausmachen soll. Nebenbei gesagt, tritt methodisch gesehen seit dieser begriffsgeschichtlichen Verschiebung für Historiker und Theoretiker des Ethos das schwierige Problem auf den Plan, wie man eine außertextuelle Kategorie, nämlich eine bestimmte Haltung, in Texten nachweisen soll, denn mit Texten hat es die Wissenschaftsforschung ja in der Regel zu tun. Pathos dagegen gilt nach wie vor als rhetorische und damit als intratextuell leicht nachweisbare Kategorie, die auf das Hervorrufen von Emotionen abzielt und in dieser Hinsicht mit wissenschaftlichen Idealen wie Nüchternheit und Sachlichkeit nicht zusammenstimmt. Dieser sauberen Unterscheidung läuft aber eine Darstellung wie die Zilsels zuwider, wenn er seine gegen das Pathos der Genieverehrung gerichteten Ausführungen zu einem Ethos der Wissenschaft ganz pathetisch enden lässt: Die Philosophie kann nicht mehr als zeigen, daß jeder, der nur einmal einer Sache gedient und eine Wahrheit gesucht hat, den festen Halt für all sein Suchen schon gefunden hat, || 13 Ebd., S. 184. 14 Ebd., S. 188. 15 Ebd., S. 193–229.
18 | Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase, Dirk Werle wenn er nur Ernst machen und zu Ende denken wollte; sie kann beweisen, daß dieser schüchtern betretene Weg vor die reine und nackte Sache führen muß; und schließlich kann sie die Sicherheit verschaffen, daß die Hingabe an die Sache das einzige Glück bedeutet, das jeder erreichen und keiner verlieren kann, weil keine Tatsache diesem Glück und kein Gedanke dem Glauben an dieses Ideal etwas anhaben können. [Wir haben, d. Verf.] den Geniebegriff zu zerstören gesucht und uns auch mit Beispielen aus der Geschichte […] beholfen, nicht um zu verachten, zu verehren und zu schwärmen, sondern um zu lernen, um die Wahrheit zu suchen und uns nach ihr zu halten. Nichts anderes haben wir zu tun, denn höchstes Gut der Erdenkinder ist doch RECHT HABEN.16
Das Textbeispiel legt eine weitere Vermutung über das Verhältnis von Ethos und Pathos nahe, dass es sich nämlich um ein mehrfach asymmetrisches Verhältnis handelt: wissenschaftliches Ethos ist im Sprachgebrauch vieler Akteure positiv konnotiert, Pathos der Wissenschaft negativ; dabei wird aber auch das Ethos manchmal mit einem gewissen Pathos behauptet. Ethos wird zudem ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr so sehr als rhetorische, sondern vielmehr als moralische Kategorie gesehen, Pathos dagegen wird stets als rhetorisches Register verstanden, das sich mehr an die Emotionen als an die ratio wendet. Ethos als Haltung wird mithin im Unterschied zum Pathos als extratextuelle Kategorie gesehen – allerdings wird es im Falle der Geisteswissenschaften am Ende doch vor allem über Texte greifbar, weil man das möglicher Weise von Ethos geleitete Handeln des Gelehrten in der Regel nicht oder nur schwer beobachten kann. Wie lässt sich das Verhältnis von Ethos und Pathos systematisch rekonstruieren?
2. Wissenschaft erzeugt Wissen. Innerhalb dieses Prozesses sind es in erster Linie Wissenschaftler als Personen, die ‚gesicherte‘ Erkenntnisse formulieren und weitergeben, diskutieren und modifizieren, kanonisieren und verwerfen. In ihren kommunikativen Interaktionen spielen die auf spezifischen Regeln und Normen beruhenden Verfahren der Beglaubigung und Vermittlung von Geltungsansprüchen eine ebenso wichtige Rolle wie ihre Behauptung und Begründung: Die theoretisch angeleitete und methodisch regulierte Suche nach gerechtfertigter Erkenntnis wird durch Akteure vollzogen, die – aus durchaus unterschiedlichen Gründen – wissen wollen und neben Prozeduren und Techniken vor allem Einstellungen und Überzeugungen entwickeln, die (zumindest dem
|| 16 Ebd., S. 229.
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Anspruch nach) Universalismus, Uneigennützigkeit und „organisierten Skeptizismus“17 vereinigen. Wissenschaft erzeugt und realisiert sich zugleich in Institutionen, Praktiken und Formaten, in und mit denen Wissenschaftsakteure die von ihnen gewonnenen Erkenntnisse darstellen und plausibilisieren, um andere Akteure überzeugen zu können und mittels dieser kollektiven Akzeptanz auch symbolische und andere Gratifikationen gewinnen zu können. Wissenschaftler bilden schließlich Lebensformen aus, die mehr sind als nur Beschäftigungsverhältnisse an Einrichtungen wie Universität oder Akademie: In komplexen Prozessen der Unterweisung und Imitation vermittelt und eingeübt, verbindet der Beruf der Wissenschaft ein besonderes (zeitinvestives und enttäuschungsresistentes) Aufmerksamkeitsverhalten mit grundlegenden Werten, die das eigene Tun als richtig und sinnvoll erscheinen lassen. In allen diesen Prozessen übernehmen Ethos und Pathos zentrale, wenn auch häufig wenig sichtbare bzw. sogar invisibilisierte Funktionen. Überzeugungen und Werte begründen oder legitimieren das Handeln von Wissenschaftsakteuren, indem sie den – unter Umständen mit hohen Risiken verbundenen – Investitionen von Zeit und Aufmerksamkeit eine vorrationale bzw. nicht vollständig rationalisierbare Grundlage geben. Pathetische Redeweisen und Pathetisierungsstrategien können Theoriegebäude und Forschungsprogramme stärken oder schwächen, indem sie Untersuchungsgegenstände und methodische Umgangsformen rhetorisch auszeichnen oder unterminieren. Spezifizierte Individual- und Gruppennormen, die sich in unterschiedlicher Weise auf ethische Einstellungen beziehen und in ihrer performativen Gestalt durchaus auch die Lizenz zum Pathos in Anspruch nehmen können, leiten die Sozialisation nachwachsender Wissenschaftlergenerationen und tragen so zum Fortbestand von Wissenschaft bei. Wissenschaftliches Ethos und Pathos in der Wissenschaft treten in variierenden, historisch und kulturell konditionierten Figurationen auf. Und sie haben heterogene Beschreibungen und Stellungnahmen hervorgerufen. Nicht ohne Grund. Denn Berufungen auf personale Eigenschaften und ethische Einstellungen – ob vorgängiger Autoritäten oder aktuell handelnder Instanzen – stellen ebenso wie rhetorische Darstellungsstrategien und pathetische Redeweisen spezifische Überbrückungsleistungen dar, die den Zugang zu leitenden Idealen, Methoden und Theorien der Wissenschaft bzw. den Glauben an diese || 17 Nach Robert K. Merton, Die normative Struktur der Wissenschaft [1942], in: ders., Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Aufsätze zur Wissenschaftssoziologie, Frankfurt a.M. 1985 [Original 1973], S. 86–99, hier S. 99.
20 | Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase, Dirk Werle erleichtern und ihre bessere Vermittlung ermöglichen sollen. Als mehrfach dimensionierte Überbrückungsleistungen partizipieren wissenschaftliches Ethos und Pathos in der Wissenschaft am Erbe einer bereits in der Antike problematisierten Rhetorik, die angesichts nicht hinreichender bzw. unsicherer Beweismittel nach Möglichkeiten der Überzeugung sucht. Die rhetorische Herkunft pathetischer Rede hat denn auch zu entsprechender Skepsis – etwa gegenüber ‚hohlem Pathos‘ als Element eines abusus rhetorischer Mittel – geführt und die sachlich-schmucklose Rede der Wissenschaft privilegiert; gleichwohl dokumentieren genauere wissenschaftshistorische Observationen eine kaum zu übersehende Diskrepanz zwischen postulierter pathosfreier Klarheit und tatsächlich rhetorischer Verfasstheit. Auch die verschiedenen Ausprägungen eines wissenschaftlichen Ethos schließen an bereits seit der Antike implizit entwickelte Habitusformen an, die historisch divergierende Ausgestaltungen und heterogene Bewertungen erfahren haben. Trotz der eminenten Bedeutung dieser grundlegenden Elemente wissenschaftlicher Kommunikation sind Ethos und Pathos erst in Ansätzen zum Gegenstand umfassender systematischer und historischer Sondierungen geworden. Im Rahmen des vorliegenden Bandes sollen diese Phänomene in drei Hinsichten intensiver erkundet werden: mit Blick auf ihre Theorie, mit Blick auf ihre Geschichte und mit Blick auf ihre Darstellungsform. Insofern ist eine interdisziplinäre Perspektive leitend, innerhalb deren Wissenschaftstheorie und -soziologie, Wissenschaftsgeschichte und Literaturforschung zusammengeführt werden. Fragen der Wissenschaftsethik im engeren Sinne sollen dabei ausgespart werden, insofern sie primär normative Aspekte vornehmlich des wissenschaftlichen Ethos in den Blick nehmen, die als „verhältnismäßig unproblematisch“ und daher „theoretisch unkontrovers“ gelten.18 Auch geht es nicht darum, Ethos und Pathos global als „kulturwissenschaftliche Grundbegriffe“19 zu verstehen, sondern die beiden Konzepte in ihrer Bedeutung für ein spezifisches Feld der kulturellen Bedeutungsproduktion zu untersuchen. Wissenschaftliches Ethos und Pathos der Wissenschaft sollen dabei aus der Perspektive der Wissenschaftsforschung als Gegenstände, aus der Perspektive der Literaturforschung als Diskurselemente sowie als rhetorische Verfahren untersucht werden. Ziel ist es, die konstitutiven Bedingungen wissenschaftlicher Kommunikationen und Praktiken aufzuklären, in denen neben sachbezogen|| 18 Paul Hoyningen-Huene, Zur Rationalität der Wissenschaftsethik, in: Gottfried Magerl und Heinrich Schmidinger (Hrsg.), Ethos und Integrität der Wissenschaft, Wien u.a. 2009, S. 11–29, hier S. 12 und 14. 19 Kathrin Busch und Iris Därmann (Hrsg.), „pathos“. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs, Bielefeld 2007.
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rationalen Argumentationen auch personale Faktoren und rhetorische Strategien Bedeutung für die Durchsetzung von Geltungsansprüchen gewinnen können. Die Beiträge des vorliegenden Bandes konzentrieren sich in ihren historischen Explorationen weitgehend auf die Bedeutung von Ethos und Pathos auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften. Der genauere Blick auf andere Disziplinengruppen würde vermutlich zeigen, dass hier spezifisch unterschiedliche Funktions- und Kommunikationsformen der beiden Konzepte festzustellen sind. Eine Erweiterung der Untersuchungsperspektive über das Gebiet der Geisteswissenschaften hinaus muss jedoch zukünftigen Forschungen vorbehalten bleiben. Die weitgehende Konzentration auf das Feld der Geisteswissenschaften legt auch eine zeitliche Begrenzung des Bandes auf die Makroepoche seit etwa 1750 nahe, mit einem Schwerpunkt auf dem 19. sowie dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, der Periode nämlich, in der sich die Geisteswissenschaften aus dem Bereich vormoderner Gelehrsamkeit herausbildeten und konstituierten.
3. Für systematische und historische Rekonstruktionen des wissenschaftlichen Ethos und des Pathos in den Geisteswissenschaften erweisen sich segmentierende Schritte als hilfreich. Zum einen sind die in der antiken Rhetorik verwurzelten Konzepte Ethos, Pathos und Logos zu separieren und gesondert zu rekonstruieren. Zum anderen sind die Zusammenhänge von Ethos und Pathos mit anderen Formen der ‚Absicherung‘ wissenschaftlichen Handelns, etwa disziplinären Standards oder sozialen Verfahren der Selbstbindung von Akteuren,20 zu korrelieren. Zuvor ist allerdings ein Blick auf die Herkunft der Begriffe geboten, die als Überzeugungsmittel eines kommunikativen Verständigungshandelns angesichts vervielfältigter Geltungsansprüche konzeptualisiert wurden und unterschiedliche Karriere machten. Die Begriffe Ethos und Pathos entstammen der antiken Rhetorik. Als Konzepte tauchen sie, wie bereits angedeutet, zuerst prominent in der Rhetorik des Aristoteles auf und bezeichnen dort neben dem Sachbezug (πράγματα) die
|| 20 Vgl. zu Letzterem Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt, Grenzen des Pluralismus, Wissenschaft, Selbstbindung, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 36 (1992), S. 386–390.
22 | Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase, Dirk Werle hauptsächlichen Mittel zur Überzeugung des Hörers.21 Im rhetorischen Zusammenhang erscheinen Ethos und Pathos als Konzepte, die auf derselben gedanklichen Ebene angesiedelt sind. Zum einen werden sie im Sinne einer Gradation gebraucht: Ethos als Mittel maßvollen Überzeugens, des docere; Pathos als rhetorisches Register, das im Dienste des Ausdrucks des Erhabenen die Emotionen, das movere anspricht. Zum anderen erscheinen sie in (wertenden) Oppositionen: Ethos als Redeweise, die sich im Bereich des rechten Maßes bewegt, Pathos als Überschreitung des rechten Maßes. Die römischen Systematiker der Rhetorik Cicero und Quintilian behalten diese Differenzierungen bei: Sie unterscheiden zwischen vehementen, momentan überwältigenden Effekten der Rede und moderaten, das Wohlwollen ansprechenden Wirkungen.22 Im gegenwärtigen Sprachgebrauch werden Ethos und Pathos verschiedenen Bereichen sozialer Kommunikation zugeordnet: ‚Ethos‘ ist etwas im Sprecher, das in seiner Rede zum Ausdruck kommen kann, aber in erster Linie zu seiner Persönlichkeit gehört und die Überzeugungskraft seines Auftritts aus persönlicher Integrität ableitet. Pathos erscheint – wenngleich in zweiter Linie ebenfalls auf die leidenschaftliche Beteiligung des Redners zurückzuführen23 – vor allem als eine Eigenschaft der Rede, die sie als einen (emotionalen) Appell auf das Publikum ausrichtet und den Rezipienten affizieren kann. Daraus ergibt sich ein Verständnis von Pathos als Darstellungsstrategie und Affekt – was nicht zuletzt auf Systematisierungen der Pathos-Lehre innerhalb der Topik zurückgeht, in denen im Anschluss an Cicero und Quintilian den elf oder zwölf loci affectuum jene argumenta pathetica zugeordnet wurden, zwischen denen der Redner im Hinblick auf die Verfassung der Adressaten, auf den Redegegenstand und den Anlass seiner Rede auswählen musste. Wesentlicher Bestandteil ist dabei eine bereits von Aristoteles und den römischen Rhetorikern konzipier-
|| 21 Vgl. zum Folgenden Christopher Gill, The Ethos/Pathos Distinction in Rhetorical and Literary Criticism, in: Classical Quarterly 34 (1984), S. 149–166; John M. Cooper, EthicalPolitical Theory in Aristotle’s Rhetoric, in: David J. Furley und Alexander Nehamas (Hrsg.), Aristotle’s Rhetoric. Philosophical Essays, Princeton 1994, S. 193–210; F. H. Robling u.a.: Ethos [Art.], in: HWbRh 2 (1994), Sp. 1516–1543; Gert Ueding, Rhetorica movet – zur rhetorischen Genealogie des Pathos, in: Norbert Bolz (Hrsg.), Das Pathos der Deutschen, München 1996, S. 27–38; Martin Gessmann, Pathos/ pathetisch [Art.], in: ÄGB 4 (2002), S. 724–739; Günter Butzer und Joachim Jacob, Pathos [Art.], in: RLW 3 (2003), S. 38–40; Ulrich Port, Pathos [Art.], in: Dieter Burdorf u.a. (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur. Begriff und Definitionen, 3., völlig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart und Weimar 2007, S. 575. 22 Cic. Orat. 128; De orat. 2, 186f.; Quint. Inst. orat. 6, 2, 8; 6, 2, 20. 23 Vgl. Erich Auerbach, Passio als Leidenschaft, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern und München 1967, S. 161–175.
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te Psychologie der Selbstaufreizung, nach der ein Sprecher sich selbst von jenen Affekten ergreifen lassen muss, die er in anderen hervorrufen will.24 Diese in der Antike formulierten Grundlagen der Konzepte ‚Ethos‘ und ‚Pathos‘ sind für Rekonstruktionen wissenschaftlichen Handelns aus mehreren Gründen bedeutsam. Zum einen instruieren die Regelsysteme der Rhetorik die Abfassung überzeugender Äußerungen auch in epistemischen Zusammenhängen. Sie stellen damit bis in die Moderne wirksame Modelle der Textproduktion und der Textanalyse bereit, die auch die Ethos- und Pathosformeln der Wissenschaft dirigieren. Zum anderen können die Regelsysteme der Rhetorik als Paradigmen der sprachlich-kulturellen Sozialisation im Allgemeinen und der Formatierung wissenschaftlichen Handelns im Speziellen verstanden werden; sie gewinnen damit fundamentale Bedeutung für jede Reflexion der mehrfach dimensionierten Verhältnisse von ‚epistemischen Dingen‘ zu den Formen, in denen sie erscheinen und in Wirkung treten. Die seit den 1980er Jahren intensiv betriebenen Explorationen zur Rhetorik der Wissenschaft haben auf diese besonderen Eigenschaften epistemischen Handelns aufmerksam gemacht; wobei vor allem die spezifischen Funktionen und Leistungen figurativer Darstellungsverfahren und übertragener Rede im Mittelpunkt standen.25 An diese Studien anschließend sollen im vorliegenden Band die bislang weniger beachteten Phänomene des wissenschaftlichen Ethos und des Pathos in der Wissenschaft in ihren historischen Dimensionen und Wechselbeziehungen untersucht werden.
4. Erste Reflexionen zu Eigenschaften, Einstellungen und handlungsleitenden Überzeugungen epistemischer Akteure finden sich bereits in der Antike (so in Platons Dialogen Sophistes und Politeia sowie in Aristoteles’ Metaphysik) und in der frühen Neuzeit. Diese Reflexionen gewinnen einen veränderten Status, als sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert jene Prozesse verdichten, die zur Ausbildung moderner Wissenskulturen im Rahmen modernisierter Universi|| 24 Arist. Poet. 1455a; Cic. De orat. 2, 185ff.; Quint. Inst. orat. 6, 2, 27ff. 25 Vgl. Lutz Danneberg u.a. (Hrsg.), Metapher und Innovation. Die Rolle der Metapher im Wandel von Sprache und Wissenschaft, Bern u.a. 1995; Ralf Klausnitzer, Inventio/Elocutio. Metaphorische Rede und die Formierung wissenschaftlichen Wissens, in: Jürgen Fohrmann (Hrsg.), Rhetorik. Figuration und Performanz, Stuttgart und Weimar 2004, S. 81–130; Lutz Danneberg u.a. (Hrsg.), Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte, Wiesbaden 2009.
24 | Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase, Dirk Werle täten führen und den wissenschaftlich forschenden Universitätslehrer modellieren (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, 1803; Johann Gottlieb Fichte: Deducirter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt, 1807; Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn, 1808; Wilhelm von Humboldt: Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, 1809/10). In den 1910er und 1920er Jahren werden erste wichtige Untersuchungen zu sozialen Normen und ideellen Einstellungen von Wissenschaftsakteuren unternommen (Max Weber: Wissenschaft als Beruf, 1919; Karl Mannheim: Wissenssoziologie, hrsg. von K. H. Wolff, 1964). Gleichwohl kann Robert K. Merton als der wohl erste prominente Theoretiker des wissenschaftlichen Ethos gelten. In dezidierter Abgrenzung von partikularistischen Wissenschaftskonzeptionen (wie sie etwa im Rahmen nationalsozialistischer Wissenschaftsprogrammatik projektiert wurden) charakterisiert er das wissenschaftliche Ethos als Verpflichtung von Wissenschaftlern auf die Standards des Universalismus (Wahrheitsansprüche werden vorab aufgestellten, unpersönlichen Kriterien unterworfen), des „Kommunismus“ (wissenschaftlich erzeugte Wissensansprüche sind öffentliches Eigentum), der Uneigennützigkeit und des „organisierten Skeptizismus“.26 Bemerkenswert ist das bereits bei Merton zu beobachtende Schwanken zwischen deskriptiver und normativer Rede: Weitenteils nimmt Merton lediglich in Anspruch, das wissenschaftliche Ethos soziologisch zu beschreiben; an einigen Stellen wird aber deutlich, dass diese Beschreibung im Dienste einer Verpflichtung der Wissenschaftler auf ein wissenschaftliches Ethos steht. Wie man wissenschaftliches Ethos auch konzeptualisieren mag: Der Begriff impliziert die Präsenz eines mehr oder weniger sprachgestützten Subjekts, dem eine epistemische Haltung zugeschrieben werden kann. Das Ethos eines Wis|| 26 Merton, Die normative Struktur der Wissenschaft. Zur wissenschaftshistorischen Kontextualisierung von Mertons epochalem Aufsatz vgl. den Beitrag von Cornelis Menke in diesem Band. Des Weiteren Nico Stehr, The Ethos of Science Revisited, in: Jerry Gaston (Hrsg.), Sociology of Science, San Francisco u.a. 1978, S. 172–196 sowie Nico Stehr und Volker Meja, The sociology of knowledge and the ethos of science, in: Eileen Leonard u.a. (Hrsg.), In Search of Community: Essays in Memory of Werner Stark, 1909–1985, New York 1992, S. 65–83; zum Konzept des Universalismus differenzierend Lutz Danneberg und Jörg Schönert, Zur Transnationalität und Internationalisierung von Wissenschaft, in: L. D. u.a. (Hrsg.), Wie international ist die Literaturwissenschaft? Methoden- und Theoriediskussion in den Literaturwissenschaften: kulturelle Besonderheiten und interkultureller Austausch am Beispiel des Interpretationsproblems (1950–1990), Stuttgart und Weimar 1996, S. 7–85; zu Mertons Abgrenzung von nationalsozialistischer Wissenschaft vgl. David A. Hollinger, The Defense of Democracy and Robert K. Merton’s Formulation of the Scientific Ethos, in: Knowledge and Society 4 (1983), S. 1–15.
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senschaftlers manifestiert sich nicht nur in face-to-face-Kommunikationen,27 sondern auch und vor allem in den schriftlichen Darstellungsformen wissenschaftlicher Texte. In den Arbeiten zur rhetoric of science wurde lange darauf bestanden, dass wissenschaftliche Texte unpersönliche Texte seien. In der linguistischen Forschung wurde im Hinblick auf wissenschaftliche Texte häufig ein ‚Ich-Verbot‘ bzw. ‚Ich-Tabu‘ diskutiert.28 Jüngere Studien wenden sich ausdrücklich gegen die Auffassung, dass wissenschaftliche Texte ihre Wissenschaftlichkeit „durch eine ‚fehlende Präsenz des Autors‘ und durch Formulierungsstrategien der expertenschaftlichen ‚Anonymisierung‘ indizieren“.29 Auch für wissenschaftliche Texte lasse sich ein Autor-Ethos bzw. „ein ‚Bild‘ des Autors“ nachweisen;30 selbst dort, wo im wissenschaftlichen Text nicht ‚ich‘ gesagt werde, etabliere sich ein „textual self“31 bzw. eine „persona“,32 die unter anderem als ‚Garant‘ der epistemischen Güte eines Wissensanspruchs diene. Dieses dargestellte Ethos weise sowohl institutionelle bzw. diskursspezifische als auch individuelle bzw. personenspezifische Aspekte auf. Die Frage nach dem disziplinspezifischen Charakter des dargestellten Ethos oder nach der historischen Transformation der Darstellungsformen von Ethos verdient gesonderte Beachtung,33 steht doch zu vermuten, dass der Wechsel der Muster wissenschaftlicher Autorschaft (beispielsweise vom ‚Gelehrten‘ zum ‚Wissenschaftler‘), der Wandel der Autoritätsquellen wissenschaftlichen Wissens und die Veränderung wissenschaftlicher Textgattungen bzw. der wissenschaftlichen ‚Informationskultur‘ auch Transformationen des wissenschaftlichen Ethos und der Darstellung dieses Ethos in schriftlichen Zeugnissen mit sich bringen. Jenseits der bis in die Gegenwart häufigen Fokussierung auf deiktische Markierungen (z.B. die Verwendung des Personalpronomens ‚Ich‘) ist hier auf die Vielfalt der sprachlichen Mittel zu achten, die an der Konstruktion des Ethos in seinen unterschiedlichen Manifestationsgraden beteiligt sind. Eine || 27 Vgl. etwa William Clark, On the Professorial Voice, in: Science in Context 16 (2003), S. 43– 57. 28 Vgl. Torsten Steinhoff, Zum ich-Gebrauch in Wissenschaftstexten, in: Zeitschrift für germanistische Linguistik 35 (2007), S. 1–26. 29 Felix Steiner, Dargestellte Autorschaft. Autorkonzept und Autorsubjekt in wissenschaftlichen Texten, Tübingen 2009, S. 180. 30 Ebd., S. 64. 31 Erving Goffman, Der Vortrag [The Lecture, 1981], Fachgebiet Allgemeine Soziologie und Theorie moderner Gesellschaften, Institut für Soziologie, Technische Universität Berlin 2005. 32 Charles Bazerman, Shaping Written Knowledge. The Genre and Activity of the Experimental Article in Science, Madison 1988. 33 Anschließend an Lutz Danneberg und Jürg Niederhauser (Hrsg.), Darstellungsformen der Wissenschaften im Kontrast. Aspekte der Methodik, Theorie und Empirie, Tübingen 1998.
26 | Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase, Dirk Werle ‚dichte‘ historische Beschreibung von Verschiebungen des wissenschaftlichen Ethos dürfte auch Aufschlüsse über weiterreichende Veränderungen im Wissenschaftssystem einer Epoche geben. Zudem ist damit zu rechnen, dass institutionelle Transformationen der Wissenschaften sich auf das Ethos bzw. auf die Ethoserwartungen des Wissenschaftlers auswirken. In seiner Monographie The Scientific Life. A Moral History of a Late Modern Vocation hat Steven Shapin versucht, eine Ethosgeschichte der modernen Wissenschaften von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart zu schreiben. Vor allem anhand einer umfassenden Rekonstruktion der Debatten in den 50er bis 80er Jahren des 20. Jahrhunderts über Nutzen und Nachteil von ‚big science‘, die häufig in den breiten Kalter-Krieg-Diskurs über (heroischen) Individualismus und (Team-work-)Kollektivismus eingebettet waren, kann Shapin zeigen, wie sich wissenschaftliche Organisationsformen und Ethoserwartungen an Wissenschaftler verschränken (zur wechselnden Bewertung kooperativer Praxis am Beispiel der Literaturwissenschaft vgl. den Beitrag von Jörg Schönert in diesem Band). Die bereits von Max Weber aufgeworfene Frage, wie sich die Betriebsförmigkeit der Wissenschaft auf das Wissenschaftsethos auswirke, gewinnt angesichts von Großforschungsvorhaben an Dramatik: Es kommen Fragen danach auf, ob sich das Ethos des Wissenschaftlers in der Ära von ‚big science‘ unvermeidlich ändere; ob der Wissenschaftler als austauschbarer Massenwissenschaftler (nur noch) ein normaler Mensch sei, der (nur noch) einem normalen ‚Job‘ nachgehe und dabei keine nennenswerte ‚moralische‘ Größe (mehr) zeigen müsse; ob mit der ‚Normalisierung‘ des Wissenschaftlers, so die Befürchtung, auch seine Ent-Moralisierung einhergehe, der ‚Beruf‘ („calling“) zu einem ‚Job‘ im ‚Wahrheitsunternehmen‘ („truth business“) verkomme.34 Weitere zentrale Fragen betreffen die Funktionen von dargestelltem wissenschaftlichem Ethos. Ausgehen kann man von Ergebnissen der Wissenschaftsforschung, nach denen wissenschaftliches Ethos weniger produktive als vielmehr repräsentative und legitimierende Funktionen erfüllt.35 Vor diesem Hintergrund ist vor allem die textuelle Darstellung von epistemischen Tugenden (wie ‚Zuverlässigkeit‘ oder ‚Genauigkeit‘) zu nennen: Der Glaube daran, dass das Gegenüber, das uns von bestimmten Wissensansprüchen überzeugen will, bestimmte epistemische Tugenden besitzt, scheint die Überzeugungskraft der || 34 Steven Shapin, The Scientific Life. A moral history of a late modern vocation, Chicago 2009. 35 Zusammenfassend Helmut F. Spinner, Das ‚wissenschaftliche Ethos‘ als Sonderethik des Wissens. Über das Zusammenwirken von Wissenschaft und Journalismus im gesellschaftlichen Problemlösungsprozeß, Tübingen 1985, S. 50–56.
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Wissensansprüche zu stützen. Wie das rhetorische Ethos auf eine personale Verankerung jeder Rede verweist, so verweist das wissenschaftliche Ethos auf die personale Verankerung jedes Wissensanspruchs (wobei die ‚Person‘ nicht ein privates Individuum sein muss, sondern eine institutionelle ‚Rolle‘ sein kann). Das Problem der personalen Verankerung von Wissen ist in jüngerer Zeit auch wieder zunehmend aus wissenschaftstheoretischer Richtung analysiert worden, vor allem im Rahmen der Debatten um eine soziale Erkenntnistheorie, die sich mit Phänomenen wie Zeugenschaft, Vertrauen, Glaubwürdigkeit, Autorität oder auch Reputation befasst. In allen diesen Fällen sind epistemische Kommunikationssituationen angesprochen, in denen gerade nicht von der personalen Verankerung des Wissens abgesehen werden kann. Ob ein Wissensanspruch plausibel ist oder nicht, lässt sich in Situationen epistemischer Abhängigkeit36 nicht entscheiden, ohne dass man sich ein genaueres Bild vom Ethos der Person macht, die diese Wissensansprüche vertritt. Eine Bearbeitung dieser Fragen kann auf die regen Forschungsdebatten der im Bereich der Diskurslinguistik angesiedelten Ethostheorie,37 die seit längerem die textuelle Konstruktion wissenschaftlicher Ethosformen untersucht, ebenso zurückgreifen wie auf das im Feld der Erzähltheorie diskutierte Konzept des „implied author“,38 auf Studien über das textuelle „self-fashioning“ von Wissenschaftlern,39 auf neuere wissenschaftshistorische Beiträge zur textuellen Konstruktion der wissenschaftlichen „persona“40 und des wissenschaftlichen „Ethos“41 oder auf jüngere Arbeiten zur Geschichte wissenschaftlicher Autorschaft.42
|| 36 Vgl. dazu John Hardwig, Epistemic Dependence, in: The Journal of Philosophy 82 (1985), S. 335–349. 37 Vgl. Ruth Amossy (Hrsg.), Images de soi dans le discours. La construction de l’ethos, Lausanne 1999; Dominique Maingueneau, Das Ethos in der Diskursanalyse: die Einverleibung des Subjekts, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 26 (1996), S. 114–134; ders., Problèmes d’ethos, in: Pratiques 113/114 (2002), S. 55–67. 38 Vgl. Tom Kindt und Hans-Harald Müller, The Implied Author. Concept and Controversy, Berlin und New York 2006 (Narratologia 9). 39 Vgl. Mario Biagioli, Galileo, Courtier: The Practice of Science in the Culture of Absolutism, Chicago 1993. 40 Vgl. Roger D. Cherry: Ethos Versus Persona. Self-Representation in Written Discourse, in: Written Communication 5 (1988), S. 251–276; Lorraine Daston und H. Otto Sibum (Hrsg.), Scientific Personae and Their Histories, Themenheft von: Science in Context 16 (2003), H. 1/2. 41 Vgl. Judy Segal und Alan Richardson, Introduction Scientific Ethos: Authority, Authorship, and Trust in the Sciences, in: Configurations 11 (2003), S. 137–144. 42 Vgl. Mario Biagioli und Peter Galison (Hrsg.), Scientific Authorship. Credit and Intellectual Property in Science, New York 2002.
28 | Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase, Dirk Werle Mit Blick auf die textuellen Manifestationsformen des wissenschaftlichen Ethos werden zentrale Schwierigkeiten der Bestimmung des Konzepts sichtbar: Ethos sei, so die auch unter Wissenschaftlern verbreitete Ansicht, eine Sache des Charakters einer Person. Insofern der Charakter nur insofern relevant ist, als er von anderen wahrgenommen wird, ist zwischen ‚echtem‘ Charakter und bloß ‚scheinhaftem‘ Image als Teil eines sozialen Imaginären phänomenologisch nicht zu unterscheiden. Insofern ist es verständlich, dass bei Versuchen, Ethos als wissenschaftssoziologische oder auch -historische Beschreibungskategorie zu installieren, bisweilen ‚Ethos‘ und ‚Image‘ oder auch ‚Persona‘ mehr oder weniger synonym verwendet worden sind. Terminologische Unterscheidung ist hier angebracht: Ethos bezeichnet eine Haltung, die zunächst noch unabhängig von ihrer Rezeption durch andere gedacht wird; ein Image ist das Bild einer Person gegenüber anderen, das zunächst unabhängig von einer etwa dahinter stehenden Haltung verstanden wird. Insofern ist Ethos auch von Autorität zu unterscheiden, die ebenfalls in der Interaktion mit anderen zustande kommt. Ruth Amossy unterscheidet zwischen „prior ethos“ und „discursive ethos“; mit Ersterem meint sie die (institutionelle) Autorität einer Person, mit Letzterem das in einer Kommunikationssituation aufgebaute Image.43 An diese und ähnliche Unterscheidungen ist zum Zweck terminologischer Differenzierung anzuschließen. Jenseits der textuellen Darstellung eines Ethos stellt sich zudem die Frage, welche Rolle die Etablierung eines Ethos als epistemischer Haltung für die Stabilisierung, aber auch für die Etablierung wissenschaftlicher Objektbereiche bzw. akademischer Disziplinen spielt. Die Ausdifferenzierung akademischer Disziplinen geht immer auch mit der Ausbildung eines disziplinspezifischen Ethos einher. Spezifische kommunikative Protokolle der Konstruktion von Vertrauenswürdigkeit bzw. Zuverlässigkeit,44 die sich zum Beispiel in Formen der Belegwürdigung (Ethos der „Genauigkeit“, nach Wilfried Barner), Praktiken der Datenverarbeitung (Ethos des „Archivs“)45 oder in Kompetenzen der epistemischen Modalisierung von Wissensansprüchen (z.B. wenn dargestellte epistemische Unsicherheit als Indikator für Vorsicht verstanden und deshalb als || 43 Ruth Amossy, Ethos at the Crossroads of Disciplines: Rhetoric, Pragmatics, Sociology, in: Poetics Today 22 (2001), S. 1–23. Vgl. auch den Beitrag von Ruth Amossy in diesem Band. 44 Vgl. Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 1968; Paul Hoyningen-Huene, Vertrauen, in: Mihai Nadin (Hrsg.), Trust. Das Prinzip Vertrauen, Heidelberg 2001, S. 71–81. 45 Lorraine Daston, Die unerschütterliche Praxis, in: Rainer Maria Kiesow und Dieter Simon (Hrsg.), Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Zum Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 13–25.
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Zuverlässigkeit des Autors interpretiert wird)46 ausdrücken, weisen die Zugehörigkeit einer Person zu einer ‚Expertengruppe‘ oder einer ‚Disziplin‘ aus (vgl. zum Ethos des Philologen als intellektuellen Experten den Beitrag von Denis Thouard in diesem Band). In der Geschichte der deutschen Philologie ist es etwa die immer wieder beschworene „genaue critische Sorgfalt“,47 die einer anfänglich kleinen Gruppe von Gelehrten – ihr Kern besteht zunächst nur aus Georg Friedrich Benecke, dessen Schüler Karl Lachmann und den mit ihnen befreundeten Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm) – zur Abgrenzung von anderen, in der Zeit nach 1800 ebenso möglichen Textumgangsformen dient.48 Dass das Ethos ein fester Bestandteil der „moralischen Ökonomie“ der Disziplinen ist,49 lässt sich auch daran erkennen, dass das Vertreten von falschen Wissensansprüchen durchaus mit der Zugehörigkeit zu einer Disziplin vereinbar ist, Verfehlungen im Bereich des Ethos diese Zugehörigkeit dagegen schnell problematisch erscheinen lassen können: Hier scheint Ethoskonformität bzw. Habituskonformität für die disziplinäre Integration eine zentrale, bisher aber häufig unterschätzte Rolle zu spielen.50 Wie genau die ethosbasierte Zugehörigkeit zu einer Disziplin erworben wird, lässt sich allerdings nicht einfach beantworten. Da es sich beim Ethoswissen im Normalfall nicht um ein explizites (propositionales) Wissen handelt, sondern um ein ‚tacit knowing‘ im Sinne Michael Polanyis,51 und da dieses ‚implizite‘ Wissen auch im Rahmen der Enkulturation in Disziplinen weniger durch direkte Wissensvermittlung als durch Imitation und Übung erworben wird, lässt sich das wissenschaftliche Ethos gemeinhin nicht einfach identifizie-
|| 46 Vgl. Steiner, Dargestellte Autorschaft. 47 Georg Friedrich Benecke, Beyträge zur Kenntniss der altdeutschen Sprache und Litteratur, Erster Band, Göttingen 1810, S. X. 48 Vgl. zum in diesem historischen Zusammenhang konzipierten Ethos des Fehlermachens den Beitrag von Steffen Martus in diesem Band. Zum weiteren Verlauf der Fachgeschichte der Germanistik vgl. Rainer Kolk, Wahrheit – Methode – Charakter. Zur wissenschaftlichen Ethik der Germanistik im 19. Jahrhundert, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 14 (1989), H. 1, S. 50–73; zum Ethos in der Philologie des 19. Jahrhunderts Lutz Danneberg, Dissens, ad-personam-Invektive und wissenschaftliches Ethos in der Philologie des 19. Jahrhunderts: Wilamowitz-Moellendorff contra Nietzsche, in: Ralf Klausnitzer und Carlos Spoerhase (Hrsg.), Kontroversen in der Literaturtheorie/Literaturtheorie in der Kontroverse, Bern 2007, S. 93–147. 49 Lorraine Daston, The Moral Economy of Science, in: Osiris 10 (1995), S. 3–24. 50 Vgl. aber Pierre Bourdieu, Homo academicus [1984], Frankfurt a.M. 1988; für die Germanistik auch Rainer Rosenberg, Die deutschen Germanisten. Ein Versuch über den Habitus, Bielefeld 2009. 51 Michael Polanyi, Implizites Wissen [1966], Frankfurt a.M. 1985.
30 | Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase, Dirk Werle ren und der entsprechende Lernvorgang nur mit großen Schwierigkeiten (retrospektiv) explizieren. Die Fragen, ob die indirekte Vermittlung von disziplinärem Ethos auf charismatische Lehrerpersönlichkeiten oder, mit weiterem Wirkungsradius, auf akademische „Kultfiguren“ angewiesen ist,52 oder ob sie von spezifischen, Imitation und Übung fördernden Lehrformen abhängig ist,53 sind hier ebenso zu stellen wie die Frage nach der Funktion von Schulzusammenhängen,54 die einen übergreifenden Wissenschaftsstil prägen,55 der Handlungsmuster, Wahrnehmungsmuster und Akteurmodelle tradiert und diese mit einem übergreifenden Ethos verknüpft. Auch im Rahmen der wissenschaftlichen Forschung übernehmen Formen des Ethos wichtige Funktionen. Zweifellos verfügen Wissenschaftler meist über ein klar konturiertes Leitideal (Wahrheit), über ein Set von Regeln, wie man es erreichen kann (Methode), sowie über eine Reihe allgemeiner Annahmen, wie Weg und Ziel aussehen könnten (Theorie). Gleichwohl ist es eine verbreitete Erfahrung von Wissenschaftlern, die auch durch die Ergebnisse der Wissenschaftstheorie der letzten Jahrzehnte gestützt wird, dass der Methodologisierung und Theoretisierung der Forschung Grenzen gesetzt sind. Unterschiedliche Ausdrücke wie ‚Takt‘, ‚Gefühl‘, ‚Urteilskraft‘ oder auch ‚Ton‘ verweisen darauf, dass das angemessene Verhalten innerhalb von Disziplinen stets eine Ethoskomponente aufweist, die sich nicht auf Methoden und Theorien reduzieren || 52 Vgl. Vasilios N. Makrides, Akademische Irrationalismen? Kulte um Personen in wissenschaftlich-akademischen Kreisen, in: Alf Lüdtke und Reiner Prass (Hrsg.), Gelehrtenleben. Wissenschaftspraxis in der Neuzeit, Köln u.a. 2008, S. 261–278. 53 Vgl. Otto Kruse, The Origins of Writing in the Disciplines. Traditions of Seminar Writing and the Humboldtian Ideal of the Research University, in: Written Communication 23 (2006), S. 331–352. 54 Vgl. Ralf Klausnitzer, „Denkkollektiv“ oder „Klüngelsystem“? Schulen und Schulenbildung in den textinterpretierenden Disziplinen und die Entstehung, Durchsetzung, Verhinderung von Innovationen, in: Hartmut Kugler (Hrsg.), http://www.germanistik2001.de/. Vorträge des Erlanger Germanistentags, Bd. 2, Bielefeld 2002, S. 991–1015; ders., Wissenschaftliche Schule. Systematische Überlegungen und historische Recherchen zu einem nicht unproblematischen Begriff, in: Lutz Danneberg u.a. (Hrsg.), Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion (I), Frankfurt a.M. 2005, S. 31–64. 55 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv [1935], Frankfurt a.M. 1980; dazu Dirk Werle, Stil, Denkstil, Wissenschaftsstil. Vorschläge zur Bestimmung und Verwendung eines Begriffs in der Wissenschaftsgeschichte der Geistes- und Kulturwissenschaften, in: Lutz Danneberg u.a. (Hrsg.), Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion (I), Frankfurt a.M. 2005, S. 3–30; als historische Fallstudie Steven Shapin und Simon Schaffer, Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle, and the experimental life, Princeton 1985.
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lässt.56 Dass das disziplinäre Ethos nicht restlos in der expliziten Thematisierung methodologischer Regularien oder theoretischer Bestimmungen aufgeht, bedeutet aber nicht, dass das spezifische Ethos einer Disziplin nicht thematisierbar wäre. Hier stellt sich die Frage, in welchen Textgattungen und in welchen kommunikativen Konstellationen Ethos thematisiert wird. Es gibt Hinweise, dass Ethosfragen vor allem in fachlichen Konfliktsituationen aufgeworfen und problematisiert werden.57 Das zum Teil vollmundig beschworene (und etwa zur Begründung ‚guter wissenschaftlicher Praxis‘ in Anspruch genommene) wissenschaftliche Ethos hat auch eine Kehrseite: Es ist die immer wieder artikulierte Beobachtung, dass die wissenschaftliche Realität dem angestrebten Ideal nicht entspreche. Das soziale System Wissenschaft werde primär gesteuert durch Streben nach Reputation und Gratifikation nach Maßgabe eines bereits bestehenden Rufs und Status, nicht nach Leistung oder gar Leistungspotential.58 Derartige Perspektiven, die in einer langen Tradition der Wissenschafts- und Gelehrsamkeitskritik stehen, führen dann nicht selten zu der Einschätzung, wissenschaftliches Ethos sei fruchtlos. Zu fragen ist in diesem Zusammenhang nicht allein nach den Antriebsmomenten und Regularien der Selbst- und Fremdwahrnehmung epistemischer Akteure, sondern auch nach den Darstellungsformen und Textverfahren zur Artikulation einer Ethos- und Pathoskritik, die ihrerseits ethische Prätentionen und pathetische Rede in Anspruch nimmt.
|| 56 Vgl. zur Geschichte eines Konzepts des ‚Wahrheitsgefühls‘ den Beitrag von Andrea Albrecht in diesem Band; zum Konzept des gelehrten ‚Tons‘ Carlos Spoerhase, Zur prosodischen Dimension einer moralischen Ökonomie des Wissens, in: Ulrich Johannes Schneider (Hrsg.), Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert, Berlin und New York 2008, S. 289–296; ders., Prosodien des Wissens. Über den gelehrten ‚Ton‘, 1794–1797 (Kant, Sulzer, Fichte), in: Lutz Danneberg u.a. (Hrsg.), Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte, Wiesbaden 2009, S. 39–80. 57 Dazu am Beispiel der Literaturtheorie Ralf Klausnitzer und Carlos Spoerhase (Hrsg.), Kontroversen in der Literaturtheorie/Literaturtheorie in der Kontroverse, Bern u.a. 2007. Wie ein ‚Ethos der Freundschaft‘ in bestimmten epistemischen Situationen dazu dienen kann, gelehrte Konflikte zu überbrücken, zeigt der Beitrag von Simone De Angelis in diesem Band. 58 Vgl. Norman W. Storer, The Social System of Science, New York und London 1966, S. 20ff.; Robert K. Merton, Der Matthäus-Effekt in der Wissenschaft [1968], in: ders., Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Aufsätze zur Wissenschaftssoziologie, Frankfurt a.M. 1985 [Original 1973], S. 147–171; ders., The Matthew Effect in Science, II. Cumulative Advantage and the Symbolism of Intellectual Property, in: Isis 79 (1988), S. 606–623; Niklas Luhmann, Selbststeuerung der Wissenschaft, in: ders., Soziologische Aufklärung 1. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Opladen 61991 [zuerst 1970], S. 232–252. Dazu Dirk Werle, Ruhm und Moderne. Eine Ideengeschichte (1750–1930), Frankfurt a.M. 2014, S. 631–646.
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5. Während Ethos tendenziell eine implizite Eigenschaft – einer Person oder auch Institution – bezeichnet, die erst mehr oder weniger komplexer Erschließungsprozeduren bedarf, um angemessen vergegenwärtigt zu werden, ist Pathos meist sofort sichtbar (und im Erfolgsfall auch spürbar). Denn pathetische Rede als spezifische Figuration einer auf überzeugende Wirkungen zielenden Äußerung muss sich manifestieren – ob im öffentlichen Auftritt oder in schriftlicher Darstellung. Als rhetorisch verfasste Äußerung kollidiert Pathos bzw. pathetische Rede zugleich mit jenen Prinzipien, die Wissenschaft als rationale Sachkommunikation bestimmen und die Geltungsansprüche ihrer Aussagen an begriffliche Eindeutigkeit, Ökonomie und Redundanzfreiheit binden: „The aim of the scientist is to say only one thing at a time, and to say it unambiguously and with the greatest possible clarity.“59 Seit Platons Auseinandersetzung mit der sophistischen Eristik gelten als wahrheitsfähige Sätze jene propositional verfassten Aussagen, die aus einem argumentativen Zusammenhang hervorgehen und Behauptungen durch deiktische bzw. erklärende Handlungen einlösen.60 Die auf die Einbildungskraft wirkenden Figuren einer als Überredungskunst verstandenen Rhetorik verwirrten dagegen die Argumentation und müssten aufgrund ihres an das sprechende Subjekt gebundenen Charakters zurückgewiesen werden. Mit der Festlegung des Erkenntnisprozesses auf den Gebrauch klar definierter Begriffe und die Anwendung logischer Schlussprinzipien scheint für die Wissenschaft transpersonale Geltung gewonnen; das Pathos der rhetorischen Rede scheidet als mehrdeutig und subjektgebunden aus den legitimen Mitteln zur Erlangung von verlässlichem Wissen aus. Wurden rhetorische Bestandteile innerhalb der Wissenschaft anerkannt, so hauptsächlich in der den Dualismus von Inhalt und Form fortschreibenden Auffassung, ästhetische Prinzipien und Faktoren leisteten einen nicht zu verachtenden Beitrag bei der Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse, sie seien ‚Form‘ und ‚Einfassung‘ rational und methodisch gewonnener Wissensansprüche. Die Formierung wissenschaftlicher Sprachhandlungen folgt dementsprechenden Geboten und Verboten, die den Nachvollzug von begründeten Geltungsansprüchen sichern und den schwierigen Weg der Erkenntnis leichter machen, zugleich aber immer auch die eigenen Konstruktionsleistungen verbergen (sollen): Langfristige Geltung wird etwa durch Aussagen im Modus des überzeitlichen Präsens fingiert; ein verwickelter || 59 Aldous Huxley, Science and Literature, New York 1963, S. 41. 60 Plat. Prot.; Phaidr. 267a; Gorg. 449a–458c, 463–465c.
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und von Irrtümern nicht freier Erkenntnisprozess wird durch apodiktische Formulierungen und demonstrative Systematizität invisibilisiert.61 Zugleich aber nutzen auch wissenschaftliche Texte spezielle Techniken zur Formierung ihrer Geltungsansprüche: Gegen mögliche Einsprüche immunisiert man sich präventiv durch rhetorische Vorgriffe und antizipative Entkräftung; Argumentationen werden durch Narrationen erläutert, exemplarisch illustriert und damit plausibilisiert. Texte der Wissenschaft partizipieren also an Symbolsystemen, die sie durch Ausbildung neuer Referentialisierungen immer auch (neu) erzeugen und verändern; sie thematisieren sowohl ihren Gegenstand als auch die bislang vorliegende Forschung – und zwar in einer Sprache, die oft schon durch Vokabular und Formulierungsweisen spezifizierte Zusammenhänge mit einer Schule, einem Forschungsprogramm oder epistemischen Traditionen aufzeigt. Sichtbar (durch Zitationen, Paraphrasen, Anmerkungsapparat) und unsichtbar (durch nicht kenntlich gemachte Aufnahme von Textelementen und Gedankengängen) mit anderen Äußerungen vernetzt, realisieren wissenschaftliche Texte eine Kommunikation, die rhetorische Verfahren ebenso voraussetzt und integriert wie ein besonderes Pathos der Wissenssuche und des Wissensgewinns. Die Fragen, die sich vor diesem Hintergrund im Hinblick auf das Pathos stellen, betreffen sowohl die Pathetisierung der Wissenschaften insgesamt als auch einzelner Disziplinen, Objektbereiche, Methodenrepertoires. Max Weber, wie oben angedeutet ein wichtiger Ausgangspunkt für die Untersuchung des wissenschaftlichen Ethos, hat auch zentrale Überlegungen zur Unvermeidlichkeit epistemischer Pathetisierung angestellt: Am Ende seines Objektivitätsaufsatzes kommt er mit großer Emphase auf das „Licht der großen Kulturprobleme“ zu sprechen, das die Relevanz der wissenschaftlichen Forschungsfragen legitimiere, indem es bestimmte Problemstellungen als maßgeblich für eine kulturelle Konstellation auszeichne (objektive Dimension), aber auch die Leidenschaften und damit das Erkenntnisinteresse des Forscher wecke (subjektive Dimension).62 Systematisch relevant für die Wissenschaftsforschung sind also Fragen danach, ob disziplinäre Forschungsprogramme ihre Plausibilität auch über spezifische Formen der Pathetisierung gewinnen, mithin ob durch Patheti|| 61 Jutta Schikore, Doing Science, Writing Science, in: Philosophy of Science 75 (2008), S. 323– 343. 62 Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 19 (1904), S. 22–87, wieder in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. v. Johannes Winckelmann, 6., erneut durchgesehene Auflage, Tübingen 1985, S. 146–214. Vgl. zur wissenschaftshistorischen Kontextualisierung von Webers Position die Beiträge von Olav Krämer und Horst Thomé in diesem Band.
34 | Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase, Dirk Werle sierungsstrategien bestimmte Untersuchungsgegenstände ausgezeichnet werden, die dann zu Schlüsselgegenständen einer neuen Disziplin befördert werden; schließlich ob unterschiedliche Pathetisierungstypen sich mit abweichenden Formen der wissenschaftlichen Gruppenbildung korrelieren lassen. Die Frage nach der Pathetisierung des Wissens betrifft zugleich die relevanzmäßige Aufladung von Problemstellungen, die sich in der Eindringlichkeit Ausdruck verschafft, mit der bestimmte Fragen, Begriffe, Differenzen untersucht werden. Pathetisierungsstrategien beziehen sich aber auch auf die Wissenschaft als Ganze: ‚Wissen‘ kann in bestimmten Kontexten geradezu als Pathosformel fungieren.63 Gerade dort, wo keine grundlegenden rationalen Letztbegründungen für Wissenschaft insgesamt für möglich gehalten werden, scheint ein Pathos der Wissenschaft eine tragende Rolle zu spielen, um das Handeln des Wissenschaftlers zu legitimieren: Pathos kann der Umgehung oder Kompensierung von Problemen dienen, die sich dort ergeben, wo eine Begründung oder Erörterung von fundamentalen epistemischen Wertungen auf rationale Weise nicht möglich oder doch nicht aussichtsreich scheint. Es geht um rhetorische Überzeugungsmuster für wissenschaftliche Rationalität, deren Durchschlagskraft die Wichtigkeit wissenschaftlicher Tätigkeit verbürgt bzw. verbürgen soll. Gerade wo der Untersuchungsgegenstand den Vorwurf auf sich ziehen könnte, irrelevant, unbedeutend oder uninteressant zu sein, scheint der Pathetisierungsbedarf besonders hoch zu sein, wenn dieser Untersuchungsgegenstand den Status eines epistemischen Objekts gewinnen soll:64 „Und wer also nicht die Fähigkeit besitzt, sich sozusagen einmal Scheuklappen anzuziehen und sich hineinzusteigern in die Vorstellung, daß das Schicksal seiner Seele davon abhängt: ob er diese, gerade diese Konjektur an dieser Stelle dieser Handschrift richtig macht, der bleibe der Wissenschaft nur ja fern.“65
|| 63 Zur Funktion des Konzepts in der Kunstwissenschaft Salvatore Settis, Pathos und Ethos, Morphologie und Funktion, in: Wolfgang Kemp u.a. (Hrsg.), Vorträge aus dem Warburg Haus, Bd. 1, Berlin 1997, S. 31–73. Wie das historische Studium des gelehrten Pathos der Erkenntnis bei bestimmten historischen Akteuren für Historiker zum exemplarischen Referenzpunkt bei der Konstruktion eines wissenschaftlichen Ethos werden kann, zeigt der Beitrag von Christopher Johnson in diesem Band. 64 Vgl. zur ‚Logik‘ des letztgenannten Vorwurfs Dirk Werle, Jenseits von Konsens und Dissens? Das Interessante als kulturwissenschaftliche Beschreibungskategorie, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 30 (2005), H. 2, S. 117–135. Zu einem historischen Beispiel der Pathetisierung eines scheinbar irrelevanten und unbedeutenden Gegenstands vgl. den Beitrag von Toni Bernhart in diesem Band. 65 Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: ders., Geistige Arbeit als Beruf. Vier Vorträge vor dem Freistudentischen Bund. Mit einem Nachwort von Immanuel Birnbaum, München und
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Ausgehend von diesen Überlegungen und Postulaten Webers lässt sich ein wissenshistorisches Rekonstruktionsprogramm formulieren, das die Geschichte der kulturellen Problemstellungen mit einer Geschichte der epistemischen Leidenschaften verbindet. Gerade dort, wo tiefe wissenschaftshistorische Brüche zwischen abweichenden Wissenschaftskonzeptionen beobachtbar sind, die sich nicht rein rational überbrücken lassen, stellt sich die Frage nach epistemischen Pathetisierungsstrategien. Zu untersuchen sind hier der diachrone Wandel sowie die synchrone Überlagerung von Konzeptionen des Wissenschaftlers und des damit verbundenen wissenschaftlichen Ethos. So können wirkungsmächtige Modellierungen von Ethostypen wie die typologische Unterscheidung zwischen Gelehrtem und Wissenschaftler (gegenüber dem Heterostereotyp des lächerlichen, weil weltfremden Gelehrten wird das Autostereotyp des heroischen Streiters für die Wahrheit aufgeboten) oder zwischen „Brotgelehrtem“ und „philosophischem Kopf“ (Friedrich Schiller: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, 1789), oder auch zwischen dem ‚Asketen‘, dem ‚Gentleman‘ und dem ‚Beamten‘66 nur angemessen rekonstruiert werden, wenn man sie als epistemische Pathosformeln versteht, die ein je neues Wissenschaftsideal verankern sollen. Der Begriff der Pathosformel verweist auch auf eine Topik des Wissenschaftspathos. In der Geschichte der Gelehrsamkeit und der Wissenschaften zirkulieren häufig wiederkehrende pathetische Redeweisen, die spezifische Wissenschaftsverständnisse pathetisieren: etwa der Topos der Zwerge auf den Schultern von Riesen;67 das Diktum „Amicus Plato, Amicus Aristoteles, magis amica veritas“;68 die aus Horaz’ Episteln separierte Formel „Nullius addictus iurare in verba magistri“;69 die, wie erwähnt, auf Max Weber zurückgehende Äußerung, nach der eine gelungene Konjektur ein Gelehrtenleben rechtfertige; das auf Sulpiz Boisserée zurückgehende, zunächst pejorativ verwendete, spätestens von Wilhelm Scherer in seiner Würdigung der Brüder Grimm als Gründerväter der Deutschen Philologie dann affirmativ verwendete Schlagwort der
|| Leipzig 1919, wieder in ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. v. Johannes Winckelmann, 6., erneut durchgesehene Auflage, Tübingen 1985, S. 582–613, hier S. 589. 66 Spinner, Das ‚wissenschaftliche Ethos‘, S. 57. 67 Robert K. Merton, Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit [1965], Frankfurt a.M. 1980. 68 Vgl. Henry Guerlac, Amicus Plato and Other Friends, in: Journal of the History of Ideas 39 (1978), S. 627–632; Lutz Danneberg, Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers. Das Lesen im liber naturalis und supernaturalis, Berlin und New York 2003, S. 142–177. 69 Hor. epist. 1, 1, 14.
36 | Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase, Dirk Werle „Andacht zum Unbedeutenden“.70 Zu diesem Komplex gehören auch Beschreibungen des idealen Gelehrten, wie sie in der humanistischen Tradition ausgehend vom vir bonus-Ideal der Rhetorik (Ciceros orator perfectus)71 entwickelt werden. Dazu gehört schließlich Johann Gottlieb Fichtes Charakterisierung des Gelehrten als „Priester der Wahrheit“ in den Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (1794), wobei die Charakterisierung des Wissenschaftlers als Priester auf eine lange Tradition zurückblicken kann. Die Pathosformeln sind Elemente der Konstitution gelehrten Charismas,72 denen gelehrsamkeitskritische Redeweisen wie die Rede vom Elfenbeinturm der Universität, vom zerstreuten Professor73 oder das seit der frühen Neuzeit belegte Schlagwort „Die Gelehrten, die Verkehrten“74 entgegenstehen. Daneben lassen sich innerhalb der Wissenschaften Topiken der Überbietung beobachten, mit denen Neuankömmlinge in einem epistemischen Feld sich gegenüber den etablierten Kräften zu behaupten versuchen, etwa Gesten des „jeweils neuen Ernstes“, mit denen die vorangegangenen Aktivitäten auf dem jeweiligen Feld „unter die Vermutung der Leichtfertigkeit“ gerückt werden.75 Ein Pathos der Wissenschaft legitimiert häufig einen Gestus der Respektlosigkeit gegenüber sich selbst und anderen Personen, die mit einem Respekt gegenüber der – als das Eigentliche gegenüber dem Uneigentlichen des sozialen Umgangs verstandenen – ‚Sache‘ selbst einhergehe. Die Kommunikation eines Pathos der Wissenschaft soll als Indikator einer authentischen Wissenschaftlerpersönlichkeit dienen. Diese Haltung konfligiert zuweilen mit den Regeln universitären Umgangs, die gerade auf dem hierarchisch gestuften Respekt gegen-
|| 70 Nachweise bei Hans-Jörg Spitz, Zur Bedeutung von ‚Andacht‘ im St. Trudperter Hohenlied, in: Eva Schmitsdorf u.a. (Hrsg.), Lingua Germanica. Studien zur deutschen Philologie. Jochen Splett zum 60. Geburtstag, Münster u.a. 1998, S. 317–332, hier S. 332, Anm. 32. 71 Cic. de or. 1, 20ff. 72 Dazu William Clark, Academic Charisma and the Origins of the Research University, Chicago und London 2006. 73 Zur Gelehrtenkritik in der frühen Neuzeit vgl. Wilhelm Kühlmann, Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters, Tübingen 1982; Gunter E. Grimm: Letternkultur. Wissenschaftskritik und antigelehrtes Dichten in Deutschland von der Renaissance bis zum Sturm und Drang, Tübingen 1998. 74 Carlos Gilly, Das Sprichwort „Die Gelehrten, die Verkehrten“ oder der Verrat der Intellektuellen im Zeitalter der Glaubensspaltung, in: Antonio Rotondò (Hrsg.), Forme e destinazione del messaggio religioso. Aspetti della propaganda religiosa nel Cinquecento, Florenz 1991, S. 229–375. 75 Hans Blumenberg, Aspekte der Epochenschwelle [1976], in: ders., Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Frankfurt a.M. ³1997, S. 527–700, hier S. 549.
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über den im universitären Feld agierenden Personen beruht. Als Ausstellung einer von sozialen Normen abgelösten Haltung lässt sich ein Pathos der Wissenschaft an Außenseiterfiguren der Institution Wissenschaft beobachten, aber auch an institutionell eingebundenen Akteuren. Umgekehrt finden sich auch Beispiele der Stilisierung des Gelehrten zum heroischen Außenseiter, der die Rationalitätsnormen der ‚Normalwissenschaft‘ nicht befolgt und an deren Stelle mit rhetorischem Pathos ein alternatives Ethos setzt (vgl. dazu die Beiträge von Wolfgang Detel und Alexander Nebrig in diesem Band). Auch hier stellt sich die Frage nach den zentralen Textsorten, in denen Wissenschaftspathos zum Ausdruck kommt, kommuniziert und eingeübt wird. Neben der akademischen epideiktischen Rhetorik im Rahmen von Rektorats-, Gedenk- und Festreden (kanonisch aus dem Bereich der Germanistik etwa Moriz Haupts Festrede am Geburtstage des Königs, 1848 und seine Gedächtnisrede auf Jacob Grimm, 1864 oder auch Wilhelm Scherers Gedenkrede auf Jacob Grimm, 1865) sind hier vor allem Gelehrtenbiographien und -autobiographien 76 sowie Gelehrtenbriefwechsel relevante Ausgangspunkte. Die Fragestellung nach für Wissenschaftspathos zentralen Textsorten verlangt zugleich, nicht nur das Korpus von im engeren Sinne wissenschaftlichen, sondern auch von wissenschaftspopularisierenden Textgattungen in den Blick zu nehmen: Gerade dort, wo Wert und Güte der Wissenschaft insgesamt oder bestimmter Disziplinen und ihrer Ergebnisse auf der sachlichen Ebene kaum noch angemessen kommuniziert werden können, stellt sich die Frage nach einer mit pathosaffinen Formen der Wertschätzung operierenden Wissensvermittlung. Hier ergibt sich dann allerdings das Problem, dass dort, wo Wissenschaft einer breiteren Öffentlichkeit kommuniziert werden soll, meist nur bestimmte Aspekte des Wissensprozesses sich überhaupt als pathetisierungsfähig erweisen, insbesondere im Rahmen der ambivalenten „Stereotypisierung ihrer Protagonisten“.77 Das gilt auch für die Vermittlung von Wissenschaftspathos in literarischen Beispieler|| 76 Zur frühen Neuzeit vgl. Karl A. E. Enenkel, Die Erfindung des Menschen. Die Autobiographik des frühneuzeitlichen Humanismus von Petrarca bis Lipsius, Berlin und New York 2008; ergänzend Dirk Werle, Melchior Adams Gelehrtenbiographien und ihr Bezug zur Enzyklopädistik, in: Martin Schierbaum (Hrsg.), Enzyklopädistik 1550–1650. Typen und Transformationen von Wissensspeichern und Medialisierungen des Wissens, Münster 2009, S. 105–125; zur Theorie Jürgen Kaube, Soziologische Anmerkungen zur Biographie in der Wissenschaftsgeschichte, in: Geschichte der Germanistik 27/28 (2005), S. 5–12. Vgl. – über den Bereich der Festrede hinausgehend – zur epochalen Bedeutung Wilhelm Scherers für die Geschichte eines Ethos der Geisteswissenschaften den Beitrag von Hans-Harald Müller in diesem Band. 77 Peter Weingart, Wissenschaft im Licht der Öffentlichkeit, in: Gottfried Magerl und Heinrich Schmidinger (Hrsg.), Ethos und Integrität der Wissenschaft, Wien u.a. 2009, S. 145–162, hier S. 148.
38 | Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase, Dirk Werle zählungen – sowohl in solchen affirmativer Art wie Leo Perutz’ eingangs erläuterter Erzählung Der Tag ohne Abend (~1927) als auch in solchen kritischen Zuschnitts wie Elias Canettis Roman Die Blendung (1935) oder in solchen mit ironisch-satirischer Einfärbung wie etwa Daniel Kehlmanns Vermessung der Welt (2005); und es gilt auch für in wissenschaftliche beziehungsweise philosophische Texte und Konzeptionen eingebundene Beispielgeschichten, etwa das Friedrich Nietzsches Essay Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (1873) abschließende Exempel des durch Begriffe sich beherrschenden Menschen, der sich angesichts eines Regengusses in seinen Mantel hüllt und langsam davongeht. In diesem Kontext stellt sich die Frage, inwiefern sich an Nietzsches Theorem eines „Pathos der Distanz“78 Bezüge zum Pathos der Wissenschaft erkennen lassen und inwiefern Formen des Wissenschaftspathos bzw. des Pathos der wissenschaftlichen Vernunft in anderen, häufig wissenschaftsfernen gesellschaftlichen Diskursen (etwa der Religionskritik) funktionalisiert werden. Schließlich ist nochmals auf die paradoxale Figur der Pathetisierung eines pathosfreien Ethos aufmerksam zu machen – wird doch mit dem wissenschaftlichen Pathos der Sachlichkeit die Pathosfreiheit als Leitideal wissenschaftlichen Handelns pathetisiert. Hier gilt es die spezifischen Formen zu rekonstruieren, in denen, wie etwa in dem zu Beginn vorgestellten Beispiel Edgar Zilsel, Sachlichkeit oder auch Objektivität bzw. Neutralität79 in eine Geschichte nicht nur der wissenschaftlichen Ideale, sondern auch der Pathetisierung dieser Ideale einzuordnen sind. Unter welchen Bedingungen kann Pathos als angemessene Reaktion auf das Problem verstanden werden, dass die Vermittlung eines Ethos der Sachlichkeit letztlich nicht propositional erfolgen kann, sondern durch Gesten im Fall des Pathos: große Gesten erfolgen muss.
|| 78 Dazu Erich Meuthen, ‚Pathos der Distanz‘. Zur Struktur der ironischen Rede bei Nietzsche, in: Josef Kopperschmidt und Helmut Schanze (Hrsg.), Nietzsche oder „Die Sprache ist Rhetorik“, München 1994, S. 127–135; Steffen Dietzsch, Deutsche Philosophie zwischen Pathos der Erfahrung (Kant) und Pathos der Distanz (Nietzsche), in: Norbert Bolz (Hrsg.), Das Pathos der Deutschen, München 1996, S. 151–163. 79 Lorraine Daston und Peter Galison, The Image of Objectivity, in: Representations 40 (1992), S. 81–128; dies., Objectivity, New York 2007.
| Teil I: Historische Studien
Simone De Angelis
„er lebt quasi nur noch durch seinen Kopf“ Diderots Ethos der Anerkennung in seiner Beziehung zu d’Alembert und was das mit der Aufklärung zu tun hat
1. In seinem Brief vom 19. Februar 1758 an Voltaire macht sich Diderot keine Illusionen bezüglich einer Rückkehr d’Alemberts zur Encyclopédie. Obschon das Encyclopédie-Projekt durch die Zensur bedroht ist, ist Diderot dennoch nicht gewillt, seinen Widersachern nachzugeben. Was auch immer die Gründe gewesen sein mögen, die d’Alembert bewogen haben, Ende 1757 die Encyclopédie zu verlassen – ‚man‘ sagt, er habe den Druck der Zensur nicht mehr ausgehalten, wobei das gerichtliche Verbot und die päpstliche Indizierung 1759 denn auch tatsächlich folgen sollten1 – Diderot scheint ihm nicht wirklich ‚böse‘ gewesen zu sein. Meinungsdifferenzen zwischen den beiden Encyclopédie-Herausgebern gab es schon, aber nicht so sehr weil – wie oft zu lesen ist – sie sich auf epistemologischer Ebene nicht verstanden hätten. Dies sicherlich auch. Véronique Le Ru etwa ist überzeugt, dass das ‚Krisenjahr‘ 1758 der Encyclopédie nicht nur auf massive Attacken von außen, sondern auch auf theoretische Divergenzen, persönliche Rivalitäten und ideologische Spannungen zwischen den Enzyklopädisten zurückzuführen sei.2 || 1 Die Zensurmaßnahmen verschärften sich infolge des Attentats Damiens auf Ludwig XV. im Januar 1757; die Situation eskalierte aber nach der Publikation des Art. Genève im 7. Bd. der Encyclopédie, in dem d’Alembert (vermutlich nicht ohne die Hand Voltaires) die Religion der Genfer Pastoren als Sozinianismus bezeichnet, dessen zentrales Merkmal der Antitrinitarismus ist; d’Alembert hebt vor allem die Ablehnung der Mysterien und das rationalistische Religionsverständnis bei den Genfer Pastoren hervor, die auch nicht mehr an die Göttlichkeit Jesu Christi glauben würden. Zur frühchristlichen Genese und Integrierung solcher Auffassungen in den Deismus vgl. Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter. Aus dem Englischen von Joachim Schulte, Frankfurt a.M. 2012, hier Kap. 7: Die unpersönliche Ordnung, bes. S. 469–476; vgl. auch Véronique Le Ru, Jean le Rond d’Alembert philosophe, Paris 1994, S. 219–227, hier S. 221f.; dies., L’aigle à deux têtes de l’Encyclopédie: accords et divergences de Diderot et de D’Alembert de 1751 à 1759, in: Recherches sur Diderot et sur l’Encyclopédie, 26 (1999), S. 17–26 sowie dies., Subversives Lumières. L’Encyclopédie comme machine de guerre, Paris 2007, bes. Annexe II: Chronologie de l’édition de l’Encyclopédie, S. 257. [In diesem Beitrag stammen sämtliche Übersetzungen und Paraphrasen aus dem Französischen von mir, S. De A.] 2 Le Ru, d’Alembert philosophe, S. 226.
42 | Simone De Angelis Die Prämissen des wissenschaftlichen Diskurses sind bekannt: D’Alembert war Mathematiker, und Diderot hatte schon in den Pensées sur l’interpretation de la nature (1754) das Ende der Mathematik als Wissenschaft (science) vorausgesagt, insofern sie nicht darüber hinaus kommen würde, wo sie die Mathematiker Bernoulli, Euler, Maupertuis, Clairaut und eben auch d’Alembert zurückgelassen hätten. Die Zukunft gehöre der Experimentalphysik, den Moralwissenschaften, der Ästhetik und der Naturgeschichte.3 Auch im erwähnten Brief an Voltaire kommt Diderot auf diese Position zurück: Er wisse nicht, was in d’Alemberts Kopf vor sich gehe, der Geschmack habe sich verändert („le goût a changé“), das Reich der Mathematik sei nicht mehr. Vorherrschend seien jetzt die Naturgeschichte und die lettres, die literarische Kultur sozusagen.4 Und dennoch scheint Diderot für d’Alembert auf der persönlichen Ebene ein gewisses Verständnis zu haben. D’Alembert würde sich in seinem Alter nicht mehr ins Studium der Naturgeschichte stürzen, und es sei schwierig, dass er ein literarisches Werk schaffe, das der Berühmtheit seines Namens gerecht werde. D’Alembert habe, so Diderot, eine Dummheit begangen, denn einige Artikel der Encyclopédie hätten ihn würdevoll abgesichert – und zwar während und auch noch nach der Publikation dieses gewaltigen Unternehmens.5 Finanzielle Sorgen musste sich d’Alembert dennoch keine machen, denn es war ihm gelungen, eine königliche Pension von Friedrich II. zu bekommen, und als Sekretär der Académie Française erhielt er später ebenfalls ein Salär. Obwohl sich d’Alembert mit den Mächtigen offenbar gut zu arrangieren wusste, blieb er zu ihnen dennoch stets auf Distanz. Vergebens hatte etwa Friedrich II. versucht, d’Alembert als Nachfolger von Maupertuis als Präsidenten der Berliner Akademie der Wissenschaften zu gewinnen; die Tagesgeschäfte der Akademie wurden von bedeutenden Gelehrten – u.a. vom Mathematiker Leonhard Euler – zwar erledigt, die Stelle des Präsidenten blieb aber bis zu d’Alemberts Tod unbesetzt.6
|| 3 Diderot, Pensées sur l’interpretation de la nature, IV, in: ders., Œuvres complètes, hrsg. von J. Assézat, Paris 1875–1877, Bd. 2, S. 11. 4 An Voltaire, 19. Februar 1758, in: Denis Diderot, Correspondance Générale I, XX (Œuvres complètes, hrsg. von J. Assézat, Paris 1875–1877, Bd. 19, S. 452). 5 Ebd. 6 Vgl. Katrin Kohl, Die Berliner Akademie als Medium des Kulturtransfers im Kontext der europäischen Aufklärung, in: Michael Kaiser und Jürgen Luh (Hrsg.), Friedrich der Große: Politik und Kulturtransfer im europäischen Kontext. Beiträge des vierten Colloquiums in der Reihe „Friedrich300“ vom 24./25. September 2010 (Friedrich300 – Colloquien, 4). URL: http://www.perspectivia.net/content/publikationen/friedrich300-colloquien/friedrichkulturtransfer/kohl_akademie [letzter Zugriff am 16. Januar 2015].
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Es scheint, dass es in Diderots Verhältnis zu d’Alembert auch noch um etwas Anderes, Tieferliegenderes geht, wenn wir denn seinen Worten Glauben schenken wollen. So macht Diderot im Brief an Voltaire klar, dass d’Alembert einen Aspekt nicht berücksichtigt habe, nämlich seine Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit gegenüber seinem Freund. Denn, was ihm vielleicht keiner zu sagen wage, das werde er von ihm [sc. Diderot] hören. Er sage seinen Freunden die Wahrheit („car je suis fait pour dire la verité“) und das sei mehr aufrichtig als klug. „Ein Anderer“, so Diderot, „hätte sich über seinen Abgang insgeheim gefreut; er hätte darin einen Gewinn an Ehre, Geld und Ruhe gesehen.“ „Was mich angeht“, so Diderot weiter, „bedaure ich seinen Abgang, und ich werde nichts unterlassen, ihn zurückzubringen. Dies ist der Moment, ihm zu zeigen, wie sehr ich ihm verbunden bin, und werde weder mir noch ihm aus dem Wege gehen.“7 Natürlich bedauert Diderot den Verlust seines Freundes und Mitherausgebers, weil es ihm – vordergründig betrachtet – um die Rettung des Encyclopédie-Projekts geht. Voltaires Vorschlag, die Encyclopédie in geschlossenem Verband zu verlassen oder sie in einem anderen Land weiter zu führen, weist Diderot dezidiert zurück. Es sprächen nicht nur vertragsrechtliche Gründe dagegen – die Buchhändler hätten die Manuskripte den Autoren abgekauft –, sondern auch moralische: Das Unternehmen zu verlassen sei feige und spiele außerdem das Spiel seiner Widersacher mit. „Wenn Sie wüssten,“ schreibt Diderot an Voltaire, „wie sich diese über den Abgang d’Alemberts gefreut hätten und was sie alles anstellen, um seine Rückkehr zu verhindern.“8 Offenbar stellt sich Diderot auf die Seite d’Alemberts. Wenn ich richtig sehe, steht für Diderot mehr auf dem Spiel als nur das Schicksal der Encyclopédie, um die er dennoch verbittert kämpft. Man könnte zunächst von einem Ethos der Freundschaft und der Anerkennung sprechen. Es geht nämlich Diderot, so meine erste These, auch darum, d’Alemberts Andersartigkeit als Mathematiker anzuerkennen und dessen Entscheid, die Encyclopédie zu verlassen, zu respektieren, so sehr er sich dessen Rückkehr vielleicht auch wirklich wünschte. Hinter dieser Haltung steht bei Diderot nämlich das zentrale Thema des homme de génie, für den er d’Alembert (wie noch zu zeigen sein wird) auch wirklich hält. Und der homme de génie ist bei Diderot an Individualität gekoppelt, die in seiner Philosophie der Natur durchaus ihren Platz hat. Dies belegt etwa der EncyclopédieArtikel Ecléctisme, in dem Diderot beteuert, dass der Verlust auch nur eines talentierten Individuums (homme de génie) für die menschliche Art irreparabel || 7 An Voltaire, 19. Februar 1758, in: Denis Diderot, Correspondance Générale I, XX (Œuvres complètes, hrsg. von J. Assézat, Paris 1875–1877, Bd. 19, S. 452). 8 Ebd., S. 451.
44 | Simone De Angelis sei, zumal es nicht sicher sei, dass die Natur diesen Verlust jemals wieder werde ersetzen können; niemals existierten in der Reihe der menschlichen Individuen zwei, die sich vollständig ähnlich seien.9 Auch in seiner Réfutation de Helvétius, des philosophe, der die Erziehung und das Milieu als die entscheidenden Faktoren bei der Herausbildung von Differenzen (im Geist, in den Talenten etc.) ansieht,10 betont Diderot, dass es diese individuellen Differenzen gibt, begründet diese dennoch physiologisch durch den unterschiedlichen Bau der Organisation des menschlichen Körpers. An mehreren Stellen der Réfutation wird deutlich, dass es Diderot um die jeweils spezifischen Fähigkeiten des Mathematikers, des Poeten, des Naturforschers oder des Moralisten geht, die auch widersprüchliche Eigenschaften voraussetzten, wodurch auch verständlich wird, weshalb es für Diderot wenig wahrscheinlich ist, dass ein Einzelner ein homme de génie in zwei unterschiedlichen Domänen sein kann; implizit erkennt damit Diderot selbst, dass er nie ein mathematisches Genie wie d’Alembert war und dass er nie ein solches werden würde.11 Mehr noch: Diderot scheint d’Alemberts Andersartigkeit als Mathematiker gewissermaßen zu entschuldigen, ja geradezu zu rechtfertigen. Diese Position geht gerade auch in der Rede über den epistemischen Wandel in den Wissenschaften hervor, die Diderot im zitierten Brief an Voltaire erneuert. Ein epistemischer Wandel hatte in den Wissenschaften um 1750 tatsächlich stattgefunden, sichtbar etwa in der Krise des systematischmathematischen Wissens cartesianisch-newtonianischen Typs, des mos geometricus, besonders aus der Sicht der experimentellen Forscher.12 Dies bedeutet in || 9 Ders., Encyclopédie, Bd. 5, Art. Éclectisme, S. 284a. 10 Gerhardt Stenger, Diderot lecteur de L’Homme: une nouvelle approche de la Réfutation d’Helvétius, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 228 (1984), S. 267–291, hier S. 275f. 11 Diderot, Réfutation d’Helvétius, in: ders., Œuvres complètes, hrsg. von J. Assézat, Paris 1875–1877, Bd. 2, S. 339. 12 Das Problem, um das es geht, bringt etwa der Physiologe Albrecht von Haller in seiner Schrift Vom Nutzen der Hypothesen auf den Punkt, die er als Vorrede zum ersten Band der deutschen Übersetzung von Buffons Naturgeschichte um 1751 schrieb: „Ein mathematischer Lehrer fängt vom Punkte, von der Linie, von solchen einzelnen Dingen an, deren vollständige Erklärung er zur Hand hat. Wo fängt der Naturlehrer an? Die Elemente der Körper sind völlig verborgen: die ersten aus den Elementen entstandenen Körner der Materie, die Urkräfte der Schwere, der Schnellkraft, des elektrischen und des magnetischen Wesens, des Lichts und des Feuers, sind uns nur hin und wieder stückweise, und unvollkommen bekannt.“ Zitiert nach Albrecht von Haller, Vom Nutzen der Hypothesen, in: ders., Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und über sich selbst, Zweyter Theil, CXI., S. 95–118, hier S. 102; vgl. hierzu Simone De Angelis, Von Newton zu Haller, Studien zum Naturbegriff zwischen Empirismus und deduktiver Methode in der Schweizer Frühaufklärung, Tübingen 2003, bes. S. 265–290.
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den Augen Diderots jedoch keineswegs eine Absage an die Mathematik per se. Denn Diderot erkennt etwa den Wert der Wahrscheinlichkeitsrechnung und die Bedeutung der Statistik, etwa der Sterberate in der sogenannten ‚politischen Arithmetik‘, wie der entsprechende Encyclopédie-Artikel heißt. Nein, die Episode um d’Alembert gibt Diderot die Gelegenheit, dem Lesepublikum zu erklären, wie es zum mathematischen Genie d’Alembert gekommen ist, wie nämlich die Natur im Stande war, einen solchen homme de génie zu schaffen. Die zweite These, die ich im Folgenden erörtern möchte, ist also, dass Diderot in der Phase zwischen 1758 und 1769 nicht nur seine Philosophie der Natur weiter entwickelt und ausbaut, sondern dass er dies in der Auseinandersetzung mit seinem Freund d’Alembert tut, der in Diderots Texten als ein alter ego auftritt, ganz im ursprünglich ciceronianischen Sinne als ein ‚anderes Selbst‘. Um meine Thesen zu explizieren, muss ich allerdings etwas ausholen und möchte zunächst auf den Naturbegriff eingehen, der im 18. Jahrhundert eine besondere Bewandtnis hat.
2. Die Idee der Natur im 18. Jahrhundert ist grundsätzlich von einigen wichtigen Faktoren und Tendenzen geprägt.13 Es muss zunächst von einer „Radikalisierung des antiken Wissens, vor allem der Naturphilosophie und der Konzeption des Menschen“14, ausgegangen werden. Zu denken ist hier vor allem an das atomistische Modell der Natur, wie es durch die Texte der antiken Atomisten Demokrit und Epikur und vor allem wie es in der Darstellung des römischen Dichters Lukrez in De rerum natura seit der Renaissance der westlichen Welt vermittelt wurde.15 Entscheidend ist aber, dass die atomistische Naturkonzeption im Verständnis des 18. Jahrhunderts nicht so sehr bedeutet, dass die Welt aufgrund eines zufälligen Aufeinandertreffens der materiellen Atome entstanden ist (dieses Vorurteil war höchstens der Grund, weshalb die atomistische Lehre von kirchlichen Kreisen vehement bekämpft wurde). Wie Diderot im Artikel Chaos der Encyclopédie schreibt, führen die modernen Physiker alle existierenden Wesen auf eine homogene Materie zurück, die in alle Richtungen || 13 Vgl. grundlegend immer noch Jean Ehrard, L’idée de nature en France dans la première moitié du XVIIIe siècle, Paris 1963. 14 Wolfgang Proß, Herder und die Anthropologie der Aufklärung. Nachwort zu Johann Gottfried Herder, Werke, Bd. 2, München, Wien 1987, S. 1128–1216, hier S. 1157. 15 Vgl. Steven Greenblatt, Die Wende. Wie die Renaissance begann. Aus dem Englischen von Klaus Binder, München 2012.
46 | Simone De Angelis bewegt wird, und schreiben dem gewaltigen Zusammenstoß einer blinden Bewegung die Formation aller individuellen Wesen zu, was der Idee eines göttlichen Schöpfungsplans natürlich jedwede Grundlage entzieht. Und dabei würden sie (die modernen Physiker) von einer unbekannten Ursache ausgehen, von der man nicht weiß, was sie tut, die aber dennoch die schönsten und regelmäßigsten Werke hervorbringt. Und dadurch würden sie auf die absurden Ideen eines Strato oder Spinoza zurückfallen.16 Was an dieser Darstellung der Position der modernen Physiker auffällt, ist, dass die Behauptung eines Mangels an Finalität im Universum – im Sinne einer teleologischen Naturordnung – nicht gleichzeitig die Absage an eine Kausalität bedeutet, die in der Natur wirkt und offenbar doch eine gewisse Ordnung hervorbringt. Es ist dies die Idee des ‚Alogischen‘ in der Natur, die dennoch planvoll Dinge produziert. Und es ist genau im Zusammenhang mit dieser Naturkonzeption, in der das atomistische Modell der Natur im 18. Jahrhundert eine zentrale Rolle spielt. Das heißt nun eben nicht, daß in der epikuräischen Tradition ein unerklärliches Chaos herrscht, das niemals Ordnung hervorbringen könnte, wie die beliebte Argumentation im 18. Jahrhundert gegen Lukrez [...] gerne lautet. Es bedeutet nur, daß die Konstellation der Atome, die eine bestimmte zeitweilig stabile Lage im Universum einnehmen, eine scheinbare Aufhebung der Dauerbewegung der Materie darstellt, die tatsächlich nur durch die günstige gegenseitige Lage der Atomgebilde bewirkt wird. Wird diese günstige Lage gestört, verändert sich das Gleichgewicht vollkommen und führt zur Neuordnung der Konfigurationen. Die Zweckmäßigkeit der Lage der Gebilde im Universum bestimmt den Zustand der Naturphänomene, und darin liegt ihr einziges Gesetz [...].17
Die Alternative im 18. Jahrhundert ist also nicht die zwischen Chaos und Ordnung, sondern die zwischen „‚empirische[r] Zweckmäßigkeit‘“ und „‚teleologische[r] Ordnung‘“.18 Und überhaupt dient die atomistische Naturkonzeption als Denkmodell der Naturwissenschaften seit Robert Boyle sowie als Grundlage für die Bildung von Hypothesen und empirischen Experimenten; im 18. Jahrhundert wird sie darüber hinaus zur Grundlage der Hypothesenbildung in den neuen ‚Wissenschaften des Lebens‘,19 deren Entwicklung Diderot genau verfolgt.20 Gerade in diesem neuen Forschungsbereich der entstehenden ‚Biologie‘
|| 16 Diderot, Encyclopédie, Bd. 3, Art. Chaos, S. 158b. 17 Proß, Herder und die Anthropologie der Aufklärung, S. 1158f. 18 Ebd., S. 1159. 19 Ebd. 20 Vgl. dazu etwa Charles T. Wolfe, Endowed Molecules and Emergent Organization: The Maupertuis-Diderot Debate, in: Early Science and Medicine 15 (2010), S. 38–65; Tobias Cheung,
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des 18. Jahrhunderts wird das atomistische Naturmodell durch spinozistisches Gedankengut überlagert. Wie dies Paul Vernière in seinem Buch Spinoza et la pensée française avant la Révolution (1954) zeigt, steht der ‚neue Spinozismus‘ für eine Interpretation der Materie, die sich besonders Diderot zu eigen macht. Im Jahr 1765 erscheint sein Artikel Spinoziste im 15. Band der Encyclopédie. Dort schreibt Diderot: Man darf die alten Spinozisten nicht mit den modernen verwechseln. Das allgemeine Prinzip bei den Letzteren ist, dass die Materie fühlt (que la matière est sensible), was sie durch die Entwicklung des Eis zeigen – ein träger Körper, der einzig durch steigende Wärme in den Zustand eines fühlenden und lebenden Wesens übergeht. Das ganze Tier, im Prinzip nichts anderes als ein Punkt, wächst durch Assimilierung pflanzlicher Nahrung zu einem großen fühlenden Körper heran, der in einem großen Raum lebt. Von da schließen sie, dass es nichts anderes gibt als Materie und dass diese genügt, um alles zu erklären. Für den Rest folgen sie dem alten Spinozismus in all seinen Konsequenzen.21
Der Materie sind also gemäß neospinozistischer Auffassung die Eigenschaften der Bewegung und der Sensibilität, das heißt die Eigenschaft des Lebens, eingeschrieben, wobei hier Sensibilität vorerst als ‚vegetative‘ und nicht als perzeptive Eigenschaft der Materie aufzufassen ist. Genau die hier dargelegte neospinozistische Auffassung der Entstehung und des Wachstums eines Lebewesens aus ‚fühlender‘ Materie exemplifiziert Diderot in seinem Dialog Entretien entre Diderot et d’Alembert. Der Text ist Teil einer Trilogie, die im Sommer des Jahres 1769 entsteht und in Manuskriptform in den Pariser Kreisen zirkuliert. In diesem Text exemplifiziert Diderot die lukrezisch-spinozistische Naturkonzeption, die jetzt aber nicht mehr, wie im Encyclopédie-Artikel, allgemein dargestellt, sondern anhand der Figur seines Freundes d’Alembert individualisiert wird. Es wird hier mit anderen Worten der embryogenetische Prozess des Individuums d’Alembert dargestellt, und zwar von seiner Zeugung und ersten Keimbildung bis zur kompletten Entwicklung des erwachsenen Menschen. Was war denn || Omnis Fibra Ex Fibra: Fibre Œconomies in Bonnet’s and Diderot’s Models of Organic Order, in: Early Science and Medicine 15 (2010), S. 66–104. 21 Vgl. Diderot, Encyclopédie, Bd. 15, Art. Spinoziste, S. 474a: „Il ne faut pas confondre les spinozistes anciens avec les spinozistes modernes. Le principe général de ceux-ci, c’est que la matière est sensible, ce qu’ils démontrent par le développement de l’œuf, corps inerte qui, par le seul instrument de la chaleur graduée passe à l’état d’être sentant et vivant, et par l’accroissement de tout animals qui dans son principe n’est qu’un point et qui, par l’assimilation nutritive des plantes, devient un grand corps sentant et vivant dans un grand espace. De là, ils concluent qu’il n’y a que de la matière et qu’elle suffit pour tout expliquer. Du reste, ils suivent l’ancien spinozisme dans toutes ses conséquences.“ Vgl. auch Paul Vernière, Spinoza et la pensée française avant la Revolution, Paris 1979 [1954], S. 595–611, hier S. 596.
48 | Simone De Angelis d’Alembert, bevor er einer der größten Mathematiker Europas wurde? Nichts, sagt Diderot. Genauer: Die Moleküle, welche die ersten Rudimente dieses großen Mathematikers bilden würden, waren noch im Körper seiner Eltern verteilt, wurden durch die Lymphe gefiltert, zirkulierten im Blut, bis sich die Geschlechtszellen der beiden Eltern (so würden wir heute sagen) miteinander vereinigten und der erste Keim gebildet wurde (voilà ce germe rare formé).22 Gleichzeitig wird dieser Lebensprozess historisiert und kontextualisiert. Diderot erzählt nämlich die histoire eines der größten Mathematiker in Europa. Dabei erfahren wir, dass d’Alembert nach seiner Geburt auf den Treppen bei der Kapelle Saint-Jean-le-Rond, in der Nähe von Notre-Dame-de-Paris, ausgesetzt wurde (wodurch sich auch sein Name Jean Le Rond d’Alembert erklärt), dass er in einem Findelhaus großgezogen wurde und von einem Kindermädchen, einer gewissen Madame Rousseau, gesäugt wurde, der er zeitlebens sehr verbunden blieb.23 Diderot erzählt hier im Grunde die Geschichte, wie aus einer befruchteten Eizelle, sprich: aus ‚fühlender‘ Materie, ein großer Mathematiker wurde und dass dieser Prozess im Grunde auf einem Stoffwechselprozess beruht, den Diderot auf die Formel bringt: „Esst, verdaut, verarbeitet und werde ein Mensch nach allen Regeln der Kunst“24, als sei d’Alembert im Prinzip aus nichts anderem als aus einer Speiseröhre und einem Darmtrakt entstanden. Aber genau darum geht es: Um die Bildung des Menschen zu erklären, so Diderot, bedarf es nur der Wirkung materieller Agentien, die in der Sukzession aus träger Materie ein fühlendes Wesen und dann ein denkendes Wesen machen, das in der Lage ist, komplexe astronomische Probleme zu lösen, wie etwa die Entstehung der Äquinoktien (der Tag-und-Nacht-Gleichen).25 Implizit beschreibt hier Diderot das embryogenetische Modell der Epigenese, das er zu befürworten scheint, während er die Theorie der präexistierenden Keime explizit ablehnt (auf den Unterschied dieser beiden Modelle kann ich hier nicht ausführlich eingehen, auch wenn klar geworden sein dürfte, dass sich bei der Epigenese ein Individuum ex novo gänzlich formt, wobei keinerlei Strukturen im mütterlichen Ei präexistieren, wie dies hingegen in der Theorie der Präformation angenommen wird).26 Wichtiger scheint mir jedoch ein anderer Punkt: Die individualisierende Betrachtung d’Alemberts und ihre Einbettung in Diderots Philosophie des Leben|| 22 Diderot, Entretien entre D’Alembert et Diderot [1769], in: ders., Œuvres complètes, hrsg. von J. Assézat, Paris 1875–1877, Bd. 2, S. 109. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 110; Vgl. Jean Le Rond d’Alembert, Recherches sur la précession des équinoxes et sur la rotation de l’axe de la Terre dans le système newtonien, Paris 1749. 26 Vgl. hierzu ausführlicher De Angelis, Von Newton zu Haller, S. 439–477.
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digen hat nämlich eine Bewandtnis, die im Rahmen des lukrezianischspinozistischen Naturkonzepts nicht hinreichend erklärt werden kann. Die Idee der Natur drückt sich nämlich auch im Konzept der ‚Sensibilität‘ (sensibilité) aus, die im 18. Jahrhundert vorwiegend als medizinischer Begriff zu verstehen ist. Zentral ist hier der Encyclopédie-Artikel sensibilité, der vom Arzt der medizinischen Fakultät von Montpellier, Henri Fouquet (1727–1806), verfasst wurde und den Diderot ebenfalls im 15. Band veröffentlicht wie schon den Artikel spinoziste.
3. Einen zentralen Aspekt seiner medizinischen Theorie subsumiert Fouquet unter dem Konzept der ‚allgemeinen Sensibilität‘ der Teile des menschlichen Körpers. Dabei beruft er sich nicht nur auf die antiken Autoren Hippokrates und Lukrez, sondern auch auf den Philosophen Montaigne, der sage, dass die Organe eine eigene Empfindsamkeit hätten (passions), die sie belebe und einschlummern lasse.27 Wichtiger noch ist aber Fouquets Drei-Zentren-Theorie der Sensibilität, die besagt, dass die Sensibilität prinzipiell drei Zentren hat: 1. im Kopf, 2. in der präkardialen Zone bzw. in der Herzregion und 3. im Magen bzw. in der epigastrischen Region.28 Dabei lasse sich die unterschiedliche Sensibilität anhand der mehr oder weniger dichten Kombination von Nervenstrukturen in diesen Körperregionen beurteilen („combinaison de filamens nerveux ou de substance nerveuse“).29 Diese drei Zentren würden „das Triumvirat oder das Dreibein des Lebens“ bilden.30 Aus dieser Ökonomie der sensiblen Zentren im menschlichen Körper resultiert bei Fouquet denn auch eine Definition von Krankheit, die sich im Wesentlichen durch eine „Störung“ dieser Zentren ergibt und eben den Zustand beschreibt, den man Krankheit nennt („ce dérangement est l‘état qu‘on appelle de maladie“).31 Die Natur qua Sensibilität erzeugt also allgemeine Effekte in den drei genannten Zentren, sie erzeugt aber auch partikuläre Effekte im Sinne individueller Variationen, die durch die Komplexität der Organisation des je eigenen Körpers ermöglicht werden. Von da ist der Schritt zu der Annahme, dass es unterschiedliche Temperamente gibt, nur noch konsequent: Fouquet formuliert denn auch eine Theorie der Temperamente, die der Individualisie|| 27 Henri Fouquet, Encyclopédie, Bd. 15, Art. Sensibilité, Sentiment, S. 41a. 28 Ebd., S. 41b. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 41b–42a. 31 Ebd., S. 42b.
50 | Simone De Angelis rung des Lebendigen Rechnung trägt. Das Individuell-Lebendige wird dabei im Wesentlichen auf drei Typen reduziert, weil nach der Drei-Zentren-Theorie das Nervensystem von den genannten drei Zentren bzw. Organen aus beherrscht werden kann: Kopf, Herz oder Bauch. So wird nach dieser Temperamententheorie etwa der meditative Typus (les méditatifs) vor allem durch das zerebrale Organ, der sensible Typus (les êtres sensibles) vom Herzorgan oder der epigastrischen Region beherrscht.32 Mit anderen Worten: die sensibilité variiert die Temperamente. Ich möchte einen kurzen Augenblick noch bei dieser Temperamentenlehre bleiben, weil sie anschaulich zeigt, inwiefern die Medizin des 18. Jahrhunderts (zumindest in Montpellier) doch noch sehr stark klassifikatorischessentialistisch dachte. Die Frage wird nur sein, wie dieses Klassifizierungskonzept zu interpretieren ist. So findet sich in Fouquets Artikel auch eine Charakterisierung des sogenannten meditativen Typus, der sozusagen „nur noch durch seinen Kopf lebt“ („c’est ainsi qu’un homme absorbé dans une profonde méditation, ne vit, pour ainsi dire, que de la tête“).33 Dabei belegt Fouquet seine Typisierung mit einer historischen Kasuistik: Im meditativen Zustand befand sich etwa der antike Mathematiker (!) Archimedes, als ihm der Soldat des Marcellus den Todesstoß versetzte.34 Zu den Personen, die sich in ‚widernatürlichen Zuständenʻ befinden („personnes qui se trouvent dans des états contre nature“), zählt Fouquet aber auch die Melancholiker, die Besessenen (les maniaques), einige Verrückte (certains fous) usw., die den Eindruck machten, als seien sie mehr oder weniger unsensibel (insensibles), sprich: als sei in ihnen die Sensibilität oder das zerebrale Organ in seiner Funktion stark beeinträchtigt. Offenbar unterscheidet hier Fouquet im Blick auf mentale Zustände zwischen ‚natürlichen‘ (états naturels) und ‚widernatürlichen Zuständen‘ (états contre nature), wobei der meditative Typus letzterem zugeschrieben wird. Dies ist im 18. Jahrhundert denn auch nichts Besonderes. Im Encyclopédie-Artikel Mélancholie etwa, der Diderot zugeschrieben wird, wird in der Definition des Begriffs auf der reflexiven und spekulativen Dimension insistiert, gleichzeitig wird auch die Dimension des ‚Sentimentalen‘ einbezogen, das auf der Vorstellung der ‚süßen Melancholie‘ beruht: Die Melancholie, so heißt es dort, sei „die gewöhnliche Empfindung unserer Unvollkommenheit. Sie ist das Gegenteil der Fröhlichkeit, die aus der Zufriedenheit gegenüber uns selbst entsteht: sie [sc. die Melancholie] ist meistens ein Effekt der Schwäche der Seele und der Organe: [...] sie gefällt sich in der Meditation, welche die Seelenvermögen fordert, um ihr [sc. || 32 Ebd., S. 46a. 33 Ebd. 34 Ebd.
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der Seele] ein süßes Gefühl der Existenz zu vermitteln, und welche sie gleichzeitig vor den Leidenschaften und heftigen Verführungen bewahrt, die deren Kräfte verzehren würden.“35 Der melancholische Mensch befindet sich also in einem pathologischen Zustand, der zwar contre-nature ist und (wie wir jetzt wissen) auf einem Defizit an Sensibilität beruht. Sein meditativer Zustand bietet ihm jedoch eine Art Schutz, die ihn vor potentiellen destruktiven Leidenschaften bewahrt. Der meditative Kranke wird somit in seinem Zustand gelassen, und es besteht offenbar kein Grund, hier einen ärztlichen Eingriff vorzunehmen. Ob nämlich der Arzt in einen pathologischen Zustand eingreift oder nicht, hat in der Medizin des 18. Jahrhunderts, besonders in Montpellier, eine besondere Bewandtnis, auf die Fouquet in seinem Artikel ebenfalls hinweist. Denn medikamentös in einen Krankheitszustand einzugreifen, heißt nach Fouquet, in einem bestimmten Teil des Körpers künstliche Zentren einzurichten („établir des centres artificiels“), die sensibilitätsspendend wirken und den Körperteil mit Energie und Humoralsäften versorgen36 (die Idee der antiken Humoralpathologie wirkt hier offenbar noch nach). Es ist dabei kein Zufall, dass Fouquet hier explizit auf die Schriften des jüngeren Théophile de Bordeu (1722–1776) verweist, Arzt der Fakultät von Montpellier und Paris, ein Freund Diderots, dem wir als Figur im Dialog Rêve de d’Alembert wiederbegegnen werden.37
|| 35 Vgl. Encyclopédie de Neuchâtel, Bd. 10, 1765, S. 307–308: „MÉLANCOLIE, [...] C’est le sentiment habituel de notre imperfection. Elle est opposée à la gaieté qui naît du contentement de nous-mêmes: elle est le plus souvent l’effet de la faiblesse de l’âme & des organes: [...] elle se plaît dans la méditation qui exerce assez les facultés de l’âme pour lui donner un sentiment doux de son existence, & qui en même temps la dérobe au trouble des passions, aux tentations vives qui la plongeraient dans l’epuisement“ (meine dt. Übers.). Zitiert nach: Guillaume Faroult, „La douce Mélancolie“, selon Watteau et Diderot. Représentations mélancoliques dans les arts en France au XVIIIe siècle, in: Jean Claire (Hrsg.), Mélancolie. Génie et Folie en Occident, Paris 2005, S. 274–283, hier S. 279 (Katalog der Ausstellung, Grand Palais, Paris, 10. Oktober 2005 – 16. Januar 2006). 36 Fouquet, Encyclopédie, Bd. 15, Art. Sensibilité, Sentiment, S. 44a. 37 Diderot lernt Bordeu 1752 in Paris kennen; wahrscheinlich kennt er dessen medizinische Schriften sowie die Irritabilitäts- und Sensibilitätsdebatte, in der Bordeu sich auch mit der Haller’schen Irritabilität auseinandersetzt; gewiss hat Diderot Bordeus medizinische Artikel in der Encyclopédie gelesen. Vgl. Jacques Roger, Les sciences de la vie dans la pensée française au XVIIIe siècle, Paris 1993 [1963], S. 614–654, hier S. 630; vgl. auch Hubert Steinke, Irritating Experiments. Haller’s Concept and the European Controversy on Irritability and Sensibility, 1750–1790, Amsterdam, New York 2005, bes. S. 205f.
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4. Um Diderots Auseinandersetzung mit d’Alembert weiter zu explizieren, ist es zunächst relevant, auf die Gesundheits- bzw. Krankheitskonzepte des 18. Jahrhunderts sowie auf die Rolle der Medizin zurückzukommen. Aus seiner Idee des menschlichen Körpers zieht Fouquet den Schluss, dass der Körper im gesunden wie im kranken Zustand von der Aktivität der Sensibilität abhängt, sowie dass der gesunde wie der kranke Zustand durch zeitliche Perioden gekennzeichnet sind, die notwendigerweise ihren Lauf nehmen müssen und die auch nicht zu ändern sind, so dass die Abhilfe, die man sich durch Medikamente (remèdes) erhofft, sehr gering zu veranschlagen ist.38 Wie dies Michel Foucault in seinem Buch Die Geburt der Klinik (1963) erläutert, liegt der Grund in der essentialistischen Konzeption der Krankheit im 18. Jahrhundert: Das Medikament widerspricht demnach der Essenz der Krankheit („le remède contredit l’essence de la maladie“), bringt sie durcheinander und verhindert, dass sie zu ihrer eigentlichen Natur gelangt usw.39 Dieser Auffassung liegt die wichtige konzeptuelle Unterscheidung zugrunde zwischen der sogenannten ‚eingreifenden‘ und der ‚abwartenden‘ Medizin. Foucault spricht hier von der médicine agissante und der mèdicine expectante, und offenbar hatte sich die alte Debatte zwischen diesen beiden Medizinkonzeptionen bei den Medizinern des 18. Jahrhunderts gerade hinsichtlich der essentialistischen Krankheitslehre, die Krankheiten klassifiziert und in ihrer Wesenhaftigkeit begreift, erneut entzündet.40 Dabei scheinen die Ärzte aus Montpellier – Fouquet und Bordeu – eher geneigt, die nicht-intervenierende Konzeption zu privilegieren, indem sie die Krankheit somit ihrem cours naturel überlassen wollen. Foucault macht dennoch auf eine wichtige Implikation dieser médicine des espèces – dieser ‚Essenz-Medizin‘ – aufmerksam: Denn essentialistisch bedeutet eben nicht schemen- oder zwanghaft, die wesenhafte Krankheit bedeutet nicht Fixierung, sondern maximale Entfaltungsfreiheit, und zwar auch räumlich betrachtet. So ist bei diesem Krankheitskonzept denn auch keine Zwangshospitalisierung vorgesehen. Im Gegenteil: Man darf die Krankheit, so Foucault, nicht in einem medizinisch vorbereiteten Umfeld einsperren, sondern soll ihr freien Lauf lassen, in ihrem ursprünglichen Territorium, in einem möglichst natürlichen sozialen Umfeld wie etwa das foyer, das familiäre Heim, dort, wo die Krankheit nur sich selbst
|| 38 Fouquet, Encyclopédie, Bd. 15, Art. Sensibilité, Sentiment, S. 44a. 39 Vgl. Michel Foucault, Naissance de la clinique [1963], Paris 2005, bes. Kap. 1: Espaces et classes, S. 1–19, hier S. 7. 40 Ebd., S. 16.
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überlassen ist.41 Es kommt ferner ein weiteres scheinbar paradoxes Element hinzu: Die essentialistische Medizin bleibt nämlich nicht allgemein, sondern untersucht den Einzelfall, sprich: handelt von individuellen Krankengeschichten.42 Oben war von den partikulären Effekten der Sensibilität die Rede, die im Temperament eines Menschen variieren können. Auch die Krankheit wird dadurch im Körper verräumlicht: Der ärztliche Blick konzentriert sich somit auf die spezifischen Varietäten der Krankheit, die sich im kranken Individuum manifestieren. Dort summieren sich nämlich die spezifischen Eigenschaften der Krankheit und das individuelle Temperament, das durch die Krankheit in zweiter Instanz verändert wird. Das kranke Individuum ist somit gewissermaßen das Produkt der wesenhaften Krankheit und des individuellen Temperaments.43 Vor diesem Hintergrund wird langsam klar, welche Konzeption von Individualität Diderot im Blick auf seinen Freund d’Alembert vorschwebte: Es ist eine medizinische Konzeption von Individualität. Diderot erklärt mit anderen Worten die spezifischen Eigenschaften d’Alemberts als mathematisches Genie nach dem essentialistischen Krankheitskonzept der Medizin des 18. Jahrhunderts, wobei das individuelle Temperament d’Alemberts aus einer bestimmten Variation von Sensibilität resultiert. Gemäß Fouquets Typologie entspricht d’Alembert somit dem meditativen Typus oder melancholischen Menschen, ‚der nur noch durch seinen Kopf lebt‘. Mit diesem essentialistischen Krankheitskonzept hat Diderot also gearbeitet und ist mit ihm in seinen Texten äußerst kreativ umgegangen, besonders im Dialog Rêve de d’Alembert, der mit der Suite de l‘entretien die Texttrilogie des Jahres 1769 vervollständigt.
5. In der Anfangsszene des Dialogs Rêve de d’Alembert befinden wir uns in einem privaten (!) Raum. D’Alembert liegt in seinem Bett, nachdem er eine unruhige Nacht verbracht hat. Madame de l’Epinasse, seine Freundin, lässt den Arzt kommen, weil sie befürchtet, dass er krank ist. Bordeu, der Arzt, tritt zu ihm ans Bett und fühlt ihm den Puls. Dieser sei gut, wenn auch etwas schwach, die Haut feucht, die Atmung leicht. Dann entwickelt sich folgender Dialog:
|| 41 Ebd., S. 17. 42 Ebd., S. 13. 43 Ebd.
54 | Simone De Angelis MADEMOISELLE DE L’EPINASSE. Gibt es nichts, was man für ihn tun müsste? BORDEU. Nichts. MADEMOISELLE DE L’EPINASSE. Umso besser, denn er hasst Medikamente. BORDEU. Und ich auch. Was hat er zu Abend gegessen?44
Diderot gewährt uns mit dieser Szene einen Einblick in die medizinische Praxis Bordeus, der sich abwartend verhält und in den Krankheitszustand von d’Alembert nicht eingreift. Sein Abwarten besteht jedoch nicht im passiven Schauen einer pathologischen Wesenheit, sondern in der Vorsicht. Er zieht es offenbar vor, vorsichtig abzuwarten und den Fall aufmerksam zu studieren, auch alles das, was sich an diesem als individualisierend manifestiert. Der Arzt gibt sich Mühe, anhand körperlicher Zeichen die Symptome einer individuellen Körpergeschichte zu unterscheiden und zu lesen. Denn erst deren Kenntnis entscheidet letztlich über die Wahl zwischen der abwartenden oder intervenierenden Medizin. Wie oben in Abschnitt 3 bereits erwähnt, fallen als Folge der Varietäten der Sensibilität unter den meditativen Typus auch melancholische Menschen. Der meditative Mensch wie der homme de génie teilen also als kopflastige Menschen die Züge der Melancholie. D’Alembert stellt nun in den Augen Diderots ein Genie dar, das seiner eigenen Freiheit überlassen werden muss. Und dies erklärt, weshalb Bordeu bei d’Alembert ärztlich nicht eingreift. Dadurch bekommt die Episode um d’Alembert von 1758 – zumindest im Nachhinein – für Diderot auch einen gewissen ‚medizinischen Sinn‘, und wir verstehen seine Haltung der Toleranz gegenüber seinem Freund, die er in dem Brief an Voltaire äußert, vielleicht etwas besser. Aber die Melancholie kann in den sogenannten êtres sensibles (den ‚sensiblen Wesen‘), für die im Dialog Madame de l’Epinasse steht, auch exzessive Formen annehmen. L’Epinasse verkörpert sozusagen den excès de sensibilité. Zum Beispiel schildert sie dem Arzt den Zustand, in dem sie einzig ihr Denken fühlt, vollkommen in sich zurückgezogen lebt, wie in einem einzigen Punkt, wobei die Räumlichkeit ihres Körpers und des Universums für sie nicht mehr existiert.45 In einem anderen Zustand fühlt || 44 Diderot, Rêve de d’Alembert [1769], in: ders., Œuvres complètes, hrsg. von J. Assézat, Paris 1875–1877, Bd. 2, S. 122f.: „MADEMOISELLE DE LEPINASSE. N’y a-t-il rien à lui faire? BORDEU. Rien. MADEMOISELLE DE LEPINASSE. Tant mieux, car il déteste les remèdes. BORDEU. Et moi aussi. Qu’a-t-il mangé à souper?“ 45 Ebd., S. 154.
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sie die Entgrenzung des Körpers; überproportioniert und riesengroß fühlt sie ihre Gliedmaßen über sich hinaus und in den Raum hinein wachsen.46 L’Epinasse ist vollkommen ihren Emotionen ausgeliefert und verliert sozusagen ihren Kopf, sei dies bei Pathosszenen im Theater oder im alltäglichen Leben.47 In diesem ‚Fall‘ interveniert der Arzt. Er arbeitet daran, das zerebrale Zentrum zu stärken, damit dieses die Oberhand über die anderen Zentren zurückgewinnt. Das versucht Bordeu, indem er Madame de l’Epinasse pflegt, ohne ihr allerdings Gewalt anzutun, das heißt, indem er sie medizinisch instruiert. Es geht nämlich nicht darum, die mondäne Madame de l’Epinasse mit brutalen Methoden in eine Meditative zu transformieren, sondern ihr die Mittel zu geben, sich selber kennenzulernen und ein individuelles Gleichgewicht zu finden im Rahmen ihres eigenen Temperaments. Dies ist also der medizinische Wissenshintergrund, vor dem wir erst verstehen, was Diderot im Rêve de d’Alembert mit d’Alembert selber macht und worin dessen ‚Traum‘ eigentlich besteht. Näheres über die Umstände erfahren wir im Brief Diderots an Sophie Volland vom 11. September 1769. Diderots Worte sind voller Selbstironie: „Es bedarf eines gewissen Geschickes“, so Diderot, „meine Ideen in den Mund eines träumenden Menschen gelegt zu haben.“48 D’Alembert steht nämlich für den Exzess des Denkens und der zerebralen Energie und die Perversionen, die sie erzeugt. Wie wir von l’Epinasse erfahren, fällt d’Alembert in jener Nacht in ein Delirium, in dem er eine Reihe von Philosophemen über die Natur vor sich hin träumt, wobei l’Epinasse seine Worte aufschreibt. Und genau um diese skurrile Verwischung der Grenze zwischen Wahnvorstellung und Hellsichtigkeit geht es Diderot: Sein Rêve de d’Alembert sei von höchster Extravaganz, und dennoch enthalte er eine tiefgründige Philosophie. Man müsse oft der Weisheit die Stimme der Verrücktheit geben (l’air de la folie), um ihr Gehör zu verschaffen. „Es ist mir lieber“, so Diderot, zu sagen ‚Aber das hört sich doch gar nicht so verrückt an, wie man glauben möchte‘, als zu sagen: ‚Hören Sie, hier sind sehr weise Dinge.‘“49 Es ginge sicherlich zu weit, an dieser Stelle Diderots Philosophie der lebenden Natur in extenso darzulegen. Sicherlich musste sich sein Naturalismus in der Zeit als ungeheure Provokation angehört haben: der ewige Fluss der Dinge, das ewige Werden und Vergehen der Arten, das ein Individuum auch ephemer erscheinen lässt, die Erneuerung der Arten in Millionen von Jahrhunderten, die || 46 Ebd., S. 155. 47 Ebd., S. 171f. 48 Ders., An Sophie Volland, 11. September 1769, in: ders., Correspondance II, CXXV (Œuvres complètes, hrsg. von J. Assézat, Paris 1875–1877, Bd. 18, S. 321). 49 Ebd.
56 | Simone De Angelis Vergänglichkeit der menschlichen Rasse, die Verwischung der Grenze zwischen Leben und Tod, um nur einige Beispiele zu nennen.50 Jedoch bedeutet dies gerade nicht, dass Diderot die Grenzen der Individualität aberkennt; im Gegenteil: dass Diderot seine Ideen in den Mund seines Freundes d’Alembert legt, ist gerade auch als Zeichen dafür zu deuten, dass Diderot die Andersartigkeit und Einzigartigkeit seines Freundes anerkennt und respektiert. Und gerade dies zeigt, dass es im Rêve de d’Alembert um mehr geht als um eine Darstellung des Diderot’schen Naturalismus. In ihrem erhellenden Aufsatz über die Beziehung zwischen Medizin und Politik bei Diderot vertritt Éliane Martin-Haag die These, dass in der Spannung zwischen einer abwartenden und einer intervenierenden Medizin sich für Diderot ein Modell des politischen Denkens konstituiert.51 Dabei erkennt MartinHaag zu Recht, dass die „materialistische Perspektive“ Diderots auf einem Begriff des natürlichen Rechts (droit naturel) beruht, der auf der experimentellen Kenntnis der physischen Natur des Menschen gründet.52 Infolgedessen müsse die politische Philosophie auf die Schwierigkeiten der Medizin acht geben: Die politische Philosophie habe die Aufgabe, einen „authentischen Liberalismus“ zu definieren, der die „wahre Natur des Menschen“ respektiert und eine „Ethik der individuellen und sozialen Existenz“ aufbaut.53 Bei Diderot äußert sich die politische Bedeutung des medizinischen Diskurses etwa in der medizinischen Praxis Bordeus. Im Encyclopédie-Artikel Crise stellt dieser nämlich die zentrale Frage: „Bis zu welchem Punkt muss man die Natur sich selbst überlassen?“54 Die medizinische Praxis Bordeus besteht in der Synthese zwi-
|| 50 Ders., Rêve de d’Alembert [1769], in: ders., Œuvres complètes, hrsg. von J. Assézat, Paris 1875–1877, Bd. 2, bes. S. 130–140. 51 Éliane Martin-Haag, Médecine et Politique dans la Philosophie de Diderot, in: Franck Tinland (Hrsg.), Nouvelles Sciences, Modèles Techniques et Pensée Politique de Bacon à Condorcet, Champs Vallon 1998, S. 101–125, hier S. 104. Diesem Aufsatz, in dem mehrere Werke Diderots analysiert werden, verdanke ich wesentliche Informationen. Ich habe meine Ausführungen auf den Rêve de d’Alembert fokussiert. 52 Ebd. Zum Verhältnis von Naturrecht und Medizin vgl. Simone De Angelis, Lex naturalis, Leges naturae, „Regeln der Moral“. Der Begriff des ‚Naturgesetzes‘ und die Entstehung der modernen ‚Wissenschaften vom Menschen‘ im naturrechtlichen Zeitalter, in: ders. u.a. (Hrsg.), ‚Natur‘, Naturrecht und Geschichte. Aspekte eines fundamentalen Begründungsdiskurses der Neuzeit (1600–1900), Heidelberg 2010, S. 47–70; vgl. auch ders., Anthropologien. Genese und Konfiguration einer ‚Wissenschaft vom Menschen‘ in der Frühen Neuzeit, Berlin, New York 2010, Kap. 6. 53 Martin-Haag, Médecine et Politique, S. 104. 54 Bordeu, Encyclopédie, Bd. 4, Art. Crise, S. 479a: „jusqu’à quel point faut-il livrer la nature à elle-même?“
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schen ärztlicher Vorsicht und gewaltsamem Eingriff, die Diderot als Grundhaltung übernimmt, wobei er – wie das Verhältnis Bordeus zu d’Alembert und Mademoiselle de l’Epinasse im Rêve de d’Alembert zeigt – um eine sorgfältige Ausbalancierung der beiden medizinischen Konzeptionen bemüht ist. In den medizinischen Artikeln der Encyclopédie betont Bordeu dennoch immer wieder die ärztliche Vorsicht und zeigt sich skeptisch bezüglich der künstlichen Eingriffe der sogenannten ‚aktiven Medizin‘, wenn diese etwa stets den Aderlass praktizieren will: Die Natur, sagen sie [sc. die aktiven Mediziner], sich selbst überlassen, verursacht Nasenblutungen sowie Blutungen anderer Teile: aus dem folgt, dass es wesentlich ist, Aderlässe zu machen, um natürliche Blutungen zu kompensieren; man berücksichtigt jedoch nicht, dass die Natur bei der Ausscheidung besonderen Gesetzen folgt; dass sie festgelegte Zeiten auswählt, um zu agieren; dass sie diese Ausscheidungen durch die Organe ausführen lässt, oder durch ganz bestimmte Teile.55
Wie Diderot seine medizinische Konzeption der politischen Philosophie umsetzt, wird unter Umständen erst später deutlich, als er sich nämlich um die philosophische („metatextuelle“)56 Reflexion der Kolonialgeschichte des Abbé Raynal kümmerte. Ausgangspunkt bildet die Feststellung des Widerspruchs zwischen dem Gesetz der Natur (loi de nature) und dem Gesetz der Politik (loi politique) in menschlichen Gesellschaften, in denen der Despotismus herrsche und demnach das Grundbedürfnis des Menschen nach individueller Freiheit verletzt werde.57 Dabei bleibt für Diderot selbst ein gerechter, entschlossener und aufgeklärter Despot stets ein Despot, der seinen Untertanen Rechte vorenthält. Und dennoch bildet für Diderot die Methode der Gewalt, um diese Situati-
|| 55 Ebd., S. 481b: „La nature, disent-ils, livrées à elle-même, procure des hémorrhagies du nez & des autres parties: il suit de-là qu’il est essentiel de faire des saignées artificielles pour suppléer aux saignées naturelles; mais on ne prend pas garde que la nature suit des lois particulières dans ses évacuations; qu’elle choisit des temps marqués pour agir; qu’elle affecte de faire ces évacuations par des organes, ou des parties déterminés.“ 56 Vgl. Gianluigi Goggi, Quelque remarques sur les contributions à l’Histoire des deux Indes à partir des Fragments imprimés du fonds Vandeul, in: Marie Leca-Tsiomis (Hrsg.), Diderot, l’Encyclopédie & autres études. Sillage de Jacques Proust, Ferney-Voltaire 2010, S. 81–93, hier S. 88. 57 Guillaume-Thomas Raynal, Denis Diderot, Histoire Philosophique et Politique des Etablissemens et du Commerce des Européen dans les Deux Indes, Bd. 10, Genève 1781, S. 17f. Zu der sehr breiten Diffusion des Werks in Form von Übersetzungen vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink, Enzyklopädismus und Kulturtransfer im Aufklärungszeitalter. Fallbeispiele und transkulturelle Perspektiven, in: Stefanie Stockhorst (Hrsg.), Epoche und Projekt. Perspektiven der Aufklärungsforschung, Göttingen 2013, S. 263–284, bes. S. 281–284.
58 | Simone De Angelis on der Rechtlosigkeit zu beenden, keine Option, sondern selbst eine Form von Tyrannei. Die Analogie dieser politischen Haltung zur medizinischen Konzeption der ärztlichen Vorsicht aus der Schule von Montpellier scheint mir evident: Wenn sie sagen [sc. die Menschen], es geht uns gut hier; wenn sie sagen, es stimmt, es geht uns schlecht, aber wir wollen hier bleiben; so muss man versuchen, sie aufzuklären, sie zu enttäuschen [détrômper], sie zu gesunden [!] Ansichten zu führen, über den Weg der Überzeugung, aber niemals durch Gewalt. Der beste aller Fürsten, der gegen den Volkswillen [la volonté générale] Gutes getan hätte, wäre kriminell aus dem einzigen Grund, dass er seine Rechte überschritten hätte.58
Diese Haltung Diderots erinnert gewissermaßen an Fouquets Konzeption der Natur als ‚Gesundheitsnorm‘: Die Natur tendiere immer zur Gesundheit, d.h. die Quantität von Sensibilität, die dem Nerv einmal gegeben ist, tendiert stets dazu, sich in den verschiedenen Teilen dieses Nervs zu verbreiten.59 Jedes Organ verfügt sozusagen über ‚geregelte‘ Abläufe des Funktionierens und Ruhens, die auch zeitlich fixiert sind. Fouquet erläutert dies am Beispiel des Wechsels zwischen Schlafen und Wachen, das dem Ausschalten und Wiedereinschalten der sensiblen Funktionen gleichkommt (wir würden heute wohl von einem ‚Biorhythmus‘ sprechen); dieser ‚biologische Rhythmus‘ stellt sich auch bei jeder Krankheit ein und sei zu respektieren.60 Übersetzt heißt dies nun für den politischen Philosophen: Die Abschaffung der Tyrannei bedarf ihrer Zeit, und eine Gesellschaft sollte Schritt für Schritt darauf vorbereitet werden. Und dennoch ist Diderots Haltung keinesfalls konservativ, sondern potentiell revolutionär: Denn, so Diderot, man befreit sich aus der Sklaverei, in die man durch Gewalt hineingekommen ist, aber nicht aus einer solchen, in die man durch die Zeit und die Gesetze hineingeführt wurde.61 Der Weg zur Befreiung von der Tyrannei – und damit auch zum Tyrannenmord – hat für Diderot aber über den Weg der Bildung einer société d’hommes éclairés zu erfolgen. Und die politische Aufgabe, eine Gesellschaft aufzuklären, erfüllt Diderot in erster Linie als Herausgeber der Encyclopédie. Wie wir gesehen haben, übernehmen diese Aufklärungsfunk-
|| 58 Raynal, Diderot, Histoire Philosophique et Politique, Bd. 10, 1781, S. 33: „S’ils disent, nous sommes bien ici; s’ils disent même d’accord, nous y sommes mal, mais nous voulons y rester; il faut tâcher de les éclairer, de les détromper, de les amener à des vues saines, par la voie de la persuasion, mais jamais par celle de la force. Le meilleur des princes, qui auroit fait le bien contre la volonté générale, seroit criminel, par la seule raison qu’il auroit outrepassé ses droits.“ 59 Fouquet, Encyclopédie, Bd. 15, Art. Sensibilité, Sentiment, S. 43a. 60 Ebd. 61 Raynal, Diderot, Histoire Philosophique et Politique, Bd. 10, 1781, S. 34.
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tion gerade auch die medizinischen Artikel der Encyclopédie, wodurch Diderot mit ihnen im Prinzip eine politische Aufklärung ausübt. Mit andern Worten: Will man in einer Gesellschaft ein Recht auf Gesundheit, Individualität und Toleranz begründen, so darf der politische Philosoph das Personal, das diese politischen Veränderungen durchführen soll, nicht weiter bevormunden, sondern muss es – wie der Arzt den Patienten – ‚medizinisch‘ instruieren.
6. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in der dargestellten Beziehung Diderots zu d’Alembert unter dem Aspekt des Ethos und Pathos wissenschaftlicher Akteure mindestens drei ineinandergreifende Ebenen zu unterscheiden sind: 1. Der Ethos der Freundschaft und der Anerkennung: In der ganzen Affäre um d’Alemberts Ausscheiden aus der Encyclopédie scheint es Diderot auch darum gegangen zu sein, seine persönliche Haltung gegenüber d’Alembert klarzustellen und dabei bestimmte Charakterzüge seiner eigenen wissenschaftlichen Persona hervorzuheben: Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit. Seinem Freund die Wahrheit zu sagen, sei seine Devise. In diesem Anerkennungsethos geht es also auch um die Identität der wissenschaftlichen Persona Diderots selbst. Seine Haltung impliziert nämlich die Frage: Wer bin ich, und wer ist der Andere, d’Alembert? In der Anerkennung des Anderen erkennt Diderot somit vor allem eine andere Individualität: das in der (menschlichen) Natur einzigartige mathematische Genie d’Alemberts. 2. Die medizinische Theorie: Seine Philosophie der Natur (‚Neospinozismus‘) und die Theorie der Sensibilität (nach der medizinischen Schule von Montpellier) bilden die begründenden Instanzen von Diderots Anerkennungsethos und Geniegedanken, die in philosophischliterarischer Darstellungsform besonders im Rêve de d’Alembert zum Ausdruck kommen und dort mit einer nicht-eingreifenden medizinischen Therapiekonzeption gekoppelt werden: Der meditative Typus des Melancholikers d’Alembert soll sich in seinen Traumzuständen frei entfalten können und sich dabei auch exzessiven Denkprozessen hingeben. 3. Die politische Dimension: Das Ganze lässt sich schließlich in einen größeren gesellschaftspolitischen Rahmen einordnen, in dem es letztlich um Prozesse der Befreiung menschlicher Gesellschaften von der Tyrannei geht. Wiederum bildet hier die medizinische Therapietheorie bzw. die ‚Gesundheitsnorm‘ – der geregelte natürliche Ablauf von Sensibilitätsprozessen in Organen – die modellbildende Instanz politischer Aufklärung, die bei Diderot Gewalt von vornherein ausschließt. Dass sich Diderots politische Philosophie an der Medizin orientiert, zeigt, dass sein Ansatz noch dem Naturrechtsdenken verpflichtet ist, das physische und morali-
60 | Simone De Angelis sche Prozesse koppelt und gemeinsam in den Blick nimmt. Davon hängt letztlich auch Diderots Anerkennungsethos gegenüber d’Alembert ab. Zugleich hatte Diderot aber auch genau verstanden, welches Medium der ‚Sensibilisierung‘ der lesenden und diskutierenden Öffentlichkeit er durch die Encyclopédie in den Händen hatte. Er wusste, dass die Rezeption der medizinischen Artikel für die Zivilgesellschaft immer auch eine politische Valenz hatte, die das Bestehende bereits unterminierte.62
|| 62 Vgl. auch Axel Kuhn, Die Französische Revolution, Stuttgart 2009 [1999], S. 52f.
Steffen Martus
Der Mut des Fehlens Über das literaturwissenschaftliche Ethos des Fehlermachens Die Literaturwissenschaft pflegt ein durchaus entspanntes Verhältnis zu Fehlern: Sie hat sogar eigene Methoden und Theorien entwickelt, die auf Fehler setzen und das „Misreading“ von Texten erwarten,1 und sie kann trotz der Falsifikation einer Tatsache darauf verzichten, Modifikationen oder Verbesserungen vorzunehmen, weil Mythen nun einmal zu ihrer Geschichte dazugehören.2 Außerdem verfügt sie über die Möglichkeit, Gedankenfiguren einer Fehlerökonomie ins Spiel zu bringen, der zufolge „Ungenauigkeit im historischen Detail“ oder sogar die Widerlegung von bestimmten großflächigen historischen Behauptungen „nichts am Nutzen“ einer „Interpretation“ für ein bestimmtes „Thema“ ändern.3 Diese eher legere Haltung ist freilich nur die eine Seite. Die andere: Gerade die Vertreter der Geisteswissenschaften nehmen in Evaluationsverfahren eine überaus kritische Haltung ein, merken zu viele Fehler an und torpedieren damit etwa die Drittmittelförderung ihrer Fächer. Die Literaturwissenschaft macht dabei keine Ausnahme.4 So bemerkt Axel Horstmann vor dem Hintergrund der || 1 So bekanntlich dekonstruktivistische Lektüretheorien, vgl. etwa: Paul de Man, Allegorien des Lesens. Mit einer Einleitung von Werner Hamacher, Frankfurt a.M. 1988. 2 Robert Darnton bemerkt zwar, dass die Geschichte vom hölzernen Gebiss George Washingtons sich als falsch herausgestellt habe, lässt aber den Hinweis darauf in einem seiner Texte stehen (George Washington’s False Teeth. An Unconventional Guide to the Eighteenth Century, New York, London 2003, S. XV). 3 Vgl. Michael Gratzke über Michel Foucault: „Foucault hat aus Sicht der neueren Militärgeschichte unrecht, wenn er behauptet, die höhere Treffsicherheit des Gewehrs gegenüber der Muskete des 17. Jahrhunderts habe das Element der Individualität des Soldaten in einem Zusammenspiel aller gedrillten Bewegungen ermöglicht. Wie oben gezeigt werden konnte, war die Infanterielinie des 18. Jahrhunderts eine Folge der mangelnden Reichweite und Treffsicherheit auch des Steinschloßgewehrs. […] Diese Ungenauigkeit im historischen Detail ändert aber nichts am Nutzen der Interpretation Foucaults für das Thema. Er arbeitet überzeugend die doppelte Wirkung der Aufklärung heraus. Es ging in ihr zugleich um Freiheit und um Disziplin“ („Wer kann mit Blut und Feu’r die Worte färben?“ Natur, Gewalt und die Erfindung von Männlichkeit bei Ewald von Kleist, in: Beiträge zur Kleist-Forschung. Frankfurt / Oder 2001, S. 163–211, hier S. 196). 4 Axel Horstmann, Qualität und Qualitätsprüfung in den Geisteswissenschaften. Perspektiven der Wissenschaftsförderung, in: Journal of Literary Theory 5 (2011), H. 2, S. 209–228, hier S. 220.
62 | Steffen Martus Erfahrungen mit der Forschungsförderung im Rahmen der VolkswagenStiftung, dass Geisteswissenschaftler in Begutachtungsverfahren „– wie auch sonst – offenbar eher den Dissens gegenüber einer zur Diskussion stehenden Position“ betonen und dass Kritik selbst dann überproportionaler Raum gegeben wird, „wenn diese lediglich marginale Punkte betrifft und die prinzipielle Zustimmung überhaupt nicht tangiert“.5 Horstmann deutet dies als ein Indiz dafür, dass das „gemeinsame Interesse an (drittmittel-)starken Geisteswissenschaften“ hier weniger stark wiege als „persönliche Profilierungs- und Differenzbedürfnisse“ und dass dies „ein nicht zu unterschätzender Nachteil in der Konkurrenz mit anderen Fächern“ sei.6 Aber der große Stellenwert von Kritik in den Geisteswissenschaften lässt sich auch so verstehen, dass Fehler in gewissen Hinsichten für normal, vielleicht für unproblematisch oder sogar für produktiv gehalten werden. Durch die intensive Kritik wird in einigen Fällen sogar ein Projekt besonders gewürdigt, und es kommt vor, dass ein Projekt gefördert wird, weil es zum Widerspruch herausfordert. Verbesserungsfähigkeit jedenfalls bedeutet mithin nicht, einem Forschungsprojekt seine Zustimmung und Unterstützung einfach zu entziehen. Von einem Ethos des Fehler-Machens wird man in diesen Zusammenhängen nicht immer sprechen dürfen, schon gar nicht vom „Mut des Fehlens“, denn das Wagnis, Fehler zu begehen, erscheint mittlerweile eher gering. Ob, wie und wann man heute noch eine besondere Herausforderung besteht, wenn man literaturwissenschaftlich fehl geht, ist offen. Es gibt jedenfalls offensichtlich eine Reihe von Indizien dafür, dass die Fehlertoleranz enorm gestiegen ist. Nicht nur unterlaufen Fehler sehr leicht, diese können zudem auf geradezu virtuose Weise entproblematisiert werden, auch wenn dies – wie im Fall der Plagiatsaffäre von Annette Schavan – nicht immer gelingt. Immerhin belohnt die DFG bei der Einschätzung von Forschungsprojekten neben dem „Neuigkeitswert“ auch den „Wagnischarakter“. Ein literaturwissenschaftliches „Qualitätsmerkmal“ unter anderen bestehe darin, so Thomas Wiemer, dass die Forschung neue, unkonventionelle, überraschende, gleichwohl von ihren Gegenständen her begründete Lektüren anbietet, Texte, Materialien oder Zusammenhänge erschließt, die bislang nicht bedacht oder beachtet wurden, Deutungen, Theorieansätze, Wissensübertragungen wagt, denen Zustimmung, Interesse und Anerkennung anderer Leser nicht gewiss ist. Risikoreichtum in diesem Sinne ist ein Qualitätskriterium, obwohl sich riskante Lektüren, mehr als konventionelle, im Umkreis des Erwartbaren operierende, der Gefahr aussetzen,
|| 5 Ebd. 6 Ebd.
Der Mut des Fehlens | 63 missverstanden oder als unplausibel oder uninteressant abgelehnt und insoweit disqualifiziert anstatt als qualitativ hochwertig gewürdigt zu werden.7
Ob freilich die neue und überraschende Lektüre generell ein höheres Risiko eingeht als diejenige, die sich am vorhandenen Forschungsstand orientiert und die Arbeit fortsetzen will, bleibt diskutabel, wie Lutz Danneberg in seinem Beitrag zur Debatte um das Neue in der Literaturwissenschaft verdeutlicht hat. Wo das Risiko beginnt und die Nachlässigkeit endet und inwiefern mehr oder weniger Mut benötigt wird, um forschungsethisch vertretbare Fehler zu machen, wäre auch in dieser Hinsicht zu fragen.8 Es lohnt sich daher ein kurzer Blick zurück in die Geschichte der Germanistik, um zu verstehen, dass es sich keinesfalls von selbst versteht, Fehler für normal, für produktiv oder sogar für mutig zu halten: 1848 veröffentlichte Jacob Grimm sein faszinierendstes und zugleich umstrittenstes Buch: die Geschichte der deutschen Sprache. Grimm legte die Studie, noch während er mit der Frankfurter Nationalversammlung tagte, in zwei Bänden mit mehr als tausend Seiten vor; 1853 wurde eine zweite, unveränderte Auflage gedruckt – das Buch verkaufte sich offenkundig nicht schlecht. Jacob Grimm hielt die Geschichte schlicht für sein bestes Werk.9 Tatsächlich kombinierte er darin auf eine virtuose Weise seine weit gespannten Forschungsinteressen und jonglierte mit dem Material aus Grammatik, Mythologie, Rechts- und Literaturgeschichte. In dieses lange Gedankenspiel bezog er zugleich Untersuchungen zu den „Sitten und Gebräuchen“ der Vorzeit sowie Überlegungen zur Entwicklungslogik menschlicher Gesellschaften ein. Dass diese Studie in bestimmten Punkten hoch spekulativ bleiben musste, war Jacob Grimm bewusst.10 Es war daher kein Zufall, dass er sich im Vorwort zur Risikoforschung bekannte: „Wer nichts wagt gewinnt nichts und man darf mitten unter dem greifen nach der neuen frucht auch den mut des fehlens haben“.11 Mit der Wendung vom „Mut des Fehlens“ hat Jacob Grimm einen angemessenen Slogan für sein eigenes Forschungsethos gefunden. Immer wieder reflektiert er eine forcierte und schnelle Arbeitspraxis, bei der unter Bedingungen der strukturellen Überforderung des kenntnisreichen Forschers || 7 Thomas Wiemer, Ideen messen, Lektüren verwalten? Über Qualitätskriterien literaturwissenschaftlicher Forschung, in: Journal of Literary Theory 5 (2011), H. 2, S. 263–278, hier S. 273. 8 Lutz Danneberg, ‚Ich habe nichts Neues zu sagen ...‘, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 39 (1995), S. 434–438. 9 So im Entwurf für einen autobiographischen Lexikoneintrag: Jacob Grimm, Kleinere Schriften, Bd. 8, Gütersloh 1890, S. 460f. 10 Ders., Geschichte der deutschen Sprache, Bd. 2, Leipzig 1848, z.B. S. 811. 11 Ebd., S. VIII.
64 | Steffen Martus und dessen besonderer Kreativität Fehler akzeptabel sind – dies gilt von der Deutschen Grammatik über die Geschichte der deutschen Sprache bis zum Deutschen Wörterbuch.12 Zu jener Nachsichtigkeit, die Jacob Grimm sich selbst gegenüber aufbrachte, waren jedoch nicht alle Leser bereit. Einige von ihnen hatten vielmehr den Eindruck, dass er mit seinen Exkursionen auf historisch sehr dünnem Eis jene Standards der Wissenschaftlichkeit verrate, die man über Jahre hinweg mühsam gegen die sogenannten ‚Dilettanten‘ entwickelt hatte. Lachmann schrieb an Moriz Haupt: „Grimms Buch habe ich mit der grösten Mühe hinunter gewürgt. Neben den schönsten Sachen soviel willkürliches und auf plumpe Brücke gegründetes ist mir so zuwider wie eine unwahre und ungrade Politik“.13 Ein anderer großer Philologe des 19. Jahrhunderts zeigte mehr Verständnis für Jacob Grimms Programm der riskanten Forschung:14 In seiner Studie über Jacob Grimm zitiert Wilhelm Scherer die gerade angeführten Programmsätze aus dem Vorwort zur Geschichte der deutschen Sprache und fügt dann hinzu: „Das war der rechte Grundsatz für jeden, der in die Entwicklung einer Wissenschaft durch neue Gedanken einzugreifen hat. Wie weit wären wir zurück, wenn Jacob Grimm nicht den Muth des Fehlens gehabt hätte […]“.15 Mit solchen Losungen beunruhigte Scherer nicht zuletzt seine eigenen Schüler, die für das Zerrbild des ‚Positivisten‘ verantwortlich zeichnen. So bemerkt Erich Schmidt in seinem Nekrolog, dass Scherer oftmals in Polemiken programmatisch Sätze abgezwungen wurden, die so genau nicht beim Wort zu nehmen seien, wie etwa diese: „man müsse den Muth des Fehlens haben; auf die wissenschaftliche Phantasie komme es an […]; eine der widerlichsten Gelehrtentugenden, recht innig verwandt mit der Feigheit, sei die Vorsicht […]“.16 Scherer selbst präzisiert in einer Vorlesung über „Wissenschaftliche Pflichten“, dass der Fehlermut lediglich in spezifischen Situationen angebracht sei: bei der Etablierung einer Disziplin oder in Fällen der Bearbeitung vernachlässigter
|| 12 Steffen Martus, Die Brüder Grimm. Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg 2013, S. 287ff., 474ff., 483ff. 13 Zitiert nach: Klaus von See, Die Göttinger Sieben. Kritik einer Legende. 3., erw. Aufl., Heidelberg 2000, S. 105. 14 Zum Folgenden vgl. Steffen Martus, „jeder Philolog ist eine Sekte für sich“. Wilhelm Scherer als Klassiker des Umgangs mit Klassikern, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 53 (2006), H. 1, S. 8–26. 15 Wilhelm Scherer, Jacob Grimm, 2., verbesserte Aufl., Berlin 1885, S. 328. 16 Materialien zur Ideologiegeschichte der deutschen Literaturwissenschaft. Von Wilhelm Scherer bis 1945. Mit einer Einführung von Gunter Reiss, Bd. 1: Von Scherer bis zum Ersten Weltkrieg, Tübingen 1973, S. 37.
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Forschungsgebiete, die „jener Epoche der Begründung gleich zu achten“ seien.17 Für die Diskussion des Fehler-Ethos ergeben sich daraus mindestens drei Aspekte: Zum ersten weist der „Mut des Fehlens“ bzw. das kompetente FehlerMachen auf die Ressourcenknappheit des Forschers hin: Jacob Grimm beansprucht für sich, mit der Geschichte der deutschen Sprache auf dem richtigen Weg zu sein, auch wenn ihm aus plausiblen Gründen nicht genügend Zeit dafür geblieben sei, die Details genauer auszuarbeiten. Lachmann hingegen scheint zu bestreiten, dass es sich in diesem Fall um eine angemessene und akzeptable Form der Überforderung handelt. Zum zweiten deutet Wilhelm Scherer im Rückblick auf Jacob Grimm darauf hin, dass literaturwissenschaftliche Arbeiten unterschiedliche Aufgaben erfüllen und damit auch unterschiedliche Normen zur Geltung bringen: Sie können z.B. auf die Ergebnissicherung zielen, sie können dieses Telos aber auch (vorerst) zurückstellen und stattdessen Forschungen ‚anregen‘ oder Forschungsgebiete ‚erschließen‘. Jeweils ergeben sich unterschiedliche Möglichkeiten, kompetent Fehler zu begehen. Zum dritten weisen die Schüler Scherers, die ihren Lehrer nicht als falsches Vorbild verstanden wissen wollen, darauf hin, dass die Behauptung des Fehlermuts gerade in Lehr-Lern-Kontexten problematisch ist. Im Folgenden will ich aus praxeologischer Perspektive diese drei Aspekte des literaturwissenschaftlichen Fehlens betrachten und werde dabei auf die gerade angeführten Beispiele aus der Fachgeschichte zurückkommen.18 Es geht mir in erster Linie darum, einige Fragestellungen und Untersuchungsrichtungen zu skizzieren, die für eine literaturwissenschaftliche Fehlerforschung aufschlussreich sein könnten.
|| 17 Ebd., S. 50. 18 Eine Fehlermeldung möchte ich dabei antizipieren: Im Folgenden werde ich möglicherweise zu wenig zwischen unterschiedlichen Fehlertypen unterscheiden, etwa zwischen „produktiven“ und „unsinnigen Fehlern“, zwischen „Kompetenz-“ und „Performanzfehlern“, zwischen „Schnittstellenfehlern“, „Verständnisfehlern“, „Automatisierungsfehlern“ oder „Umsetzungsfehlern“ oder auch zwischen „Ressourcenfehlern“, „Heuristikfehlern“, „Kontrollfehlern“ oder „Überzeugungsfehlern“, um nur einige der Fehlertypen zu nennen, die in der Fehlertheorie und -forschung ins Feld geführt wurden. Vgl. dazu: Brigitte Rollett, Auf dem Weg zu einer Fehlerkultur. Anmerkungen zur Fehlertheorie von Fritz Oser, in: Wolfgang Althoff (Hrsg.), Fehlerwelten. Vom Fehlermachen und Lernen aus Fehlern. Beiträge und Nachträge zu einem interdisziplinären Symposium aus Anlaß des 60. Geburtstags von Fritz Oser, Opladen 1999, S. 71–87, hier S. 72.
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1. Überforderung und gekonntes Fehlen Ein erster Aspekt des Fehlermuts betrifft eine Trivialität: die strukturelle Überforderung von Literaturwissenschaftlern und die daraus resultierende Fehleranfälligkeit literaturwissenschaftlicher Arbeit. Heinz Schlaffer etwa hat in seinen Überlegungen zum Umgang mit Literatur, der sich Diesseits und jenseits der Lektüre bewegt, u.a. darauf aufmerksam gemacht, dass Leser nicht immer akut Lesende sind. Leser, so Schlaffer, lesen nicht ständig – wie sollte dies auch gehen? Sie haben gelesen, sie werden, sollen oder wollen lesen. Leser blicken auf eine „Vielzahl von Lektüren“ vor und zurück, sie sind in der Regel erinnernde oder potentielle Leser.19 Dies gilt auch für Literaturwissenschaftler. Das philologische „Ideal eines vollständigen Wissens über Texte“20 dürfte von daher auch in der literaturwissenschaftlichen Praxis kaum begegnen (wenn man überhaupt zu sagen vermag, was ein „vollständiges Wissen über Texte“ ist). Dass angesichts begrenzter Zeitressourcen, einer Überfülle des möglicherweise Relevanten und des breiten theoretischen und methodischen Angebots, das mittlerweile von den Anforderungen an den traditionellen Stubengelehrten bis hin zum Programmierer und Laborwissenschaftler reicht, dass also angesichts der strukturellen Überforderung des Literaturwissenschaftlers das Fehlen ‚in gewissen Hinsichten‘ eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich ist, liegt nahe. Nur: Was bedeutet an dieser Stelle ‚in gewissen Hinsichten‘? Und wann wäre das Fehlen ‚mutig‘ zu nennen? Wann sind Fehler vermeidbar und daher tadelnswert? Wo beginnt die bloße Schludrigkeit, die nichts damit zu tun hat, dass es z.B. noch nicht um die Produktion von Ergebnissen, sondern eher um den Entwurf eines Projekts geht? An welchen Stellen einer Argumentation erscheinen Fehler hinnehmbar? Und wo haben sie so schwerwiegende Folgen, dass sie inakzeptabel werden? Man kann sich den Mut des Fehlens in einem ersten Schritt über die Differenzierung von Irrtum und Fehler nach der klassischen Studie von Hermann Weimar über die „Psychologie des Fehlers“ von 1925 erschließen: Demnach müsste der Fehlende es eigentlich besser wissen, wohingegen der Irrende unter einem Mangel an Information leide.21 Für die Literaturwissenschaft stellt sich || 19 Heinz Schlaffer, Der Umgang mit Literatur. Diesseits und jenseits der Lektüre, in: Poetica 31 (1999), S. 1–25, hier S. 2. 20 Ebd., S. 23. 21 Fritz Oser, Tina Hascher, Maria Spychiger, Lernen aus Fehlern. Zur Psychologie des „negativen“ Wissens, in: Wolfgang Althoff (Hrsg.), Fehlerwelten. Vom Fehlermachen und Lernen aus Fehlern. Beiträge und Nachträge zu einem interdisziplinären Symposium aus Anlaß des 60. Geburtstags von Fritz Oser, Opladen 1999, S. 11–41, hier S. 13.
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vor diesem Hintergrund die Frage, wann angesichts struktureller Überforderung die Aktivität der Informationsbeschaffung so groß ist, dass man von einem lässlichen Irrtum und nicht von einem disqualifizierenden Fehler sprechen muss. Vor allem aber: Wie sieht man diese Aktivität? Was also sind geeignete Indizien dafür, dass einem epistemischen Ding in angemessenem Ausmaß Aufmerksamkeit zuteil wurde, dass umfassend argumentiert wurde, dass genau analysiert wurde, dass eine ausreichende Anzahl von Quellen zur Kenntnis genommen und die Forschungslage einbezogen wurde? Spezialisierung als Beschränkung auf einen Forschungsbereich, auf ein bestimmtes Reservoir von Forschungspraktiken und auf eine bestimmte Teilgruppe der scientific community als Kommunikationsumgebung von Forschung – all das wäre eine plausible Reaktion auf diesen Zustand struktureller Überforderung.22 Aber Spezialisten haben in der literaturwissenschaftlichen Germanistik – aus unterschiedlichen Gründen – einen ebenso schlechten Stand wie Universalisten. Dies führt dazu, dass jeder von uns, obwohl er nur zu wenigen Dingen etwas mehr oder weniger Zuständiges zu sagen hat, zu vielen Dingen etwas sagen muss oder sich dazu berufen fühlt, bei denen er sich nicht so gut auskennt. Dies mag ein Curriculum oder ein Modulplan erfordern, Anforderungen der Forschungsinstitutionalisierung oder des Gutachterwesens u.v.a.m. Man geht also – gewollt oder nicht – permanent Risiken des Fehlens ein, wenn man dazu gehören will, und dies selbst auf der evaluierenden Seite, die in Prüfungsverfahren immer mit geprüft wird, zumal es zu den Strategien der Selbstbeglaubigung eines Gutachtens gehört, selbst bei überbordendem Lob auch Kritik zu üben. Im Blick auf die Gehalte oder Wissensbestände sieht sich noch der Könner mit Problemen konfrontiert, die man in der Regel als charakteristisch für Adepten beschreibt. Das Spezifische am Könner ist jedoch, dass er routiniert und gekonnt mit seiner Fehleranfälligkeit umgeht. Wenn es gut läuft, dann fehlt er und wird gleichwohl sozial nicht auffällig: Er wird nach Vorträgen nicht übermäßig beschimpft, in Rezensionen nicht radikal kritisiert, in der scientific community nicht völlig ausgegrenzt und geächtet. Auch wenn er immer damit rechnen muss, dass bestimmte Fehler, die bei einem Adepten für lässlich gehalten werden, für den Könner besonders peinlich sind, werden seine Fehler z.B.
|| 22 Peter J. Brenner, Das Verschwinden des Eigensinns. Der Strukturwandel der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft, in: ders. (Hrsg.), Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1993, S. 21–65, hier S. 45f.
68 | Steffen Martus freundlich übergangen oder als Kommunikationsangebot gedeutet – für Nachfragen, eine angenehme Diskussion, hilfreiche Hinweise u.a. Aber wie gelingt dies? Und wie funktioniert es – mit Andreas Kemmerling im Anschluss an Gilbert Ryle formuliert –, dass „jemand, der mit einschlägigem Wissen vollgestopft ist, dennoch dumm handeln kann“23, oder dass jemand, der über einen bestimmten Bereich nur sehr wenig Wissen hat, trotzdem intelligent agiert? Wie das entsprechende Risikomanagement angesichts dieser typischen Formen der Überforderung aussieht, wäre jedenfalls zu untersuchen. Vermutlich spielt dabei der Unterschied von Wissen und Können oder von „knowing that“ und „knowing how“ eine Rolle, also jene Differenz, die auf eine Praxeologie der Literaturwissenschaft hinausläuft. Ich deute diesen Aspekt des Fehlermuts mithin als Hinweis auf unterschiedliche Fehlerquellen. Das Fehlen kann einerseits eher das propositionale, andererseits eher das prozedurale Wissen betreffen. Offenkundig ist dabei die personale Komponente und mithin das Ethos des Forschers besonders relevant: So stellt sich etwa die Frage, wie der Fehlermut mit dem Reputationsaufbau von Forschern zusammenhängt. Mit anderen Worten: Es stellt sich die Frage, inwiefern es wichtig ist, wer Fehler macht und wer einen Fehler bemerkt oder feststellt. Denn beim ‚erfahrenen‘ Forscher darf ein sicheres Gespür für das Richtige, Fruchtbare, Angemessene, Wahre u.a. unterstellt werden, so dass ihm gegenüber möglicherweise die Gelassenheit wächst, mit der man Fehler zur Kenntnis nimmt. Noch einmal: Umgekehrt mag ein Fehler gerade bei einem Könner besonders unverzeihlich erscheinen. Wie sieht man ‚Erfahrenheit‘? Wenn man die positiven Attribute ‚richtig‘, ‚fruchtbar‘, ‚angemessen‘ oder ‚wahr‘ unter die Fähigkeit zum „geschickten“ (oder auch: „erfahrenen“) forschenden Handeln fasst,24 dann ist der Hinweis von Gilbert Ryle aufschlussreich, dass man eine „geschickte“ Handlung nicht instantan erkennen kann – schließlich könnte es sich auch um zufälliges Gelingen oder um bloße Gewohnheit handeln. „Daß jemand die Fertigkeit besitzt, etwas gut, erfolgreich, richtig usw. zu tun, läßt sich nicht allein daraus ersehen, dass er es jetzt und hier so getan hat“.25 Dies wiederum bedeutet, dass die Feh|| 23 Andreas Kemmerling, Gilbert Ryle: Können und Wissen, in: Josef Speck (Hrsg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart III. Moore Goodman Quine Ryle Strawson Austin, 2., durchges. Aufl., Göttingen 1984, S. 127–167, hier S. 141. 24 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Mit einer Einleitung hrsg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt a.M. 1980, S. 125f.; Michael Polanyi, Implizites Wissen, Frankfurt a.M. 1985, S. 16. 25 Gilbert Ryle, Der Begriff des Geistes, Stuttgart 1992, S. 48.
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lereinschätzung im Rahmen vieler Leistungen erfolgt, entweder im Rahmen einer Forscherkarriere oder auch im Rahmen einer Forschungsarbeit, wo einzelne Fehler gegebenenfalls durch andere Leistungen aufgewogen werden können. Man muss also viel richtig gemacht haben, um kompetent fehlen zu können. Oder man muss viel Richtiges angebahnt haben, um als mutiger Fehlermacher zu gelten. Den Mut des Fehlens erbringt der potentiell Fehlende prospektiv, der Leser diagnostiziert ihn retrospektiv. Ebenso lässt sich eine Anregung erst ex post als Anregung bestätigen – es könnte sich auch einfach nur um eine dumme Idee handeln, die mit dem Anspruch auf Anregung publiziert wird. Bei reputierten Forschern steigen die Chancen, etwas Falsches zu sagen und deswegen gleichwohl nicht disqualifiziert zu werden. Man gesteht ihnen dann beispielsweise zu, ein Risiko oder Wagnis einzugehen, wichtige Anregungen geliefert, eine interessante Frage gestellt oder ein spannendes Problem aufgeworfen zu haben. Das versteht sich fachgeschichtlich durchaus nicht von selbst. Als nämlich Wilhelm Scherer Jacob Grimms Formel vom „Mut des Fehlens“ aufgriff, da versuchte er den Forschungstypen des „Anregers“ und des „Entdecker[s] (im weitesten Sinn: alle, welche sichere neue Resultate liefern)“ überhaupt erst zu etablieren.26 Die ‚Anregung‘, also die fehlertolerante Formulierung von fruchtbaren Problemen, der möglicherweise vorschnelle und visionäre Versuch ihrer Lösung und damit das offensiv einkalkulierte Scheitern im Blick auf wahre Aussagen sollten, so meint Scherer, als wissenschaftliche Qualität wahrgenommen werden. Dies war ein bedeutender Eingriff in das etablierte philologische Ethos. Der Versuch, den Typus des „Anregers“ zu etablieren, war zugleich der Versuch, den Irrtum nicht als Ausschlusskriterium aus der wissenschaftlichen Kommunikation zu verstehen. Sorgfältige, umsichtig, bis in die letzten Spitzen hin, mit der größten Kraft im kleinsten Puncte ausgeführte Arbeiten geben den höchsten Maßstab her und zeigen das Ziel, bis zu welchem jede Forschung einmal vordringen muß. Sie haben zugleich aber etwas Niederdrückendes, Entmuthigendes, Strenges und Unnahbares. Anregung dagegen, das Schönste was es giebt, die erweckende Kraft, die auf andere überströmt, geht nur von Arbeiten aus, wie Jacob Grimm sie uns schenkte, Arbeiten, welche Lücken lassen, welche über denselben Gegenstand verschiedene Ansichten zur Wahl stellen, welche den Widerspruch herausfordern, welche das Gefühl geben, daß der Reichthum der überlieferten
|| 26 Wilhelm Scherer, Briefe und Dokumente aus den Jahren 1853 bis 1886, hrsg. u. kommentiert v. Mirko Nottscheid u. Hans-Harald Müller unter Mitarbeit v. Myriam Richter, Göttingen 2005, S. 151; vgl. auch ebd., S. 231f.
70 | Steffen Martus Thatsachen und des möglichen daraus zu ziehenden Gewinnes entfernt nicht erschöpft, sondern überall erst zu erschöpfen sei.27
Dass wissenschaftliches Arbeiten auch die Funktion haben kann, Widerspruch zu erregen, Lücken aufzuzeigen und auf diese Weise weitere Forschungsprozesse anzuregen – das zu akzeptieren fiel Scherers Umfeld schwer. Scherer selbst litt darunter, dass sein Ethos des Fehlermachens nicht anerkannt wurde. Im Briefwechsel mit Rudolf Haym über dessen Herder-Darstellung schrieb Scherer ein halbes Jahr vor seinem Tod: Ich bin auf demselben Puncte für mich empfindlich, auf dem ich es für Herder bin. Jedesmal, wenn mich einer mißwollend recensirte, so geschah es, indem er das, was an anregender Kraft in der recensirten Schrift stecken mochte, unterschlug und was nach einem willkürlich, aber natürlich mit unfehlbarer Mine hingestellten ‚exacten‘ Fach-Ideal an der letzten Vollendung mangeln mochte, aufs stärkste betont.28
Und Julius Zacher, der Begründer der Zeitschrift für deutsche Philologie, schrieb Scherer bereits im Jahre 1869: Sie sind, meines erachtens, unter den jüngeren germanisten der begabteste. In Ihnen gesellt sich zu reichem und gründlichem wissen eine fruchtbare combinationsgabe, eine seltne inspiration des findens und entdeckens, und dazu grosse raschheit des denkens, aussprechens und handelns. Sie haben hierin, wie noch in anderem, eine verwandtschaft mit Jac. Grimms beanlagung. wie oft aber corrigiert sich Jac. Grimm, wie selten Lachmann. Da hätte ich denn wol gewünscht, Sie wären ein paar jahre in Lachmanns schule gewesen […].29
Richard Moritz Meyer hingegen baute den Mut des Fehlens in sein Forschungsethos ein. In seinem Beitrag über Gestalten und Probleme (1905)30 verwies er auf Techniken für das „Auffinden von Tatsachen“ und stellte dabei den wissenschaftlichen Leitwert der Wahrheit auf bemerkenswerte Weise zurück. So kommentierte Meyer beispielsweise die Vorstellung seines Lehrers Wilhelm Scherer über einen wellenförmig angelegten Kulturrhythmus: Er halte diesen insgesamt für falsch, aber „den großen Forscher“ habe diese falsche These „zu Entdeckungen geführt [...], die ihm sonst vielleicht entgangen wären“.31 Das ändere freilich nichts daran, dass bei weniger begabten Forschern die „Gefahr“ der || 27 Ders., Jacob Grimm, S. 329. 28 Ders., Briefe und Dokumente aus den Jahren 1853 bis 1886, S. 153. 29 Ebd., S. 226. 30 Ich danke Myriam Richter, die an einer umfassenden Studie zu Meyer arbeitet, für den Hinweis auf diese Schrift. 31 Richard M. Meyer, Gestalten und Probleme, Berlin 1905, S. 12.
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„Ausschreitung“ bei ästhetisch imprägnierten wissenschaftlichen Verfahren bestehe: „Bei dieser drückenden Herrschaft, die die Gesamtanschauung über die Einzeltatsachen ausübt, können Fehler leicht verjähren, falsche Analogien sich festigen, irreführende Methoden sich einbürgern“.32
2. Die Multinormativität der Literaturwissenschaft Die Debatte um den Typus des ‚Anregers‘ weist auf die Multinormativität literaturwissenschaftlichen Arbeitens hin. Für den Mut des Fehlens ist dies insofern relevant, als Fehler in der Fehlerforschung u.a. als Abweichung von einer Norm definiert werden.33 Die normative Vielfalt literaturwissenschaftlichen Arbeitens erhöht die Fehlerwahrscheinlichkeit, kann sie aber zugleich verringern. Die Annahme ist, dass sich eine Forschungsleistung aus unterschiedlichen Teilpraktiken mit je eigenen normativen Leitwerten zusammensetzt – Interpretationen z.B. vollziehen immer sehr viele Handlungen: Sie beschreiben, erklären, begründen, verteidigen, kritisieren, nehmen Bezug auf etwas, vermehren, strukturieren, stellen dar u.a. Die literaturwissenschaftliche Praxis bringt demnach verschiedene Praktiken zum Einsatz und kann unter vielen normativen Aspekten betrachtet, für richtig oder fehlerhaft gehalten werden. Im Blick auf epistemische Dinge lassen sich bezugsgruppenspezifisch sehr unterschiedliche Normen auf- und abblenden und unterschiedliche normative Hierarchien bilden. Bei der Ausführung von Praktiken spielen Momente wie „Vertrautheit, Befriedigung, Erschließung und Beschränkung“ eine große Rolle.34 So kann man bei der Qualifikation einer Forschungsleistung als einem Konglomerat aus realisierten Praktiken danach fragen, ob diese Leistung richtig ist, ob sie wahr ist, ob sie passt oder weiter führt, ob sie weitere Forschungen stimuliert, ob mit ihr Drittmittel eingeworben oder Ressourcen verschleudert wurden, ob sie verständlich ist u.v.a.m. Das beliebte Label „plausibel“35 lässt sich daher als ein Label für sehr Vieles einsetzen, was man z.B. bei Interpretationen getan hat – es handelt sich um einen pastosen Begriff, der gerade die Vielfalt || 32 Ebd., S. 14. 33 Oser u.a., Lernen aus Fehlern, S. 11 (hier auch zu alternativen Definitionen). 34 Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Frankfurt a.M. 2006, S. 22. 35 Vgl. dazu Simone Winko, Zur Plausibilität als Beurteilungskriterium literaturwissenschaftlicher Interpretationen, in: Andrea Albrecht u.a. (Hrsg.), Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens, Berlin, Boston 2015 [im Erscheinen].
72 | Steffen Martus von Teilpraktiken und die damit verbundenen Normen und Werte bezeichnet, die z.B. in der Interpretationspraxis ‚zur Geltung gebracht‘ werden. Entscheidend ist nun aber insgesamt, dass sich diese Normen aus ökonomischen Gründen nicht zugleich und dass sie sich in der Regel nicht konfliktfrei realisieren lassen. Dies erhöht die Fehlerwahrscheinlichkeit literaturwissenschaftlicher Praxis. Zugleich eröffnet die Multinormativität literaturwissenschaftlichen Arbeitens die Möglichkeit, einen nicht fehlerhaften Aspekt in der Normenhierarchie nach oben zu setzen, um dadurch Fehler im Blick auf andere Normen für weniger relevant oder sogar für irrelevant zu erklären. Zumal wissenschaftliche Evaluationsverfahren für Forschung und Forschungsprojekte wären in diesem Zusammenhang ein interessantes Untersuchungsfeld, weil sich – wie Thomas Wiemer ausgeführt hat – in der „Praxis“ der Geisteswissenschaften stabile Bewertungsroutinen herausgebildet haben, weil es dabei „um Urteile geht, die Komplexeres als die Feststellung von richtig oder falsch verlangen“ und weil dabei Kriterien wie „Stimmigkeit, Sachangemessenheit, Ausgewogenheit des Urteils“ eine wichtige Rolle spielen.36 Die Multinormativität literaturwissenschaftlichen Arbeitens ist nicht zuletzt im Blick auf den praktischen Aspekt des Forschens aufschlussreich, also im Blick darauf, dass Vieles in der Forschung einen lediglich vorläufigen Status beanspruchen kann: Literaturwissenschaftliches Arbeiten vollzieht sich über Zwischenstufen des Ausprobierens, des testenden Arrangierens, des noch nicht publikationsreifen Ausformulierens etc., die zwischen dem Forschungsgegenstand und der fertigen Analyse liegen. Dies kann sich etwa auf eine Forschungsarbeit (einen Aufsatz, eine Monographie, einen Vortrag etc.) beziehen oder auf ein Projekt, auf einen Forschungszusammenhang, der sich aus mehreren Beiträgen (von einer oder mehreren Personen) zusammensetzt. Diese Zwischenstufen sind nicht vernachlässigenswert, sondern haben eine ‚epistemische Funktion‘. Unterschiedlichen Stufen des Forschungsprozesses sind möglicherweise unterschiedliche Normen privilegiert zugeordnet. Die versuchende Konstellierung eines epistemischen Dings nutzt die Möglichkeiten der Multinormativität von Forschung aus, weil es dabei um Kriterien geht wie ‚anschlussfähig‘, ‚brauchbar‘, ‚passend‘, ‚fruchtbar‘, ‚weiterführend‘, ‚illustrativ‘, || 36 Wiemer, Ideen messen, Lektüren verwalten? S. 269f., 274. Vgl. zur eigentümlichen Konsensfähigkeit der scheinbar so dissenten Literaturwissenschaft auch: Horstmann, Qualität und Qualitätsprüfung in den Geisteswissenschaften, S. 212, 218. – Horstmann weist auf die Konsensualität hin, vermisst jedoch die Fähigkeit oder Bereitschaft dazu, „die eigene Einschätzung explizit zu vertreten“. Vgl. hier auch die Kriterien für „Wissenschaftlichkeit“ im Anschluss an Helwig Schmidt-Glintzer: Neuigkeit, Professionalität, Verständlichkeit, Reflexivität, Referentialität, Adressatenbezug, Ein- oder Mehrsprachigkeit (ebd., S. 213).
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‚plausibel‘, ‚unterhaltsam‘, ‚geeignet‘ etc. Bei Prozessen des vorläufigen Festhaltens und versuchsweisen Ablegens im Rahmen von Forschungszusammenhängen erfüllen etwa Exzerpte ‚epistemische Funktionen‘. Ähnlich wie Zusammenfassungen oder Abstracts erzielen sie „Effekte der Kondensation“ über „Stufen der Reduktion“, die „neue Muster wahrnehmbar“ werden lassen.37 Im Vergleich mit dem Forschungsergebnis aber sind solche Zwischenstufen mit höherer Wahrscheinlichkeit fehlerhaft. Erweitert man den Blick auf kollektive Forschungsprozesse, dann ist jedes einzelne Forschungsergebnis nicht mehr als eine Zwischenstufe und kann Fehler aufweisen, ohne dass dies wirklich stört. Anders gesagt: Diese Fehleranfälligkeit ermöglicht Forschung oder stimuliert sie. Neben der personalen Komponente und dem Aspekt der Multinormativität gilt es also auch die prozessuale Komponente des Fehlermuts zu beachten. Es ist wichtig, um das Ethos des Fehlermachens einzuschätzen, wann jemand Fehler begeht sowie im Blick auf welche normative Ordnung dies geschieht. Für den angemessenen Umgang mit der Multinormativität literaturwissenschaftlichen Arbeitens gibt es kein Regelwerk. Es handelt sich um eine über lange Zeit hinweg erworbene routinierte Haltung, um einen wichtigen Aspekt einer „Tätigkeits- und Lebensform“.38 Vermutlich ist auch in diesem Zusammenhang das von der Fehlerforschung sogenannte „negative Wissen“ besonders wichtig, also das Wissen darüber, „was nicht zu einer Sache gehört (Abgrenzungswissen) oder nicht getan werden darf (Fehlerwissen)“.39 Und vielleicht ist auch hier die „Schutzfunktion“ des „negativen“ für das „positive“ Wissen weniger im Bereich des Sachwissens von Bedeutung als insbesondere im Bereich des Ethos. Von daher wäre es ein Defizit im Rahmen der Ausbildung des literaturwissenschaftlichen Ethos, würde die Germanistik – anders als die Menschheitsgeschichte in den Bereichen des Sozialen, des Rechts oder der Moral – keinen großen Vorrat an Negativbeispielen transportieren bzw. keinen produktiven Umgang mit Negativbeispielen praktizieren.40 Nur in aufwändigen Lernprozessen, die charakteristischerweise fehlerhaft, irrtümlich, umwegig und auf eine normale Art unkontrollierbar verlaufen, entwickelt man ein Gespür dafür, was relevant ist oder sein könnte, was man wissen bzw. was man nicht oder nicht unbedingt wissen muss, was relevant ist und was nicht, was passt und sich fügt, was fruchtbar sein könnte oder hilfreich etc. || 37 Hans-Jörg Rheinberger, Kritzel und Schnipsel, in: Bernhard J. Dotzler und Sigrid Weigel (Hrsg.), „fülle der combination“. Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte, München 2005, S. 343–356, hier S. 345. 38 Ders., Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 92. 39 Oser u.a., Lernen aus Fehlern, S. 17. 40 So könnte man aus den Überlegungen und Belegen folgern von: ebd., S. 19, 21f., 35.
74 | Steffen Martus – mit anderen Worten: Man entwickelt ein angemessenes Gespür dafür, wie das reichhaltige Arsenal von Normen und Werten genutzt werden kann, das mehr oder weniger locker um wissenschaftliche Zentralwerte wie Korrektheit, Richtigkeit oder Wahrheit gruppiert ist.
3. Lehrhafte Fehler Ein letzter Aspekt betrifft die Frage, welche produktive Funktion Fehler in LehrLern-Kontexten haben. Die Idee, dass Fehler nicht nur unproblematisch sind, sondern sogar eine hoch interessante Erkenntnisquelle darstellen, wurde als Theorie vom „critical incident“ entwickelt, und zwar zunächst im Blick auf Kampfpiloten. Danach spielte diese Theorie in der Evaluierung von Krankenhäusern eine große Rolle und wurde schließlich ein Baustein in pädagogischen Theorien. Dass zwischen Bombardierung und Krankenpflege ein intrinsischer Zusammenhang besteht, leuchtet dabei ein. Inwiefern die Pädagogik in den Kreislauf von Destruktion und Rekreation eingebaut ist, wäre noch zu klären. Jedenfalls wird die Multinormativität literaturwissenschaftlichen Arbeitens insbesondere in Instruktionsprozessen bzw. in Lehr-Lern-Kontexten genutzt.41 Tatsächlich sollten hier Konsequenzen aus der Erkenntnis gezogen werden, dass sich das „implizite Können langsam und stetig“ entwickelt, und zwar über Verfahren des (typischerweise fehlerhaften) ‚Übens‘ nicht zuletzt anhand von „Beispielen“.42 Was bedeutete es beispielsweise für die Notengebung innerhalb des B.A.-Studiums, wenn Fehler als pädagogisch wertvoll gelten?43 Vermag eine literaturwissenschaftliche Ausbildung produktiv einzubeziehen, dass sich die in informellen Lernprozessen vermittelten Normen zwar retrospektiv artikulieren lassen, dass erfolgreiches Lernen sich aber über weite Strecken ohne die explizite Formulierung von Regeln vollzieht?44 Ein Aspekt am Mut des Fehlens, den das Studium erfordert, besteht in einem Normkonflikt auf Seiten der Lehrenden zwischen dem Ziel der Vermittlung
|| 41 Vgl. zum Folgenden: Michael Kämper-van den Boogaart, Steffen Martus, Carlos Spoerhase, Entproblematisieren: Überlegungen zur Vermittelbarkeit von Forschungswissen, zur Vermittlung von „falschem“ Wissen und zur Funktion literaturwissenschaftlicher Terminologie, in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 21 (2011), S. 8–24. 42 Manfred Spitzer, Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Heidelberg 2007, S. 65, 71, 73. 43 Zur Blockade des Lernens aus Fehlern durch konstante Leistungsbewertung: Oser u.a., Lernen aus Fehlern, S. 14. 44 Spitzer, Lernen, S. 75.
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von Wissen und der wissenschaftlichen Orientierung an Wahrheit. Jeder Lehrende macht die Erfahrung, dass sich das, was er für wahres Wissen hält, in Vorlesungen oder Seminaren in der Regel nur defizitär vermitteln lässt. An dieser Stelle mag der Hinweis genügen, dass Prüfungssituationen der privilegierte Ort dafür sind, um zu zeigen, dass man wenig wissen und gleichwohl intelligent handeln kann. Man kennt den Fall von Prüflingen, die offenbar sehr viel gelernt haben und sehr viel zu sagen haben, aber nur wenig oder nichts dazu, was man als Prüfer mit seinen Fragen als relevant markiert. Mit anderen Worten: Diese Prüflinge nehmen das intentionale Angebot nicht an, das eine Aufgabe darstellt. Sie zeigen nicht, dass sie zumindest verstanden haben, warum eine Frage in einer gewissen Weise gestellt, was damit als relevant ausgewiesen und welche Antwortform erwartet wird. Sie demonstrieren, dass sie kein Gespür für jene kollektive Intentionalität haben, die literaturwissenschaftliche Forschungszusammenhänge auszeichnet. Den umgekehrten Fall beschreibt Jacob Grimm, wenn er die Forschungstugend, die er mit dem Mut zum Fehlen auszeichnet, in die Prüfungspraxis übersetzt. In seiner Funktion als Mitglied der Prüfungskommission für Lehramtskandidaten an der Universität Göttingen passt er die dortige Prüfungspraxis ins Programm seines Forschungsethos ein. Oder anders: Grimm achtet auf die Ausarbeitung einer bestimmten Haltung. Er legt gegebenenfalls weniger Wert auf umfassende Sachkenntnis und lenkt den Blick stattdessen mehr auf die Fähigkeit, Gegenstände zu problematisieren. So endet die sehr kritische Beurteilung einer schriftlichen Arbeit aus dem Jahr 1833 versöhnlich, weil Grimm zwischen Fehlern beim propositionalen und beim prozeduralen Wissen unterscheidet oder weil er die Bewertung des Forschungsethos in den Vordergrund rückt: Bei allen diesen mängeln ist der gelieferte aufsatz lobenswerth, und bezeugt, dass sein verf. die deutsche sprache ernstlicher und gründlicher studiert hat, als gewöhnlich geschieht. er weiss gramm. untersuchungen anzuregen.45
Hier fällt das Stichwort, das Scherer mit seiner Verteidigung des „Anregers“ (s.o.) aufgreifen wird. – Bei einem anderen Fall bemerkt Grimm nach einer mündlichen Prüfung deutliche Defizite des Kandidaten, fügt dann jedoch hinzu:
|| 45 Else Ebel, Jacob und Wilhelm Grimm und ihre Vorlesungstätigkeit in Göttingen 1830–1837, in: Brüder Grimm Gedenken 4 (1984), S. 56–98, hier S. 96.
76 | Steffen Martus Es erhellte, daß er diesen Gegenständen wohl noch nie eine genauere Betrachtung zugewandt hatte; denn seine übrigens offenbarten Fähigkeiten berechtigen zu dem Schluß, daß er dann auch hier befriedigendere Auskunft zu ertheilen im Stande gewesen sein würde.46
Somit wird mehr das Potential des Prüfungskandidaten als seine tatsächliche Leistung beurteilt, es geht mehr darum, dass dieser die Gegenstände richtig zu problematisieren versteht, als dass er sie sachlich richtig, fehlerfrei präsentiert. Bei dieser Prüfung handelt es sich offenbar um ein gutes Beispiel dafür, dass jemand wenig wissen und gleichwohl intelligent handeln kann. Der kompetente Forscher jedenfalls, der auch mit Fehleranfälligkeit und Fehlern kompetent umgeht, ist vertraut mit Formen gemeinsamer Problematisierung in einem Forschungszusammenhang. Dies bedeutet einerseits, dass er seine Interessen auf gruppenspezifische Weise entwickelt, und andererseits, dass er alternative oder abweichende Zugänge zu epistemischen Dingen auf eine anschlussfähige Weise sowie den anschlussfähigen Zugang zu neuen epistemischen Dingen zu finden vermag. Mit anderen Worten: Er realisiert Exemplarität und versteht es, Wissensbestände, Praktiken usw. zu übertragen.47 Der Mut des Fehlens als eine mögliche Forschungstugend lässt Fehler dann akzeptabel und hilfreich erscheinen, wenn man im Rahmen kollektiver Intentionalität erkennt, welches Ziel sich hinter den Handlungen verbirgt. Diese Funktion der wissenschaftlichen Arbeit in Lehrkontexten bezieht Julius Zacher ein, als er im ausführlichen Entwurf einer Verfassung für das Seminar für deutsche Philologie in Halle aus dem Jahr 1875 den Stellenwert der „schriftliche[n] Arbeit“ bei der „Aufnahme“ bestimmt: Die schriftliche Arbeit ist hinzugefügt, damit der Bewerber bei ihrer Anfertigung sich sammle, den Anfang zur Selbsterkenntniß mache, und den Ernst der Seminaraufgabe würdigen lerne. Ein entscheidendes Gewicht aber ist auf dieselbe deshalb nicht gelegt, weil der erste Versuch dazu nicht geeignet ist. Denn leicht kann es geschehen, daß der mäßig begabte aber gewandte eine ganz leidliche erste schriftliche Arbeit liefert, während die des tiefangelegten recht unbeholfen und mangelhaft ausfallen kann.48
|| 46 Ludwig Denecke, Die Göttinger Jahre der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, in: Göttinger Jahrbuch (1977), S. 139–155, hier S. 149. 47 Michael Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition, Frankfurt a.M. 2006, S. 30, 32, 34f., 38. 48 Deutsche Philologie an den preußischen Universitäten im 19. Jahrhundert. Dokumente zum Institutionalisierungsprozess, hrsg., eingeleitet und kommentiert von Uwe Meves, Berlin, New York 2011, S. 796f.
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Zacher bringt damit den von Ryle angemerkten Aspekt des Reputationsaufbaus bereits bei der akademischen Ausbildung ins Spiel. Wenn man sagt, jemand handle intelligent, bezieht man sich nicht nur auf „einzelne Situationen“, sondern sagt „auch etwas Hypothetisches über viele verschiedene Verhaltensweisen des Handelnden in verschiedenen Situationen“.49 Solche – wiederum oftmals intuitiv formulierten – Hypothesen gehören zum Geschäft der Literaturwissenschaft, wobei wiederum evaluative Prozesse dafür besonders wichtig sind – etwa für die Entscheidung, ob man einen Kandidaten überhaupt zur Promotion zulässt, ob man ihn für ein Stipendium empfiehlt etc. Auch bei der Einschätzung der Durchführbarkeit, Fruchtbarkeit und der Belastbarkeit von Versprechen vielfältiger Art, die im Rahmen von Forschungsanträgen gemacht werden, spielen solche Aussagen auf der Grundlage von Rückblicken und Prognosen eine große Rolle. So zeigt etwa Julius Zachers Bestimmung der „Aufnahmebedingungen“ in das philologische Seminar, dass die Wahrheit oder Richtigkeit der schriftlichen Leistung dafür nicht zentral ist, wohl aber die Konzentrationsfähigkeit, die Fähigkeit zur Selbstreflexion oder die Realisierung des Arbeitsethos des Seminars: Der Adept, so Zachers Bestimmung des strategischen Werts der schriftlichen Aufgabe, möge „den Ernst der Seminaraufgabe würdigen lerne[n]“.50 Zu fehlen wäre mithin akzeptabel, wenn man Verständnis für das „intentionale Angebot“ aufbringt, das Kommunikationsofferten (Forschungsbeiträge, Prüfungsfragen, Vortragsdiskussionen u.a.) unterbreiten, und wenn man damit sein Forschungsethos unter Beweis stellt. Demnach gibt es, wie Michael Tomasello betont, für die Erkenntnis von solchen stets situativ bestimmten „kommunikativen Angeboten“ und „Absichten“ keine festen Regeln, so dass man den Erwerb entsprechender Fertigkeiten als Integration in eine „Lebensform“ beschreiben kann.51 Tomasello rekonstruiert Lernprozesse so, dass dem Fehlen dabei eine besonders produktive Funktion zukommt: Gerade die Beobachtung scheiternder Handlungen kann anregend sein, weil man gleichwohl versteht, was für ein Ziel dahinter steht.52 Man versetzt sich „in den ‚intentionalen Raum‘ des Benutzers“ und versteht, „wozu“ er ein Artefakt benutzt.53 Auf diese Weise ergeben sich auch Einsichten, wie ein „intentionale[s] Angebot[]“ von einem Gegenstand entkoppelt und übertragen werden kann. Dies wiederum – und darin liegt der Sinn von Qualifikationsschriften – lässt sich als || 49 Kemmerling, Gilbert Ryle, S. 155. 50 Deutsche Philologie an den preußischen Universitäten im 19. Jahrhundert, S. 797. 51 Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 111, 114, 142. 52 Ebd., S. 111. 53 Ebd., S. 113.
78 | Steffen Martus Zeichen dafür deuten, dass man das „intentionale Angebot“, das in einem bestimmten Bereich der Literaturwissenschaft unterbreitet wird, verstanden hat.54 Man lernt Fachterminologie, Fragestellungen u.a. mit Hilfe des „sprachlichen Kontextes“, in den diese Kommunikationen „eingebettet“ sind, aber ebenso durch das Ausprobieren von Alternativen oder das Austesten von „geeignete[n] Generalisierungen“. Dabei kommt es in der Regel zunächst zur „Übergeneralisierung“, die dann wieder zurückgenommen wird.55 Metakognition hat viel mit ‚schwierigen‘ Stellen bei Aufgaben zu tun, denn dabei müssen kognitive Dissonanzen zwischen Adepten und Könnern durch aufwendige Kommunikationsprozesse ausgeglichen werden.56 Für die Funktion des Seminarbetriebs ist dabei entscheidend, dass insbesondere dialogische Interaktionen über Meinungsverschiedenheiten fruchtbar sind, und hier wiederum insbesondere die Interaktion von Gleichaltrigen.57 Im Seminargespräch wird eine Fülle von literaturwissenschaftlichen Teilpraktiken realisiert. Seine Bedeutung liegt darin, die literaturwissenschaftliche Multinormativität zur Geltung zu bringen und dabei ein Gefühl dafür zu entwickeln, was es bedeutet, Mut zum Fehlen zu haben, und wann es richtig ist, weniger heroisch als vielmehr fehlerfrei zu agieren.
|| 54 Ebd., S. 114. 55 Ebd., S. 157f., 190f. 56 Ebd., S. 244. 57 Ebd., S. 217f., 224.
Hans-Harald Müller
Zwischen Gelehrtenbehavioristik und Wissenschaftsethik Wissenschaftliche Selbstreflexion bei Wilhelm Scherer Eine „strenge Methode, welche keine Autorität ungeprüft annimmt, welche sich selbst Schritt für Schritt controlirt“,1 forderte Wilhelm Scherer in kognitiver Hinsicht. Aber auch in emotionalen Belangen neigte er zu umfassender Selbstbeobachtung und -prüfung. „Ausführliche Malereien meines Seelenzustandes“, schrieb er an Herman Grimm, „sind nicht was ich gerne thue, u. auch schwerlich etwas wonach Sie Verlangen tragen. Und doch wären sie nothwendig, sollte man seinen Freunden immer verständlich bleiben.“2 Publizierte und unpublizierte Texte einer eindringlichen Selbst- und Fremdbeobachtung sind, so scheint es mir, in quantitativer und qualitativer Hinsicht ein charakteristisches Kennzeichen, das die zweite Gelehrtengeneration in der Disziplingeschichte der Germanistik von deren Gründern unterscheidet.3 Diese Texte erreichen weder das Niveau einer Gelehrtenbehavioristik, wie Otto Neurath sie in seiner Empirischen Soziologie konzipierte – Scherers Physiologie der Gelehrten4 blieb ein scherzhafter Plan – noch leisten sie einen konzeptionellen Beitrag zur Wissenschaftsethik. Ich möchte zeigen, dass es gleichwohl lohnt, ihnen in systematischer Absicht nachzugehen. Ethos und (selbstadressiertes) Pathos verknüpfend hielt der 17jährige Scherer in seinem Tagebuch fest: „In einer begeisterten stunde beschloß ich Lessing mir zum vorbild zu nemen.“ Der Gedanke an Lessing „in all seiner herlichkeit, all seinem unermüdlichen forschen u. ringen“ vertrieb seine Mutlosigkeit, und Scherer schloss die Eintragung mit den Worten: „es hob sich in mir alles was je edles u. gutes meine brust bewegt. wie weggewischt war alles hangende ban|| 1 Wilhelm Scherer, Die deutsche Spracheinheit [1871], in: ders., Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich, Berlin 1874, S. 45–70, hier S. 64f. 2 Brief Wilhelm Scherers an Herman Grimm vom 21.12.1866, Archiv der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften (fortan zitiert: ABBAW), NL W. Scherer, Nr. 449. Die Edition des Briefwechsels zwischen Herman Grimm und Wilhelm Scherer ist Gegenstand unseres 2011 abgeschlossenen DFG-Projekts. 3 Allein die Verknüpfung der Arbeitsberichte mit der Berichterstattung über Krankheiten und Nervenkrisen in den Gelehrtenbriefen der Zeit wäre eine Spezialstudie wert. 4 Brief Wilhelm Scherers an Herman Grimm vom 9.7.1868, Staatsbibliothek Berlin. Preußischer Kulturbesitz, NL Grimm.
80 | Hans-Harald Müller gende wesen: ich war wieder der alte u. erkante mich selbst in mir wieder.“ 5 Es gibt keinen Grund, diese Sätze für eine folgenlose adoleszente Idolbildung zu halten. Scherer war sich in der dritten Gymnasialklasse „historischer Neigungen sicher“6 und begann in der fünften eine wissenschaftliche Lektüre mit Exzerpten; der „schon früh ausgesprochenen Neigung für historische und philologische Studien“ gab der Lehrer „die entscheidende Richtung auf die deutsche Philologie“7 – „gothisch decliniren und conjugiren konnte ich schon auf dem Gymnasium“,8 versicherte Scherer später. Bildung und Kultur kamen nicht zu kurz. Was er neben der Privatschule in Wien für erforderlich hielt, teilte der Zwölfjährige seinen Eltern mit: „Was die Sprachen, das Zeichnen und den Klavierunterricht anbetrifft, so glaube ich, daß 3 Stunden wöchentlich im Französischen, 2 Stunden im Zeichnen und 2 Stunden im Klavierspielen hinreichend wären.“9 Der Musik, ihrer Theorie und Geschichte blieb er durch seinen Freund, den Musikwissenschaftler Gustav Jacobsthal10 und durch seine Frau Marie, geb. || 5 Eintragung vom 13.9.1858 in: Wilhelm Scherer, Briefe und Dokumente aus den Jahren 1853 bis 1886, hrsg. und kommentiert von Mirko Nottscheid und Hans-Harald Müller unter Mitarbeit von Myriam Richter, Göttingen 2005 (Marbacher Wissenschaftsgeschichte 5), S. 360. 6 Wilhelm Scherer, Autobiographische Aufzeichnungen (1864), in: ders., Briefe und Dokumente, S. 367. Die Aufzeichnungen enthalten eine Aufzählung der Bücher und Schriften, die Scherer in seiner Jugend, auf der Privatschule und dem Gymnasium für das deutsche Altertum begeisterten – mir ist keine ähnlich umfassende Aufstellung bekannt. 7 Ders., [Bericht über den Gang meiner Studien], in: ders., Briefe und Dokumente, S. 361– 363, hier S. 361. 8 Brief Wilhelm Scherers an Ludwig Speidel vom 21.5.1880, in: Briefe von Wilhelm Scherer. Mitgetheilt von Ludwig Speidel, in: Neue Freie Presse Nr. 8269, 4.9.1887, S. 1–4, hier S. 3; vgl. auch Wilhelm Scherer, An Gustav Freytag (1884), in: ders., Kleine Schriften zur neueren Literatur, Kunst und Zeitgeschichte, hrsg. von Erich Schmidt, Berlin 1893, S. 36–39, hier S. 37: „Erlauben Sie mir, auf wenige Minuten Ihre Aufmerksamkeit für einen jungen Menschen in Anspruch zu nehmen, der in den Fünfziger-Jahren zu Wien das Gymnasium besuchte. Er war ein sehr grüner Junge, fühlte sich schon als künftigen Gelehrten, schwärmte für Jacob Grimm und das deutsche Alterthum, war überhaupt geneigt, sich zu begeistern und aus allen seinen Idealen gleich Dogmen für sich und andere zu machen. Er glaubte unbedingt an verschiedene hohe und große Dinge und an die Personen, die er als irdische Vertreter derselben ansah und denen er einen abgöttischen Cultus widmete.“ 9 Ders., Brief Nr. 2 an Anton von Stadler vom 9.7.1853, in: ders., Briefe und Dokumente, S. 54. 10 Die bisher kaum je beachteten Beziehungen zu Jacobsthal reichen bis in Scherers späte Wiener Zeit zurück, als Jacobsthal bei Scherer hörte, der sich umgekehrt von ihm in Kontrapunkt unterrichten ließ. Die Freundschaft erreichte ihren Höhepunkt während der gemeinsamen Jahre an der Straßburger Universität, wo Jacobsthal 1872 Privatdozent wurde und 1875 ein Extraordinariat erhielt. Vgl. hierzu ausführlich: Peter Sühring, Gustav Jacobsthal – ein Musikologe im Deutschen Kaiserreich, Musik inmitten von Natur, Geschichte und Sprache, Eine ideenund kulturgeschichtliche Biographie mit Dokumenten und Briefen, Hildesheim 2012.
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Leeder, lebenslang verbunden; auf die Verbindungen des Paares zu Brahms hat kürzlich Herbert Zeman11 hingewiesen. In den drei Wiener Studiensemestern hatte er „in der Sprachwissenschaft einigermaßen Fuß gefaßt“, dort „die Methode begriffen“12 und bereits einige zukunftsträchtige Ideen entwickelt; auch in die Kulturgeschichte war er so eingearbeitet, dass ihm in dieser Hinsicht Berlin später nichts Wesentliches bieten konnte. „In allen den Streitfragen aber“, so hob er hervor, „welche die germanistische Wissenschaft bewegten, hatte ich nicht einmal den Anfang eines selbständigen Urtheils gewonnen.“13 Um diesem Missstand abzuhelfen, ging Scherer 1860 nach Berlin, um hier „die Methode“14 zu lernen. Diese Formulierung ist oft zitiert und selten verstanden worden, obwohl Lutz Danneberg mit dem Hinweis auf den Zusammenhang von Seminar, Methode und Wissenschaftsethos im 19. Jahrhundert das Begriffsfeld recht genau umrissen hat.15 Der Begriff ‚Methode‘ umfasst im 19. Jahrhundert sowohl die minutiae der einzelwissenschaftlichen Methodologien als auch, was heute kaum mehr bekannt ist, die allgemeinen Regeln der Lebenskunst. So konnte etwa Berthold Auerbach an seinen Freund Jacob schreiben:
|| 11 Vgl. Herbert Zeman, Wilhelm Scherer (1841–1886) und Österreich, Unveröffentlichte Quellen und Dokumente zur Lebens- und Geistesgeschichte eines österreichischen Gelehrten im 19. Jahrhundert, in: Literatur – Geschichte – Österreich. Probleme, Perspektiven und Bausteine einer österreichischen Literaturgeschichte. Thematische Festschrift zur Feier des 70. Geburtstags von Herbert Zeman. In Zusammenarbeit mit Wynfried Kriegleder hrsg. von Christoph Fackelmann, Wien, Berlin 2011, S. 44–128, hier S. 46. 12 Brief Wilhelm Scherers an Ludwig Speidel vom 21.5.1880, in: Briefe von Wilhelm Scherer, S. 3. 13 Ebd. 14 Ebd.: „Aber von dem, was ich in Berlin finden wollte, hatte ich doch eine ganz bestimmte Vorstellung und war naiv genug, sie nicht zurückzuhalten. Johannes Vahlen, jetzt mein College, damals mein philologischer Lehrer in Wien, hatte mich an Mommsen adressirt, und dieser gab mir eine Karte an Müllenhoff [...]. Meine ersten Gespräche mit Müllenhoff hätte ich wohl ebenso vergessen wie die mit Jacob Grimm, wenn nicht Müllenhoff selbst mich oft daran erinnert hätte, daß ich ziemlich in den ersten Worten, die ich überhaupt vorbrachte, damit herausplatzte, ich sei nach Berlin gekommen, um die Methode zu lernen. Es muß sehr drollig gewesen sein.“ 15 Vgl. Lutz Danneberg, Dissens, ad-personam-Inventive und wissenschaftliches Ethos in der Philologie des 19. Jahrhunderts: Wilamowitz-Moellendorff contra Nietzsche, in: Ralf Klausnitzer und Carlos Spoerhase (Hrsg.), Kontroversen in der Literaturtheorie / Literaturtheorie in der Kontroverse, Bern 2007, S. 93–147, bes. S. 93–107. Hinweise auch schon bei Rainer Kolk, Wahrheit – Methode – Charakter. Zur wissenschaftlichen Ethik der Germanistik im 19. Jahrhundert, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 14 (1989), H. 1, S. 50–73.
82 | Hans-Harald Müller Was mir überhaupt im Leben fehlt, ist Methode. Ich lebe, handle, spreche und arbeite immer aus dem Naturell heraus. Wie wenn es an die Wand geschrieben wäre, steht es vor mir: Methode lernen, an sich halten, abwägen, die Überlegung über den Affect setzen, anderer Menschen Wesen und Stimmung mehr berücksichtigen.16
Scherer war nicht nach Berlin gekommen, um sich in die Lebenskunst einführen zu lassen; was er im Seminar Karl Müllenhoffs erfuhr, war eine umfassende philologische Sozialisation. Zu ihr gehörte bereits das Netzwerk, das ihn in das Seminar geleitete: Sein ungeliebter Lehrer Franz Pfeiffer hatte ihm eine Empfehlung an Jacob Grimm, sein Lehrer Johannes Vahlen eine Empfehlung an Theodor Mommsen gegeben, der ihn wiederum an Moriz Haupt und Karl Müllenhoff weiterempfahl. Zu allen Genannten trat Scherer unmittelbar darauf in persönlichen Kontakt, für Müllenhoff wurde er binnen kurzem ein unersetzlicher Mitarbeiter. Über die Praxis des Seminars von Müllenhoff ist wenig bekannt, umso mehr Zeugnisse gibt es über das von Scherer selbst. Er verfolgte mit ihm nicht allein kognitive und attitudinale, sondern auch affektive und soziale Ziele.17 Eine Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften18 Boeckh’schen Zuschnitts hat Scherer nie geschrieben oder gelesen.19 Im Gegensatz zur „systematischen“ Darstellung einer Enzyklopädie, die „an die Probleme und Axiome der Erkenntnistheorie und Logik“20 anknüpfen müsse, wollte Scherer sein Colleg der Einführung in die deutsche Philologie „praktisch“ aufbauen und „Methodologie allerdings eben am Object selbst“ lehren – ein Verfahren, für das er sich auf Moriz Haupts Konzept von „Methode lehren“ 21 berief. Unter diesem Konzept dürfen wir die Verknüpfung theoretischer und methodo|| 16 Zitiert nach Erich Schmidt, Berthold Auerbach, in: ders., Charakteristiken, Reihe 1, Berlin 1886, S. 418–436, hier S. 425. 17 Zum Zusammenhang der Lernziele vgl. Kolk, Wahrheit, S. 51. 18 Vgl. August Böckh, Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, hrsg. von Ernst Bratuschek, Leipzig 1877. 19 Über seine „Einleitung in die deutsche Philologie“ schrieb Scherer am 25.6.1884 an Konrad Hofmann: „Dieses Colleg hab ich lange nicht gelesen. Wenn ich es wieder lese, z.b. im Winter 1885/1886, den ich zunächst dafür in Aussicht nehme, so möchte ich gerne eine vollständigere Encyclopädie und Methodologie daraus machen. Diese schwebt mir bisher aber nur im gröbsten Umriß vor. Ich würde suchen, mich ungefähr an Böckhs Encycl. und Meth., die ja gedruckt ist, zu halten.“ Zitiert nach Scherer, Briefe und Dokumente, Nr. 60, S. 175. 20 Ders., Einleitung in die Deutsche Philologie, Disposition zur Vorlesung, Freies Deutsches Hochstift Frankfurt am Main, Hs. 5768, 83 Bll., Bl. 1, § 1 Das Ziel, die Aufgabe der deutschen Philologie und ihr Verhältnis zum Leben. Auszüge aus dem letzten Teil des § 1 und § 2 druckte Erich Schmidt in freier Umschreibung unter dem Titel „Wissenschaftliche Pflichten. Aus einer Vorlesung Wilhelm Scherers“ zur Einleitung des Euphorion 1 (1894), S. 1–4. 21 Scherer, Einleitung, Bl. 1.
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logischer Prinzipien mit praktischen Fallbeispielen verstehen: gelernt und habitualisiert werden soll die Fähigkeit, allgemeine theoretische Grundsätze oder methodische Prinzipien auf unbekannte praktische Problemsituationen der Wissenschaft so zu beziehen, dass die gewählten spezifischen Problemlösungen in Übereinstimmung mit den Grundsätzen stehen. Die Einübung wissenschaftlicher Verhaltensnormen und -weisen sollte mit einer unmittelbar an die Person des Studierenden gerichteten ‚ganzheitlichen‘ theoretischen und praktischen Einführung und Einübung in das akademische Leben verbunden werden; Friedrich Ritschl nannte als Pflichten des Hodegeten: Auf Rathschläge bis ins Detail hinein kömmt’s an – Allgemeinheiten helfen nicht und lassen rathlos – der Hodeget soll gleichsam mit dem Studirenden aufstehen, Kaffee trinken, Mittag essen, zu Bett gehen, ihn immer begleiten, für die ganze Zeiteintheilung, für die Art wie er die Feder in die Hand nehmen, ins Tintenfass eintauchen, das Buch aufschlagen etc. soll – bildlich gesprochen. Das hat sein Missliches zu lehren – wird immer viel subjectiv bleiben – kann leicht ins Lächerliche gezogen werden – item aber es hilft.22
Scherers Verhaltenslehren waren weniger zupackend. Zu seinem engeren Schülerkreis stellte er weitgehend symmetrische, dauerhaft enge persönliche und emotional grundierte Beziehungen her, wie sich an den Briefwechseln mit Erich Schmidt, Anton Emanuel Schönbach, August Sauer, Edward Schröder, Bernhard Seuffert und Richard Maria Werner23 zeigen lässt. Schüler, die sich von ihm lösten, wie Jakob Minor, ließ er ohne Feindseligkeit, aber unter künftiger Missachtung ihrer Wege ziehen. Begleitet war die emotionale Zuwendung im Falle Scherers von der Bereitschaft, sich für seine qualifizierten Schüler in umfassender Weise einzusetzen. Er beriet sie bei der Planung und Ausarbeitung ihrer Dissertationen, ließ diese in seiner Reihe drucken und von Kollegen oder Mit|| 22 Friedrich Ritschl, Zur Methode des philologischen Studiums. Bruchstücke und Aphorismen, in: ders., Opuscula philologica V., Hildesheim 1978, Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1879, S. 19–37, hier S. 26. Wenn Ritschl vom Hodegeten spricht, so bezieht er sich auf eine umfassende Konzeption der Einführung in das akademische Studium, die auf die Halle’sche Aufklärung zurückgeht und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelehrt und praktiziert wurde. Vgl. dazu die Definition von Karl Hermann Scheidler, Grundlinien der Hodegetik oder Methodik des akademischen Studiums und Lebens. Dritte, vermehrte und verbesserte Auflage, Jena 1847, S. IV, nach der es das Ziel der Hodegetik ist, dass die Studierenden „eine gründliche, also wissenschaftliche Belehrung über das wahre Wesen der Wissenschaft und der Universität, somit richtige Begriffe und Grundsätze über das akademische Studium [...] so wie über das ganze akademische Leben“ erhalten. 23 Eine kommentierte Edition der Briefwechsel Wilhelm Scherers mit August Sauer, Bernhard Seuffert und Richard Maria Werner wird derzeit von Mirko Nottscheid und mir im Rahmen eines von der Thyssen-Stiftung geförderten Forschungsprojekts erarbeitet.
84 | Hans-Harald Müller schülern rezensieren. Den größten Aufwand betrieb er jedoch für die Karriereplanung seiner Schüler, wobei ihm freilich die einflussreichen Beziehungen zum österreichischen und preußischen Kultusministerium sehr zugute kamen. Schließlich unterstützte er seine Schüler zu Beginn ihrer Professorentätigkeit mit einer Vielzahl praktischer und wissenschaftlicher Ratschläge, für Publikationen stellte er ihnen die Zeitschrift für deutsches Altertum zur Verfügung, die er in einem Brief an Erich Schmidt als „moralische Gemeinschaft“24 charakterisierte. Die Grundlage für die dauerhafte Herstellung gemeinsamer Zielvorstellungen für die wissenschaftliche Arbeit, den loyalen Umgang und eines ähnlichen Wissenschaftsstils hatte die Arbeit im Seminar gebildet, die ihr nicht unwichtiges geselliges Pendant in der Germanistenkneipe25 besaß. Scherer hatte die Bedeutung des Seminars für die Herausbildung von Arbeitsformen, die in andere gesellschaftliche Kontexte26 übertragbar waren, erkannt und widmete ihnen mit dem Bericht über das Seminar für deutsche Philologie in Straßburg während der drei ersten Semester seines Bestehens27 (25.5.1874) und der Promemoria betreffend das Germanische Seminar28 (1884) die, soweit bekannt, differenziertesten Überlegungen zur Ausgestaltung germanistischer Seminare seiner Zeit. Seine ehrgeizigsten Pläne konnte er jedoch seines frühen Todes wegen in Berlin nicht mehr verwirklichen. Über sie schrieb er seinem Freund Herman Grimm vertraulich, daß ich einen Plan erwäge der freilich lange noch nicht ausgereift ist, den ich aber etwa so umgrenzen könnte. Ich will für die Idee der Convicte oder dgl. einen praktischen Anfang machen: ein Collegium für deutsche Philologie − oder nennen Sies Institut. Wohnung für den Professor, Wohnung für eine bestimmte Anzahl Studenten der germanischen Philolo-
|| 24 Wilhelm Scherer, Erich Schmidt, Briefwechsel. Mit einer Bibliographie der Schriften von Erich Schmidt hrsg. von Werner Richter und Eberhard Lämmert, Berlin 1963, Nr. 39, S. 67 (ohne Datum). 25 Vgl. Hans-Harald Müller, Mirko Nottscheid, „Ordnung und Geselligkeit“ – Seminar und Kneipe. Neue Dokumente zur Topographie der Berliner Germanistik, in: Brigitte Peters und Erhard Schütz (Hrsg.), 200 Jahre Berliner Universität – 200 Jahre Berliner Germanistik. 1810– 2010 (Teil III), Bern u.a. 2011 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik N. F. 23), S. 105–120. 26 Zu denken wäre hier vor allem an die Gymnasien und an die wissenschaftlichen Vereine. Dass die Tätigkeit der Berliner Gesellschaft für deutsche Literatur weitestgehend auf dem Wissenschaftsstil der Scherer-Schule beruhte, ist dokumentiert in: Hans-Harald Müller, Mirko Nottscheid, Wissenschaft ohne Universität, Forschung ohne Staat. Die Berliner Gesellschaft für deutsche Literatur 1888–1938, Berlin 2011 (Quellen und Forschungen 70 [304]). 27 Abgedruckt in: ders., Scherer, Briefe und Dokumente, S. 377–381. 28 Abgedruckt in: Deutsche Philologie an den preußischen Universitäten im 19. Jahrhundert, Dokumente zum Institutionalisierungsprozess, hrsg., eingeleitet und kommentiert von Uwe Meves, Berlin, New York 2011, S. 843–849.
Zwischen Gelehrtenbehavioristik und Wissenschaftsethik | 85 gie mit Arbeitslocal und Fachbibliothek. Ich bin bereit mich meinerseits an der Stiftung zu betheiligen, so weit meine Mittel reichen − das nähere noch vorbehalten, etwa mit meinem ganzen, allerdings sehr zusammengeschmolzenen Vermögen und meiner Bibliothek.29
Deutlicher noch als in den Überlegungen zur Seminarpraxis spiegelt sich das Ethos Scherers in den verstreuten Anmerkungen zur Wissenschaftsethik. Sie sind von besonderem Interesse, weil sie der gängigen Vorstellung widersprechen, das philologische Ethos sei von der Disziplingründung bis weit ins 20. Jahrhundert identisch geblieben.30 Friedrich Zarnckes Überzeugung, der philologische Tugendkatalog biete eine hinreichende Grundlage, um die wissenschaftlichen Probleme Zug um Zug abzuarbeiten, wurde von Scherer nicht geteilt: Jeder Beruf hat seine Special-Ethik. Auch für den Gelehrten giebt es eine besondere Güterund Pflichtenlehre. Fleiß und Wahrheitsliebe, die Lachmann immer betont, sind allerdings nothwendig. Aber sie sind Pflichten so elementarer Natur, wie die Gebote ‚du sollst nicht tödten‘ und ‚du sollst nicht stehlen‘.31
Waren die wissenschaftlichen Pflichten nach Scherers Auffassung durch den traditionellen Tugendkatalog unterdeterminiert, so waren sie andererseits auch nicht aus den Gegenständen der wissenschaftlichen Beschäftigung ableitbar; hier gilt Scherers Maxime: „Kein Stoff hat an sich Werth, sondern nur durch das, was sich mit ihm anfangen läßt.“32 Diese Auffassung nun aber impliziert keinesfalls, „daß alle Probleme gleich viel werth seien, das kleine so viel wie das Große“. Zu dieser Friedrich Ritschl zugeschriebenen „Doctrin“ bemerkte Scherer in seinem Vorlesungsmanuskript: „Verderblich und aufs äußerste falsch“.33 Um die Wahl wissenschaftlicher Problemstellungen ethisch zu begründen, schlug Scherer die Berücksichtigung der folgenden drei Kriterien vor: (1) Rangordnung der Probleme an sich. (2) Rangordnung nach der Lage der zeitweiligen Wissenschaft.
|| 29 Brief Wilhelm Scherers an Herman Grimm vom 8.5.1874, ABBAW, NL W. Scherer, Nr. 1053. 30 Vgl. Kolk, Wahrheit, S. 52f. 31 Wilhelm Scherer, [Rez.: Karl Lachmann, Kleinere Schriften], [1876], in: ders., Kleine Schriften zur altdeutschen Philologie, hrsg. von Konrad Burdach, Berlin 1893, S. 92–99, hier S. 97. 32 Ders., [Rez.: Briefwechsel des Freiherrn Karl Hartwig Gregor von Meusebach mit Jacob und Wilhelm Grimm], [1880], In: ders., Kleine Schriften I, S. 72–77, hier S. 76. 33 Ders., Einleitung, § 2.
86 | Hans-Harald Müller (3) Rangordnung nach den individuellen Fähigkeiten und Neigungen.34
Die „Rangordnung der Probleme an sich“ kommentierte Scherer nicht, aber seiner Argumentation kann man entnehmen, dass er auf eine Rangordnung im Hinblick auf die Bedeutung der Problemlösung für die Wissenschaft und ihre Entwicklung abzielte.35 Umso häufiger nahm er zur zweiten Rangordnung Stellung: Jede Generation, jede Zeit hat ihre besonderen Aufgaben, und aus der Vergleichung dieser Aufgaben mit der individuellen Leistungsfähigkeit ergeben sich die Pflichten des Einzelnen. Wer sich in einer leitenden Stellung befindet und diejenigen, auf die er Einfluß hat, zu falschen Aufgaben verlockt, der lädt eine schwere Verantwortung auf sich. Aber auch wer selbst nur treibt, wozu er gerade Lust hat, was ihm gerade Spaß macht, der ist ein Egoist und versäumt seine Pflicht gegen die Wissenschaft. Es gibt eine Rangordnung unter den Problemen, und wer die höheren, für die er begabt ist, bei Seite lässt, um sich an den niedrigen wohlfeile Lorbeeren zu sichern, der ist nicht bescheiden, sondern ein Verschwender des ihm anvertrauten Gutes oder ein Feigling. Auch Fragen wie die, ob es unter Umständen erlaubt oder geboten sei, Resultate ohne Beweis zu publiciren, oder unfertige Untersuchungen der öffentlichen Prüfung zu unterwerfen, oder blos Probleme zu stellen, oder auf andere Weise die Fachgenossen anzuregen, anstatt direkt die Wissenschaft durch neue Wahrheiten zu bereichern, − alle solche Fragen sind einer allgemeinen Erörterung fähig, die Entscheidung aber kann nur aus dem jeweiligen Stande der Wissenschaft entnommen werden.36
Wilhelm Scherer war ein radikaler Reformist, und er hielt daher seit Beginn seiner wissenschaftlichen Publikationstätigkeit37 andere wissenschaftliche || 34 Ebd. 35 Vgl. dazu den Brief von Scherer an Julius Zacher vom 7./10.4.1867, in dem er im Hinblick auf die Wissenschaftsplanung schreibt: „In eine Thätigkeit zu lediglich praktischen, sei es Universitäts- sei es anderen Unterrichtszwecken möchte ich keinen der Guten sich verlieren sehen. Lassen Sie uns ja darauf halten also, daß nicht Arbeiten unternommen werden die keine neuen Resultate bringen, keine Förderung für unsere Wissenschaft involviren.“ In: ders., Briefe und Dokumente, Nr. 71, S. 208. 36 Ders., Kleine Schriften, S. 97. Das ist ein zentraler Gedanke aus Scherers Wissenschaftsethik, der sich schon in der ersten Auflage von Zur Geschichte der deutschen Sprache (Berlin 1868, S. V) findet. Auf die Bedeutung dieser Stelle, „in welcher der seine Arbeiten beherrschende Gedanke einen ersten Ausdruck fand“, wies Dilthey in seinem Nachruf auf Scherer hin. Wilhelm Dilthey, Wilhelm Scherer, in: ders., Vom Aufgang des geschichtlichen Bewußtseins, Jugendaufsätze und Erinnerungen, Leipzig, Berlin 1936, Wilhelm Diltheys gesammelte Schriften, XI. Band, S. 236–253, hier S. 248. Vgl. dasselbe auch in Scherer, Einleitung. 37 Vgl. ders., Jacob Grimm. Zwei Artikel der Preußischen Jahrbücher aus deren vierzehnten, fünfzehnten und sechzehnten Bande besonders abgedruckt, Berlin 1865, S. 2: „Die Ziele, welche Jacob Grimm verfolgte, als er seine grundlegenden Werke schrieb, sind nicht mehr die
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Probleme für lösungsbedürftig als seine Zeitgenossen. Was er von der großen Masse der ‚Dutzendgelehrten‘ in seinem Fach hielt, vertraute er Herman Grimm in einem Brief an: ‚Ausbau der Wissenschaft‘ ist die Parole dieser Leute, die von der Ansicht ausgehen, wir seien im Ganzen fertig, und nur im Einzelnen sei noch allerlei nachzubringen. Nichts ist diesem Geschlecht unangenehmer, als wenn plötzlich einer kommt u. neue Fragen aufwirft u. auf neue Wahrheiten im Großen ausgeht.38
Scherer hielt die gelehrte Vorsicht für eine der „widerlichsten GelehrtenUntugenden, mit der Feigheit recht innig verwandt“,39 und war der Meinung, dass ein Wissenschaftler, der in ihrer Tragweite schwer überschaubare Probleme „falsch löst, hundertmal höher steht, als wer sich um ihre Lösung niemals bemüht hat.“40 Seinem Lehrer Karl Müllenhoff erklärte der Sechsundzwanzigjährige: Je mehr ich die ganze Lage unserer Wissenschaft überdenke, desto mehr scheint es mir, daß neue Gedanken, neue Gesichtspunkte ihr dringender nöthig sind als die letzte äußerste Sorgfalt der Ausführung. Die Methode mit welcher wir zu dieser Sorgfalt des Details auch auf diesem Gebiete einst gelangen können besitzen wir und sie soll uns nicht verloren gehen. Aber da nun in den historischen Wissenschaften überhaupt sich eine Wandlung vollzieht, welche ganz neue Fragen aufwirft, so wollen wir zunächst nach vorläufigen Antworten streben, nach einem Fundament in großen Linien, wie Jac. Grimm’s Grammatik ein Provisorium unserer Wissenschaft genannt werden kann.41
|| nämlichen, welche wir bei Werken über dieselben Gegenstände verfolgen würden. Auch seine Methode ist nicht überall mehr die unsrige. Diese Unterschiede festzustellen oder anzudeuten wollen wir versuchen. Und wir dürfen hoffen auf diese Weise am besten auch darüber zu orientieren, was aus der Wissenschaft, welche in so vielen Theilen Jacob Grimm begründet hat, in den Händen Anderer geworden ist und nach unserer Meinung zunächst werden soll.“ Vgl. auch S. 166: „Wie ferne erblicken wir die überwiegende Mehrzahl der Fachgenossen von einem Streben, welches dem Ideale auf das wir hindeuten sich zu nähern suchte.“ 38 Scherer an Grimm, 3.7.1868. Im Bild eines „Inferno“ verklausuliert findet sich diese Auffassung gedruckt auch am Ende seines Jacob Grimm, S. 166f. 39 Ders., Bemerkungen über Goethes Stella, in: ders., Aufsätze über Goethe, Berlin 1886, S. 123–161, hier S. 127. 40 Ders., Zur Geschichte der deutschen Sprache, Zweite Ausgabe, Berlin 1878, S. 26, vgl. auch S. 381: „Wer sich überall fürchtet, zu weit zu gehen, kommt in Gefahr, nirgends weit genug zu gehen.“ 41 Briefwechsel zwischen Karl Müllenhoff und Wilhelm Scherer, im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften hrsg. von Albert Leitzmann, mit einer Einführung von Edward Schröder, Berlin, Leipzig 1937, Das Literatur-Archiv, 5. Band, Nr. 84, Anfang Oktober 1867, S. 236.
88 | Hans-Harald Müller Das Neue, für das Scherer sich einsetzen wollte und wirkungsvoll einsetzte, war bekanntlich die Transformation der Germanistik von einer im engeren Sinne philologischen in eine an historischen Gesetzen interessierte empirische Geistes- oder auch Kulturwissenschaft. „Wenn nicht Alles trügt“, schrieb er am Ende seines Essays über Jacob Grimm, „so stehen auf keinem Gebiete der Geisteswissenschaft so bedeutende Veränderungen nahe bevor, wie in der philosophischen Betrachtung der Geschichte. Daß die empirischen Gesetze des geschichtlichen Lebens aufgesucht und aus dem Wesen des Menschen wie aus den Naturbedingungen in die er hineintritt begriffen werden müssen; diese Überzeugung tritt immer bestimmter und lauter hervor.“42 Dass Scherer die Kausalität als „historische Grundkategorie“43 berücksichtigt wissen wollte, ist ebenso bekannt wie seine Forderung, dass alle historischen Disziplinen sich in dem Bemühen um empirische Gesetze vereinigen müssten: Nachdem man lange Zeit die möglichste Arbeitstheilung gefordert hatte, macht sich unter uns wieder das Bedürfnis der Arbeitsvereinigung geltend. Denn die wichtigsten Probleme liegen auf den Grenzgebieten der Wissenschaften. Der Psycholog stellt sich an den Seciertisch, der Sprachforscher lernt von dem Physiologen, der politische Historiker geht bei dem Nationalökonomen in die Schule, und der Culturhistoriker vollends sollte ein Mann mit zehn Köpfen sein, der das ganze physische und geistige Leben des Menschen in seinen ursächlichen Zusammenhang stellt. [...] In der That ist es die Universalität erfahrungsmäßiger Betrachtung, von welcher auf allen Gebieten der Wissenschaft die schönsten Resultate erwartet werden.44
Nur am Rande sei noch erwähnt, dass es Scherer mit Hilfe seines Kriterienkatalogs für die wissenschaftlichen Pflichten gelang, den Nibelungenstreit, der „der altdeutschen Philologie Wunden schlug, die noch heute bluten“,45 für obsolet46 und, so wie er geführt wurde, für kognitiv unergiebig zu erklären: || 42 Scherer, Jacob Grimm, S. 166. 43 Ders., [Rez.:] H. Hettners Litteraturgeschichte des 18. Jahrhunderts, 3. Theil, 2. Buch [1865], in: ders., Kleine Schriften II, S. 66–71, hier S. 66. 44 Ders., Die neue Generation [1870], in: ders., Vorträge, S. 408–414, hier S. 410. 45 Ders., Jacob Grimm, Neudruck der zweiten Auflage mit Beigaben der ersten Auflage und Scherers Rede auf Grimm, besorgt von Sigrid v.d. Schulenburg, Berlin 1921, S. 271. 46 Vgl. dazu den Brief Scherers an Friedrich Zarncke vom 23.1.1868, in: ders., Briefe und Dokumente, Nr. 84, S. 243: „Beide Parteien haben das Gefühl daß im Wesentlichen Alles vorgebracht ist was zur Präcisirung des beiderseitigen Standpunctes gesagt werden konnte. Nicht blos der Streit, sondern auch das Thema ist gewissermaßen vorläufig erschöpft: neue Fragen werden auf die Bahn gebracht, die Forschung mag sich auf neue Gebiete wenden in deren Behandlung man sich einiger fühlt; und vor Allem, die großen Interessen welche die gesammten historischen Wissenschaften zu bewegen anfangen und bald noch viel mehr bewegen werden, müßen auch unsere deutsche Philologie so gewaltig erfassen, daß man
Zwischen Gelehrtenbehavioristik und Wissenschaftsethik | 89 Wenn ein solcher Streit unentschieden schwebt, so muß die Entscheidung wohl auf einem Gebiete liegen, das man noch nicht betreten hat, und das auch mit der gewöhnlichen Routine gar nicht zu erreichen ist. In der That sind alle Streitfragen, welche wir jetzt mit Lachmanns Namen vorzugsweise verknüpft sehen, ganz allgemeiner Natur und keineswegs der classischen oder deutschen Philologie eigenthümlich. Die Entscheidung über die höhere Kritik der Homerischen Gedichte oder des Nibelungenlieds liegt in der vergleichenden Poetik, welche die Natur des Epos und die Natur dichterischer Production überhaupt zu untersuchen hat. Die Entscheidung über die Methode der Textkritik liegt in einer Untersuchung, welche die in der Überlieferung litterarischer Werke möglichen und nachweisbaren Veränderungen auf Gesetze zurückführt und diesen Gesetzen gemäß das vermuthlich Entstellte von dem vermuthlich Echten abzusondern versucht. In beiden Fällen aber ist es nothwendig, sich über die sogenannte exacte Feststellung einzelner Thatsachen zu erheben und etwas mehr philosophische Neigungen mitzubringen, als unter den Philologen jetzt üblich ist. Sollte es nicht auch zu der Berufsmoral des Gelehrten gehören, daß er über die Berechtigung der Methoden theoretisch im Klaren sei, mit denen er zu arbeiten versucht?47
Zum Abschluss möchte ich mich einem Bereich zuwenden, der ins Zentrum des philologischen Ethos gehört, obwohl er mit dem Namen Scherers kaum in Verbindung gebracht wird:48 Ich meine den Bereich der ästhetischen Bildung. Scherer beklagte, dass die Philologie sich seit langem „den ästhetischen Fragen überhaupt entfremdet“49 habe, er bedauerte, dass seine Lehrer Haupt und Müllenhoff „die Schönheit poetischer Werke“ nie „ausdrücklich entwickelt und so die ästhetische Bildung nicht systematisch zu befördern gesucht“50 hätten, und er wurde nicht müde, auf deren intime Beziehung zur Philologie hinzuweisen: Diesen ästhetischen Ausgangspunct der deutschen Alterthumskunde und historischen Litteratur-Wissenschaft mögen sich diejenigen zu Gemüthe führen, welche die philologische Betrachtung der ästhetischen entgegenzusetzen pflegen. Zu keiner Wissenschaft hat die Philologie eine nähere Verwandtschaft als zur Ästhetik. Und ein Philologe, der nicht zu ästhetischer Würdigung litterarischer Kunstwerke durchdringt, erniedrigt sich zum Handlanger, wo er Meister sein könnte. Deshalb ist es in der Ordnung, daß der Litterarhistoriker auch die Production der Gegenwart mit wissenschaftlichem Antheile verfolge; ist ihm geschichtlich durchdringende Erkenntniß unmöglich, so mag er zeigen, ob seine äs-
|| billich zur Seite stellen mag was auf die tiefsten historischen Probleme nicht von so großem Einfluß ist wie manches Andere.“ 47 Ders., [Rez.: Karl Lachmann, Kleinere Schriften] [1876], in: ders., Kleine Schriften I, S. 92– 99, hier S. 98f. 48 Vgl. jedoch die Hinweise bei Rainer Rosenberg, Die deutschen Germanisten. Ein Versuch über den Habitus, Bielefeld 2009, S. 26. 49 Wilhelm Scherer, Poetik, [hrsg. von Richard M. Meyer] Berlin 1888, S. 61f. 50 Ders., Karl Müllenhoff. Ein Lebensbild, Berlin 1896, S. 120.
90 | Hans-Harald Müller thetische Bildung ausreicht, um das Dauernde aus dem Wuste des Vorübergehenden herauszufinden.51
Ästhetische Bildung ist die systematische Voraussetzung für die Kompetenz des Philologen, den Prozess der poetischen Produktion zu rekonstruieren; in Scherers Worten: Der Kritiker ist ein Künstler. Er muß das Werk, das ihm vorliegt, nachschaffen. Er muß das Gedicht, das er in echter Gestalt herstellen soll, nachdichten. Er muß sich in die Seele des Autors versetzen, er muß aus dem Zentrum der productiven Persönlichkeit heraus entscheiden, ob ein Dichter so oder so geschrieben haben könne. Wie ein Künstler ist er von Laune und Stimmung abhängig.52
Die „feinste stilistische Bildung“ ist indes nur eine unverzichtbare Voraussetzung für die „lebendige Anschauung dichterischer Individualität“, „nothwendig“ ist es, „den Ton, den Stil nicht mehr blos zu fühlen und durch ein andeutendes Wort zu bezeichnen, sondern ihn streng zu demonstriren, die ganze künstlerische Technik, Composition und Darstellungsweise nach genauer Observation zu analysiren und zu charakterisiren.“53 Erst auf diese Weise entsteht jene „methodische Interpretation“, die für die Literaturgeschichte von zentraler Bedeutung ist, denn, so Scherer: „Wenn in die Kritik und Interpretation das subjective Meinen und Belieben einreißt, wenn hier die richtige Methode verloren geht, so geräth die ganze Wissenschaft ins Schwanken.“54 Während die methodische Seite der Interpretation lehrbar ist, bedarf das Kunstgefühl der Pflege, und zwar durch Bildung: „Bildung aber besteht nicht, worin unsere Zeit sie so gerne sucht, in einer bestimmten Summe von Kenntnissen, sondern Bildung ist vor allem ästhetischer Natur; sie ergreift den Geschmack und wirkt durch ihn auf den Charakter.“55 Bildung und Wissenschaft
|| 51 Ders., Die Brüder Grimm und die Romantik. Aus Anlaß des Briefwechsels zwischen Jacob und Wilhelm Grimm [1880], in: ders., Kleine Schriften I, S. 46. 52 Ders., Moriz Haupt [1874], in: ders., Kleine Schriften I, S. 111–132, hier S. 118. 53 Ders., Karl Lachmann [1883], in: ders., Kleine Schriften I, S. 99–111, hier S. 109. Diese Zielvorstellung entsprach im Wesentlichen dem von Schleiermacher formulierten höchsten Ziel des Verstehens; vgl. dazu Lutz Danneberg, Schleiermacher und die Hermeneutik, in: Annette M. Baertschi, Colin G. King (Hrsg.), Die modernen Väter der Antike. Die Entwicklung der Altertumswissenschaften an Akademie und Universität im Berlin des 19. Jahrhunderts, Berlin u.a. 2009 (Transformationen der Antike 3), S. 211–276, hier S. 246. 54 Scherer, Moriz Haupt, S. 111–132, hier S. 117. 55 Ders., [Rez.:] Ernst Curtius, Gesammelte Reden und Vorträge, Zweiter Band, Berlin 1882, in: ders., Kleine Schriften II, S. 225.
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aber können „zuweilen Gegensätze“56 sein, denn, so Scherer: „Wissenschaft als Lebensberuf ergriffen, führt immer die Gefahr einseitiger Verbissenheit, handwerksmäßiger Beschränkung und stumpfsinniger Abgeschlossenheit in einem engen Kreise mit sich.“57 Da ästhetische Bildung nicht lehrbar ist, wollte Scherer zumindest deren Pflege verbindlich machen. In seiner Antrittsrede in der Preußischen Akademie formulierte er: Sie [scil. die deutsche Philologie] hat das Recht, ja die Pflicht, der Litteratur der Gegenwart ihren sympathischen Antheil zu schenken; und es geziemt ihren Vertretern, dass sie die Sprache, die sie forschend ergründen sollen, auch kunstmässig zu handhaben und sich einen Platz unter den deutschen Schriftstellern zu verdienen wissen.58
Seine Schüler beriet Scherer denn auch in stilistischer Hinsicht, empfahl ihnen generell zwischen „Forschung“ und „Darstellung“ zu unterscheiden und Anmerkungen nicht „als eine bequeme Form“ zu nutzen, in der man „alles Mögliche und Unmögliche vorbringen dürfe“.59 Welche Konsequenzen Scherer aus seiner Auffassung vom Stil für sich selbst zog, dass er seine Literaturgeschichte als wissenschaftliches Kunstwerk60 betrachtet wissen wollte, dass er zwischen den Sprechrollen des Feuilletonisten und des Wissenschaftlers streng schied,61 dass ihm sein an einen allgemeinen Adressatenkreis gerichteter essayartiger Stil den Zorn der Zunft und insbesondere den seines Lehrers Müllenhoff zuzog – all das ist bekannt. Was er von den Vorwürfen hielt, ließ er seinen Förderer Ludwig Speidel 1880 wissen: Die Existenz eines populären Buches wie meine Literaturgeschichte wird mir von meinen gelehrten Collegen zum Vorwurfe gemacht. Ich werde dadurch gehindert, ‚Untersuchungen‘ anzustellen und zu veröffentlichen, auf die es bekanntlich allein ankommt. Ich compromittire vielleicht auch die Wissenschaft und ihre Würde durch lesbaren Styl. Ich mache mich aller dieser Sünden in noch viel höherem Maße schuldig, wenn ich meine
|| 56 Ders., Bernhard Joseph Docen, in: ders., Kleine Schriften I, S. 80–82, hier S. 80. 57 Ders., Caroline, in: ders., Vorträge, S. 356–372, hier S. 360. 58 Ders., Antrittsrede, in: Sitzungsberichte der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 3.7.1884, 2. Halbband, Juni–Dezember, S. 727–729, hier S. 728. 59 Ders., [Rez.: Briefwechsel des Freiherrn Karl Hartwig Gregor von Meusebach mit Jacob und Wilhelm Grimm] [1880], in: ders., Kleine Schriften I, S. 72–77, hier S. 74. 60 Brief Wilhelm Scherers an Ludwig Speidel vom 21.5.1880, in: Briefe von Wilhelm Scherer, S. 2. 61 Vgl. dazu den Brief Scherers an Erich Schmidt vom 29.11.1880, in: Wilhelm Scherer, Erich Schmidt, Briefwechsel, Nr. 187, S. 160.
92 | Hans-Harald Müller würdelosen Producte auch durch Zeitungen veröffentliche. Natürlich lache ich über diese Anschauungsweise.62
Weniger bekannt ist, dass er über den Stil seines Freundes und epistemologischen Antipoden Herman Grimm an seine Frau schrieb: „Grimm besitzt eine Kraft Klarheit u[nd] Originalität der Sprache, zu der ich nie hinanreichen werde.“63 Dies als kleiner Hinweis nicht auf das philologische Ethos Scherers, sondern auf das ethos im Sinne des Charakters, den aus seinen Schriften zu erhellen eine eigene Untersuchung lohnen würde. Ich hoffe aber, dass schon aus Scherers Beobachtungen und Selbstbeobachtungen sowie aus seinen Überlegungen zum philologischen Ethos deutlich geworden ist, dass mit ihm ein neuer Typus64 von Wissenschaftler, oder – um es mit Lorraine Daston zu sagen – eine neue wissenschaftliche persona65 die Bühne der deutschen Philologie betritt, deren Geschichte weiter zu verfolgen nicht ohne Reiz wäre.
|| 62 Brief Wilhelm Scherers an Ludwig Speidel vom 21.5.1880, in: Briefe von Wilhelm Scherer, S. 3. 63 Scherer an Marie Leeder 22.11.1878, in: ders., Briefe und Dokumente, Nr. 112, S. 308. 64 Rainer Rosenberg, Die deutschen Germanisten, S. 20 erkennt in Scherer einen neuen Wissenschaftler-Habitus (nach Bourdieu). 65 Vgl. Lorraine Daston und H. Otto Sibum (Hrsg.), Introduction: Scientific Personae and Their Histories, in: Science in Context 16, 1–2 (2003), S. 1–8.
Horst Thomé
Der heroische Forscher „Wissenschaft erzeugt Wissen. Innerhalb dieses Prozesses sind es in erster Linie Wissenschaftler als Personen, die ‚gesicherte‘ Erkenntnisse formulieren und weitergeben, diskutieren und modifizieren, kanonisieren und verwerfen“ – so beginnt das Exposé dieser Tagung. Wissenschaftler können dies alles nur tun, weil sie eine soziale Rolle haben, eben die des Wissenschaftlers. Wer sich einer Disziplin widmen möchte, wird mit Erwartungen konfrontiert, die von den relevanten Gegenständen seiner Forschungen und den zu respektierenden Rationalitätskriterien über die Eingliederung in Institutionen und Korporationen bis zu persönlichen Verhaltensformen reichen. Die Erwartungen haben eine gewisse Flexibilität, so dass der Forscher die konkrete Ausgestaltung seiner Rolle nach Charakter und eigenem Wissenschaftskonzept in Grenzen selbst gestalten kann. Bei hohem Erfolg kann er eine neue und weitreichende Rollenvariante kreieren und etablieren. Die Rolle formt die Person, und die Person formt die Rolle – eine Interdependenz also. Dieses Wechselspiel wiederum ist mit dem Status der Disziplin im System der Wissensproduktion und dies wieder mit Rahmenbedingungen des gesellschaftlichen Kontextes in komplexen Interdependenzen verflochten. Die Funktionen von Rollenzuschreibungen sind vielfältig. Sie ermöglichen die Selbstreproduktion einer Wissenschaft auf der Ebene der Akteure, stützen die fachinterne Kommunikation, da sie Rezeptionsanweisungen für das produzierte Wissen liefern, sind eine mächtige Waffe im Kampf um Sozialprestige und in der Konkurrenz um die bekanntlich immer zu knappen Ressourcen. Im üblichen Wissenschaftsbetrieb werden die Rollen höchstens am Rande beredet, weil sie sich von selbst verstehen. Ihre Thematisierung scheint Indiz einer Krise oder doch einer beschleunigten Veränderung zu sein. Ihre Stunde ist vor allem dann gekommen, wenn weitreichende Innovationen durchgesetzt und institutionell etabliert werden sollen, oder wenn eine Wissenschaft Rückzugsgefechte liefern oder Reparaturprogramme erfinden muss, sei es, dass ihr die Kürzung von Ressourcen droht, sei es, dass externe Anforderungen zur Wissensproduktion als Zumutung abgewiesen werden müssen, sei es auch, dass innerwissenschaftliche Aporien durch eine Reduzierung der Tragweite und Erklärungsmächtigkeit der Wissensbestände beseitigt werden sollen. Soziologie wissenschaftlichen Handelns und Theoriegeschichte können so aufeinander bezogen werden. Für die literaturwissenschaftliche Interpretation von expositorischen Texten wird dies alles dann spannend, wenn das Forschersubjekt in
94 | Horst Thomé seinen Wissenschaftstexten seine Rolle aufbaut und die Konstruktion des Ich zur Plausibilisierung seiner Hypothesen einsetzt. Für den skizzierten Problemkomplex scheint mir die Sonderrolle des heroischen Forschers besonders aufschlussreich. Sie geht wohl meistens auf die Sprengung eines etablierten Wissenssystems, kann in dieser Funktion aber nur in einem neuzeitlichen Wissenschaftsverständnis auftreten, das nicht mehr auf die Tradierung und Kommentierung von Wissen angelegt ist, sondern unter dem Innovationsdiktat steht. Erwarten Sie von mir bitte keine systematische Entfaltung. Das ist nicht meine Rolle. Meine Sache ist das historische Kleinklein. Ich werde nur einige illustrative Skizzen liefern, die vom späten 19. Jahrhundert ausgehen und sich auf Freud und die Psychoanalyse zubewegen. Dass Freud die Rolle des heroischen Forschers erfolgreich wie kaum ein anderer inszenieren konnte, liegt unter anderem daran, dass sie von Nietzsches Selbststilisierung als einsamer Erkennender außerhalb aller sozialen Bindungen vorformuliert wurde. Ich kann dazu nur einige Umrisse andeuten. In der „Vorrede“ zu Morgenröthe charakterisiert Nietzsche sein Buch als das Werk eines „Unterirdischen“, der nach seiner „dunklen Arbeit“ ohne „Licht und Luft“ zurückgekommen ist. Auf dem Weg, den er gegangen ist, möge ihm niemand nachfolgen, weil er gefährlich ist. Aus der Vorrede hätte leicht „eine Leichenrede“ werden können.1 Dass der heroische Forscher lebensgefährliche Wege geht, um zu seinen Forschungsobjekten zu gelangen, ist vertraut, seit Plinius der Ältere den Tod beim Ausbruch des Vesuvs gefunden hat. Hier wird der bedrohliche Ort metaphorisch gewendet. Dort unten sind die Grundlagen der „moralischen Vorurtheile“ zu finden, die Nietzsche mit seinen Forschungen untergräbt. Gefährlich ist ein solches Unterfangen in doppelter Hinsicht. Einmal ist das „Vertrauen zur Moral“,2 die Überzeugung, dass sich die Unterscheidung von Gut und Böse werde begründen lassen, schon seit Platon allgemein. Wer sich dieser „Circe der Philosophen“3 erwehrt, wird einsam und hat alle gegen sich. Hier verschärft Nietzsche ein traditionelles Merkmal des heroischen Forschers. Dieser ist, wie beispielsweise David Friedrich Strauß in seiner Vorrede zum Leben Jesu schreibt, so mutig und redlich, eigentlich naheliegende Gedankenkombinationen auszusprechen, wo andere schweigen, weil sie nicht eine mächtige Partei gegen sich aufrufen wollen. Nietzsche hingegen kündigt den Grund|| 1 Friedrich Nietzsche, Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile, in: ders., Kritische Studienausgabe (KSA), hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 3, München 1999, S. 9–331, hier S. 11. 2 Ebd., S. 12. 3 Ebd., S. 13.
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konsens der abendländischen Kultur auf. Sie war nur möglich, weil sich niemand, nicht einmal Platon und Kant, den Fragen stellen wollten, die Nietzsche sich gestellt hat. Wenn Nietzsche weiter vom Vertrauen in die Moral spricht, auf dem „wir Philosophen seit ein paar Jahrtausenden [...] bauen“,4 dann zählt er sich selbst zu jenen, derer Vorurteile erschüttert werden. Das Buch ist gegen alles geschrieben, das seine eigene Identität ausgemacht hat. In der „Vorrede“ zu Menschliches, Allzumenschliches kann er denn auch die eigene intellektuelle Biographie als immer wiederkehrende Loslösung von dem stilisieren, was er geliebt hat.5 Auch solche Wandlungsprozesse sind gefährlich. Ich fasse zusammen: Der heroische Forscher überwindet unter dem Risiko des sozialen Todes und der inneren Selbstzerstörung größtmögliche äußere und auch innere Widerstände. Funktional gesehen wirkt die Betonung des Heroismus als Beglaubigung. Sie tritt dem naheliegenden Einwand entgegen, dass der sensus communis gegenüber der extremen Sondermeinung eines Einzelgängers doch wohl im Recht sein werde. Damit dieser Heroismus glaubhaft wird, muss das Ich von den Krisen und Gefahren erzählen, die es überlebt hat. Die Texte des heroischen Forschers haben deshalb einen autobiographischen Zug in plausibilisierender Absicht. Der Rekurs auf die eigene Biographie ist freilich zweischneidig. Der Gegner kann die Ergebnisse der heroischen Forschung bequem als Dokumente einer vielleicht sogar pathologischen Seelengeschichte ohne allgemeinen Geltungsanspruch nehmen. Die erfolgreiche Selbststilisierung wird deshalb die eigene Person als Autorenrolle im Text aufbauen und dies zugleich auch wieder verbergen. Bei Nietzsche geschieht dies dadurch, dass die Selbststilisierung weitgehend in Paratexten untergebracht ist, so dem Leser eine Perspektivierung vermittelt, während sich die Aphorismen nicht mehr explizit auf persönliche Erfahrungen stützen. Die Selbststilisierung bedarf eines Gegenbildes. Sie bestimmt nicht nur, wie das Ich ist, sondern auch, wie es nicht ist. Bei Nietzsche dient dazu der asketische Forscher, dessen Bild sein gesamtes Werk durchzieht. Hier muss ein Hinweis genügen. Die „Erste unzeitgemäße Betrachtung“ kommt auf das „Paradoxon“ des „wissenschaftliche[n] Mensch[en]“ zu sprechen. Er versenkt sich in seinem kurzen Leben darein, die „Staubfäden einer Blume zu zählen oder die Steine am Wege zu zerklopfen“, obwohl doch das Rätsel des Daseins an ihn herantritt. Merkmal des asketischen Forschers ist es, letzte Fragen nicht zu stellen. Neuerdings sei, so Nietzsche, diese Art von Forschung „in Hast ge-
|| 4 Ebd., S. 12. 5 Ders., Menschliches, Allzumenschliches, in: KSA, Bd. 2, insb. S. 15–17.
96 | Horst Thomé rathen“ und zur Sklavenarbeit geworden.6 Die unausweichlich eintretende Erschöpfung habe den Verzicht auch auf Fragen mittlerer Reichweite, etwa der nach dem Beitrag der Fachdisziplin zur Kultur, zur Folge. In der jüngeren Vergangenheit hat man statt von der Kultur von der gesellschaftlichen Relevanz gesprochen, an die die Fachidioten erinnert werden müssen – unter dem Radikalenerlass ist das nicht ohne Gefahr für den Kritiker. Kurz: das Konzept der heroischen Forschung wirft der asketischen Wissenschaft die unangemessene Limitierung der Problemstellungen vor. Der Wissenschaftsheroismus wird auch eingeführt, um eine Lockerung von Rationalitätskriterien zu rechtfertigen. Nietzsche benennt damit eine Konflikt- und Konkurrenzkonstellation, die nicht nur 1968, sondern auch schon im 19. Jahrhundert immer wieder neu aufgelegt wird. Emil Du Bois-Reymonds Reden „Über die Grenzen der Naturerkenntnis“ (1872) und „Die sieben Welträtsel“ (1880) haben asketische Züge. Im Vollzug ihrer Arbeit stößt die Naturforschung auf transzendente, schlechthin unlösbare Fragen. Beispielsweise ist nicht zu begreifen, wie die nach mechanischen Gesetzen eingespielte Bewegung von Atomen im organischen Gebilde von Behagen oder Unbehagen begleitet werden kann – der Übergang von der Materie zu Empfindung und Bewusstsein also. Hier ist nur der Verzicht möglich. Verzicht ist Askese. Sie limitiert die Problemlösungskompetenz der Naturforschung. Ich kann die Funktionen hier nur ganz summarisch benennen. Die Unlösbarkeit der transzendenten Fragen indiziert das Scheitern eines großen Wissenschaftskonzepts des früheren 19. Jahrhunderts, nämlich des anspruchsvollen, nicht reduktionistischen Materialismus. Nun stellt Du Bois den Wissenschaftsmaterialismus selbst nicht in Frage und erwägt keine alternativen Konzepte, die in der Zeit ja verhandelt werden. Was seine Wissenschaft nicht wissen kann, kann überhaupt nicht gewusst werden. Die Askese stützt hier ein Reparaturprogramm und deckt ein Rückzugsgefecht, ist aber nicht rein defensiv. Die isolierbaren Fachdisziplinen auf materialistischer Basis bleiben unangetastet und werden von der Zumutung befreit, sich mit dem Ganzen der Welt zu befassen. Die Askese begleitet die Ausdifferenzierung und operative Schließung der Disziplinen. Zudem hat sie plausibilisierende Funktionen. Der asketische Wissenschaftler redet nicht über Dinge, die er nicht wissen kann, und bringt keine Vermutungen vor. Was er sagt, wird dann doch wohl gesichert sein. Haeckels Replik in den Welträtseln schwingt sich nicht zu Nietzsches Exzessen auf, ist aber doch bürgerlich andeutungsweise heroisch. Haeckel unterstellt Du Bois, dem neu erstarkten Obskurantismus zuzuarbeiten, also aus Feigheit im schlech|| 6 Ders., Unzeitgemäße Betrachtungen I: David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller, in: KSA, Bd. 1, S. 157–242, hier S. 202.
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ten Konsens mit Kultur und Gesellschaft zu sein.7 Der beglaubigenden Selbststilisierung als Asket antwortet der Ideologieverdacht – das scheint ein ziemlich konstantes Streitschema zu sein. Sich selbst schreibt Haeckel den Mut zu, dem sich abzeichnenden Bündnis von Katheder und Altar entgegenzuarbeiten, bringt sich also, ganz anders als sein Gegner, als Person ins Spiel. Auch hier ist mit dieser Selbststilisierung die Abmilderung von Rationalitätskriterien legitimiert, ohne die der ‚irgendwie‘ an Spinoza orientierte Monismus nicht vorgetragen werden kann. Max Webers Rede „Wissenschaft als Beruf“ (1919) wehrt vor allem zwei Zumutungen ab: die Erwartung, die Wissenschaft habe Sinn- und Wertfragen zu beantworten und damit zum Kampf der politischen Parteien und der Weltanschauungen beizutragen, und die Forderung, der Wissenschaftler müsse und dürfe sich in seiner Wissenschaft als Person zur Geltung bringen – dies vielleicht ein Reflex auf Webers Streit mit den Georgeanern. Es geht mir nicht um den damit eröffneten Methodenstreit, sondern um das Phänomen, dass der asketische Wissenschaftler ins Heroische wächst, wenn in aufgeregten Zeiten der Druck der Zumutungen massiv wird. Hatte Nietzsche die Versenkung in die Staubfäden einer Blüte zum Aufhänger für das Paradox des wissenschaftlichen Menschen gemacht, so erscheint bei Weber ein anderes ewiges Beispiel für das Speziellste und Kleinste: die Konjektur des Editors. Wer um sie nicht mit ganzer Leidenschaft ringen kann, wer nicht glauben kann, dass Jahrtausende auf ihn herabschauen, ob ihm denn die Klärung der verderbt unverständlichen Stelle gelingt, der bleibe der Wissenschaft fern.8 Die Beschränkung ist nicht mehr eine Sache mediokrer Selbstgenügsamkeit wie bei Nietzsche, sondern nimmt Züge eines fast schon absurden existentiellen Heroismus an. Wird der angehende Wissenschaftler doch in Webers Rede belehrt, dass die Universitätskarriere ein Hazard ist, auch die Konjektur nicht mit Fleiß erarbeitet werden kann, sondern auf den Einfall angewiesen ist, der kommen kann oder auch nicht, dass seine Arbeit niemandem nutzt, weil sie nicht an das anschließbar ist, was seine Zeit beschäftigt, schließlich, dass er als Wissenschaftler den Fortschritt der Wissenschaft und damit auch das Veralten seines bescheidenen Ergebnisses wollen muss. Im Laufe des Vortrags wird diese Extremposition wieder relativiert. Die Wissenschaft dient, zumindest in den Geistes- und Kulturwissenschaften, der
|| 7 Vgl. Ernst Haeckel, Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie (1899), Stuttgart 1921, S. 108f. 8 Vgl. Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 1988, S. 582–613, hier S. 589.
98 | Horst Thomé Klarheit, indem sie, ganz im Sinne der neukantianischen Weltanschauungsforschung, zeigt, welche letzte Wertsetzung eine politische oder weltanschauliche Position fundiert und mit welchen anderen letzten Wertsetzungen sie in Konflikt gerät.9 In Verfolgung ihrer spezifischen Rationalität muss sie dabei rücksichtslos gegen unangenehme Punkte auch und gerade der eigenen Partei sein. Mit dieser Überwindung der äußeren und inneren Hemmungen nähert sie sich nun doch dem Konzept der heroischen Wissenschaft. Der Wissenschaftler hat als Wissenschaftler keine Kompetenz, letzte Wertsetzungen anzunehmen oder zu verwerfen. Als Person muss er das tun. Der Widerspruch wird durch ein gedoppeltes Rollenangebot bewältigt. Der Professor kann den Hörsaal verlassen und draußen die heroische Rolle des Demagogen, Propheten oder Führers übernehmen. Ich möchte abschließend zeigen, dass bei Freud die skizzierten Linien zusammenlaufen. Ich kann hier nicht die Fülle der Belege ausbreiten – was notwendig wäre, weil das Werk die Autorenrolle aufbaut, und die Biographen, die diese Rolle weiter schreiben, nicht ein einzelner Text. Ich beschränke mich trotzdem auf die „Einleitung“ zu den „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ (1916). Dass in Wissenschaftstexten Rollenstilisierungen die Funktion haben, Defizite oder Unterbestimmtheiten des Konzepts zu decken, muss hier nicht hinter dem Rücken des Textes interpretierend erschlossen werden, weil Freud die Schwierigkeiten seiner Wissenschaft selbst benennt. Die Psychoanalyse ist eine empirische Wissenschaft, hat aber ein Problem mit der Empirie. Im Unterschied zu allen anderen medizinischen Vorlesungen kann der Redner keine Präparate vorzeigen. Auch die psychoanalytische Kur, aus der die Theorie entwickelt wurde, kann nicht quasi am Krankenbett demonstriert werden, weil sie aufgrund der intimen Patientenbekenntnisse keinen externen Beobachter erträgt.10 Freud nimmt die Rolle eines Berichterstatters ein, der gesehen hat, was die Anwesenden nicht sehen können. Man muss ihm glauben, wie man in ähnlich gelagerten Fällen, etwa in der Geschichtswissenschaft, glauben muss.11 Ein solcher Glaube muss selbstredend rational sein. Er fußt auf der begründeten Überzeugung, dass der Berichterstatter keinen Grund hat zu täuschen, also subjektiv ehrlich ist, und auch, dass er zwar gesehen, aber nicht alles falsch verstanden hat – das soll ja manchmal vorkommen. Dem Berichterstatter muss also Deutungskompetenz zugeschrieben werden. Warum aber sollte man dem
|| 9 Vgl. ebd., S. 608. 10 Vgl. Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916), in: ders., Gesammelte Werke, hrsg. v. Anna Freud u.a., Bd. 11, Frankfurt a.M. 1999, S. 10. 11 Vgl. ebd., S. 11.
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Redner glauben? Gewiss schon allein deshalb, weil er seine prekäre Lage offen angesprochen und sich damit als vertrauenswürdig erwiesen hat. Letztlich aber, weil er ein heroischer Forscher ist. Im Unterschied zu Nietzsche vollzieht sich bei Freud die Konstitution der Autorenrolle indirekt und verdeckt. Ich habe schon angedeutet, dass die Selbststilisierung als heroischer Forscher eine wirksame, aber gefährliche Droge ist, weil das Wissen des Heros bequem als persönliche Eigenheit verdächtigt werden kann. Die Psychoanalyse ist Freuds private Marotte und nur von seiner Person her zu begreifen – ein Argument, das die Gegner durch die Jahrzehnte einander weiterreichen. Zur Abwehr dieses Verdachtes kommt, so meine These, hinzu, dass Freud, im Unterschied zu Nietzsche, so etwas wie eine akademische Institutionalisierung seiner Wissenschaft betreibt, deren Ergebnis die Psychoanalytische Vereinigung etwa mit einem Curriculum für die Laufbahn als lizensierter Psychoanalytiker ist. Freud verweist in diesem Text bereits auf die Einrichtung der Lehranalyse.12 Der heroische Forscher wird hier zum seriösen Exzentriker, und deshalb werden er und seine Wissenschaft zusätzlich zum Heroischen mit Elementen des Asketischen ausgestattet, das Merkmal der Etablierten ist. Ich vermute, dass diese Kombination eine der Bedingungen für den Erfolg der Bewegung ist. Der Analytiker hat eine Sozialrolle, die zugleich innerhalb und außerhalb des Professorenbetriebs angesiedelt ist. Dies ist eine mögliche Alternative zu Webers Aufteilung der Rollen. Die Psychoanalyse ist Freuds Erfindung, er hat es immer wieder betont und seine Wegbereiter verschwiegen, und alle Anwesenden kennen seinen Prioritätsanspruch. Gleichwohl verbirgt sich der Redner hinter dem „Wir“ der Psychoanalytiker, spricht scheinbar nicht von seinen Einsichten, sondern führt nur in die Grundlagen einer bereits bestehenden Wissenschaft ein. Und diese Wissenschaft ist, wie könnte es anders ein, asketisch. Sie hat sich in mühevoller Arbeit ein Stück Wahrheit gewonnen, also ein isoliertes und spezialisiertes Ergebnis. Sie hat dies allein aus Liebe zur Erkenntnis getan und darin ihren Lohn und ihre Befriedigung gefunden. Wie alle Asketen bis hin zu Max Weber ist Freud am praktischen Nutzen demonstrativ nicht interessiert, obwohl der Hinweis auf Heilerfolge in Fällen, wo die anderen Therapien versagen, doch ein sehr starkes Argument gewesen wäre. Und diese Wissenschaft hat, ganz wie bei Max Weber, keine Rücksichten genommen und die externen Zumutungen der Patientenschaft, der anderen medizinischen Disziplinen und schließlich der kulturellen Erwartung auf Stützung des Vertrauens in die Moral zurückgewiesen. Mit dem letzten Punkt sind wir wieder bei Nietzsche. Eine solche Rück|| 12 Vgl. ebd., S. 12.
100 | Horst Thomé sichtslosigkeit ist nicht mehr asketisch, sondern heroisch, und die Wahrheit, die so erlangt wird, ist kein Stück, sondern geht aufs Ganze und Grundsätzliche – ist Resultat heroischer Forschung. Die Psychoanalyse schließt die Lücke zwischen der organmedizinischen Psychiatrie auf der einen und der Psychologie auf der anderen Seite. Das ist ein Durchbruch, aber immer noch ein fachinterner. Aber sie deckt auch die ein paar Jahrtausende lang – ich spiele auf Nietzsche an – verborgenen Grundlagen der Kultur auf, in der und von der alle leben: die Verdrängung der Sexualität. Nietzsche hat seine Leser gewarnt, ihm auf dem lebensgefährlichen Weg nach unten und ins Verborgene zu folgen. Auch die Psychoanalyse hat es mit diesen unteren und gefährlichen Örtlichkeiten zu tun, und so rät auch Freud seinen Zuhörern in der ersten Stunde seiner Vorlesung, besser weg zu bleiben. Im Unterschied zu Nietzsche führt er diese Strategie aber konsequent durch, indem er seinen Hörern schildert, was sie erwartet, wenn sie sich ernsthaft auf die Psychoanalyse einlassen,13 und trifft sich dabei mit Nietzsches Topik. Die Hörer sind von ihrer organmedizinischen Vorbildung her nicht für die Psychoanalyse disponiert, weil sie mit psychologischen Deutungen arbeiten müssen. 14 Sie müssen vergessen, was ihre berufliche Identität ausgemacht hat. Das ist die „grosse[] Loslösung“.15 Sie werden den sozialen Tod erleiden. Das ist die Einsamkeit des Erkennenden, nicht nur in der Nietzsche-, sondern auch in der Freud-Legende sind Einsamkeit und Isolierung zentrale Elemente. Die Hörer werden den sozialen Tod erleiden, weil sie mit zwei kulturellen Tabus gebrochen haben. Das eine: dass Handeln nicht autonom in der Helle des Bewusstseins bestimmt wird, sondern vom Unbewussten, ist nach Kopernikus und Darwin die dritte narzißtische Kränkung, die die Wissenschaft der Menschheit zugefügt hat. Das andere Tabu: die Kultur baut auf dem sexuellen Triebverzicht und der Verdrängung der Sexualität auf und ist nicht anders möglich. Wer daran rührt, hat den affektiven Widerstand aller gegen sich, und weil er selbst von dieser Kultur lebt und die Sozialisierung bereits vollzogen hat, findet er diesen affektiven Widerstand in sich selbst wieder. Wie bei Nietzsche ist die heroische Forschung heroisch, weil sie sich nicht nur gegen alle anderen, sondern auch gegen den Forscher selbst wendet. Diese Warnung ist als eine indirekte Selbstcharakterisierung zu lesen. Der Redner, der vor seinen Zuhörern steht, ist Freud, der Begründer der Freud’schen Psychoanalyse. Er selbst, so ist es nicht gesagt, aber so darf jeder folgern, hat || 13 Vgl. ebd., S. 8. 14 Vgl. ebd., S. 12f. 15 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, S. 15.
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diesen Weg bereits durchlaufen. Und weil er dies bereits geleistet hat, ist er der Heros, der Glauben und Vertrauen verdient. Diese Plausiblisierung durch den indirekten Aufbau der Autorenrolle erfährt noch eine weitere Steigerung. Der Redner schickt seine Zuhörer weg, um sie zum Bleiben einzuladen. Mit seiner Einleitung verfährt Freud wie bei der Einleitung der Therapie. Der Patient wird gewarnt, indem über die Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten der Kur belehrt wird. Das ist die Probe, die die schwachen und minderwertigen Neurotiker, die nicht analysierbar sind, von denen scheidet, denen die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis zugemutet werden kann. Der Hörer, der zur nächsten Vorlesung kommt, gleicht dem wertvollen Neurotiker, hat durch diesen schlichten Akt bereits die erste Leistung des wahrheitsmächtigen Heroismus erbracht, ist initiiert. Freilich wird er es auf seinem Weg leichter haben als Freud selbst. Er wird von einem erfahrenen Analytiker begleitet, der die Technik beherrscht. Analytiker sind immer so – das gehört zur Rolle. Überhaupt wird die Ausübung der Analyse am besten dadurch erlernt, dass man sich selbst einer Analyse unterzieht. Dem ersten Analytiker war das noch nicht möglich. Er war zur Selbstanalyse verurteilt, war allein mit seinem eigenen affektiven Widerstand. Er hat vollbracht, was keiner vor ihm vollbringen konnte, und so können ihm die anderen nachfolgen. Wie Nietzsche ist auch er von unten wieder zurück gekommen. Auch das ist nicht gesagt, sondern der Folgerung der Hörer überlassen. Für die, die es nicht begriffen haben, hat der kanonische Biograph Freuds, sein Schüler Ernest Jones, Freuds Selbstanalyse zur beispiellos heroischen Menschheitstat ausgebaut und von ihr erzählt, als ob er dabei gewesen wäre. 16 Aber damit bin ich schon bei einem Anschlusskapitel angelangt, bei der Frage, wie denn die ‚normal‘ gewordene Wissenschaft ihre heroischen Stifterfiguren funktionalisiert.* *Horst Thomé (1947–2012) ist einige Monate nach der Berliner Kolloquiumsveranstaltung, auf der er diesen Vortrag gehalten hat, verstorben und konnte so die Drucklegung seines Beitrags nicht mehr selbst betreuen. Der Text ist deshalb in seiner Vortragsform belassen und nur durch Fußnoten ergänzt worden.
|| 16 Vgl. Ernest Jones, Das Leben und Werk von Sigmund Freud, Bd. I: Die Entwicklung zur Persönlichkeit und die großen Entdeckungen 1856–1900, übers. v. Katherine Jones, Bern und Stuttgart 1960, S. 373–382.
Olav Krämer
Ethos und Pathos des Metaphysikverzichts bei Ernst Mach, Max Weber und Robert Musil 1. Einleitung In seinem Buch The Scientific Life. A Moral History of a Late Modern Vocation (2008) analysiert der Wissenschaftshistoriker Steven Shapin die Rolle, die Formen eines wissenschaftlichen Ethos in der industriellen Großforschung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielen. Dabei geht es ihm wesentlich darum, eine Diskrepanz zwischen Realität und Repräsentationen des wissenschaftlichen Ethos aufzuzeigen: In der täglichen Arbeit in den industriellen Forschungsinstitutionen, und zwar auch bei der Bewertung von Wissensansprüchen, spielen nach Shapin interpersonales Vertrauen und Einschätzungen der moralischen Qualitäten individueller Wissenschaftler eine zentrale Rolle; in der öffentlichen Selbstdarstellung wie in der Außenwahrnehmung hingegen herrsche die Vorstellung vom unpersönlich-versachlichten und moralisch indifferenten Charakter der big science vor.1 Zu der Vorgeschichte der wissenschaftlichen Selbst- und Fremdbilder, die diesen Zustand prägen, gehört nach Shapin eine vom 17. bis zum frühen 20. Jahrhundert reichende Entwicklung, die er unter der Überschrift „From Calling to Job“ skizziert.2 Danach wurde in der Frühen Neuzeit das Wahrheitsstreben der Naturforscher häufig als ein Ausweis ihrer Tugendhaftigkeit gewertet, und zudem galt die Erforschung der Natur als eine Tätigkeit, die selbst den Erwerb und die Entwicklung verschiedener moralischer Qualitäten beförderte.3 Im 20. Jahrhundert hingegen, so Shapin, wurden die wissenschaftliche Forschung zunehmend als ein normaler ‚Job‘ und Wissenschaftler als in moralischer Hinsicht ganz gewöhnliche Menschen aufgefasst.4 Eine wesentliche Bedingung dieser Veränderung bildeten nach Shapin die gewandelten Auffassungen von der Natur als dem Gegenstand naturwissen|| 1 Vgl. Steven Shapin, The Scientific Life. A Moral History of A Late Modern Vocation, Chicago 2008; zu den zentralen Fragen und Zielen des Buchs vgl. ebd., S. 1–6, 13f. 2 Vgl. ebd., S. 21–46 (vollständige Kapitelüberschrift: „From Calling to Job: Nature, Truth, Method, and Vocation from the Seventeenth to the Nineteenth Centuries“). 3 Vgl. ebd., S. 24f., 34–39; vgl. auch die ebd., S. 322f. (Anm. 8 und 9) angegebene Literatur. 4 Vgl. ebd., S. 21–23, 44–46 und 47–91 (Kapitel 3: „The Moral Equivalence of the Scientist: A History of the Very Idea“).
104 | Olav Krämer schaftlicher Forschung und, eng damit verbunden, von der Qualität des von den Wissenschaftlern produzierten Wissens: In der Frühen Neuzeit konnten die Naturforscher beanspruchen, Teile der von Gott geschaffenen metaphysischen Ordnung der Welt freizulegen.5 Einen wichtigen Schritt auf dem Weg zum spätmodernen Bild des Wissenschaftlers markiert daher für Shapin das Auftreten neuer Wissenschaftstheorien um 1900, die alle metaphysischen Ambitionen aus der Wissenschaft ausschließen; als Verfechter solcher Wissenschaftskonzeptionen nennt er unter anderem Ernst Mach, Henri Poincaré, Thomas Henry Huxley und Karl Pearson.6 Diese anti-metaphysischen Konzeptionen des wissenschaftlichen Wissens trugen nach Shapin indirekt und langfristig dazu bei, dass die Vorstellung von der moralischen Superiorität der Wissenschaftler weitgehend verschwand. Nur am Rande und andeutungsweise spricht Shapin die Frage an, wie in den anti-metaphysischen Wissenschaftsprogrammen selbst die moralische Statur der metaphysik-abstinenten Wissenschaftler entworfen wurde. Eben dieser Frage möchte ich am Beispiel von zwei Autoren nachgehen, die in den Jahrzehnten um 1900 vielbeachtete Plädoyers für eine metaphysikfreie Wissenschaft vorgelegt haben, nämlich Ernst Mach und Max Weber.7 Den Ausdruck ‚Metaphysik‘ verwende ich hier und im Folgenden als Begriff für Aussagen und Theorien, für die die Verbindung der folgenden Eigenschaften kennzeichnend ist: Diese Aussagen oder Theorien beziehen sich auf angenommene Grundstrukturen der Realität oder auf ein eigentliches Wesen der Dinge und können als solche nicht auf empirischem Wege gewonnen oder bestätigt werden; und sie sind geeignet oder werden als geeignet angesehen, menschliche Sinn- oder auch Trostbedürfnisse zu befriedigen. Diese zugegebenermaßen unscharfe Explikation scheint mir zumindest ungefähr die Kernelemente einer im Untersuchungszeitraum gängigen Verwendungsweise des Ausdrucks ‚Metaphysik‘ zu
|| 5 Vgl. ebd., S. 24–27. 6 Vgl. ebd., S. 29; zu diesen anti-metaphysischen Wissenschaftskonzeptionen insgesamt vgl. ebd., S. 27–34. 7 Weber wird von Shapin nicht als einer der Autoren anti-metaphysischer Wissenschaftskonzeptionen genannt, aber in eine große Nähe zu ihnen gerückt. Shapin zitiert mehrfach Webers Vortrag Wissenschaft als Beruf als eine besonders bekannte und einflussreiche Formulierung der Position, dass Wissenschaftler keine besondere Autorität in moralischen Fragen besitzen, und er weist auch darauf hin, dass diese Position bei Weber mit der These von der ‚Entzauberung der Welt‘ zusammenhing, also auch mit der – im Verhältnis zur Frühen Neuzeit – gewandelten Auffassung von der Natur als dem Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung (vgl. ebd., S. 11, 25).
Ethos und Pathos des Metaphysikverzichts beiMax Mach, Weber MusilMusil | Ethos und Pathos des Metaphysikverzichts bei Ernst Mach, Weber undund Robert 105 105
erfassen.8 Ich möchte im Folgenden zeigen, dass sowohl Mach als auch Weber für die Wissenschaftler, die ihrer Forschung unter Verzicht auf Metaphysik im eben erläuterten Sinne nachgehen, eine moralische Vorbildlichkeit reklamieren, dass sie also die Haltung dieser Wissenschaftler als eine entwerfen, die auch für Nicht-Wissenschaftler vorbildlich ist. Das von Weber entworfene Ethos des Metaphysikverzichts unterscheidet sich im Einzelnen durchaus von dem Mach’schen, und so unterscheiden sich auch die Begründungen, auf die sich der Anspruch auf die Vorbildlichkeit dieses Ethos bei ihnen stützt. Beide Autoren aber bedienen sich in den Texten, in denen sie ihr Ethos des Metaphysikverzichts entwerfen, auch pathetischer, also auf eine affektive Wirkung abzielender Redeweisen, wenn auch in unterschiedlicher Intensität.9 Das Pathos dient || 8 Eine Explikation des zugrunde gelegten Metaphysikbegriffs ist vonnöten, weil Mach in den hier untersuchten Texten ausdrücklich von Metaphysik spricht, Weber aber nicht. Die von Weber aus der Wissenschaft ausgeschlossenen Aussagen wurden aber zeitgenössisch als metaphysische Aussagen aufgefasst (dazu unten, Anm. 30), und der dabei vorausgesetzte Metaphysikbegriff scheint mir – wie auch der Mach’sche – ansatzweise in der oben vorgeschlagenen Weise expliziert werden zu können. Damit soll nicht bestritten werden, dass es zwischen den Metaphysikbegriffen verschiedener Autoren der Zeit im Einzelnen auch wichtige Unterschiede gab, u.a. weil der Bereich des empirisch Zugänglichen von ihnen unterschiedlich konzipiert wurde. 9 Die Ausdrücke ‚Ethos‘ und ‚Pathos‘, wie sie hier verwendet werden, beziehen sich also auf verschiedene Gegenstandsebenen: Der Ausdruck ‚Pathos‘ wird wie in der traditionellen Rhetorik als Bezeichnung für eine bestimmte, nämlich vor allem auf die Erregung von Affekten zielende Vortragsweise oder Stilqualität gebraucht, eine Stilqualität, deren sich Mach und Weber in Teilen ihrer Texte bedienen. (Zum rhetorischen Pathosbegriff und seinen Bedeutungen vgl.: Manfred Kraus, Pathos. A. Def., in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6: Must–Pop, Tübingen 2003, Sp. 689–691; Günter Butzer, Joachim Jacob, Pathos, in: Jan-Dirk Müller u.a. (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3: P–Z, Berlin, New York 2003, S. 38–40.) Mit ‚Ethos‘ ist hier hingegen eine mit normativem Anspruch ausgestattete Haltung gemeint, die in den Texten von Mach und Weber (sowie von Musil) zum Thema gemacht wird, nicht eine Sprecherhaltung, die in diesen Texten zum Ausdruck komme. Zu dieser zuletzt genannten, in der antiken Rhetorik verankerten und in jüngeren Ansätzen der Linguistik und Rhetorik wieder aufgegriffenen Ausprägung des Begriffs vgl. Christopher Gill, The Ethos/Pathos Distinction in Rhetorical and Literary Criticism, in: The Classical Quarterly, New Series 34 (1984), S. 149–166; Ruth Amossy, Ethos at the Crossroads of Disciplines: Rhetoric, Pragmatics, Sociology, in: Poetics Today 22 (2001), S. 1–23. – Indem der vorliegende Aufsatz danach fragt, wie das wissenschaftliche Ethos (verstanden als eine mit normativem Anspruch versehene Haltung) in den behandelten Quellen explizit zum Thema gemacht und propagiert wird, verfolgt er außerdem eine andere Zielsetzung als Untersuchungen zu der Frage, wie sich die Verpflichtung auf ein solches Ethos in der Auseinandersetzung um Wissensansprüche auf argumentativer Ebene manifestiert; zu dieser Frage vgl. etwa, mit Bezug auf die Philologie des 19. Jahrhunderts und ihr Ethos, Lutz Danneberg, Dissens, adpersonam-Invektiven und wissenschaftliches Ethos in der Philologie des 19. Jahrhunderts:
106 | Olav Krämer dabei zumindest teilweise dem Zweck, Sympathie oder Bewunderung für dieses Ethos zu erzeugen und seine über die Grenzen der Wissenschaft hinausreichende Vorbildlichkeit zu unterstreichen. Dieser moralische Vorbildlichkeitsanspruch der wissenschaftlichen Metaphysikverwerfung wurde auch außerhalb der Wissenschaft wahrgenommen: Eine eingehende Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Ethos des Metaphysikverzichts und auch mit dem Pathos, das manchen seiner Formulierungen anhaftete, findet sich etwa in Robert Musils unvollendetem Roman Der Mann ohne Eigenschaften, dem ich mich im Anschluss an die Überlegungen zu Mach und Weber zuwenden möchte. In diesem Roman tritt ein Protagonist auf, der ausdrücklich aus Bewunderung für das anti-metaphysische Ethos der modernen Wissenschaft den Beruf des Mathematikers ergreift und der diesen Beruf schließlich wieder aufgibt, als ihm die moralische Vorbildlichkeit der Wissenschaft fragwürdig geworden ist. Musils Auseinandersetzung mit dem antimetaphysischen Wissenschaftsethos kann, so meine ich, in manchen Punkten als repräsentativ für breitere literatur- und ideengeschichtliche Tendenzen des frühen 20. Jahrhunderts gelten; aber es soll nicht behauptet oder nahe gelegt werden, dass es eine umfassende historische Entwicklung gegeben hätte, die synekdochisch durch die Reihe Mach – Weber – Musil repräsentiert werden könnte. Es gab neben den von Mach und Weber formulierten auch andere wirkungsmächtige Ausprägungen eines wissenschaftlichen Ethos des Metaphysikverzichts, und die weitere Auseinandersetzung mit diesem Ethos verlief auch auf anderen Wegen als dem durch Musil verkörperten. Die im Folgenden untersuchte Trias von Autoren steht also nur für einen Ausschnitt der Diskussionen um Wissenschaft, wissenschaftliches Ethos und Metaphysik, die in den Jahrzehnten zwischen etwa 1890 und 1930 geführt wurden.
2. Ernst Mach Ernst Machs Schrift Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen erschien zuerst 1886, erzielte aber erst mit der zweiten Auflage von 1900 eine breitere Wirkung.10 Im Vorwort zu dieser zweiten Auflage || Wilamowitz-Moellendorff contra Nietzsche, in: Ralf Klausnitzer und Carlos Spoerhase (Hrsg.), Kontroversen in der Literaturtheorie / Literaturtheorie in der Kontroverse, Bern u.a. 2007, S. 93–147. 10 Machs Buch wird zitiert nach der Ausgabe: Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Nachdruck der 9. Aufl., Jena 1922. Mit einem Vorwort zum Neudruck von Gereon Wolters, Darmstadt 1991. Zur Publikations- und
Ethos und Pathos des Metaphysikverzichts beiMax Mach, Weber MusilMusil | Ethos und Pathos des Metaphysikverzichts bei Ernst Mach, Weber undund Robert 107 107
schreibt Mach: „Meinen erkenntniskritisch-physikalischen und den vorliegenden sinnesphysiologischen Versuchen liegt dieselbe Ansicht zugrunde, daß alles Metaphysische als müßig und die Ökonomie der Wissenschaft störend zu eliminieren sei.“11 Dieser programmatischen Ansicht entsprechend beginnt das Buch mit einem Kapitel, das „Antimetaphysische Vorbemerkungen“ überschrieben ist und in dem Mach das herkömmliche Verständnis der Ausdrücke ‚Körper‘ und ‚Ich‘ sowie die Vorstellung eines Dualismus von Physischem und Psychischem als metaphysisch kritisiert.12 Was man gewöhnlich als ‚Körper‘, als menschlichen ‚Leib‘ und als ‚Ich‘ bezeichne, seien keine klar abgegrenzten, teils physischen und teils psychischen Entitäten; es handle sich vielmehr in allen Fällen um nur relativ beständige, nicht scharf abgegrenzte Komplexe von Elementen oder Empfindungen, die weder physischer noch psychischer Natur sind, sondern je nachdem, in welchem Zusammenhang sie betrachtet werden, so oder so erscheinen. Von diesen Elementenkomplexen wirken nicht einige auf die anderen ein, also etwa die Körper der Außenwelt auf den menschlichen Leib und das Ich; sie alle sind vielmehr durch Funktional- oder Abhängigkeitsbeziehungen miteinander verbunden. Mach meint einerseits, die metaphysischen Auffassungen vom Ich, von Körpern und ihren Eigenschaften sowie von der Kausalität widerlegen oder als unsinnig erweisen zu können; insofern kann es fraglich erscheinen, ob seine Metaphysikkritik als Bestandteil eines wissenschaftlichen Ethos bezeichnet werden kann oder ob sie schlicht eine Implikation einiger seiner wissenschaftlichen Thesen bildet. Andererseits sagt Mach eben nicht nur, dass die metaphysischen Lehren als Irrtümer oder Unsinn zu verwerfen seien, sondern auch, dass sie „als müßig und die Ökonomie der Wissenschaft störend zu eliminieren“ seien. Die richtige, wünschenswerte Haltung eines Wissenschaftlers gegenüber den Gegenständen seiner Forschung charakterisiert Mach vorzugsweise als eine ‚gesunde‘, ‚nüchterne‘ und ‚unbefangene‘, gelegentlich auch als eine ‚naive‘ Einstellung,13 während er den metaphysischen Vorstellungen mehrfach den
|| Wirkungsgeschichte der Schrift vgl. Gereon Wolters, Vorwort zum Neudruck 1985, in: ebd., S. IX–XXIII, hier S. XVII–XXIII. 11 Für das Vorwort zur zweiten Auflage vgl. Mach, Die Analyse der Empfindungen, S. XXVII– XXIX; hier S. XXVIII. 12 Vgl., auch zum Folgenden: ebd., S. 1–30. 13 Vgl. ebd., S. 33 („Frische und Unbefangenheit“), 252 (dort Anm. 1: „die gesunden, nüchternen Ansichten“), 253 (dort Anm. 1), 257. Für eine Verwendung von ‚naiv‘ im positiven Sinne vgl. etwa ebd., S. 25: „Bei dieser Forschung können wir uns durch die für besondere praktische temporäre und beschränkte Zwecke gebildeten Zusammenfassungen und Abgrenzungen (Körper, Ich, Materie, Geist ...) nicht hindern lassen. [...] Es muß durchaus an die Stelle der
108 | Olav Krämer Status hartnäckiger Vorurteile oder Dogmen14 zuschreibt. Das antimetaphysische Ethos, das Mach somit teils explizit, teils implizit umreißt, ist definiert durch ein nüchternes oder unbefangenes Insistieren auf den unmittelbar gegebenen Erfahrungen als der allein maßgeblichen Basis der Wissenschaft sowie durch ein tatkräftiges und zuversichtliches Bestreben, die wissenschaftliche Forschung voranzubringen.15 Da auch jeder Wissenschaftler in seiner Sozialisation unweigerlich tradierte Vorurteile übernommen hat, gehören zu diesem Ethos ferner die Bereitschaft zur kritischen Musterung der eigenen Überzeugungen und das Bestreben, sich von Vorurteilen zu befreien, auch wenn dies Härte gegenüber sich selbst erfordert: Er selbst, so Mach in einer autobiographischen Fußnote in den „Anti-metaphysischen Vorbemerkungen“, musste einen „langen und harten Kampf“ gegen seine eigenen Vorurteile ausfechten.16 Handelt es sich bei diesem Ethos also um ein Spezialethos für Wissenschaftler, das über diesen Bereich hinaus keine Gültigkeit beansprucht? Einige For|| überkommenen instinktiven eine freiere, naivere, der entwickelten Erfahrung sich anpassende, über die Bedürfnisse des praktischen Lebens hinausreichende Auffassung treten.“ (Hervorhebung im Text) – Vgl. auch ders., Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung. Unveränderter reprografischer Nachdruck der 5., mit der 4. übereinstimmenden Aufl., Leipzig 1926. Darmstadt 1991 [zuerst 1905], S. 160 (Anm. 3), 444. 14 Vgl. ders., Die Analyse der Empfindungen, S. 31–37 (Kap. II: „Über vorgefaßte Meinungen“), dort etwa S. 33 („Dogma“). Ferner ebd., S. 298 („von traditionellen abergläubischen Auffassungen gereinigt“); ders., Erkenntnis und Irrtum, S. 199 („in so starren dogmatischen Formen“). 15 Vgl. auch ders., Die Analyse der Empfindungen, S. 292. Dort kritisiert Mach Anhänger des „Solipsismus“ und bemerkt unter anderem, „daß dieser Standpunkt [scil. des Solipsimus; O.K.] besser für einen beschaulich dahinträumenden Fakir paßt, als für einen ernst denkenden und aktiven Menschen.“ 16 Ebd., S. 24f. (dort Anm. 1). – Diese Fußnote scheint mir zu jenen Exkursen innerhalb von Machs Darlegungen zu gehören, die, wie Horst Thomé geschrieben hat, „den Empiriokritizismus, wenigstens ansatzweise, zu einer ‚impressionistischen Weltanschauung‘ [komplettieren]“ (Horst Thomé, Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp, in: Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, Tübingen 2002, S. 338–380, hier S. 352f., Anm. 42); Thomé bezieht sich hier auf andere Abschnitte aus Die Analyse der Empfindungen, in denen Mach über „die Konsequenzen seiner Destruktion des Subjekts für das Verhältnis zur eigenen Biographie“ oder auch „über den Tod“ spricht (ebd.). Das Merkmal der Passagen, auf das es Thomé ankommt, besteht darin, dass hier „die Transponierung von Wissensbeständen aus der Fachwissenschaft in den Weltanschauungsdiskurs mit der Verstärkung subjektiver Elemente verbunden“ ist (ebd.). Zu dieser „Verstärkung subjektiver Elemente“ trägt auch die hier zitierte autobiographische Fußnote bei, und die durch sie geleistete Profilierung der Persönlichkeit des Autors und seines Ethos dient letztlich auch dazu, die Erweiterung der fachwissenschaftlichen Theorien in das Gebiet der Weltanschauung zu unterstützen.
Ethosdes und Pathos des Metaphysikverzichts beiMax Mach, Weber und MusilMusil | Ethos und Pathos Metaphysikverzichts bei Ernst Mach, Weber und Robert 109 109
mulierungen Machs scheinen ein solches Verständnis nahe zu legen. Die Forderung, „alles Metaphysische als müßig und die Ökonomie der Wissenschaft störend zu eliminieren“, gilt, so könnte man sagen, zunächst nur dort, wo ein ungehindertes Fortschreiten der Wissenschaft als Ziel vorausgesetzt wird, also innerhalb der Wissenschaft selbst. Zudem hat Mach immer wieder betont, er sei Physiker und kein Philosoph und wolle keineswegs eine umfassende Weltanschauung, sondern nur Richtlinien für die Forschung anbieten.17 Aber derartige Äußerungen stehen in einer beträchtlichen Spannung zu anderen Passagen in Machs Schriften. Schon dadurch, dass er die wünschenswerte antimetaphysische Einstellung von Forschern als gesund und unbefangen charakterisiert und mit einer vorurteilsbehafteten Haltung kontrastiert, suggeriert er zumindest eine über den Bereich der Wissenschaft hinausreichende Vorbildlichkeit des anti-metaphysischen Ethos. Vor allem aber stellt Mach seine Wissenschaftstheorie in einen evolutionsbiologischen Rahmen,18 der scharfe Abgrenzungen zwischen wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Tätigkeiten kaum zulässt und der die Gleichsetzung von hochwertigen Wissenschaftlerhaltungen mit hochwertigen menschlichen Haltungen begünstigt. Alle geistigen Tätigkeiten sind Mach zufolge eine Ausprägung des Strebens von Lebewesen nach Anpassung an ihre Umwelt, und die „bewußte psychische Tätigkeit des Forschers“ erweise sich bei näherer Betrachtung „als eine methodisch geklärte, verschärfte und verfeinerte Abart der instinktiven Tätigkeit der Tiere und Menschen […], die im Natur- und Kulturleben täglich geübt wird“.19 Der Fortschritt der gedanklichen Anpassung an die Welt, der vor allem von den Wissenschaften getragen wird, ist für Mach eng verbunden mit einem Fortschritt in ethischer, politischer und kultureller Hinsicht, ja er wird von ihm manchmal als wichtigster Motor dieses Fortschritts beschrieben.20 Insbesondere || 17 Vgl. etwa Mach, Die Analyse der Empfindungen, S. XXX (Vorwort zur vierten Auflage), 39, 299f. 18 Vgl. ders., Erkenntnis und Irrtum, passim; ders., Über Umbildung und Anpassung im naturwissenschaftlichen Denken [Rede, gehalten 1883], in: ders., Populär-Wissenschaftliche Vorlesungen. 3., vermehrte und durchgesehene Auflage, Leipzig 1903, S. 243–262. – Zu diesem Aspekt von Machs Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie vgl. Gereon Wolters, Mach, in: William H. Newton-Smith (Hrsg.), A Companion to the Philosophy of Science, Malden (Mass.), Oxford (UK) 2000, S. 252–256; Milič Čapek, Ernst Mach’s biological theory of knowledge, in: Synthese 18 (1968), S. 171–191. 19 Mach, Erkenntnis und Irrtum, S. V (Hervorhebung im Text). 20 Vgl. ebd., S. 462: „Die Wissenschaft ist anscheinend als der überflüssigste Seitenzweig aus der biologischen und kulturellen Entwicklung hervorgewachsen. Wir können aber heute nicht mehr zweifeln, daß dieselbe sich zum biologischen und kulturell förderlichsten Faktor entwickelt hat. Sie hat die Aufgabe übernommen, an die Stelle der tastenden, unbewußten Anpas-
110 | Olav Krämer der Befreiung von den metaphysischen Vorstellungen von Ich und Körper und vom Leib-Seele-Dualismus schreibt Mach solche ethisch und kulturell förderlichen Wirkungen zu. Die Einsicht etwa, dass das „Ich [...] unrettbar“ sei, ist in seinen Augen keineswegs ein Grund zur Verzweiflung; vielmehr werde man dank dieser Einsicht zu einer „freieren und verklärten Lebensauffassung gelangen, welche Mißachtung des fremden Ich und Überschätzung des eigenen ausschließt“.21 Jeder einzelne Wissenschaftler, der nüchtern und unbefangen, ohne Rekurs auf metaphysische Annahmen, seinen Forschungen nachgeht, trägt seinen kleinen Teil zum allgemeinen sittlichen und kulturellen Fortschritt bei und erscheint so in Machs Darstellung selbst als moralisch vorbildlich. Das Pathos, das sich in Machs Charakterisierungen und Demonstrationen des anti-metaphysischen Ethos gelegentlich findet, dient in einigen Fällen dazu, dem Kampf des Wissenschaftlers gegen seine eigenen vorgefertigten Meinungen und insbesondere gegen die Vorurteile und Dogmen in seiner Umgebung einen heroischen Anstrich zu verleihen. In anderen Fällen verwendet Mach pathetische Formulierungen, um die förderlichen Wirkungen, die eine breite Durchsetzung der metaphysikfreien Denkweise auf die Kultur und das menschliche Zusammenleben insgesamt ausüben werde, in emotional anziehender Weise auszumalen. So heißt es am Ende einer seiner PopulärWissenschaftlichen Vorlesungen, dass die Wissenschaft, indem sie die metaphysischen Vorstellungen vom Ich, vom Körper und vom Gegensatz zwischen Physischem und Psychischem auflöst, die Voraussetzungen dafür schaffe, „daß die Menschen nicht nur sich, sondern der ganzen organischen und auch der sogenannten leblosen Natur mit weniger Selbstsucht und einem wärmeren Gefühl gegenüberstehen werden.“22 Im Kampf gegen die metaphysischen Vorurteile hat die Wissenschaft Mach zufolge schon große Erfolge erzielt, und die durch klares Tatsachendenken, einen Rückgang des Egoismus und ein harmo|| sung die raschere, klar bewußte, methodische zu setzen.“ – Vgl. auch ebd., S. 105: „Gesünder aber ist eine Ethik, welche [...] nur auf Tatsächliches sich gründet. Ethik und Recht gehören zur sozialen Kulturtechnik, und stehen desto höher, je mehr das vulgäre Denken durch wissenschaftliches Denken aus beiden Gebieten verdrängt ist.“ 21 Ders., Die Analyse der Empfindungen, S. 20. – Andererseits betont Mach immer wieder, dass viele wissenschaftlich unhaltbare Begriffe und Vorstellungen, so etwa die Vorstellungen von der Einheit und Beständigkeit des Ichs oder eines Körpers, im Alltagsleben praktischen Zwecken dienen und insofern berechtigt sind (vgl. ebd., etwa S. 10f., 18, 26–30). Wie sich für Mach diese Auffassung mit der hier herausgestellten Überzeugung von der förderlichen Wirkung einer Ausbreitung der wissenschaftlichen Denkweise verträgt, scheint mir aus seinen Ausführungen nicht deutlich zu werden. 22 Ders., Die ökonomische Natur der physikalischen Forschung [Vortrag, gehalten 1882], in: ders., Populär-Wissenschaftliche Vorlesungen, S. 215–242, Zitat S. 242.
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nisches Miteinander der Menschen und der Natur gekennzeichnete Zukunft erscheint in seiner Darstellung als durchaus erreichbar. Das Pathos, mit dem er für sein anti-metaphysisches Ethos wirbt, ist also ein entschieden optimistisches Pathos. Das von Mach vertretene wissenschaftliche Ethos des Metaphysikverzichts wurde als ein solches gewürdigt, in modifizierter Form übernommen und wirkungsmächtig propagiert durch die Philosophen des Wiener Kreises, die 1928 den „Verein Ernst Mach“ gründeten.23 Mit diesem Namen, so hieß es im so genannten ‚Manifest‘ des Kreises, der Schrift Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis (1929), sollte „nicht etwa ein programmatisches Einverständnis mit den einzelnen Lehren von Mach“ bekundet werden; der Verein wollte damit vielmehr „seine Grundrichtung kennzeichnen: metaphysikfreie Wissenschaft“. 24 Wie Mach die empirischen Wissenschaften als wichtige Triebkraft von Fortschritten im sozialen und kulturellen Bereich angesehen hatte, so zeigten sich die Autoren des Manifests überzeugt, dass die ‚wissenschaftliche Weltauffassung‘ durch einen „inneren Zusammenhang“ mit Bestrebungen zu sozialen Reformen verbunden sei25 und dass der Geist dieser Weltauffassung bereits „die Gestaltung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens nach rationalen Grundsätzen leiten [helfe]“26: „Die wissenschaftliche Weltauffassung dient dem Leben und das Leben nimmt sie auf.“27 Auch das optimistische Pathos, mit dem in diesen || 23 Vgl. die Bekanntgabe der Gründung in der Zeitschrift Erkenntnis: O. N., Verein ‚Ernst Mach‘, Wien, in: Erkenntnis 1 (1930/1931), S. 74. – Vgl. zu dem Verein auch Friedrich Stadler, Vom Positivismus zur ‚Wissenschaftlichen Weltauffassung‘. Am Beispiel der Wirkungsgeschichte von Ernst Mach in Österreich von 1895 bis 1934, Wien, München 1982, S. 167–205, zur Vereinsgründung S. 171–173. 24 Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis, hrsg. vom Verein Ernst Mach, Wien 1929, S. 14. Das „Geleitwort“ dieser Schrift haben „[f]ür den Verein Ernst Mach“ Hans Hahn, Otto Neurath und Rudolf Carnap unterzeichnet (ebd., S. 7f.) 25 Ebd., S. 14. – In etwa dieselbe Überzeugung brachte Carnap auch zum Ausdruck in: Rudolf Carnap, Der logische Aufbau der Welt, Berlin-Schlachtensee 1928, S. Vf. (Vorwort). Zum historischen Hintergrund, innerhalb dessen diese vor allem von Carnap und Neurath vertretenen Überzeugungen zu verorten sind, vgl. etwa Stadler, Vom Positivismus zur ‚Wissenschaftlichen Weltauffassung‘; Peter Galison, The Cultural Meaning of Aufbau, in: Friedrich Stadler (Hrsg.), Scientific Philosophy: Origins and Developments, Dordrecht u.a. 1993, S. 75–93. Die Annahme eines ‚inneren Zusammenhangs‘ zwischen der wissenschaftlichen Weltauffassung und der von ihr getragenen Philosophie einerseits, bestimmten sozialen und politischen Reformbestrebungen andererseits scheint aber nicht von allen Mitgliedern des Wiener Kreises geteilt worden zu sein; so jedenfalls Victor Kraft, Der Wiener Kreis. Der Ursprung des Neopositivismus, 3. Aufl., Wien, New York 1997 [zuerst 1950], S. 3f. (Anm. 1). 26 Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis, S. 30. 27 Ebd. (Hervorhebung im Text).
112 | Olav Krämer Teilen des Manifests für das Ethos der metaphysikfreien Wissenschaft geworben wird, ist unter anderem durch Mach vorgeprägt worden.
3. Max Weber Die folgenden Ausführungen zu Max Weber berücksichtigen allein seine auf einem 1917 gehaltenen Vortrag basierende Schrift Wissenschaft als Beruf (1919).28 Diese Schrift enthält bekanntlich einen besonders pointierten Entwurf eines wissenschaftlichen Ethos und provozierte eine große Zahl von Reaktionen.29 Das wissenschaftliche Ethos, das Weber in seinem Vortrag vorstellt, hat || 28 Webers Vortrag wird zitiert nach der Ausgabe: Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: ders., Wissenschaft als Beruf. 1917/1919. Politik als Beruf. 1919, hrsg. v. Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod, Tübingen 1992 (Max Weber Gesamtausgabe, hrsg. v. Horst Baier u.a., Abteilung I: Schriften und Reden, Bd. 17), S. 71–111; im Folgenden zitiert mit der Sigle „WB“, gefolgt von der Seitenzahl. – Den Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ hielt Weber am 7. November 1917 in München, im Rahmen einer Vortragsreihe mit dem Titel „Geistige Arbeit als Beruf“, die vom bayerischen Landesverband des Freistudentischen Bundes ausgerichtet wurde. Der vermutlich frei gehaltene Vortrag wurde mitstenographiert; dem Organisator der Vortragsreihe zufolge hat Weber das Stenogramm „‚ziemlich gründlich korrigiert‘“ und dabei „‚eine Reihe von Temperamentsausbrüchen ausgemerzt‘“, bevor die Schrift Wissenschaft als Beruf 1919 erschien. Vgl. dazu und zur Entstehungsgeschichte des Vortrags und der Publikation insgesamt Wolfgang J. Mommsen (in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod), Wissenschaft als Beruf. Editorischer Bericht, in: Max Weber, Wissenschaft als Beruf. 1917/1919. Politik als Beruf. 1919, hrsg. v. Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter, S. 49–69, Zitate S. 63. Vgl. zum Kontext des Vortrags und zu seiner Stellung im Werk Webers ferner Wolfgang Schluchter, Einleitung, in: ebd., S. 1–46. – Eine Untersuchung, die Webers grundsätzliche Positionen zu den in Wissenschaft als Beruf angesprochenen Fragen klären möchte, hätte offensichtlich die besonderen Umstände des Vortrags zu berücksichtigen (auch wenn Weber, wie angedeutet, den Vortrag für den Druck überarbeitet zu haben scheint). Aber die Schrift Wissenschaft als Beruf hat als Einzeltext mit dem darin propagierten wissenschaftlichen Ethos eine starke Wirkung ausgeübt, und mir geht es im Folgenden um diese historisch wirksam gewordene Veröffentlichung. – Für eine knappe Darstellung wichtiger Deutungsrichtungen in der jüngeren Forschung zu Wissenschaft als Beruf vgl. Richard Pohle, Max Weber und die Krise der Wissenschaft. Eine Debatte in Weimar, Göttingen 2009, S. 26f. 29 Hier seien nur einige dieser Reaktionen angeführt: Ernst Robert Curtius, Max Weber über Wissenschaft als Beruf, in: Die Arbeitsgemeinschaft. Monatsschrift für das gesamte Volkshochschulwesen 1 (1920), S. 197–203; Erich von Kahler, Der Beruf der Wissenschaft, Berlin 1920; Max Scheler, Weltanschauungslehre, Soziologie und Weltanschauungssetzung, in: Kölner Vierteljahrshefte für Sozialwissenschaften. Reihe A 2 (1922), S. 18–33; Heinrich Rickert, Max Weber und seine Stellung zur Wissenschaft, in: Logos 15 (1926), S. 222–237; Erik Wolf, Max Webers ethischer Kritizismus und das Problem der Metaphysik, in: Logos 19 (1930), S. 359–375.
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mehrere Komponenten; unter anderem gehört dazu die Forderung, dass der Wissenschaftler sich seinen Fragestellungen, obwohl sie in der Moderne notwendig spezialistischen Charakter haben müssen, mit Leidenschaft widmen solle (vgl. WB 80f.). Im Rahmen des vorliegenden Beitrags ist aber eine andere Komponente von zentraler Bedeutung, nämlich Webers Forderung, die Wissenschaftler sollten nicht versuchen, ihren Studenten Antworten auf Fragen nach dem Wert bestimmter Kulturinhalte, nach einem Lebenssinn oder nach dem richtigen Handeln zu geben (vgl. WB 93–97). Dass das so umrissene wissenschaftliche Ethos auch ein Ethos des Metaphysikverzichts ist, wird in einer von Webers Reformulierungen dieser Forderung besonders deutlich: Lehrende wie Studenten hätten es als eine „unentrinnbare Gegebenheit unserer historischen Situation“ anzuerkennen, dass die „Wissenschaft heute ein fachlich betriebener ‚Beruf‘ […] im Dienst der Selbstbesinnung und der Erkenntnis tatsächlicher Zusammenhänge [sei], und nicht eine Heilsgüter und Offenbarungen spendende Gnadengabe von Sehern, Propheten oder ein Bestandteil des Nachdenkens von Weisen und Philosophen über den Sinn der Welt“ (WB 105). Weber verwendet hier nicht das Wort ‚Metaphysik‘, aber was er hier aus den Wissenschaften ausschließt, umfasst auch das, was zeitgenössisch oft als Metaphysik bezeichnet wurde, und in der Diskussion um seine Schrift wurde sein Bannspruch auch als gegen die Metaphysik gerichtet verstanden.30 || – Erich von Kahlers Kritik an Weber rief selbst eine Gegenschrift hervor: Arthur Salz, Für die Wissenschaft gegen die Gebildeten unter ihren Verächtern, München 1921. Die Bücher von Kahlers und Salz’ erhielten eine eingehende Besprechung durch Troeltsch; vgl. Ernst Troeltsch, Die Revolution in der Wissenschaft, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 45 (1921), 3. Heft, S. 65–94. – Eine Sammlung von Reaktionen auf Webers Vortrag in englischer Übersetzung bieten Peter Lassman, Irving Velody (Hrsg.), Max Weber’s ‚Science as a Vocation‘, London u.a. 1989. – Zu der Debatte um Wissenschaft als Beruf vgl. ausführlich Pohle, Max Weber und die Krise der Wissenschaft; Klaus Lichtblau, Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland, Frankfurt a.M. 1996, S. 420–458; Edoardo Massimilla, Ansichten zu Weber. Wissenschaft, Leben und Werte in der Auseinandersetzung um ‚Wissenschaft als Beruf‘. Aus dem Italienischen übersetzt von Charlotte Voermanek, [Leipzig] 2008 [italienisches Original: Neapel 2000]. Für eine Analyse der Gegenschrift Erich von Kahlers vgl. auch: Gerhard Lauer, Die verspätete Revolution. Erich von Kahler. Wissenschaftsgeschichte zwischen konservativer Revolution und Exil, Berlin, New York 1995, S. 218–262. 30 Dass Weber in Wissenschaft als Beruf unter anderem die „Metaphysik“ aus der Wissenschaft verbannt habe, wird ausdrücklich formuliert bei: Troeltsch, Die Revolution in der Wissenschaft, S. 84f.; Wolf, Max Webers ethischer Kritizismus und das Problem der Metaphysik, S. 363, 365; Scheler, Weltanschauungslehre, Soziologie und Weltanschauungssetzung, S. 19. Vgl. auch diesbezügliche Bemerkungen in einem wohl 1921 entstandenen Manuskript aus Schelers Nachlass: ders., Die Wissensformen und die Gesellschaft. 2., durchgesehene Auflage.
114 | Olav Krämer Für die Forderung, dass Professoren ihren Studenten keine Werturteile und praktischen Stellungnahmen aufdrängen sollten, führt Weber Gründe von zweierlei Art an, zunächst „praktische[] Gründe[]“ und dann „tiefer liegende[] Gründe[]“ (WB 99). Die ‚praktischen Gründe‘ setzen eine entscheidende theoretische Annahme voraus, die Annahme nämlich, dass „Tatsachenfeststellung“ einerseits und die „Beantwortung der Frage nach dem Wert der Kultur und ihrer einzelnen Inhalte“ sowie nach dem richtigen Handeln andererseits „ganz und gar heterogene Probleme“ seien (WB 97). Diese heterogenen Probleme nun sollte der Wissenschaftler nicht zusammen im Hörsaal behandeln, weil die zuhörenden Studenten dort keine Chance zur Kritik haben, weil die Vermischung mit Werturteilen stets „das volle Verstehen der Tatsachen“ verhindere und weil schließlich unter den Studenten stets Anhänger gegensätzlicher weltanschaulicher oder religiöser Lehren sein können, die der Lehrer kaum zur Akzeptanz derselben Werturteile bewegen kann, denen er aber gleichermaßen etwas Nützliches vermitteln soll (vgl. WB 97f., Zitat 98). Während diese ‚praktischen Gründe‘ für den Verzicht auf Werturteile und Sinnangebote sich ganz an den besonderen Bedingungen der wissenschaftlichen Forschungs- und Lehrtätigkeit orientieren, spricht Weber in seiner Darlegung der „tiefer liegenden Gründe[]“ (WB 99) nicht nur darüber, wie Wissenschaftler, sondern auch darüber, wie die Menschen außerhalb der Wissenschaft sich gegenüber Wertfragen verhalten sollten. Weber greift hier seine Prämisse von der Heterogenität von Tatsachenfragen einerseits, Wertfragen andererseits wieder auf und gibt ihr eine dramatischere Färbung, indem er sie um die Annahme ergänzt, dass „die verschiedenen Wertordnungen der Welt in unlöslichem Kampf untereinander stehen“ (WB 99), dass die „Götter der einzelnen Ordnungen und Werte“ (WB 100) einen „ewigen Kampf“ (WB 101) miteinander ausfechten. Es mache das ‚Schicksal unserer Kultur in dieser Zeit‘ aus,31 dass die „Unaustragbarkeit“ (WB 104) dieses Kampfes wieder bewusst geworden sei, nachdem das Christentum viele Jahrhunderte hindurch diesen „Grundsachverhalt“ (WB 104) verdeckt habe. Da über den Rang der verschiedenen Wertordnungen nicht wissenschaftlich entschieden werden könne, falle jedem Einzelnen die Pflicht zu, sich über seine eigene „letzte[] Stellungnahme“ klar zu werden (WB 101; vgl. auch 110) und sich zwischen den „letzten überhaupt möglichen Standpunkte[n] zum Leben [...] zu entscheiden“ (WB 104f.). In Webers
|| Mit Zusätzen hrsg. v. Maria Scheler, Bern und München 1960 (Max Scheler, Gesammelte Werke, Bd. 8), S. 430f.; zur Datierung des Manuskripts vgl. Maria Scheler, Nachwort der Herausgeberin zur zweiten Auflage, in: ebd., S. 473–483, hier S. 481. 31 Vgl. WB 101 („Schicksal der Zeit“, „Schicksal unserer Kultur“).
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emphatischer Hervorhebung des Worts ‚entscheiden‘ und in seiner wiederholten Rede von ‚letzten‘ Stellungnahmen oder Standpunkten dürfte sich die Überzeugung ausdrücken, dass diese Entscheidungen nicht begründet werden können, und in diesem Sinne ist Weber auch von Zeitgenossen verstanden worden.32 Zu der für alle Menschen geltenden „intellektuellen Rechtschaffenheitspflicht“ gehört es nach Weber, sich über den Status der „eigene[n] letzte[n] Stellungnahme“ – letztlich also: über ihre Nichtbegründbarkeit – im Klaren zu sein (WB 110). Diese Forderung ist für Weber gleichbedeutend mit der, „dem Schicksal der Zeit [...] in sein ernstes Antlitz [zu] blicken“ (WB 101) und es „männlich [zu] ertragen“ (WB 110). Als „Schwäche“ (WB 101) gilt es ihm, wenn jemand dies nicht vermag und sich die „Pflicht“ zur „eigene[n] letzte[n] Stellungnahme“ durch „Relativierung“ zu erleichtern versucht (WB 110). Wie in den letzten Zitaten schon deutlich geworden ist, macht Weber in diesen Vortragsteilen besonders intensiv vom Mittel des Pathos Gebrauch. Die affektiv eindringlichen Formulierungen dienen ihm dazu, den Ernst des ‚Schicksals‘ der modernen Kultur zu unterstreichen33 und der Haltung des || 32 Vgl. zu Webers Überzeugung von der Nichtbegründbarkeit der Entscheidung für eine Wertordnung auch: Johannes Weiß, Max Weber: Die Entzauberung der Welt, in: Josef Speck (Hrsg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart IV, Göttingen 1981, S. 9–47, hier S. 35. – Webers in Wissenschaft als Beruf formulierte Auffassung von Werturteilen und ihrer Begründungsfähigkeit wurde auch in den zeitgenössischen Reaktionen vielfach kommentiert. Curtius bemerkte zu Webers Ausführungen über die ‚je eigene letzte Stellungnahme zum ‚Leben‘ als Grundlage von Wertungen: „Max Weber gelangt hier zu einem scharf formulierten Subjektivismus, der die Verständigung auf einer gemeinsamen Basis streng genommen ausschließt.“ (Curtius, Max Weber über Wissenschaft als Beruf, S. 199) Scheler charakterisiert Webers Position unter anderem als „Relativismus“ (Scheler, Weltanschauungslehre, Soziologie und Weltanschauungssetzung, S. 28; vgl. ferner ebd., S. 19f.); vgl. auch Wolf, Max Webers ethischer Kritizismus und das Problem der Metaphysik, S. 361–365. – Curtius, Scheler und Rickert vertraten (auf je unterschiedliche Weise) die Auffassung, dass die empirischen Wissenschaften zwar tatsächlich keine Urteile über Rang oder Berechtigung von Wertordnungen begründen können, dass die Philosophie aber – entgegen der Meinung Webers – dazu durchaus in der Lage sei; vgl. Curtius, Max Weber über Wissenschaft und Beruf, S. 201f.; Scheler, Weltanschauungslehre, Soziologie und Weltanschauungssetzung, S. 22–29; Rickert, Max Weber und seine Stellung zur Wissenschaft, S. 230f., 233–235. Ähnlich: Troeltsch, Die Revolution in der Wissenschaft, S. 89. 33 Schon die wiederholte Rede vom „Schicksal“ (WB 100, 101, 109, 110) verleiht diesen Abschnitten ein gewisses Pathos, wie auch eine der frühen Stellungnahmen zu Webers Vortrag bezeugt: Erik Wolf bemerkte in seinem Aufsatz von 1930, dass Weber, indem er seine Überzeugung von der Trennung zwischen der Wissenschaft und der Sphäre der Götter oder Wertordnungen mit der Annahme einer „Schicksalhaftigkeit“ verbunden habe, die Arbeit des Wissenschaftlers „in das pathetische Licht des Schicksals- oder Kulturvollzugs“ gerückt habe; Wolf spricht auch von der „Pathetik, mit der Weber diese Verzichtshaltung ausbaute und als Forde-
116 | Olav Krämer Menschen, der diesem Schicksal ins Auge sieht, den Charakter eines stoischen Heroismus zu geben.34 Den pathetischen Duktus behält Weber auch bei, wenn er im Anschluss an die oben referierte Argumentation die Frage der Studenten antizipiert, wer denn die Fragen ‚Was sollen wir tun? Welchem der Götter sollen wir dienen?‘ beantworte, wenn es die Wissenschaft nicht tue (vgl. WB 105). Webers Antwort lautet: „nur ein Prophet oder ein Heiland“ (WB 105); nur wenige Sätze später aber bezeichnet er es als einen „entscheidenden Sachverhalt“, dass „der Prophet, nach dem sich so viele unserer jüngsten Generation sehnen, [...] eben nicht da [ist]“ (WB 105), dass heute auch die „religiös ‚musikalischen‘ Menschen [...] in einer gottfremden, prophetenlosen Zeit zu leben das Schicksal [haben]“ (WB 106). Nachdem Weber es bereits als unumstößlichen Grundsachverhalt bezeichnet hat, dass der Kampf zwischen den Göttern oder Wertordnungen ein ewiger beziehungsweise ‚unaustragbarer‘ sei (vgl. WB 104), kann es etwas überraschen, dass er hier das Erscheinen eines Propheten oder Heilands als zumindest prinzipiell denkbar und nur faktisch nicht gegeben darstellt; anders gewendet, muss es hier unklar erscheinen, was Weber mit einem Propheten oder Heiland meint. Eindeutiger als der inhaltliche Sinn und die argumentative Funktion dieser Formulierungen aber ist ihr affektives Wirkungspotential:35 Mit den Attributen der Gottfremdheit und Prophetenlosigkeit verstärkt
|| rung an das wissenschaftliche Leben stellte“ (Wolf, Max Webers ethischer Kritizismus und das Problem der Metaphysik, S. 364; Hervorhebungen im Text). 34 Vgl. hierzu auch: Schluchter, Einleitung, S. 34. Schluchter diskutiert hier die mutmaßlichen Erwartungen der studentischen Hörer von Webers Vortrag und einige ihrer Reaktionen. Webers Position, so Schluchter, habe vermutlich nicht viele der Studierenden „begeistern“ können, denn: „Sie suchten nicht das Alltägliche, sondern das Außeralltägliche, nicht den nüchternen Lehrer, sondern den Helden oder Propheten […].“ Diese Einschätzung ist sehr plausibel, wäre aber, so scheint mir, um den Hinweis zu ergänzen, dass Weber mit seinem Eintreten für „‚alltägliche‘“ und „unspektakuläre Tugenden“ (ebd.) nicht jede Form von Heldentum verwirft, sondern durch die rhetorische Gestaltung der betreffenden Passagen den geforderten alltäglichen Leistungen selbst einen entschieden heroischen Anstrich gibt. Das deutet auch Schluchter an, wenn er Webers Position so paraphrasiert: „‚Held‘ ist auch der, dem es gelingt, den Alltag zu bewältigen, ohne sich dabei bloß anzupassen.“ (Ebd.) 35 Vgl. den Kommentar Schelers zu dieser Stelle: „Schließlich aber konstatiert Max Weber noch eine [...] besonders tragische, ja recht eigentlich schon fast gräßliche Tatsache. Der ‚Prophet‘, der ‚Heiland‘ sei nämlich nicht da.“ (Scheler, Weltanschauungslehre, Soziologie und Weltanschauungssetzung, S. 20; Hervorhebung im Text) – Erich von Kahler klagte auf den ersten Seiten seiner Gegenschrift zu Webers Vortrag, die studierenden jungen Menschen hätten auf ihre drängenden, wenn auch unklaren Fragen von den Vertretern der „alten Wissenschaft“ (Kahler, Der Beruf der Wissenschaft, S. 7), und so zuletzt auch von Max Weber in Wissenschaft als Beruf, als Antwort immer wieder ein „furchtbare[s] Achselzucken“ erhalten, das besage:
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Weber die düstere Grundierung seines Bildes der Gegenwart und lässt so indirekt die Menschen, die diesem ernsten Schicksal standzuhalten vermögen, umso bewundernswerter erscheinen. Die tieferen Gründe, um derentwillen der Wissenschaftler auf praktische Stellungnahmen und Sinnangebote verzichten soll, ergeben sich nach Weber also aus der Einsicht, dass die Wertordnungen oder Götter in einem ewigen und unaustragbaren Kampf untereinander stehen und dass die Entscheidung für einen dieser Götter nicht begründbar ist (vgl. WB 105f., 110). Unter dieser Beschreibung aber erscheint die geforderte Haltung der Wissenschaftler als eine vorbildliche Verwirklichung dessen, was Weber auch von den Menschen außerhalb der Wissenschaft verlangt. Denn diese Menschen sollen zwar nach Webers Dafürhalten durchaus praktische Stellungnahmen vollziehen und sich für eine der kämpfenden Wertordnungen entscheiden, was die Wissenschaftler als Wissenschaftler gerade nicht tun sollen; aber die Nicht-Wissenschaftler sollen sich dabei der „Unaustragbarkeit“ des Kampfes zwischen den Wertordnungen bewusst sein, also wissen, dass sie ihre Entscheidung für einen der „letzten überhaupt möglichen Standpunkte zum Leben“ (WB 104) nicht begründen können. Dieses Wissen um die Kluft zwischen Tatsachen- und Wertfragen und um die Unlösbarkeit des Kampfes zwischen den Werten soll folglich nach Weber, zusammen mit einem Verzicht auf metaphysische Ausflüchte, die Haltung der Wissenschaftler wie die der Nicht-Wissenschaftler prägen. Im Schlussabschnitt des Vortrags scheint Weber denn auch die Grenze zwischen Wissenschaft und außerwissenschaftlichem Leben, zwischen beruflichem und menschlichem Bereich aufzuheben, wenn er in der ersten Person Plural („Daraus wollen wir die Lehre ziehen […]“) dazu aufruft, „der ‚Forderung des Tages‘ gerecht zu werden – menschlich sowohl wie beruflich“ (WB 111). Webers Version eines wissenschaftlichen Ethos des Metaphysikverzichts unterscheidet sich somit grundlegend von der Mach’schen, und diese Unterschiede können in erster Linie auf die differierenden Auffassungen von Metaphysik zurückgeführt werden, die die zwei Autoren voraussetzen. Für Mach besteht die Metaphysik aus Annahmen, die vielleicht teilweise einen gewissen praktischen Wert erfüllen, insgesamt aber hauptsächlich als Vorurteile und Dogmen zu gelten haben, die in kognitiver Hinsicht hinderlich und womöglich auch in moralischer Hinsicht schädlich sind. Dementsprechend zeigt sich das von ihm propagierte Ethos des Metaphysikverzichts als nüchterne und nach vorn blickende Haltung eines Wissenschaftlers, der zugleich von der Zuversicht || „Bei uns dürft ihr’s nicht suchen, denn unseres Amtes ist es nicht [sic] und woanders werdet ihr nichts finden, denn es ist Nichts und Niemand da.“ (Ebd., S. 8).
118 | Olav Krämer beseelt ist, dass die Arbeit der Wissenschaftler auch zu Fortschritten in den Bereichen von Ethik und Recht beitragen wird. Weber hingegen deutet die Situation der modernen Kultur, in der metaphysische Lehren unglaubwürdig geworden sind, ausdrücklich als eine ‚ernste‘, welcher ins Antlitz zu blicken ‚Stärke‘ erfordere; er nimmt also an, dass die nun diskreditierte Metaphysik auf menschliche Sinn- und Trostbedürfnisse geantwortet habe. Dementsprechend ist das von ihm entworfene Ethos des Metaphysikverzichts durch Züge des Asketischen und des Heroischen geprägt, zugleich aber durch ein Moment der Resignation, da die Aussicht auf ein die asketischen und heroischen Leistungen belohnendes Ziel fehlt oder zumindest unklar bleibt.36
4. Robert Musil Sowohl Mach als auch Weber entwerfen das anti-metaphysische Ethos der Wissenschaft nicht als eine Haltung, die nur innerhalb der wissenschaftlichen Sphäre geboten ist, sondern als besonders konsequente Ausprägung einer Einstellung zur Welt, die über die Wissenschaft hinaus moralische Vorbildlichkeit für alle Menschen besitzt. In Robert Musils Fragment gebliebenem Roman Der Mann ohne Eigenschaften (1. Band 1930, 2. Band 1932)37 tritt ein Protagonist auf, der als junger Mann von einer solchen Vorstellung vom wissenschaftlichen Ethos durchdrungen ist und für den diese moralische und menschliche Vorbildlichkeit der Wissenschaft geradezu das Hauptmotiv dafür bildet, den Beruf des Mathematikers zu ergreifen: Ulrich, so heißt es über diesen Protagonisten, „war weniger wissenschaftlich als menschlich verliebt in die Wissenschaft.“ (MoE 40) || 36 Für Werner Mahrholz, ein führendes Mitglied der Freistudentischen Bewegung in München, drückte Webers Vortrag gerade eine solche Verbindung von Heroismus und Resignation aus, eine Verbindung, die er ‚erschütternd‘ fand: „Erschütternd ist die Stellung gerade der Führernaturen unter den Professoren: ihnen wird mehr und mehr die Wissenschaft zu einer Form des anständigen Selbstmordes, ein Weg zum Sterben in stoischem Heroismus.“ (Werner Mahrholz, Die Lage der Studentenschaft. Versuch einer Diagnose, in: Die Hochschule. Blätter für akademisches Leben und studentische Arbeit 3 [1919], H. 8, S. 225–232, hier S. 230; die Fußnote am Ende des Satzes verweist auf Webers Wissenschaft als Beruf. Den Hinweis auf diesen Artikel und das Zitat verdanke ich Schluchter, Einleitung, S. 34). 37 Musils Roman wird zitiert nach der folgenden Ausgabe: Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, in: ders., Gesammelte Werke in neun Bänden, hrsg. v. Adolf Frisé, 2. verbesserte Auflage, Reinbek bei Hamburg 1981, Bd. 1–5; im Folgenden zitiert mit der Sigle „MoE“, gefolgt von der Seitenzahl. – In den folgenden Ausführungen greife ich auf Teile der folgenden Untersuchung zurück: Olav Krämer, Denken erzählen. Repräsentationen des Intellekts bei Robert Musil und Paul Valéry, Berlin, New York 2009, dort v.a. S. 102–119, 138–159.
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Zu den Tugenden, die in seinen Augen die Wissenschaftler auszeichnen, gehören zunächst Mut und die Bereitschaft zum Umsturz überkommener Lehren (vgl. dazu MoE 39f.) sowie schließlich einige Qualitäten, die in der folgenden Passage deutlich werden: Ulrich hatte die Wissenschaft als eine Vorbereitung, Abhärtung und Art von Training betrachtet. Wenn es sich ergab, daß dieses Denken zu trocken, scharf, eng und ohne Ausblick war, so mußte man es eben so hinnehmen wie den Ausdruck von Entbehrung und Anspannung, der bei großen Körper- und Willensleistungen auf einem Gesicht liegt. Er hatte jahrelang die geistige Entbehrung geliebt. Er haßte die Menschen, die nicht nach dem Nietzsche-Wort ‚um der Wahrheit willen an der Seele Hunger leiden‘ können; die Umkehrenden, Verzagten, Weichlichen, die ihre Seele mit Faseleien von der Seele trösten und sie, weil ihr der Verstand angeblich Steine statt Brot gibt, mit religiösen, philosophischen und erdichteten Gefühlen ernähren, die wie in Milch aufgeweichte Semmeln sind. Seine Meinung war, man befinde sich in diesem Jahrhundert mit allem Menschlichen auf einer Expedition, der Stolz verlange, daß man allen unnützen Fragen ein ‚Noch nicht‘ entgegensetze und ein Leben mit Interimsgrundsätzen, aber im Bewußtsein eines Ziels führe, das später Kommende erreichen werden. Die Wahrheit ist, daß die Wissenschaft einen Begriff der harten, nüchternen geistigen Kraft entwickelt hat, der die alten metaphysischen und moralischen Vorstellungen des Menschengeschlechtes einfach unerträglich macht, obgleich er an ihre Stelle nur die Hoffnung setzen kann, daß ein ferner Tag kommen wird, wo eine Rasse geistiger Eroberer in die Täler der seelischen Fruchtbarkeit niedersteigt. (MoE 46)
Diese Sätze umreißen ein wissenschaftliches Ethos, für das drei Bestandteile konstitutiv sind: erstens die Selbstverpflichtung, als unhaltbar erwiesene metaphysische und moralische Vorstellungen zu verabschieden; zweitens die Fähigkeit, die mit diesem Verzicht verbundenen Entbehrungen auszuhalten; drittens die hoffnungsvolle Ausrichtung auf ein Fernziel, nämlich die Eroberung von „Täler[n] der seelischen Fruchtbarkeit“. Dieses wissenschaftliche Ethos des Metaphysikverzichts ähnelt damit teils der Mach’schen Konzeption eines solchen Ethos, teils der Weber’schen:38 Mit der Hoffnung, dass die Mühen der anti|| 38 Mit dem Werk Ernst Machs hat sich Musil intensiv beschäftigt, unter anderem im Rahmen seiner Dissertation. Von den zahlreichen Untersuchungen zu Musils Mach-Rezeption seien hier nur genannt: Hans-Joachim Pieper, Musils Philosophie. Essayismus und Dichtung im Spannungsfeld der Theorien Nietzsches und Machs, Würzburg 2002; Timothy J. Mehigan, Robert Musil, Ernst Mach und das Problem der Kausalität, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 71 (1997), S. 264–287; Georg Henrik von Wright, Musil and Mach [1982], in: ders., The Tree of Knowledge and other Essays, Leiden 1993, S. 53–61. Für Musils Kenntnis von Max Webers Wissenschaft als Beruf gibt es hingegen, soweit ich sehe, keine Belege. In den zu Lebzeiten veröffentlichten Werken Musils wird Max Weber nicht erwähnt, auch in der einschlägigen Musil-Biographie taucht der Name Webers nicht auf (vgl. Karl Corino, Robert Musil. Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg 2003). Es ist aber wahr-
120 | Olav Krämer metaphysisch eingestellten Wissenschaftler in ferner Zukunft nicht nur kognitive Erträge, sondern auch einen ‚seelischen‘ Gewinn einbringen werden, erinnert es an Machs Zuversicht von den umfassenden, kulturell und moralisch förderlichen Wirkungen der Fortschritte der Tatsachenwissenschaft. Mit dem Aufruf zur geistigen Entbehrung und der ‚stolzen‘ Ablehnung unnützer Fragen und unzulänglicher Tröstungen erinnert es an Webers Ermahnungen, das harte Schicksal der Gegenwart männlich zu ertragen. Das so beschaffene Ethos nun wird – zumindest in der Vorstellung des jungen Ulrich – mustergültig von Wissenschaftlern verkörpert, gilt ihm aber als vorbildlich für die Menschen allgemein: Er „haßt[]“ nicht etwa nur Wissenschaftler, die diesen Forderungen nicht gerecht werden, sondern „Menschen“, die zu dieser Haltung nicht fähig sind. In ihrer sprachlichen Gestaltung bedient sich diese Beschreibung eines wissenschaftlichen Ethos ausgesprochen pathetischer Formulierungen, setzt dieses Pathos aber zugleich einer ironischen Brechung aus. Das Pathos wird vor allem || scheinlich, dass Musil zumindest aus zweiter Hand von Webers Vortrag, seinen Auffassungen über die moderne Wissenschaft und seiner Konzeption eines wissenschaftlichen Ethos wusste. Für eine knappe Notizbucherwähnung Max Webers von 1919 oder 1920, die auf Wissenschaft als Beruf anzuspielen scheint, vgl. Robert Musil, Tagebücher, hrsg. v. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1976, S. 429; bei diesem Notizbucheintrag handelt es sich um ein Miniaturporträt Otto Neuraths: „Neurath / Etwas Kathederstreithengst. Aber mit einer sprengenden Energie. Die .. haben nach ihrem geistigen Zusammenbruch Max Weber und mich eingeladen, um Ihnen [sic] zu erzählen, woran sie glauben könnten. Ich habe ihnen auch nicht helfen können: Darin liegt doch viel von der Stellung des Professoralen in Deutschland.“ (Ebd.; die zwei Punkte zwischen „Die“ und „haben“ so in Musils Notizbuch.) Eine weitere knappe Nennung Max Webers findet sich in der Nachlassmappe V/2, S. 12; vgl. Robert Musil, Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften, hrsg. v. Walter Fanta, Klaus Amann und Karl Corino, Klagenfurt, DVD-Version 2009. – Für die folgenden Ausführungen ist aber nicht entscheidend, ob Musil Webers Rede kannte; es geht mir primär nicht um intendierte Bezugnahmen Musils auf Weber, sondern um Musils Auseinandersetzung mit einem der modernen Wissenschaft zugeschriebenen Ethos, das in wichtigen Hinsichten dem von Weber entworfenen (und in anderen Hinsichten dem von Mach entworfenen) Ethos ähnelt. – Für eine vergleichende Untersuchung zu Musils und Webers Gegenwartsdiagnosen und ihren Haltungen gegenüber zeittypischen Krisen- und Erlösungsvorstellungen vgl. Florence Vatan, Beruf: Entzauberer? Robert Musil und Max Weber, in: Hans Feger u.a. (Hrsg.), Terror und Erlösung. Robert Musil und der Gewaltdiskurs in der Zwischenkriegszeit, Paderborn 2009 (Musil-Studien 37), S. 65–91; vgl. ferner Hans Dieter Zimmermann, Die zwei Bäume der Erkenntnis. Rationalität und Intuition bei Robert Musil und Max Weber, in: Sprache im technischen Zeitalter (1990), S. 41–48. Vatan geht auf die Frage nach Musils WeberRezeption nicht ein; Zimmermann verweist u.a. auf die oben genannte Notizbucherwähnung und äußert die Vermutung, dass Musil „Weber gekannt“, sogar „ganz gut gekannt“ habe (ebd., S. 41).
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durch die Metaphern der Expedition und des Eroberungsfeldzugs sowie durch den Ausblick auf den erhofften „ferne[n] Tag“ erzeugt, ferner durch den expliziten Appell an den „Stolz“ und durch die Stärke der wiedergegebenen Wertungen und Affekte („geliebt“, „haßte“, „unerträglich“). Einige Passagen in Webers Wissenschaft als Beruf mag man hinsichtlich der Intensität des eingesetzten Pathos als mit diesem Abschnitt vergleichbar ansehen, bei Mach dagegen dürfte sich in dieser Hinsicht kaum etwas Vergleichbares finden; und weder Mach noch Weber rekurrieren auf Metaphern wie die der Expedition und des Eroberungsfeldzugs.39 Pathetische Momente aber finden sich auch in Machs und Webers Affirmationen eines Ethos des Metaphysikverzichts, und dieses Pathos wird in Musils Romanpassage gewissermaßen nur graduell gesteigert und somit auch deutlich herausgestellt. Was die verwendeten Metaphern angeht, so kann man vermuten, dass Musil hier die affektiv wirkungsvollen Idealbilder, die sich (ihm zufolge) Propagierungen des wissenschaftlichen Ethos zunutze machten, möglichst explizit machen und pointieren wollte. Zugleich aber werden in dieser Passage das geschilderte wissenschaftliche Ethos und seine pathetische Einkleidung einer Ironisierung unterzogen. Schon in den Metaphern der Expedition und der Eroberung mag man eine ironische Note entdecken, da sie auch einer etwas naiven jugendlichen Vorstellungswelt entstammen könnten; deutlicher wird das wissenschaftliche Ethos ironisiert, wenn von den „Täler[n] der seelischen Fruchtbarkeit“ die Rede ist, und unverkennbar schließlich ist die Ironisierung, die sich aus der Einbettung der Passage || 39 Im Werk des in der Romanpassage genannten Nietzsche hingegen finden sich Stellen, wo mit ähnlich intensivem Pathos und mit ähnlichen Metaphern ein Ethos zwar nicht der Wissenschaft, aber doch der Erkenntnis entworfen wird: Gemeint sind einige von Nietzsches Charakterisierungen der ‚freien Geister‘ und ‚neuen Philosophen‘. Vgl. etwa Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 5. Abt., 2. Bd., Berlin, New York 1973, S. 11–335, hier S. 209–211, 310–313 (Abschnitte Nr. 289 [„Auf die Schiffe!“], 377 [„Wir Heimatlosen“]). Dass die zitierte MusilPassage Anklänge an solche Stellen bei Nietzsche aufweist, wurde unter anderem konstatiert bei Renate von Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘. Ihr Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Denken, Münster 1966, S. 59. – Dass Nietzsche für das Thema ‚Ethos und Pathos des Metaphysikverzichts in den Jahrzehnten um 1900‘ generell von zentraler Bedeutung ist und nicht nur für Musils, sondern auch für Webers Auseinandersetzung mit der Metaphysikkritik einen wichtigen Hintergrund bilden dürfte, kann hier nur am Rande notiert werden. Zu Weber und Nietzsche vgl. etwa Wilhelm Hennis, Die Spuren Nietzsches im Werk Max Webers [1986], in: ders., Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1987, S. 167–191. Zu Musil und Nietzsche etwa Pieper, Musils Philosophie; Charlotte Dresler-Brumme, Nietzsches Philosophie in Musils Roman ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘. Eine vergleichende Betrachtung der Beiträge zum Verständnis. 2. Aufl., Wien u.a. 1993.
122 | Olav Krämer im Kontext des Romankapitels „Ein geniales Rennpferd reift die Erkenntnis, ein Mann ohne Eigenschaften zu sein“ ergibt.40 Wie allerdings diese Mischung aus suggestiver Evokation und gleichzeitiger Ironisierung eines wissenschaftlichen Ethos des Metaphysikverzichts zu deuten ist, geht aus dieser Stelle allein nicht hervor. Die zitierte Romanpassage bildet nur einen Ausschnitt aus der intensiven Auseinandersetzung mit der modernen Wissenschaft und ihrem Ethos, die Musil in seinem Roman und in einigen Essays vor allem der 1920er Jahre geführt hat.41 Das Ethos, das Musil in diesen Texten der Wissenschaft zuschreibt, weist Züge sowohl der Mach’schen als auch der Weber’schen Konzeption auf. Musils Stellungnahme zu diesem Ethos kann zunächst als Versuch einer anthropologischen Integration42 beschrieben werden. Was Musil dabei in eine Anthropologie zu integrieren, also auf menschliche Grundanlagen zurückzuführen versucht, ist sowohl die unsentimentale und fortschrittsgewisse Metaphysikfeindschaft, die Ernst Mach propagiert, als auch das Verlust- oder Entbehrungsbewusstsein, das dem Weber’schen Ethos seinen heroischen und pathosaffinen Zug verleiht. Für Musil ist die menschliche Natur gekennzeichnet durch das spannungsvolle Verhältnis zwischen zwei Grundanlagen.43 Die eine von ihnen äußert sich in
|| 40 Auf den zitierten Abschnitt, der in die Evokation des ‚fernen Tages‘ und der ‚Täler der seelischen Fruchtbarkeit mündet‘, folgt dort der Satz: „Das geht aber nur so lange gut, wie man nicht gezwungen wird, den Blick aus seherischer Ferne auf gegenwärtige Nähe zu richten, und den Satz lesen muß, daß inzwischen ein Rennpferd genial geworden ist.“ (MoE 46) 41 In Der Mann ohne Eigenschaften sind für dieses Thema auch die Kapitel 11 („Der wichtigste Versuch“) und 72 („Das In den Bart Lächeln der Wissenschaft oder Erste ausführliche Begegnung mit dem Bösen“) des Ersten Buchs einschlägig. Die in diesem Zusammenhang wichtigsten Essays Musils und zugleich diejenigen, auf die sich die folgenden Ausführungen in erster Linie beziehen, sind: Robert Musil, Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind [1921], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 1042–1059 (vgl. v.a. S. 1048f.); ders., Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste [1922], in: ebd., S. 1075–1094 (vgl. v.a. S. 1082–1086). Ebenfalls relevant ist ein früherer Essay Musils über das von den modernen Mathematikern verkörperte Ethos: ders., Der mathematische Mensch [1913], in: ebd., S. 1004–1008. Zu diesem Essay vgl. Andrea Albrecht, Mathematische und ästhetische Moderne. Zu Robert Musils Essay ‚Der mathematische Mensch‘, in: Scientia Poetica 12 (2008), S. 218–250. 42 Den Ausdruck ‚anthropologische Integration‘ übernehme ich aus der Überschrift des Schlusskapitels von Hans Blumenbergs Der Prozeß der theoretischen Neugierde; vgl. Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Frankfurt a.M. 1996, S. 510 („Der Prozeß der theoretischen Neugierde“, Kap. XII: „Die anthropologische Integration: Feuerbach und Freud“). 43 Vgl. hierzu die Ausführungen über ‚Normalzustand‘ und ‚anderen Zustand‘ in: Robert Musil, Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films [1925], in:
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einer nüchtern-skeptischen, harten und tatkräftigen Haltung, die nur erfahrbare Tatsachen gelten lässt und alle bloßen Hoffnungen, Ahnungen und Ideale schonungslos zerstört; die moderne Wissenschaft ist nach Musil eine besonders konsequente und machtvolle Verwirklichung dieser Seite der menschlichen Natur.44 Was das Ethos dieser Wissenschaft für viele Menschen (insbesondere für viele junge Männer)45 so attraktiv macht und seine pathetische, affektiv wirksame Inszenierung ermöglicht, ist demnach der Umstand, dass es ein Bündel ursprünglicher Antriebe und Bedürfnisse anspricht. Die andere menschliche Grundanlage manifestiert sich in Erlebnissen einer liebevollen, kontemplativen Einheit mit der Welt, die Musil häufig als mystische Erlebnisse bezeichnet; sie manifestiert sich ferner in dem Bedürfnis nach Erlebnissen dieses Zustands von Liebe und Einheit, den Musil oft schlicht als ‚anderen Zustand‘ bezeichnet. In der modernen westlichen Zivilisation, die wesentlich durch die empirische Wissenschaft und den Kapitalismus geprägt ist, sind diese Erlebnisse nach Musil zunehmend vernachlässigt, missverstanden und diskreditiert worden. ‚Spuren‘ dieser Seite der menschlichen Natur zeigen sich aber weiter|| ders., Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 1137–1154, hier S. 1143f. Die Überlegungen über „Gewalt“ und „Liebe“ als die zwei „Bäume des Lebens“, die Ulrich innerhalb des Romans anstellt (MoE 583, 590–594), weisen eine große Nähe zu Musils im genannten Essay vorgestellter Konzeption von Normalzustand und anderem Zustand auf. Relevant sind in diesem Zusammenhang auch Teile eines etwas früheren, umfangreichen Essayfragments Musils: vgl. ders., Der deutsche Mensch als Symptom [1923], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 1353–1400, hier S. 1386– 1400. – Vgl. zum Folgenden auch Krämer, Denken erzählen, S. 138–150; dort findet sich auch eine Auseinandersetzung mit anderen Rekonstruktionen von Musils Anthropologie. 44 Das Verfahren, dessen sich Musil in seiner Analyse der modernen Wissenschaften und ihres Ethos bedient, kann in eine Reihe mit strukturell verwandten Verfahren zur Erklärung von Weltanschauungen und philosophischen Richtungen gestellt werden, die in den Jahrzehnten um 1900 von akademischen und außerakademischen Philosophen unterschiedlicher Couleur praktiziert wurden. Für einen knappen Überblick über solche Erklärungsansätze vgl. Thomé, Weltanschauungsliteratur, S. 342f. – Auf diese Möglichkeit einer ‚psychologisierenden‘ Erklärung verweist auch knapp Max Scheler in seiner Stellungnahme zu Webers Wissenschaft als Beruf; im Anschluss an seine Wiedergabe der Thesen des Vortrags bemerkt er: „Wir wollen es hier vermeiden, die ‚Psychologie‘ dieser durch eine ganz bestimmte ‚gesetzte‘ Weltanschauung fundierten Auffassung der Dinge – die natürlich sehr instruktiv wäre –, zu schreiben, so wie es Max Weber und sein Schüler Jaspers selber prinzipiell gegenüber allen Weltanschauungen (natürlich ausschließlich ihrer eigenen) tun. Ehrfurcht vor der wissenschaftlichen und menschlichen Größe des jüngst Verstorbenen hält uns davon ab.“ (Scheler, Weltanschauungslehre, Soziologie und Weltanschauungssetzung, S. 20). 45 Dass dieses Ethos der modernen Wissenschaften eine besondere Anziehungskraft auf die Jugend besitzt, wird an verschiedenen Stellen des Romans angedeutet, vgl. vor allem MoE 40f., 304f. Außerdem wird gelegentlich auf die Nähe dieses Ethos zu einem bestimmten Männlichkeitsideal hingewiesen: vgl. MoE 45, 305.
124 | Olav Krämer hin in einem verbreiteten Mangelgefühl und in vielfältigen Erscheinungen, die nach Musil als Schaffung und Pflege unzulänglicher Surrogate für die wahren Liebes- und Einheitserlebnisse anzusehen sind. Die mangelhafte Erforschung des anderen Zustands und der mit ihm verbundenen Erscheinungen hält Musil für eine der wichtigsten Ursachen der tiefen geistigen Krise, in der sich ihm zufolge das Europa seiner Zeit befindet.46 Vergleicht man diese Musil’schen Auffassungen mit den Positionen aus Webers Wissenschaft als Beruf, so kann man zunächst festhalten, dass Musil in der zeitgenössischen Kultur ein ähnliches Entbehrungsgefühl diagnostiziert, wie es auch Weber in seinem Vortrag anspricht. Musil führt dieses Entbehrungsgefühl auf ein menschliches Grundbedürfnis zurück, dem eine bestimmte Art außergewöhnlicher Erlebnisse entspreche. Die Befriedigung dieses Grundbedürfnisses, also die gelungene Integration der mystischen Erlebnisse in das Leben, ist nach Musil in der Moderne zwar besonderen Schwierigkeiten ausgesetzt, bleibt aber prinzipiell möglich und stellt eine Aufgabe von großer Wichtigkeit dar.47 Damit unterscheidet sich seine Position fundamental von der Weber’schen Sicht, der zufolge das genannte Entbehrungsgefühl dem nicht mehr rückgängig zu machenden Rationalisierungsprozess geschuldet ist. Dieser Unterschied zwischen Musils und Webers Moderne-Deutungen beruht auf Unterschieden zwischen ihren ethischen und erkenntnistheoretischen Positionen:48 Musil meint oder hegt zumindest die starke Vermutung, dass seine Annahmen über den Wert und die ethische Relevanz der mystischen Erlebnisse begründet werden können; er würde also jener Auffassung Webers nicht bei-
|| 46 Vgl. hierzu vor allem: Musil, Das hilflose Europa, S. 1087–1094. 47 Vgl. hierzu neben den oben angeführten Essays Musils auch eine Bemerkung aus einem 1931 verfassten „Exposé“ für den zweiten Band von Der Mann ohne Eigenschaften: „Ich suche zu zeigen [scil. in dem zweiten Band], was ich das ‚Loch in der europäischen Moral‘ nenne (wie beim Billard, wo der Ball früher oder später in einem solchen Loch stecken bleibt), weil es das rechte Handeln hindert: es ist, kurz gesagt, die falsche Behandlung, die das mystische Erlebnis erfahren hat.“ (Nachlassmappe I/5, S. 142, in: Musil, Klagenfurter Ausgabe. DVD-Version 2009; auch abgedruckt in: MoE 1844f., Zitat dort 1845). 48 Ein Unterschied zwischen Musil und Weber etwa der Art, wie er gerade beschrieben wurde, wird ähnlich konstatiert bei Vatan, Beruf: Entzauberer?, S. 72, 78–80; Zimmermann, Die zwei Bäume der Erkenntnis, S. 41, 43f., 48. Allerdings werden die Musil’schen Annahmen, die diesem Unterschied zugrunde liegen, in diesen Aufsätzen nur bedingt herausgearbeitet. Vatan, deren Untersuchung von den zweien die weit einlässlichere ist, konzentriert sich größtenteils auf Parallelen oder Konvergenzen zwischen Musil und Weber. – Vgl. auch die anregenden, aber knappen und etwas unscharfen Bemerkungen zu Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen Webers und Musils Sichtweisen auf die moderne Wertepluralität bei Dagmar Barnouw, Weimar Intellectuals and the Threat of Modernity, Bloomington, Indianapolis 1988, S. 84–86.
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pflichten, die die „Unaustragbarkeit des Kampfes der letzten überhaupt möglichen Standpunkte zum Leben“ als gegeben voraussetzt und folglich die Wahl eines solchen Standpunkts als allein der Entscheidung des Einzelnen anheimgestellt ansieht (WB 104f., Zitat 104). Die Einsichten in Wesen und Wert der mystischen Erlebnisse sind für Musil allerdings – wie Einsichten zu Fragen von Werten und Wertungen generell – der wissenschaftlichen Erkenntnisweise nicht zugänglich; aber er nimmt an, dass es neben der wissenschaftlichen noch eine weitere Erkenntnisweise gebe, die er die ‚nicht-ratioïde‘ nennt.49 Der Bereich der Gegenstände, denen allein die nicht-ratioïde Erkenntnis gerecht werden könne, umfasst nicht nur die mystischen Erlebnisse, sondern das gesamte „Gebiet der Werte und Bewertungen, das der ethischen und ästhetischen Beziehungen, das Gebiet der Idee.“50 Musil verwendet in seinen Ausführungen zu diesen Fragen nicht den Ausdruck ‚Metaphysik‘, aber seine Konzeptionen des nicht-ratioïden Gebiets und des anderen Zustands haben, wenn man den zu Beginn dieses Aufsatzes explizierten Metaphysikbegriff zugrunde legt, metaphysische Züge.51 || 49 Zur Unterscheidung zwischen ratioïder und nicht-ratioïder Erkenntnishaltung sowie zur Beziehung zwischen nicht-ratioïder Erkenntnis und Dichtung vgl. vor allem Robert Musil, Skizze der Erkenntnis des Dichters [1918], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 1025–1030. 50 Ebd., S. 1028. 51 Mit seinen Darlegungen über das ratioïde und das nicht-ratioïde Gebiet will Musil ausdrücklich etwas über eine Grundstruktur der Welt sagen (vgl. ebd., S. 1029). Die definierenden Merkmale des nicht-ratioïden Gebiets und seiner Tatsachen sind so beschaffen, dass sie nicht durch Erfahrungswissenschaften erfasst werden können (vgl. ebd., S. 1028f.). Musils Konzeptionen des nicht-ratioïden Gebiets und des anderen Zustands sind außerdem wesentlich von der Absicht geleitet, den Besonderheiten bestimmter Erlebnisarten gerecht zu werden, in denen menschliche Sinn- und Orientierungsbedürfnisse befriedigt werden; dass Musil diesen Erlebnissen ‚gerecht werden‘ will, heißt, verkürzt gesagt, dass er sie weder mystifizieren noch als bloße Illusionen entlarven will. – Zu Musils Verwendung des Ausdrucks ‚Metaphysik‘ ist anzumerken, dass er ihn in seinen Notizbüchern häufig in kritischem oder polemischem Sinne zur Kennzeichnung unhaltbarer Auffassungen verwendet, dass er aber insbesondere das Adjektiv ‚metaphysisch‘ auch mehrfach in neutralem Sinne zur Bezeichnung eines bestimmten Fragenbereichs oder einer Betrachtungsweise gebraucht (vgl. ders., Tagebücher, S. 217, 365, 530). In einer Notiz von 1923 oder 1924 sieht Musil das bleibende Verdienst der „positivistischen u. empiristischen Kritiker der Physik“ wie Ernst Mach darin, dass sie „in einer Weise mit vorschnellen Metaphysiziklisten [sic] [aufgeräumt haben], die einwandfrei ist“ (vgl. Nachlassmappe VII/11, S. 164–166, hier S. 166, in: ders., Klagenfurter Ausgabe. DVD-Version 2009). Er vermerkt in dieser Notiz aber auch Anzeichen dafür, dass auf der Grundlage neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und philosophischer Ansätze eine adäquatere Metaphysik entwickelt werden könnte (vgl. ebd., S. 165f.; vgl. auch den Abdruck der Notiz in ders., Tagebücher. Anmerkungen, Anhang, Register, hrsg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1976, S. 1250– 1253). – Schon in einem frühen Aufsatz verbindet Musil die Kritik an den vorliegenden metaphysischen Systemen mit der Andeutung, dass eine Metaphysik auch in sinnvollerer Weise
126 | Olav Krämer Musils Position ähnelt damit der Position jener Kritiker von Webers Wissenschaft als Beruf, die zwar wie Weber die empirischen Wissenschaften als unzuständig für Wertungsfragen ansahen, diese Fragen aber gleichwohl nicht der ‚letzten Stellungnahme‘ jedes Einzelnen überlassen wollten, sondern sie der Philosophie zuschlugen.52 Für Musil allerdings bildete die Erforschung des nicht-ratioïden Gegenstandsgebiets die genuine Aufgabe und Möglichkeit nicht der Philosophie, sondern der Dichtung.53 Im Roman Der Mann ohne Eigenschaften lässt Musil seinen Protagonisten Ulrich nach und nach verschiedene dieser Auffassungen und Einstellungen, die er in Essays theoretisch formuliert hat, gedanklich entwickeln und sich zu eigen machen. So gelangt Ulrich zu einer Einsicht, die darauf hinausläuft, dass ein asketisch-heroisches Ethos des Metaphysikverzichts der von Weber propagierten Art auf die Dauer nicht realisierbar ist. Das Ethos, das in der oben zitierten Passage umrissen wird, hat Ulrich in seiner Jugend fasziniert und zur Mathematik geführt. Doch diese Passage ist Teil eines analeptischen Rückblicks; die eigentliche Romanhandlung beginnt damit, dass der gut dreißigjährige Ulrich in eine tiefe Sinnkrise gerät, als ihm bewusst wird, dass er seinen eigentlichen Zielen über die Jahre keinen Schritt näher gekommen ist und nicht einmal mehr genau sagen kann, welche Ziele das waren. Er kann also den heroischen Verzicht auf seelische Nahrung, verbunden mit der Hoffnung auf die Eroberung von ‚Tälern der seelischen Fruchtbarkeit‘ an einem ‚fernen Tag‘, auf die Dauer nicht aufrechterhalten. Die Ironie, die oben in der zitierten Passage beobachtet wurde, dürfte die skeptische Distanz des Erzählers (und vielleicht des älteren Ulrich) zum Ausdruck bringen, der um diesen Mangel des beschriebenen Ethos, || konstruiert werden könne; vgl. ders., Das Geistliche, der Modernismus und die Metaphysik [1912], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 987–992, hier S. 991f. 52 Zu diesen Kritikern gehörten etwa Curtius, Rickert und Scheler; vgl. oben, Anmerkung 32. 53 Auf die Frage nach Einflüssen und Anregern, die Musils Entwicklung der hier skizzierten anthropologischen, erkenntnistheoretischen und poetologischen Positionen mit bestimmten, kann hier nicht näher eingegangen waren. Neben in der Musil-Forschung häufig untersuchten Quellen wie der zeitgenössischen Psychologie und Ethnologie sowie der Mystik-Rezeption um 1900 dürften für Musil auch die Überlegungen Richard von Mises’ wichtig gewesen sein, eines dem Wiener Kreis nahe stehenden Technikers, Mathematikers und Philosophen, in dessen Berliner Haus Musil häufig zu Gast war (vgl. Corino, Robert Musil, S. 1070). Von Mises präsentierte seine Sicht auf die Beziehungen zwischen Wissenschaft, Metaphysik und Ethik sowie über Möglichkeiten und Aufgaben der Dichtung ausführlich in seinem zuerst 1939 veröffentlichten Werk Kleines Lehrbuch des Positivismus; vgl. Richard von Mises, Kleines Lehrbuch des Positivismus. Einführung in die empiristische Wissenschaftsauffassung [1939], hrsg. und eingeleitet v. Friedrich Stadler, Frankfurt a.M. 1990. Zu einigen Parallelen zwischen Auffassungen Musils und von Mises’ vgl. Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs, S. 82–85.
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das letztlich mit der Verfasstheit der menschlichen Natur unvereinbar ist, weiß. Und mehr noch: Ulrich gewinnt den Eindruck, dass dieses Ethos, wenn es beharrlich weiter gepflegt wird, pathologische Züge annehmen und den Menschen deformieren kann; so erscheinen seine Wissenschaftlerkollegen, die unermüdlich nach neuen Tatsachen oder logischen Wahrheiten suchen, Ulrich schließlich wie Drogensüchtige, die voller Leidenschaft etwas anhäufen, was ihnen doch keine echte Befriedigung gewähren kann (vgl. MoE 47). Ulrich reagiert auf seine Sinnkrise mit dem Entschluss, „ein Jahr Urlaub von seinem Leben zu nehmen“ (MoE 47). In diesem Urlaubsjahr gewinnt er allmählich ein klareres Bewusstsein von dem unterdrückten seelischen Bedürfnis, das zu der Krise geführt hat, und er entwickelt mehr und mehr die Bereitschaft, die mystischen Erlebnisse, auf die dieses Bedürfnis verweist, als wichtig und wertvoll anzuerkennen und sich sowohl gedanklich als auch existenziell auf sie einzulassen.54 Er hegt also nicht länger die Hoffnung, die Wissenschaft könne aus eigener Kraft ‚Täler der seelischen Fruchtbarkeit‘ erobern, gibt aber in seinen Bemühungen um ein besseres Verständnis seiner ‚seelischen‘ Bedürfnisse das wissenschaftliche Ethos nicht vollständig auf: Diese Haltung dient ihm mit ihren empiristischen und skeptisch-destruktiven Zügen dazu, die zeitgenössischen Deutungsangebote kritisch zu überprüfen, phrasenhafte und ideologisch verzerrte Beschwörungen von Seele und Mystik zu entlarven und wirkliche Einheits-, Wert- und Erfüllungserlebnisse von bloßen Surrogaten zu unterscheiden.55 Auch die Bereitschaft der Wissenschaftler, alle überkommenen Lehren in Frage zu stellen, sich von allen als Vorurteile durchschauten Überzeugungen zu lösen und radikal neue Ansätze in Betracht zu ziehen, bleibt für ihn vorbildlich. Sein eigentliches Ziel aber sieht Ulrich immer mehr darin, diese an den Wissenschaften geschulten Einstellungen in konstruktiver Weise auf die Fragen der Seele und des rechten Lebens anzuwenden (vgl. vor allem MoE 591– 597) und die „Verbindung“ von „Wissen“ und „Glauben“ „neu aufzurichten“ (MoE 826).
|| 54 Zu diesem Entwicklungsprozess Ulrichs und seiner narrativen Gestaltung vgl. Krämer, Denken erzählen, S. 230–290. 55 Als Vertreter von zeittypischen Varianten des antiintellektualistischen Seelenkults und der trivialisierenden Mystikbegeisterung lässt Musil im Roman Figuren wie Ulrichs Jugendfreund Walter, seine Cousine Diotima und den Industriellen und ‚Großschriftsteller‘ Arnheim auftreten; im Gespräch mit diesen Figuren nimmt Ulrich wiederholt eine betont wissenschaftsnahe, metaphysikfeindliche, skeptisch-desillusionierende und tendenziell destruktive Haltung ein; vgl. etwa MoE 213–219, 280, 473f.
128 | Olav Krämer
5. Schluss Angeregt durch Steven Shapins Ausführungen über den Beitrag, den ‚antimetaphysische Konzeptionen wissenschaftlichen Wissens‘ zur Diskreditierung der Vorstellung von einer moralischen Superiorität des Wissenschaftlers geleistet haben, hat der vorliegende Aufsatz zwei wirkungsmächtige Formulierungen eines anti-metaphysischen Wissenschaftsethos daraufhin untersucht, wie in ihnen der moralische Status von Wissenschaftlern, die diesem Ethos folgen, entworfen wird. Es sollte deutlich werden, dass sowohl Ernst Mach als auch Max Weber – wenn auch mit unterschiedlichen Begründungen – diesen Wissenschaftlern eine über den Bereich der Wissenschaft hinausreichende moralische Vorbildlichkeit zuschreiben und dass in Robert Musils Roman eben ein solcher Vorbildlichkeitsanspruch registriert und kritisch hinterfragt wird. Diese Befunde sind, sollten sie zutreffend sein, kaum geeignet, die übergeordnete These des betreffenden Abschnitts von Shapins Studie zu erschüttern: Ganz abgesehen davon, dass mit Mach und Weber hier nur zwei Repräsentanten der anti-metaphysischen Konzeption wissenschaftlichen Wissens betrachtet wurden, stehen die auf sie bezogenen Befunde nicht im Widerspruch zu der These, dass diese neuen Konzeptionen von Wesen und Reichweite des wissenschaftlichen Wissens langfristig dazu beitrugen, dass die Annahme von dem herausgehobenen moralischen Rang des Wissenschaftlers verabschiedet wurde. Die hier vorgestellten Analysen zu Mach und Weber haben allerdings einen Punkt deutlich gemacht, der als Randglosse zu Shapins Darlegungen hinzugefügt werden könnte: Die Ausgrenzung metaphysischer Ambitionen aus der Wissenschaft bedeutet keineswegs zwangsläufig die Akzeptanz einer bescheideneren Konzeption wissenschaftlichen Wissens,56 denn die Forderung nach einem Metaphysikverzicht kann sich auf die Auffassung stützen, dass alle metaphysischen Aussagen unsinnig oder zumindest ‚müßig‘ seien. Im Falle von Ernst Mach wird die Forderung nach einer anti-metaphysischen Wissenschaft genau auf diese Weise begründet und ist somit ohne weiteres mit der Annahme kompatibel, dass das metaphysikfreie wissenschaftliche Wissen unter den Wissensarten, die dem Menschen verfügbar sind, den höchsten Platz ein-
|| 56 Eben diese Charakterisierung als „more modest“ begegnet in einer der Formulierungen, in denen Shapin die generelle Stoßrichtung der „anti-metaphysical conceptions of scientific knowledge in the late nineteenth and early twentieth century“ zusammenzufassen sucht: „Scientists themselves were, so to speak, getting out of the Truth and Reality business and affiliating themselves with more modest and more active conceptions of what their knowledge was about.“ (Shapin, The Scientific Life, S. 29)
Ethosdes und Pathos des Metaphysikverzichts beiMax Mach, Weber und MusilMusil | Ethos und Pathos Metaphysikverzichts bei Ernst Mach, Weber und Robert 129 129
nimmt.57 Mehr noch: Die Ausgrenzung der Metaphysik kann – wie etwa bei Mach – als Befreiung von Vorurteilen und schädlichen Illusionen und somit als aufklärerische Leistung gedeutet und aufgewertet werden.58 Ähnliches gilt für Max Webers Sicht auf die Aussagen und Ansprüche, gegen die sich die antimetaphysische Komponente seines Wissenschaftsethos richtet: Werturteile und praktische Stellungnahmen als solche sind in Webers Augen zwar keineswegs illegitim oder sinnlos, wohl aber Versuche einer wissenschaftlichen Begründung dieser Urteile und Stellungnahmen; solche Begründungsversuche enthalten nach Weber zwangsläufig ein Moment der Täuschung und eventuell der Selbsttäuschung, da sie die Unaustragbarkeit des Kampfes der Wertordnungen leugnen müssen. Echte Begründungen jener Urteile und Stellungnahmen vermag Weber zufolge aber auch außerhalb der Wissenschaft niemand zu liefern. Insofern kann seine Forderung, die Wissenschaft solle auf praktische Stellungnahmen und deren zwangsläufig unhaltbare Begründungen verzichten, kaum als Plädoyer für eine bescheidenere Einschätzung wissenschaftlichen Wissens gelten, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass er damit irgendwelche Ansprüche der Wissenschaft an eine andere Instanz abträte.59 || 57 Dieser oder ein sehr ähnlicher Gedanke wird auch in dem hier interessierenden Abschnitt bei Shapin kurz angedeutet, scheint mir dort aber in einem etwas unklaren Verhältnis zur Hauptlinie der Argumentation zu stehen; vgl. die Bemerkungen über die um 1900 entwickelten neuen Auffassungen über „the identity of the divine“ und „cultural nobility“ ebd., S. 28f. 58 Zu der Frage nach dem bescheidenen oder eben nicht bescheidenen Charakter der Wissenschaftstheorie Machs sowie der ihr nahe stehenden Theorie Karl Pearsons vgl. auch Theodore M. Porter, The Death of the Object: Fin de siècle Philosophy of Physics, in: Dorothy Ross (Hrsg.), Modernist Impulses in the Human Sciences 1870–1930, Baltimore, London 1994, S. 128–151, 329–333 (Anm.). Porter analysiert einen Aspekt von Machs Wissenschaftstheorie, der mit der Metaphysikkritik eng zusammenhängt, nämlich den programmatischen „descriptionism“: d.h., die Forderung, die Physik solle sich auf bloßes Beschreiben von Erfahrungsdaten beschränken und von Erklärungsversuchen Abstand nehmen. (Den Begriff „descriptionism“ verwendet Porter im Sinne seiner Prägung durch J.L. Heilbron, Fin-de-siècle physics, in: Carl Gustav Bernhard u.a. (Hrsg.), Science, Technology and Society in the Time of Alfred Nobel, Oxford u.a. 1982, S. 51–73.) Porter zeigt, dass dieser „descriptionism“ bei Mach wie bei Pearson keineswegs, wie es häufig geschieht, allein als ein Rückzugsgefecht oder als ein Akt der wissenschaftlichen Selbstbescheidung aufzufassen ist, sondern sich mit dem Ziel verband, die solcherart modifizierten Methoden der Naturwissenschaften auch auf andere Gegenstandsgebiete auszudehnen und ferner eine neue, stabilere Form von Objektivität im Sinne von intersubjektiver Mitteilbarkeit zu entwickeln (vgl. Porter, The Death of the Object, v.a. S. 128–130, 150f.). 59 Shapin bezeichnet diese Weber’sche Sicht auf die Leistungen und Grenzen wissenschaftlichen Wissens nicht ausdrücklich als eine ‚bescheidene‘ Sicht, aber seine Darstellung der Position Webers könnte in diesem Sinne verstanden werden. So fasst er die zentrale These von Wissenschaft als Beruf einmal wie folgt zusammen: „The scientist […] had neither the moral
130 | Olav Krämer Robert Musil lässt in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften mit Ulrich einen Protagonisten auftreten, der zunächst das anti-metaphysische Ethos der modernen Wissenschaft bewundert und ihm ganz ausdrücklich eine über den Bereich der Wissenschaft hinausreichende Vorbildlichkeit zugeschrieben hat, wie sie Mach und Weber – weniger ausdrücklich – für ihre Varianten eines wissenschaftlichen Ethos des Metaphysikverzichts beanspruchten. Ulrich ändert aber im Verlauf der Romanhandlung seine Einstellung zu diesem Ethos und weist dessen Vorbildlichkeitsanspruch zurück oder relativiert ihn zumindest stark. Die Gründe, auf die er sich dabei stützt, ähneln weitgehend Auffassungen, die Musil selbst in Essays vertreten und weiter entfaltet hat. Der Roman wie die Essays bieten eine Erklärung für die Entstehung und für die Attraktivität des anti-metaphysischen Ethos an, und diese auf anthropologische und ethische Annahmen gestützte Erklärung impliziert letztlich die Relativierung des Vorbildlichkeitsanspruchs, da sie das wissenschaftliche Ethos als besonders konsequente Ausprägung nur einer menschlichen Grundanlage deutet, deren ausschließliche Kultivierung eine andere, untilgbare und wertvolle Seite der menschlichen Natur an der ‚richtigen‘ Entfaltung hindern würde. Im Roman wie in den Essays entwirft Musil Varianten eines alternativen Ethos, das Teile des wissenschaftlichen Ethos in sich aufnimmt und sie mit einer Anerkennung der Eigenständigkeit und Wichtigkeit des ‚nicht-ratioïden‘ Gegenstandsgebiets im Allgemeinen und der Erlebnisse des ‚anderen Zustands‘ im Besonderen verbindet. Während diese Haltung in Der Mann ohne Eigenschaften, wo sie von Ulrich verkörpert wird, als eine für den modernen Menschen generell vorbildliche erscheint, wird sie in Musils Essays vor allem als ein Ethos für den modernen Dichter vorgestellt und propagiert.60 Musils Auseinandersetzung mit dem anti-metaphysischen Wissenschaftsethos ist schließlich noch unter einem weiteren, gewissermaßen halb historischen, halb systematischen Gesichtspunkt von Interesse, einem Gesichtspunkt, der hier nur tentativ skizziert werden kann. In der oben ausführlich zitierten Passage aus Musils Roman wird das moderne wissenschaftliche Ethos anhand || competence nor the moral right to use the lecture-room or the learned journal to pronounce on what ought to be done. […] [T]he scientist’s vocation morally required the active renunciation of any special moral make up or claims to any special moral authority.“ (Shapin, The Scientific Life, S. 11; Hervorhebungen im Text) Die hier vorgestellte Analyse von Webers Vortrag widerspricht dieser Deutung keineswegs; sie betont aber darüber hinaus, dass Weber zufolge die „special moral authority“, die die Wissenschaftler nicht reklamieren sollen, auch von niemand anderem beansprucht werden darf. 60 Dass Musil ein strenges „literarisches Berufsethos“ aufstelle, vermerkt auch Vatan, Beruf: Entzauberer?, S. 68; vgl. auch ebd., S. 85, 91.
Ethos und Pathos des Metaphysikverzichts beiMax Mach, Weber Musil Ethos und Pathos des Metaphysikverzichts bei Ernst Mach, Weber undund Robert Musil | 131 131
von Vergleichen mit einer Expedition und einem Eroberungszug charakterisiert, außerdem wird auf den Typus des Asketen angespielt. In anderen Romankapiteln, die sich mit den modernen Wissenschaften und ihrem Ethos befassen, begegnen Vergleiche mit Sportlern (vgl. MoE 40, 45f.), mit Jägern und Kriegern und mit den Angehörigen einer ecclesia militans (vgl. MoE 303f.). Diese Charakterisierungen des modernen Wissenschaftlers und die dabei verwendeten Vergleiche erfüllen unterschiedliche Funktionen; zumindest in einigen Fällen aber dürfte Musil, wie oben bereits kurz angedeutet wurde, diese Vergleiche mit der Absicht verwendet haben, die im kulturellen Wissen verankerten Ideale und Heldentypen vollständig auszubuchstabieren, an die zeitgenössische Formulierungen eines wissenschaftlichen Ethos (zumindest in Musils Sicht) appellierten, die in ihnen aber – etwa aufgrund der in den Wissenschaften geltenden Stilkonventionen – eher indirekt evoziert als ausdrücklich genannt und entfaltet wurden. Zieht man nun die Möglichkeit in Betracht, dass Musil mit dieser Sicht auf das wissenschaftliche Ethos und die Wirkungsweise seiner pathetischen Darbietung etwas Richtiges getroffen haben könnte, so gelangt man zu allgemeineren Fragen über die Beziehungen zwischen dem Ethos der Wissenschaft und den moralischen Idealen und Werten der sie umgebenden Gesellschaft und Kultur61 sowie zu Fragen über das Verhältnis zwischen wissenschaftlichen und literarischen Redeordnungen;62 diese Fragen aber würden eine eigene, weit umfangreichere Untersuchung erfordern. || 61 Hierzu vgl. etwa die Bemerkungen über die Beziehung zwischen ‚moralischen Ökonomien der Wissenschaft‘ und dem kulturellen Umfeld der Wissenschaft bei: Lorraine Daston, The Moral Economy of Science, in: Osiris 10 (1995), S. 2–24, hier S. 24. Daston schreibt: „There is excellent evidence that the moral economies of science derive both their form and their emotional force from the culture in which they are embedded – gentlemanly honor, Protestant introspection, Bourgeois punctiliousness […]. However, there is also evidence that once these cultural forms have been uprooted and combined within a moral economy of science, they become naturalized to that milieu. Honor among scientists is not quite what it was among gentlemen, asceticism among scientists is not quite what it was among the devout.“ (Ebd.) – Wo Daston und Peter Galison in ihrer historischen Untersuchung wissenschaftlicher Objektivitätsideale auf Verschränkungen von Ethik und Epistemologie hinweisen, deuten sie wiederholt an, dass die für verschiedene Objektivitätsideale charakteristischen ethischen Wertbegriffe mit den ethischen Werten und Idealen korreliert werden können, die die jeweilige kulturelle Umgebung der Wissenschaft prägen. Vgl. Lorraine Daston und Peter Galison, Objectivity, New York 2007, etwa S. 39–42, 185, 357–360. 62 Für eine breit angelegte, systematisch und historisch ausgerichtete Untersuchung zur Rolle der Literatur in der Geschichte der ‚scientific persona‘ und des disziplinären Ethos (in diesem Falle der Mathematik) vgl. Andrea Albrecht, Die Mathematik im ‚Diesseits der Kultur‘. Literaturwissenschaftliche und wissensgeschichtliche Studien zur kulturellen Repräsentation des Mathematischen [erscheint demnächst].
Denis Thouard
Ein Philologe in der Dreyfus-Affäre: Louis Havet Über Expertisen und wissenschaftliches Ethos Die Hermeneutik wurde im 17. Jahrhundert kodifiziert, indem man die Wesenszüge des ‚guten Interpreten‘ festlegte, so wie Cicero die Gestalt des guten Redners in den Mittelpunkt seiner Rhetorikkonzeption gerückt hatte. 1 Die größte Gefahr bei der Entstehung der Hermeneutik wurde in der ‚Verleumdung‘ oder Calumnia gesehen, die als die Auslegung eines Textes im Widerspruch zu den Absichten seines Autors verstanden wurde. Bei den Renaissancephilologen ist die Verleumdung bereits eine Hauptsorge, und die ersten Hermeneutikabhandlungen werden verfasst, um diese Gefahr abzuwenden. Die allgemeine Hermeneutik beruht auf einer in naturrechtlichen Begriffen definierten Vorstellung vom Autor. Deshalb kann man ihm nicht willkürlich Ungereimtheiten unterstellen und sich auch nicht einbilden, man verstehe ihn besser als er selbst,2 außer wenn er sich offenkundig schlecht ausgedrückt hat. Der hermeneutische Akt verpflichtet den Interpreten zu einer moralischen Verantwortung, denn jeder Text verweist auf einen Autor, der bestimmte Rechte hat. Dem sapiens et bonus author muss ein bonus interpres entsprechen. Jede andere Voraussetzung würde die Gültigkeit der Hermeneutik selbst wieder infrage stellen und das Werk des
|| 1 Vgl. Johann Conrad Dannhauer, Idea boni interpretis et malitiosi Calumniatoris quae obscuritate dispulsa, verum sensum a falso discernere in omnibus auctorum scriptis ac orationibus docet, & plene respondet ad questionem: Unde scis hunc esse sensum, non alium?, Straßburg 1629. Für weitere Beispiele siehe Werner Alexander, Hermeneutica generalis. Zur Konzeption und Entwicklung der allgemeinen Verstehenslehre im 17. und 18. Jahrhundert, Stuttgart 1993. Für die alte Hermeneutik überhaupt verweise ich auf die zahlreichen Aufsätze von Lutz Danneberg und auf sein Buch Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers. Das Lesen im Liber naturalis und supernaturalis, Berlin, New York 2003 (Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit 3). Die Verletzung der intentio auctoris wurde generell als Angriff gegen die moralische Persönlichkeit des Verfassers gesehen, also als Calumnia – der Calumniator gilt als Gegenfigur des ‚guten Interpreten‘. Die aequitas hermeneutica (jetzt als principle of charity geläufig) entwickelt sich auch gleichzeitig als Wehr gegen diese Gefahr. Der Fall Dreyfus erneuert auf eine charakteristische Weise die Tradition. 2 Vgl. Luigi Cataldi Madonna, Die unzeitgemäße Hermeneutik Christian Wolffs, in: Axel Bühler (Hrsg.), Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1994, S. 26–42.
134 | Denis Thouard Bösen oder eine Verleugnung der Vernunft sein – das hieße, „die Apologie des Teufels“ vorzunehmen.3 Diese Dimension ist jedoch seit der Romantik aus den Hermeneutikabhandlungen verschwunden. Wenn die Autorität der Interpreten nicht mehr auf ihrer Glaubwürdigkeit, Zuverlässigkeit oder Ehrlichkeit beruht, woher nehmen sie dann ihre Legitimität? In einer Gesellschaft, die sich nach liberalen Prinzipien richtet, könnte man jede Erwartung in Bezug auf das Ethos der Redner und der Gelehrten aufgeben. In der Gelehrtenrepublik wie in der demokratischen Gesellschaft insgesamt ist ein jeder Richter und nimmt an einer widerspruchsvollen Auseinandersetzung teil, die sich zunehmend auf Argumente konzentriert und sich immer weniger für die inneren Qualitäten der Beteiligten interessiert. Auch deshalb, weil sich die Frage nach dem Ethos der Interpreten nicht von derjenigen nach der Autorität im Allgemeinen trennen lässt, umso mehr, als eine Autoritätskrise den Niedergang des wissenschaftlichen Ethos mit sich bringt. Der Hermeneut, dem man vertraut, ist nur noch einer der ‚Experten‘, die allein mit der Elle ihrer prozeduralen Kompetenz gemessen werden. Es kommt nur auf Leistung und Ergebnis an. Mit der Förderung der ‚Experten‘ und der ‚Evaluierer‘ ersetzt man das Ethos durch eine auf einem beschränkten Gebiet erworbene Kompetenz, die ein Recht oder eine Fähigkeit gibt, sich in jedem anderen Bereich zu äußern. Die Folgen einer solchen Entwicklung sind im öffentlichen Raum festzustellen. Wird eine Persönlichkeit als ‚people‘ bezeichnet aufgrund irgendeiner besonderen sportlichen, televisiven oder künstlerischen Leistung, so wird man in der Öffentlichkeit dazu geneigt sein, ihr allein aus diesem Grund zuzutrauen, dass sie über eine große Zahl von Themen, die von jenem weit entfernt sind, worin sie im Besonderen erfolgreich hervorgetreten war, angemessen urteilen kann, beispielweise über politische, ökologische, pädagogische Themen usw. Bei einer solchen Erweiterung des Ethos wird klar, dass man sich von dem normativen Anspruch entfernt hat. Ein jegliches Talent reicht, um Experte zu werden. In der ausschließlichen Logik der Expertisenkompetenz, einer Logik, die sich auch des Bereichs der Forschung bemächtigt hat, kompensiert man die Tatsache, dass jede Bezugnahme auf den moralischen Charakter einer Person in Misskredit geraten ist, indem eine Deontologie durchgesetzt wird. Rekurriert der Staat oder eine öffentliche Stiftung auf eine Expertise4, so werden ausdrücklich be-
|| 3 Johann Benjamin Erhard veröffentlichte seine kleine Apologie des Teufels im Jahre 1795. 4 Zum Beispiel muss man bei einer Evaluation für eine wissenschaftliche Stiftung zuerst prüfen, ob bestimmte Bedingungen erfüllt sind, die die Unbefangenheit des Urteils nicht gefährden können.
Ein Philologe in der Dreyfus-Affäre: Louis Havet | 135
stimmte Bedingungen präzisiert, die, wenn sie erfüllt werden, die erforderliche Unabhängigkeit des Urteils aufheben würden. Ein angesprochener Experte wird so veranlasst, genau anzugeben, ob er sich in einem Interessenkonflikt mit Blick auf die Akten beziehungsweise Vorgänge befindet, die er bewerten soll. Aufgrund der von der wissenschaftlichen Arbeitsteilung implizierten Differenzierung der Forschungsaufgaben und -bereiche ist davon auszugehen, dass die Kollisionsgefahr umso größer wird, je besser der Experte sich mit dem in Frage stehenden Gegenstand auskennt, denn es wird sich bei den zu Beurteilenden entweder um enge Mitarbeiter oder aber um Konkurrenten handeln, und umso wahrscheinlicher ist es, dass der angesprochene Experte sich nicht mit der Frage gründlich auskennt, je weniger es eine tatsächliche Kollisionsgefahr gibt, die das Urteil beeinträchtigen kann. Die Vermeidung dieser Aporie durch den Rückgriff auf internationale Prüfungskommissionen kann wiederum das Prestige steigern, jedoch zu haltlosen Entscheidungen führen, wenn die Kenntnis des Forschungskontextes fehlt. Mit der immens fortgeschrittenen Differenzierung der Expertisenbereiche innerhalb der allgemein verwalteten Forschung verschwindet die Plausibilität, dass ein Forscher sein regionales Wissen überspringt und über die Nebenfächer ein autoritatives Urteil fällt. Die Figur des allein von seiner Kompetenz in einem beschränkten Bereich definierten Experten kennzeichnet die Technisierung, doch auch die Technokratisierung der Wissenschaftssteuerung. Angesichts der Probleme, die sich hieraus für die Verwaltung der Forschung selbst ergeben, die nicht mehr weiß, welche Heiligen sie noch um Beistand bitten soll, oder die sich den zweifelhaften Gewährsleuten der kurzfristigen Nützlichkeit und der kaufmännischen Rentabilität der Patente anvertraut, ist es erforderlich, einen Schritt beiseite zu treten. Die Umgangsformen unter Intellektuellen im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts eignen sich besonders gut für die Untersuchung der ethischen und pathetischen Komponenten der wissenschaftlichen Diskussion, denn einerseits genoss die Wissenschaft dort ein zuverlässiges Prestige, und andererseits herrschte dort traditionell eine stark ausgeprägte politische Leidenschaft. Die populäre Figur des Intellektuellen, die im ganzen 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert des Engagements und der Ideologie, existiert, hat dort ihre historischen Wurzeln. Übereinstimmend wird die Meinung vertreten, der Intellektuelle habe sich zur Zeit der Dreyfus-Affäre herausgebildet.5 Man denkt sofort an Émile
|| 5 Vgl. etwa Pascal Ory, Jean-François Sirinelli, Les intellectuels en France. De l’Affaire Dreyfus à nos jours, Paris 2004 [Orig. 1987], Einführung und Kap. 1, S. 7–61.
136 | Denis Thouard Zolas berühmtes „J’accuse!“ („Ich klage an!“), doch die Affäre hat Akademiker und Gelehrte viel weitgehender einbezogen. Im Folgenden wird es darum gehen, nach den Verflechtungen zwischen der moralischen und der wissenschaftlichen Dimension der Gelehrten-Expertise zu fragen. Wie weitgehend lässt sich das Vertrauen in Expertisen von jeder Wertbeziehung lösen? In welchem Maße bleibt es gegenüber Vorurteilen, die ja auch Werte sind, immun? Wie lässt sich andererseits vermeiden, dass sich die moralische Autorität die Kompetenz über die Entscheidung wissenschaftlicher Fragen anmaßt?
1. Das Ethos des Logos: Die Legende der Intellektuellen In der aktualisierten Version ihres Werks über Les Intellectuels en France von 2004 beenden Pascal Ory und Jean-François Sirinelli ihren Überblick über das 20. Jahrhundert mit den 1990er Jahren, in denen sie eine Verlagerung „vom Logos zum Pathos“6 feststellen. Einerseits seien die betreffenden „Intellektuellen“ immer weniger Gelehrte und immer mehr Personen des öffentlichen Lebens, Schriftsteller, Philosophen, Sozialwissenschaftler oder auch Filmemacher, andererseits appellierten die Art des Eingreifens und die benutzte Rhetorik mehr an die Gefühle als an die Vernunft. Man sei von den „Meinungsführern“ zu den „Emotionsdealern“ übergegangen.7 Diese Entwicklung bekundet eine Umgestaltung des Repräsentationsstatus in einer Gesellschaft, die zu einer „Gesellschaft des Spektakels“ geworden ist; in ihr ist die Rhetorik der kommerziellen Verführung an die Stelle der Argumentation getreten, selbst wenn es um eine gute Sache geht. Die Aufeinanderfolge der sich auf ihre Suggestionskraft stützenden Bilder richtet sich nach der Analogie, die zwei verschiedene Tatbestände miteinander in Beziehung bringt, einer Juxtapositionsregel also, die dahin tendiert, die rationale Ausübung von Widerspruch unmöglich zu machen.8 Indem sich die Politiker stillschweigend darauf berufen, dass Versprechen nur diejenigen verpflichten, die daran glauben, zögern sie nicht allzu lange, sich zu widersprechen und ihr Urteil zu revidieren, denn sie haben sich
|| 6 Ebd., S. 386. 7 Ebd., S. 389. 8 Für eine kurz gefasste Analyse vgl. Guy Debord, Commentaires sur la Société du spectacle, Paris 1988 (dt.: Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels, in: ders., Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996).
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ja durch die ständige Berieselung mit einer Flut visueller und akustischer Aggressionen geschützt, die die Urteilsfähigkeit der Diskurskonsumenten betäuben. Neben dem Zynismus der Politiker und der Akteure des Medienmarketings bieten humanitäre Unternehmungen eine zusätzliche seelische Komponente, wobei sie sich auf den gleichen Appell an das Pathetische wie die Massenmedien stützen.9 Wenn dieses Abgleiten vom Rationalen ins Sentimentale, vom Logischen ins Ästhetische tatsächlich einem Aspekt der jüngsten Entwicklung entspricht, die die Rolle der Gelehrten und Intellektuellen in unseren hyperdifferenzierten und technologisierten Gesellschaften vollzogen hat, stellt sich die Frage, was die Glaubwürdigkeit des Diskurses begründen kann, mit doppelter Schärfe. Dort, wo die wissenschaftliche Kompetenz oder sogar die Aura des Autors als Grundlage für die Rechtmäßigkeit einer öffentlichen Aussage gedient hatte, verdrängt nun der Zeugniswert eines besonderen Sachverhalts, ganz gleich, ob es sich um eine Erfahrung oder einfach um die Beteiligung an einer bestimmten Gruppe handelt, jede andere Begründung. So wird der öffentliche Raum allmählich von Persönlichkeiten vereinnahmt, die gewissermaßen ein Zwischenstadium einnehmen, halb Journalisten und halb Gelehrte und vor allem Unternehmer und Spezialisten für alles sind und bei denen nichts mehr irgendein Ethos garantiert.10 Die charismatische (mediale) Dimension, die sich mit dem Pathetischen gut verträgt, ist bei diesem neuen Typ von Sophisten wesentlich geworden. Daher wirkt alles zusammen, um eine Objektivität anstrebende Diskussion unwahrscheinlich zu machen. Die Vermittlung wissenschaftlicher Kenntnisse gerät zum Spektakel und kann von selbst ernannten Spezialisten übernommen werden, deren Scharlatanerie offenbar guten Geschäften nicht im Wege steht.11 Oder sie wird auch von Wissenschaftlern oder Philosophen übernommen, die zur erzählenden Darstellungsweise übergehen. Eine Parabellinie durchzieht in Frankreich das ganze 20. Jahrhundert seit dem spektakulären Auftritt der Figur des Intellektuellen, der auf einen Skandal
|| 9 Vgl. Luc Boltanski, La souffrance à distance. Morale humanitaire, médias et politique, Paris 1993 (22007). 10 Beispiele werden in den kritischen bzw. polemischen Schriften von Daniel Lindenberg (Le rappel à l’ordre, Paris 2002), Pascal Boniface (Les intellectuels faussaires, Paris 2011) oder auch Serge Halimi (Les nouveaux chiens de garde, Paris 22005) angegeben. Die wissenschaftliche Einrahmung wird man bei Ory und Sirinelli finden. Dass die Situation außerhalb Frankreichs anders aussehen würde, zeigt beispielsweise das Buch von Dietz Bering, Die Epoche der Intellektuellen. 1898–2001. Geburt, Begriff, Grabmal, Berlin 2010. 11 Man denke an den Fall der Brüder Bogdanov, zweier wissenschaftlicher Publizisten, die von Wissenschaftlern und dem Nationalen Forschungszentrum (CNRS) desavouiert wurden.
138 | Denis Thouard betroffen reagiert, dessen allgemeine Tragweite er einer Reihe von dazwischen stehenden Persönlichkeiten mit einem weniger soliden Prestige erklärt. Diese lassen sich vom unerschütterlich arroganten Vertrauen in Diagnosen (etwa bei Sartre), die von den Tatsachen schnell widerlegt werden, ja sogar mit den sogenannten ‚Neuen Philosophen‘ vom Kaliber eines André Glucksmann oder Bernard-Henri Lévy von kriegslüsternen Diskursen anregen, und sie haben sich am Anfang des 21. Jahrhunderts des öffentlichen Raums bemächtigt. Der Rückgriff auf das Pathos ist dabei komödiantisch und vermag nur noch die an sich schon possenreißerische Figur eines André Malraux zu karikieren.12 Das Ethos im Sinn des Gesamtverhaltens, das die Glaubwürdigkeit von Aussagen absichern kann, wie auch im Sinn eines konsequenten Verhaltens, zu dem die Geringschätzung von Ehrungen und die Ablehnung von Gratifikationen gehören können, ist eine seltene Erscheinung geworden. Wie Péguy schon 1906 diagnostizierte: „Nichts bringt heute so viel wie die Moral ein, und die angehenden Karrieristen haben dies schließlich deutlich bemerkt.“13 Wenn man zur Urszene der Erfindung dieser modernen Figur zurückgeht, die sich vom ‚honnête homme‘ des klassischen Zeitalters oder vom Philosophen der Aufklärung unterscheidet – so engagiert sie auch auf ihre Weise sein konnten, wie etwa Voltaire, als er 1762 für Calas eintrat –, sollte man nach der Herausbildung eines solchen intellektuellen Ethos in der Bewährungsprobe fragen, die die Dreyfus-Affäre zwölf Jahre lang war. Wie weitgehend unterscheidet sich ein solches Ethos von den Einstellungen einer anderen Gruppe? Welche spezifischen Wesenszüge lassen sich bei ihm erkennen? Unter welchen besonderen politischen und institutionellen Bedingungen konnte der Rückgriff auf ein intellektuelles Ethos eingeführt werden? Bevor wir auf die Affäre selbst eingehen, wird die Rückschau auf einen vorhergehenden, sich entscheidend auswirkenden Skandal ermöglichen, die erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen.
|| 12 Die Kritiker dieser Entwicklung sprechen nicht mehr von Calumnia / Verleumdung, sondern oft von „impostures“ (Jean Bricmont und Alan Sokal, Impostures intellectuelles, Paris 1997; Jacques Bouveresse, Prodiges et vertiges de l’analogie. De l’abus des belles-lettres dans la pensée, Paris 1999), „Fälschern“ (Pascal Boniface) und dergleichen. Zu Malraux siehe Perrine Simon-Nahum, André Malraux. L’engagement politique au XXe siècle, Paris 2010. 13 Charles Péguy, Par ce demi-clair matin, Paris 1952, S. 280.
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2. Die Zukunft des Logos: Renan der Skandalträchtige Als Renan am 6. Oktober 1845 das Seminar von Saint-Sulpice verließ, um sich fortan der Philologie zu widmen, wollte er nicht den Kult der Wahrheit aufgeben, sondern ihm besser dienen. Schon 1848 schrieb er L’Avenir de la science, ohne die Schrift zu veröffentlichen; darin artikulierte er kategorisch die neue Souveränität der Vernunft. Seine Wissenschaftskonzeption stellt allerdings im Unterschied zu der des Mathematikers Comte die im weiten Sinne verstandene Philologie in den Mittelpunkt. Der moderne Geist, das heißt Rationalismus, Kritik, Liberalismus, ist an demselben Tag wie die Philologie begründet worden. Die Begründer des modernen Geistes sind Philologen.14
Renan sieht in der Philologie „die exakte Wissenschaft der Geistesdinge“,15 die es ermögliche, das zu vervollständigen, was der Positivismus für den Bereich der Natur geleistet habe. Das Verständnis der vergangenen und gegenwärtigen Menschheit sei in diesem Sinne das Werk der Philologie als strenger Wissenschaft, insbesondere des kritischen Studiums der Religionen, das uns über die spontanen Vorstellungen der Menschheit unterrichte. Renans großes Projekt über die Origines du christianisme sollte hierfür eine praktische Umsetzung bieten. Die vergleichende Philologie der semitischen Sprachen wurde zur Grundlage der Geschichte des Christentums. Da nun die in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert in protestantischen Kreisen durchgeführten Forschungen diese Fragen schon grundsätzlich aufbereitet hatten, wäre eine solche Geschichte nur in ihrem französischen Kontext interessant, wenn nicht ein äußerst pikanter politischer Beigeschmack hinzukäme. Als Renan schließlich ans Collège de France berufen wurde, hielt er am 22. Februar 1862 seine dem Leben Jesu gewidmete Antrittsvorlesung, in der er sich über jedes Dogma hinwegsetzte und Jesus als einen „unvergleichlichen Menschen“ darstellte. Diese sofort von heftigen Protesten begleitete und von ihrem || 14 Ernest Renan, L’Avenir de la science, Œuvres complètes, Bd. 3, Paris S. 841. „Die Wissenschaft ist also eine Religion; allein die Wissenschaft wird nunmehr die Symbole schaffen, allein die Wissenschaft kann für den Menschen die ewigen Probleme lösen, deren Lösung die Natur gebieterisch verlangt.“ (Ebd.) – „Der alte Glaube ist unmöglich: Es bleibt also der Glaube durch die Wissenschaft, der kritische Glaube.“ (Ebd., S. 1083.) (Hier wie im Folgenden erscheinen französische Originalzitate in deutscher Übersetzung; Anm. d. Hrsg.) 15 Ebd., S. 847.
140 | Denis Thouard Autor offenkundig als Provokation beabsichtigte Vorlesung wurde zu einem Erfolg, denn sie erregte nicht nur öffentliche Unruhe, sondern auf sie folgte auch vier Tage später die vom Minister angeordnete Einstellung der Vorlesung. Renan erhielt seine Stelle erst nach dem Ende des Zweiten Kaiserreichs wieder. Die Schlacht, die Renan einen Tag zuvor in einem Brief an Flaubert vorausgesehen hatte, fand also tatsächlich statt.16 Ein Jahr später erschien das durch den Skandal wirksam angekündigte Buch und wurde zu einem der großen Bucherfolge des Jahrhunderts. Renan nimmt die Haltung des Wissenschaftlers, des Kämpfers der Vernunft ein, der die Evangelien in die Sichtweise der vergleichenden Philologie einbezieht: Für den Rationalisten [...] sind die Evangelien Texte, an die man die allgemeinen kritischen Regeln anlegen muß; wir stehen ihnen gegenüber wie die Arabisten dem Koran und den Hadith, die Sanskritisten den Vedas und den buddhistischen Büchern.17
Dieses Werk nimmt jedoch in Renans Projekt einen besonderen Platz ein. Einerseits beschäftigt es sich mit der Glaubwürdigkeit des Begründers des Christentums selbst und wirkt stärker provozierend als andere Aspekte behandelnde Werke. Andererseits widmet er sich darin einer ganz besonderen ‚Stilübung‘. Denn er zitiert nur seine Primärquellen, ohne alles eindeutig auszuweisen, was er der Bibelkritik, insbesondere der deutschen, verdankt.18 Die Zugeständnisse des Vorworts von 1864, das einige Namen19 ohne jede Ordnung zitiert, sind eine recht oberflächliche Antwort auf die aus Deutschland kommende Kritik, die von || 16 Renan an Flaubert, 21. Februar 1862: „Morgen halte ich meine erste Vorlesung, die, wie es heißt, eine Schlacht sein wird.“ Siehe Perrine Simon-Nahum, Le scandale de la Vie de Jésus de Renan, in: Mil-neuf-cent. Revue d’histoire intellectuelle 25 (2007), S. 61–74. Zum Kontext „des wissenschaftlichen Antiklerikalismus“ der Expertisen Renans und seines Kreises in der Zeit, als Flaubert seinen Roman vorbereitete, siehe Agnès Bouvier, Jéhova égale Moloch. Une lecture ‚antireligieuseʻ de Salammbô, in: Romantisme 137 (2007), S. 109–120; des Weiteren dies., Au rendez-vous allemand (2). La rencontre entre Flaubert et Renan autour des Études d’histoire religieuse, in: Flaubert. Revue critique et génétique 4 (2010) [online gestellt am 15. Dezember 2010]. URL: http://flaubert.revues.org/ [letzter Zugriff am 16. Januar 2015]. 17 Ernest Renan, Vie de Jésus, Vorwort zur 13. Auflage (1864), Paris 1962, S. 14f. (Dt. Zit. nach: Ernest Renan, Das Leben Jesu, Leipzig 1870, S. X). 18 Vgl. die zusammenfassende Darstellung von François Laplanche, La Bible en France entre mythe et critique: XVIe-XIXe siècle, Paris 1994, S. 149-165. 19 Renan gibt die folgenden Namen: Ewald, Lucke [wohl Lücke], Weisse, Reuss, Weizsoecker, Baur, Schwegler, Strauss, Zeller, Volkmar, Hilgenfeld, Schenkel, Scholten, Mommsen; Renan, Vie de Jésus, S. 18f., 21. Siehe ders., Les historiens critiques de Jésus (1849), in: ders., Etudes d’histoire religieuse, Paris 1857 (Nachdruck 1992), S. 116–167.
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seinen klerikalen Gegnern in großem Umfang weitergegeben wurde.20 Die nachdrückliche Betonung der allen Legenden zugrunde liegenden Einbildungskraft und der ‚bezaubernden‘ Seite Jesu vervollständigt die Provokation und lässt annehmen, dass Renan eine Manipulation vorgenommen hat: Er inszeniert einen Skandal und lenkt ihn in bewundernswerter Weise, denn er schlüpft in die Haut eines Märtyrers des Verstandes, um daraus großen Nutzen und den Ruhm eines ‚kritischen Geistes‘ zu gewinnen, der jedoch noch nicht als Intellektueller bezeichnet wird. Die Kontroverse erreicht ein umfangreiches Publikum und gehört zu einer öffentlichen Strategie, die auch ihre kommerziellen Aspekte hat. Trotz der Erklärungen, die Wahrheit zu lieben, ist das Ethos des Gelehrten hier offenkundig der Zielsetzung der Wirksamkeit untergeordnet. Es geht darum, ein neues Kräfteverhältnis vorzuführen, indem man die Wissenschaft, selbst wenn man ihr übel mitspielt, ins Herz der immer noch wachsamen Zitadelle der französischen Kirche eindringen ließ. Wenn Renan verkündet, dass der Historiker „nur auf Kunst und Wahrheit gerichtet ist“, während der „Theolog ein Interesse hat, nämlich sein Dogma“,21 setzt er mehr auf die Kunst als auf die Wahrheit und übernimmt im Übrigen recht weitgehend die Form des Romans.22 Jesus wird zum Held. Renan kann schreiben und zeigt es, er lässt sich sogar vom Freund Flaubert inspirieren und vice versa. Später wird ‚der Intellektuelle‘, als Typus verstanden, nicht zögern, die orthodoxe Haltung der Gelehrten zu umgehen, indem er mit einer von Renan begründeten Geste auf die Waffen der Fiktion zurückgreift. Zwei Reaktionen betonen neben vielen anderen24 diese Strategie; die erste ist die des Abbé Neignan und antwortet auf die aus Deutschland kommenden Kritiken:
|| 20 Heinrich Ewald (dessen Geschichte des Volkes Israel von Renan genutzt wurde) in: Göttingische gelehrte Anzeigen, Nr. 31, 1863, und Theodor Keim in: Allgemeine Zeitung (AugustSeptember 1863), hatten auf die Anleihen und die technischen Schwächen des Werks hingewiesen. Ihnen schloss sich der Abbé Neignan an: La Vie de Jésus et la critique allemande, in: Le Correspondant, Nr. 24, 15. Oktober 1863, S. 343–377. 21 Renan, Vorwort von 1864 (dt. Zit. nach: Renan, Das Leben Jesu, S. XII). 22 Das wurde ihm sofort vorgeworfen, so von dem Abbé H.J. Crelier, M. E. Renan trahissant le christ par un roman ou examen critique de sa Vie de Jésus, Paris 21964. Die Kritik trifft, ohne es zu ahnen, einen zentralen Zug des Buchs, der erheblich zu dessen Erfolg beitrug. 23 Und nicht von den philosophes der Aufklärung, die mit anderen Zwängen des Schreibens, der Zensur, des Buchhandels, des Marktes und der Beziehung zum Publikum zu tun haben. Im 20. Jahrhundert wird die Überlegenheit Sartres und Camus’ über Aron darauf beruhen, dass sie Zugang zum Theater und zum Roman hatten. 24 Albert Schweitzer gibt einen bibliographischen Überblick in seiner Geschichte der LebenJesu-Forschung. Von Reimarus zu Wrede (2. Aufl. 1913), in: ders., Ausgewählte Werke, Bd. 3,
142 | Denis Thouard Renans Das Leben Jesu entzieht eine sehr komplexe wissenschaftliche und kritische Frage ihren natürlichen Richtern und legt sie inkompetenten Richtern vor, den Weltleuten, den Frauen, den Geistern mit mittlerer und geringer Bildung.25
Die zweite entstammt ebenfalls der Feder eines Abbés, des Abbé Freppel, der eine „kritische Untersuchung“ des Textes Renans vorschlug: Ernest Renan glaubte sich nicht zu so viel Rücksichtnahme [wie Strauß, D. T.] verpflichtet. Da er für Franzosen schreibt, hat er gewiss angenommen, dass das geistige Niveau seiner Leser nicht über die Höhe des Romans hinausging.26
Der erstgenannte Kritiker wies bereits auf die benutzten verführerischen stilistischen Kunstgriffe hin; der zweite gibt noch direkter an, dass Renans Text nicht zur Wissenschaft, sondern zur schönen Literatur gehöre. Und er urteilt durchaus zutreffend, als er beweisen möchte, dass das Buch [...] seinen festen Platz unter den Romanen hat, die aus derselben Verlagsbuchhandlung kommen, ein wenig unterhalb von, oder, wenn man es lieber will, neben Salammbô.27
Die wohlberechnete Doppeldeutigkeit des Textes Renans wurde schließlich klar erkannt. Anstatt auf wissenschaftlicher Ebene erneuernd zu wirken, hatte er einen genialen werbewirksamen Einfall, als er sich auf den literarischen Bereich verlegte. Dies war, worauf Albert Schweitzer hinwies, „ein Ereignis in der Weltliteratur“28. Diese für das französische geistige Milieu, aus dem die ‚Intellektuellen‘ hervorgehen sollten, eigentümliche Strategie erwies sich hier als besonders wirksam, wobei sie allerdings mehrere Jahre des der Forschung gewidmeten inneren Exils als Opfer kostete. Das Ethos des Logos wurde unter den in L’Avenir de la science dargelegten Bedingungen definiert, jedoch ohne den Idealismus, den man allzu bereitwillig und vorschnell mit ihm verbunden hätte, wenn man || hrsg. von R. Grabs, Tübingen 1971, S. 298–315. Die Antwort Freppels wurde mehrmals neu aufgelegt und ins Deutsche übersetzt. 25 Neignan, der die Einwände Ewalds aufgreift in: La Vie de Jésus et la critique allemande, S. 350. 26 Charles-Émile Freppel, Examen critique de la Vie de Jésus de Renan, 6. Aufl., Paris 1863, S. 3. [Dt. u.d.T.: Kritische Beleuchtung der Ernest Renan’schen Schrift, übers. von C. A. Kallmus, Wien 1864]. 27 Ebd., S. 10. In seiner Antwort an Ernest Havet, „den Herausgeber der Gedanken Pascals und Panegyriker Renans“, stellt er einen Kontext her, der von den Romanen George Sands, von Michelets Die Hexe und den Elenden Victor Hugos gebildet wird; ebd., S. 119. Über die Nähe zwischen Salammbô und den Arbeiten Renans vgl. den zitierten Artikel von Agnès Bouvier, Au rendez-vous allemand (2). 28 Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, S. 289.
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sich den Kampf des Einzelnen vorstellt, der sich mit seinem Gewissen als Gelehrter gegen die Mächte des Säbels und des Weihwedels erhebt. In mancher Hinsicht hatte dieser kleinere Skandal den Boden für die eine Generation später beginnende große Affäre vorbereitet. Zu den Kritikern des Buches Renans gehört Edmond de Pressensé (1823– 1891), ein protestantischer Theologe, der mit seinem Jésus Christ29 auf Renan antwortet, nachdem er die Rechte der Theologie gegen die kritische Schule hervorgehoben hatte; sein Sohn, Francis de Pressensé, wird Dreyfusard und der zweite Präsident der Liga für Menschenrechte (Ligue des Droits de l’Homme) werden. Ernest Havet (1813–1889), Rhetorikprofessor am Collège de France, verteidigt hingegen die Sichtweise Renans in der Revue des Deux-Mondes,30 bevor er selbst Le Christianisme et ses origines in vier Bänden verfasst.31 Renan ließ es nicht an Dankbarkeit fehlen und hielt am Heiligabend 1889 Havets Grabrede auf dem Friedhof Montmartre, eine bedeutsame Rede, die die Grenzen der Freiheit der Wissenschaft und der Religion aufzeigte.32 Die nach Renans Tod (1892) ausgelöste Dreyfus-Affäre wird 1905 mit der Annahme des Gesetzes über die Trennung von Kirche und Staat und der ein Jahr später erfolgten Rehabilitierung des Hauptmanns Dreyfus enden. Selbst wenn es sich bei dieser Affäre zunächst um eine militärische Angelegenheit handelte, die mit Landesverrat zu tun hatte, lässt sich ihr Kontext nicht unabhängig von der Entwicklung der Kräfteverhältnisse zwischen der laizistischen Republik und der Kirche erfassen.
|| 29 Edmond de Pressensé, Jésus-Christ, son temps, sa vie, son œuvre, Paris 1865; dies folgt auf eine Kritik: „L’école critique et Jésus-Christ. A propos de la ‚Vie de Jésus’ de M. Renan“. 30 Ernest Havet, L’Évangile et l’histoire, in: Revue des deux mondes, 1. August 1863, S. 568– 596. Vgl. die weiter oben angeführte Gegenkritik des Abbé Freppel. 31 Ernest Havet, Le christianisme et ses origines, 4 Bde., Paris 1871–1884. 32 „Die griechische Kultur verlangt kein Opfer der Vernunft, die aus dem Orient stammende Kultur verlangt es, denn niemals hat eine Tatsache bewiesen, dass ein höheres Wesen einem oder mehreren Menschen irgendeine Offenbarung anvertraut hat. [...] Nie war ein Gläubiger einem Dogma treuer als Havet seiner Philosophie.“ Ernest Renan, Discours prononcé aux funérailles de M. Ernest Havet le 24 décembre 1889, in: ders., Œuvres complètes, Bd. II, Paris 1948, S. 1127–1130, hier S. 1128.
144 | Denis Thouard
3. Eine Urkunden-Affäre: Zwischen Fälschern und Kritikern Es ist sicher nicht unangebracht, die Meinung zu vertreten, die Affäre sei „im Grunde zunächst so etwas wie ein großer ‚Textkommentar‘“.33 Wenn sie vordergründig eine Spionageaffäre ist, weil es um Urkundenbeweise, Fälschungen und die Benutzung gefälschter Dokumente geht, ist sie doch von besonderem Interesse für Graphologen, Psychologen und Philologen. Neben Philosophen und Wissenschaftlern, normaliens und Vertretern der Linken, wurden auch Textspezialisten – von der École des Chartes (der Hochschule für Urkundenforschung) bis zu den Professoren des Collège de France oder auch der École Pratique des Hautes Études – involviert.34 Seit den Arbeiten von Marcel Thomas, die sich auf umfangreiche Archivrecherche stützen, sind die Kenntnisse über den Ablauf der Ereignisse besser abgesichert, und die Auseinandersetzung hat sich versachlicht.35 Den Kontext für die Auslösung der Affäre bildet die gegenseitige Beobachtung der früheren Kriegsgegner. Der französische Generalstab bemühte sich, die deutsche Botschaft, die militärische Geheimnisse ausspähen wollte, mit harmlosen und falschen Nachrichten zu überschütten. Am 20. Juli 1894 trat Major Esterhazy in Kontakt mit dem deutschen Militärattaché von Schwartzkoppen, um ihm militärische Geheimnisse zu verkaufen. Wenig später, am 25. September, wurde ein in vier Teile zerrissener Brief, der eine bestimmte Anzahl versprochener militärischer Angaben, vor allem über die französische Artillerie, auflistete, von den Spionageabwehrdiensten in einem Papierkorb der deutschen Botschaft gefunden. Eine Putzfrau, die von den französischen Diensten beschäftigt wurde, hatte den Brief entwendet. Im „Statistischen Amt“ (Bureau de la Statistique), der || 33 Ory und Sirinelli, Les intellectuels en France, S. 43. Dass die Philologie eng mit dem Problem der Fälschung als ihrem ‚Schatten‘ zusammenhängt, hat Anthony Grafton für die Frühe Neuzeit nachdrücklich betont, ders., Forgers and Critics: Creativity and Duplicity in Western Scholarship, Princeton 1990. 34 Vgl. Bertrand Joly, L’École des chartes et l’Affaire Dreyfus, in: Bibliothèque de l’École des chartes 147 (1989), S. 611–671; Jules Crépieux-Jamin, L’expertise en écritures et les leçons de l’Affaire Dreyfus, in: L’année psychologique 13 (1906), S. 187–229. 35 Von Marcel Thomas, L’Affaire sans Dreyfus, Paris 1961, bis zu Vincent Duclert, L’Affaire Dreyfus. Quand la justice éclaire la République (als Banderolentext: Actes et écrits inédits – „Unveröffentlichte Urkunden und Schriftstücke“), Toulouse, 2010 (vom selben Verfasser siehe das frühere Buch, Die Dreyfus-Affäre. Militärwahn, Republikfeindschaft, Judenhaß, Berlin 1994), wird die Chronologie der Ereignisse zuverlässig zusammengestellt (siehe bei Duclert, L’Affaire Dreyfus, S. 485–498), und die Diskussion behandelt die Bedeutung der Affäre für die unterschiedlichen Teile der französischen Gesellschaft.
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französischen Gegenspionage, herrschte große Aufregung, und es begann die Suche nach dem Autor des Schreibens, der sich zwangsläufig im Generalstab befinden musste. Die Hauptmethode, dies zu erreichen, war die Untersuchung des wieder zusammengesetzten Papiers, das bald als ‚das Bordereau‘ (Verzeichnis von Dokumenten) bezeichnet wurde.36 Schnell, allzu schnell, von einem virulenten Klima des Antisemitismus begünstigt, fällt der Verdacht auf Hauptmann Dreyfus, der am 15. Oktober verhaftet und ins Gefängnis ChercheMidi gebracht wird. Allerdings verlangte der ‚kleine Rat‘ der Minister, der die Verhaftung genehmigt hatte, weitere Beweise. Sie werden nachträglich fabriziert; dies sollte die Geheimakte ergeben, die Oberstleutnant Henry vorlegt und ausschließlich den Militärrichtern zur Verfügung stellt.37 Das hinter verschlossenen Türen durchgeführte Verfahren vor dem Kriegsgericht endet am 22. Dezember mit Dreyfus’ Verurteilung wegen Landesverrats. Am 5. Januar 1895 wird er im Hof der École Militaire degradiert und dann, nach einigen provisorischen Haftstationen, am 13. April ins Zuchthaus auf der Teufelsinsel vor der Küste Guayanas verlegt. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags erübrigt es sich, auf alle wechselvollen Episoden der Affäre ausführlich einzugehen, die äußerst zahlreich waren, weil die Welt der Nachrichtendienste darin verwickelt war – selbst wenn die anderen der Akte beigefügten Dokumente, wie etwa der „petit bleu“ (der „kleine Blaue“, Rohrpostbrief), ein Telegramm, das von Schwartzkoppen an seinen Informanten im Generalstab, Esterhazy, schickt, oder „le faux Henry“ („die Henry-Fälschung“), ebenfalls in den Bereich der Textexpertise gehören. Bis zum Revisionsprozess von Rennes, der am 9. September 1899 die Verurteilung von Dreyfus bestätigt, dessen Unschuld gleichwohl bewiesen und zehn Tage später durch einen Gnadenakt des Präsidenten sanktioniert wird, sehen sich alle führenden Denker Frankreichs veranlasst, Partei zu ergreifen und sich für die inkriminierten Dokumente zu interessieren. Deshalb wird es genügen, das Vorgehen des ersten zu erhellen, der die Widersprüchlichkeit der Akte festgestellt hat. Am 1. Juli 1895 wird Oberstleutnant Georges Picquart (1854–1914) zum Leiter des „Statistischen Amtes“ ernannt, also zum Leiter des Nachrichtendiens-
|| 36 Der Text wird von Thomas, L’Affaire sans Dreyfus, S. 93, wiedergegeben; das Faksimile wurde in der Presse oft verbreitet, als Erstes von Le Matin am 10. November 1896 mit Autographen des Hauptmanns Dreyfus; Reproduktionen zum Beispiel in der Untersuchung von Crépieux-Jamin, L’expertise en écritures et les leçons de l’Affaire Dreyfus, S. 194f. 37 Siehe Pierre Gervais, Pauline Peretz, Pierre Stutin, Le Dossier secret de l’affaire Dreyfus, Paris 2012.
146 | Denis Thouard tes.38 Obwohl Picquart zuvor einige Zweifel gehegt hatte, ob man Dreyfus als Autor des Bordereau anerkennen könne,39 glaubte er aufgrund der Geheimakte an dessen Schuld, bevor er die Akte selbst untersuchte: Sie bestehe aus „ungleichartigen Dokumenten, die von den Büros des Generalstabs und insbesondere von Paty umgearbeitet wurden, um Dreyfus beim ersten Kriegsgericht in Paris zu belasten“.40 In einer gegen sein Vorgehen feindselig eingestellten Umgebung entwickelt er daher von April bis Juli 1896 die Hypothese, dass der Autor des ‚Bordereau‘ und der Adressat des ‚petit bleu‘ identisch sind, und durch die Untersuchung der ihm zugänglichen Dokumente gelangt er zu einer begründeten Überzeugung. Das behält er nicht für sich, und am 1. September verfasst er eine offizielle Mitteilung, die abschließend Esterhazy beschuldigt. Die Obrigkeit will ihm jedoch kein Gehör schenken. Am 10. November wird er von der Leitung der Statistikabteilung abgelöst und im Dezember 1896 nach Tunesien geschickt. Später wird man ihn beschuldigen, den ‚petit bleu‘ selbst angefertigt zu haben.41 Am 13. Januar 1898, dem Tag, als Zolas J’accuse in L’Aurore erschien, wird Picquart im Gefängnis Cherche-Midi inhaftiert. Inzwischen hat sich sein Anwalt Louis Leblois um seine Verteidigung bemüht und damit begonnen, die Öffentlichkeit, insbesondere Scheurer-Kestner, den Vizepräsidenten des Senats, zu alarmieren. Dies geschieht parallel zu den Schritten, die Mathieu Dreyfus (der Bruder des Hauptmanns) und Bernard Lazare unternehmen: Die Öffentlichkeit greift bis zum Revisionsprozess von Rennes zunehmend ein. Die Formierung dieser kollektiven Aufmerksamkeit bezeichnet eine Zäsur im politischen Leben Frankreichs, wie es Charles Péguy unverzüglich erkannt hatte. Und die Historiker bemühen sich, diese zu verstehen, wenn sie auf die Affäre zurückkommen. In der Position, in der sich Picquart befand, haben es ihm also einerseits die Untersuchung und der Vergleich der Dokumente und andererseits das Ergebnis seiner Überlegungen ermöglicht, für die Revision einzutreten, während ihn nichts in seinem persönlichen Entwicklungsweg im Voraus dazu bestimmt hatte.42 Er wurde selbst zum Kritiker, weil ihn sein Amt in der Statistikabteilung dazu veranlasste. Wenn aber der „Generalstab“, wie Clemenceau feststellte, aus
|| 38 Vgl. Christian Vigouroux, Georges Picquart. Dreyfusard, proscrit, ministre. La justice par l’exactitude, Paris 2009. 39 Ebd., S. 40f. 40 Ebd., S. 41. 41 Ebd., S. 78. 42 Er wurde sogar von einem gewissen, mit seinem Milieu zusammenhängenden soziologischen Antisemitismus beeinflusst, gegen den er ankämpfte; vgl. ebd., S. 361.
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„Soldaten“ bestand, „die vollkommen unfähig zur Dokumentenkritik waren“,43 so erlaubte es ihm doch sein Sinn für Präzision, sich „der Gerechtigkeit durch Genauigkeit“ anzuschließen.44 Das Lager der Dreyfus-Gegner bot jedoch seinen Experten dagegen auf: Alphonse Bertillon (1853–1914), den Erfinder der Anthropometrie, der zwar alles Mögliche war, aber kein Schriftsachverständiger. Darum hatte er keinerlei Mühe, das ‚Bordereau‘ als Dreyfus’ Werk zu beglaubigen. Anstatt einen Schriftenvergleich vorzunehmen, verglich er die Schrift des ‚Bordereau‘ mit sich selbst, um die originelle Hypothese einer Selbstfälschung („autoforgerie“) aufzustellen.45 Diese Lösung ist für das Verlangen mancher um eine Beweisführung verlegener Experten nach ad-hoc-Erklärungen sprichwörtlich geblieben. Während der Affäre kam es zu drei Wellen von Expertisen und Gegenexpertisen. Die erste kam in Bewegung durch fünf Experten, die das Militärgericht 1894 ernannte, um die Originale des ‚Bordereau‘ und der Handschrift von Alfred Dreyfus zu vergleichen. Drei von ihnen folgten Bertillon und erklärten beide Schriften für identisch. Die zweite Welle wurde auf Initiative von Mathieu Dreyfus in Gang gebracht, nachdem 1897 die Faksimiles in Le Matin veröffentlicht wurden; man wandte sich an zwölf internationale Experten, die beide Schriften für unterschiedlich erklärten. Insbesondere wurden mehrere Philologen oder Spezialisten der École des Chartes aktiv. Paul Meyer, der Direktor der École des Chartes, hatte in einem Brief an den Literaturkritiker Jules Lemaître geschrieben, den Le Siècle 1899 veröffentlichte: „Das Bordereau und die HenryFälschung sind Dokumente, die der Kritiker ebenso wie eine historische Urkunde untersuchen kann.“46 Er rechtfertigte das Eingreifen der Historiker und Philologen als Experten in den die Affäre bezeichnenden Prozessen. Schließlich, beim Prozess gegen Zola im Februar 1898, kamen jene, die nach Jules Crépieux-Jamin, der 1897 selbst als Experte auftrat, „die interessantesten“ waren; wie beim Kassationsverfahren in Rennes, im Februar 1899, und wie beim Revisionsverfahren im September 1899 vor dem Militärgericht in Rennes erörterte man auch die jeweilige Zuverlässigkeit der Dokumente; die Aussage Henri Poincarés bezog sogar einen Rückgriff auf die Wahrscheinlichkeitsrechnung ein. Die Spezialisten der École des Chartes und weitere Philologen waren dabei noch zahlreicher vertreten; Zola hatte sie als wissenschaftliche Bürgen be|| 43 In L’Aurore vom 7. Oktober 1898, zit. von Vigouroux, Georges Picquart, S. 438. 44 Entsprechend dem vielsagenden Untertitel des Buches von Vigouroux. 45 Bertillons Expertise wird analysiert bei Crépieux-Jamin, L’expertise en écritures et les leçons de l’Affaire Dreyfus, S. 202–204. 46 Am 22. Januar 1899 in Le Siècle veröffentlichter Brief, zit. in: Ory und Sirinelli, Les intellectuels en France, S. 44.
148 | Denis Thouard stellt:47 außer (den Chartisten) Paul Meyer, Auguste Molinier, Arthur Giry auch Émile Molinier (Konservator im Louvre), Paul Moriaux, Héricourt, Louis Havet. Neben den Politikern und Literaten ziehen Gelehrte und Wissenschaftler wegen ihres Einsatzes für Dreyfus immer mehr die Aufmerksamkeit der Historiker auf sich. Die Person eines Gelehrten hat mein besonderes Interesse geweckt.
4. Ein Philologe im Kampfgetümmel: Louis Havet (1849–1925) Für diesen Latinisten, einen Schüler Littrés, war die Wissenschaft, auch im Bereich der antiken Literatur, ein Absolutum.48 Er war im vollen Sinne des Wortes ein Mann des 19. Jahrhunderts. Als Sohn von Ernest Havet, der sich für Renan eingesetzt hatte, gehört Louis zu einer Generation, die sich das Erbe der ersten Kämpfe für die Gewissensfreiheit des Wissenschaftlers zu Eigen gemacht || 47 Man vgl. den Brief Zolas an Louis Havet vom 20. Januar 1898: „Monsieur! Vor der SeineJury möchte ich Gelehrte, Paläographen und Historiker als Zeugen vorladen, die an diese wissenschaftlichen Methoden gewöhnt sind, von denen Monsieur Duclaux neulich gesprochen hat. Mein Anwalt wird ihnen die folgende einfache Frage stellen: ‚Können Sie nach bestem Wissen und Gewissen bestätigen, dass die Schrift des Bordereaus nicht die von Dreyfus ist?‘ Es wird nicht um Major Esterhazy gehen. Bitte teilen Sie mir mit, ob ich mir erlauben darf, Ihre Aussage zu beantragen.“ (In: Émile Zola, Correspondance, Bd. IX, hrsg. von B. H. Bakker, Paris 1993, S. 150, zit. von Duclert, L’Affaire Dreyfus, S. 150). 48 Louis war der Sohn von Ernest Havet, dessen Nachfolge er 1885 im Collège de France antrat, Absolvent der École normale supérieure, Mitglied der Akademie, der Alliance Française und der Liga für Menschenrechte. Er war eine Zeit lang unschlüssig, ob er sich für Linguistik oder Philologie entscheiden sollte. Er setzte sich mit der deutschen Schule auseinander, als er Franz Büchelers Grundriß der lateinischen Deklination (Leipzig 1866; frz.: Précis de déclinaison latine, Paris 1875) übersetzte. Zuvor hatte er übersetzt: Friedrich Max Müller, Über die Schichtung der Sprache (dt. in: Aufsätze hauptsächlich sprachwissenschaftlichen Inhalts, Leipzig 1876; frz.: La stratification du langage, Paris 1869). Sein bevorzugter Forschungsgegenstand war die Metrik: La Prose métrique de Symmaque et les origines métriques du cursus, Paris 1892; Cours élémentaire de métrique grecque et latine, Paris 1896. Auf dem Gebiet der lateinischen Philologie interessierte er sich vor allem für die Komödiendichter: Plautus (Amphitruo, Die Kriegsgefangenen, Asinaria), für Phaedrus (Fables ésopiques, 1905), für die Dichter (Tibulle et les auteurs du corpus tibullianum, Paris 1925; Notes critiques sur Properce, Paris 1916); schließlich für die Redner (Notes critiques sur le texte de l’orator et sur Isée, Paris, 1927; Notes critiques sur le texte de Festus, Paris 1914). Seine prinzipienstrenge Auffassung von der Philologie brachte ihn dazu, sich für die Regeln der Kritik zu interessieren, und hieraus entstand schließlich das Manuel de critique verbale appliquée aux textes latins, Paris 1911, und die Règles pour l’édition critique, Chartres 1891, die als Richtschnur für die Reihe der Éditions Budé dienen sollten. Auf seine politischen Aktivitäten werde ich weiter unten eingehen.
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hat. Unter denen, die sich für die Revision des Prozesses im Namen der Wahrheit einsetzen, findet man tatsächlich „den Sohn und den Schwiegersohn Renans“ (Ary Scheffer und Jean Psichari), ja sogar den Sohn eines Gegners, Francis de Pressensé (1853–1914), der zweiter Präsident der Liga für Menschenrechte wurde.49 Auffallend sind die Wechselwirkungen zwischen den Kämpfen, die um das Buch Vie de Jésus geführt wurden, und denen, die sich um die Anerkennung der Unschuld eines Hauptmanns bemühten, der sich für die Verdächtigungen seiner Standesgenossen anbot, weil er Jude war. Im Jahre 1899, als die Affäre ihren Höhepunkt erreichte, bilanzierte Maurice Vernes (1845–1923) – ein Protestant, der zur Religionskritik übergegangen war und 1880 die Revue d’histoire des religions begründet hatte – den Einfluss des Werkes Renans auf die Religionsfrage in Frankreich. Als er die Rede Renans am Grab Ernest Havets erwähnte, zitierte er auch dessen Sohn: Die jungen Leute von heute ahnen überhaupt nicht, wie viel die Freiheit des französischen Geistes dem hervorragenden Mann verdankt, den das Collège de France an seiner Spitze hat, was es mit Stolz erfüllt. Ich war vierzehn Jahre alt, als La Vie de Jésus erschien, und ich vernehme noch die lauten Reaktionen, die das Buch hervorrief. Von jenem Tag an verstand man bei uns: Es gibt kein Thema, bei dem Aufrichtigkeit keine Pflicht ist und, wie es dem Geist eines schönen Evangeliumverses entspricht, nicht das, was aus dem Mund des Menschen herauskommt, sondern das, was die Feigheit in seinem Herzen verschließt, verunreinigt ihn.50
Louis Havet hatte eine positivistische Ausbildung absolviert und so den Kult der Wissenschaft verinnerlicht. Auf seinem Schreibtisch hatte er die Porträts von Renan und Gaston Paris stehen.51 Wie bei Renan ist auch bei ihm die Absolutheit des Engagements wörtlich zu nehmen. Als Antoine Meillet seinen Nachruf verfasst, rühmt er zugleich Havets „religiöse Hochachtung der wissenschaftlichen Methode“ und die „mathematische Strenge“ seiner Behandlung der alten Sprachen und Texte.52 Überraschend wirkt nicht diese Verknüpfung, sondern ihre Umsetzung in staatsbürgerliches Engagement. Havet steht auf der Seite der Modernisten und der Laizisten. Gemeinsam mit seinem Vater beteiligt er sich an der Ligue de l’enseignement (Unterrichtsliga),
|| 49 Jean Psichari war wie Louis Havet an den ersten Schritten der Liga aktiv beteiligt. 50 Zit. in: Maurice Vernes, Ernest Renan et la question religieuse en France, Brüssel 1899, S. 29. 51 Nach Charles V. Langlois, Comptes rendus de l’Académie des inscriptions, 30. Januar 1925, S. 20. 52 Antoine Meillet, Nécrologie, in: Bulletin de la société linguistique, 1925; nachgedr. in: ders., Linguistique historique et linguistique générale, Bd. 2, Paris 1951, S. 200–205, hier S. 200.
150 | Denis Thouard die von 1872 bis 1877 unter der Leitung von Bréal die Grundlagen der republikanischen Schule schafft. So etwa tritt er im Jahre 1889, als er zum Komitee für die Alliance française gehört, für die Vereinfachung der Orthographie ein. Er ergreift die Initiative zu einer Petition, weil er das Erlernen der Orthographie erleichtern will, wofür er ganz rationale Argumente benutzt, die offensichtlich keine Zustimmung fanden.53 Er will die Kritik zu größter Präzision bringen. Seine Konzeption der Philologie als prinzipienstrenger Wissenschaft kulminiert in einem ehrgeizigen Werk, seinem Manuel de critique verbale, wo er in mehr als 1500 mit Beispielen erläuterten Abschnitten die Möglichkeiten der philologischen Kritik auseinandersetzt. Sein Ehrgeiz besteht darin, die mathematische Methode in das Textstudium einzuführen, wobei er die Ansicht vertritt, dass Konjekturen auf Deduktion beruhen: Ein Problem der Textkritik gleicht gewöhnlich einer Algebraaufgabe, bei der man nicht sicher wäre, dass man ebenso viele Gleichungen aufstellen kann, wie es Unbekannte gibt, bei der man hingegen wüsste, dass die Werte der Unbekannten unter den Gliedern einer Liste mit bestimmten Größen ausgewählt werden müssen. Die Wörter der Sprache sind tatsächlich bestimmt.54
Der Ruf, eine prinzipienstrenge, bis zur Unnachgiebigkeit gehende Haltung zu vertreten, kommt von den extremen Ambitionen, die mit der Philologie verbunden werden. Um den deduktiven Charakter der Konjektur und ihre Anwendung auf die gesamte Philologie zu begründen, erinnert Havet an ihren Status einer Beobachtungswissenschaft und daran, dass sie gezwungen ist, Hypothesen aufzustellen, die von der Bestimmung eines je besonderen Problems ausgehen. Die Konjektur ist somit eine „konkrete Synthese aller Argumente und aller Indizien, die vom Geist wahrgenommen werden müssen“.55 Die Vorstellung von der Allgegenwart der Fehler und gleichwohl von der Rechtmäßigkeit einer Suche nach der „guten Lesart“ untermauert Havets rationalistisches Unternehmen. Er stellt eine Logik der ‚Fehlervermutung‘ auf, die seinem Konjekturappa-
|| 53 Louis Havet, La simplification de l’orthographe, Paris 1890. Siehe die Darstellung der Debatte durch den Journalisten Jules Huret, der Havet besucht hatte, in: Jules Huret, Tout yeux, tout oreilles, Paris 1901, „Chez M. Louis Havet“ (1890), S. 17–22, zusammen mit den skeptischen Bemerkungen Renans, die mit seiner Auffassung von der Spontaneität der Sprachen übereinstimmten. Havet bewies den willkürlichen und pseudowissenschaftlichen Charakter der Besonderheiten der französischen Orthographie und war Anhänger einer sich am Italienischen inspirierenden Lösung. 54 Louis Havet, Manuel de critique verbale appliquée aux textes latines, Paris 1911 [Repr. Rom 1967], S. 117. 55 Ebd., S. 27.
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rat zugrunde liegt. Man kann sich vorstellen, dass ihn die Apologeten der Variante als Ungeheuer ansahen. Bernard Cerquiglini beschreibt ihn darum mit drei Schlagworten, die – trotz ihrer Ironie – Havets Haltung erhellen. Dessen Meisterwerk ist für Cerquiglini „zugleich eine Summe sinnloser Gelehrsamkeit, Lehrbuch für Kriminologie und Leitfaden der klinischen Psychologie des Schreibers“.56 Die „Gelehrsamkeit“ verweist auf den monumentalen Charakter des eine Überfülle von Beispielen bietenden Quartbandes, der das Manuel ist, die „Kriminologie“ auf das gewissermaßen kriminalistische Vorgehen bei der Fehlerjagd, die „Psychologie“ auf die nahezu psychoanalytische Untersuchung des Kopisten, die im ganzen zweiten Teil des Werkes vorgenommen wird. Das Zusammentreffen des Philologen, des Kriminalisten und des Psychoanalytikers war übrigens von Carlo Ginzburg bereits als Hinweis auf das Erscheinen eines neuen Forschungsparadigmas identifiziert worden, doch man findet sie hier in einem unnachgiebigen Verteidiger der mathematischen Methode und nicht als Untersuchung des angeblich von der modernen Wissenschaft vernachlässigten Bereichs qualitativer Forschung verkörpert. Bei Havet gibt es ein Pathos des Logos, das nur furchtsame Bewunderung hervorrufen kann. Aber wie verhält es sich mit dem Ethos des Gelehrten? Louis Havet hat sich nicht nur für die Vereinfachung der Orthographie eingesetzt. Meillet sagt es auf elliptische Weise: Als er zu der Ansicht kam, dass eine Wahrheit im Bereich der Justiz nicht anerkannt wurde, hat er seine Arbeiten beiseitegelegt, an öffentlichen Versammlungen teilgenommen und sich Gefahren ausgesetzt, um seinem Land das zu sagen, was ihm gerecht schien, und er hat sich unzufrieden aus dem Kampf zurückgezogen, weil die Lösung, die eigentlich seinen Wünschen entsprach, nicht streng logisch war.57
Was hier lediglich angedeutet wird, ist das Engagement des Latinisten in der Dreyfus-Affäre. Er stand Picquart nahe,58 war Mitbegründer der Liga für Menschenrechte und ihr erster Vizepräsident, während Ludovic Trarieux als Präsident wirkte,59 ein unermüdlicher Anhänger der laizistischen Republik und der || 56 Bernard Cerquiglini, Éloge de la variante, in: Langages 61 (1983), S. 25–35, hier S. 30; ders., Éloge de la variante, Paris 1989. 57 Meillet, Nécrologie, S. 112. 58 Ihre Korrespondenz befindet sich in der BNF unter der Signatur 24.503. 59 Zu den näheren Umständen bei der Bildung der Liga siehe Emmanuel Naquet, Aux origines de la Ligue des Droits de l’homme: Affaire Dreyfus et intellectuels, in: Bulletin du Centre d’Histoire de la France contemporaine 11 (1990), S. 61–81. Zur Rolle der Wissenschaftler vgl. Vincent Duclert, La Ligue de ‚l’époque héroïqueʻ: la politique des savants, in: Le Mouvement social 183 (1998), S. 27–60.
152 | Denis Thouard Wahrheit in der Justiz. Die ersten, die die Ungerechtigkeit des Gerichtsverfahrens gegen Dreyfus durchschauten, waren, wir haben daran erinnert, Mathieu Dreyfus, Bernard Lazare und Georges Picquart, denen bald Scheurer-Kestner und der Historiker Gabriel Monod folgten.60 Dann, am Ende des Jahres 1897, nahm die Unruhe immer weiter zu und erfasste immer mehr Wissenschaftler und Akademiker, bis schließlich am 13. Januar „J’accuse“ erschien, dem schon am nächsten Tag die erste „Petition“ und danach eine Flut verschiedener „Proteste“ folgten.61 So sieht man, dass unter anderen Louis Havet – sowohl aus Freundschaft als auch aus tiefer liegenden Gründen ausgehend von der Vorstellung einer innigen Solidarität zwischen der wissenschaftlichen Wahrheit und der staatsbürgerlichen Gerechtigkeit – sich nicht nur an Petitionen und Versammlungen beteiligt, sondern auch eine unermüdliche Tätigkeit entwickelt, um der Wahrheit zur Anerkennung zu verhelfen. Er wird nicht nur am 4. Juni 1898 an der Gründung der Liga für die Menschenrechte teilnehmen, sondern auch beim Zola-Prozess wie beim Revisionsprozess in Rennes dabei sein. Er setzt sich unermüdlich mit Stellungnahmen in der Presse und publikumswirksamen Vorträgen ein. Schon am 20. Januar schickt er einen Brief an die Zeitungen Le Siècle und Le Temps. Darin fordert er die Revision des Prozesses, und Le Temps veröffentlicht eine gekürzte Version des Briefes.62 Es ist interessant, seiner Argumentation zu folgen: Havet ist Rationalist und Formalist. Bevor er sich um Gerechtigkeit und
|| 60 Gabriel Monod schreibt am 5. November 1897 in Le Temps, dass es sich um einen Justizirrtum handele. 61 Die wichtigsten wissenschaftlichen Zeugen des Zola-Prozesses gehören auch zu den Gründungsmitgliedern der Liga; vgl. Duclert, La Ligue de ‚l’époque héroïqueʻ, S. 40. In diesem Zusammenhang sind sie neben anderen Sprachwissenschaftlern zu nennen, wie etwa Salomon Reinach, Gaston Paris, James Darmesteter, Michel Bréal, Paul Meyer und Ferdinand de Saussure, den Havet veranlasste, aus Leipzig nach Paris zu kommen, wo de Saussure 1880 eintraf. Havet engagiert sich zusammen mit seiner Frau Olympe, die einen Salon unterhält, vgl. Duclert, L’Affaire Dreyfus, S. 82. Zu Saussure vgl. Michael Lynn-George, The Crossroad of Truth: Ferdinand de Saussure and the Dreyfus Affair, in: Modern Language Notes 121 (2006), S. 961– 988. Saussure war Antisemit und las im Jahre 1894 Drumond (vgl. ebd., S. 969), bevor er seinen Lehrern folgte und sich zum „überzeugten Dreyfusisten“ erklärte (ebd., S. 977). Duclert, L’affaire Dreyfus stellt das Eingreifen der Wissenschaftler in den Mittelpunkt seiner Geschichte, insbesondere ebd., S. 58ff. („Les savants et les ‚amitiés activesʻ“) und S. 78–82 („Le mouvement des solidarités, les progrès de la conviction“). Von demselben Autor: L’engagement scientifique et l’intellectuel démocratique. Le sens de l’affaire Dreyfus, in: Politix 48 (1999), S. 71–94. 62 Der vollständige Text wird veröffentlicht von: E. de Haime [Pseudonym von Auguste de Morsier], Les faits acquis à l’histoire: affaire Dreyfus, Paris 1898, S. 208–210.
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Emotionen kümmert, will er eine geistige Kohärenz wiederherstellen, die bei den Verantwortlichen für die Krise fehlt: Frankreich leidet in diesem Moment grausam unter einem Verstoß gegen die Logik. […] Nicht nur die offenkundige Wahrheit und die Gerechtigkeit verlangen eine Revision, sondern auch die Logik, die es erforderlich macht, dass man zu Ende bringt, was man begonnen hat, und dass man Aufklärung gewährt, nachdem man den Zweifel zugelassen hat.63
Der Kriegsminister wird zunächst eines „logischen Irrtums“ überführt, weil er annehme, dass man die Untersuchung fortsetzen könne, ohne das Bordereau vorzulegen. Seine Achtung der rechtskräftig entschiedenen Sache kollidiere mit der Suche nach der Wahrheit, die er weiterzuführen behaupte, während er sie behindere, indem er den Experten gegenüber den Ausschluss der Öffentlichkeit durchsetze, um die „Grundstriche der Schrift“ zu prüfen! Erstaunlich wirkt hier, wie sorgfältig sich Havet von Emotionen distanziert, damit er sich auf die Kohärenz des Verfahrens konzentrieren kann. Er setzt sich persönlich ein, um seine Handlungsweise aufzuklären und Leute zu überzeugen, die nicht zu den akademischen Kreisen gehören. Darum bekennt er in Rouen seine Auffassung von der „Pflicht des französischen Bürgers“; nach Dreyfus’ erneuter Verurteilung und seiner darauffolgenden Begnadigung gehört Havet zu den Radikalen, die die Begnadigung ablehnen und den Kampf fortsetzen wollen. In Le Petit Bleu vom 8. November wettert er gegen die „heuchlerischen Beschwichtigungen“, und am 27. Dezember desselben Jahres ebenfalls in einem Vortrag über „Die Amnestie“ in Asnières; dann wird seine Botschaft universaler: 1900 hält er einen Vortrag über „Die Idee des Gesetzes“; am 8. Februar redet er in Bordeaux über „Die Idee der Brüderlichkeit der Völker“, am 23. Februar 1901 in Saint-Germain über „Die Grundsätze der Politik“; am 3. August 1902 schreibt er in Le Siècle und verlangt die Revision der Verurteilung; am 2. Oktober 1902 stellt er in Tours, anlässlich der Vollversammlung des Freundschaftsvereins der Lehrer und Lehrerinnen der Departements Indre und Loire, „die Idee des laizistischen Unterrichts“ vor; am 13. Januar 1905, zum 8. Jahrestag von „J’accuse“, steht er an der Seite von Painlevé und erklärt, dass „die Gerechtigkeit heiliger als das Gesetz ist“; 1906 redet er auch noch in Troyes von „der geistigen Gleichheit“. Im Januar 1907 fordert er eine Wiedergutmachung für Édouard Grimaux, der als Dreyfus-Anhänger nach dem Zola-Prozess seinen Lehrstuhl in der École Polytechnique verloren hatte, als er auf der Place
|| 63 Ebd., S. 210.
154 | Denis Thouard Beauvau eine Delegation der Liga führte.64 Auch im Ausland lassen sich Veröffentlichungen solcher Vorträge nachweisen.65 Diese Vorträge sind mit dem Engagement in der Liga und mit dem laizistischen Bekehrungseifer verbunden, wobei die Volkshochschulen soeben gegründet waren und spezielle populärwissenschaftliche Vorträge überall in Frankreich eine beeindruckende Beliebtheit erreichen.66 Havet folgt somit einer für Republikaner bezeichnenden Logik, denn diese waren bei der Untersuchung historischer Themen um eine prinzipienstrenge Methode bemüht, die sie von den großen Persönlichkeiten des Positivismus, wie Littré und Renan, übernommen hatten. Der Modernismus gehört zur laizistischen, antiklerikalen Tradition, er strebt nach Universalität und nährt sich vom Wissenschaftskult. Auch in der Philologie bekämpft Havet den ‚Konservatismus‘ und die Routine und setzt sich für die rationale Rekonstruktion ein. Diese Generation von Gelehrten und Akademikern hört auf den Ruf ihres Gewissens, nachdem sie auf cartesianische Art die Schule des Zweifels an Dreyfus’ Schuld durchlaufen hatte, denn am Anfang verfügte niemand über die Mittel, sie nachzuprüfen. Beim Zola-Prozess vor dem Schwurgericht vom 7. bis zum 23. Februar 1898 griff Havet zum ersten Mal als Zeuge ein (und ‚offiziös‘ als Gegenexperte, im Anschluss an Paul Meyer und andere). Er wird am 15. Februar und dann wieder beim Revisionsprozess in Rennes am 2. September 1899 vernommen; dort kommt er auf seine Expertise zurück und entwickelt einige Punkte weiter.67 Von vornherein stellt er seine Methode dar, die darin besteht, sich auf die materiellen Elemente der Schrift und vor allem der Sprache zu konzentrieren, die „von Grund auf unabhängige Informationen“ biete.68 Er untersuchte das Faksimile || 64 „Louis Havet gehört zu denen, die bei den Wissenschaftlern dieses Engagement für Dreyfus verkörpern“, Anm. Duclert, La Ligue de ‚l’époque héroïqueʻ, S. 33f. 65 So in Belgien: Louis Havet, De Scheiding tusschen kerk en staat in Frankrijk, o.O. 1907, über die Gegebenheiten des Gesetzes über die Trennung von Kirche und Staat in Frankreich; oder in Uruguay über die Familie, ders., La Educación en familia, Montevideo 1909. 66 Ders., Le Devoir du citoyen français, Paris 1899; ders., L’amnistie, Paris 1900; ders., L’idée de loi, Paris 1900; ders., L’idée de fraternité des peuples, Paris 1902; ders., L’idée de l’enseignement laïque, Paris o.D. [1902]; ders., L’égalité intellectuelle, Troyes 1906. 67 Die Protokolle sind verfügbar in: Le Procès Zola devant la Cour d’Assises de la Seine (7–23 février) et la Cour de Cassation (31 mars–2 avril 1898). Compte rendu sténographique „inextenso“ et documents annexes, Bd. 1, Paris 1898 (die Aussage Louis Havets ist auf den Seiten 540–549 wiedergegeben), bzw. in: Conseil de guerre. Le procès Dreyfus devant le conseil de guerre de Rennes (7 août–9 septembre 1899). Compte rendu sténographique „in-extenso“, 3 Bde., Paris 1900, Bd. 3 (Havets Stellungnahme auf den S. 246–262). 68 Daran wird er vor dem Kriegsgericht in Rennes erinnern, Conseil de guerre, S. 253.
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des Bordereaus, wobei er es mit Schriftproben von Dreyfus und Esterhazy verglich:69 Nach seiner Ansicht konnte er die Schrift des Bordereaus als die Esterhazys aufgrund offensichtlicher Evidenz identifizieren, die ihm „in die Augen zu springen“70 scheint, jedoch auch aufgrund eines internen Beweises. Hier ist seine Schlussfolgerung gewagter: Es gibt unkorrekte und unangemessene Wendungen des Bordereaus, die offenbar auf jemanden hinweisen, der die Sprache nicht gut kennt oder wahrscheinlich in einer Fremdsprache denkt, gewisse Sätze wie diejenigen, die ein Engländer oder ein Deutscher schreiben würde. [...] Der Autor hat auf Deutsch gedacht und das französische Wort in einem unserer Sprache fremden Sinn eingesetzt.71
Havet legt seiner Expertise die normgemäße Vorstellung von der Sprache zugrunde, wobei er die „mathematische Genauigkeit des Stils Dreyfus’“72 der Unangemessenheit der Begriffe des Bordereau-Autors entgegenstellt. Einerseits gebe es die „normale Wendung der französischen Sprache“, andererseits eine „exotische Wendung“. Der von ihm eingenommene Standpunkt ist eher der des normorientierten Grammatikers als der des sachlichen Sprachwissenschaftlers. Havet nimmt eine vergleichende Korrektur vor. Er lässt sich von einer normativen Konzeption des „guten Französisch“ inspirieren, die darauf abzielt, sprachliche Fehler automatisch „Ausländern“ anzulasten, „die oft Französisch schlecht kennen oder schreiben, eben weil sie Ausländer sind“.73 Das Kriterium des grammatisch „guten Französisch“ oder des Französischen, „wie es ein Franzose schreiben muss“,74 reiht die grammatische Normgemäßheit unter die Werte der Nation, ja sogar des Vaterlandes ein. Diese nachdrückliche Betonung dient gewiss teilweise dem Zweck, das Publikum für sich einzunehmen, deshalb bleibt sie aber nicht weniger problematisch und auf technischem Gebiet, das Havet vor allem hervorheben wollte, ungeschickt.
|| 69 Le Procès Zola, S. 541. Vgl. auch Louis Leblois, L’affaire Dreyfus: l’iniquité, la réparation, les principaux faits et documents, Paris 1929, S. 59. Zu den Beiträgen Havets ebd., S. 158–159. Ebenfalls in: Crépieux-Jamin, L’expertise en écritures et les leçons de l’Affaire Dreyfus, S. 210. 70 „Ich bin sofort und ohne Forschungen, die diesen Namen verdienen, einfach durch die Evidenz und den unmittelbaren Augenschein, zu einer Überzeugung gelangt, die für mich vollkommen sicher ist. Dies ist die Schrift des Majors Esterhazy, dies ist nicht die Schrift von Dreyfus; das scheint mir in die Augen zu springen.“ Le Procès Zola, S. 541. 71 Ebd., S. 545. 72 Conseil de guerre, S. 255. „Hingegen gibt es in den Briefen des Hauptmanns Dreyfus niemals unkorrekte oder unangemessene Wörter“, ebd. 73 Le Procès Zola, S. 545. 74 Conseil de guerre, S. 247.
156 | Denis Thouard Die „grammatische“ Untersuchung „des Wortschatzes und der Syntax des Bordereau“, die er beim Prozess in Rennes bestätigen und vertiefen sollte, führte somit dazu, dieses Esterhazy zuzuschreiben: „Das Bordereau ist von der Hand Esterhazys, wie es die Schrift beweist, und es wurde von Esterhazy verfasst, wie es die Sprache beweist.“75 Seine Argumentation setzt beim Autor des Bordereau eine gute Kenntnis des Deutschen voraus, „wie bei Leuten, die Erinnerungen an eine andere Sprache ins Französische einbringen“, was dem österreichisch-ungarischen Profil des Beschuldigten vollkommen entspricht! So etwa erschließt er am Anfang des Bordereaus das deutsche Wort „Nachrichten“ aus dem französischen Wort „nouvelles“, dessen Gebrauch ihm hier unangemessen scheint: „Sans nouvelles m’indiquant que vous désirez me voir, je vous adresse cependant, Monsieur, quelques renseignements intéressants.“ – „Obwohl ich ohne Nachrichten von Ihnen bin, dass Sie mich zu sehen wünschen, sende ich Ihnen dennoch, Monsieur, einige interessante Auskünfte.“ Der Kommentar Havets: „Das Wort Nachrichten musste dem Schreiber auf verschwommene Weise im Kopf herumspuken und hat ihm diesen unkorrekten Ausdruck eingegeben.“ Nach seiner Auffassung wäre das Wort „avis“ anstelle von „nouvelles“ korrekter gewesen. Das „cependant“ („dennoch“) desselben Satzes scheint ihm gleichfalls verdächtig: „Dies ist eine Wendung der deutschen Sprache, und davon gibt es viele im Bordereau.“76 Havet stellt eine Menge von Unkorrektheiten zusammen, von denen jede einzelne gewiss mit bloßem Auge kaum wahrnehmbar ist und stattdessen den ein wenig pedantischen Blick des Philologen verlangt, und daraus leitet er „etwas Gemeinsames, eine Familienähnlichkeit“ ab, um „den Einfluss einer Fremdsprache“ festzustellen. Diese Verkettung von Elementen gilt ihm als Indiz, das auf Esterhazy hinweisen soll.77 Louis Havet urteilt hier fahrlässig, denn er schreibt Esterhazy eine ausländische Herkunft zu, die ihn angeblich daran gehindert hätte, das gute Französisch, das er bei Alfred Dreyfus anerkennt, auf der Schulbank gelernt zu haben. Das sei auf Französisch geschrieben, aber in einer anderen Sprache gedacht, die Havet nicht näher angibt. Verfällt er nicht gegen seinen eigenen Willen der Dreyfus-feindlichen Rhetorik? Nun war Esterhazy sicher eine zwielichtige Persönlichkeit und trug obendrein den Namen einer großen ungarischen Familie. Aber er war in Nîmes geboren und ein Waisenkind. Er hatte das Lycée Bonaparte (das spätere Lycée Condorcet) besucht, wo er seine Deutschkenntnisse er-
|| 75 Ebd., S. 260. 76 Ebd., S. 247. 77 Ebd., S. 250.
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warb, und er kannte nie ein Wort Ungarisch...78 Es fällt schwer, ihm das Bordereau mit der Begründung zuzuschreiben, dass „dieser Autor, wer es auch sei, nicht einfach jemand ist, der Französisch wie die ausschließlich in Frankreich erzogenen Leute spricht“!79 Havet hat sich scheinbar nach seinen eigenen Grundsätzen gerichtet, die er später äußerst genau in seinem Manuel de critique verbale verzeichnet hat, doch er urteilte trotzdem voreilig über „den Umwelteinfluss“, womit er sich der Gefahr aussetzte, den Wahrheitsgehalt seiner Methode tendenziell zu diskreditieren, selbst wenn dies für die gute Sache der Tatsachenwahrheit geschah. Anstatt sich auf die – höchst subjektive – Vorstellung vom korrekten Gebrauch der französischen Sprache zu stützen, hätte er sich an deren Problematisierung durch seinen Lehrer Gaston Paris erinnern müssen. In seiner Antrittsvorlesung am Collège de France hatte es dieser tatsächlich nicht versäumt, an den höchst problematischen Charakter des „Französischen“ zu erinnern – eigentlich sei es ein Dialekt der Île-de-France, der Erfolg gehabt habe.80 Der Blickwinkel der historischen Grammatik konnte den künstlichen Aufbau der normativen Grammatik nur noch mehr verdeutlichen. In seiner Kampagne für die Vereinfachung der Orthographie stützte sich Havet selbst auf eine Argumentation, die er aus dem kontingenten Wesen der gewählten Schreibweise herleitete. Dass er für den Fortschritt voreingenommen war, hatte Havet nicht daran gehindert, tatsächlich gegen seinen Willen einen reaktionären Diskurs aufzugreifen, den er bekämpft hatte. Die Annahme scheint also kaum zuzutreffen, dass die fachmännische Ausübung der Textkritik gewissermaßen Havet vor den ihm vom Gewissen diktierten Annahmen geschützt hätte, selbst wenn ihm das Thema so vertraut wie die Textarbeit war. Als Havet behauptet, das Argument der Sprache habe „seit dem Januar 1898 zu seiner ursprünglichen Überzeugung geführt“ – damals wusste er noch nichts von der Affäre –,81 erliegt er einer Selbstillusion, die eine Gewissensentscheidung zu Unrecht rationalisiert. Er hat seine Philologie ins Spiel gebracht, so wie Poincaré die Wahrscheinlichkeitsrechnung der Ursachen dargelegt hatte, um die Absurditäten des Systems Bertillons zu wider-
|| 78 Marcel Thomas beginnt sein Buch mit einer sehr nützlichen Untersuchung über das Leben von Charles-Marie-Ferdinand Walsin-Esterhazy (1847–1923): Thomas, L’Affaire sans Dreyfus, S. 23–58 („Le roman d’un tricheur“). 79 Conseil de guerre, S. 252. 80 Gaston Paris, Grammaire historique de la langue française, Mélanges, Paris 1906 [nachgedr. in: Aux origines de la linguistique française, hrsg. v. Gabriel Bergougnioux, Paris 1994], S. 144–160. 81 Conseil de guerre, S. 259.
158 | Denis Thouard legen.82 Doch sein Kult der Prinzipienstrenge hat ihn nicht vor übereilten Behauptungen bewahrt – wenn nicht im Grundsätzlichen, so doch wenigstens in seiner Argumentation. Da der von Havet bekundete Szientismus nicht auf so etwas vorbereiten konnte, da das Vertrauen in die wissenschaftliche Methode bei diesen Gegenwartsthemen an ihre Grenzen gestoßen war und ein gewisses, wenn auch beim Gegner angeprangertes Vorurteil offenbart hat und da die Register der moralischen Empörung und der geistigen Überzeugung überlagert wurden, führt dies zwangsläufig dazu, den außerordentlich großen Beweiswert der Bezugnahme auf einen „Gelehrten“ in einem Prozess oder, besser gesagt, der durch ihn vermittelten Bezugnahme auf die Wissenschaft zu relativieren.83 Havets Fall zeigt die vom staatsbürgerlichen Ethos bewirkte Voreingenommenheit, die dem Gewissen des Gelehrten zuvorkommt. Trotz ihrer Schwächen beziehungsweise Mängel haben die Expertisen der verschiedenen Textspezialisten, die insbesondere beim Zola-Prozess vorgeladen wurden, eine bedeutsame Wirkung ausgeübt, um die Wahrheit zu erhellen. Sie legten ‚objektive‘ Argumentationen dar; diese waren grundsätzlich von jedem Vorurteil unabhängig und stützten sich allein auf die Materialität der Beweisstücke, die vorgelegt wurden und die sie vergleichen sollten. Das barocke Wesen der Theorie von der ‚autoforgerie‘ (Fälschung durch den Autor), die Bertillon ad hoc erfunden hatte, konnte die Glaubwürdigkeit der Beweisführungen, die von den zahlreichen als Zeugen aufgerufenen Wissenschaftlern mit großem Präzisionswillen vorgenommen wurden, nur noch mehr verstärken.
5. Wahrheit oder Freiheit? Das Hauptergebnis der Affäre, das hinter dem beanspruchten Recht auf Wahrheit in einer Republik stand, die eine Demokratie sein wollte, war es, die Gegenmacht der Staatsbürger zu begründen. Die Institutionen sind die Stützpfeiler des republikanischen Staates, gewiss, doch sie sind deshalb nicht weniger der Kritik unterworfen, wenn es sich als notwendig erweist. Die Gelehrten – und die Wissenschaftler noch mehr als die Textspezialisten –, die Bewahrer der wissen|| 82 Vgl. Leblois, L’affaire Dreyfus, S. 172–184. 83 Vincent Duclert schreibt über die Rolle der Gelehrten: „Es gibt keine Instrumentalisierung der Wissenschaftler durch die Verteidigung, wohl aber eine Übereinstimmung der wissenschaftlichen Grundsätze mit den Zielen der Dreyfus-Anhänger“, Duclert, L’Affaire Dreyfus, S. 156. Das ist einigermaßen optimistisch. Im Fall Havets trifft die Argumentation tatsächlich nicht den Kern.
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schaftlichen Wahrheit, setzten sie als unhintergehbaren Horizont einer Humanität durch, die stolz darauf war, die Fackel der universellen Vernunft zu tragen. Nun kam aber dieses erhabene Ethos nicht ohne Pathos aus. Es brachte das Problem der Beziehung der Wissenschaftler zur Politik mit sich. Die Verbreitung der Protokolle des Zola-Prozesses gehörte bereits zu einer Form der Propaganda für die Wahrheit. In den Protokollen fand man die wortgetreue Wiedergabe der Aussagen und Dialoge vor Gericht, die die Zeitungen nur als Zusammenfassungen abdrucken konnten. Die Qualität der dortigen Argumentationen ist im Übrigen beachtlich. Der Bürger wurde aufgefordert, auf der Grundlage der Dokumente zu urteilen, das heißt, sich eine Überzeugung durch die eingehende Prüfung der widerstreitenden Argumente zu bilden. Die besondere Publikumsgunst für diese Frage, die Frankreich teilte, erhellt die Entstehung eines Bewusstseins des Staatsbürgers, der von den Wissenschaftlern aufgefordert wird, ‚kritischen Geist‘ walten zu lassen.84 Ein Philologe wie Havet beteiligte sich an der Bewegung, indem er sein gesellschaftliches Ansehen, das Prestige der prominenten Institutionen, in denen er sich betätigte, und seine wissenschaftliche Kompetenz im Dienst einer konkreten Sache einsetzte. Warum gerade diese? So etwas geschieht offensichtlich nicht aus Antimilitarismus, ebenso wenig aus Philosemitismus oder aus Solidarität mit einem Schriftsteller, der nicht immer in einem guten Ruf stand. Wie aus seinem offenen Brief vom 20. Januar 1898 hervorgeht, waren es die logische Widersprüchlichkeit und das intellektuell nicht vertretbare Niveau der von der Anklage befürworteten Argumentation, die ihn aus der Ruhe brachten. Doch dabei ging es um noch mehr, wie er während des Prozesses von Rennes selbst bekannte, nämlich um „das Argument der Sprache“,85 wobei er noch gar keine konkrete Vorstellung von der Affäre hatte. Man errät, welches Verlangen nach Textkritik wirken konnte, um den laufenden Prozess für einen philologischen Geist zu einem Stimulus zu machen. Gleichzeitig bot dies auch die Möglichkeit, einen hervorragenden Beweis für die gesellschaftliche Nützlichkeit der philologischen Wissenschaft als Ort des praktischen Wirkens des kritischen Geistes zu liefern. Im Widerspruch zu Klischeevorstellungen, die sich schon in der Antike herausgebildet hatten, also genauso alt wie die Philologie selbst waren und || 84 Schon im August 1914 ergriff der Staat jedoch im Namen höherer Interessen wieder die Initiative mit Blick auf die offizielle Wahrheit und überschwemmte mit seiner Propaganda die Gemüter, die keine Möglichkeit hatten, diesen ‚kritischen Geist‘ anzuwenden. Die Manipulation auf beiden Seiten des Rheins trug zu dem geisttötenden Gemetzel bei, das der Erste Weltkrieg war und das die besten Geister nicht verschonte; vgl. Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung: die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch, Berlin 2000. 85 Conseil de guerre, S. 259.
160 | Denis Thouard regelmäßig wiederbelebt wurden, konnte Havet – der sich hauptsächlich, vergessen wir das nicht, mit Rhetorik und lateinischen Komödien beschäftigte – in der Affäre die Gelegenheit wahrnehmen, um seiner Funktion als Gelehrter, die die notwendige Aufgabenteilung bei der Strukturierung der modernen Wissenschaft zwangsläufig technischen und besonderen Gegenständen vorbehalten hatte, einen universellen und gar politischen Inhalt zu geben.86 Louis Havet war von den großen Persönlichkeiten der philologischen Wissenschaft, Renan und Paris, geprägt worden. Schon in seiner Jugend übernimmt er die Ideologie des Fortschritts und der nicht von Antiklerikalismus freien Laizität unmittelbar von der Quelle. So versicherte er im Jahre 1902 vor der Freireligiösen Jugend: „Die religiöse Periode der Menschheit ist bei den Denkern bereits zu Ende. Es ist offensichtlich, dass sie bei den Volksmassen dieser Nation bald enden wird.“87 Diese Voraussage ist für seine Geisteshaltung bezeichnend. Es ist klar zu erkennen, was ihn von denen unterscheidet, die sich, angefangen mit Péguy, der Religion zuwenden. Der professionelle Philologe stürmt in die Arena. Er meldet sich in der Presse, sagt als Zeuge beim Prozess aus, betätigt sich politisch aktiv und reist viel umher. Er hält Ansprachen, der Gelehrte wird zum öffentlichen Redner, er findet die staatsbürgerliche Universalität des vir bonus wieder. Er tritt gegen eine ungerechte Verurteilung auf und übernimmt die ursprüngliche Geste einer Philologie, die gegen Verleumdungen kämpft.88 Er begründet seinen Protest mit dem Glauben an die wissenschaftliche Methode und noch mehr mit der Überzeugung, dass das Gute nicht vom Wahren unabhängig sein kann. Aber lässt die Praxis der politischen Konflikte noch einen Raum für diese scharfe Trennung von Ethos und Pathos und von Wahrem und Falschem? Wird die Haltung eines unnachgiebigen Szientismus nicht durch die offenkundige Fehldiagnose erschüttert, die seine Aussage in Rennes war? Die Ersetzung einer Sprachanalyse durch eine grammatische Bewertung im Sinne des richtigen Sprechens zeigt klar, dass die normative Dimension des wissenschaftlichen || 86 Havet hat sich nicht nur für die republikanische Schule eingesetzt, sondern sich auch für die Neustrukturierung des Hochschulstudiums interessiert; siehe seinen Beitrag zu der Kollektivveröffentlichung mit einem Vorwort von Émile Durkheim, La vie universitaire à Paris, Paris 1918: Dort stellt er die Abteilung der Geschichts- und philologischen Wissenschaften der EPHE (École Pratique des Hautes Études) vor, deren Originalität darin bestehe, die Studenten an der Forschungsarbeit zu beteiligen; ebd., S. 183–188. 87 Zit. in: Le sentiment religieux à l’heure actuelle, Paris, o. J. [1914]. 88 Duclert, L’Affaire Dreyfus, S. 285, stellt fest: „Der Wille, auf Verleumdungen zu antworten, liegt manchmal individuellem Engagement zugrunde.“.
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Ethos Havets Handeln weiter bestimmte. Er folgte Renan in seinem „Abscheu vor der Rhetorik“89 und wollte als Experte auftreten. Eher als von seinem Cicero hätte sich Havet nutzbringend vom Lieblingsautor seines Vaters inspirieren lassen können. Tatsächlich hätte ihn eine häufigere Beschäftigung mit Aristoteles vor einer allzu strengen Auffassung der Wahrheit zurückgehalten: Nachdem er gesagt hat, wenn es eine Rhetorik der Lüge gebe, so deshalb, weil man, um die Lüge zu entkräften, deren Kunstgriffe durchschauen müsse, vermischt und vereint er die Interessen der Wahrheit und die der Kunst durch die einfache Bemerkung, dass die gute Sache leichter als die schlechte zu vertreten sei, unter sonst gleichen Bedingungen. Dieser Satz ist weniger anspruchsvoll als die berühmte Maxime: Orator est vir bonus; doch er ist auch weniger angreifbar. Er ist eine Grundregel der Kunst, der andere ist vielmehr der Wunsch und die Empfehlung einer ehrlichen Seele.90
6. Schlussbemerkungen Es wäre allzu einfach, mit Blick auf die Vertreter einer ‚platonischen‘ bzw. szientistischen Konzeption der Wissenschaft lediglich darauf hinzuweisen, dass sich die Komplexität der Situationen rächt, in die sie hineingezogen werden. Es wirkt etwas ironisch, wenn man sieht, dass die Verteidiger des Verleumdeten ihre Wissenschaft in den Dienst der Gerechtigkeit (oder zumindest der gerechten Sache) stellen, ohne dass sie sich deshalb von einer leicht abgeänderten Form eben jener Vorurteile lösen können, die sie bei ihren Gegnern bekämpften. Die Geschichte zwingt dennoch nicht zur Skepsis. Sie zeigt, wie die Gestalt des vir bonus und selbst des honnête homme, der sich gesellschaftlich angemessen verhalten kann, aus dem Blickfeld verschwunden ist, weil er der zunehmenden Spezialisierung von Tätigkeiten zum Opfer fiel. Die moralische Sphäre lässt sich nicht mehr ohne Weiteres mit der gelehrten Sphäre verbinden. Es ist nicht so, dass die Aussichten, ein unerschütterliches moralisches Gewissen zu finden, kleiner geworden wären. Vor allem geht es darum, dass die wissenschaftliche Expertise in Anbetracht der komplexen Bewertungsprozesse nur noch einen fragmentarischen Aspekt des jeweils betreffenden Prozesses behandelt. Der Verzicht auf Pathos, die Distanz und die beanspruchte Objektivität ersetzen deshalb nicht das Ethos. Die Unparteilichkeit stellt das Ethos als Habi|| 89 In seiner Antwortrede für Ferdinand de Lesseps (23. April 1885) sagte Renan: „Sie verabscheuen die Rhetorik, und Sie haben ganz recht. Zusammen mit der Poetik ist sie der einzige Irrtum der Griechen.“ Ernest Renan, Discours et conférences, Paris 1887, S. 130. 90 Ernest Havet, Études sur la rhétorique d’Aristote, Paris 1846, S. 27. Erweiterter Text der Dissertation, ders., De la rhétorique d’Aristote, Paris 1843.
162 | Denis Thouard tus, als Verhaltensform dar, sagt jedoch nichts über die moralische Einstellung. Die Trennung der privaten und der öffentlichen Sphäre hat die Einheit des vir bonus aufgehoben. Die moralische und rechtliche Dimension der Interpretation ist verlorengegangen. Bestimmte Verfahrensregeln können sie nicht kompensieren. Sie ist eine Unbekannte. Die Dreyfus-Affäre veranlasste das plötzliche Eingreifen des moralischen Akteurs in einer Diskussion, die ihn sowohl auf Seiten der Positivisten oder Evolutionisten als auch der partikularistischen Anhänger der nationalen oder religiösen Tradition unwahrscheinlich erscheinen ließ. Im Zeitalter der Relativität der Werte, wenn Toleranz und beanspruchte Laizität jede Position als vorstellbar erscheinen lassen, ist die Transzendenz verschwunden. Sie wird beinahe nur noch von den Verteidigern einer orthodoxen Konzeption des katholischen Glaubens vertreten, dessen gefährdete Lage die modernistische Krise zeigt, die als späte Folge des Skandals um La Vie de Jésus erscheint91. Mitten in dieser relativistischen Welt entsteht nun ein neuer moralischer Anspruch mit politischen Konsequenzen, dessen Lehre die Liga für Menschenrechte in ihren Anfängen entwickelt. Während weniger Jahre hatte sich der moralische Ernst in einer Infragestellung der Traditionen und einem radikalen Nachdenken über die Grundlagen einer möglichen Republik verkörpert. Ein neues Ethos zeichnete sich ab und verschwand schnell durch die Zwänge der Praxis, anders gesagt, der Politik. Die Affäre hatte die Sehnsucht nach einem praktischen, mit Überzeugungswerten verbundenen Engagement hinterlassen, das lange, nachdem es in der Praxis verschwunden war, weiter im Hintergrund des politischen Lebens Frankreichs wirken sollte. Péguys Notre Jeunesse ist das Dokument dieser Trauer darüber, dass die Mystik, seinen Worten entsprechend, nämlich das moralische Ethos, hinter der Politik zurücktritt.92 Max Webers Kategorien des Überzeugungsethos und des Verantwortungsethos ermöglichen es nur teilweise, diesen Komplex zu erfassen, der sich zum Zeitpunkt der Affäre herausgebildet hat, denn Weber behandelt Fälle des Berufspolitikers und des Gelehrten getrennt voneinander, während das Grundproblem des wissenschaftlichen Ethos gerade in seiner politischen Tragweite besteht. Das politische Ethos entsteht in einer Republik, die sich schon in mittelmäßige Affären verwickelt hatte, und es erstrahlt flüchtig wie eine Sternschnuppe, doch es bleibt eine kritische Orientierung gerade für jene, die es mehr oder || 91 Über die Krise um den sog. ‚Modernismus‘ in den Jahren 1890–1910, die 1907 mit der Enzyklika Pascendi provisorisch gelöst wurde, siehe Dominique Dubarle (Hrsg.), Le Modernisme, Paris 1980. 92 Charles Péguy, Notre Jeunesse (1910), Paris 1933; ders., Par ce demi-clair matin (1905– 1906), Paris 1952 (Text von 1903 über Bernard Lazare, S. 211–257).
Ein Philologe in der Dreyfus-Affäre: Louis Havet | 163
weniger erfolgreich in die Tat umsetzen wollten, wie auch für jene, die sich nach der Affäre davon inspirieren ließen. Und wir? Was sagten wir? Wir sagten, dass eine einzige Ungerechtigkeit, ein einziges Verbrechen, eine einzige Ungesetzlichkeit, besonders, wenn sie offiziell sanktioniert und bestätigt wird, eine einzige Beleidigung der Gerechtigkeit und des Rechts, besonders, wenn sie allgemein, legal, national, bequem angenommen wird, ein einziges Verbrechen jeden Gesellschaftspakt, jeden Gesellschaftsvertrag bricht und genügt, ihn zu brechen, eine einzige Pflichtvergessenheit, eine einzige Schandtat genügt, um ein ganzes Volk um seine Ehre zu bringen und es zu entehren.93
Der modernen Gesellschaft liegt die Differenzierung der Aufgaben zugrunde. In ihrer Spezialisierungslogik entwertet sie oft die gemeinschaftliche Dimension, die grundlegende soziale Bindung. Dennoch gibt es Momente, in denen die Einheit der Werte zurückgewonnen wird, die den modernen vir bonus zum Kampf veranlassen. In diesen grundlegenden Momenten stimmen Pathos und Ethos überein. Dass dies nicht immer ohne eine gewisse Überlagerung des Logos vor sich geht, selbst wenn man sich nachdrücklich auf ihn beruft, hat man weiter oben gesehen. Dann drängt die Logik der Wissenschaftsentwicklung wieder zur Trennung dieser Dimensionen. Rückblickend scheint die Übereinstimmung eine Illusion zu sein. Aber das Ethos des Gelehrten beseitigt nicht das des Staatsbürgers, vielmehr ist es ein spezieller Fall davon. Die Gewissenhaftigkeit bleibt vorausgesetzt, obwohl die Trennung der Rollen die einheitliche Gestalt des ‚guten Mannes‘ scheinbar beseitigt. (Deutsche Übersetzung: Ulrich Kunzmann)
|| 93 Ders., Notre Jeunesse, S. 232.
164 | Denis Thouard
Das Bordereau
Der Text des Bordereau Obwohl ich ohne Nachrichten von Ihnen bin, dass Sie mich zu sehen wünschen, sende ich Ihnen dennoch, Monsieur, einige interessante Auskünfte. 1.) Eine Aufzeichnung über die hydraulische Bremse des 120-mm-Geschützes und über die Art, wie diese funktioniert hat. 2.) Eine Aufzeichnung über die Deckungstruppen. (Der neue Plan wird einige Änderungen bringen.) 3.) Eine Aufzeichnung über eine Veränderung bei den Artillerieverbänden. 4.) Eine Aufzeichnung über Madagaskar. 5.) Den Entwurf eines Schießhandbuchs der Feldartillerie (14. März 1894). Dieses letzte Dokument ist äußerst schwer zu beschaffen, und ich kann es nur sehr wenige Tage zu meiner Verfügung haben. Das Kriegsministerium hat den Truppenteilen eine bestimmte Anzahl geschickt, und die Truppenteile sind dafür verantwortlich. Jeder Offizier, der ein Exemplar besitzt, muss dieses nach dem Manöver zurückgeben. Wenn Sie also das, was Sie interessiert, daraus abschreiben wollen und es nachher zu meiner Verfügung halten, werde ich es holen. Es sei denn, dass Sie wünschen, ich solle es vollständig abschreiben lassen und Ihnen die Abschrift zuschicken. Ich bin im Begriff, zum Manöver abzureisen.
Toni Bernhart
„Von Aalschwanzspekulanten bis Abendrotlicht“ Buchstäbliche Materialität und Pathos im Häufigkeitswörterbuch der deutschen Sprache von Friedrich Wilhelm Kaeding Was ist Pathos der Wissenschaften? Eine pathetische Wissenschaft? Eine pathetische Wissenschaftlerin? Wann und wie wird Wissenschaft von Pathos affiziert? Leichter ist es wahrscheinlich zu benennen, was Pathos ist. Größe der Geste, hoher Gültigkeits- und Wahrheitsanspruch, Opulenz und Ornament gehören dazu. Gegenstand dieses Beitrags ist das Häufigkeitswörterbuch der deutschen Sprache von Friedrich Wilhelm Kaeding (1843–1928) aus dem Jahre 1898. 1 Hinsichtlich der Ansprüche, die das Werk erhob, und der Begeisterung, die mit ihm einherging, aber auch gemessen am Aufwand, der für seine Erstellung betrieben wurde, ist das Werk monumental. Es ist Ausdruck großer Geste und Äußerung von Pathos.
Abb. 1: Titelblatt.
|| 1 F[riedrich] W[ilhelm] Kaeding, Häufigkeitswörterbuch der deutschen Sprache. Festgestellt durch einen Arbeitsausschuß der deutschen Stenographiesysteme, Steglitz bei Berlin 1898.
166 | Toni Bernhart
1. Aufbau und Zweck des Wörterbuchs Das Buch ist 672 Seiten stark. Es gliedert sich in einen längeren ersten und einen kürzeren zweiten Teil.2 Der erste Teil trägt den Titel Wort- und Silbenzählungen. Er enthält Erläuterungen zu Zweck und Ziel des Wörterbuchs, zur angewandten Methode und zum Korpus sowie den eigentlichen Wörterbuchteil, bestehend aus der „Nachweisung der Wortformen“, „Nachweisung der nackten Haupt(Stamm-)silben“, „Nachweisung der Vorsilben und deren Verbindungen“ und „Nachweisung der Nachsilben“. Der zweite Teil mit dem Titel Buchstabenzählungen enthält Abschnitte zu Buchstabenhäufigkeiten nach unterschiedlichen Kriterien und Kombinationsmustern sowie einen „Nachtrag“ mit dem Nachweis der Häufigkeit von Interpunktionszeichen, spezielle Listen zu Silbenhäufigkeiten und einen kurzen Forschungsbericht, in dem Kaeding sein Wörterbuch als vorgänger- und beispielloses Vorhaben charakterisiert und auf William Gambles Häufigkeitsliste chinesischer Schriftzeichen aus dem Jahre 18613 als ansatzweise vergleichbaren Versuch hinweist. Es ist nicht bekannt, in welcher Auflagenhöhe Kaedings Häufigkeitswörterbuch erschien. Die kursorische Abfrage einschlägiger Bibliothekskataloge lässt vermuten, dass die Stückzahl der Auflage nicht besonders groß war; auch ist das Buch relativ gering verbreitet und liegt fast ausschließlich in Bibliotheken deutschsprachiger Länder. Eine deutlich weitere Verbreitung lässt die ReprintAusgabe (in Auszügen) in den Grundlagenstudien aus Kybernetik und Geisteswissenschaft von 1963 erkennen.4 Geschuldet ist die relativ geringe Verbreitung der Originalausgabe wohl auch dem Umstand, dass das Buch im Selbstverlag des Herausgebers erschien. || 2 Der längere erste (S. 1–502) und der kürzere zweite Teil (S. 503–672) sind fortlaufend paginiert, haben aber jeweils ein eigenes Titelblatt mit dem Erscheinungsjahr 1897. Möglicherweise waren Exemplare der beiden einzelnen Teile als Vorab-Ausgaben im Umlauf. Die heute noch erhaltenen und im Umlauf befindlichen Buchausgaben bestehen aus der Zusammenführung der beiden Teile, ergänzt um einen Vorspann (S. I–VI), aus einem zusätzlichen Titelblatt, welches das Häufigkeitswörterbuch auf das Jahr 1898 datiert, und einem Inhaltsverzeichnis, das sich über den ersten und den zweiten Teil erstreckt. Dieser Umstand hat zur Folge, dass das Häufigkeitswörterbuch bibliographisch mit unterschiedlichen Erscheinungsjahren erfasst wird (1897 oder 1898). 3 William Gamble, Two lists of selected characters containing all in the Bible and twentyseven other books, Shanghai 1861. 4 Friedrich Wilhelm Kaeding, Häufigkeitswörterbuch der deutschen Sprache, 1. Teil: Wortund Silbenzählungen (auszugsweise Reproduktion), 2. Teil: Buchstabenzählungen (Auszug aus dem Nachtrag), Quickborn bei Hamburg 1963 (Grundlagenstudien aus Kybernetik und Geisteswissenschaft 4).
„Von Aalschwanzspekulanten bis Abendrotlicht“ | 167
Eine Besonderheit des Buches sind die Corrigenda. Im Abschnitt „Fehlerberichtigung“5 sind sie in gedruckter Form aufgelistet. Gleichzeitig sind sie in wohl allen Exemplaren auch handschriftlich umgesetzt. Der Vergleich dreier Exemplare aus unterschiedlichen Aufstellungsorten6 lässt erkennen, dass die handschriftlichen Korrekturen von derselben Hand ausgeführt wurden. Dies lässt die Annahme zu, dass sie entweder von Kaeding selbst oder von einer von ihm beauftragten Person vor der Auslieferung in allen gedruckten Exemplaren vorgenommen wurden. Auch darin drückt sich Kaedings akribische Arbeitsweise aus. Man kann im Kaeding nachschlagen, wie oft ein Wort, ein Buchstabe, eine Silbe oder ein Satzzeichen in der deutschen Sprache vorkommen. So erfahren wir, dass „die“, „der“ und „und“ die drei häufigsten Wörter, der Vokal e und die Konsonanten n und r die drei häufigsten Buchstaben sowie Komma und Punkt mit deutlichem Abstand vor allen anderen die zwei häufigsten Interpunktionszeichen der deutschen Sprache sind.7 Kaedings Zählungen und Berechnungen geben Auskunft darüber, dass ein deutsches Wort aus durchschnittlich 1,83 Silben8 und eine deutsche Silbe aus durchschnittlich 3,03 Buchstaben besteht9 und dass eine überaus geringe Zahl von Wörtern (0,13%) eine überaus große Zahl der Belege liefert und umgekehrt: 49,14% aller Wörter sind nur ein einziges Mal belegt.10 Die Beobachtung dieser Verteilung, die für alle Sprachen gleichermaßen gilt, ist eine Vorwegnahme dessen, was später nach George K. Zipf (1902–1950) als Zipf’sches Gesetz bezeichnete wurde, welches besagt, dass das Produkt aus Rang und Häufigkeit eines Wortes konstant ist. Kaedings Anspruch aber ist weit spezifischer und differenzierter, als dass es ihm lediglich um die positivistische Dokumentation quantitativer Daten aus Sprache ginge. Ziel seiner Häufigkeitsuntersuchungen war die Optimierung und Standardisierung der Stenographie, die bis zur Erfindung von Geräten für akustische Sprachaufzeichnung eine konkurrenzlose Kulturtechnik war. Im Besonderen ging es Kaeding also um
|| 5 Kaeding, Häufigkeitswörterbuch, S. 670f. 6 Miteinander verglichen wurden die Exemplare der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz mit der Signatur HA 5 Rx 2911 und der Universitäts- und Landesbibliothek Tirol, Innsbruck, mit der Signatur GB 1571 K11 sowie das kassationierte Exemplar der ehemaligen Pädagogischen Hochschule Rheinland, Abteilung Bonn, mit der Signatur IIIc 1301, das der Verfasser dieses Beitrags in einem Antiquariat erworben hat. 7 Kaeding, Häufigkeitswörterbuch, S. 53, 643, 648f. 8 Ebd., S. 32. 9 Ebd., S. 513. 10 Ebd., S. 44.
168 | Toni Bernhart 1. die Häufigkeit der einzelnen Wörter, 2. die Häufigkeit der einzelnen Silben, 3. die Häufigkeit der einzelnen Laute, 4. die Häufigkeit der einzelnen Buchstaben und zwar a) der einzelnen Buchstaben, b) der Zusammensetzungen, c) der Verschmelzungen.11
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es, allein für die deutsche Sprache, viele hundert miteinander konkurrierende stenographische Schriftsysteme. Namhafte Kurzschriftpioniere waren der bayerische Ministerialbeamte Franz Xaver Gabelsberger (1789–1849), der Berliner Versicherungsbeamte und Privatgelehrte Heinrich August Wilhelm Stolze (1798–1867) und der Berliner Knopffabrikant und Schreibmaschinenhändler Ferdinand Schrey (1850–1938). Im Jahr 1897 wurde die so genannte „Systemurkunde“ unterzeichnet, welche die Schreibsysteme von Stolze und Schrey vereinheitlichte. Dieses Stolze-Schrey-System ist in der Schweiz bis heute gültig. Deutschland und Österreich einigten sich 1924 auf die „Deutsche Einheitskurzschrift“ (DEK), die nach einer weiteren Reformierung 1968 in der auch heute noch gültigen „Wiener Urkunde“ festgeschrieben wurde. Die DDR trat 1970 diesem Regelwerk bei. Kaeding wurde am 18. September 1843 in Rathenow geboren, besuchte dort das Gymnasium bis zur Sekunda und war später beim dortigen Kreisgericht beschäftigt. Im Jahre 1868 zog er nach Berlin, wo er ab 1873 bei der Reichsbank tätig war (1882 Kalkulator, 1895 Oberkalkulator, 1899 Rechnungsrat, 1910 Geheimer Rechnungsrat). Zusammen mit dem Stenographen Adolf Dreinhöfer (1852–1896) gründete er 1874 den Verband Stolze’scher Stenographenvereine. Als Verbandsfunktionär und Autor zahlreicher Fachbeiträge zur Stenographie war er maßgeblich an der Vereinheitlichung der Schriftsysteme beteiligt.12 Stenographische Schreibsysteme sind für jeweils nur eine einzelne Sprache verwendbar. Sie operieren nach den Prinzipien der Kürzung und Zusammenziehung wiederkehrender Buchstaben-, Silben- und Wortfolgen. Stenographie zielt darauf ab, häufige Wörter und häufige Buchstabenfolgen durch möglichst einfache Schriftzeichen abzubilden und dadurch möglichst schnell schreiben zu können. Kurzschrift in ihrer effizientesten Form, der so genannten Eilschrift, ist in der Lage, deutlich schneller zu schreiben, als jemand spricht. Untersuchungen zur Feststellung der Häufigkeit deutscher Wörter, Silben, Laute und Lautverbindungen sind bisher in größerem Umfange noch nicht ausgeführt worden [...]. Diese Untersuchungen sind aber unbedingt erforderlich, wenn man ein wirklich zweckmäßiges stenographisches System aufstellen oder ein vorhandenes ausbilden will [...]. Die || 11 Ebd., S. 10, Hervorhebung im Original. 12 Biographische Notiz nach Karl-Heinz Best, Friedrich Wilhelm Kaeding (1843–1928), in: Glottometrics 18 (2009), S. 81–87, hier S. 81. Enthält auch eine Übersicht von Kaedings Publikationen zu Stenographie.
„Von Aalschwanzspekulanten bis Abendrotlicht“ | 169 Frage nach der Häufigkeit eines Wortes, einer Silbe oder eines Buchstaben, sowie irgend welcher Verbindung dieser Sprachbestandteile untereinander müssen sich die Vertreter der stenographischen Systeme stets vorlegen, wenn sie Verbesserungsanträge in erschöpfender Weise prüfen wollen.13
Kaedings Innovation besteht darin, die Entwicklung und Optimierung stenographischer Schriftzeichen erstmals auf eine systematische und empirische Basis zu stellen: Wenn empirisch gesichert ist, welche Wörter, Buchstabenfolgen und Laute in einer Sprache die häufigsten sind, lassen sich umso gezielter effiziente Kurzschriften entwickeln. Die Abb. 2 zeigt einen Auszug aus der Seite 53 mit den am häufigsten belegten Wörtern. Auffallend ist auch Kaedings begeisterte Zuversicht, dass nicht nur die „stenographische Wissenschaft“14 Nutznießerin seiner Forschung sei, sondern dass auch eine Reform der Schreibschrift insgesamt daraus abgeleitet werden könnte: Erst jetzt bekommen wir einen klaren Einblick in die Zusammensetzung der Sprache, erst jetzt gewinnen wir den Überblick über die Wertverhältnisse der Buchstaben zu einander, welcher uns eine genaue Abschätzung ermöglicht. Wir werden nun auch mit Leichtigkeit berechnen und nachweisen können, in welch unverantwortlicher Weise die deutsche Schrift die Kraft des Schreibers vergeudet, wir werden die Wege zur Abhilfe finden lernen und in absehbarer Zeit den Schriftverkehr vereinfachen können, nicht durch die Abschaffung der Formen, sondern, was wichtiger ist, durch die Abschaffung des überflüssigen Ballasts an Zeichen. Dass neben der Kurrentschrift auch die stenographische Schrift von dieser Möglichkeit den ausgiebigsten Vorteil ziehen wird, ist selbstverständlich und bedarf hier keiner weiteren Erläuterung.15
|| 13 Kaeding, Häufigkeitswörterbuch, S. 5. 14 Ebd., S. 505. 15 Ebd.
170 | Toni Bernhart
Abb. 2: „Nachweisung der Wörter aus Abteilung A nach der Häufigkeit geordnet“ (S. 53) mit handschriftlichen Korrekturen, vermutlich von Kaedings Hand.
2. Vorlauf und Arbeit am Wörterbuch Den Hintergrund und das Entstehen seines Häufigkeitswörterbuchs dokumentiert Kaeding ausführlich. Die Ende des 19. Jahrhunderts etablierten Kurzschriftsysteme entbehren laut Kaeding einer empirisch gesicherten Grundlage: Sie basieren auf unzureichend großen Korpora und stellen einen „Notbehelf“ dar. Kaeding errechnet, dass erst ein Korpus (er spricht von „Zählstoff“) mit 10 Millionen Wörtern eine tolerierbare „Abweichung[] von der Durchschnittshäufigkeit bei den in Rechnung gestellten Wörtern“ von 3% aufweist und hinreichend groß ist, um sprachspezifisch hoch frequente Wörter, Buchstaben und Zeichenfolgen zu bestimmen und auf dieser Grundlage ein stenographisches System zu optimieren.16 Das Korpus, das Kaeding dem Häufigkeitswörterbuch zugrunde legt, umfasst genau 10.906.235 Wörter17 bzw. 60.558.018 Buchstaben.18 || 16 Ebd., S. 6. Damit erfüllt Kaeding hinsichtlich des Korpusumfangs auch heute noch empfohlene Größenordnungen: Willy Martin, The Frequency Dictionary, in: F. J. Hausmann u.a. (Hrsg.), Wörterbücher. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie, Berlin 1990 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 5), Bd. 2, S. 1314–1322, hier S. 1317, empfiehlt für ein Frequenzwörterbuch ein Korpus aus mindestens 500.000 Wörtern. 17 Kaeding, Häufigkeitswörterbuch, S. 25. ‚Wörter‘ hier im Sinne der Häufigkeit insgesamt: 258.173 Wörter (S. 43) (im Sinne von Tokens) kommen insgesamt 10.906.235-mal vor. 18 Ebd., S. 513.
„Von Aalschwanzspekulanten bis Abendrotlicht“ | 171
Auf Vorschlag des Verbandes Stolze’scher Stenographenvereine, nicht unmaßgeblich in der Person von Kaeding selbst, beschloss der so genannte Stolzetag, die jährliche Hauptversammlung des Verbandes, im September 1891 in Berlin die „baldige Inangriffnahme“ „ausgedehnter Häufigkeitsuntersuchungen“, übertrug Kaeding die Planung und Leitung der „Untersuchungen zur Feststellung der Häufigkeit der Wörter, Silben und Laute in der deutschen Sprache“ und setzte dazu einen Arbeitsausschuss ein. Als große Schwierigkeit erwies sich die Aufbringung der erforderlichen Mittel. Die Stolze’sche Schule steuerte „an Geldmitteln mehr als die Hälfte des ganzen Bedarfes“ bei; woher der andere Teil der Mittel kam und wie hoch die Projektkosten insgesamt waren, dazu macht Kaeding keine Angaben.19 Der größte Teil der Arbeitsleistung der schätzungsweise über 1.000 Mitarbeiter, die zwischen 1891 und 1897 mit dem Zählen und „Buchen“ der Wörter, Silben und Buchstaben und den zahlreichen Berechnungen beschäftigt waren, erfolgte ehrenamtlich. Unterstützt wurde das Vorhaben auch durch zahlreiche Aufrufe in stenographischen Fachzeitschriften und der Tagespresse.20 Die größte Herausforderung bestand mangels entsprechend umfassender und systematischer Vorgängerprojekte in der Entwicklung der Systematik und Methode für eine derartige Untersuchung. Ein erster Schritt war die Korpusbildung.21 Kaeding war es wichtig, dass der „verwendete Zählstoff“ „möglichst alle Wissensgebiete“ berücksichtigte; er wurde in 16 „Abteilungen“ untergliedert: 1. juristisch, 2. kaufmännisch (aus Abhandlungen allgemeiner Art), 3. desgl. (aus Briefen), 4. theologisch, 5. medizinisch, 6. geschichtlich, 7. gemischt (aus Zeitungen und Büchern verschiedener Zweige), 8. militärisch (allgemeinen Inhalts), 9. militärisch (Briefe), ferner entnommen 10. aus Privatbriefen, 11. dem Buch der Erfindungen von Reuleaux,22 12. Klassikern und Novellisten, 13. der deutschen Rundschau, 14. der Bibel (hiervon nur 100.000 Worte), außerdem 15. parlamentarisch, 16. volkswirtschaftlich.23
|| 19 Ebd., S. 7. 20 Ebd., S. 8. 21 Nachweis aller Korpustexte: ebd., S. 12–20. 22 Gemeint ist Franz Reuleaux, Das Buch der Erfindungen, Gewerbe und Industrien. Rundschau auf allen Gebieten der gewerblichen Arbeit, 8 Bde., 8. Aufl., Leipzig 1884–1888. 23 Kaeding, Häufigkeitswörterbuch, S. 11. Unter den „Klassikern und Novellisten“ befinden sich Ludwig Börne, Ernst Eckstein, Goethe, Wilhelm Hauff, Johann Peter Hebel, E.T.A. Hoffmann, Jean Paul, Kleist, Theodor Körner, August von Kotzebue, Lessing, Martin Luther, Jean Baptist Racine (in deutscher Übersetzung), Ernst Raupach, Jean-Jacques Rousseau (in deutscher Übersetzung), George Sand (in deutscher Übersetzung), Schiller, Shakespeare (in deutscher Übersetzung) u.a.m.
172 | Toni Bernhart Vorbereitend erstellte der Arbeitsausschuss unter Kaedings Leitung einen Arbeitsplan mit „Arbeitsanweisungen“; hierbei war „der Leiter des Königlich Preußischen Statistischen Büreaus, Herr Geheimer Oberregierungsrat Blenck in 24 Berlin“ beratend tätig. In der „Abteilung 1“, welche dezentral die „Anfangsarbeit“ leistete, waren 665 Mitarbeiter tätig. Sie hatten die Aufgabe, die sämtlichen zur Zählung bestimmten Wörter auf einzelne Zählzettel auszuschreiben und dadurch die Grundlage für die weitere Verarbeitung zu bilden. Von den beiden Möglichkeiten „Strichelung“ und „Zählzettel“ wählte der Arbeitsausschuß den sichersten Weg, das Ausschreiben jedes Wortes der zu untersuchenden Druckbogen auf einen besonderen Zählzettel von 3 cm Höhe und 7 cm Länge.25
Die „Abteilung 2“, in der 167 Mitarbeiter tätig waren, bestand aus den so genannten „Sammelstellen“: „Je 100.000 Wörter bildeten einen größeren Arbeitsteil, ‚Sammelstelle‘ genannt, und solcher Arbeitsteile waren 100 nötig, um die als zweckmäßig erkannte Zahl von 10 Millionen Wörtern unterzubringen.“26 In den Sammelstellen wurden die Zählungen aus den „Anfangsarbeiten“ zu Teilkorpora von jeweils 100.000 Wörtern zusammengeführt: „Die Inhaber der Sammelstellen hatten die Pflicht, die ihnen von den ‚Anfangsstellen‘ zugehenden alphabetisch vorgeordneten Zettel in eine einzige alphabetische Ordnung zu bringen, [...] das Ganze doppelt zu prüfen und Einheitszettel für jedes Wort ihrer Stelle zu schreiben.“27 In der „Abteilung 3“ führten 106 Mitarbeiter die „Buchungen“ durch: Anhand der „Einheitszettel“ aus der Abteilung 2 und der „Zählzettel“ aus der Abteilung 1 wurden hier „Buchungspäckchen“ gebildet und für jedes einzelne Wort ein „Buchungsblatt“ ausgefüllt. Darin wurden die Häufigkeiten nach ihrer Verteilung über die „Wissensgebiete“ (juristisch, kaufmännisch, theologisch etc.) untergliedert. Es gab 84 Buchungsstellen.28 In der „Abteilung 4“ erfolgte die „Anlegung der alphabetischen Nachweisung“. 94 Mitarbeiter wirkten darin mit. Es wurde „eine einzige alphabetische Liste des ganzen Stoffes aufgestellt“; sie „umfaßt 817 Hefte von je 5 Bogen, also 4.085 Bogen“. „Jedes Heft wurde für sich doppelt aufgerechnet, nachdem die Eintragungen doppelt geprüft worden waren.“ Die dabei ermittelte Fehlerquote
|| 24 Ebd., S. 22. 25 Ebd., Hervorhebung im Original. 26 Ebd., S. 23. 27 Ebd., S. 24. 28 Ebd., S. 25–31.
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beträgt „0,00019% der Wörter“: „eine Zahl, die für die peinliche Sorgfalt bei der Arbeit spricht“, wie Kaeding kommentiert.29 Die „Abteilung 5“ (148 Mitarbeiter) zerlegte zusammengesetzte Wörter in ihre alphabetisch geordneten Glieder, die „Abteilung 6“ (72 Mitarbeiter) war für die „Zerlegung der einfachen Wörter und der nach der Abtrennung der Vorsilben übrig gebliebenen Wörter und Wortstümpfe“ zuständig, in der „Abteilung 7“ zerlegten 68 Mitarbeiter die „Wörter in die Unterbestandteile: Konsonanten und Vokale“, in den Abteilungen 8 bis 11 schließlich wurden Überblickslisten aller Vor-, End- und Nebensilben sowie aller Vokale und Konsonanten erstellt. Die „Abteilung 12a und b“ erbrachte „die Schlußarbeitsanweisungen für die Nachprüfung der alphabetischen Liste und der Liste der nackten Stämme“, 50 Mitarbeiter und „Herr Pastor Koch in Töchtelborn“ waren damit betraut.30 Kaeding verfasste am Ende die „Urschrift“ des Häufigkeitswörterbuchs und besorgte die Drucklegung. Nicht ohne Stolz schreibt er im ersten Absatz seines Vorworts: Mit dem vorliegenden Werke übergebe ich dem deutschen Volke die Ergebnisse einer mehr als fünfjährigen angestrengten Arbeit vieler Personen mit dem Wunsche, daß die erreichten Feststellungen brauchbare Unterlagen für weitere wissenschaftliche Forschungen bieten mögen. Ich bin überzeugt, daß trotz der aufgewendeten Mühe, nicht alle von den verschiedenen Kreisen zu stellenden Fragen ihre Beantwortung finden werden, man erhält aber überall die Grundlage für die zu bestimmten Zwecken erforderlichen Anschlußarbeiten und Ergänzungen, da der Stoff bis in die kleinsten Einzelheiten zergliedert und übersichtlich zusammengestellt worden ist.31
|| 29 Ebd., S. 31f., Hervorhebung im Original. 30 Ebd., S. 32–37. 31 Ebd., S. 1.
174 | Toni Bernhart
3. Das Archiv des Wörterbuchs Welch gewaltige Anstrengung die Realisierung eines solchen Projekts bedeutete, lässt sich unschwer erahnen. Mit welchem Eifer und welcher Begeisterung Kaeding – neben seiner Arbeit als Kalkulator der Reichsbank – sich für das Vorhaben engagierte, geht deutlich zwischen den Zeilen (genauer: zwischen den Buchstaben und Zahlen) seines opus magnum hervor. Kaeding scheut auch nicht davor zurück, die ablehnende Haltung oder nicht, zu spät oder nur widerwillig eingebrachte Arbeits- und Verbesserungsvorschläge seitens einiger Stenographenkollegen zu rügen. Auch bedauert er, dass es seitens der zeitgenössischen Sprachwissenschaft kein Interesse und auch keine Unterstützung gab: Was zunächst die Sprachforschung anlangt, so hätte nach dieser Seite hin noch vieles erreicht werden können, wenn die deutsche Gelehrtenwelt dem Werke von Anfang an mehr Beachtung geschenkt, dem Arbeitsausschusse ihre Wünsche dargelegt und die nötigen Arbeitskräfte und Geldmittel zugeführt hätte. Die ersten Arbeitsanweisungen hätten dementsprechend abgefaßt werden und die Arbeiten ohne wesentliche Vermehrung der Arbeitslast den weitergehenden Wünschen Rechnung tragen können. Da aber keinerlei Beteiligung von Seiten der Gelehrten sich zeigte, so hatte der lediglich für stenographische Zwecke eingesetzte Arbeitsausschuß keine Veranlassung, sich mit Dingen zu befassen, die seinem eigentlichen Wirkungskreise fern standen. Trotzdem bin ich überzeugt, daß auch für die Sprachwissenschaft sehr viel Neues und Wissenswertes aus unserem Werke sich ergeben wird, wenn die weitere Verarbeitung des Stoffes von kundiger Hand geschieht.32
Kaeding ahnte und wusste sehr wohl, dass seine Arbeit und jene seiner aberhundert Mitarbeiter unterschiedliche Anschlussstellen für weiterführende Forschungen böte: Die Buchungsblätter bieten einen ganz vorzüglichen Stoff für denjenigen, dem es auf das Vorkommen bestimmter Wörter in bestimmten Stoffgattungen ankommt. Der Linguist z.B. kann sich Auszüge fertigen lassen aus den ihn besonders anziehenden Abschnitten: Klassiker und Novellisten sowie dem privaten Briefstil. Ebenso kann getrennt festgestellt werden, wie oft die Wörter vorkommen: im juristischen Stoff, im militärischen, im gemischten u.s.w. Dieser Nachweis ist für jedes Wort bis ins kleinste möglich.33
Die Daten, die für das Häufigkeitswörterbuch erfasst wurden, sind weit umfangreicher, als sie dort veröffentlicht werden konnten. Kaeding war es ein Anlie-
|| 32 Ebd., S. 10. 33 Ebd., S. 31.
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gen, die Wissensbestände, die sich während der Arbeit akkumulierten, für Anschlussarbeiten aufzubewahren und der Nachwelt zu überliefern: Eine Veröffentlichung des Inhaltes der sämtlichen Buchungsblätter ist natürlich unmöglich. Die Buchungsblätter und die Zählzettel der zusammengesetzten Hauptwörter, die Urschrift der alphabetischen Liste, die sämtlichen Arbeitsanweisungen und eine Sammlung von auf die Untersuchungen bezüglichen Schriftstücken sollen der Königlichen Bibliothek in Berlin übergeben werden.34
Das vollständige Archiv des Häufigkeitswörterbuchs liegt heute unter der Signatur „Nachlass 394 (Friedrich Wilhelm Kaeding)“ in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz.35 Kaedings konsequente Arbeitsweise berechtigt zur Annahme, dass er bald nach Abschluss der Arbeit am Häufigkeitswörterbuch und nach Erscheinen desselben, also bald nach 1898, die oben genannten Bestände der ehemaligen Königlichen Bibliothek in Berlin übergab. Daraufhin aber musste das Wörterbuch-Archiv über sehr viele Jahrzehnte in Vergessenheit geraten sein, denn erst im Jahre 2001 und im Zuge der Zusammenführung der Handschriftenabteilungen der ehemaligen Deutschen Staatsbibliothek in Berlin (Ost) und der ehemaligen Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin (West) wurde der Bestand als „Nachlass 394 (Friedrich Wilhelm Kaeding)“ formell von der Staatsbibliothek akzessioniert.36 Weder die Benutzungsgeschichte des Nachlasses noch die ohnedies spärliche Forschung zu Kaeding und seinem Wörterbuchprojekt lassen erkennen, dass jemals irgendjemand – weder Zeitgenossen Kaedings noch Nachgeborene – Einsicht in den Nachlass genommen hätte. Kaedings Nachlass ist überaus umfangreich und umfasst 153 Kästen.37 Darin enthalten sind die Archivalien, deren Übergabe an die Königliche Bibliothek Kaeding angekündigt hatte: die Arbeitsanweisungen, die Zählzettel der zusammengesetzten Hauptwörter, die Buchungsblätter, die Nachweise der Korpustexte und weitere Arbeitsunterlagen (darunter auch Korrespondenz) in Zusammenhang mit dem Häufigkeitswörterbuch. Anhand der Dokumentation des || 34 Ebd. 35 Der Verfasser dankt der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz für die Benutzung des umfangreichen Nachlasses von Friedrich Wilhelm Kaeding und für die Erlaubnis, Fotos daraus anzufertigen und diese hier zu veröffentlichen. 36 Persönliche Mitteilung von Dr. Jutta Weber, stv. Leiterin der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, an den Verfasser am 22.6.2013. 37 Eine grobe Übersicht über den Bestand vermittelt die Archivdatenbank Kalliope über „Sucheinstieg Bestände“ unter http://kalliope.staatsbibliothek-berlin.de/ [letzter Zugriff am 16. Januar 2015].
176 | Toni Bernhart Arbeitsprozesses im Häufigkeitswörterbuch (siehe oben) lassen sich der Funktionszusammenhang der Archivalien und der gesamte Arbeits- und Entstehungsprozess des Wörterbuchs rekonstruieren. Der außerordentlich umfangreiche und lückenlose Materialbestand macht die Arbeit am Wörterbuch erfahrbar und erlebbar. Darüber hinaus sind die Materialien in ihrer Objekthaftigkeit auch von besonderem ästhetischem Reiz. Exemplarisch werden einige davon im Folgenden vorgestellt. Im gedruckten Häufigkeitswörterbuch sind die Nachweise der Korpustexte, wohl aus Platzgründen, relativ knapp gehalten.38 Das Archiv jedoch enthält eine Kartei, bestehend aus mehreren Kästen, in der sämtliche Quellen nachgewiesen sind. Die Abbildungen 3 und 4 zeigen einen Blick in die Kartei über die Buchstabenstrecke M bis Pz.
Abb. 3 und 4: Blick in die Kartei der Korpustexte.
Die in ihrer Objekthaftigkeit und Materialität wohl faszinierendsten Archivalien sind die „Zählzettel der zusammengesetzten Hauptwörter“. Jedes einzelne Wort (im Sinne eines ‚Token‘) aus dem Korpus wurde „auf einen besonderen Zählzettel von 3 cm Höhe und 7 cm Länge“ „ausgeschrieben“.39 Die Zählzettel der einfachen Wörter wurden offensichtlich nicht aufgehoben, wohl aber jene der Komposita. In fünf Kästen mit jeweils acht Laden sind diese Zettel, zu Päckchen geschnürt, aufbewahrt. Öffnet man einen solchen Kasten, gelangt man wie durch Schichten zum einzelnen Wort.
|| 38 Kaeding, Häufigkeitswörterbuch, S. 12–20. 39 Ebd., S. 22.
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Abb. 5: Beschriftung des 1. Kastens der „Zählzettel der zusammengesetzten Hauptwörter“.
Hebt man den Deckel ab, wird das Deckblatt sichtbar, das auf der ersten Lade mit den Wörtern „Von Aalschwanzspekulanten bis Azurblau“ liegt:
Abb. 6: Deckblatt der ersten Lade: „Von Aalschwanzspekulanten bis Azurblau“.
178 | Toni Bernhart Die Lade unter dem Deckblatt (Abb. 7) ist in vier Fächer unterteilt, welche die Päckchen mit den 3 mal 7 cm großen Zetteln enthalten. Schwarze Stofflaschen erleichtern das Herausheben der Lade aus dem Kasten. Acht solcher Laden, die aus steifem Karton gefertigt sind, sind übereinander in jedem der fünf Kästen enthalten. Jede Lade enthält rund 25 bis 35 solcher Päckchen von unterschiedlichem Umfang.
Abb. 7: Blick auf die erste Lade.
Die einzelnen Päckchen werden von verklebten Papierlaschen zusammengehalten. Alle Laschen sind beschriftet und benennen den jeweiligen Inhalt. Abb. 8 zeigt das Päckchen „Von Aalschwanzspekulanten bis Abendrotlicht“. Es ist in alphabetischer Reihenfolge das erste Päckchen der ersten Lade, dort (Abb. 7) befindet es sich in der rechten oberen Ecke.
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Abb. 8: Das Päckchen der Zählzettel „Von Aalschwanzspekulanten bis Abendrotlicht“.
Der oberste Zettel enthält das Wort „Aalschwanzspekulanten“ (Abb. 9). Die Ziffer „1“ (in roter Tinte) bedeutet, dass ein Beleg für dieses Wort in der „Abteilung 1“, die für das „Ausschreiben“ der Wörter aus dem „Zählstoff“ zuständig war, gefunden wurde. Der Stempel (in blauer Farbe) weist nach, dass dieses Wort im Rahmen der „Buchung“, die in „Abteilung 3“ anhand der „Zählzettel“ und „Einheitszettel“ erfolgte, im „Buch No. 042“ erfasst wurde.
Abb. 9: Zählzettel „Aalschwanzspekulanten“.
Mittels der „Buchungsblätter“ erfolgte in „Abteilung 3“ gewissermaßen die Lemmatisierung der Tokens. Kaedings Nachlass enthält sämtliche Buchungsblätter aller 258.173 Wörter, die im Projektverlauf erfasst wurden, also auch die Buchungsblätter der Wörter mit einer Häufigkeit von weniger als 4, die aus Platz- und Kostengründen im Häufigkeitswörterbuch nicht nachgewiesen werden konnten.40 Abb. 10 zeigt exemplarisch das Buchungsblatt für das Wort
|| 40 Ebd., S. 43: „Wollte man den ganzen Stoff abdrucken, [...] so würde [...] das Ganze [...] 298 Druckbogen erfordern.“ „Die ganz geringen Häufigkeiten 1, 2 und 3 sind weggelassen, weil eine
180 | Toni Bernhart „Kaiser“ mit der Gliederung der Fundstellen nach den „Wissensgebieten“ (juristisch, kaufmännisch, theologisch etc.).
Abb. 10: Buchungsblatt für das Wort „Kaiser“.
Einer der letzten Schritte vor der Fertigstellung des Häufigkeitswörterbuchs war die Erstellung der „Alphabetische[n] Liste“ über den gesamten „Zählstoff“ in der „Abteilung 4“. Es handelt sich hierbei um jene 817 Hefte, die alle Wörter in || so seltene Anwendung eines Wortes doch nur zufällig ist und für die weiteren Schlußfolgerungen der stenographischen Wissenschaft kaum in Betracht kommt. Für die Sprachwissenschaft haben allerdings gerade die seltener vorkommenden Wörter unter Umständen einen besonders hohen Wert; da dem Arbeitsausschuß aber aus diesen Kreisen keine Geldmittel zur Bestreitung der erhöhten Druckkosten zugeführt wurden, so konnten die über das stenographische Bedürfnis hinausgehenden Wünsche keine Berücksichtigung finden.“ Kaeding nennt hier (S. 43) auch die zahlreichen Institutionen und Personen, bei denen Druckkostenzuschüsse beantragt wurden; die Bescheide waren bis auf sehr wenige Ausnahmen negativ.
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alphabetischer Reihenfolge verzeichnen. Die „Alphabetische Liste“ besteht aus 35 Mappen, die in der Regel jeweils 24 fortlaufend nummerierte Hefte enthalten. Abb. 11 zeigt die Mappe der „Alphabetischen Liste“ mit den Heften der Nummern 251–275 über die Strecke der Wörter von „Gegenvorschlägen“ bis „gesetzgeberisch“. Abb. 12 zeigt als Beispiel die Seite der „Alphabetischen Liste“ zu den Wörtern „Geheimensanitätsrat“ bis „Geheimhaltungen“.
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Abb. 11: Mappe der „Alphabetischen Liste“ mit den Heften 251 bis 175 von „Gegenvorschlägen“ bis „gesetzgeberisch“.
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Abb. 12: Beispiel einer Seite aus der alphabetischen Liste.
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4. Rezeption und wissenschaftsgeschichtlicher Zusammenhang Wenngleich Kaeding mit großer Geste „dem deutschen Volke die Ergebnisse einer mehr als fünfjährigen angestrengten Arbeit vieler Personen mit dem Wunsche“ übergab, „daß die erreichten Feststellungen brauchbare Unterlagen für weitere wissenschaftliche Forschungen bieten mögen“,41 blieb die Rezeption seines Häufigkeitswörterbuchs über die ‚stenographische Wissenschaft‘ hinaus42 und abgesehen von jener frühen (1928) durch den späteren StanfordGermanisten Bayard Quincy Morgan,43 sehr lange sehr verhalten.44 Zwei Aspekte waren vermutlich dafür ausschlaggebend. Kaeding war Dilettant, und zwar im besten und wahrsten Sinne des Wortes. Zum einen erschwerte also wohl ein akademisches Selbstverständnis es, dass „die deutsche Gelehrtenwelt“ mit dem Nicht-Akademiker Kaeding auf Augenhöhe kooperieren konnte. Zum anderen ist auch eine tatsächliche mangelhafte Anschlussfähigkeit Kaedings an die „Sprachforschung“ zu diagnostizieren: Zu fern lag Kaedings Ansatz vom zeitgenössischen sprachhistorischen oder phonologischen Wissensstand und Forschungsinteresse, zu stark konzentrierte er sich auf die Belange der Stenographie, die zudem nie ein akademisches Fach war. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, auch im Zuge der Historisierung seiner Person und seines Wörterbuchprojekts, wird die Linguistik auf Kaedings Arbeit aufmerksam und seine Leistung anerkannt. Prominente Rezeptionsbeispiele sind der Nachdruck (in Auszügen) als Band 4 (1963) der Grundla-
|| 41 Ebd., S. 1. 42 Eine Übersicht über die durch Kaeding angeregte Weiterentwicklung der Stenographie sowie über linguistische Forschungen, die an Kaeding anschließen, liefert die Bibliographie in Best, Friedrich Wilhelm Kaeding, S. 84–86. 43 Bayard Quincy Morgan, German frequency word book. Based on Kaeding’s Häufigkeitswörterbuch der deutschen Sprache, New York 1928. 44 Darauf wies zuletzt auch Best, Friedrich Wilhelm Kaeding, S. 82, hin. Als Symptom dafür, dass sich bis heute auch eine kulturwissenschaftlich orientierte Linguistik nicht mit Kaeding beschäftigt, darf der Umstand gesehen werden, dass etwa Ulrike Haß-Zumkehr weder in ihrer Monographie Deutsche Wörterbücher – Brennpunkt von Sprach- und Kulturgeschichte, Berlin und New York 2001, noch in ihrem Sammelwerk Große Lexika und Wörterbücher Europas. Europäische Enzyklopädien und Wörterbücher in historischen Portraits, Berlin und Boston 2012, auf Häufigkeitswörterbücher im Allgemeinen und auf Kaeding im Besonderen eingeht. Auch Michael Schlaefer, Lexikologie und Lexikographie. Eine Einführung am Beispiel deutscher Wörterbücher, Berlin 2002 (Grundlagen der Germanistik 40), geht auf Häufigkeitswörterbücher nicht ein und erwähnt Kaeding lediglich sehr knapp.
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genstudien aus Kybernetik und Geisteswissenschaft45 und, ausgehend vom Verständnis, dass Frequenz das „Maß der Nützlichkeit“ ist,46 die Verwendung im Bereich der Sprachdidaktik z.B. durch Wolf Dieter Ortmann.47 In der gegenwärtigen Quantitativen Linguistik, einem jungen Teilgebiet der Linguistik, wird regelmäßig auf Kaeding Bezug genommen. Hervorgehoben wird u.a. der Umstand, dass erst die fortgeschrittene computergestützte Linguistik in der Lage ist, für Häufigkeitsuntersuchungen größere Korpora als das Kaeding-Korpus zu berücksichtigen: „In actual practice however one can observe that up till now few of the published frequency dictionaries exceed Kaeding’s corpus of 11 million wordtokens“, wie Willy Martin in seiner grundlegenden Darstellung The Frequency Dictionary festhält.48 Erst das Frequenzwörterbuch der deutschen Zeitungssprache (1972–1977) von Inger Rosengren,49 das mithilfe von Hochleistungstechnik am Rechenzentrum der Universität Hamburg erarbeitet wurde, übertraf mit ca. 12,4 Millionen Wörtern50 geringfügig Kaedings 11 Millionen Wörter großes Korpus.51
|| 45 Kaeding, Häufigkeitswörterbuch 1963. 46 Inger Rosengren, Ein Frequenzwörterbuch der deutschen Zeitungssprache. Die Welt, Süddeutsche Zeitung, 2 Bde., Lund 1972–1977, hier Bd. 1, S. XXV. 47 Wolf Dieter Ortmann, Hochfrequente deutsche Wortformen, 4 Teile, München 1975–1978; ders., Minimalpaare im Deutschen. Typen, Häufigkeiten, Übungsbeispiele, rechnersortiert anhand von 7.995 hochfrequenten Wortformen der Kaeding-Zählung, mit einem Anhang: Reimlexikon zur Kaeding-Wortliste, München 1981. 48 Martin, The Frequency Dictionary, S. 1317. 49 Rosengren, Frequenzwörterbuch. 50 Ebd., Bd. 1, S. XXIII. Das Korpus besteht aus repräsentativen Stichproben aus Die Welt und Süddeutsche Zeitung, Zeitraum: 1.11.1966 bis 30.10.1967. 51 Weitere Frequenzwörterbücher für das Deutsche sind Hans-Heinrich Wängler, Rangwörterbuch hochdeutscher Umgangssprache, Marburg 1963; Arno Ruoff, Häufigkeitswörterbuch gesprochener Sprache, gesondert nach Wortarten, alphabetisch, rückläufig alphabetisch und nach Häufigkeit geordnet, 2. Aufl., Tübingen 1990 und das Wortschatz-Portal der Universität Leipzig, das auch Angaben zu Wörterhäufigkeiten bereitstellt: http://wortschatz.unileipzig.de/[letzter Zugriff am 16. Januar 2015]. Erratisch und singulär ist die Deutsche Sprachstatistik (1964) des Lehrers und Privatgelehrten Helmut Meier, der vier Jahrzehnte Sammelarbeit vorausgegangen waren. Am 19. Dezember 1964 verlieh die Philosophische Fakultät der Universität Hamburg Meier für seine „Lebensarbeit“ die Ehrendoktorwürde. Aus Freude und zum Dank widmete Meier der Universität Hamburg einen zweiten Band, der 1967 zusammen mit dem ersten Band als Manuskript-Reprint bei Olms erschien: Helmut Meier, Deutsche Sprachstatistik, Hildesheim 1967. Lutz Mackensen dazu in seinem Geleitwort, S. V: „Dieses Buch mutet wie ein Heldenlied an, Beispiel nicht nur eines unbeirrbaren geistigen Ringens, sondern auch einer einzigartigen Kraft des Herzens. [...] Bücher wie dieses werden alle Jahrhunderte einmal geschrieben.“
186 | Toni Bernhart Nach gegenwärtigem Kenntnis- und Verständnisstand ist Kaedings Häufigkeitswörterbuch der deutschen Sprache weltweit das zweite (oder dritte) Häufigkeitswörterbuch für eine Sprache. Als „starting point“ in der Geschichte der Häufigkeitswörterbücher gilt William Gambles Häufigkeitsliste chinesischer Schriftzeichen,52 die 1861 unter dem Titel Two lists of selected characters containing all in the Bible and twenty-seven other books in Shanghai erschien.53 Das Buch, das als Handreichung für Setzer chinesischer Schriftzeichen gedacht war, damit diese besser abschätzen konnten, welche Zeichen in welcher Menge vorzuhalten sind, erschien wahrscheinlich ist sehr geringer Stückzahl und erhob auch nicht den Anspruch eines Referenzwerks. So ist es heute ein Rarum, das weltweit in sehr wenigen Bibliotheken verfügbar ist. Das hat bis heute zur Folge, dass die Forschung Gamble vorbehaltlos würdigt, sein Buch aber nie in Händen hält. Kaeding war einer der wenigen, der nachweislich Gambles Werk in der Hand hatte und auch daraus zitiert.54 Emmerich Kelih weist in seiner Dissertation Geschichte der Anwendung quantitativer Verfahren in der russischen Sprach- und Literaturwissenschaft (2008) darauf hin, dass 1894, also vier Jahre vor Kaeding, „das erste russische Häufigkeitswörterbuch“ erschienen sei.55 Es handelt sich dabei um die Arbeit des ukrainischen Pädagogen Viktor Nikolajewitsch Kunickij,56 dem als Korpus ein literarischer Text, die Komödie Gore ot uma / Verstand schafft Leiden (1824) des russischen Schriftstellers Alexander Sergejewitsch Griboedov, zugrunde liegt. „Das erklärte Ziel von Kunickij ist es, eine möglichst exakte und umfassende lexikographische Bestandsaufnahme des in der Komödie verwendeten Wortschatzes zu leisten.“57 Legt man die zwei wesentlichen Kriterien für ein Häufigkeitswörterbuch, Unabhängigkeit von individuellem Sprachgebrauch und ausreichend großes und über unterschiedliche Textsorten gestreutes Kor-
|| 52 Martin, The Frequency Dictionary, S. 1319. 53 Gamble, Two lists. 54 Kaeding, Häufigkeitswörterbuch, S. 669: „Gamble hat dann in einem, soweit mir bekannt, sehr selten gewordenen Büchlein, das mir einmal ein glücklicher Zufall in Paris in die Hände spielte, als ich dort danach fahndete, diese rund 5.000 Schriftzeichen mit Häufigkeitszahlen versehen und nach der Häufigkeit geordnet. Einige Hauptergebnisse veranschaulicht das Folgende [...]“. Auf S. 670 folgt sodann eine Tabelle mit Daten aus Gambles Two lists. 55 Emmerich Kelih, Geschichte der Anwendung quantitativer Verfahren in der russischen Sprach- und Literaturwissenschaft, zugl.: Diss., Univ. Graz 2007, Hamburg 2008 (Studien zur Slawistik 19), S. 42. 56 V[iktor] N[ikolajewitsch] Kunickij, Jazyk i slog komedii Gore ot uma. K stolĕtiju dnja roždenija A.S. Griboĕdova 4 Janvarja 1795 g. – 4 Janvarja 1895 g., Kiev 1894. 57 Kelih, Geschichte der Anwendung quantitativer Verfahren, S. 42.
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pus,58 zugrunde, ist Kunickijs Arbeit nicht als Häufigkeitswörterbuch in eigentlichen Sinn, also einer Sprache, sondern als Häufigkeitswörterbuch zu einem einzelnen Autor, ähnlich einer Konkordanz, anzusehen. Überhaupt stehen Konkordanzen in funktioneller Verwandtschaft zu Häufigkeitswörterbüchern, und sie gehen diesen, historisch betrachtet, voraus, worauf Manlio Cortelazzo und Arjuna Tuzzi in ihrem Buch Metodi statistici applicati all'italiano (2008), insbesondere im Abschnitt zur Geschichte der Häufigkeitsforschung zur italienischen Sprache und Literatur, aufmerksam machen.59 Konkordanzen gab es lange vor den Häufigkeitswörterbüchern (bereits aus dem 13. Jahrhundert sind Bibel-Konkordanzen bekannt), sie beziehen sich in der Regel auf hoch kanonische Werke und Autoren wie die Bibel, Dante, Shakespeare oder Goethe, sie sind heuristische Hilfsmittel für die hermeneutische Arbeit und dienen als Heuristiken zur Entwicklung und Bearbeitung philologischer Fragestellungen. Beispiele für Konkordanzen aus der germanistischen Literaturwissenschaft sind die Indices zur deutschen Literatur, die ab 1968 im Athenäum-Verlag, ab 1982 bei Niemeyer erschienen. Der erste Band in dieser Reihe ist der Index zu Novalis’ Heinrich von Ofterdingen.60 Während Häufigkeitswörterbücher als linguistische Hilfsmittel gelten, sind Konkordanzen Nachschlagewerke von literaturwissenschaftlichem Interesse. In der Linguistik waren Frequenzwörterbücher mehrfach Gegenstand der Forschung.61 Besonders aus den Jahren um 1970, und zwar v.a. aus dem Kontext der Bestrebungen zu maschineller Übersetzung, sind hoch spezialisierte, auch dreisprachige Häufigkeitswörterbücher überliefert.62 Martin stellt fünf For|| 58 Martin, The Frequency Dictionary, S. 1314; Hadumod Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft, 3. Aufl., Stuttgart 2002, S. 270. 59 Manlio Cortelazzo und Arjuna Tuzzi, Metodi statistici applicati all'italiano, Bologna 2008, S. 80–124, hier S. 83. 60 Helmut Schanze, Index zu Novalis’ Heinrich von Ofterdingen, Frankfurt a.M. 1968 (Indices zur deutschen Literatur 1) [Reprint Nendeln 1979]. 61 Duncan Harkin, The history of word counts, in: Babel 3 (1957), S. 113–124; Rolf-Dietrich Keil, Einheitliche Methoden in der Lexikometrie, in: International Review of Applied Linguistics in Language Teaching 3 (1965), S. 95–122; P. M. Alekseev, Statistische Lexikographie. Zur Typologie, Erstellung und Anwendung von Frequenzwörterbüchern. Lehrbuch, Übersetzt von Werner Lehfeldt, Bochum 1984 (Quantitative linguistics 22); Martin, The Frequency Dictionary; mit dem Thema „Frequenzeffekte“ beschäftigt sich Heft 169 (2013) der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi). 62 In der Reihe Häufigkeitswörterbuch Russisch, Englisch, Französisch erschienen im Leipziger Verlag Enzyklopädie ab 1970 die Bände Fachwortschatz Medizin (1970, 1986 in 7., unveränderter Aufl.), Fachwortschatz Mathematik, Fachwortschatz Chemie, Fachwortschatz Physik, Fachwortschatz Tierproduktion, Veterinärmedizin und Fachwortschatz Bauwesen. Eine Übersicht über Häufigkeitswörterbücher zu technischen und ingenieurwissenschaftlichen
188 | Toni Bernhart schungs- bzw. Anwendungszusammenhänge für Häufigkeitswörterbücher fest: pragmatisch (als Information über Verwendungshäufigkeiten von Wörtern), sprachdidaktisch (um einen Basiswortschatz aus hoch frequenten Wörtern zu erstellen), psycholinguistisch (zur Vorbereitung von Experimenten, z.B. Worterkennungstests), stilometrisch („as a kind of norm or yardstick against which possible deviations can be evaluated“) und als Daten-Input für künstliche Sprachgenerierung.63 Die Geschichte der Häufigkeitswörter gliedert er in drei Phasen: - eine erste Phase von den Anfängen bis 1920, die dadurch gekennzeichnet ist, dass Häufigkeitswörterbücher oft nicht für linguistische oder literaturwissenschaftliche, sondern für andere Zwecke erstellt wurden (z.B. als Handreichung für Setzer chinesischer Schriftzeichen bei Gamble, zur Entwicklung der Kurzschrift bei Kaeding); - eine zweite Phase von 1920 bis 1960, in der Häufigkeitswörterbücher vor allem für Belange der Sprachendidaktik erstellt wurden (für das Spanische gab es als erstes Listen dieser Art);64 - eine dritte Phase von 1960 bis zur Gegenwart, die vor allem an die Entwicklung von Korpuslinguistik und Computertechnik gekoppelt ist.65 Eine literaturwissenschaftliche, kultur- und theoriegeschichtliche Verortung von Häufigkeitswörterbüchern (auch von Konkordanzen) gibt es bislang nicht. Eine solche wäre eng an die Geschichte der Lexikographie, aber auch die Geschichte der Anwendung quantitativer Verfahren in Literatur- und Sprachwissenschaft geknüpft und würde auf Computional Stylistics in Digital Humanities verweisen. Pathos ist wahrscheinlich auch etwas, das sich in seiner Wirkung konfiguriert: Je dichter der Verständniszusammenhang um einen Gegenstand wird, umso weniger wirkt dieser pathetisch und umso mehr nähert er sich der Verständlichkeit (und auch der Selbstverständlichkeit). Kaedings Häufigkeitswörterbuch der deutschen Sprache ist nicht nur ein wissenschaftsgeschichtlich interessierendes Beispiel für ein außerordentliches Wörterbuchvorhaben, des|| Fachsprachen unterschiedlicher Sprachen bietet Alekseev, Statistische Lexikographie, S. 110– 117. 63 Martin, The Frequency Dictionary, S. 1319. 64 Hayward Keniston, Common Words in Spanish, in: Hispania 3 (1920), S. 85–96; ders., Spanish idiom list. Selected on the basis of range and frequency of occurrence, New York 1929 (Publications of the American and Canadian Committees on modern languages 11). 65 Martin, The Frequency Dictionary, S. 1319. Vgl. auch Cortelazzo, Tuzzi, Metodi statistici, S. 80.
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sen Ansatz in seiner Zeit in hohem Maße innovativ war, das aber gleichzeitig ob seiner eher geringen Anschlussfähigkeit an die zeitgenössische Philologie bereits etwas isoliert dastand. Kaedings monumentales Häufigkeitswörterbuch ist auch Ausdruck von Pathos insofern, als es mit großer Geste hohen Gültigkeitsanspruch behauptet, der im Laufe des vergangenen Jahrhunderts auch aufgehoben wurde in der weiteren Entwicklung von Verständnisweisen korpusbasierter Frequenzeffekte.
Andrea Albrecht
„Wahrheitsgefühle“ Zur Konstitution, Funktion und Kritik ‚epistemischer Gefühle‘ und Intuitionen bei Leonard Nelson Das Konzept des „Wahrheitsgefühls“, das der Göttinger Philosoph Leonard Nelson (1882–1927) Anfang des 20. Jahrhunderts von Jakob Friedrich Fries übernimmt und aktualisiert, steht im Fokus einer in der Forschung wenig beachteten Auseinandersetzung um den Status und die Funktion ‚epistemischer Gefühle‘ und damit gewissermaßen im Schnittpunkt von Ethos, Pathos und Logos der Wissenschaften. Ich werde im Folgenden diese Auseinandersetzung zunächst im Kontext der zeitgenössischen Kritik am intuitiven Philosophieren verorten (1.), von dem Nelson seine Version des Wahrheitsgefühls abzugrenzen bemüht ist. Nach einer Skizze von Fries’ Theorie des Wahrheitsgefühls (2.) rekonstruiere ich Nelsons neofrisianische Ausführungen zum unmittelbaren Erkennen und Fühlen der Wahrheit (3.). Die vor allem von Ernst Cassirer vorgebrachte Kritik an Nelsons Konzept (4.) führt in meiner Darstellung dann zu den wissenschaftssoziologischen Implikationen von Nelsons Argumentation und damit zu dem, was man Nelsons Beitrag zur ‚sozialen Epistemologie‘ nennen könnte. Wahrheitsgefühle begründen hiernach eine arbeitsteilige Distinktion von Meistern und Schülern, Führern und Geführten, insofern sie die schulische Abhängigkeit als asymmetrisches, aber wechselseitiges Vertrauensverhältnis rationalisieren helfen (5.) und in didaktischen Konstellationen Vertrauen von Autoritätshörigkeit unterscheidbar halten sollen (6.). Auch wenn – dies sei vorweggenommen – Nelsons Rekurs auf Wahrheitsgefühle nicht unbedingt heutigen epistemologischen Standards entspricht, so artikuliert er in seinen Schriften doch ein Problem, auf das sein Konzept ‚epistemischer Gefühle‘ eine Antwort zu geben scheint. Um die Rekonstruktion dieses Problems und seine zeitdiagnostische Analyse ist es mir im Folgenden zu tun.
1. Intuitionsepidemien Die Intuition ist eine auf allen Wiesen wachsende Wunderpflanze […]. Die in Deutschland häufigste Varietät wächst aber nicht auf den Wiesen, sondern ist nachgewiesenermaßen stets nur auf dem eigenen Mist derer gewachsen, die sie gebrauchen. Sie wird langsam zwischen den Zähnen gefletschert und verleiht dann wunderbare Erkenntnisse […]. Sie
192 | Andrea Albrecht kann aber auch hastig hinuntergeschlungen werden, […] und dann erzeugt sie erhebende Blähungen, die in Form von Gedichten, Gottesanrufungen, geistigen Explosionen und sonstigen Ohmenschlichkeiten abgehen.
So heißt es bei Robert Musil in einem Beitrag, der anonym unter dem Titel Von der geistigen Ernährung durch Intuition in Franz Bleis Großem Bestiarium in den frühen 1920er Jahren erschienen ist,1 ursprünglich aber aus dem Umfeld von Musils Spengler-Rezension Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind stammt.2 Musil ist zu diesem Zeitpunkt am Zusammenhang von Erkenntnis und ‚Gefühl‘, Verstand und Intuition überaus interessiert. Die zeitgenössischen, zumeist weltanschaulich ausgerichteten Diskussionen, wie die von Oswald Spengler oder auch die von Henri Bergson3 initiierten, sind seines Erachtens jedoch in mehrfacher Hinsicht mangelhaft: Sie schlügen erstens das Intuitive übereilt dem Irrationalen zu und übersähen daher, dass intuitive Einsichten „auch auf rein rationalem Boden“4 gedeihen würden, ja sogar der Mathematiker auf Intuition angewiesen sei. 5 Zweitens separierten die zeitgenössischen Intuitionstheoretiker logische und psychologische Betrachtungen, obgleich Erkenntnis und Gefühl, wie Musil meint, in einer komplexen Relation zueinander stehen. Drittens kritisiert Musil, dass sich die Auseinandersetzung mit Intuitionserfahrungen auch in vermeintlich wissenschaftlichen Darstellungen zumeist auf metaphorische Umschreibungen beschränkt, ohne dass man daraus die Konsequenz zöge, sich ganz zur
|| 1 Anonym [Robert Musil], Von der geistigen Ernährung durch Intuition, in: Franz Blei, Das große Bestiarium der modernen Literatur, erstmals 1920, hier zitiert nach der 4. Aufl., Berlin 1922, S. 116–118, hier S. 116. 2 Robert Musil, Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind (1921), in: ders., Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden, hrsg. v. Adolf Friśe, Hamburg 1955, S. 651–667. 3 Bergson wird in der Rezension zu Spengler ausdrücklich erwähnt und ironisch kommentiert, vgl. ebd., S. 661. Vgl. zum Verhältnis von Musil zu Bergson auch Renate von Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften, Münster 1966, S. 213–216. 4 Musil, Von der geistigen Ernährung durch Intuition, S. 116. 5 Vgl. dazu Lutz Danneberg, „ein Mathematiker, der nicht etwas Poet ist, wird nimmer ein vollkommener Mathematiker sein“: Geschmack, Takt, ästhetisches Empfinden im kulturellen Behauptungsdiskurs der Mathematik und der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert – mit Blicken in die Zeit zuvor und ins 20 Jahrhundert, in: Andrea Albrecht u.a. (Hrsg.), Zahlen, Zeichen und Figuren: Mathematische Inspirationen in Kunst und Literatur, Berlin, New York 2011, S. 600–658.
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literarischen Darstellungsform zu bekennen.6 Der Logos und sein vermeintliches Gegenteil, das a-logische, erlebnishafte, „nicht-ratioïde Denken“,7 von dem in der Intuitionstheorie eigentlich gehandelt werden soll, schlage um in Pathos, in die „Ohmenschlichkeiten“. In seinem Bestiarium-Beitrag nimmt Musil diese Kritikpunkte zum Anlass eines Moratoriums: Das charakteristischste Symptom fortgesetzten Intuitionsgenusses ist eine sich bei jeder Gelegenheit zeigende Abneigung gegen den Verstand von geradezu verheerenden Folgen, so daß heute in Deutschland trotz des eigentlich endemischen Charakters der Erscheinungen von einer Intuitionsepidemie gesprochen werden kann. Es steht heute so damit, daß jeder, der etwas behaupten will, das er weder beweisen kann, noch zu Ende gedacht hat, sich auf die Intuition beruft. Es wäre daher zu beantragen, daß sich alle deutschen Schriftsteller durch zwei Jahre dieses Worts enthalten mögen, wonach sie zum erstenmal ihr wahres Gesicht sehen würden, wie einer, der einen zeitlebens getragenen Bart abrasiert.8
Angesichts der überbordenden Menge wissenschaftlicher, halbwissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Schriften, die in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg über Intuitionen, Gefühlserkenntnisse, Erkenntnisgefühle, logische Gefühle, Wahrheitsgefühle, Evidenzgefühle, Überzeugungsgefühle und so fort auf den Markt gebracht werden,9 ist Musils Wunsch nach einer Rasur durchaus nachvollziehbar. Und Musil ist mit diesem Wunsch bei weitem nicht allein: Zeitgleich zu seiner satirischen Kritik wendet sich (unter vielen anderen) auch Leonard Nelson gegen die „intuitive Philosophie […], die heute in Mode steht“,10 und er hat dabei wie Musil zunächst vor allem Oswald Spengler im Visier. Seine Rezension Spuk. Einweihung in das Geheimnis der Wahrsagerkunst Oswald Spenglers und sonnenklarer Beweis der Unwiderleglichkeit seiner Weissagungen nebst Beiträgen zur Physiognomik des Zeitgeistes. Eine Pfingstgabe für alle Adepten metaphysischen Schauens von 1921 || 6 „‚Etwas, das sich nicht erkennen, beschreiben, definieren, nur fühlen und innerlich erleben läßt, das man entweder niemals begreift oder dessen man völlig gewiß ist‘ – ‚mit einem Schlage, aus einem Gefühl heraus, das man nicht lernt, das jeder absichtlichen Einwirkung entzogen ist, das in seinen höchsten Momenten sich selten genug einstellt‘ – werden solche Erlebnisse gewöhnlich beschrieben“, stellt Musil fest, vgl. Musil, Von der geistigen Ernährung durch Intuition, S. 117. 7 Ebd. 8 Ebd., S. 116. 9 Es ist aussichtslos, hier auch nur eine annähernd vollständige Liste der zeitgenössischen Literatur präsentieren zu wollen; deswegen verzichte ich ganz darauf. 10 Leonard Nelson, Typische Denkfehler in der Philosophie. Nachschrift der Vorlesung vom Sommersemester 1921. Aus dem Nachlass hrsg. v. Andreas Brandt und Jörg Schroth, Hamburg 2011, S. 227.
194 | Andrea Albrecht steht an Schärfe und Witz der Musil’schen in nichts nach.11 Mit Musil scheint Nelson darüber hinaus auch den Wunsch zu teilen, dilettantische und irrationalistisch-metaphysische Philosophen wie Spengler zumindest temporär zum Schweigen zu bringen. In einer Vorlesung aus dem Jahr 1921, deren Nachschrift unlängst postum herausgegeben wurde, charakterisiert Nelson die philosophischen Strömungen seiner Zeit allesamt als nicht an der Wahrheit, sondern am „Zeitgeist[]“12 interessiert. Die ‚zeitgeistigen‘ Philosophen frönten einem Relativismus, Perspektivismus und Historismus, statt die philosophische Wahrheit zum Ziel ihres Denkens zu erklären, und die wenigen, die doch noch an der Wahrheit interessiert seien, beträten zu „selten den Weg des Denkens“ und bedienten sich stattdessen eines anderen, vermeintlich höheren Organs, um der philosophischen Wahrheit habhaft zu werden. Sie nennen es Anschauung oder Intuition. Gewiss, wer ein solches Organ besitzt, der kann unmittelbar und ohne die Mühe des Nachdenkens der philosophischen Wahrheit habhaft werden,13
referiert Nelson ironisch. Er charakterisiert in der Folge die der Wahrheit so ungünstige Stimmung als Implikation des Wunschs, einen Eindruck vom „absoluten Wesen der Dinge“ zu gewinnen oder sogar einen Eindruck von „dem, was nicht als Wahrheit feststellbar ist, dem, was viel tiefer ist als Wahrheit […], dem Irrationalen, d.h. dem, was sich aller verstandesmäßigen Erfahrung entzieht.“ Für Nelson zeugt dieser Wunsch von einer Verwechslung von Philosophie und Kunst: Der intuitive Philosoph schmeichle sich damit, „in die Reihe der Künstler gerückt“ zu werden, was allerdings unweigerlich dazu führe, dass sich seine vermeintlichen Erkenntnisse „mehr und mehr in Willkür und Phantastik“14 oder auch im „Mystizismus“ verlören.15 Doch Nelsons kritische Diagnose bezieht sich nicht nur auf den Status der vermeintlich intuitiven, unmittelbaren Erkenntnisse, sondern auch auf das Ethos der intituiv philosophierenden Denker: Obzwar nominell an der Wahrheit || 11 Ders., Spuk. Einweihung in das Geheimnis der Wahrsagerkunst Oswald Spenglers und sonnenklarer Beweis der Unwiderleglichkeit seiner Weissagungen nebst Beiträgen zur Physiognomik des Zeitgeistes. Eine Pfingstgabe für alle Adepten metaphysischen Schauens, Leipzig 1921. Wieder abgedruckt in: ders., Gesammelte Schriften in neun Bänden, hrsg. v. Paul Bernays u.a., Bd. 3: Die kritische Methode in ihrer Bedeutung für die Wissenschaft, Hamburg 1974, S. 349–552. 12 Ders., Typische Denkfehler in der Philosophie, S. 24. 13 Ebd., S. 18. 14 Ebd., S. 20f. 15 Ebd., S. 31.
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interessiert, sei die intuitive, sich als Kunst gerierende Philosophie „eine arbeitsscheue Philosophie“,16 die an die Stelle des anstrengenden Nachdenkens die vermeintlich mühelose „Schöpfung“,17 die sophistisch erschlichene Einsicht18 oder – und hier zitiert Nelson aus Spenglers Untergang des Abendlandes – das „tiefe, wortlose Verstehen“19 treten lasse: Dieses tiefe, wortlose Verstehen, das den Zeitgenossen anscheinend so großen Eindruck macht, drückt sich in einem Wortreichtum von über 600 Seiten aus. In anderer Form zeigt sich die gleiche Eigentümlichkeit darin, dass Philosophen dieser Art gar ihren Schülern erklären, dass sie lernen müssten, zwischen den Zeilen zu lesen. Nun, man möchte hoffen, dass diese Auffassung, dass es auf das Lesen zwischen den Zeilen ankommt im Ge|| 16 Ebd., S. 21. Nelson paraphrasiert hier wie so oft wörtlich, aber unausgewiesen einen Gedanken von Fries, der in einem seiner polemischen Texte die „arbeitsame[]“ von der „arbeitscheuen Philosophie“ unterscheidet. Die Philosophie „der arbeitsamen Parthey“ charakterisiert Fries als eine an Aristoteles anknüpfende, zergliedernde ‚Philosophie des Scharfsinns‘; ihre Vertreter, zeitgenössisch in Kant verkörpert, scheuten sich nicht vor der „Mühsamkeit scharfsinniger Unterscheidungen“. Die arbeitsscheue Partei hingegen, die an Platon anknüpfe und ihre zeitgenössische Verkörperung in den Naturphilosophen, vor allem in Schelling finde, sei eine ‚Philosophie des Witzes‘, die es sich durch eine analogisierende Denkweise leicht zu machen versuche. Jakob Friedrich Fries, Reinhold, Fichte und Schelling [1803, 1824], in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 24. VI. Abt. Bd. 1, Aalen 1978, S. 33–476, hier S. 362. Fries wiederum knüpft an Kant an: Schon Kant unterscheidet die Philosophen, die wie Mathematiker, Naturwissenschaftler, Althistoriker und Sprachkundler „viele Stufen mühsam besteigen“ und sich ohne Scheu vor der „viele[n] Arbeit“ des begrifflichen Denkens um Wahrheit bemühen, von den Philosophen, die sich für diese Arbeit zu „vornehm“ dünken und stattdessen „nur das Orakel in sich selbst anhören“, um „geniemäßig“ eine „intellectuelle Anschauung“ zu kultivieren (Immanuel Kant, Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, in: Kant’s gesammelte Schriften (Akademieausgabe), Bd. VIII: Abhandlungen nach 1781, Berlin und Leipzig 1923, S. 387–406, hier S. 389f.) und eine „Philosophie aus Gefühlen“ (ebd., S. 395) zu betreiben. Letztere brächten mit der „Ahnung“ eine neue Form des Fürwahrhaltens (neben Wissen, Glauben und Meinen) vor, die „gar nichts mit der Logik gemein hat, die kein Fortschritt des Verstandes, sondern Vorempfindung (praevisio sensitiva) dessen sein soll, was gar kein Gegenstand der Sinne ist, d.i. Ahnung des Übersinnlichen.“ (Ebd., S. 397) Diese „dunkle Vorerwartung“ will Kant nicht epistemisch überbewertet wissen, vielmehr stimmt er den ‚hohen Ton‘ dadurch herab, dass er dem Ahnen das profanere Raten von Hypothesen an die Seite stellt (ebd., S. 399) und das gefühlsbasierte Denken der Ästhetik zuweist (ebd., S. 405). Vgl. zu Fries und Kant auch Klaus Sachs-Hombach, Kant und Fries. Erkenntnistheorie zwischen Psychologismus und Dogmatismus, in: Kant-Studien 93 (2002), S. 200–217. 17 Nelson, Typische Denkfehler in der Philosophie, S. 21. 18 Vgl. ebd., S. 29. 19 Ebd., S. 22. Er bezieht sich auf Spenglers Aussage, dass ein „Werden […] nur erlebt, mit tiefem, wortlosen Verstehen gefühlt werden“ könne. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Wien, Leipzig 1919, 2. Aufl., Bd. 1, S. 81.
196 | Andrea Albrecht gensatz zu der Art, wie man Forschungsergebnisse studiert, in ihrer Methode noch konsequenter werden sollte. Wenn man wirklich die eigentliche Weisheit zwischen den Zeilen finden soll, so ist das geratenste, den Zeilenzwischenraum möglichst groß zu machen und die Zeilen ganz beiseite zu lassen. Es kann kein größeres Wohlwollen der Autoren gegen das Publikum geben, dem die Bücherpreise heute unerschwinglich geworden sind.20
Wie Musils Schweige-Moratorium richtet sich auch Nelsons Vorschlag zur Zeilenzwischenraummaximierung nicht nur gegen Spengler, sondern nimmt Letzteren als ein besonders populäres Beispiel, um Zeittypisches zu kritisieren. Neben Spengler ist es bei Nelson – ebenfalls wie bei Musil – vor allem der „windige“21 Henri Bergson und seine ebenso windige „Philosophenschule“,22 die für den Ausbruch der inkriminierten philosophischen Intuitionsepidemie verantwortlich gemacht wird. Denn so sehr Nelson die Polemik gegen die „Auffassung des Verstandes als eines selbständigen Erkenntnisvermögens“23 begrüßt und so sehr auch Musil die Kritik, die Bergson an rationalistischen Erkenntnistheorien übt, teilen mag, so sehr lehnen beide Bergsons einseitig „psychologistische Wendung“ der Philosophie24 beziehungsweise seine romantizistische Überschätzung des Gefühls gegenüber dem Verstand ab.25 Dass insbesondere Bergson in den Fokus der Kritik rationalismus- und mathematikaffiner Denker wie Musil und Nelson gerät, ist kein Zufall. Bergsons Auffassung nach verfügt der Mensch über zwei Erkenntnisformen: den diskursiv arbeitenden Intellekt und die auf Instinkt26 und Gefühl beruhende Intuition.
|| 20 Nelson, Typische Denkfehler in der Philosophie, S. 22f. 21 Ders., Spuk, S. 390. 22 Ders., Typische Denkfehler in der Philosophie, S. 150. 23 Ders., [Rez.] Einführung in die Metaphysik von Henri Bergson, in: ders., Gesammelte Schriften in neun Bänden, hrsg. v. Paul Bernays u.a., Bd. 3: Die kritische Methode in ihrer Bedeutung für die Wissenschaft, Hamburg 1974, S. 343–348, hier S. 345. Der Text ist zuerst 1910 in der Theologischen Literaturzeitung erschienen. 24 Ebd., S. 347. 25 Musil, Geist und Erfahrung, S. 661. Vgl. ähnlich auch Kurt Sternberg, Die philosophischen Grundlagen in Spenglers Untergang des Abendlandes, in: Kant-Studien 27 (1922), S. 101–137, der Bergsons wie Spenglers Berufung auf das Gefühl und die Intuition als Romantizismus wertet und den Neukantianismus Cohens und Rickerts dagegen in Stellung bringt. 26 Der ‚Instinkt‘ (instinctus naturalis) eröffnet ein ganz eigenes semantisches Feld, das hier nicht weiter untersucht werden kann. Doch im Unterschied zum Wahrheitsgefühl scheint der Wahrheitsinstinkt nicht vom Willen kontrollierbar und auch nicht ohne weiteres ethisch disziplinierbar zu sein, wie Fries und Nelson dies mit dem Wahrheitsgefühl versuchen. Vielmehr liefert er für die Philosophen nach Darwin, auch für Bergson, den Anschluss an die Evolutionsbiologie und ein kausal determiniertes Verhalten. Die Rede von Instinkt im Rahmen erkenntnistheoretischer Überlegungen mag obskur erscheinen, ist aber in der Zeit nicht
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Während der Intellekt auf das Erkennen toter Materie gerichtet sei27 und analytisch, instrumentell und starr28 vorgehe, soll die Intuition eine einheitliche Schau, eine sympathetische Einheit zwischen erkennendem Subjekt und Gegenstand liefern und damit zu einer nicht-diskursiven, unmittelbaren und dynamischen29 Erkenntnis führen. Der Intellekt sei, umschreibt Bergson diesen Vorgang, ein leuchtender Kern (noyau lumineux),30 den der evolutionär verkümmerte Instinkt als eine „verschwimmende Nebelschicht“ (nébulosité vague)31 umgebe. Eine intuitive Erkenntnis stelle sich dann ein, wenn durch einen Akt des Willens der Intellekt „‚aus seinem eigenen Reiche‘“ vertrieben und der Lichtsaum des Instinkts als alogisches Potenzial zurückerobert werde.32 Die metaphorischen Formulierungen sind symptomatisch: Die Rede von Intuition scheint Bergson – und insofern trifft sowohl Musils dritter Kritikpunkt als auch Nelsons Hinweis auf die Verwechslung von Philosophie und Kunst auf Bergsons Philosophieren zu – vor allem ‚uneigentlich‘ möglich zu sein. Als nichtdiskursive, unmittelbare Erkenntnis entzieht sich offenbar nicht nur ihre Genese, sondern auch ihr Gehalt einer diskursiven Bestimmung, so dass ihr Modus auch die philosophische Beschreibungssprache infiziert. Bergson greift jedenfalls in L’évolution creatrice wie auch in seinen metaphysischen Schriften immer wieder auf bildhafte, metaphorische Pathosformeln der zitierten Art zurück.
|| ungewöhnlich; vgl. zum Verhältnis von Instinkt und Erkenntnis beispielsweise auch Ernst Mach, Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung, Leipzig 1906, 2. Aufl., S. 50ff., 186 und 261; auch Peirce denkt über einen „intellektuelle[n] Instinkt“ nach, vgl. Charles Sanders Peirce, Vorlesungen über Pragmatismus (1903), übers. u. hrsg. v. Elisabeth Walther, Hamburg 1991, S. 57 und 115ff. Vgl. zur Begriffs- und Ideengeschichte des Instinkts Charlotte Kogon, Das Instinktive als philosophisches Problem, Würzburg 1941; Wolfram Karl Köck, Zur Geschichte des Instinktbegriffs, in: Ernst Florey und Olaf Breidbach (Hrsg.), Das Gehirn – Organ der Seele? Zur Ideengeschichte der Neurobiologie, Berlin 1993, S. 217–258. 27 Henri Bergson, Schöpferische Entwicklung, Jena 1921, S. 181; ders., L’évolution creatrice, 4. Aufl., Paris 1908 (erstmals 1907), S. 191. 28 Nelson, Typische Denkfehler in der Philosophie, S. 150. 29 Ebd., S. 151. 30 Vgl. Bergson, L’évolution creatrice, S. 192. 31 Ders., Schöpferische Entwicklung, S. 182; ders., L’évolution creatrice, S. 192. 32 Ders., Schöpferische Entwicklung, S. 198; ders., L’évolution creatrice, S. 211: „Il faut brusquer les choses, et, par un acte de volonté, pousser l’intelligence hors de chez elle.“ Vgl. dazu schon sehr klar Walter Meckauer, Der Intuitionismus und seine Elemente bei Henri Bergson: Eine kritische Untersuchung, Breslau 1916, S. 26f. Vgl. ferner zur deutschen Rezeption des Bergson’schen Beststellers David Midgley, „Schöpferische Entwicklung“. Zur Bergsonrezeption in der deutschsprachigen Welt um 1910, in: Scientia Poetica 16 (2012), S. 12–66.
198 | Andrea Albrecht Wie Musil und Nelson nun gleichermaßen feststellen, richten sich die Plädoyers für ein intuitives Philosophieren oftmals gegen die Ratio und bemühen sich, einer Überbetonung des Intellekts entgegenzuwirken, die das Intuitive und Instinktive zunehmend verenge und unterdrücke.33 In den zeitgenössischen Argumentationen spielt dabei die Mathematik, die „Chimäre der modernen Philosophie“,34 eine wesentliche Rolle. Mathematisches Denken erscheint Bergson als eine artifizielle Symbolsprache, bestehend aus „Begriffshäute[n]“,35 die „nur eine künstliche Rekonstruktion des Objektes geben“, gleichsam nur den „Schatten“ abbilden36 und somit die intuitiv-sympathetische Gefühlserkenntnis konterkarieren. In L’Energie spirituelle (1919, dt. 1928) verleitet diese Charakterisierung Bergson zu einer kontrafaktischen Imagination: Er stellt sich und seinen Lesern die Frage, wo die Wissenschaft heute stünde, hätte man am Anfang der Entwicklung, sprich: bei den alten Griechen, nicht auf die Mathematik gesetzt, wären also Kepler, Galilei und Newton nicht Mathematiker und Physiker, sondern Psychologen gewesen.37 – Was für Bergson nur ein imaginierter Wunschtraum ist, ist für Musil ein realer epidemischer Alptraum. In der Rezension zu Spengler heißt es: […] daß schließlich der ganze Inhalt der Intuition darauf hinausläuft, daß man das Wichtigste nicht sagen und behandeln kann, daß man bis zum Extrem skeptisch in ratione ist (also gerade gegen das, was nichts andres hat als daß es wahr ist!), dagegen unerhört gläubig gegen alles, was einem gerade einfällt, daß man die Mathematik bezweifelt, aber an kunsthistorische Wahrheitsprothesen glaubt wie Kultur und Stil […]: das ist das klinische Bild des durch übermäßigen, fortgesetzten Intuitionsgenuß erweichten Geistes, Schöngeistes unserer Zeit.38
Ganz ähnlich konstatiert auch Nelson, dass die intuitiven Philosophen die „Berührung mit den Naturwissenschaften“ in der Regel meiden: „man sucht geradezu den Ehrgeiz des echten Philosophen darin, sich möglichst weit von diesem Gebiet zu entfernen“ und statt von Naturphilosophie von „Kulturphilosophie“ und „Kulturwissenschaften“39 zu sprechen. || 33 Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 186. 34 Henri Bergson, Einführung in die Metaphysik, Jena 1909, S. 44. 35 Arthur Liebert, Das Problem der Geltung, Berlin 1914, S. 77f. An der in Lieberts Referat von Bergsons Intuitivismus angegebenen Stelle aus der Einführung in die Metaphysik findet sich der Ausdruck nicht. 36 Bergson, Einführung in die Metaphysik, S. 11. 37 Vgl. Henri Bergson, L’Energie spirituelle. Essais et conférences, Paris 1919, S. 85f.; dt.: Die seelische Energie. Aufsätze und Vorträge. Übers. Eugen Lerch, Jena 1928, S. 72f. 38 Musil, Geist und Erfahrung, S. 662f. 39 Nelson, Typische Denkfehler in der Philosophie, S. 23.
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Es sind allerdings bei weitem nicht nur die Kulturphilosophen, die ‚erweichten Geister und Schöngeister‘, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit epistemischen Gefühlen befassen. Es sind auch die verstandesgläubigen, an den ‚harten‘ Wissenschaften, der Mathematik und der Logik interessierten Geister – die Vertreter einer „Dörrfischrationalität“,40 wie Musil sagen würde –, die über epistemische Gefühle schreiben und damit zur Ausbreitung der Intuitionsepidemie maßgeblich beitragen. Unter anderem gehören zu diesen Geistern die praktizierenden Wissenschaftler selbst, die schon im 19. Jahrhundert verstärkt damit beginnen, sich bei ihrer kreativen Arbeit selbst zu beobachten und wortreich über diese Introspektionen und Selbstanalysen Auskunft zu geben.41 Es sind folglich nicht nur die intuitiven Philosophen, die sich, wie Nelson kritisiert, damit schmeicheln, „in die Reihe der Künstler gerückt“ zu werden,42 sondern auch die Vertreter der exakten Wissenschaftlen, die ihre Erkenntnisprozesse als genialische, schöpferische Akte verstanden wissen wollen. Dabei kommt es auch hier zu einer verstärkten Integration vermeintlich irrationaler, alogischer, nichtdiskursiver Elemente und Vermögen bis hin zu der Annahme, dass der Wissenschaftler, der sich ausschließlich auf seinen Verstand, die Regeln der Logik und die Methode seiner Disziplin verlasse, nicht kreativ, nicht phantasievoll genug sei, und also nichts Neues in die Welt bringen könne.43 Nicht zuletzt gestützt auf diese Berichte – Henri Poincarés Ausfüh|| 40 Musil, Geist und Erfahrung, S. 666. 41 Vgl. dazu ausführlich Danneberg, „ein Mathematiker, der nicht etwas Poet ist, wird nimmer ein vollkommener Mathematiker sein“. 42 Nelson, Typische Denkfehler in der Philosophie, S. 21. 43 „Bereits um die Jahrhundertwende verschärft sich diese Auffassung zu einer Gegenläufigkeit von Logik und Kreativität: Je stärker der Entdeckungsvorgang von Regeln geleitet ist, desto weniger kann er kreativ […] sein, und je kreativer er ist, desto weniger kann er regelgeleitet sein.“ Lutz Danneberg, Peirces Abduktionskonzeption als Entdeckungslogik. Eine philosophische und rezeptionskritische Untersuchung, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 70 (1988), S. 305–326, hier S. 309. Vgl. auch ausführlicher ders., Methodologien. Struktur, Aufbau und Evaluation, Berlin 1989, S. 77f. Konstatiert wird diese „Polarität von Logik und Intuition“ beziehungsweise dieses „scheinbare Paradoxon“ auch schon bei Arthur Koestler, Der göttliche Funke. Der schöpferische Akt in Kunst und Wissenschaft, Bern, München 1966, S. 121 und 151, der es aber als Folge der „Kartesischen Katastrophe“ (S. 153) begreift und durch Vorstellungen eines automatisierten und peripheren Bewusstseins ergänzt, aus dem sich die „Bisoziationen“, die zu Neuentdeckungen führen, mehrheitlich speisen. Bisoziationen definiert er als „schöpferische[] Synthese“ und „plötzliche[s] Ineinandergreifen von zwei vorher beispiellosen Fertigkeiten oder gedanklichen Systemen“. (S. 122) Er sieht es erstaunlicherweise sogar als erwiesen an, dass die „Bedeutung streng rationaler Gedankenprozesse für das Phänomen der wissenschaftlichen Entdeckung seit der Aufklärung weit überschätzt worden ist; und daß entgegen unseren kartesianischen Vorurteilen das ‚volle Bewußtsein‘ […] ein Grenzfall ist.“ (S. 222).
200 | Andrea Albrecht rung zur mathematischen Erfindung ist nur ein bekanntes Beispiel unter vielen44 – halten Ahnungen, Wahrheitsgefühle, Wahrscheinlichkeitsgefühle, Evidenzgefühle, Denkgefühle, intellektuelle Gefühle und sogar ästhetische Gefühle um 1900 verstärkt Einzug in die Erkenntnistheorien. An die Stelle einer „Logik des Entdeckens“ treten, folgt man Lutz Danneberg, zunehmend Auffassungen, nach denen kreatives wissenschaftliches Denken – analog dem künstlerischen – auch „auf Intuition, Imagination, Phantasie, Einbildungskraft“45 und anderen, gemeinhin dem Irrationalen zugeordneten Vermögen beruht und daher durch eine ausschließlich auf Logik abstellende Erkenntnistheorie nur unzureichend beschrieben werden könne.46 Ein Beispiel mag die zeitgenössische Selbstverständlichkeit des heute eher kontradiktorisch erscheinenden Konzepts ‚epistemischer Gefühle‘ illustrieren. So heißt es bei Joseph Wilhelm Nahlowsky in Das Gefühlsleben (1862): Die intellektuellen Gefühle [Wahrheits- und Wahrscheinlichkeitsgefühle] haben mit den übrigen [...] Gemütszuständen (den ästhetischen, ethischen und religiösen Gefühlen) das Gemeinsame, daß sie der höheren Erkenntnis als Vorläufer vorangehen, aber auch der er-
|| 44 Nelson wählt Poincarés Ausführungen und vor allem die von Édouard Le Roy daran angeschlossenen theologischen Überlegungen als Beispiel, vgl. Nelson, Typische Denkfehler in der Philosophie, S. 43–45. Vgl. zu Le Roy auch Olav Krämer, Der Begriff der Konvention bei Paul Valéry und in der Mathematik und Wissenschaftstheorie seiner Zeit, in: Andrea Albrecht u.a. (Hrsg.), Zahlen, Zeichen und Figuren: Mathematische Inspirationen in Kunst und Literatur, Berlin, New York 2011, S. 381–412. 45 Danneberg, Peirces Abduktionskonzeption, S. 308. Vgl. dazu auch Jonathan Smith, Fact and feeling: Baconian science and the nineteenth-Century literary imagination, U of Madison P 1994, insb. Kapitel 1, in dem Smith nachzeichnet, wie die Kritik am naiven Baconianismus im 19. Jahrhundert die methodologische Diskussion der Wissenschaftsphilosophie prägt. 46 In der aktuellen, kognitivistisch ausgerichteten Erkenntnistheorie scheint sich ein ähnlicher Trend abzuzeichnen, allerdings ohne dass die Verbindung zu den historischen Vorläuferdiskussionen des frühen 20. Jahrhunderts gesucht würde. Vgl. z.B. Robert C. Solomon, Emotions, Thoughts and Feelings: What is a ‚Cognitivist Theory‘ of the Emotions and Does it Neglect Affectivity?, in: A. Hatzymoisis (Hrsg.), The Philosophy of the Emotions, Cambridge UP 2003, S. 1–18; vgl. auch den Sammelband von Georg Brun u.a. (Hrsg.), Epistemology and Emotions, Aldershot 2008, in dem Catherine Elgin und andere Protagonisten vertreten sind, die in den letzten Jahren auf unterschiedlicher Grundlage für die Annahme epistemischer Gefühle gestritten haben. Ferner auch Sabine Döring (Hrsg.), Philosophie der Gefühle, Frankfurt a.M. 2009, und das populärwissenschaftlich gehaltene Buch von Antonio R. Damasio, Descartes’ Irrtum: Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, übers. von Hainer Kober, Berlin 2004. Vgl. schon die Hinweise auf die Vorgeschichte bei Georg Brun, Dominique Kuenzle, A New Role for Emotions in Epistemology?, in: dies. und Ulvi Doguoglu (Hrsg.), Epistemology and Emotions, Aldershot 2008, S. 1–31.
„Wahrheitsgefühle“ | 201 langten als ihre Begleiter folgen. [...] Eben wegen dieser engen Beziehung, in welcher sie zum spekulativen Denken stehen, können denn auch die Gefühle dieser Klasse dasselbe ausnahmsweise ergänzen. Das Gefühl tritt nämlich hier als eine Art anticipatives Denken auf, welches seinen Gegenstand nicht mit dem klaren Bewußtsein aller diesem wesentlich zukommenden Merkmale und Beziehungen, sondern bloß kummulativ, nach einem allgemeinen Totaleindrucke erfaßt. Darum haftet dem Gefühl im Vergleiche zum Denken immer eine gewisse Unklarheit an.47
Epistemische Gefühle gehen demnach dem wissenschaftlichen Denken voraus, veranlassen das wissenschaftliche Denken, begleiten es, fokussieren die kognitive Aufmerksamkeit oder lenken sie ab, hemmen und stören das Denken oder tragen sogar ergänzend zur Konstitution des Denkakts bei, etwa indem sie dann subjektive Gewissheit stiften, wenn der Denker die logischen Gründe „nicht einzeln und in logischer Abfolge zu produciren“ vermag.48 Die strikte Trennung von Erkenntnis und Gefühl, von Epistemologie und Psychologie wird in der Zeit jedenfalls allenthalben und aus den unterschiedlichsten Perspektiven attackiert,49 auch noch nach der erfolgten Kritik Edmund Husserls an allen Formen psychologistischer Logik.50 Innerhalb dieser teils psychologischen, teils logischerkenntnistheoretischen Diskussionen sind auch Musils und Nelsons Beiträge zu platzieren, denn obgleich beide gegen Spengler, Bergson und andere Apologeten des Intuitiven argumentieren, ist doch beiden umgekehrt nicht an einer Überschätzung des Rationalen gelegen. Im Gegenteil: Musil wirbt für eine || 47 Joseph Wilhelm Nahlowsky, Das Gefühlsleben, Leipzig 1862, S. 157. Nahlowsky kennt auch ein Unwahrheitsgefühl, das aber wohl aus guten Gründen nicht eigens charakterisiert wird, kann es sich doch eigentlich um nicht mehr als um ein Wahrheitsgefühl zu einer negierten Aussage handeln. Vgl. aber zu dieser Frage auch den Beitrag von Steffen Martus in diesem Band. 48 Nahlowsky, Das Gefühlsleben, S. 157. 49 Vgl. unter anderem Christoph Sigwart, Logik, Bd. 1, Freiburg 21889 (erstmals 1873), S. 15f.; Wilhelm Wundt, Logik. Eine Untersuchung der Principien der Erkenntniss und der Methoden wissenschaftlicher Forschung, Stuttgart 21893, Bd. 1, S. 90–93; Theobald Ziegler, Das Gefühl. Eine psychologische Untersuchung, Stuttgart 1893, S. 159–163. Alois Höfler, Logik, unter Mitwirkung von Alexius Meinong, Prag u.a. 1890, S. 17f. 50 Zum schärfsten und einflussreichsten Kritiker der psychologistischen Logik avanciert Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Tübingen 1993 (erstmals 1900). Auch nach Husserls Angriff bleiben Denkgefühle und andere epistemische Gefühle ein Thema im psychologischen Diskurs, vgl. etwa T. Parr, Der intellektuelle Eigenwert der Gefühlsbetonung. Ist der Dualismus zwischen Erkenntnis und Gefühl berechtigt?, Kristiana 1923 (erstmals 1912); Hans Apfelbach, Das Denkgefühl. Eine Untersuchung über den emotionalen Charakter der Denkprozesse, Wien und Leipzig 1922. Kritisch hingegen Rudolf Geis, Logische Gefühle, in: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 28.3 (1915), S. 329–343; Johannes Rehmke, Zur Lehre vom Gemüt. Eine psychologische Untersuchung, Leipzig 1911, S. 61f.
202 | Andrea Albrecht „Durchdringung rationaler und irrationaler Elemente“51 in der (essayistischen) Dichtung; dementsprechend ist es für ihn auch gerade die „beide Ufer berührende Spannweite“52 von Spenglers Buch, die ihm trotz seinen Vorbehalten gegen die Durchführung ein Kompliment abringt. Nelson wiederum ist weniger an der Dichtung als vielmehr an einer erkenntnistheoretischen Reflexion interessiert, die logischen und psychologischen, rationalen und irrationalen Elementen angemessen Rechnung trägt, geht er doch davon aus, dass der rationalistisch-logizistische mit dem psychologistischen Philosophen ein irriges Vorurteil teile: „Beide Teile verkennen das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie; der erste hält für philosophisch, was in der Tat nur psychologisch ist, der andere hält für psychologisch, was in der Tat philosophisch ist.“53 Um dieser Verkennung entgegenzutreten, greift Nelson in seinen epistemologischen Arbeiten nicht auf die zeitgenössischen Theorieangebote zurück, sondern aktualisiert stattdessen die Erkenntnistheorie des mathematikaffinen Kantianers Jakob Friedrich Fries (1773–1843), der sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit einer Theorie des „Wahrheitsgefühls“ beschäftigt und damit einen, wie Nelson meint, zentralen, bislang aber nicht ausreichend gewürdigten Baustein logisch-psychologischer Erkenntnistheorie geliefert habe. Sowohl für die Erkenntnistheoretiker des Neukantianismus als auch für diejenigen des logischen Empirismus – also mithin für die beiden bedeutenden wissenschaftsphilosophischen Richtungen des frühen 20. Jahrhunderts – diskreditiert Nelson sich allerdings durch seinen Rückgriff auf Fries. Ernst Cassirer, der als Vertreter der Marburger Schule des Neukantianismus gegen Nelson vorgeht, sieht dessen Fehler darin, nicht zwischen der (psychologischen) Erkenntnistätigkeit und der (logischen) Gültigkeit von Wissensansprüchen zu unterscheiden, also zwischen dem, was man heute mit Hans Reichenbach Genese und Geltung54 nennt:
|| 51 Robert Musil, Literat und Literatur. Randbemerkungen dazu (1931), in: ders., Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden, hrsg. v. Adolf Friśe, Hamburg 1955, S. 698–718, hier S. 711. 52 Ders., Geist und Erfahrung, S. 667. 53 Leonard Nelson, Kritische Methode und das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie. Ein Kapitel aus der Methodenlehre, Göttingen 1904 (Abhandlungen der Friesschen Schule, Neue Folge 1,1), hier zit. nach ders., Gesammelte Schriften in neun Bänden, hrsg. v. Paul Bernays u.a., Bd. 1: Die kritische Schule und ihre Methode, Hamburg 1970, S. 9–78, § 24, S. 41. 54 Überlegungen zu dieser bis heute grundlegenden Unterscheidung, die mit Hans Reichenbach etabliert wurde, gibt es schon bei William Whewell, vgl. dazu u.a. den Sammelband von Jutta Schickore, Friedrich Steinle (Hrsg.), Revisiting Discovery and Justification. Historical and philosophical perspectives on the context distinction, Dordrecht 2006.
„Wahrheitsgefühle“ | 203 Der eigentliche Differenzpunkt zwischen erkenntniskritischer und psychologischer Methode […] wurzelt zuletzt in einem Doppelsinn, den der Begriff der Erkenntnis selbst in sich birgt. „Erkenntnis“ bedeutet das eine Mal den Inbegriff der geistigen Akte, durch welche das empirische Subjekt eine irgendwie begründete, gültige Wahrheit ergreift und sich zu Eigen macht; aber es kann dadurch auf der anderen Seite auch lediglich der Inhalt dieser Wahrheit selbst, also ein logisch wahrer und feststehender Satz bezeichnet werden. […] Die Geltung dieses Zusammenhangs wird gesichert und begründet, ohne jedwede Berufung auf irgend eine empirische Existenz. Um die Stellung zu verstehen, die irgend ein einzelnes mathematisches Urteil im System der Mathematik überhaupt einnimmt […], brauche ich auf die subjektiven Erkenntnistätigkeiten, durch welche ich mir den Inhalt dieses Urteils zum Bewusstsein bringe, nicht zu reflektieren.55
Ähnlich scharf urteilt auch Moritz Schlick über Nelsons erkenntnistheoretisches Anliegen, wenn er in seiner Kritik am intuitiven Erkennen Nelson in einem Atemzug mit Bergson nennt. Schlick geht dabei einen Schritt weiter als Cassirer: Während Cassirer Gefühle, Intuitionen und Ähnliches der Psychologie des Erkennens, also der Wissensgenese zuweist und ihnen nur den erkenntnistheoretischen Wert aberkennt, erübrigen sich für Schlick diese subjektiven Aspekte auch für die psychologische Beschreibung der Wissensgenese. 1913 stellt er apodiktisch fest, dass man „durch Intuition, durch Schauung, überhaupt keine Erkenntnisse gewinnen kann, daß sie nicht nur keine Methode einer strengen Wissenschaft ist, sondern gar keine wissenschaftliche Methode.“56 Doch nicht nur die philosophischen, auch die psychologischen Teile der Nelson’schen Gefühlsepistemologie werden zurückgewiesen. Kurt Sternberg echauffiert sich beispielsweise in einer Rezension über Nelsons ethische Adaption des Fries’schen Wahrheitsgefühls und verteidigt die Psychologen, die sich, wie Sternberg meint, zu Recht vor Fries’ „Intellektualisierung der Gefühlsvorgänge“ hüten und darauf insistieren, „daß Erkennen und Fühlen nicht nur dem Grade, sondern auch der Art nach differieren.“57 Der erkenntnistheoretische Status epistemischer Gefühle und die kritischen Reaktionen in der Zunft stellen allerdings nur einen Aspekt der Nelson’schen Position dar, wenn man so will einen Aspekt der klassischen Epistemologie; einen anderen Aspekt bilden die wissenschaftssoziologischen Implikationen und Funktionen, die Nelson mit seinem Plädoyer für das Wahrheitsgefühl verbindet und die sich, im Kontext der kollektiven Wissenschaftsorganisation || 55 Ernst Cassirer, Zur Frage der Methode der Erkenntniskritik – eine Entgegnung, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 31 (1907), S. 441–465, hier S. 449f. 56 Moritz Schlick, Gibt es intuitive Erkenntnis?, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie 37 (1913), S. 472–488, hier S. 476. 57 Kurt Sternberg, [Rez.] Nelson, Leonard, Die kritische Ethik bei Kant, Schiller und Fries, in: Kant-Studien 28 (1923), S. 142–146, hier S. 144.
204 | Andrea Albrecht seiner Zeit situiert, als Aspekte einer ‚sozialen Epistemologie‘ deuten lassen. In Cassirers Kritik an Nelson wird auf diese soziale Dimension implizit hingewiesen, da Cassirer Nelsons Angriff auf Hermann Cohen als Versuch einer eigenen, gegen die Marburger Schule gerichteten Schulenbildung versteht und als solchen pariert. – Doch zunächst zur Frage, wie überhaupt Fries das Wahrheitsgefühl in das kantische Modell der Erkenntnis integriert. Erst im Anschluss daran lässt sich zeigen, was sich Nelson von seiner mehr als ein halbes Jahrhundert später gestarteten Rehabilitierung der Fries’schen Lehre vom Wahrheitsgefühl verspricht.
2. „Wahrheitsgefühle“ bei Jakob Friedrich Fries Der Mathematiker Bernhard Bolzano (1781–1848), der gemeinsam mit Jakob Friedrich Fries um eine Konzeptualisierung des ‚Wahrheitsgefühls‘ bemüht war, grenzt in seiner Wissenschaftslehre von 1837 eine gefühlte Wahrheit von einer „deutliche[n] Erkenntniß“ ab: Während man für die deutliche Erkenntnis Gründe kenne, sei das Wahrheitsgefühl ein Vermögen, ein wahres Urtheil zu fällen oder (was eben so viel heisst) die Wahrheit zu erkennen, ohne sich gleichwohl des Grundes, aus dem man sie erkennt, bewusst zu werden.58
Auf differenziertere Weise findet man Wahrheitsgefühle bei Fries selbst erläutert. Dabei ist Fries über die Wahl des Ausdrucks ‚Gefühl‘ unglücklich: Er habe damit, stellt er in der Neuen oder anthropologischen Kritik der Vernunft von 1807 fest,59 dem „gewöhnlichen Sprachgebrauch viel Gewalt angethan“, sofern er mit || 58 Bernhard Bolzano, Wissenschaftslehre, Sulzbach 1837, Bd. 3, S. 259. Vgl. zu Bolzano vor allem Anita Konzelmann Ziv, Kräfte, Wahrscheinlichkeit und ‚Zuversicht‘ – Bernard Bolzanos Erkenntnislehre, Sankt Augustin 2010 (Beiträge zur Bolzano-Forschung 23), vor allem S. 360ff.; Anita Konzelmann Ziv, Bolzanian Knowing: Infallibility, Virtue and Foundational Truth, in: Synthese 183 (2009), S. 27–45. 59 Vgl. dazu Theodor Elsenhans, Fries und Kant. Ein Beitrag zur Geschichte und zur systematischen Grundlegung der Erkenntnistheorie, Gießen 1906, insb. S. 211ff.; Georg Weiß, Fries’ Lehre von der Ahndung in Ästhetik, Religion und Ethik, Göttingen 1912; Zeko Torboff, Über die Fries’sche Lehre vom Wahrheitsgefühl, Göttingen 1929; aus der neueren Literatur: Wolfgang Bonsiepen, Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, Schelling, Fries und Hegel, Frankfurt a.M. 1997, insb. S. 382ff.; Kay Herrmann, Mathematische Naturphilosophie in der Grundlagendiskussion. Jakob Friedrich Fries und die Wissenschaften, Göttingen 2000; ferner Elke Völmicke, Gewißheit und Geltung. Zur Auflösung des Geltungsproblems bei Fries, in: Wolfgang Marx, Ernst Wolfgang Orth (Hrsg.), Hermann Cohen und die Erkenntnistheorie,
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‚Wahrheitsgefühl‘ keine Empfindung, kein Gefühl der Lust oder Unlust, sondern einen „Akt der Denkkraft“60 bezeichnen will, der allerdings nicht begrifflich ist und eben deshalb in Ermangelung eines anderen Ausdrucks den Gefühlen beigeordnet wird. Fries unterscheidet nun insgesamt drei Formen von Wahrheitsgefühlen. Die erste, unproblematischste Form wird wie bei Bolzano als eine noch nicht deutliche Erkenntnis definiert. Diese gehe wissenschaftlichen Einsichten voraus, die sich früher oder später ganz in logische Schlussreihen auflösen lassen.61 Das Wahrheitsgefühl dieses ersten Typs vertritt also nur vorläufig die Wahrheitserkenntnis; es ist als solches für den Alltag ausreichend, kann auf Nachfrage durch Begründungen aufgehellt werden oder aber verheißt dem fühlenden Subjekt eine spätere Einsicht. In der Darstellung von Theodor Elsenhans beruht diese „erste Art“ des Wahrheitsgefühls nur auf dem Grade, wie weit ich mir eben jetzt der Gründe eines Urteils bewußt bin. Jedes Urteil nur nach bestimmten Begriffen und abgemessenen Schlüssen aussprechen zu wollen, ist der Fehler der Pedanterie. Gesunde, lebendige Urteilskraft muß sich im Leben oft dem Gefühl anvertrauen. Insbesondere ist dies der Fall in allen verwickelten Verhältnissen, in welchen schnelle Entscheidung gefordert wird. Hierher gehört teils der praktische Takt des Geschäftsmanns, des Advokaten, der in der verwickeltsten Prozeßsache nach einer kurzen Übersicht eine Entscheidung trifft, des Arztes, der nach wenigen Fragen den Zustand eines Kranken genau zu beurteilen weiß; teils das sittliche Gefühl, wobei das Gewissen unmittelbar ohne Vergegenwärtigung aller Prämissen des Urteils den Wert einer Handlung abmißt.62
Es ist kein Zufall, dass Fries und Elsenhans zur Erläuterung auf den Ausdruck ‚Takt‘ rekurrieren, der im 19. Jahrhundert in vielen Belangen zur Bezeichnung eines Vermögens verwendet wird, das sich nicht vollständig methodisch einhegen lässt.63 Die zweite Form des Wahrheitsgefühls manifestiert sich in der konkreten und praktischen Anwendung von allgemeinen Regeln. In Fries’ kantischer || Würzburg 2001, S. 31–48, insb. S. 37ff.; Andreas Brandt, Ethischer Kritizismus. Untersuchungen zu Leonard Nelsons „Kritik der praktischen Vernunft“ und ihren philosophischen Kontexten, Göttingen 2002. 60 Jakob Friedrich Fries, Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft, Heidelberg, 2. Aufl., 1828, Bd. 1, S. 414f. 61 Vgl. ebd., S. 412. Vgl. auch Elsenhans, Fries und Kant, S. 212; Weiß, Fries’ Lehre von der Ahndung, inbes. S. 39–44. 62 Elsenhans, Fries und Kant, S. 211. 63 Vgl. auch dazu vor allem Danneberg, „ein Mathematiker, der nicht etwas Poet ist, wird nimmer ein vollkommener Mathematiker sein“.
206 | Andrea Albrecht Terminologie leitet dieses Wahrheitsgefühl unmittelbare, nicht begriffliche Tätigkeiten der subsumierenden Urteilskraft an. Es scheint sich dabei also um eine Art implizites oder auch praktisches Wissen zu handeln.64 Fries gründet diesen Typ des Wahrheitsgefühls dementsprechend auf „Übung und Gewöhnung“65 und geht davon aus, dass dieses Gefühl bisweilen, aber nicht immer diskursiv auflösbar sei.66 Die dritte Form des Wahrheitsgefühls ist ein Gefühl der reflektierenden Urteilskraft und soll einen Ausweg aus dem später so genannten „Agrippa“- oder auch „Münchhausen-Trilemma“ weisen, also eine Antwort auf die Frage geben, wie sich eine Kette von philosophischen Begründungen letztlich selbst begründen lässt: Mündet sie in einen infiniten Regress, in einen Zirkelschluss, oder wird sie durch eine axiomatische Setzung willkürlich abgebrochen (Dogmatismus)? In der Geschichte der Philosophie ist dieses „Basisproblem“ philosophischer Letztbegründung immer wieder erörtert worden, denn will man einen Zirkelschluss vermeiden und, wie Popper schreibt, die Sätze der Wissenschaft nicht dogmatisch einführen, so muß man sie begründen. Verlangt man eine logische Begründung, so kann man Sätze immer nur auf Sätze zurückführen: die Forderung nach logischer Begründung […] führt zum unendlichen Regreß. Will man sowohl den Dogmatismus wie den unendlichen Regreß vermeiden, so bleibt nur der Psychologismus übrig, d.h. die Annahme, daß man Sätze nicht nur auf Sätze […] gründen kann. 67
Fries entscheidet sich für eine moderate psychologische Lösung des Trilemmas: Das besagte Wahrheitsgefühl des dritten Typs ist für ihn ein „unmittelbare[r] willkührliche[r] Akt des Bewußtseyns im Denken“;68 es soll dem Denkenden nicht zu einem Glauben oder einem Wissen, sondern zu einer „Ahndung“ verhelfen, auf die sich – und das ist für seine Konzeption und auch für die Wiederauflage von Nelson von größter Wichtigkeit – das Selbstvertrauen der Vernunft gründen und somit ‚hinter dem Rücken‘ des begrifflichen Denkens69 Gewissheit fundieren kann. „Die Ahndung aber hat man meist den Dichtern überlassen, sie in die Philosophie einzuführen, ist, soviel ich weiss, vor mir noch keinem Philosophen || 64 Elsenhans, Fries und Kant, S. 212. 65 Torboff, Über die Fries’sche Lehre vom Wahrheitsgefühl, S. 20. 66 Ebd., S. 25. 67 Karl R. Popper, Logik der Forschung (1934), 10. Aufl., Tübingen 2002, S. 61. Popper selbst schlägt Fries verkürzend dem Psychologismus zu und entscheidet sich selbst für einen ‚harmlosen Dogmatismus‘ (S. 70). 68 Fries, Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft, S. 413f. 69 Völmicke, Gewißheit, S. 39f.
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eingefallen“, trumpft Fries auf und definiert: „Ahndung aber ist eine nothwendige Überzeugung aus blossem Gefühl“70 – eine Bestimmung, die religiös und ästhetisch rückgebunden wird,71 aber auch für die Logik eine Funktion haben, etwa skeptizistische Anfeindungen konterkarieren soll. Wahrheitsgefühle sind bei Fries dennoch nicht irrational, denn sie sollen ausdrücklich nicht mit der intellektuellen Anschauung der romantischen Naturphilosophie zusammenfallen – für Fries Ausdruck einer „frommen Liebe zum Mysticismus, und ähnlichen Süssigkeiten“.72 Das Wahrheitsgefühl verweist bei Fries auch nicht auf einen empirisch identifizierbaren Bewusstseinsinhalt und ist somit nicht Gegenstand der empirischen Psychologie. Fries lehnt ausdrücklich Versuche ab, „die Grundsätze der philosophischen Logik […] durch empirische Psychologie, d.h. durch Erfahrungen“ beweisen zu wollen.73 Das Wahrheitsgefühl bringt vielmehr, analog zum „moralischen Gefühl[]“ und zum „praktischen Takt[]“ in Ethik beziehungsweise Ästhetik,74 etwas zu Bewusstsein, das in der Folge mittels der Vernunft diskursiv gerechtfertigt werden kann und auch gerechtfertigt werden soll, denn das Wahrheitsgefühl und das dadurch initiierte Vertrauen in die Vernunft implizieren nach Fries einen Handlungsimpuls, eine „Aufgabe“, wie es auch später im Neukantianismus noch oft heißt. Es motiviert75 die Einnahme einer wissenschaftlichen Haltung, eines || 70 Jakob Friedrich Fries, Wissen, Glaube und Ahndung, Jena 1805, S. 64. 71 Vgl. dazu Wolfram Hogrebe, Ahnung und Erkenntnis. Brouillon zu einer Theorie des natürlichen Erkennens, Frankfurt a.M. 1996, S. 59–64. Vgl. aber auch schon Weiß, Fries’ Lehre von der Ahndung, S. 42, der sogar mit einer „Tafel der Wahrheitsgefühle“ aufwartet. 72 Fries, Wissen, Glaube und Ahndung, S. V. 73 Jakob Friedrich Fries, System der Logik, Heidelberg 1837 (3. Aufl.), S. 5. Für die innere wie für die äußere Erfahrung gilt demnach, dass erst die Reflexion die Wahrnehmung zu einer Erfahrung macht, die dem inneren Sinn nicht unmittelbarer gegeben ist als den äußeren Sinnen. 74 Ders., Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft, S. 410. 75 Vgl. Popper, Logik der Forschung, S. 71. Ähnliche Berufungen auf Wahrheitsgefühle finden sich in der Zeit des Öfteren, beispielsweise bei Friedrich Schleiermacher, der das Verstehen mit einem Akt „divinatorische[r] Kühnheit“ beginnen lassen will und dazu auf eine „Ahnung“ des Ganzen vertraut, vgl. ders., Über den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch (1829), in: ders., Hermeneutik und Kritik, hrsg. v. Manfred Frank, 4. Aufl., Frankfurt a.M. 1990, S. 309–346, hier S. 327. Ähnlich bei August Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, hrsg. v. Ernst Bratuschek, 2. Aufl., Leipzig 1886, S. 174: „Auch bei der Kritik liegt daher die letzte Entscheidung in einem unmittelbaren Gefühl, das aus einem unbestechlichen Sinn für historische Wahrheit hervorgeht. Dies Gefühl zur möglichsten inneren Stärke und Klarheit zu bringen muss des Kritikers höchstes Streben sein; es bildet sich dann zu einem künstlerischen Trieb aus, der ohne Reflexion sicher das Richtige trifft […].“ Bei Goethe heißt es: „Alles was wir Erfinden, Entdecken im höheren
208 | Andrea Albrecht Ethos. „Aber keinesweges wird dadurch der gebildete Geist auf eine mystische nur schwärmerisch anzuerkennende Quelle der Wahrheit verwiesen“, greift Fries möglichen Einwänden vor, sondern es wird ihm zur wissenschaftlichen Aufgabe gemacht: in der Kritik der Vernunft die Aussprüche dieser Wahrheitsgefühle richtig darzustellen und durch die Theorie der erkennenden Vernunft zu rechtfertigen.76
Das Wahrheitsgefühl gibt dem Subjekt demnach einen (psychischen) Impuls zur Einnahme einer (ethischen) Haltung, die es zur (logischen) Reflexion anund von skeptizistischen Zweifeln abhält. Man wird dieser gebotenen Reflexionsaufgabe nicht gerecht, wenn man sich nur mit dem Wahrheitsgefühl selbst begnügt und keine Reflexion anstrengt – eine Unterlassung, die Fries als eine infantile, weil vor-, unwissenschaftliche oder auch ästhetische Haltung des Philosophierens brandmarkt und unter dem Ausdruck „Intuition“ firmieren lässt. Unter den zeitgenössischen Naturphilosophien meinte er diese Haltung wieder gehäuft zu beobachten: In der Kindheit der Philosophie ging der vernünftelnden Phantasie des Orients Mythologie und Philosophie ganz in eins auf, weil die Idee der Wissenschaft noch nicht erfunden war. Erst bey den Griechen, nach den Zeiten der Orphischen Weisheit, schieden sich Schönheit und Wahrheit in ihren Ansprüchen deutlicher von einander, der Geschmack und die Wissenschaft erhielten ihre gesonderten Gebiete; der Kampf der Philosophen um die Wahrheit mit den Mythen der Priester begann. Sobald in späterer Geschichte der Philosophie die phantasirende Vernunft wieder auf philosophische Intuition (als Ekstase oder intellectuelle Anschauung) zurückgeführt wurde, mußte sich aber auch das Wohlgefallen an je|| Sinne nennen, ist die bedeutende Ausübung, Betätigung eines originalen Wahrheitsgefühles, das, im Stillen längst ausgebildet, unversehens, mit Blitzesschnelle zu einer fruchtbaren Erkenntnis führt. Es ist eine aus dem Innern am Äußern sich entwickelnde Offenbarung, die den Menschen seine Gottähnlichkeit vorahnen läßt. Es ist eine Synthese von Welt und Geist, welche von der ewigen Harmonie des Daseins die seligste Versicherung gibt.“ (Johann Wolfgang Goethe, Maximen und Reflexionen, Nr. 364, in: ders., Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 12, München 2008, S. 414.) Kant hingegen war misstrauisch. In der Kritik der Urteilskraft, in: Akademieausgabe von Immanuel Kants Gesammelten Werken, Berlin 1900ff., Abt. I, Bd. 5, § 40, S. 293, heißt es : „Man giebt oft der Urtheilskraft, wenn nicht sowohl ihre Reflexion als vielmehr bloß das Resultat derselben bemerklich ist, den Namen eines Sinnes und redet von einem Wahrheitssinne [...]; ob man zwar weiß, wenigstens billig wissen sollte, daß es nicht ein Sinn ist, [...] noch weniger, daß dieser zu einem Ausspruche allgemeiner Regeln die mindeste Fähigkeit habe: sondern daß uns von Wahrheit, Schicklichkeit, Schönheit oder Gerechtigkeit nie eine Vorstellung dieser Art in Gedanken kommen könnte, wenn wir uns nicht über die Sinne zu höhern Erkenntnißvermögen erheben können.“ Fries, Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft, S. 414. 76 Ebd.
„Wahrheitsgefühle“ | 209 ner Vermengung des Mythologischen mit der Philosophie erneuen, wie wir dieß jetzt in der deutschen Philosophie nochmals bestätiget sehen.77
Das von Fries akzeptierte, nicht intuitive Wahrheitsgefühl hingegen geht jeder rechtfertigenden Erkenntnis ursprünglich voraus78 und ist somit – in der Terminologie Cassirers – ein Realgrund (kein logisch-transzendentaler Erkenntnisgrund) der Erkenntnis, den man weder logisch ableiten noch demonstrativ beweisen (empirisch zeigen), sondern nur regressiv erschließen könne. Fries unterscheidet zwei Formen der regressiven Reflexion: die Spekulation (kritische, zergliedernde, analytische Methode, die vom Besonderen zum Allgemeinen aufsteigt) und die Induktion (empirische Methode, die vom sinnlich Gegebenen ausgehend allgemeine Gesetze aufzustellen sucht). 79 Die Induktion habe mit dem Beweisen, die Spekulation nur mit dem Aufweisen allgemeiner Regeln zu tun.80 Darüber hinaus nimmt Fries an, dass der gefühlte Realgrund, das Wahrheitsgefühl, faktisch allen Menschen gemein ist: Die in allen Menschen gleichermaßen arbeitende und daher anthropologisch (nicht transzendentalphilosophisch) zu bestimmende Vernunft bürgt ihm für die Allgemeingültigkeit und Vermittelbarkeit des menschlichen Denkens. 81 Alle Menschen sehen sich demnach vor die ethische Aufgabe gestellt, ihre unbegrifflichen, nur gefühlten || 77 Ders., Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft, Heidelberg, 2. Aufl., 1831, Bd. 3, S. 374f. 78 Schon Kant hatte das Vorausgehen der Erfahrung vor der Erkenntnis konstatiert, dieses aber als rein temporales Phänomen vom Entspringen unterschieden: „Daß alle unsere Erkenntniß mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnißvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und theils von selbst Vorstellungen bewirken, theils unsere Verstandesthätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen, und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntniß der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt? Der Zeit nach geht also keine Erkenntniß in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an. Wenn aber gleich alle unsere Erkenntniß mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung.“ Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Akademieausgabe von Immanuel Kants Gesammelten Werken, Berlin 1900ff., Abt. I, Bd. 2, S. 27. Fries, Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft, Bd. 3, S. 374f. 79 Vgl. ders., System der Metaphysik, Heidelberg 1824, § 27, S. 157f. Die progressive Methode liefert für ihn in der Philosophie nichts Neues, vgl. ders., Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft, § 78, S. 383. In der Mathematik allerdings ist die synthetisch-progressive Methode die Methode der Wahl. 80 Vgl. ders., System der Logik. Ein Handbuch für Lehrer und zum Selbstgebrauch, 3. Aufl., 1837, § 128, S. 428f. 81 Vgl. Ernst Cassirer, Zur Frage der Methode der Erkenntniskritik – eine Entgegnung, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 31 (1907), S. 441–465, hier S. 452.
210 | Andrea Albrecht Wahrheiten logisch und im Vertrauen auf das Vermögen der Vernunft zu reflektieren und auf einen erkenntnistheoretisch soliden Grund zu stellen. Fries’ Konzept des Wahrheitsgefühls, das er explizit als eine anthropologische Fortschreibung der Kant’schen Transzendentalphilosophie verstanden wissen will, ist schon im 19. Jahrhundert stark umstritten. Für Hegel ist Fries schlicht ein „Heerführer“ des seichten Denkens: „Dies ist der Hauptsinn der Seichtigkeit, die Wissenschaft, statt auf die Entwicklung des Gedankens und Begriffs, vielmehr auf die unmittelbare Wahrnehmung und die zufällige Einbildung zu stellen“, stellt er klar.82 Auch Johann Friedrich Herbart polemisiert in einer Rezension, dass die Fries’sche Lehre „vorn mit Logik, Mathematik, Erfahrung“ prange und „hinten […] einen mystischen Schweif nach sich“ ziehe, „indem alles Wissen für ein Nicht-Wissen des Wahren erklärt wird, welches letztere man nur glauben und ahnen könne.“83 1862 gibt Kuno Fischer dann mit seiner Prorektoratsrede die psychologistische (Fehl-?)Deutung von Fries’ Lehre vor, die fortan bestimmend sein sollte: Fries habe in antimetaphysischer Absicht die kantische Vernunftkritik als „Erfahrungsseelenlehre“84 bestimmt und sie – gegen Kant – „in die Sprache der empirischen Psychologie“85 übersetzt. Die Psychologen der Zeit können allerdings mit Fries’ Lehre wenig anfangen, abgesehen von ein paar wenigen Ausnahmen.86 Und auch die Neukantianer, die mit Fries um die richtige Fortschreibung der kantischen Philosopheme konkurrieren, sind sichtlich um Distanz bemüht: Wilhelm Windelband beispielsweise kennt zwar einen „Wahrheitstrieb“ und ein „Wahrheitsgefühl“,87 versteht darunter aber nur eine weitgehend unbewusste Disposition des sittlichen Willens, die insbesondere den Wissenschaftler auszeichne und ihn, zusammen mit Gewöhnung und Erziehung, zur methodischen Wahrheitssuche antreibe.88 Heinrich Rickert hingegen verabschiedet sich, nachdem er für seine Konzeption
|| 82 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders., Werke, Bd. 7, hrsg. v. Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1975, S. 18f. 83 Johann Friedrich Herbart, Sämmtliche Werke, Bd. 12: Historisch-kritische Schriften, hrsg. v. G. Hartenstein, Leipzig 1852, S. 491–516. hier S. 491. 84 Kuno Fischer, Die beiden kantischen Schulen in Jena. Rede zum Antritt des Prorektorats, in: ders., Vorträge und Reden, Stuttgart 1862, S. 77–102, hier S. 92. 85 Ebd., S. 94. 86 Zum Beispiel Friedrich Eduard Beneke (1798–1854), der sich in seinen psychologischen Arbeiten an Fries orientierte. 87 Wilhelm Windelband, Über Denken und Nachdenken (1877), in: ders., Präludien. Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie, Tübingen 1907 (3. Aufl.), S. 243–277, hier S. 275. 88 Ebd., S. 276.
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‚gefühlter Erkenntnisse‘ scharf kritisiert worden war,89 ganz vom Ausdruck des Wahrheitsgefühls und weist die psychologistischen Unterstellungen von sich.90 Konsultiert man schließlich die Neukantianer der frühen Marburger Schule, so hat Fries ihres Erachtens aus den „Geltungsgründen möglicher Erkenntnis ein dunkles, metaphysisch abgesichertes Bewußtseinsfaktum“91 zu machen versucht, was für Hermann Cohen im Bereich wissenschaftlichen Denkens eindeutig nichts zu suchen hat: „Unmittelbar erscheint die Vernunft nur dem Mythos und allenfalls der Poesie, oder aber der das ‚Dunkle‘ hervorhebenden Psychologie“, konstatiert er in Kants Theorie der Erfahrung (1871).92 Die mathematikphilosophische Grundierung der Marburger kongruierte offenbar nicht mit der Fries’schen Mathematikphilosophie. Was also ist es, was Nelson der Fries’schen Lehre abzugewinnen meint?
3. Unmittelbare Erkenntnis – Nelsons Absage an die Erkenntnistheorie Rückgriffe auf die Fries’sche Lehre finden sich bereits in Nelsons frühesten Schriften. Nach einem gescheiterten Versuch in Berlin promoviert er 1904 in Göttingen bei Julius Baumann zu Jakob Friedrich Fries und seine jüngsten Kritiker und bemüht sich in den Folgejahren gemeinsam mit einer zunächst recht locker verbundenen Gruppe von Gleichgesinnten und Schülern unter anderem um die Rekonstruktion und Verbreitung der Fries’schen Philosophie. Er gibt die Neue Folge der Abhandlungen der Fries’schen Schule heraus, gründet 1903 die Neue Friessche Schule und 1913 die Jakob Friedrich Fries-Gesellschaft.93 Seine zwar nicht immer sauber nachgewiesene, aber zunächst enge Orientierung an Fries weicht in den späteren Schriften einem selektiven und freieren Umgang mit den Quellen: Nachdem Nelson sich einmal als ‚Neofrisianer‘ etabliert hat, || 89 Vgl. Ernst Blumenthal, Über den Gegenstand der Erkenntnis (Gegen Heinrich Rickert), in: Abhandlungen der Fries’schen Schule, Bd. 1, Göttingen 1906, S. 343–372, u.a. S. 360; Moritz Schlick kann Rickert dafür kritisieren, dass er das „Wort Wissen einmal im Sinne von Erkenntnis, das andere Mal im Sinne des intuitiven Gegebenseins gebraucht“ (Schlick, Gibt es intuitive Erkenntnis, S. 482); Intuition werde so zum „Gegenteil von Erkenntnis“ (ebd., S. 486). 90 Heinrich Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis. Einführung in die Transzendentalphilosophie, 3. völlig umgearbeitete und erweiterte Aufl., Tübingen 1915, S. 201f., Anm. 91 Völmicke, Gewißheit, S. 42. 92 Hermann Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, 2. Aufl., Berlin 1885, S. 379. 93 Erna Blenke, Zur Geschichte der Neuen Fries’schen Schule und der Jakob Friedrich FriesGesellschaft, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 60.2 (1978), S. 199–208.
212 | Andrea Albrecht bemüht er sich – vergleichbar dem Umgang der Neukantianer mit Kant – um eine Fortentwicklung und Aktualisierung der übernommenen Gedankenwelt und schreckt dabei auch nicht vor Korrekturen und eklektischen Ergänzungen zurück, so dass seine philosophischen Stellungnahmen mitunter nur noch wenig mit dem historischen Fries zu tun haben,94 seinem Kreis aber wohl umso mehr als eine eigene Nelson’sche Weltanschauung gelten können.95 ‚Wahrheitsgefühle‘ tauchen schon in seiner Dissertation und in der nahezu zeitgleich entstandenen Schrift Die kritische Methode und das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie (1904) auf. Da Nelson jedoch zu ausgedehnten Zitatcollagen neigt und oftmals die eigene Position hinter Zitaten und Paraphrasen verbirgt, ist sein eigenes Konzept des Wahrheitsgefühls nicht immer eindeutig zu bestimmen. In der Dissertation Jakob Friedrich Fries und seine jüngsten Kritiker verweist er immerhin auf die für Fries „äußerst wichtige Theorie des Wahrheitsgefühls“ und nimmt dieses Fries’sche Theorieelement ausdrücklich gegen Kritik in Schutz.96 Später wird das Konzept in modifizierter und entproblematisierter Form in die eigenen Reflexionen integriert, etwa in Von der Kunst, zu philosophieren (1918),97 so dass man davon ausgehen kann, dass Wahrheitsgefühle zum konstanten Bestandteil von Nelsons philosophischem Denken zählen. Durchwegs ist er jedoch darum bemüht, zwischen legitimen und illegitimen Wahrheitsgefühlen zu unterscheiden. Illegitime Wahrheitsgefühle sind unter anderem Intuitionen: Darum ist es von so großer Wichtigkeit für die Kritik der Vernunft, daß wir die wahre Natur der Wertgefühle und überhaupt der Wahrheitsgefühle richtig erkennen und sie von allen intuitiven Akten, seien es solche des Erkennens oder des Interesses, unterscheiden lernen.98
|| 94 Vgl. zu Nelsons Appropriation des Fries’schen Wahrheitsgefühls auch Brandt, Ethischer Kritizismus, S. 213f. 95 Vgl. auch Nelsons Verteidigung einer philosophischen Weltanschauung in Leonard Nelson, Von der Kunst, zu philosophieren (1918), in: ders., Gesammelte Schriften in neun Bänden, hrsg. v. Paul Bernays u.a., Bd. 1: Die kritische Schule und ihre Methode, Hamburg 1970, S. 219–245, hier S. 225f. 96 Ders., Jakob Friedrich Fries und seine jüngsten Kritiker. Inaugural-Dissertation, Göttingen 1904, hier zitiert nach: ders., Gesammelte Schriften in neun Bänden, hrsg. v. Paul Bernays u.a., Bd. 1: Die kritische Schule und ihre Methode, Hamburg 1970, S. 79–150, hier S. 135ff. 97 Den Titel entlehnt Nelson wiederum einer Fries’schen Schrift, vgl. Jakob Friedrich Fries, Reinhold, Fichte und Schelling, Leipzig 1803, S. 245ff. 98 Leonard Nelson, Kritik der praktischen Vernunft, in: ders., Gesammelte Schriften in neun Bänden, hrsg. v. Paul Bernays, Bd. 4, Hamburg 1972, § 318, S. 645. Wertgefühle bilden bei
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Intuitive Erkenntnisakte, die sich wie die legitimen Wahrheitsgefühle ebenfalls auf das Gefühl berufen, werden also abgelehnt. Eine „Berufung auf das Gefühl der Evidenz“ oder andere Formen der Intuition besitzt für Nelson keine epistemische Überzeugungskraft, seien doch viele „Irrtümer […] für unmittelbar evidente Wahrheiten ausgegeben worden“, die später revidiert werden mussten.99 Evidenzgefühle können also täuschen, Wahrheitsgefühle hingegen, beziehungsweise auch das, was Nelson „unmittelbare Erkenntnis“ nennt, können dies per definitionem nicht: Aller Streit um Irrtum und Wahrheit […] bezieht sich auf Urteile der Reflexion und betrifft ihre Vergleichung mit der unmittelbaren Erkenntnis, die sie wiederholen. Um diese unmittelbare Erkenntnis kann gar kein Streit sein, ihre Gewißheit kann nie in Frage gestellt und des Irrtums verdächtigt werden […]; wer sie für irrig erklärt, widerspricht sich selbst, der weiß nicht, was die Worte Irrtum und Wahrheit bedeuten.100
Während noch nachvollziehbar sein mag, dass es ebenso wenig Sinn macht, von einem ‚unwahren Wahrheitsgefühl‘ zu sprechen wie von einer ‚falschen Erkenntnis‘, ist es weniger klar, wie sich Nelson den Zusammenhang von Intuition auf der einen, Wahrheitsgefühl, unmittelbarer Erkenntnis und Reflexionsurteil auf der anderen Seite genau vorstellt. Das dahinter stehende Modell ist wiederum der Fries’schen Lehre entlehnt, aber zugleich in einigen wesentlichen Aspekten modifiziert. Im Einzelnen: Intuitionen, die sich auf Evidenzen, also augenfällige, unmittelbare Einsichten berufen, werden von Nelson deshalb epistemisch disqualifiziert, weil sie eine unsolide kognitive ‚Abkürzung‘ versprechen. Mögen Evidenzen noch bei einfachen Wahrnehmungen zu Einsichten führen, seien sie für komplexere, abstraktere Einsichten vollkommen fehl am Platz. „Evidenz fehlt den Anfängen eines philosophischen Systems unvermeidlich, weil sie die höchsten Abstraktionen sind“, heißt es daher bei Fries wie bei Nelson.101 Dagegen rehabilitiert Nelson – ebenfalls in Anknüpfung an Fries – Wahrheitsgefühl und unmittelbare Erkenntnis. Letztere ist von ersterem begleitet,102 || Nelson eine moralphilosophische Analogie zu den erkenntnistheoretischen Wahrheitsgefühlen, doch erstere sind hier nicht Thema. 99 Ders., Die kritische Methode und das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie. Ein Kapitel aus der Methodenlehre (1904), in: ders., Gesammelte Schriften in neun Bänden, hrsg. v. Paul Bernays u.a., Bd. 1: Die kritische Schule und ihre Methode, Hamburg 1970, S. 9–78, hier § 8, S. 20. 100 Ebd., § 11, S. 23. 101 Ders., Jakob Friedrich Fries, S. 101; Nelson zitiert aus Fries’ Neuer Kritik der Vernunft. 102 Ders., Die kritische Methode, § 11, S. 23f.; ders., Jakob Friedrich Fries, S. 138f.
214 | Andrea Albrecht das Wahrheitsgefühl bildet die psychologische Voraussetzung und den Anfang der kognitiven, philosophischen Einsicht, die wiederum den ‚Grund‘ für alle reflektierten, also alle mittelbaren philosophischen Erkenntnisse darstellt. Die unmittelbare Erkenntnis tritt somit als nicht-anschauliche, nicht-diskursive, aber unmittelbare und infallible Erkenntnis neben die sinnliche Anschauung und neben die mathematische Anschauung, welche ihrerseits jeweils den Grund für empirische beziehungsweise den Grund für mathematische Erkenntnisse abgeben. Die unmittelbare Erkenntnis wie auch das zugehörige Wahrheitsgefühl liegen für Nelson dabei jeder Reflexion, und das heißt jedem (prinzipiell falliblen) logischen Schließen zugrunde, insbesondere auch der metaphysischen Reflexion,103 die das eigentliche Geschäft des Philosophen ausmache.104 Alle Reflexionserkenntnisse sind demnach auf Wahrheitsgefühle und die zugehörigen unmittelbaren Erkenntnisse rückführbar, die Reflexion liefert dem Denkenden nichts Neues, sondern ‚wiederholt‘ und erhellt nach Nelsons Vorstellung nur das ‚dunkle Wissen‘ der unmittelbaren Erkenntnis vor dem Bewusstsein. Reflexionen diskursivieren und transformieren also die nur gefühlte, aber sichere Einsicht in ein logisches Urteil, können sich bei dieser Diskursivierung und Logisierung aber irren, also Fehlschlüsse aus dem an sich sicheren unmittelbaren Wissen ableiten. Im Rahmen metaphysischer Fragestellungen, die Auskunft über die höchsten und abstraktesten Grundsätze des Wissens und über das System des Denkens geben sollen, kann nun allerdings die Aufhellung des dunklen Wissens nicht mehr allein mittels der Reflexion und der Logik erfolgen. Die „Kritik der Vernunft“ wird von Nelson vielmehr auf Selbstbeobachtung und die Beobachtung nur subjektiv verbürgter, innerer Erfahrungen verpflichtet: Die „Ermittlung des Erkenntnisgrundes der nur deduzierbaren Urteile“ sei „eine Aufgabe der Wissenschaft aus innerer Erfahrung“ und somit „ein Geschäft der Psychologie. “ 105 Statt logisch abzuleiten oder zu beweisen, könne es der introspektiven, metaphysischen Psychologie aus diesem Grund nur um einen ‚Aufweis‘, um das Feststellen eines Faktums gehen:106 Die „metaphysischen Prinzipien“ werden, erläutert Nelson,
|| 103 Vgl. ders., Die kritische Methode, § 10, S. 23: „Es gibt folglich eine unmittelbare Erkenntnis nicht anschaulicher Art, die den Grund unserer metaphysischen Urteile bildet. Wir nennen sie die unmittelbare Erkenntnis der reinen Vernunft.“. 104 Ders., Von der Kunst, zu philosophieren, S. 223. 105 Ders., Die kritische Methode, § 14, S. 28. 106 Vgl. ebd., § 18, S. 31f.
„Wahrheitsgefühle“ | 215 aus der Theorie der Vernunft nicht bewiesen, sondern nur als solche aufgewiesen; wobei die Schlusskraft in der Beantwortung ihres quid juris nicht auf den zu Grunde gelegten Induktionen der inneren Erfahrung, sondern auf dem Selbstvertrauen der Vernunft ruht. Dies Selbstvertrauen der Vernunft ist das allgemeine Prinzip, das die psychologischen Ableitungen aus der Theorie der Vernunft zu kritischen Deduktionen macht, d.h. das es uns ermöglicht, in der inneren Erfahrung einen Leitfaden für die systematische Begründung der Philosophie zu finden.107
Das „Selbstvertrauen der Vernunft“ aber ist im Rahmen der Fries’schen Theorie, die bei Nelsons Ausführungen stets mitzudenken ist, eine Erscheinung des dritten Typs des Wahrheitsgefühls, also ein unmittelbarer Akt der Denkkraft,108 der den Denkenden aus dem Begründungstrilemma führt und auf nicht logisch deduzierbare Weise Gewissheit verbürgt. Das Selbstvertrauen der Vernunft wird dabei bei Nelson wie bei Fries als universelle ethische Haltung, als Einstellung des Willens gedeutet. In Über das sogenannte Erkenntnisproblem (1908) heißt es: Erkenntnis durch Urteile ist nur dadurch möglich, daß wir erkennen wollen, setzt also in der Tat einen Willen zur Wahrheit als Bedingung ihrer Möglichkeit voraus. Aber die Frage ist: worauf gründet sich unser Wissen von der Abhängigkeit des Urteils vom Willen? Niemand kann dieses Wissen aus einer anderen Quelle schöpfen als aus seiner eigenen inneren Erfahrung. Wir finden diese Abhängigkeit des Urteils vom Willen als eine Tatsache in unserem Innern.109
‚Erkenntnisse‘ sind für Nelson deshalb von ‚Urteilen‘ zu unterscheiden. Erkenntnisse können demnach, müssen aber nicht diskursiv und objektiv sein, vielmehr ist die innere und damit subjektive Erfahrung für Nelson eine ebenso wichtige Erkenntnisquelle wie die sinnliche und damit ebenfalls subjektive Wahrnehmung; weder das eine noch das andere könne als diskursives und objektives Urteil aufgefasst werden. In einigen Fällen nicht-diskursiver Erkenntnis könne es zwar zu einer vollständigen Aufhellung kommen, in anderen Fällen aber, bei ästhetischen, ethischen und religiösen Erkenntnissen etwa, bleibe der Denkende auf Gefühltes angewiesen. Folglich sei neben der Logik die Psychologie eine „zuständige Instanz in erkenntnistheoretischen Dingen“.110 Das „Faktum[] des Selbstvertrauens der Vernunft“111 als Grund metaphysischer
|| 107 Ebd., § 18, S. 31f. 108 Vgl. Fries, Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft, S. 413f. 109 Leonard Nelson, Über das sogenannte Erkenntnisproblem (1908), in: ders., Gesammelte Schriften in neun Bänden, hrsg. v. Paul Bernays u.a., Bd. 2: Geschichte und Kritik der Erkenntnistheorie, Hamburg 1973, S. 59–393, hier S. 138f. 110 Ebd., S. 139. 111 Ebd., S. 244.
216 | Andrea Albrecht Einsicht könne zwar psychologisch aufgewiesen werden, jedem weitergehenden erkenntnistheoretischen Begründungsanspruch erteilt Nelson hingegen – armiert mit einer Kaskade von Autoritätsverweisen auf Fries – eine Absage, verstricke sich doch der nach einer Deduktion des Wahrheitsgefühls suchende Verstand in Widersprüchen, Zirkelschlüssen oder unendlichen Regressen. Der Hinweis auf jenes Faktum des ‚Selbstvertrauens der Vernunft‘ ist daher der oberste Grundsatz, den die Kritik stillschweigend allen ihren Deduktionen zugrunde legt und durch dessen Zugrundelegung sie sich das Recht sichert, ihre Aufgabe auf eine Vergleichung der Urteile mit der unmittelbaren Erkenntnis zu beschränken. Diese unmittelbare Erkenntnis selbst wieder einer Kritik zu unterwerfen, das überläßt sie getrost denen, die mit dieser Aufgabe einen Sinn zu verbinden wissen.112
All diejenigen, die sich mit der Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie nicht arrangieren und stattdessen eine skeptizistische Grundhaltung kultivieren wollten, sollten „sich an die Psychiater“ wenden und „die Philosophen in Ruhe“ lassen, pointiert Nelson;113 sie gehören, wie schon Fries meinte, ins Narrenhaus.114
4. Die „altbekannte Philosophie des ‚Common sense‘“ – Nelson und Cassirer Der polemische Duktus von Nelsons Schriften legt die Vermutung nahe, ihm sei der Umstand, dass die Fries’sche Lehre und seine neofrisianischen Adaptationen vielstimmig attackiert wurden, nicht ungelegen gekommen, konnte er doch die wiederholten Widerlegungsversuche als Ressentiments deuten und als Zeichen für die Virulenz der Lehre auslegen.115 In der Tat nutzt Nelson die akademische Identifikation mit der Fries’schen Lehre nicht zuletzt dazu, im akademischen Feld Allianzen zu bilden und argumentative Frontlinien auszuzeichnen, auch wenn er Fries dazu einmal als Mathematiker, einmal als Transzendentalphilosophen und einmal als Anthropologen in Anspruch nehmen muss. Insbesondere der antitheoretische, antiphilosophische Gestus, mit dem er philosophische Grundlagenprobleme und philosophische Infragestellungen vermeintlicher Selbstverständlichkeiten für obsolet erklärt, wird den
|| 112 Ebd., S. 344f. 113 Ders., Kritische Methode, S. 35. 114 Ders., Über das sogenannte Erkenntnisproblem, S. 346, Anm. 115 Vgl. ders., Jakob Friedrich Fries, S. 81–84.
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Mathematikern und Naturwissenschaftlern gefallen haben, die der zunehmenden Spezialisierung philosophischer Debatten, den „Spitzfindigkeiten und Grübeleien“116 der Philosophen mit Skepsis gegenüberstanden. Doch auch innerhalb des philosophischen Feldes hatte die Polemik eine Funktion für die Bildung philosophischer Schulen. Im Jahr 1904/05 kommt es zu einer ersten Konfrontation, als Nelson in einem polemischen Verriss Hermann Cohens Ruf als mathematisch versierter Denker zu pulverisieren versucht,117 sich damit aber zugleich den Göttinger Mathematikern, vor allem Felix Klein und David Hilbert, als philosophischer Partner empfiehlt.118 Es kommt in der Folge zu einem harten
|| 116 Ders., Kritische Methode, S. 30. 117 Ders., Rezension zu H. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis (1905), in: ders., Gesammelte Schriften in neun Bänden, hrsg. v. Paul Bernays, Bd. 2: Geschichte und Kritik der Erkenntnistheorie, Hamburg 1973, S. 3–27. Vgl. zudem den Anhang „Über das Verhältnis des sogenannten Neukantianismus zu Fries’ Neuer Kritik der Vernunft“, in: ders., Kritische Methode, S. 64–78. Vgl. auch bereits die frühere Kritik an Cohen, etwa von Gottlob Frege, Rezension von H. Cohen „Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte“, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 87 (1885), S. 324–329; Bertrand Russell, The Principles of Mathematics, London 1903, § 315. Nelson war also bei weitem nicht der erste mathematische Kritiker von Cohen. Die Kritik von mathematischer Seite hielt an, vgl. E. Study, Die realistische Weltansicht und die Lehre vom Raume, Braunschweig 1912. Dass diese mathematischen Urteile auch Auswirkungen auf Cohens Reputation in der Philosophie hatten, belegt die Rezension zu Studys Buch von Friedrich Kuntze, in: Kant-Studien 19 (1914), S. 423f., in der er Cohen und seinen Kreis explizit zu einer Erwiderung auffordert. 118 Vgl. zur Allianz von Nelson und Hilbert vor allem Volker Peckhaus, Hilbertprogramm und Kritische Philosophie. Das Göttinger Modell interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Mathematik und Philosophie, Göttingen 1990, inbesondere S. 196–224; zu Nelsons CohenRezension S. 197f.; ders., ‚Mein Glaubensbekenntnis‘. Leonard Nelsons Brief an David Hilbert, in: Michael Toepell (Hrsg.), Mathematik im Wandel. Anregungen zu einem fächerübergreifenden Mathematikunterricht, Bd. 2, Hildesheim, Berlin 2001 (Mathematikgeschichte und Unterricht 3), S. 335–346. In den mathematischen und naturwissenschaftlichen Selbstbeschreibungen findet man immer wieder einmal Formulierungen, die mit denen Nelsons kongruieren, vgl. beispielsweise Werner Heisenberg, Die Richtigkeitskriterien der abgeschlossenen Theorien in der Physik (1948), in: Erhard Scheibe, Georg Sussmann (Hrsg.), Einheit und Vielheit. Festschrift für Carl Friedrich v. Weizsäcker zum 60. Geburtstag, Göttingen 1973, S. 140–144, hier S. 143: „Woher kommt es, daß die richtige abgeschlossene Theorie schon im ersten Moment ihres Auftretens, vor allem für den, der sie zuerst sieht, eine enorme Überzeugungskraft besitzt, lange bevor die begrifflichen oder gar die mathematischen Grundlagen vollständig geklärt sind und lange bevor man sagen konnte, daß viele Experimente sie bestätigt hätten?“ Hans Reichenbach rationalisiert etwaige Wahrheitsgefühle beziehungsweise Wahrscheinlichkeitsgefühle. In Bezug auf die Interpolation einer Messreihe heißt es bei ihm: „Bei dieser Art der Begründung haben wir unser ‚Wahrscheinlichkeitsgefühl‘ benutzt, das auf unser Denken einen großen Einfluß ausübt. Wir können aber den Gedanken auch als Hypothese formulieren [...]“.
218 | Andrea Albrecht Schlagabtausch mit dem zu Cohens Verteidigung herbei eilenden Ernst Cassirer,119 der sich über die Folgejahre erstreckt und erst mit dem Ersten Weltkrieg ein Ende zu finden scheint. Für Cassirer, der Nelsons Dissertation und auch seinen Beitrag Die kritische Methode und das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie (1904/05) rezensiert, handelt es sich bei Nelsons Verschränkung von Psychologie und Erkenntnistheorie um eine nur erschlichene Lösung des Begründungsproblems, die noch hinter Kant zurückfällt, philosophiehistorisch sogar viel älteren Datums ist, nämlich auf aristotelische Unterscheidungen zurückgeht.120 Aristoteles hatte ein aus Anfangssätzen logisch erzeugtes Wissen von einem Wissen um die Anfangssätze unterschieden.121 Das Wissen um die Anfangssätze ist nicht Ergebnis eines Schlusses, sondern eine Art der Wahrnehmung des Allgemeinen im oder am (singulären) Gegenstand und damit eine Form der intuitiven Induktion (epagoge),122 die sich von der herkömmlichen, nicht-intuitiven Induktion dadurch unterscheidet, dass zur induktiven Erkenntnis noch etwas hinzukommt: entweder ein im Wissenden bereits vorhandenes oder aber ein durch den Geist (nous) vermitteltes ‚erstes Wissen‘ von ‚Ursachen‘ beziehungsweise ‚ersten Prinzipien‘.123 Denn, wie Cassirer die aristotelische Fassung des Begründungsproblems aus der Metaphysik zitiert, „daß es von allem einen Beweis gebe, ist unmöglich, da dies ins unendliche ginge, so daß es wiederum keinen Beweis gäbe.“124 Cassirer verfolgt in seiner Rezension nun die Fortschreibung || Hans Reichenbach, Die Kausalbehauptung und die Möglichkeit ihrer empirischen Nachprüfung, in: Erkenntnis 3 (1932/33), S. 32–64, hier S. 49. 119 Ernst Cassirer, Der kritische Idealismus und die Philosophie des „gesunden Menschenverstandes“, Gießen 1906, insb. S. 31–33, Anm; ders., Zur Frage nach der Methode der Erkenntniskritik; ders., Persönliche und sachliche Polemik, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 33 (1909), S. 181–184. 120 Nelson führt Aristoteles’ Unterscheidung als Fehlunterscheidung an, die Sokrates’ und Platons Einsichten konterkarierten, vgl. Nelson, Die kritische Methode, § 6, S. 16f. 121 Es gibt zahlreiche Untersuchungen zu der aristotelischen Unterscheidung, vgl. Kurt von Fritz, Die ‚ἐπαγωγή‘ bei Aristoteles, in: Sitzungsberichte der bayerischen Akademie der Wissenschaften, philos.-hist. Kl. Jg. 1964, H. 3, München 1964; Michael-Thomas Liske, Gebrauchte Aristoteles ‚Epagoge‘ als Terminus technicus für eine wissenschaftliche Methode?, in: Archiv für Begriffsgeschichte 37 (1994), S. 127–151; Greg Bayer, Coming to Know Principles in Posterior Analytics II 19, in: Apeiron 30 (1997), S. 109–142. 122 Vgl. Aristoteles, An Post, II, 19, z.B. 100b2-5 (übers. v. Wolfgang Detel): „Es ist also klar, daß uns die ursprünglichen Dinge durch Induktion bekannt werden; in der Tat nämlich bringt die Wahrnehmung auf diese Weise darin das Allgemeine zustande.“ 123 Hierzu ausführlicher z.B. Lambert Marie de Rijk, Aristotle: Semantics and Ontology, Leiden 2002, Bd. 1, vor allem S. 140–159. 124 Cassirer, Der kritische Idealismus, S. 11.
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der zwei aristotelischen Wissensformen von Descartes, Hobbes und Leibniz über Thomas Reid und David Hume bis hin zu Kant und Fries, um durch diese philosophiehistorische Einbettung Nelsons Vorstellung einer unmittelbar Gewissheit spendenden Erkenntnis als eine schlechte, weil vorkritische Neuformulierung des alten Problems charakterisieren zu können: Was er [Nelson] eine fundamentale Entdeckung nennt, das ist nicht nur seit den Tagen des Aristoteles ein Gemeingut der Philosophie: es erweist sich auch von den Anfängen der modernen Erkenntnistheorie ab, immer deutlicher als ein gefährlicher Gemeinplatz, der durch den Fortschritt der wissenschaftlichen Analyse mehr und mehr zurückgedrängt wird. […] was er in Wahrheit ergriffen und wiederhergestellt hat, das ist die altbekannte Philosophie des „Common sense“.125
Durch den Vergleich mit der „altbekannte[n] Philosophie“ will Cassirer nicht die Inhalte des schottischen common sense mit den Inhalten des Nelson’schen Wahrheitsgefühls identifizieren, sondern nur das Verfahren als ähnlich charakterisieren, das darin besteht, unmittelbare Anschauungen gegen reflektierende Schlussfolgerungen, Gefühl gegen Vernunft auszuspielen. So findet Cassirer schon in James Beatties Definition des common sense einen Vorläufer des Nelson’schen Arguments: „The term Common Sense“, zitiert er aus Beatties Essay on the Nature and Immutability of Truth (1770), signifies that power of the mind which perceives truth [...] not by progressive argumentation, but by an instantaneous, instinctive and irresistible impulse, derived neither from education, nor from habit, but from nature [...].126
Gegen die Überschätzung dieses wahrheitsgarantierenden Impulses aber sind schon David Hume und Kant eingetreten – ein philosophiehistorischer Zusammenhang, den Nelson ignorierte. Das von Nelson herausgestellte Wahrheitsgefühl karikiert Cassirer in der Folge als ein „psychisches Zwangsgefühl“, das den Denkenden letztlich „auf eine Instanz“ verweise, „auf die jegliche Art der Mystik sich von jeher berufen und auf die sie ihre Ansprüche gestützt hat.“127 Und so könne bei Fries wie bei den Neofrisianern Wissenschaft wie Religion betrieben werden, das Wahrheitsgefühl analog zum Gottesgefühl als Basis des epistemischen Vertrauens gelten. Nach Nelsons Vorstellung könne man „für den Gottesbegriff und für die Grundvorstellungen der Religion, die uns in Gefühl und Ahndung zu Bewußtsein kommen, die gleiche objektive Geltung und Gewißheit
|| 125 Ebd., S. 15. 126 Ebd., S. 16, Anm. 127 Ebd., S. 22.
220 | Andrea Albrecht in Anspruch nehmen, wie für irgendein Axiom der Mathematik“, schließt Cassirer ironisch und fährt fort: An solchen Beispielen zeigt sich deutlich, wie die Kritik hier ihre Schärfe und die siegreiche Kraft gegenüber den Übergriffen der Metaphysik, die sie bei ihrem Urheber besaß, eingebüßt hat – sie ist zu einer stumpfen Waffe geworden.128
Umso schärfer aber müsse der polemische Ton ausfallen, mit dem Nelson das argumentative Vakuum seiner Ausführungen zu übertünchen versuche. Cassirer geißelt in seiner Rezension wiederholt Nelsons „Verheißungen“,129 „Ankündigungen und Versprechungen“,130 seine „pathetischen Beteuerungen“131 und „rhetorische[n] Ausschmückungen“132 wie auch seine „höhnischen Glossen“, „polemischen Exkurse[]“133 und „Herzensergießungen“.134 Die rhetorischen Gesten seien methodisch nicht gedeckt, vielmehr gehe es Nelson um Überredung: In der Tat: wenn es möglich wäre, die Zweifel der Vernunft durch sanften Zuspruch oder durch rauhes Poltern, durch linde Beschwichtigungsmittel oder drohende Beschwörungsformeln zum Schweigen zu bringen: so müßte man Nelson den Preis der Methode zugestehen. Keines dieser Mittel hat er unversucht gelassen, und in kunstvollem Aufbau steigern und verstärken sich die rhetorischen Accente. Es ist noch das Geringste, wenn er demjenigen, der der Zuverlässigkeit seiner Vernunft nicht traut, den tröstlichen Rat gibt, ‚sich an die Psychiater zu wenden und die Philosophen in Ruhe zu lassen‘ […]. Wer nach diesem Ausspruch noch nicht völlig überzeugt sein sollte, für den hält er noch kräftigere Mittel in Bereitschaft. ‚Sich gegen diese Methode‘ (der psychologischen Deduktion der Grundsätze) ‚zu sträuben, das ist nur der Sport derer, die fürchten müssen, daß doch noch einmal Philosophie als evidente Wissenschaft dem Spiel ihrer eigenen spekulativen Weisheit ein Ende machen könnte, ohne zu bedenken, daß, wer die Herrschaft der Vernunft ablehnt, sich dadurch nur mit dem Blödsinnigen auf eine Stufe stellt‘. […] Vor sachlichen Argumenten von solcher Kraft und Eindringlichkeit gibt es freilich kein Entrinnen mehr. Nur eine Bemerkung sei uns noch verstattet: daß sich nämlich hier ein Mißverständnis eingeschlichen hat. Es ist nicht die Vernunft überhaupt, der wir mißtrauen: es ist nur seine, Herrn Nelsons Vernunft, zu der wir nicht das gleiche unbedingte Vertrauen, wie er selber, zu fassen vermögen.135
|| 128 Ebd., S. 24. 129 Ebd., S. 7. 130 Ebd., S. 1. 131 Ebd., S. 2. 132 Ebd., S. 7. 133 Ebd., S. 2. 134 Ebd., S. 7. 135 Ebd., S. 17f.
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Wie Cassirer polemisch herausstellt, gilt Nelson das subjektive Wahrheitsgefühl nicht allein als Aufgabe und Herausforderung an die eigene Vernunft und das eigene wissenschaftliche Ethos. Nelsons Wahrheitsgefühl ist vielmehr eine zwar im Innern gefühlte, aber nach außen hin darzustellende Erfahrung, so dass wiederum, ähnlich wie bei Bergson, Logos in Pathos umzuschlagen droht, weil die nur subjektive Wahrheitsgewissheit ausgedrückt und in rhetorischer statt argumentativer Form vermittelt werden muss.136 Cassirers eigentlich als epistemologische Kritik und in Teilen als Stilkritik angelegte Rezension macht damit implizit auf die wissenschaftssoziologischen Aspekte der Nelson’schen Epistemologie aufmerksam. Den Ausgangspunkt dafür bildet – erstens – das problematische Verhältnis von Selbstvertrauen und Fremdvertrauen. Wer sich wie Nelson mit einem die Wahrheit fühlenden Vermögen begabt weiß und sich daran nicht allein im Stillen erfreuen will, muss sein akademisches Umfeld von seiner Begabung und damit vom Wert seiner Person überzeugen. Neben die sachliche wissenschaftliche Begründung der als wahr empfundenen Thesen tritt daher – zweitens – die Inszenierung der eigenen wissenschaftlichen persona. Mit der Werbung für die eigene Person einher geht die Abwertung potentieller Konkurrenten, die ebenfalls einen Anspruch auf Wahrheit erheben. Nelson scheut in der Tat nicht vor polemischen Denunziationen derjenigen zurück, die seines Erachtens das Vertrauen potentieller Schüler nicht verdienen, wie beispielsweise ‚Meister‘ Rickert137 und ‚Meister‘ Cohen. Er ist vielmehr – drittens – daran interessiert, sein Wahrheitsgefühl für die Bildung einer eigenen Schule zu nutzen. Anstatt sich vorurteilslos, tolerant und vielseitig zu gerieren, müsse der Meister „notwendig Partei“ nehmen und auch von seinen Schülern ein „Bekenntnis“ und eine „Wahl zwischen den verschiedenen Schulen“ erzwingen, denn wer Schulen „gleichmäßig nebeneinander gelten lassen will, muß auf Wahrheit überhaupt verzichten.“138 Nelson erhebt somit für seine Schule einen Alleinvertretungsanspruch für die Wahrheit und dekretiert zugleich, dass diese eine von ihm und seiner Schule repräsentierte Wahrheit den vielen Irrlehren der anderen, partialisierenden Schulen entgegengesetzt werden muss – in Lutz Dannebergs Terminologie wäre dies eine positive beziehungs|| 136 Vgl. zum Problem der Übertragbarkeit einer subjektiven Gewissheit schon ebd., S. 162. 137 Vgl. die Kritik an Heinrich Rickert in Leonard Nelson, Die sogenannte neukantische Schule in der gegenwärtigen Philosophie (1914), in: ders., Gesammelte Schriften in neun Bänden, Bd. 1: Die Schule der kritischen Philosophie und ihre Methode, hrsg. v. Paul Bernays, Hamburg 1970, S. 207–217. 138 Ders., Bedeutung der Schule in der Philosophie (1918), in: ders., Gesammelte Schriften in neun Bänden, Bd. 1: Die Schule der kritischen Philosophie und ihre Methode, hrsg. v. Paul Bernays, Hamburg 1970, S. 247–257, hier S. 250.
222 | Andrea Albrecht weise rhetorisch eingesetzte Verwendung des Schule3-Konzepts, mit dem Nelson die pluralen Schulbindungen durch eine Wahrheitsbindung zu überschreiben sucht.139 Eine ebenso klare Absage wie dem Schulenpluralismus erteilt Nelson – viertens – dem Vertrauen auf ein schulunabhängiges, vermeintlich ‚originales‘ Schöpfertum. Generell auf die Integration in einen Schul- und Traditionszusammenhang verzichten zu wollen, um auf diese Weise eine nichtepigonale ‚Wahrheit‘ zu suchen, sei „eine törichte und kindische Anmaßung“, der er Goethes „Den Originalen“ gewidmetes Epigramm entgegensetzt: Ein Quidam sagt: „Ich bin von keiner Schule; Kein Meister lebt, mit dem ich buhle; Auch bin ich weit davon entfernt, Daß ich von Toten was gelernt.“ Das heißt, wenn ich ihn recht verstand: „Ich bin ein Narr auf eigne Hand.“ 140
Auf der Suche nach expliziten Thematisierungen und Problematisierungen der ‚sozialen Epistemologie‘141 in Nelsons Schriften stößt man vor allem auf Texte, in denen er seine Überlegungen zum Wahrheitsgefühl im Hinblick auf die Bildung philosophischer Schulen entfaltet (5.), sowie auf pädagogisch-didaktische Texte, in denen er sich um eine Verhältnisbestimmung von Selbstvertrauen, Fremdvertrauen und Autorität (6.) bemüht.
|| 139 Vgl. den monographischen Beitrag von Lutz Danneberg, der parallel zu diesem Band unter dem Titel „Schule, hermeneutischer Wissenstransfer und Autorität in der Wissenschaftshistoriographie. Zum Konzept der wissenschaftlichen Schule und seinen Alternativen in Selbst- und Fremdbeschreibungen der Wissenschaften bis ins 19. Jahrhundert“ erscheint. Mein Beitrag verdankt dieser Untersuchung viel. 140 Nelson, Bedeutung der Schule in der Philosophie, S. 249f. Das Gedicht findet sich in Johann Wolfgang Goethe, Werke, Bd. 1: Gedichte und Epen 1, hrsg. v. Erich Trunz, München 1981, S. 318. 141 Über die Verwendung des Ausdrucks ‚soziale Epistemologie‘ herrscht keine Einigkeit, vgl. Alvin Goldman, Social Epistemology, in: Edward N. Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2012 Edition), URL: http://plato.stanford.edu/entries/epistemology-social/ [letzter Zugriff am 16. Januar 2015]; Rainer Schützeichel, Soziale Epistemologie, in: ders. (Hrsg.), Handbuch Wissenssoziologie. Konstanz 2007, S. 290–305. Ich schließe mich hier einer großzügigen, wissenssoziologischen Begriffsverwendung an, die soziale Aspekte in die Diskussion um Genesis oder Geltung von Wissensansprüchen mit einbezieht.
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5. Meisterschaft und Methode – Schulbildungen Während Nelson in seinen frühen Schriften vor allem die erkenntnistheoretischen Aspekte der Fries’schen Lehre zu adaptieren und gegen seine Kritiker zu verteidigen sucht, macht er in seinen späteren Schriften einen zunehmend eigenständigen Gebrauch von den einst entlehnten Philosophemen. Das Konzept des Wahrheitsgefühls erhält vor allem in Von der Kunst, zu philosophieren (1918) eine prominente Rolle und wird hier explizit auf Form und Funktion philosophischer Schulbildungen bezogen. Die Reflexionen sollen dabei primär dem Zweck dienen, eine wissenschaftliche Form des Philosophierens an die Stelle des „planlosen Umhertappen[s] nach philosophischer Wahrheit“142 treten zu lassen und der Philosophie somit den Status des Wissenschaftlichen zu sichern. Nelson vergleicht dazu, eine alte Tradition fortschreibend,143 die kontinuierlichen und unstrittigen Erkenntnisfortschritte der Mathematik und Physik mit den Fraktionierungen und Diskontinuitäten der Philosophie, um bei ersteren etwas für die ‚Reformation der Philosophie‘ zu lernen – so der Titel des Sammelbandes, in dem der Beitrag Nelsons erstmals erscheint. Am Beginn seiner Argumentation steht die Beobachtung, dass wissenschaftlicher Fortschritt langwierig ist und Ergebnisse und Entdeckungen oftmals ihren soliden Begründungen vorausgehen, neue wissenschaftliche Erkenntnisse also im Allgemeinen nicht nach methodischen Regeln, sondern durch Antizipationen und Ahnungen gewonnen und erst später methodisch eingeholt und bewiesen werden: Wenn nun auch die Vervollkommnung der Wissenschaft nur auf dem Wege über mehr oder weniger mangelhafte Begründung gelingt, so ist doch damit nicht gesagt, daß die vorläufigen Darstellungen, die die Wissenschaft zu durchlaufen genötigt, in ihren Ergebnissen irrig sein müßten. […] Es verhält sich vielmehr im allgemeinen so, daß die Entdeckung neuer Wahrheiten der Ausbildung der zu ihrer Begründung erforderlichen Methoden voraneilt.144
Nelson belegt seine wissenschaftstheoretische Behauptung im Rekurs auf die Naturwissenschafts- und Mathematikgeschichte, in der sich eine bestimmte
|| 142 Nelson, Von der Kunst, zu philosophieren, S. 221. 143 Vgl. dazu Andrea Albrecht, „Allezeit unparteiliche Gemüther“? – Formen und Funktionen des Streitens über Mathematik im 17. und 18. Jahrhundert, in: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit, Sonderband Gelehrte Polemik. Intellektuelle Konfliktverschärfung um 1700, hrsg. v. Kai Bremer, Carlos Spoerhase, Frankfurt am Main 2011, S. 282–311. 144 Nelson, Von der Kunst, zu philosophieren, S. 227.
224 | Andrea Albrecht wissenschaftsorganisatorische Struktur, die Unterscheidung von Meistern und Schülern ausgebildet habe: Die Geschichte der Erfahrungswissenschaften und der Mathematik ist reich an Beispielen dafür, wie sich das Genie der großen Forscher gerade darin zeigt, daß sie Entdeckungen zutage fördern, deren Wahrheit zu begründen sie selbst außerstande sind und für deren Begründung die methodischen Mittel, über die ihre Zeit verfügt, überhaupt nicht hinreichen. In der Regel sind es erst die Schüler und Nachfolger des Meisters, denen das Werk dieser Begründung gelingt.145
Das an Stellen wie diesen im Nelson-Kreis wiederholt angeführte Belegbeispiel ist zum einen Keplers erfolgreiche Verwendung der ungenauen Beobachtungen Tycho Brahes – eine wissenschaftshistorisch fragwürdige Deutung des Verhältnisses von Kepler und Tycho;146 zum anderen ist es der Carl Friedrich Gauss zugeschriebene Ausspruch: „Meine Resultate habe ich längst, ich weiß nur noch nicht, wie ich zu ihnen gelangen werde“.147 In der Tat bietet die Geschichte der Physik wie auch der Mathematik eine Reihe von Beispielen dafür, dass wissenschaftliche ‚Vermutungen‘ die Forschung befördern können, bis sie letztlich mit neu entwickelten empirischen oder mathematischen Methoden bewiesen oder, was Nelson auch erwähnt, grundsätzlich widerlegt und als Irrtum anerkannt werden. Was aber unterscheidet Meister und Schüler? Für Nelson ist es das überragende, durch sein Genie, seine Begabung verbürgte Wahrheitsgefühl des Meisters: Den genialen Forscher leitet ein Wahrheitsgefühl, das ihn weiter und sicherer führt als die schulgerechte Anwendung methodischer Regeln. Mit diesem Wahrheitsgefühl begabt, nimmt er Ergebnisse vorweg, zu denen sich die nicht mit dieser Gabe Begnadeten oft nur durch die vereinigte methodische Arbeit von Generationen den Weg bahnen.148
Nelson hat sich von seinem Vorbild, der Fries’schen Philosophie, die er anfänglich noch rekonstruieren und auf diese Weise zu ihrem historischen Recht kommen lassen wollte, mittlerweile offenbar weitgehend gelöst. Denn anstatt wie Fries Wahrheitsgefühle im Rahmen metaphysischer, transzendentalphilosophischer oder anthropologischer Erörterungen zu belassen, nutzt er das Wahrheitsgefühl nun als ein hierarchisierendes Differenzkriterium, um Meistern und Schülern ihren jeweiligen Platz im wissenschaftlichen Betrieb anzuweisen. Die Vorstellung einer hierarchisierten wissenschaftlichen Arbeitstei|| 145 Ebd. 146 Vgl. dazu auch den monographischen Beitrag von Lutz Danneberg. 147 Nelson, Von der Kunst, zu philosophieren, S. 227. 148 Ebd.
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lung findet sich in der Zeit des öfteren. So schreibt beispielsweise Nietzsche 1868 an Paul Deussen: Glaube mir nur, daß die Fähigkeiten, die dazu gehören, um mit Ehren philologisch zu produzieren, unglaublich gering sind, und daß ein Jeder, an den richtigen Platz gestellt, seine Schraube machen lernt. Fleiß vor allem, Kenntnisse zu zweit, Methode zu dritt – dies ist das ABC jedes produzierenden Philologen: vorausgesetzt, daß ihn jemand dirigirt und ihm eine Stelle anweist. Denn das gerade können nur Wenige von selbst. Es giebt eben Arbeitsgeber und Fabrikarbeiter – in diesem Vergleich soll aber nichts Geringschätziges liegen. Denn auch unsre größten philolog. Talente sind nur relativ Arbeitsgeber: stellt man sich noch höher und nimmt einen kulturgeschichtlichen Ausblick, so sieht man, daß auch diese Ingenien schließlich nur Fabrikarbeiter sind, nämlich für irgend einen großen philosophischen Halbgott (deren größter in dem ganzen letzten Jahrtausend Schopenhauer ist).149
Neben Fleiß (also einer ethischen Eigenschaft), Wissen und Methode bedarf es demnach zur Philologie auch eines besonderen Talents, eines gegebenen Ingeniums – und da dieses unter den Wissenschaftler ungleich verteilt ist, Nietzsche es sogar für ausgemacht hält, dass „nur Wenige“ sich zum richtungs- und platzanweisenden „Arbeitsgeber“ eignen, müsse sich die Mehrheit der minderbegabten Philologen, die „Fabrikarbeiter“, dem Dirigat begabterer Philologen unterwerfen, welche oftmals ihrerseits wieder ‚philosophischen Halbgöttern‘ unterstellt seien. Nelson ventiliert eine ähnliche Vorstellung. „In der Tat lehrt auch die Geschichte der Philosophie“, führt er seine Gedanken weiter aus, „daß Entdecker und Begründer einer neuen Lehre selten in einer Person anzutreffen sind.“ Denn während der Meister wie der geniale Forscher nicht durch Methode, sondern „durch das Leben“150 zu seinen Einsichten gelange, bleibe es der Schülerschaft vorbehalten, die Einsichten zu methodologisieren und das gefühlte Wissen zum System auszubauen. Die einen verfügen demnach über Wahrheitsgefühl, die anderen nicht – und diese Differenz ist nicht das Resultat eines Machtverhältnisses oder eines anderen, vom Menschen beeinflussbaren Faktors, sondern bei Nelson wie bei Nietzsche als das Resultat einer unterschiedlichen Verteilung der wissenschaftlichen Begabungen vorgestellt. Denn während der geniale Forscher über ein Wahrheitsgefühl verfüge und damit die Richtung des Forschungsfortschritts zu antizipieren verstehe, seien die „nicht mit dieser
|| 149 Friedrich Nietzsche, Brief an Paul Deussen, Sept. 1868, in: ders., Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe (KSA), hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München, New York 1986, Bd. 2, S. 316. 150 Nelson, Von der Kunst, zu philosophieren, S. 230.
226 | Andrea Albrecht Gabe Begnadeten“ zur Kärrnerarbeit und zur kollektiven, methodischen Ausarbeitung des Gefühlten bestimmt. Wollte man solche [nur erst gefühlten] Ergebnisse, weil sie unzulänglich begründet sind, als für die Wissenschaft belanglose Einfälle beiseite schieben, so würde man damit zugleich auch die strengen Begründungsmethoden ihres fruchtbarsten Anwendungsfeldes berauben. Denn die durch das Wahrheitsgefühl vorweggenommenen Entdeckungen gehen nicht nur zeitlich der Erfindung der Begründungsmethoden voran, sondern weisen diesen auch Ziel und Richtung ihrer Ausbildung.151
Dass die Auszeichnung von noch unbegründeten Wissensansprüchen, Ahnungen und Vermutungen nur auf der Basis eines Vertrauensvorschusses gegenüber den mutmaßlich genialen Meistern und ihrem subjektiven Wahrheitsgefühl erfolgen kann, man sich folglich als Schüler auf ein Versprechen verlassen muss, wie schon Cassirer kritisiert,152 bleibt bei Nelson in diesem Kontext unerwähnt, ist aber auch für ihn von entscheidender Bedeutung und wird an anderer Stelle, und zwar im Rahmen seiner reformpädagogischen Überlegungen, dann auch explizit problematisiert (vgl. 6.). Das von Fries übernommene ‚Selbstvertrauen in die Vernunft‘, das sich auf das eigene Wahrheitsgefühl gründet, wird in Nelsons Argumentation jedenfalls in ein Fremdvertrauen in die Vernunft des Meisters transformiert – ein Vorgang, der eine entsprechende Vermittlungsleistung, eine rhetorische Überzeugungsarbeit erforderlich macht. Der Meister – und Nelson beansprucht, ein solcher zu sein – ist nicht mehr derjenige, der sein Wahrheitsgefühl selbst zu einer begründeten wissenschaftlichen Wahrheit schmiedet. Vielmehr muss er Schüler finden, seine noch undeutlichen Erkenntnisse an diese vermitteln und sie dazu motivieren, diese in deutliche umzusetzen, womöglich in Form einer langwierigen kollektiven Anstrengung. Auf diese Weise kann Nelson Stellung zu der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts kontrovers geführten Diskussion über die Funktion und die Bewertung von Schulzugehörigkeiten nehmen. Während Schulzugehörigkeit von den einen wegen der von ihr beförderten Autoritätsgläubigkeit und Engstirnigkeit abgelehnt wurde, galt sie anderen als probates Mittel, wissenschaftliche Forschung im Kollektiv zu organisieren und durchzusetzen. Unterschiedliche Begabungen ließen eine akademische Spezialisierung und Arbeitsteilung || 151 Ebd., S. 227. 152 Das Argument der Nichtvermittelbarkeit und Instabilität gefühlter Wahrheiten ist schon früher formuliert worden, etwa bei Nahlowsky, Das Gefühlsleben, S. 162: Gefühle könne „ein zweiter wohl errathen; aber keineswegs gerade so in sich nachkonstruiren, wie sie sich in uns, nach individuellen Bedingungen, vor dem erzeugt haben; ja in uns selber wiederholt sich das Gefühl ein zweites Mal nicht immer ganz genau so wie früher.“
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vernünftig erscheinen, die den wenigen, in der Vergangenheit ausgezeichneten Meistern die Entscheidungshoheit über die Arbeit der vielen weniger Begabten übertrug und darauf setzte, dass derjenige, der sich schon wissenschaftliche Meriten erworben hatte, auch weitere Resultate zu liefern versprach. Die Autorität des Meisters wird dabei als legitime, weil jeweils über das Wahrheitsgefühl begründete Autorität konzipiert; der Schüler dient im Prinzip nicht dem Meister, sondern der von ihm repräsentierten Wahrheit. In Nelsons Überlegungen bekommen die Schüler nun durchaus selbstständige und für den Forschungsprozess wertvolle Aufgaben zugewiesen – Aufgaben, die der Meister, selbst wenn er es wollte, nicht erfüllen könnte, schon weil die Entwicklung der notwendigen Begründungsmethoden erst noch einer kollektiven und generationenübergreifenden Forschungsanstrengung bedarf. Die Schüler sorgen demnach nicht nur für die Distribution der Lehre, sondern sie haben ihren eigenen Anteil am wissenschaftlichen Fortschritt, sorgt doch erst ihre „vereinigte methodische Arbeit von Generationen“ für die Fruchtbarkeit der von den Genies und Meistern erfahrenen Ahnungen. Es sind demnach nicht nur die Schüler, die dem Meister vertrauen müssen, sondern auch der Meister muss Vertrauen in das zukünftige, gegebenenfalls auch seinen Tod überdauernde Engagement seiner Schüler setzen. Das propagierte Vertrauensverhältnis zwischen Lehrer und Schüler ist also zwar asymmetrisch, aber dennoch wechselseitig, da beide voneinander abhängig sind. „Die Geschichte der Philosophie bietet in der Tat zahlreiche Beispiele dafür“, sorgt sich Nelson, wie der wissenschaftliche Fortschritt dadurch aufgehalten wird, daß die Schüler eines großen Philosophen seine Entdeckungen darum preisgeben, weil sie noch nicht hinlänglich begründet sind.153
Aristoteles’ Zurückweisung der vermeintlich erst von Kant rehabilitierten platonischen Ideenlehre gibt ihm hierfür ein ebenso wichtiges Beispiel wie die neukantianische Zurückweisung der erst von Nelson selbst rehabilitierten ‚genialen‘ Fries’schen Lehre – und so kann Nelson den Anspruch auf legitime Meisterschaft zusätzlich dadurch stützen, dass er sich in eine Genealogie von Autoritäten einreiht, sich selbst einem Meister (dem Fries’schen Genie) unterstellt und auch auf diese Weise um das Vertrauen seiner Schüler wirbt. Das institutionalisierte Lehrer-Schüler-Nahverhältnis wird so durch ein weiterreichendes, auf Fernwirkung abstellendes Einfluss-Verhältnis legitimiert. In der Terminologie Lutz Dannebergs überlagern sich hier Schule1- und Schule2Konzepte, insofern Nelson sich selbst als Schüler (im Sinne der Schule2) be|| 153 Nelson, Von der Kunst zu philosophieren, S. 229.
228 | Andrea Albrecht zeichnet, ohne in einem Nahkontakt zu Fries zu stehen, diese Deklaration und die gemeinsame Ausrichtung auf die nur noch schriftlich greifbare Fries’sche Lehre aber wiederum zur Legitimation seines eigenen Schulanspruchs (im Sinne der Schule1) nutzt.154 Die „Sicherung des Fortschritts“ sei „nur durch Wahrung seiner Kontinuität vermittels schulmäßiger Belehrung von Generation zu Generation möglich“, konstatiert Nelson, und sieht auch hier die Mathematik der Philosophie ein Vorbild geben. In der Mathematik nämlich habe man im Unterschied zur Philosophie den Schulstreit überwunden: „Jeder Mathematiker ist heute Gaussianer; er braucht sich nur nicht so zu nennen, weil keine Gefahr besteht, daß er einer anderen Schule zugerechnet wird.“ 155 Vergleicht man Nelsons Konzeption der philosophischen Schule mit anderen in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts propagierten akademischen und nicht-akademischen Gruppenbildungen – ein komplexer Kontext, auf den ich hier nur hindeuten kann156 –, so ist womöglich Nelsons Verknüpfung von wissenschaftsaffiner Ausrichtung, hierarchischer Struktur und Charismabasierter Praxis besonders auffällig. Im Unterschied etwa zum George-Kreis, in dem es um epiphanische Wahrheitsstiftung einer Gruppe von Eingeweihten geht, ist Nelsons Gruppenkonzept ungemein rationalistisch angelegt oder zumindest um Rationalisierung bemüht. Nelsons Gruppenbildung geht es jedenfalls nicht, wie den religiös und künstlerisch orientierten Gruppen, um eine esoterische Vereinigung, die sich dem modernen Rationalismus verweigert oder kompensatorisch entgegenstellt; es ist vielmehr eine der Wissenschaft, dem Rationalismus und der zugehörigen Wahrheit verschriebene Vereinigung. Deutlich wird dies auch, wenn man die zeitgenössische Differenzierung von || 154 Vgl. den monographischen Beitrag von Lutz Danneberg. 155 Nelson, Bedeutung der Schule in der Philosophie, S. 251. Vgl. auch die ähnliche Aussage Leo Königsbergers über Carl Gustav Jacob Jacobi: „[...] wir alle, die Schüler dieser beiden ausgezeichneten Forscher [Hermite und Weierstrass], welche wir in Verehrung und Pietät die Worte und Anschauungen Jacobis wie Orakel und mathematische Mysterien uns überliefert hören, wir, die die wir hier versammelt sind, um das Ansehen jenes großen Mannes zu feiern, wir alle sind Schüler Jacobis.“ Leo Koenigsberger, Carl Gustav Jacob Jacobi, in: Jahresbericht der deutschen Mathematiker-Vereinigung 13 (1904), S. 405–433, hier S. 432. Die Annahme, dass es in der Mathematik keine oder eben nur eine ‚Schule‘ und somit auch weniger Streit als unter Philosophen gebe, ist alt; vgl. schon die Aussage bei Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hrsg. v. Iring Fetscher, übers. v. Walter Euchner, Frankfurt am Main 1998, S. 510: „Es gab viele, die diese Wissenschaft [Geometrie] zum großen Vorteil der Menschheit studierten: aber ihre Schulen werden nicht erwähnt, noch gab es eine Sekte von Geometern [...]“. Vgl. auch den monographischen Beitrag von Lutz Danneberg. 156 Vgl. aber den monographischen Beitrag von Lutz Danneberg.
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Meister-Jünger- und Lehrer-Schüler-Relationen des Georgeaners und späteren Religionssoziologen Joachim Wach157 zur Konturierung nutzt. Für Wach rührt die eine Schule konstituierende Beziehung zwischen Lehrer und Schüler ganz aus dem gemeinsamen Interesse an der Sache. Die Abwendung von ihr zieht unweigerlich die Auflösung des Verhältnisses nach sich. Aus alledem erhellt die Vertauschbarkeit der Personen: ‚der‘ Lehrer ist nicht weniger durch einen anderen ersetzbar wie ‚der‘ Schüler, d.h. die scheinbare Unersetzlichkeit dieses einen Lehrers oder Schülers ist eine rein empirische; es wird keiner gefunden, der an seine Stelle treten kann.158
Die Beziehung zwischen Meister und Jünger hingegen, die einen ‚Kreis‘ konstituiert, beruhe auf einer persönlichen Bindung: Das Verhältnis des Meisters zum Jünger soll da gegeben sein, wo die Bindung eine persönliche, nicht oder nicht zunächst eine über die Sachen laufende ist, die Individualität des Meisters und des Jüngers infolgedessen zentrale Bedeutung gewinnt. Nicht weil der Meister etwas Aneigenbares, Uebertragbares aus seinem Besitz dem Jünger übergibt, genießt er dessen Verehrung. Diese gilt nicht dem zufälligen Eigentümer besonderer Kunstfertigkeit, sondern der Persönlichkeit, auf deren einzigartigem Sein und Wirken die Besonderheit und Unersetzlichkeit, die Bedeutung für den Jünger beruht. […] Man wird Schüler aus eigenen Kräften und durch eigene Kraft. Zum Jünger gehört die Erwählung, die Berufung.159
Die unterschiedliche Basis der beiden Gruppenmodelle Schule und Kreis führt im Fall der Schule zu einer aufhebbaren, weil nur temporär hierarchisch strukturierten, im Fall des Kreises zu einer unaufhebbaren Asymmetrie. Lehrer und Schüler bilden, geeint durch den Bund gemeinsamer Arbeit an einem Werk, eine Kette, in der der Schüler seinerseits Lehrer wird usw. Meister und Jünger stellen allein Anfang und Ende zugleich dar, einen Kosmos für sich. Der Jünger wird niemals ein Meister werden. Daher ist der Lehrer das Haupt der Schule, der Meister bildet um sich ei-
|| 157 Vgl. zu Joachim Wach (1889–1955) und seiner Nähe zum George-Kreis Hans Kippenberg, Joachim Wachs Bild vom George-Kreis und seine Revision von Max Webers Soziologie religiöser Gemeinschaften, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 61 (2009), S. 313-331, hier insb. S. 326–328; in Abhängigkeit davon Gunilla Eschenbach, Imitatio im George-Kreis, Berlin, New York 2011, insb. S. 83–90. 158 Joachim Wach, Meister und Jünger. Zwei religionssoziologische Betrachtungen, Leipzig 1925, S. 8. Der erste Beitrag beruht auf einem in der Freideutschen Jugend erschienenen Aufsatz aus dem Jahr 1922. 159 Ebd.
230 | Andrea Albrecht nen Kreis. […] der Meister muß Verzicht darauf leisten, je ganz [d.h. „existenziell“] verstanden zu werden, denn ihn ganz verstehen würde heißen Meister sein […].160
Nelson amalgamiert nun förmlich die von Wach differenzierten Modelle: Auf der Grundlage seiner epistemologischen Annahmen kann er sowohl sein eigenes Selbstbild als Meister als auch die hierarchische Organisation und Arbeitsteilung seiner Schule weitgehend rationalisieren und seinen Schülern zum einen als charismatischer Meister, zum anderen als ein an der Sache orientierter Lehrer begegnen, der statt auf Epiphanien auf sein Wahrheitsgefühl verweist. Die pädagogisch-didaktischen Prämissen und Konsequenzen, welche die Distinktion zwischen Meister und Schülern voraussetzt beziehungsweise mit sich bringt, sind damit noch nicht benannt, finden aber ein Korrelat in der Autoritätskritik von Nelsons reformpädagogischen Texten, die in einem ähnlichen, von der Jugendbewegung geprägten Kontext stehen wie die religionssoziologischen Betrachtungen von Joachim Wach.
6. Selbstvertrauen – Fremdvertrauen – Autorität: Führer und Geführte Nelson ist einerseits für seine Schulenbildung, andererseits aber für seine Kritik an Tradition und Autorität bekannt.161 In Von der Kunst zu philosophieren konstatiert er, dass die „Notwendigkeit, unvollständig begründete Resultate hinzunehmen“, die Schüler dazu verführen könne, die „bloße Autorität des Lehrers“ als Dogma zu nehmen, wodurch „die Tradition an die Stelle des Selbstdenkens“ trete.162 Just dies war die von Cassirer geäußerte Befürchtung, für den deswegen gerade nicht das gefühlte Vertrauen in die eigene Vernunft, sondern das Misstrauen gegenüber dem common sense den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt garantieren und den Kern dessen ausmachen sollte, was er mit Kant Vernunftkritik nennt. Nelson scheint diese aufklärerische Haltung im Prinzip zu teilen. Auch in seinen pädagogisch-didaktischen Schriften, etwa in Die sokratische Methode (1922), entwirft er eine dezidiert auf intellektuelle Emanzipation und Vorurteilskritik setzende Lehrart, die auf den ersten Blick ebenfalls seiner hierarchischen Distinktion von Meister und Schülern und der damit einhergehenden Autoritätsbeziehung zu widersprechen scheint. || 160 Ebd., S. 9. 161 Nelson, Von der Kunst zu philosophieren, S. 231. 162 Ebd., S. 229.
„Wahrheitsgefühle“ | 231 Die Berufung auf das richtige Gefühl, dem nur der Ausdruck mangelt, gilt hier [im Modell sokratischen Lehrens, A. A.] nicht. Das Gefühl ist zwar der erste und nächste Führer auf dem Weg zur Wahrheit, aber es ist ebensooft ein Beschützer der Vorurteile. In einer wissenschaftlichen Frage bedarf daher das Gefühl der Aufklärung, damit es nach Begriffen und geordnetem Schlußverfahren beurteilt werden kann.163
Der Lehrer solle seinen Schülern ein „Leiter“164 sein, der sie zum Selbstdenken anregt und sie durch „geistige Disziplin“,165 durch seinen „Mut“ und sein „Selbstvertrauen“ in die Vernunft auch in schwierigen Lernsituationen darin bestärkt, „das nur übernommene Wissen von der Wahrheit zu sondern.“ 166 Wie verträgt sich aber dieses Plädoyer für ein autoritätskritisches, aufklärerisches Selbstdenken der Schüler mit Nelsons Plädoyer für ein auf Wahrheitsgefühlen beruhendes Konzept der Meisterschaft? Lässt sich das in den Meister gesetzte Fremdvertrauen überhaupt in Selbstvertrauen transformieren? Wie kann ein Schüler, der sich der Autorität seines Lehrers verschreibt, selbst je Kopf einer Schule werden?167 In einer Reihe von reformpädagogischen Schriften, die 1921 erstmals unter dem Titel Die Reformation der Gesinnung durch Erziehung zum Selbstvertrauen gebündelt erscheinen, aber teilweise schon vor dem und während des Ersten Weltkriegs separat erschienen sind, führt Nelson die Verhältnisbestimmung von Selbstvertrauen, Fremdvertrauen und Autorität näher aus, und zwar im Kontext seiner Auseinandersetzungen mit der organisierten Jugendbewegung, der er sich schon vor dem Ersten Weltkrieg verbunden, danach allerdings zunehmend entfremdet fühlt. Wie in den Meister-Schüler-Konstellationen des akademischen Bereichs nimmt auch in den hier modellierten pädagogisch-didaktischen Konstellationen der Jugenderziehung die „Erziehung zum Selbstvertrauen“ ihren Weg über das Fremdvertrauen. Es ist hier zwar nicht der ‚Meister‘ oder der ‚Lehrer‘, aber der ‚Führer‘, dem sich die jugendlichen ‚Geführten‘ vertrauensvoll || 163 Ders., Die sokratische Methode (1922), in: ders., Gesammelte Schriften in neun Bänden, Bd. 1: Die Schule der kritischen Philosophie und ihre Methode, hrsg. v. Paul Bernays, Hamburg 1970, S. 269–316, hier S. 305. Zuvor hatte es geheißen, S. 283: „Denn was er [der Lehrer] übermittelt, ist nicht die philosophische Wahrheit selbst, sondern nur die Tatsache, daß er oder ein anderer dieses oder jenes für eine philosophische Wahrheit hält. Indem er aber doch den Anspruch erhebt, damit Philosophie zu lehren, betrügt er im Grunde sich selbst und seine Schüler. [...] Soll es also überhaupt so etwas wie philosophischen Unterricht geben, so kann es nur Unterricht im Selbstdenken sein [...].“ 164 Ebd., S. 304. 165 Ebd., S. 303. 166 Ebd., S. 298. 167 Vgl. zum intrikaten Verhältnis von Autorität und Schule auch den monographischen Beitrag von Lutz Danneberg.
232 | Andrea Albrecht anschließen sollen. In zeitdiagnostischer Absicht kritisiert Nelson aber schon 1916 „den Mangel an Bereitschaft, Führer zu suchen und zu ihnen zu stehen.“ 168 Der zeitgenössischen „akademischen Jugend [...] wäre“, meint er abschätzig, selbst „durch einen Fries nicht die Rettung gekommen, weil sie nicht fähig ist, sich zum Prinzip der Führerschaft zu bekennen und mit Taten ihr Bekenntnis zu besiegeln.“169 Was für ein Begriff von Führerschaft aber schwebt Nelson vor? Ein Führer, tut er kund, könne das „Zutrauen seiner Gefolgschaft“ nicht allein durch die Proklamation seiner Ideen, sondern müsse es auch dadurch gewinnen, „daß er sich als entschlossener und von durchaus reinen Motiven geleiteter Charakter“ erweise.170 Das Ethos des Führers hebt sich denn auch deutlich vom Ethos des ‚Verführers‘ ab, der „selbstherrlich“ und ‚anmaßend‘ die unbedingte Bindung an die Wahrheit hintanstelle,171 also unaufrichtig agiere. Sachkenntnis (logos) und Charakter (ethos), Kompetenz und Ehrlichkeit konstituieren demnach nur zusammengenommen die Eignung zu einer der Jugend zur Instruktion vorgesetzten Vertrauensperson. Nelson bewegt sich mit diesen seinen Bestimmungen ganz im Rahmen der Tradition des auctoritasDiskurses,172 verknüpft die traditionellen Argumente aber mit seiner Epistemologie. Während die Sachkenntnis auf dem Wahrheitsgefühl gründe, gründe die charakterliche Eignung zum Führer auf der ‚Liebe zur Wahrheit‘: || 168 Leonard Nelson, Eigene Verantwortung und innere Wahrhaftigkeit (Vier Briefe an die freideutsche Jugend) (1916), erstmals publiziert im Sammelband: ders., Die Reformation der Gesinnung durch Erziehung zum Selbstvertrauen, Leipzig 1917 (2. Aufl. 1922), hier zitiert nach ders., Gesammelte Schriften in neun Bänden, Bd. 8: Sittlichkeit und Bildung, hrsg. v. Paul Bernays, Hamburg 1971, S. 213–239, hier S. 222. 169 Ebd. 170 Ebd., S. 228. 171 Ders., Erziehung zum Knechtsgeist (1917), erstmals publiziert im Sammelband: ders., Die Reformation der Gesinnung durch Erziehung zum Selbstvertrauen, Leipzig 1917 (2. Aufl. 1922), hier zitiert nach ders., Gesammelte Schriften in neun Bänden, Bd. 8: Sittlichkeit und Bildung, hrsg. v. Paul Bernays, Hamburg 1971, S. 449–495, hier S. 488. 172 Vgl. dazu auch grundlegend Lutz Danneberg, Säkularisierung, epistemische Situation und Autorität, in: ders. u.a. (Hrsg.), Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit, Bd. 2: Zwischen christlicher Apologetik und methologischem Atheismus, Berlin, New York 2002, S. 19–66; ders., Pyrrhonismus hermeneuticus, probabilitas hermeneutica und hermeneutische Approximation, in: Carlos Spoerhase u.a. (Hrsg.), Unsicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit, 1550–1850, Berlin, New York 2009 (Historia Hermeneutica 7), S. 365–436; ders., Kontrafaktische Imaginationen in der Hermeneutik und in der Lehre des Testimoniums, in: ders. u.a. (Hrsg.), Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte, Wiesbaden 2009 (Wolfenbütteler Forschungen 120), S. 287–449. Vgl. zur Funktion des Vertrauens in der Wissenschaftsgeschichte ferner auch Steven Shapin, A Social History of Truth. Civility and Science in Seventeenth-Century England, Chicago 1994.
„Wahrheitsgefühle“ | 233 Es nützt nichts, es mit nur intellektualistisch orientierten Menschen versuchen zu wollen, mögen sie auch in ihren Anschauungen noch so sehr mit uns übereinstimmen, wenn wir nicht ihrer unbedingten Wahrheitsliebe sicher sind, einer Wahrheitsliebe, die sich nicht in Disputiersucht und Freude an dialektischen Manövern verliert, sondern die tiefer geht und in einer unerschütterlichen Treue zu den als richtig anerkannten Grundsätzen wurzelt.173
Nur zusammengenommen konstituieren Wahrheitsgefühl und Wahrheitsliebe, Kompetenz und Aufrichtigkeit, Logos und Ethos die legitime Basis für einen wissenschaftlichen Autoritäts- und Führungsanspruch, dem sich Geführte beziehungsweise Schüler unterordnen können. Das Vertrauen der ‚Geführten‘ in den Führer und die von ihm gefühlte, erkannte, geliebte und propagierte Wahrheit ist hingegen weniger unbedingt konzipiert. Der Geführte habe sich, führt Nelson aus, der Autorität des Führers nicht unkonditional zu unterwerfen; er müsse ihm zwar in den Aspekten glauben, in denen er selbst nichts wisse: Vertrauen setzt gerade da ein, wo das Wissen aufhört; es ist ein Glaube. Es ist der Glaube auf Grund der Kenntnis, die wir vom Charakter oder von der Sachkennerschaft eines anderen haben, der Glaube, daß jener auch da das Richtige treffen wird, wo unsere eigene Entscheidung unsicher ist.174
Der Geführte aber wird von Nelson zugleich zu einer Abwägung, zu einem Wahrscheinlichkeitskalkül motiviert, das sein Vertrauen von autoritätsgläubigem, bedingungslosem Gehorsam unterscheidbar macht. Nelson argumentiert – auch hier ganz im Rahmen der traditionellen Autoritäts- und Testimoniumslehre – für einen Induktionschluss, der die prima facie irrationale Entscheidung, einer anderen Person zu glauben und ihr zu vertrauen, rational begründet: In Wahrheit stellt aber dieses Vertrauen nur einen besonderen Fall der Anwendung des eigenen Urteils dar, da derjenige, der auf die Einsicht des anderen vertraut, dies nur insofern tut, als er da, wo sein eigenes Urteil nicht zur sicheren Entscheidung genügt, von der Wahrscheinlichkeit der größeren Sicherheit des fremden Urteils Gebrauch macht. Diese Wahrscheinlichkeit der größeren Sicherheit des fremden Urteils muß aber ihrerseits auf Grund eigenen Urteils angenommen werden, wenn wirklich Vertrauen auf die Wahrheit des fremden Urteils und nicht nur ein blinder Glaube an seine Autorität vorliegen soll.175
|| 173 Nelson, Eigene Verantwortung und innere Wahrhaftigkeit, S. 229. 174 Ders., Führer und Verführer (1916), erstmals publiziert im Sammelband: ders., Die Reformation der Gesinnung durch Erziehung zum Selbstvertrauen, Leipzig 1917 (2. Aufl. 1922), hier zitiert nach ders., Gesammelte Schriften in neun Bänden, Bd. 8: Sittlichkeit und Bildung, hrsg. v. Paul Bernays, Hamburg 1971, S. 387–415, hier S. 405. 175 Ders., Erziehung zum Knechtsgeist, S. 485.
234 | Andrea Albrecht Nelson bemüht sich in seinen Überlegungen zur Jugendbewegung also um eine Balance. Führerschaft soll nicht in Despotismus umschlagen, der Führungsanspruch nicht auf Autoritätsgläubigkeit und Vorurteile, sondern auf kognitive und ethische Qualitäten gegründet sein. Nur so könnte die hierarchische Führer-Geführte-Beziehung sicherstellen, dass aus Geführten mit der Zeit neue Führer erwachsen. Mit der Zeit müsse hierzu die Fremdbestimmung durch den Führer in Selbstbestimmung, das Fremdvertrauen in Selbstvertrauen übergehen und einen kognitiv und charakterlich wiederum geeigneten Menschen (bei Nelson eher: einen kognitiv und charakterlich wiederum geeigneten Mann) als Führer hervortreten lassen. Obgleich man erwarten könnte, dass Nelson relativ streng zwischen reformpädagogischen und akademischen Konstellationen, zwischen der Erziehung von Adoleszenten und der Belehrung von Studierenden unterscheidet, finden sich deutliche Analogien zwischen der Führer-Geführte-Relation und der Meister-Schüler-Relation.176 Zwar will Nelson den Meister und akademischen Lehrer nicht pauschal als Führer bezeichnet wissen, im Gegenteil: Die Aufgabe des Lehrers könne, heißt es in Die sokratische Methode sogar ausdrücklich, nicht die des Führers sein [...] in dem Sinn, daß er die Mitarbeiter vor Irrwegen und vor Unfällen schützt; auch nicht in dem Sinn, daß er vorangeht, die Mitarbeiter nur folgen – in der Erwartung, daß sie dadurch in den Stand gesetzt werden, den gleichen Weg künftig allein zu finden. Nein, hier hängt alles von der Kunst ab, die Schüler von Anfang an auf sich zu stellen, sie das Selbstgehen zu lehren, ohne daß sie darum allein gehen, und diese Selbständigkeit so zu entwickeln, daß sie eines Tages das Alleingehen wagen dürfen, weil sie die Obacht des Lehrers durch die eigene Obacht ersetzen.177
Der akademische Lehrer hat demnach nur als ‚Leiter‘ zu fungieren und sich jeden dogmatischen Ausfall zu untersagen. Dennoch gibt es zwei signifikante Ausnahmen in der Begriffsverwendung, bei denen Nelson ausdrücklich akade|| 176 Diskussionen um legitime und illegitime ‚Führerschaft‘ sind in den Jahren um den Ersten Weltkrieg herum endemisch. Vgl. u.a. Max Webers berühmt gewordene Rede „Wissenschaft als Beruf“ aus dem Jahr 1917, in der er dem studentischen Wunsch nach Führerschaft eine sehr deutliche Absage erteilt. Vgl. dazu in diesem Band den Beitrag von Olav Krämer. 177 Nelson, Die sokratische Methode, S. 293. In diesem Punkt kann sich Nelson auf Fries berufen, vgl. Jakob Friedrich Fries, Das Lob der wissenschaftlichen Trockenheit. Entwurf eines Vortrages über die Bedeutung der Geschichte der Philosophie, in: ders., Sämtliche Schriften, hrsg. v. Gert König und Lutz Geldsetzer, Bd. 20, Dritter Band der vierten Abteilung, Aalen 1969, S. 415–433, hier S. 429: „Wer aber in die Geschichte der Philosophie selbsttätig eingreifen will, der muss sich seinen Vormann suchen, bei diesem auslernen und dann dessen Verfahren kennen lernen, nun erst vermag er selbstdenkend fortzuwirken.“ Fries’ Abhandlung ist 1929 von Nelson aus dem Nachlass herausgegeben worden.
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mische Führungsrollen als solche benennt. Erstens handelt es sich um eine Art Binnendifferenzierung der Meister in Führer und Lehrer. Außerordentlich genialen Denkern nämlich, die mit ihren Einsichten ihren Zeitgenossen besonders weit voraus sind, spricht Nelson eine Führerrolle zu, die sie vom Status des gewöhnlichen Lehrers abhebt. Exemplifiziert wird diese Differenzierung einmal mehr an Fries, der – und dies ist für Nelson ein begründungsbedürftiger Umstand – der sokratischen Lehrart, die Nelson für so wichtig und pädagogisch sinnvoller als die dogmatische hält, keine Zugeständnisse gemacht, sondern vornehmlich dogmatisch unterrichtet habe. „Was Fries die sokratische Methode hat unterschätzen lassen“, erläutert Nelson, liegt in dem besonderen Charakter der Friesschen Genialität. Fries vereinigte mit einem in der Geschichte der Philosophie einzig dastehenden Wahrheitsgefühl eine Sprachbegabung, die ihm mit nachtwandlerischer Sicherheit das dem philosophischen Gedanken angemessene Wort lieferte. Ein so überlegener, freier und reicher Geist wird stets nur schwer die hinreichende Berührung finden mit der Geistesart der weniger selbständig Denkenden. [...] Ein solcher Geist kann durch seine Überlegenheit ein Führer der Jahrtausende werden, aber er ist darauf angewiesen, daß sich Lehrer finden, die seine Sprache erst aufschließen, indem sie mit Hilfe der sokratischen „Maieutik“ jene beschwerlichen und langwierigen Übungen einleiten, die den nicht schrecken dürfen, der ein Jünger der Philosophie werden will.178
Wer ein so überragendes Genie wie Fries ist, darf sich also auch in akademischen Konstellationen als „Führer“ gerieren und muss sich nicht in die Niederungen des sokratischen Lehrens begeben. Er ist allerdings auf einen Meisterschüler wie Nelson angewiesen, der das geniale, nur dogmatisch geäußerte Wissen des Genies meisterhaft nachvollzieht, in sokratischer Manier aufbereitet, an seine Schüler weitergibt, Letztere so in der Funktion des Leiters/Lehrers sukzessive zum Selbstdenken anleitet und zur methodischen Ausarbeitung der nur gefühlten Wahrheiten von Genie und Meister stimuliert. Nelson hat auf diese Weise die funktionale Arbeitsteilung seiner Schule um eine weitere Ebene aufgestockt: Die wenigen zum Führer bestimmten Meister zeichnen sich demnach durch eine besondere Genialität aus, die sie von den anderen Meistern abhebt, aber zugleich auch zur Distribution ihres Wissens auf Letztere angewiesen sein lässt. Diese Angewiesenheit kann weit über den Tod des Genies hinausreichen. Der zur Lehre und Leitung bestimmte Meister ist im Unterschied zum genialen Führer in der Lage, das esoterische Wissen des Genies zu verstehen und zu vermitteln. Dabei verfügt er selbst über noch unbegründetes, erahntes Wissen, die Fähigkeit zu philosophieren und ein Selbstver|| 178 Nelson, Die sokratische Methode, S. 310f.
236 | Andrea Albrecht trauen in die eigene Vernunft. Den Schülern hingegen eignet im Kollektiv Methodenwissen und das Fremdvertrauen und Zutrauen in den Meister. Die somit dreistufig differenzierte Schule lässt den Lehrer und Meister – und auch dies klingt in Cassirers Kritik an Nelson bereits an und findet später in Wachs Differenzierung zwischen Schule und Kreis seinen Ausdruck – in die Funktionsstelle eines Priesters einrücken, der zwischen der göttlichen Autorität und den Laien vermittelt. Doch dieser Analogie bedient sich Nelson selbstredend nicht. Für ihn ist allerdings klar, dass von der Arbeitsteilung der philosophische Fortschritt der Moderne abhängt. Die intuitiven ‚Modephilosophen‘ hingegen, die wie Spengler, Bergson und andere Wahrheit unmittelbar und absolut zu erkennen behaupten, verzichten nach Nelsons Diagnose auf eben diese nur schulisch zu organisierende Arbeit, sie wollen „ohne die Mühe des Nachdenkens“, sei es nun des Nachdenkens des Meisters oder des Schülers, „der philosophischen Wahrheit habhaft werden“179 und können daher Nelson zufolge keine ernst zu nehmende philosophische Einsicht hervorbringen. Ein weiteres Manko der Modephilosophen hängt für Nelson mit deren Missachtung einer zweiten akademischen Führungsrolle zusammen: der disziplinenübergreifenden Führungsrolle, die Nelson den Mathematikern zuerkennt. Die Mathematiker sind die Führer, wie Nelson am Ende von Die sokratische Methode ausführt, welche die Philosophen aus dem „Strudel der Verwirrung“180 ziehen und das skandalös zerrüttete „Ansehen der Philosophie“ 181 salvieren sollen: Und so appelliere ich denn an die Mathematiker. Mögen Sie sich der Geistesmacht bewußt werden, die in ihren Händen ruht, und des ihnen damit zufallenden Führerberufs in den Reichen der Wissenschaft und des Unterrichts. Die Philosophie kann heute den ihr von Haus aus zufallenden Schutz der geistigen Güter nicht übernehmen [...].182
Wie ernst Nelson diesen Appell meinte oder ob es sich primär um eine pragmatische Form der Außenkommunikation handelte, ist schwer zu eruieren; trotz der wiederholten emphatischen Bekundungen machte er sich in Briefen durchaus über die philosophischen Interessen seiner mathematischen Freunde lustig. Von „Hilberts philosophischen Resultaten“ solle man sich nicht zu viel versprechen, lässt er beispielsweise 1905 Gerhard Hessenberg wissen. „Daß er [Hilbert] das Bedürfnis nach mehr fühlt, ist ja auch sehr schön, aber so wie er das rein
|| 179 Ders., Typische Denkfehler in der Philosophie, S. 18. 180 Ders., Die sokratische Methode, S. 314. 181 Ebd., S. 315. 182 Ebd., S. 315f.
„Wahrheitsgefühle“ | 237
Mathematische verläßt, wird er einfach albern.“183 Dennoch entspricht dem ausgedrückten mathematischen Führungsanspruch ein curricularer, denn Nelson hofft, dass künftige politische Führer am sichersten durch eine mathematische und naturwissenschaftliche Propädeutik zu erziehen seien, die allein die „Redlichkeit des Denkens“ erwirke: Nur durch die auf die Evidenz der mathematischen Erkenntnis gestützte planmäßige Beschäftigung mit diesen Wissenschaften [Mathematik und Naturwissenschaft, A. A.] kann das Wahrheitsgefühl, das in jedem unverdorbenen Geist lebendig ist, erstarken und gefeit werden gegen die Angriffe der Phantasterei und der Skepsis, die ihre Wurzeln allemal in undisziplinierten und unfruchtbaren Geistesbemühungen haben. 184
Einmal mehr wird deutlich, gegen was sich Nelson mit seiner Rede vom Wahrheitsgefühl im Kern richtet: gegen den Skeptizismus, der ihm – wie Musil – in zeitgenössisch modephilosophischem Gewand begegnet und den er – auch hier ganz ähnlich wie Musil – durch einen mathematischen Flankenschutz zum Schweigen zu bringen hofft. Ohne eine Bilanz zu wagen, lässt sich abschließend festhalten, dass Nelsons sozialepistemologische Entfaltung des Wahrheitsgefühls nur noch marginal mit der Fries’schen Philosophie zu tun hat. Nelson identifiziert die drei von Fries noch geschiedenen Typen des Wahrheitsgefühls miteinander und lässt die jeweils gefühlten Wahrheiten (also noch unklare Wahrheit, praktische Wahrheit und metaphysische Wahrheit) in eins fallen, um sie neu zu sortieren und jeweils Führern, Lehrern und Schülern zuweisen oder graduell absprechen zu können. Im Unterschied zu Fries und auch im Unterschied zu Hermann Cohen scheint er kein ernsthaftes epistemisches Fundierungsproblem mehr zu kennen oder dieses durch die Annahme unmittelbarer Erkenntnisse weitgehend entproblematisiert zu haben. Er fällt damit gewissermaßen, wie Cassirer richtig beobachtet, hinter Kant zurück. Zugleich aber kann Nelson zumindest temporär seinem Kreis mit Fries eine zentrale Identifikationsfigur verschaffen und seine eigene ‚Meisterschaft‘ als eine auf wechselseitigem, wenn auch asymmetrischem Vertrauen basierende Arbeitsteilung legitimieren, die für ihn modernes Philosophieren auszeichnet. Der Anspruch auf Meisterschaft beruft sich dabei gleichermaßen auf kognitive wie auch auf charakterliche Qualitäten – und in beiden Hinsichten nutzt Nelson das Fries’sche Wahrheitsgefühl als ein flexibles, auch || 183 Nelson an Hessenberg, dat. Göttingen 16.6.1905, zit. nach Peckhaus, Hilbertprogramm, S. 166. 184 Leonard Nelson, Erziehung zum Führer (1920), in: ders., Gesammelte Schriften in neun Bänden, Bd. 8: Sittlichkeit und Bildung, hrsg. v. Paul Bernays, Hamburg 1971, S. 497–522, hier S. 512.
238 | Andrea Albrecht rhetorisch einsetzbares Argument, um sich einerseits von den Psychologen und den konkurrierenden Kant-Auslegungen der Marburger Neukantianer als auch von den Intuitionstheoretikern abzugrenzen und sich andererseits als ‚Naturforscherphilosoph‘ und Freund der exakten Wissenschaften zu profilieren. Denn die Rede vom genialen Forscher und seinem Vertrauen verdienenden Wahrheitsgefühl kongruiert mit dem fortschrittsoptimistischen Selbstbild der zeitgenössischen Naturwissenschaftler und hat Nelson so unter anderem die für seine Karriere sehr förderliche Freundschaft mit David Hilbert und Felix Klein eingetragen. Doch für wie pragmatisch oder gar opportunistisch man Nelsons Rekurs auf epistemische Gefühle auch immer einschätzen mag: Im Unterschied zu vielen seiner Zeitgenossen scheint er sich zumindest der sozialen Implikationen seiner Epistemologie ansatzweise bewusst geworden zu sein. Ich danke Wolfgang Ranke, Volker Peckhaus und vor allem Lutz Danneberg für die Lektüre des Manuskripts und unzählige hilfreiche Hinweise.
Christopher D. Johnson
Pathosformeln
Warburg, Cassirer und der Fall Giordano Bruno Den Begriff der Pathosformel verwendet Aby Warburg erstmals in einem Aufsatz, in dem er Einflüsse der klassischen Antike und des späten Quattrocento auf Albrecht Dürer anzuwenden versucht. In „Dürer und die italienische Antike“ (1905) beschreibt Warburg, wie durch „[d]ie typische pathetische Gebärdensprache der antiken Kunst“ oder, anders gesagt, durch eine „archäologisch getreue Pathosformel“, das Leiden des Orpheus in der Kunst und Literatur der Frührenaissance repräsentiert wird.1 Um die Pathosformel zu vergeistigen, ahme Dürer zuerst die „überlebendige Muskelrhetorik“ von Mantegna und Pollaiuolo nach, bevor er sie im Spätwerk verwerfe.2 Mit der Vereinigung von subjektiven und objektiven, synchronen und diachronen Elementen werden solche Pathosformeln die Grundlage für Warburgs Kulturwissenschaft.3 Weniger bekannt hingegen ist, wie Warburg in den zwei Jahren vor seinem Tod und in engem Kontakt mit Ernst Cassirer das Wissenschaftspathos erkundete, das die Kosmographie Giordano Brunos anregte.4 Nachfolgend möchte ich erstens darlegen, dass Cassirer und Warburg in ihren Auseinandersetzungen mit Bruno zeigen, wie die Pathosformel in Verbindung mit der Anschauung eines unendlichen Kosmos eine grundlegende Problemgeschichte frühneuzeitlichen Denkens bildet; und zweitens, dass sich Bruno, Cassirer und Warburg dieser Pathosfor-
|| 1 Aby M. Warburg, Gesammelte Schriften (fortan: GS), Bd. I.2, hrsg. v. Horst Bredekamp u.a., Berlin 1998, S. 446. 2 Ebd., S. 447f. 3 Zu Warburgs Kulturwissenschaft und ihren Ursprüngen vgl. Edgar Wind, Warburg’s Concept of Kulturwissenschaft and its Meaning for Aesthetics, in: Jaynie Anderson (Hrsg.), The Eloquence of Symbols, Studies in Humanist Art, Oxford 1983, S. 21–37; Bernhard Buschendorf, Zur Begründung der Kulturwissenschaft. Der Symbolbegriff bei Friedrich Theodor Vischer, Aby Warburg und Edgar Wind, in: Horst Bredekamp u.a. (Hrsg.), Edgar Wind. Kunsthistoriker und Philosoph, Berlin 1998, S. 227–248; Dieter Wuttke, Aby M. Warburgs Kulturwissenschaft, in: ders., Dazwischen. Kulturwissenschaft auf Warburgs Spuren, 2 Bde. Baden-Baden 1996, Bd. 2, S. 737–766. Über die Beziehungen zwischen Kulturwissenschaft und Kulturgeschichte vgl. Kathryn Brush, Aby Warburg and the Cultural Historian Karl Lamprecht, in: Richard Woodfield (Hrsg.), Art History as Cultural History. Warburg’s Projects, Amsterdam 2000, S. 65–93. 4 Zwei Ausnahmen sind: Nicholas Mann, Denkenergetische Inversion: Aby Warburg and Giordano Bruno, in: Publications of the English Goethe Society 82 (2003), S. 25–37; Christopher D. Johnson, Memory, Metaphor, and Aby Warburg’s Atlas of Images, Ithaca 2012, S. 194–229.
240 | Christopher D. Johnson mel verschiedenartig zuwenden, um ihr Ethos zu bilden und ihre Selbsterkenntnis zu prüfen.5 Bruno stellt zweifellos in der Frühen Neuzeit das dramatischste Beispiel (exemplum) für das Zusammentreffen von Ethos und Pathos des Logos dar. Mehr noch als Galileo, der wegen seines Kopernikanismus unter Hausarrest stand, oder Francis Bacon, der nach seinem Versuch, die „induration of bodies“ mit einem mit Schnee ausgestopften Huhn zu beweisen, an einer Erkältung starb, gilt Brunos Autodafé im Jahr 1600 als das mächtigste Symbol eines frühneuzeitlichen wissenschaftlichen Ethos sowie das damit verbundenen Pathos. Doch merkwürdigerweise beschäftigen sich weder Cassirer noch Warburg mit Brunos Verfahren vor der Glaubens-Kongregation oder mit seiner Hinrichtung auf dem Campo de’ Fiori; vielmehr exemplifiziert Bruno für beide, dass die logische scientia pathetisierte Bilder benutzen konnte, um eine moralische sapientia zu begründen. Brunos Feindseligkeit gegenüber der Astrologie und seine Verachtung von „Grenzwächtertum“,6 das die Disziplinen balkanisiert, und andererseits seine Begeisterung für den Kopernikanismus und einen unendlichen Kosmos verkünden für Cassirer und Warburg die Möglichkeit einer ethischen ‚Kulturwissenschaft‘, die stark von der Naturphilosophie geprägt ist. Brunos sechs italienische Dialoge legen den Kopernikanismus als eine sozusagen ‚realistische‘ Theorie aus.7 In diesen eigenartigen Texten versucht er, über die empirischen und metaphysischen Folgen des Geozentrismus und eines somit erweiterten Kosmos nachzusinnen. Während sich drei Dialoge hauptsächlich auf die Kosmologie beziehen, bringen die anderen drei in allegorischer Weise Kosmologie und Ethik zusammen. Als mittelmäßiger Mathematiker entwickelt Bruno in diesen Schriften sein Ethos weitgehend auf der Grundlage von Textkenntnis und humanistischer Hermeneutik statt anhand empirischer Forschung oder erfolgreicher Anwendung einer wissenschaftlichen (d.h. wiederholbaren) Methode. Deshalb tadelt Bruno Kopernikus auch in seiner bahnbrechenden Verteidigung des heliozentrischen Weltbildes in La cena de le ceneri (1584) dafür, dass er sich zuviel mit Mathematik beschäftige und zu wenig nach Ursachen suche.8 Noch schwerer wiege, dass Kopernikus die inte|| 5 Ich vermeide hier bewusst die Frage, ob Pathosformeln und rhetorische topoi übereinstimmen. Vgl. Gertrud Bing, Aby M. Warburg, in: Rivista storica italiana 72.1 (1960), S. 100–113, hier S. 113. 6 Warburg, GS, I.1, S. 227. 7 Bruno hat Osianders Vorrede zu De revolutionibus verachtet, weil er darin, entgegen Kopernikus’ eigener Darstellung, behauptet, dass der heliozentrische Kosmos nur eine Hypothese sei. 8 Giordano Bruno, Opere Italiane, Bd. 1, hrsg. v. Giovanni Aquilecchia, Turin 2002, S. 449.
Pathosformeln | 241
ressantesten Schlussfolgerungen seiner Theorie vernachlässige, die sich aus der Idee des unmessbaren Universums (mundus immensus) ergäben. Von Lukrez stark beeinflusst, überbietet Bruno Kopernikus und propagiert ein unendliches Universum, das auch eine unendliche Zahl bewohnter Welten enthält.9 Wenn für Freud der Verlust des geozentrischen Weltbilds zu den „Kränkungen“ menschlicher „Eigenliebe“ beiträgt, so birgt die neue Kosmologie doch auch, so glaubt Bruno, die Möglichkeit ethischer und metaphysischer Wiedergeburt.10 Brunos bombastische Darstellungen seiner eigenen wissenschaftlichen Tugend, seine Neigung zur Satire und seine kühne Wiederbelebung der antiken Mythen sollten diese Wiedergeburt beschleunigen.11 Im Jahre 1926 schreibt Cassirer mit Individuum und Kosmos eine „philosophische Problemgeschichte“, die behauptet, dass „das Problem des Selbstbewußtseins“ konstitutiv für jedes Verständnis der Frühen Neuzeit sei.12 Obwohl das Buch sich vor allem auf Cusanus und dessen Begriff der docta ignorantia konzentriert, gibt Brunos Selbstbewusstsein der Kosmologie der Spätrenaissance ihre dramatischste Form. In der Abhandlung Spaccio de la bestia trionfante bringe Bruno paganischen Mythos und seine eigene Kosmologie zusammen, um „eine neue und doch echt antike Pathosformel“, eine neue „Ethik“ und dabei „ein[en] heroische[n] Affekt“ zu schaffen.13 Aufbauend auf Warburgs Auslegung des „Kampf[es] zwischen Fortuna und Herkules“,14 also zwischen astrologischem Determinismus und individueller Freiheit, liest Cassirer Brunos Rhetorik als eine durchgehend heuristische. Wenn Bruno den Kosmos allegorisiere, suche er mehr ethische Selbsterkenntnis als objektive Wissenschaft: Für eine solche Denkart ist die Allegorie kein bloßes äußeres Beiwerk, keine zufällige Hülle, sondern sie wird zum Vehikel des Gedankens selbst. Die ‚Ethik‘ Brunos insbesondere, die es nicht sowohl mit der Form des Universums als mit der des Menschen zu tun hat, greift überall nach diesem spezifisch menschlichen Ausdrucksmittel. Brunos ‚Spaccio‘ ist die allseitige Entwicklung jener ethisch-allegorischen Formelsprache, die die Verhältnisse
|| 9 Vgl. ebd., S. 506–508. 10 Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 2, hrsg. v. Anna Freud, Edward Bibring und Ernst Kris, London 1940, S. 294. 11 In diesem Sinn ist Brunos Denken vorbildlich für den von Thomas Kuhn beschriebenen Bruch mit ‚normal science‘ und deswegen Teil eines ‚Paradigmenwechsels‘. Vgl. Kuhns Bemerkungen zu Bruno in ders., The Copernican Revolution. Planetary Astronomy in the Development of Western Thought, Cambridge 1992, S. 235–237. 12 Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, in: ders., Gesammelte Werke / Hamburger Ausgabe, Bd. 14, hrsg. v. Birgit Recki, Hamburg 2002, S. 143. 13 Ebd., S. 86f. Diese Charakterisierung ist bereits explizit in De gli eroici furori. 14 Ebd., S. 85.
242 | Christopher D. Johnson der inneren Welt durch Gestalten des sichtbaren, des räumlichen Kosmos zu verdeutlichen sucht.15
Hier überträgt Cassirer Warburgs Pathosformel auf die Geschichte der Naturphilosophie und zeigt dadurch,wie jene Pathosformel dialektisch neue psychologische „Verhältnisse“ sichtbar machen könnte.16 Wie wir sehen werden, kennzeichnet das, was Warburg „die Schlitterlogik“ der Astrologie nennt, auch Cassirers „Problemgeschichte“.17 Seine Zitate von Ficino, Pomponazzi, Cardano, Pico und Kepler sollen, indem sie Begriffe wie Kausalität, Objektivität und Subjektivität verkomplizieren, die RenaissanceAstrologie als einen dynamischen Denkraum darstellen. So lehne zum Beispiel Pico das „Schicksalsmotiv der Astrologie“ ab, um der „Autonomie“ der menschlichen „Schöpferkraft“ Vorrang zu geben, und seine Logik, schreibt Cassirer, stamme meist vom „ethische[n] Pathos“ ab.18 „[E]thisches Pathos“ treibe ebenfalls Keplers Kosmologie.19 Aber erst als Cassirer sich Keplers Zeitgenossen Bruno zuwendet, wird das ethische Motiv grundlegend: Bruno hat im „Spaccio della bestia trionfante“ für diese geistige Gesamtbewegung das charakteristische Symbol geschaffen. Die Sternbilder des Tierkreises, die dem in Wahn und Aberglauben befangenen Menschen als die höchsten Herrscher über sein Geschick erscheinen, sollen gestürzt und durch andere Mächte ersetzt werden. Eine neue Moralphilosophie soll gegründet werden, die den Gegenstand rein nach dem ‚inneren Licht‘ darstellt, das auf der Warte oder am Steuer unserer Seele sitzt. Dies Prinzip der ‚Sinderesis‘, wie Bruno es nennt, tritt an die Stelle der unbewußt wirkenden, kosmisch-dämonischen Kräfte.20
|| 15 Ebd., S. 86f. 16 Vgl. ebd., S. 88: „Auch hier kommt es nicht sofort zu neuen Lösungen; sondern es muß, bevor diese einsetzen können, zunächst gleichsam ein neuer Spannungszustand des Gedankens erzeugt werden. Nirgends tritt ein eigentlicher Bruch mit der philosophischen Vergangenheit ein; wohl aber kündet sich eine veränderte Dynamik des Denkens, kündet sich – mit Warburg zu sprechen – das Streben nach einem neuen ‚energetischen Gleichgewichtszustand‘ an“. Cassirer zitiert hier Warburgs „Francesco Sassettis letztwillige Verfügung“ (1907). 17 Zitiert in Ernst Gombrich, Icones Symbolicae, in: Gombrich on the Renaissance, Bd. 2: Symbolic Images, London 1985, S. 173. 18 Cassirer, Individuum, S. 129, 137. Vgl. auch: „Hier wirken vielmehr innere und selbständige Kräfte, die ihren letzten Grund freilich nicht in Picos Naturanschauung, sondern in seiner ethischen Gesamtansicht haben“. (S. 133) „Das Pathos, das seine Schrift gegen die Astrologie beseelt, ist seinem eigentlichen Ursprung nach nicht sowohl gedankliches als ethisches Pathos“. (S. 137). 19 Ebd., S. 138f. 20 Ebd., S. 141.
Pathosformeln | 243
Sinderesis, notiert Giovanni Gentile, ist eine Form von „Gewissen im ethischreligiösen Sinn“.21 Dem scholastisch-theologischen Ursprung nach gilt synderesis für Bruno als eine mystische Form ethischer Anschauung und als eine Form des Willens, die „Vernunft“ und „Gefühl“ ausgleichen soll.22 Cassirer behandelt synderesis auch als das „Prinzip“, mit dem Bruno das neue astronomische Schreckgespenst, d.h. die Unendlichkeit, bewältigt.23 Brunos Vorstellung einer kosmologischen Unendlichkeit muss als ein Problem des Selbstbewusstseins verstanden werden: „Denn ein Objekt erkennen heißt die Distanz, die zwischen ihm und dem Bewußtsein besteht, negieren und mit ihm im gewissen Sinne eins werden“.24 Also bewirkt Objektivität seltsamerweise die Abschaffung objektiver Distanz – wie Daston und Galison in anderen Zusammenhängen demonstriert haben.25 Diese Erkenntnis charakterisiert Naturhistoriker und Naturphilosophen, Künstler wie Leonardo und jene Wissenschaftler, die, wie Galileo, die Sprache der Natur in der Mathematik finden.26 Im engeren Sinne sieht Cassirer die Vermittlung dieser Erkenntnis als „das Ziel, in dem sich die Kunsttheorie der Renaissance und die Theorie der exakten Wissenschaft zusammenfanden. Der „Denkraum der Besonnenheit wurde wiedergewonnen“.27 Aber während Galileo und Kepler diesen „Denkraum“ hauptsächlich mathematisieren, nimmt Bruno darin den Raum eines immanenten Pathos wahr, in dem, wie Campanella sagt, „Cognoscere est fieri rem cognitam“.28 Anders gesagt, ist für Bruno letztendlich „Selbstbewußtsein“ eine Form ethischen Bewusstseins oder „synderesis“. Doch im Falle Brunos ist die res cognita ebenfalls unendlicher Raum. Um seinem „dynamische[n] Weltgefühl“
|| 21 Giordano Bruno, Opere Italiane, hrsg. v. Giovanni Gentile, Bd. 2, Bari 1925, S. 13. Diese ist die Ausgabe, die Warburg gelesen hat. 22 Vgl. ders., Opere Italiane (Hrsg. Aquilecchia), Bd. 2, S. 186, Anm. 32, wo Aquilecchia synderesis erklärt: „È la coscienza morale che guida l’uomo al bene. Il concetto ha origine nella filosofia di san Girolamo, ma è attestato (con la stessa terminologia) anche in altri Padri della Chiesa e nei Vittorini. Per san Tommaso è una nozione squisitamente morale, che corrisponde, nel dominio pratico, alla funzione dell’intelletto nel dominio teoretico. Dopo la scolastica, il concetto ritorna raramente; tra le rare occorrenze, si veda il De visione Dei di Cusano, il quale, diversamente da Bruno, interpreta la nozione di sinderesi in chiave mistica“. 23 Vgl. auch Cassirer, Individuum, S. 141f. 24 Ebd., S. 155. 25 Vgl. Lorraine Daston und Peter Galison, Objectivity, New York 2010. 26 Cassirer, Individuum, S. 172. Cassirer bespricht auch den „durchgehenden Parallelismus von Kunsttheorie und Wissenschaftstheorie.“ (S. 184). 27 Ebd., S. 188, 195. Hier zitiert Cassirer Warburgs „Weissagung“-Aufsatz von 1920, den ich im Folgenden besprechen werde. 28 Zitiert ebd., S. 196.
244 | Christopher D. Johnson „Ausdruck“ zu geben, rückt Bruno „das Raumproblem“ in den „Kreis der ethischen Grundfragen“.29 Hier, in diesem proto-schellingischen Denkraum, führt das dialektische „Prinzip des Selbstbewußtseins“ zur Identität von Subjekt und Objekt in der Anschauung kosmologischer Unendlichkeit.30 Aber wenn das Subjekt seine „Freiheit“ in ihr gewinnt, erfährt es zugleich auch seine Auflösung. Das Pathos entsteht bei Bruno, weil die Entdeckung der Unendlichkeit mit dem Tod oder dem „Aufgeben der individuellen Daseinsform“ zusammenfällt.31 Cassirer behandelt dieses „Aufgeben“ als den Schlüssel zum Seinsproblem und zur Erkenntniskritik der Frühen Neuzeit. Fragwürdig aber ist hierbei, dass Cassirer Bruno grosso modo als emblematisch für die frühneuzeitliche Kosmologie darstellt. Unerklärt bleibt, warum Cassirer auf der neuplatonischen Identität von Mikrokosmos und Makrokosmos beharrt, die Bruno, stark beeinflusst von Lukrez und dem Epikureismus, verneint oder zumindest stark bestreitet. Jedenfalls wird in Cassirers Problemgeschichte die begriffliche, psychologische Distanz zwischen „Ich“ und „unendliche[m] All“ aufgehoben: „[D]er Geist gleicht der Welt, die er begreift. Von den verschiedensten Ausgangspunkten her ergreift die Renaissancephilosophie dieses Grundmotiv, um es ständig neu zu variieren“.32 Und hier, so darf man zusetzen, gleicht das „Grundmotiv“ der Pathosformel. Während diese Variation die universale Dynamik der Pathosformel bestätigt, hängt das Gleichnis von Geist und Welt teilweise von spezifischen historischen Umständen und Textquellen ab. Individuum und Kosmos konnte, wie Habermas bemerkt, nur mit Hilfe der intellektuellen Gemeinschaft und der einzigartigen Sammlung der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (KBW) geschrieben werden.33 In der Tat wendet sich Cassirer in der Widmung an Warburg „im Namen dieser Arbeitsgemeinschaft – im Namen all derer, die in Ihnen seit langem einen Führer der geistesgeschichtlichen Forschung verehren. || 29 Ebd., S. 216f. In der Philosophie der symbolischen Formen bespricht Cassirer die Ausdrucksfunktion als die grundlegendste und primitivste Art symbolischen Denkens. 30 Ebd., S. 217. 31 Ebd., S. 218. Cassirer erwähnt nur kurz Brunos Martyrium. Vgl. ebd., S. 43. 32 Ebd., S. 219. 33 Jürgen Habermas, Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung. Ernst Cassirers humanistisches Erbe und die Bibliothek Warburg, in: Dorothea Frede und Reinold Schmücker (Hrsg.), Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, Darmstadt 1997, S. 79–104; vgl. auch Thomas Meyer, Kulturphilosophie in gefährlicher Zeit. Zum Werk Ernst Cassirers, Hamburg 2007. Erst nachdem er nach Hamburg kam, um Philosophie an der neugegründeten Universität zu lehren, begann Cassirer ernsthaft an seiner dreibändigen Philosophie der symbolischen Formen (1923–1929) zu schreiben, in der sein Denken stärker in eine kulturhistorische Richtung geht.
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In stiller und beharrlicher Arbeit hat die Bibliothek Warburg seit drei Jahrzehnten das Material für die geistesgeschichtliche und für die kulturwissenschaftliche Forschung bereitzustellen gesucht“.34 Die KBW, setzt er fort, sei ein unentbehrliches „Organon“.35 Aber sie fördere auch ethische Fragestellungen, weil die Problemgeschichte des Nachlebens der Antike, die die Bibliothek behandeln solle, die vita activa genauso wie die vita contemplativa betreffe. Folglich seien die Bücher nicht nur gemäß dem sogenannten Gesetz der guten Nachbarschaft aufgestellt worden, vielmehr gliedere sich die Bibliothek in vier Stockwerke, die den vier Kategorien: Bild, Wort, Orientierung und Handlung entsprächen. Kein Wunder, dass Cassirer, der ambivalente Neokantianer, die KBW „gefährlich“ für seine Forschung fand.36 Der Weg zu Cassirers ethischer Auslegung der frühneuzeitlichen Naturphilosophie ist auch durch Warburgs im Jahr 1920 veröffentlichem Aufsatz „Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten“, der den „Kampf wider heidnisch-kosmologischen Fatalismus“ von Melanchthon, Lichtenberger, Luther und Dürer analysiert, vorbereitet worden: Das Zufällige und Individuelle löst sich in das Notwendige und Allgemeine auf. Wenn dies Ergebnis auf der einen Seite als Triumph der astrologischen Weltansicht erscheint, so zeigt sich doch andererseits bei genauerer Betrachtung, daß diese Weltansicht selbst bereits eine eigentümliche Zersetzung erfahren hat. Die Astrologie zeigt – wie Warburg an ihrer Geschichte dargetan hat – von Anfang an ein geistiges Doppelantlitz. Als Theorie sucht sie die ewigen Gesetze des Weltalls in nüchterner und klarer Linienführung vor uns hinzustellen, während ihre Praxis im Zeichen der Dämonenfurcht, der „primitivisten Form religiöser Verursachung“ steht.37
Hier wird nicht nur der „Weissagungs“-Aufsatz angeführt, sondern vielmehr hebt Cassirer im „geistige[n] Doppelantlitz“ geschickt Warburgs „Geschichte“ des astrologischen Symbolismus auf und spielt zugleich auf die Vorliebe des Kollegen für die Figuren der Dualität oder Polarität an. So stellt Warburg bezüg|| 34 Cassirer, Individuum, S. xi. 35 Vgl. ebd.: „Möge das Organon geistesgeschichtlicher Forschung, das Sie mit Ihrer Bibliothek geschaffen haben, uns noch auf lange Zeit hinaus immer wieder neue Fragen stellen, und mögen Sie selbst uns, wie bisher, neue Wege zu ihrer Beantwortung weisen“. Zu Cassirer, KBW und Warburg vgl. Georges Didi-Huberman, L’Image survivante. Histoire de l’art et temps des fantômes selon Aby Warburg, Paris 2002, S. 41, 440–446; Martin Jesinghausen-Lauster, Die Suche nach der Symbolischen Form. Der Kreis um die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, Baden-Baden 1985. 36 Cassirer zitiert von Fritz Saxl, Ernst Cassirer, in: P. A. Schlipp (Hrsg.), The Philosophy of Ernst Cassirer, New York 1949, S. 47–51, hier S. 48. 37 Cassirer, Individuum, S. 122.
246 | Christopher D. Johnson lich des Nachlebens paganer „Gestirngötter in Bild und Sprache“ in der christlichen Renaissance fest: Sie waren dämonische Wesen von unheimlich entgegengesetzter Doppelmacht: als Sternzeichen waren sie Raumerweiterer, Richtpunkte beim Fluge der Seele durch das Weltall, als Sternbilder Götzen zugleich. [...] Der Sternkundige der Reformationszeit durchmißt eben diese dem heutigen Naturwissenschaftler unvereinbar erscheinenden Gegenpole zwischen mathematischer Abstraktion und kultlich verehrender Verknüpfung wie Umkehrpunkte einer einheitlichen weitschwingenden urtümlichen Seelenverfassung.38
Aber dann, Jean Pauls „Doppelzweig des bildlichen Witzes“ in der Vorschule der Ästhetik (1804) zitierend, versteht Warburg diese Polarität sowohl in diachronen als auch synchronen Begriffen: Logik, die den Denkraum – zwischen Mensch und Objekt – durch begrifflich sondernde Bezeichnung schafft, und Magie, die eben diesen Denkraum durch abergläubisch zusammenziehende – ideelle oder praktische – Verknüpfung vom Mensch und Objekt wieder zerstört, beobachten wir im weissagenden Denken der Astrologie noch als einheitlich primitives Gerät, mit dem der Astrologe messen und zugleich zaubern kann. Die Epoche, wo Logik und Magie wie Tropus und Metapher (nach den Worten Jean Pauls) „auf einem Stamme geimpfet blühten,“ ist eigentlich zeitlos, und in der kulturwissenschaftlichen Darstellung solcher Polarität liegen bisher ungehobene Erkenntniswerte zu einer vertieften positiven Kritik einer Geschichtsschreibung, deren Entwicklungslehre rein zeitbegrifflich bedingt ist.39
Diese rekursive Ansicht von Geistesgeschichte wird dann am Schluss des Aufsatzes weiter befeuert: Die Wiederbelebung der dämonischen Antike vollzieht sich dabei [...] durch eine Art polarer Funktion des einfühlenden Bildgedächtnisses. Wir sind im Zeitalter des Faust, wo sich der moderne Wissenschaftler – zwischen magischer Praktik und kosmologischer Mathematik – den Denkraum der Besonnenheit zwischen sich und dem Objekt zu erringen versucht. Athen will eben immer wieder neu aus Alexandrien zurückerobert sein.40
Mit den Vorbildern Faust und Luther, die er als exemplarische SchwellenFiguren zwischen zwei Epistemen versteht, gestaltet Warburg sein Verständnis des „moderne[n] Wissenschaftler[s]“ durch eine agonistische, allegorische, nahezu heroische Auffassung von Kulturwissenschaft.
|| 38 Warburg, GS, I.2, S. 491. 39 Ebd., S. 491f. 40 Ebd., S. 534.
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Warburg gibt seinen Ideen von Astrologie und Astronomie, Magie und Logik eine neue, doch nie vollendete Form, als er sich, begleitet von Gertrud Bing, von September 1928 bis Juni 1929 in Italien aufhält. Dort entdeckt er, dass Bruno eine Hauptrolle in seiner Kulturwissenschaft spielen sollte, einer Kulturwissenschaft, die immer mehr eine pathetisierte, ethische Denkweise wird, die aber gleichzeitig als Hauptvorläufer einer Bildwissenschaft gilt, wie Belting, Bredekamp u.a. sie begreifen.41 Da es aber für Warburg immer schwierig war, eine Ausformulierung seiner Ideen zu finden, so sind auch seine Bruno-Forschungen niemals in Aufsätzen oder Vorträgen, sondern in Briefen, Tagebucheinträgen und einem kleinen Notizbuch mit der Überschrift Giordano Bruno festgehalten.42 Bezeichnenderweise kehrt Warburg während seines Lebens immer wieder zu denselben Figuren zurück (z.B. Ghirlandaio, Botticelli, Kepler) – ähnlich wie in den Naturwissenschaften ein Verfahren wiederholt werden muss. So ist Brunos Denken für ihn eine neue Probe oder neue Experimentalanordnung in dem, was er oft sein „Laboratorium kulturwissenschaftlicher Bildgeschichte“ nennt. Seine Hinwendung zu Bruno, welche mit seiner Arbeit an zahlreichen kosmologischen Tafeln im Mnemosyne-Atlas zusammenfällt, ist ein letzter Versuch, affektive und begriffliche Distanz zu den monstra zu schaffen. Wie wir von Warburgs Freund und Kollegen Fritz Saxl wissen, schreibt Warburg seine Genesung im Kreuzlinger Sanatorium teilweise der Beschäftigung mit Kepler und dessen Vermittlungsversuchen zwischen Astrologie und Astronomie zu.43 Später verändert Warburg auch Keplers Devise per aspera ad astra zu per monstra ad sphaeram, um damit seine eigenen Versuche astrologischer monstra Herr zu werden und einen psychologischen Ausgleich zu schaffen. Schließlich benutzt Warburg im Vortrag zum Gedächtnis an Franz Boll, „Die Einwirkung der Sphaera barbarica auf die kosmischen Orientierungsversuche des Abendlandes“ (1925), bei dem eine öffentliche Anwendung seiner berühmten Bilderreihen-Technik stattfand, Wörter und Bilder, um zu zeigen, wie Keplers Berechnung des elliptischen Orbits des Mars „die Ueberwindung der
|| 41 Zur Bildwissenschaft vgl. Horst Bredekamp, Bilder bewegen. Von der Kunstkammer zum Endspiel. Aufsätze und Reden, Berlin 2007; Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001. 42 Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg mit Einträgen von Gertrud Bing und Fritz Saxl, GS, VII, hrsg. v. Karen Michels und Charlotte Schoell-Glass, Berlin 2001; Giordano Bruno, III.121.1.2, Warburg Institute Archive (fortan: WIA), London. 43 Vgl. Saxl, Ernst Cassirer, S. 49. Zum Cassirer-Warburg-Briefwechsel vgl. Maurizio Ghelardi, Das Klopfen auf der anderen Seite des Tunnels, in: Cassirer Studies 1 (2008), S. 157–171, vor allem S. 158f.
248 | Christopher D. Johnson Sphaera barbarica innerlich und äusserlich bedeutete“.44 Kurz gesagt, bietet Kepler ein Vorbild für Warburgs eigene Selbst-„Ueberwindung“. Darüber hinaus konzentriert sich Tafel C des Mnemosyne-Atlas auf Kepler. Erläutert als „Entwicklung der Marsvorstellung. Loslösung von der anthropomorphistischen Auffassung Bild – harmonikales System – Zeichen“, macht diese Tafel die Fortdauer der anthropomorphisch-astrologischen Ansicht mit einem mathematischen-astronomischen Ansatz sichtbar.45 Warburg endeckt in der Sphaera barbarica einen unabwendbaren Denkraum, der nicht nur für die abendländische Begriffsgeschichte schicksalhaft sein sollte, sondern auch für seine eigenen verschiedenen Versuche, eine Synthese von Wort und Bild zu finden. (Warburg behandelt die Sphaera barbarica zuerst in seinem Vortrag aus dem Jahre 1912, welcher die Fresken im Palazzo Schifanoia in Florenz (gemalt zirka 1470) auslegt.46 Aber fast dreißig Jahre später wird sie grundlegend im MnemosyneAtlas nicht nur für die Tafel C, sondern auch für die Tafeln 20, 21, 22, 23, 23a, 24, 25, 26 und 27.) Deshalb nennt Warburg diesen geistigen „Prozeß“ dramatisierend die Dialektik des Monstrums. In jedem Fall ist es Bruno und nicht Kepler, den Warburg seine „Isomene“47 nennt. Brunos kosmographische und bildliche Vorstellungen entzünden Warburgs eigentümliches metaphorisches Denken: „Giordano Bruno stellt sich mir im Augenblick als Drehscheibe im Denkgleissystem des 16. Jahrh. dar, und bildet durch Personalunion eine Antenne europäischer Denkweise, die ihre Wellen gleichermassen aus Italien, Frankreich, England und Deutschland empfing“.48 Wegen seiner heterodoxen Ideen gezwungen durch Europa zu wandern, wird Bruno eine „Antenne“ für Warburgs Begriffe über die frühneuzeitliche „Denkweise“. Insbesondere regt dessen Unendlichkeitsbegriff War-
|| 44 Aby Warburg, Bilderreihen und Ausstellungen, hrsg. v. Uwe Fleckner und Isabella Woldt, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.2, Berlin 2012, S. 19–56, hier S. 41. Warburg schreibt auch: „Per monstra ad sphaeram! Von der terribilità des Monstrums zur Kontemplation in der Idealsphäre heidnisch gelehrter Betrachtung. Das ist der Zug in der Kulturentwicklung der Renaissance, den die Bilderreihe von heute Abend beleuchten soll.“ (S. 34) Bolls Sphaera (1903) und Sternglaube und Sterndeutung: die Geschichte und das Wesen der Astrologie (1917) haben Warburg stark beinflusst. 45 Aby Warburg, Der Bilderatlas: Mnemosyne, GS, II.1, hrsg. v. Martin Warnke mit Claudia Brink, Berlin 2000, S. 12f. 46 In Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara (GS, I.2, S. 465) erklärt Warburg die Sphaera barbarica als „eine durch ägyptische, babylonische und kleinasiatische Gestirnnamen bereicherte Fixsternhimmelsbeschreibung“. 47 Warburg, GS, VII, S. 141. 48 (General Correspondence), A. Warburg to F. Sax WIA, GC 13. December 1928.
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burg an, über neue methodische und begriffliche Möglichkeiten nachzudenken.49 Gewohnheitsgemäß sucht Warburg umgehend nach Zustimmung für seine Erkenntnisse. Aus Rom schreibend, wirbt Warburg um Cassirers Aufmerksamkeit: Das ist sachlich genommen auch insofern der Fall, als die Bearbeitung meines bildgeschichtlichen Materials in einer Weise, wie ich nicht einmal hoffen durfte, mir die Aufgabe stellt, mich mit der Philosophie der Hochrenaissance auseinander zu setzen. Der Mann, dessen Schwergewicht mir eben hier aufgeht, ist Giordano Bruno. Seine Erkenntniskritik, die sich hinter dem Symbol eines Feldzuges der Götter gegen die Himmelsdämonen verbirgt, ist doch in Wahrheit eine Kritik der reinen Unvernunft, die ich unmittelbar in geschichtlichen Zusammenhang bringen kann mit meinem psychologischen Bildermaterial. Dies nur um Ihnen zu vermelden, dass ich auch in Rom gute Nachbarschaft mit Ihnen pflege.50
In seiner Antwort ermutigt Cassirer seinen Freund einen Monat später. Warburgs vergleichende Methode und sein Ethos ließen ihn, so Cassirer, über die konventionelle philosophische Analyse hinaussehen: Mit besonderer Freude habe ich gehört, dass Sie sich jetzt um Giordano Bruno bemühen. Wenn irgend jemand, so muss es Ihnen gelingen, uns den Weg zu diesem merkwürdigen Mann zu weisen. [...] Dass hier der Hebel an anderer Stelle angesetzt werden muss, dass aus der bloss philosophischen Problematik heraus Bruno nicht zu verstehen und zu interpretieren ist – das habe ich schon in meiner Darstellung der Renaissancephilosophie zu zeigen gesucht. Aber wenn ich den Knoten, der hier vorliegt, gesehen habe: so werden Sie ihn uns lösen können. Der „Spaccio della bestia trionfante“ verlangt einen Kommentar, der nicht aus der philosophischen Problemgeschichte allein, sondern nur aus der Bildgeschichte u. aus der Geschichte der Astrologie gesehen werden kann. Dass wir beide uns nun auch auf diesem Wege begegnen, ist mir eine ganz besondere Freude: es zeigt sich darin immer aufs neue, wie sehr die echten und eigentlichen Probleme aller konventionellen Fachgrenzen spotten, unter denen wir heute noch so sehr leiden.51
Warburgs interdisziplinärer Ansatz, so deutet Cassirer an, verspräche seine Ausführungen in Individuum und Kosmos weiterzuführen und zu ergänzen. Aber dass Warburg imstande sein werde, noch einen unkonventionellen „Kommen|| 49 In Giordano Bruno schreibt er: „Befreiung des Kosmos von der / Schalengrenze / Und dem monströsen Grenzwächterpersonal“. (Bl. 43) Und in einem Tagebuch-Eintrag benutzt Warburg Bruno, um die herkömmliche theatrum mundi-Metapher zu zertrümmern: „Giordano Bruno behandelt den Himmelsglobus wie ein Theater, in dem er als Logenschließer Plätze anweist, nachdem er schon die kosmischen Sphaerenschalen auf ewig zersprengt hatte“. GS, VII, S. 386. 50 (General Correspondence), A. Warburg to E. Cassirer, WIA, GC 3. December 1928. 51 (General Correspondence), E. Cassirer to A. Warburg, WIA, GC 12. December 1928.
250 | Christopher D. Johnson tar“ zum Spaccio zu verfassen, scheint eine Fehleinschätzung seines Denkens zu sein, das doch eher intuitiv als philologisch genau veranlagt war. Einige Tage später greift Warburg die synderesis beim Lesen von Gentiles Ausgabe des Spaccio (und vermutlich auch bei der Lektüre von Individuum und Kosmos) wieder auf: „[...] wird Nachmittags durch Bruno durchgepflügt und die entscheidende Bedeutung der ‚Syntheresis‘ unverzagt [...] herausgekriegt. Momo als europäisches ironisches weltliches Gewissen.“52 Hier erklärt synderesis, warum Pathosformeln, deren Ursprung in paganen Mythen liegt, der Renaissance-Kosmologie neue Bedeutungen geben können. Überdies ist es entscheidend, dass dieses „Gewissen“ ironisch funktioniert. Zwar widerstrebt Bruno jede eindeutige Allegorie; und doch projiziert sein Dialog mit brillanter Satire moralische, politische und epistemologische Laster auf die achtundvierzig Konstellationen des ptolemäischen Kosmos.53 Dann beschreibt Bruno, wie Jupiter, mit Unterstützung des spottenden Momus, diese Sternenbilder wegräumt und sie durch die entsprechenden Tugenden ersetzt, die von den universalen, rationalen Naturgesetzen abgeleitet sind.54 Zugleich schmiedet Warburg seine eigenen begriffsgeschichtlichen Verbindungen zwischen Bruno, dem frühneuzeitlichen Kosmologen Radinus und dem spätantiken Kosmologen Hyginus. Um ihre Theorie zu prüfen, besuchen Warburg und Bing während ihrer selbst so titulierten „Bruno-Reise“ die neapolitanische Kirche, in der Bruno als junger Mönch diente, und ein Mithräum im nahe gelegenen Capua. Diese „Expedition zu den unbekannten Quellen des Heliotropismus“ soll das Verständnis von Brunos „Paralogik“ vertiefen, die „die Brücke bildet zwischen der Welt des Ptolemaeus und des Copernicus – Kepler“.55 Wie Warburg es selbst fasst, wollte er seine eigene psychomachia durch Brunos neuplatonische „Psychagogiae“ begreifen.56 Bruno mit seiner „wohltemperier|| 52 GS, VII, S. 428. 53 Eigentlich zählt Ptolemäus nur sechsundvierzig Sternbilder. 54 Vgl. Bruno, Opere Italiane (Hrsg. Aquilecchia), Bd. 2, S. 186, Anm. 33; zur Figur des Momus oder „Momo“. Leon Battista Alberti schrieb einen satirischen Dialog, Momus (zirka 1450). 55 (General Correspondence), A. Warburg to KBW, WIA, GC 21. May 1929; vgl. Mann, Denkenergetische Inversion, S. 33, der einen Brief Warburgs an Toni Cassirer über die „Bruno-Reise“ zitiert. 56 „Wenn auch vom rein wissenschaftlichen Standpunkt aus der Nachweis eines derart wuchtigen Einprägers nicht mehr nötig war, so ist dieser doch für die Aufklärungspsychagogie [...] ganz unschätzbar, wenn sich bei der in ihren konstitutiven Elementen so unerfassbaren Persönlichkeit (wie der Brunos) die Funktion paganer Vorprägung aus dem Halbdunkel mnemisch zurückgesunkener Errinerungsbilder so überzeugend und einfach wieder ans Tageslicht herausstellen lässt“. (General Correspondence), A. Warburg to KBW, WIA, GC 21. May 1929.
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te[n] Weltweisheit“ exemplifiziert für ihn nicht nur eine neue Formulierung des Problems ‚Wort und Bild‘; vielmehr betrachtet er Bruno als eine synchronische Figur, die heroisch, d.h. ethisch, ihr Leben der Zähmung des astrologischen Aberglaubens und der ihm zugehörigen monströsen Bilder widmet. Für Bruno, wie für Cassirer und Warburg, ist synderesis die ethisch-epistemologische Fähigkeit, die dem Kulturwissenschaftler zwischen astronomischem und astrologischem Denken zu unterscheiden erlaubt. Wieder in Hamburg, schreibt Warburg begeistert ins Tagebuch: „Gestern Nachmittag Cassirer da: hörte mit deutlicher innerer Zustimmung von unserer Bruno-Reise. Und, was das erwünschteste war: Er war der ‚Synderesis‘ auch als Schlüsselwort nachgegangen“. Und Bing notiert mit mehr Sachlichkeit hierzu: „Interessant, wie hier einer der Grundbegriffe der exakten modernen Wissenschaft nicht aus der Traditionslinie des rationalen, sondern gerade des monströs-kausalen Denkens kommt“.57 Astrologie hat den Himmelsglobus in eine „Sphaera barbarica“ verwandelt, deren „Ueberbefruchtung“ mit Sternenbildern die Möglichkeit zerstört hat, den Globus als „Versuchsinstrument“ für mathematische Wissenschaft verwenden zu können. Aber Bruno war der erste, der diesen bildreichen Denkraum bis zur Unendlichkeit vergrößerte. In diesem Sinne ist die Unendlichkeit zur Pathosformel geworden. Weil Warburg Brunos „Wortschatz“58 als einen unerschöpflichen „Leidschatz“59 betrachtet, wird Brunos Streit mit der bestia trionfante zum diachronen Element der ewigen Pathosformel. Warburg stirbt im Oktober 1929 an einem Herzinfarkt. Kurz danach widmet Cassirer seine Rektoratsrede an der Universität Hamburg dem verstorbenen Freund, um ein „Bild des Mannes“60 zu zeichnen. Zunächst erzählt dieser Nachruf, wie Cassirer erstmals eine intellektuelle Verwandtschaft mit Warburg fühlte, als er seine Arbeit in der KBW aufnahm. Er erinnert sich auch, wie er Warburg in Kreuzlingen zum ersten Mal traf, als Warburg sich noch von seinem
|| 57 Ders., GS, VII, S. 488. 58 „Wir haben Tage um Tage damit verbringen müssen, um nur den Wortschatz dieses Genies begreifen zu können.“ (General Correspondence), A. Warburg to K. Vossler WIA, GC 10. December 1929. 59 Vgl. Martin Warnke, Der Leidschatz wird humaner Besitz, in: Werner Hofmann u.a. (Hrsg.), Die Menschenrechte des Auges: Über Aby Warburg, Frankfurt a.M. 1980, S. 113–186. 60 Ernst Cassirer, Nachruf auf Aby Warburg, in: ders., Aufsätze und Kleine Schriften (1927– 1931), hrsg. v. Tobias Berben, Hamburg 2004 (Gesammelte Werke, Bd. 17), S. 368–374. Vgl. ebd., S. 369, in dem Cassirer seine Empfindung in der KBW beschreibt: „Wie von einem Zauberhauch schien mir dieser nicht abbrechende Zug der Bücher umwittert; wie ein magischer Bann lag er über ihnen“.
252 | Christopher D. Johnson geistigen Zusammenbruch erholte: „Das Problem, das sein Leben ergriffen und das sein Leben verzehrt hatte, jetzt sah ich es in seinem ganzen Ernst, in seiner Wucht und in seiner tragischen Größe vor mir stehen“.61 Warburgs Anschauung, dass Bedeutungen zuallererst in bildlichen Details gesucht werden sollten, sei nur deshalb haltbar, weil er immer „das Ganze“ und „den lebendigen Zusammenhang“ im Blick behalten habe.62 Seine Bereitschaft, mit „tragischen Probleme[n]“, d.h. mit Pathosformeln, zu ringen, sei außerordentlich gewesen.63 So führt Cassirer weiter aus: Er hatte in sich selbst erlebt und erfahren, was er vor sich sah – und er vermochte nur das wahrhaft zu sehen, was er aus dem Zentrum seines eigenen Lebens heraus zu fassen und zu deuten vermochte. [...] Aber aus diesem Leiden selbst erwuchs ihm nun die unvergleichliche Kraft und die unvergleichliche Eigenart seines Schauens. [...] Wenn man den großen bildnerischen Motiven nachgeht, die Warburg in seiner Forschung verfolgt hat, so zeigen sie bei all ihrer inhaltlichen Verschiedenheit einen gemeinsamen Zug. Sie alle sind gleichsam nur verschiedene Stadien des einen großen Passionsweges der Menschheit. Das Orpheus-Motiv, das Motiv vom Raub der Proserpina, das Motiv vom Kindermord der Medea – das alles bezeichnete ihm nur die letzten und höchsten Extreme menschlichen Schmerzes und menschlicher Leidenschaft. Er sah in alledem nur ein Symbol – ein Symbol für jene unnennbaren dämonischen Kräfte, denen unser Dasein preisgegeben ist.64
Während Cassirer in seiner Trauer die pathetisierten, subjektiven Aspekte von Warburgs Leistung überzeichnet, macht er Warburg auch zu einem Symbol seiner eigenen „Geistesgeschichte“ und Philosophie der symbolischen Formen.65 In einem Nachhall der Hauptthese von Individuum und Kosmos vergleicht er Warburg mit Shakespeare, weil beide mutig dem „Gegensatz und [der] innere[n] Spannung von Freiheit und Notwendigkeit“ nachforschten.66 Aber es ist Warburgs Auseinandersetzung mit Bruno, die für Cassirer das größte Ethos und Pathos besitzt: Noch eine Stunde vor [Warburgs] Tode hat er mir die neuen großen zusammenfassenden Pläne entwickelt, die den Abschluß und die Krönung seines Werkes bilden sollten. [...] Es war ein Thema der Philosophiegeschichte, das Warburg in diesen letzten Monaten leidenschaftlich beschäftigte und das ihn, der sich bisher diesem Kreise ferngehalten hatte, in
|| 61 Ebd., S. 370. 62 Ebd. 63 Ebd., S. 371. 64 Ebd. 65 Ebd., S. 372. 66 Ebd., S. 371.
Pathosformeln | 253 neue unbekannte Weiten zu locken schien. Seine letzten Studien galten der Persönlichkeit und den Schriften Giordano Brunos.67
Warburg, der sein Leben dem Studium der „Darstellung bewegten Lebens in der Kunst“ widmete, konnte Brunos bildhaftes Denken mit dem größten Ethos interpretieren.68 Seine verspätete Auseinandersetzung mit Bruno war also nicht nur „ein theoretisches Problem“, es war vielmehr ein dringendes „Erlebnis“. 69 Wie Bruno „der Sphäre des magischen Denkens“ entkam, so erfährt Warburg Jahrhunderte später die gleiche agonistische translatio.70 Es ist aber, wie Cassirer es interpretiert, Warburgs Begeisterung für Brunos Unendlichkeitsbegriff, die das größte Pathos schafft: Das Unendliche ist Gegenstand der Vernunft – aber nur eine Vernunft, die ergriffen ist vom heroischen Affekt und die von ihm beschwingt wird, vermag es wahrhaft zu erfassen. Nicht der bloßen Betrachtung, sondern der enthusiastischen Schau und der enthusiastischen Liebe gibt es sich zu eigen. Man versteht, was Warburg, an dieser Lehre, an Giordano Brunos Forderung der „Heroici furori“ ergreifen mußte. Hier fand er ein Denken, das durch und durch jene energetische Form und jene energetischen Spannungen zeigt, wie er sie sonst hinter den Werken der bildenden Kunst gefühlt und aufgewiesen hatte. Nicht die Inhalte dieses Denken waren es, die ihn reizten – aber seine Form wurde ihm noch einmal zum Symbol der Kräfte, die ihn selbst zuinnerst bewegten.71
Wie sollte diese „Form“ von Brunos „Lehre“ Warburg bewegt haben? Sie bringt für Warburg, der immer den Prozeß und die Polarität des Denkens betonte, einen „heroische[n] Affekt“ hervor, und nicht die metaphysischen Schlussfolgerungen, mit denen sich Bruno beschäftigte. Aber für Cassirer werden die beiden Männer kurzum zu einem pathetisierten, zeitlosen Bild: Ein bestimmtes, seelisch-geistiges Motiv ist es, das in Giordano Brunos philosophischen Werken und in seinen Dichtungen immer wieder anklingt: das Motiv des Fluges des endlichen Menschengeistes zur Sonne der einen unendlichen göttlichen Wahrheit. Der menschliche Geist weiß, daß er das Ziel nicht erreichen wird und kann, daß sein Flug zuletzt, gleich dem des Ikarus, mit dem Sturze enden muß – aber er wagt trotz allem diesen Flug [...].72
|| 67 Ebd., S. 372f. 68 Ebd., S. 373. 69 Ebd. 70 Ebd. 71 Ebd. 72 Ebd., S. 373f.
254 | Christopher D. Johnson Abgesehen von seinem Hang zur Hyperbel erinnert Cassirers Metaphorik stark an Warburgs Metaphern der Auffahrt und des Heliotropismus aus dem BrunoNotizbuch, dem Tagebuch und der Korrespondenz. Außerdem zitiert Cassirer für Warburgs Epitaph ein Sonett Luigi Tansillos aus Brunos Heroici Furori, worin er sich als unzerbrechlicher Ikarus beschreibt.73 Dann kommentiert Cassirer, als ob er den Kommentar, den er vorher von Warburg erwartet hatte, mit einem „Bild“ ersetzen könnte: Wie Giordano Bruno es in diesen Worten ausspricht, so hat Warburg gelebt, und so ist er gestorben. Und so wird sein Bild weiter in uns leben: nicht als das Bild eines bloßen Gelehrten und Forschers, der im Frieden sterben durfte, nachdem er die Ernte seines Lebens heimgebracht hatte, sondern als das Bild des Kämpfers und des Helden, dessen Waffen, als der Tod sie ihm entwand, nicht schartig geworden und nicht gebrochen waren, sondern die gleich stark, gleich scharf und gleich rein geblieben waren von Anfang bis zum Ende seines geistigen Lebenskampfes.74
Mit solch übertriebener Rhetorik und mit seiner eigenen Version der „Schlitterlogik“ verwandelt Cassirer seinen Freund gleichermaßen in eine Pathosformel. Wenn, wie Salvatore Settis meint, Warburgs Kulturwissenschaft Dauer (Ethos) und Ereignis (Pathos) zusammenfasst, so beruht diese Kulturwissenschaft, wie wir gesehen haben, auf einer exemplarischen aber kurzzeitigen Konstellation von verschiedenartigen Denkweisen.75 Warburg und seine Bibliothek geben Cassirer ein epistemologisches und zugleich ethisches Mittel, um den Nexus zwischen Astrologie, Astronomie und Selbstbewusstsein auszumachen. Cassirer wendet dieses „Organon“ an, um Brunos eigenwilliges Denken auszulegen, bevor Warburg Bruno schließlich exemplarisch zu einem pathetisierten Renaissance-Denkraum stilisierte. Jenseits von Individuum und Kosmos findet sich diese Pathosformel auch in einer Vielzahl anderer Gattungen, in denen Ethos und Pathos stark ausgeprägt sind: so in Dialogen, Paratexten, der Korrespondenz, einem Nachruf und einem Notizbuch, das nicht für die Veröffentlichung geschrieben war. Aber anders als Bruno hatten Warburg und Cassirer eine dynamische Gelehrtengemeinschaft (im Umfeld der KBW), in der sie ihre kulturwissenschaftlichen Fragen diskutieren konnten. Um es anders auszurücken: Nicht nur in Brunos Händen wird das, was Daston „the problem of knowledge and belief“ nennt, umgeformt, sondern es wird || 73 Vgl. Bruno, Opere Italiane (Hrsg. Aquilecchia), Bd. 2, S. 569. Die Zeilen sind: „non temer [...] l’alta ruina. / Fendi sicur le nubi, et muor contento; / S’il ciel si illustre morte ne destina“. 74 Cassirer, Nachruf, S. 374. 75 Salvatore Settis, Pathos und Ethos, Morphologie und Funktion, in: Vorträge aus dem Warburg Haus 1 (1997), S. 31–73.
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auch exemplarisch zum Gegenstand von Cassirers Problemgeschichte und Warburgs Kulturwissenschaft. Erkenntnis, so zeigen es Bruno, Cassirer und Warburg in unterschiedlicher Weise, ist kein bloßes wissenschaftliches Artefakt, sondern es umfasst immer auch Werte und die Umwandlung von Werten. 76 Aber für alle drei Denker bedeutet den Kosmos zu verstehen und zu bilden zugleich das Selbst zu erkennen und frei zu bilden. Wie wir gesehen haben, verlangen diese Selbsterkenntnis und diese Selbstbefreiung eine pathetisierte scientia, die synchronische und diachronische Wahrheiten vermitteln kann.
|| 76 Lorraine Daston, Scientific Error and the Ethos of Belief, in: Social Research 72.1 (2005), S. 1–28, hier S. 1.
Alexander Nebrig
Die Rhetorik von Leo Spitzers Stilistik 1. Sobald sich in wissenschaftlichen Texten zum einen der Autor verstärkt zur Geltung bringt und zum anderen die Emotionen des Lesers geweckt werden, entsteht genau genommen eine Verletzung der Textsorte. Wissenschaftliche Texte überzeugen idealtypisch durch logisch-sachliche Verfahren, nicht aber mithilfe der Autorität des Verfassers oder durch Appellation an die Gefühle des Lesers – beides gilt ohnehin nicht als legitimes Überzeugungsverfahren, eher als irrationale Überredungs- und Aufmerksamkeitsstrategie. Davon abgesehen, dass sich gerade literaturwissenschaftliche Texte metaphorischer Redeweise, Narrationen und der Evidenz des Beispiels bedienen, tritt in der Praxis zudem nicht selten der Fall ein, dass ethische und affektive Strategien zum Einsatz kommen. Legitim scheint dies deshalb zu sein, weil in den Textwissenschaften der Spielraum für wissenschaftliches Schreiben weit gefasst ist, was daran liegen mag, dass eben nicht nur das Wissen (episteme, scientia), sondern auch die Meinung (doxa) in der Untersuchung entfaltet wird. Wenn sich neben der idealen, szientistisch-logisch vorgehenden Literaturwissenschaft überhaupt eine rhetorische Praxis behaupten konnte, dann als ars bene dicendi. Sie bearbeitet den wissenschaftlichen Text nach den Geboten des schönen Stils, der zwar ästhetisch vereinnahmt, nicht aber das persuasive Moment zentral setzt. Doch auch hier tut sich ein Konflikt mit der Forderung nach Sachbezogenheit auf, weil der wissenschaftliche Text, sobald er schön gestaltet wird, unweigerlich die Sache verschönert. Wenn dieser schöne Stil in besonderem Maße für die historischphilologischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen des neunzehnten Jahrhunderts kennzeichnend war, dann lässt sich sagen, dass ihre Vertreter in Theorie und Praxis das Gebot der Sachlichkeit gegen ethische oder affektive Strategien verteidigt bzw. diese der Polemik zugeordnet hätten.1 Für Franz Saran (1866–1931) war 1907 wissenschaftliche Rede diejenige, „die keine oder || 1 Vgl. die Fallstudie von Lutz Danneberg, Dissens, ad-personam-Invektiven und wissenschaftliches Ethos in der Philologie des 19. Jahrhunderts. Wilamowitz-Moellendorff contra Nietzsche, in: Ralf Klausnitzer und Carlos Spoerhase (Hrsg.), Kontroversen in der Literaturtheorie/Literaturtheorie in der Kontroverse, Bern 2007 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik 19), S. 94–147.
258 | Alexander Nebrig doch möglichst geringe Teilnahme des Sprechers an dem, was er sagt, verrät.“2 Rhetorisch gesprochen, bleibt das Ethos unmarkiert. Die Indifferenz der Gemütslage bilde dabei die Voraussetzung der wissenschaftlichen Arbeit. Für Saran ist dieser ‚Nullpunkt‘ der ‚Schallform‘ wichtig, weil sich von ihm aus das poetische Ethos als eine Abweichung erkennen lässt, zumal bei der Bestimmung des Prosarhythmus. Die ethische Indifferenz stehe im Dienst des ‚Gedankens‘, den die Wissenschaft – anders die Poesie – suche: „Der Poesie kommt es nicht, wie etwa der Wissenschaft, lediglich auf Gedanken an. Sie löst deshalb Gedanken, wo sie deren mitteilt, nicht von der Persönlichkeit, die sie hervorbringt, ab, um sie in besondere, streng sachliche Zusammenhänge zu bringen, sondern stellt sie dar als Erlebnisse der bewegten Menschenseele und entlehnt ihre ‚Bedeutungsform‘ der Form des jeweiligen Erlebnisses selbst.“3 Der Methodenumbruch um 1910 von ‚Positivismus‘ zu ‚Geistesgeschichte‘ hat bei nicht wenigen Vertretern zu einer Abkehr von diesem Gebot geführt. Friedrich Gundolfs Wissenschaftskunst ist vielleicht das bekannteste Beispiel einer Wissenschaft, die sowohl das Ethos des Autors als auch die emotionale Disposition des Publikums in der Darstellung mitberücksichtigt. Um 1910 lässt sich an Vertretern der jungen Wissenschaftsgeneration beobachten, wie traditionelle Vorstellungen über den wissenschaftlichen Stil in den Humanwissenschaften außer Kraft gesetzt werden. Zu nennen sind hier vor allem die Habilitationsschriften Shakespeare und der deutsche Geist von Gundolf und Hamann und die Aufklärung von Rudolf Unger, die 1911 bei Bondi bzw. bei Diederichs erschienen, sowie Norbert von Hellingraths Dissertationsschrift Pindarübertragungen von Hölderlin (1910 und erneut 1911), die vor allem typographisch aus dem Rahmen fällt. Dass Leo Spitzer in einem programmatischen Aufsatz seine wissenschaftliche Autorschaft mit einem lyrischen Ich4 verglich, gehorchte ebenfalls jener durch Autoren wie Gundolf repräsentierten Tendenz, die wissenschaftliche Prosa zu poetisieren. Elise Richter, die erste habilitierte Romanistin und außerordentliche Professorin an der Universität Wien, hätte ihren einstigen Schüler Spitzer gleich beim Namen nennen können, als sie den Satz schrieb: „Der heisse Drang, Persönliches zum Ausdruck zu bringen, ergreift heute auch oft den Wissenschaftler und man hört das Schlagwort, die Wissenschaft, das Universi-
|| 2 Franz Saran, Deutsche Verslehre, München 1907, S. 120. 3 Ebd. 4 Leo Spitzer, Wortkunst und Sprachwissenschaft, in: ders., Stilstudien, Bd. 2, München 2 1961 [zuerst 1928], S. 498–536, hier S. 536.
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tätskolleg, soll ‚erlebtes‘ geben.“5 Somit trifft gerade für die 1910er und 1920er Jahre die unter Dichtern gelegentlich anzutreffende Kritik an der philologischen Disziplin, sie verschließe sich aufgrund ihrer logisch-rationalen Sprache Möglichkeiten der Erkenntnis, nicht zu. Paul Hatvani (1892–1975) warf in seinem Essay Spracherotik, zuerst in der Zeitschrift Der Sturm 1912 veröffentlicht, der Philologie epistemologische Defizite vor: „Die Wissenschaft macht sich über Endlichkeit und Unendlichkeit schon deshalb keine Gedanken, weil sie behauptet, daß die Gedanken die Wissenschaft machen. Gedanken werden ‚ausgesprochen‘, – dabei kommt aber die Sprache zu kurz.“6 Hatvani fordert stattdessen das Spracherlebnis: „Aber in der Gedankenlosigkeit der wissenschaftlich gebildeten Hirne ist kein Platz zum Spracherlebnis. Die Sprache ist eine Grenzenlosigkeit, die sich durch Gedanken – Gedanken sind ja bekanntlich zollfrei – nicht beschränken läßt.“7 Hatvani irrte sich. Gerade seine Generationsgenossen unter den Wissenschaftlern suchten auch in der Wissenschaft jenes Erlebnis zum Ausdruck zu bringen. Ende 1913 übersandte der Freiburger Germanist Philipp Witkop (1880– 1942) seine Lyrikgeschichte an Ricarda Huch mit der Gewissheit, es seien keine „‚literaturhistorischen‘ Bücher, die ich Ihnen sende, es sind Bekenntnisbücher, in jenem Sinne, in dem auch Ihre Bücher über die Romantik und Gottfried Keller Bekenntnisbücher sind.“8 Die zwei Bände zur Neueren deutschen Lyrik habe er „nicht mit gelehrter Tinte, sondern schließlich doch mit Blut geschrieben“9. Witkop suchte in einer Art dichterischen Philologie die Allianz mit der Dichtung, indem er einen Konsens in der Haltung beschwor. Witkop, aber auch der Stargermanist Gundolf sind heute zu eng mit einer überholten Methode verbunden, um noch produktiv gelesen werden zu können. Der 1887 geborene Spitzer wird, wenngleich mit Tendenz zur Historisierung, weiterhin rezipiert. Die Einzigartigkeit seines sowohl umfangreichen als auch nicht systematisierbaren wissenschaftlichen Werkes und sein dauernder Nachruhm erklären sich vielleicht auch daraus, dass er nicht einfach nur ein Vertreter der geistesgeschichtlichen Methodik gewesen ist, der mit großen Synthesen || 5 Vgl. Elise Richter, Impressionismus, Expressionismus und Grammatik, in: Zeitschrift für romanische Philologie 47 (1927), S. 349–371, hier S. 360f., Anm. 4. 6 Paul Hatvani, Spracherotik, in: Paul Pörtner (Hrsg.), Literatur-Revolution. 1910–1925. Dokumente, Manifeste, Programme, Bd. 1: Zur Ästhetik und Poetik, Darmstadt 1961, S. 175–177, hier S. 175. 7 Ebd. 8 Brief Philipp Witkops an Ricarda Huch vom 8.12.1913, in: Deutsches Literaturarchiv Marbach a.N., A:Huch 68.2181. 9 Ebd.
260 | Alexander Nebrig aufwartete, sondern als Sprachwissenschaftler stets das Material der Texte beschrieb und schon allein wegen der Freilegung interessanter Details lesenswert blieb. Diese sprachmateriale Besonderheit zeigen die germanistischen Vertreter der expressionistisch-geistesgeschichtlichen Wissenschaft wie Ernst Bertram, Herbert Cysarz oder Hermann Pongs weniger. Anders als die germanistischen Kollegen hielt Spitzer weiterhin an traditionellen Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit, insbesondere an der philologischen Vorliebe für das Detail, fest, während er die wissenschaftliche Methode zum Erlebnis erhob: „‚Methode ist Erlebnis‘, sagt Gundolf: die wissenschaftlichen Erlebnisse großer Gelehrter sind ebenso darstellenswert wie die künstlerischen Erlebnisse großer Künstler.“10 Die Gundolf’sche Erlebnis-Methode-Formel wurde von Hans Ulrich Gumbrecht für die Charakterisierung von Spitzers wissenschaftlichem Stil aufschlussreich appliziert.11 Kritisch sind jedoch zwei Dinge anzumerken. Spitzers Methode ordnet sich erstens trotz der originellen Beiträge, die sie hervorbrachte, in den allgemeinen Entwicklungsgang der Philologien im deutschsprachigen Raum in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ein. Zweitens ist deren Besonderheit nicht genügend hinsichtlich ihrer kommunikativen Absicht analysiert worden. Diese wird erkennbar, sobald man sie in einem rhetorischen Kommunikationsrahmen beschreibt. Mag Spitzer im Leben ein Histrioniker gewesen sein, wie dies Gumbrechts den Rollen Spitzers nachgehende Darstellung nahelegt; 12 aber der wissenschaftlichen Autorschaft liegt doch die für seine Generation typische, aus der Überwindung des Positivismus erwachsene Überzeugung zugrunde, dass der Wissenschaftler seinen Gegenstand nicht einfach nur argumentativ-analytisch, kritisch oder deskriptiv erschließen, sondern als faszinierendes Lektüreerlebnis vermitteln soll. Dieser Vermittlungsprozess ist das Werk der Rhetorik. Was Spitzer und seine Generationsgenossen an der Wissenschaft vornahmen, lässt sich als Rhetorisierung der wissenschaftlichen Sprache beschreiben. Die Vermittlung des Erlebnisses gelingt nur im Medium einer rhetorisierten Wissenschaft, weil sonst das Erlebnis des Wissenschaftlers für den Leser äußerlich bliebe und ihn nichts anginge. Rhetorik wird dabei als Kunst verstanden, || 10 Leo Spitzer, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Meisterwerke der romanischen Sprachwissenschaft, Bd. 1, München 1929, S. 4. – Friedrich Gundolf, Shakespeare und der deutsche Geist, Berlin 1911, S. VIII, spricht tatsächlich von ‚Erlebnisart‘. 11 Hans Ulrich Gumbrecht, „Methode ist Erlebnis“. Leo Spitzers Stil, in: ders., Vom Leben und Sterben der großen Romanisten. Karl Vossler, Ernst Robert Curtius, Leo Spitzer, Erich Auerbach, Werner Krauss, München 2002, S. 72–151. 12 Vgl. ebd., S. 89–137.
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einem Publikum klarzumachen, dass die jeweilige Sache, von der gehandelt wird, seine eigene ist – hier und jetzt. Jean Starobinski und, diesem mit leichten Modifikationen folgend, Gumbrecht haben Spitzer als Autor der Präsenzerfahrung beschrieben, ohne zu sehen, dass die Performanz der Präsenz durch rhetorische Verfahren bewerkstelligt wird.13 Um seine Faszination überhaupt übertragen zu können, muss Spitzer rhetorisch argumentieren, d.h. mittels eines Überzeugungsbegriffs, der das Logische transzendiert. Gemeint ist mit Rhetorik also nicht einfach nur der verstärkte Einsatz rhetorischer Tropen und Figuren, sondern dass eben jene Mittel der elokutionellen Ebene genutzt werden, um Ethos und Pathos aufzuwerten und die wissenschaftliche Rede nicht allein dem Logos zu überlassen. Ein solches Verständnis von Rhetorik orientiert sich an Aristoteles, der die drei Überzeugungsmittel Logos, Ethos und Pathos als gleichberechtigt konzipierte. Um die damit verbundene Problematik besser zu verstehen, seien diese hier genauer vorgestellt.
2. Aristoteles versteht die Rhetorik, darin der Dialektik vergleichbar, nicht als eine eigene Wissenschaft wie die Medizin, sondern als eine Methode, die allen Wissenschaften dienlich sein kann. Sie wird von ihm epistemisch übergreifend konzipiert und beschränkt sich nicht allein auf prominente Wissensbereiche wie die Jurisprudenz oder das Gebiet der Politik. Bei Aristoteles spielt anders als bei Platon, der nur die Wahrheit (ἀλήθεια) hatte sehen können, das Wahrscheinliche (εἰκόϛ) eine zentrale Rolle, das in den Meinungen (δὀξα) zum Ausdruck gelange. Für ihn ist die Rhetorik die Fähigkeit, „Überzeugendes und scheinbar Überzeugendes zu erkennen, wie in der Dialektik einen echten und scheinbaren Schluß“14. Wenn Aristoteles die Rhetorik als „Fähigkeit definiert, das Überzeugende, das jeder Sache innewohnt, zu erkennen“15, so nennt er im Anschluss insgesamt drei Mittel, dieses Überzeugende glaubhaft zu machen. Zuvor jedoch ein Wort zum Begriff des Überzeugungsmittels. Aristoteles schreibt für Überzeugungsmittel pístis (πίστις), was die Römer mit persuasio wiedergeben werden. Das Femininum ‚pistis‘ leitet sich ab von || 13 Vgl. Jean Starobinski, Leo Spitzer, in: ders., Études de style, Paris 1970, S. 7–39, hier S. 37f. und Gumbrecht, „Methode ist Erlebnis“, S. 77–80 und bes. 141f. 14 Aristoteles, Rhetorik. Übersetzt und hrsg. von Gernot Krapinger, Stuttgart 1999, S. 11 (Rhet. 1355b). 15 Ebd.
262 | Alexander Nebrig πείθώ (πείθειν), was ‚überzeugen‘ bzw. persuadere bedeutet. Pistis kann aber auch Glaube heißen, so dass Überzeugung und Glaube identisch sind: Wer überzeugt ist von einer Sache, glaubt an sie. Es ist daher gar kein Widerspruch, wenn die Übersetzer Aristoteles’ berühmte Definition der Rhetorik – „ἔστω δὴ ἡ ῥητορικὴ δύναμις περὶ ἕκαστον τοῦ θεωρῆσαι τὸ ἐνδεχόμενον πιθανόν“16 – auf zwei verschiedene Arten wiedergeben: Mal wird dabei das rationale Moment des Überzeugens, mal das irrationale des Glaubens betont bei der Übersetzung des Partizips πιθανόν. Sieveke übersetzt: „Die Rhetorik stelle also das Vermögen dar, bei jedem Gegenstand das möglicherweise G l a u b e n e r w e c k e n d e zu erkennen.“17 Die Reclam-Ausgabe übersetzt den ersten Satz von I.2, wie bereits zitiert: „Die Rhetorik ist also als Fähigkeit definiert, das Überzeugende, das jeder Sache innewohnt, zu erkennen.“18 Die im Folgenden genannten πίστεις sind zudem entechnisch; es handelt sich also um genuin rhetorische Überzeugungsmittel, nicht um äußere wie die von Aristoteles genannte Folter etwa. Das erste der drei Überzeugungsmittel ist der Charakter des Redenden, der im Griechischen mit ἦθος bezeichnet wird;19 das zweite ist die Absicht, „den Zuhörer in eine bestimmte Gefühlslage zu versetzen“20. In der darauffolgenden Erklärung schreibt Aristoteles dafür πάθος. Schließlich ist das dritte Überzeugungsmittel die Rede selbst (αἱ δὲ ἐν αὐτῷ τῷ λόγῳ), also λόγος, „indem man etwas nachweist oder zumindest den Anschein erweckt, etwas nachzuweisen“21. Die Trias der Überzeugungsformen von ἦθος, πάθος und λόγος bildet die Basis der Rhetorik ob nun genuin rhetorischer Genres oder aber in wissenschaftlichen oder auch poetischen Texten. Inwiefern ist für Aristoteles das ἦθος, verstanden als Charakter des Redenden (ἦθος τοῦ λέγοντος), ein Überzeugungsmittel? Immerhin besitze das ἦθος || 16 Ders., Ars Rhetorica, hrsg. v. William D. Ross, Oxford 1959, 1355b. 17 Ders., Rhetorik, übers. v. Franz K. Sieveke, München 1980 (UTB 159), S. 12. 18 Ders., Rhetorik, übers. v. Gernot Krapinger, S. 11. 19 Das Wort ἦθος ist im Griechischen nicht zu verwechseln mit ἔθος, das auf Deutsch mit Sitte, Brauch und Gewohnheit wiedergegeben wird. Der Charakter, also ἦθος, beginnt mit einem langen Eta, die Sitte dagegen mit einem Epsilon. In der deutschen Umschrift fallen beide allerdings oftmals zusammen, und in der Tat steht ja der Charakter eines Menschen oder einer literarischen Figur stark mit seinen Gewohnheiten in Verbindung: ēthos (Charakter) vs. éthos (Sitte). – Der plastische Eindruck, den Aristoteles vom Ethos-Begriff vermittelt, trügt. Zu den antiken Spielarten und semantischen Vorstufen des Ethos-Begriffs s. Wilhelm Süss, Ethos. Studien zur älteren griechischen Rhetorik, Leipzig 1910. – Eine kritische Analyse des aristotelischen Ethos bei Frédérique Woerther, L’èthos aristotélicien. Genèse d’une notion rhétorique, Paris 2007. 20 Aristoteles, Rhetorik, übers. v. Gernot Krapinger, S. 12 (Rhet. 1356a). 21 Ebd.
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„fast die bedeutendste Überzeugungskraft“22. Zum einen bringt ein Redner bereits eine gewisse Glaubwürdigkeit aufgrund beispielsweise seines gesellschaftlichen Ansehens und seiner bisherigen Leistungen mit, wobei die Haupteigenschaften Phronesis (Einsicht), Arete (Tugend) und Eunoia (Wohlwollen) sein sollten; zum anderen aber ergibt sich der Charakter aus der Rede selbst. Für die literarische Rhetorik ist ἦθος deshalb zentral, weil auch Autoren einen Charakter besitzen, der die Lektüre ihrer Werke lenkt. Damit ist auf den Wirkungsgrad des conciliare verwiesen, womit nicht nur das Gewinnen des Zuhörers gemeint ist, sondern auch von seiner Wortbedeutung her ein Zusammenbringen beider Seiten. Es wird eine „Sympathiebrücke zwischen dem Redner und dem Publikum“23 hergestellt. Die zweite Wirkungsabsicht, die dem ἦθος entspricht, ist das Erfreuen (delectare). Das zweite von Aristoteles genannte Überzeugungsmittel, das πάθος, funktioniert als emotionale Bewegung der Zuhörenden bzw. Lesenden: „Mittels der Zuhörer überzeugt man, wenn sie durch die Rede zu Emotionen verlockt werden“24. Mit movere ist der höchste Wirkungsgrad des Überzeugens (persuadere/πείθώ) angesprochen. Das dritte von Aristoteles genannte Überzeugungsmittel ist die Rede selbst (αἱ δὲ ἐν αὐτῷ τῷ λόγῳ), der λόγος, bzw. die Gegenstände der Rede (πράγματα/causae), wie sie Aristoteles im dritten Buch nennt (III.7,1). Die von dem Redegegenstand evozierte Wirkung ist die des docere bzw. des probare, das in der Poetik meist mit dem prodesse wiedergegeben wird. Vom Verständnis dieses Logos hängt viel ab. Wirklich klar drückt sich Aristoteles an dieser entscheidenden Stelle nicht aus. Nachdem er die drei Überzeugungsmittel vorgestellt hat, widmet er sich den deduktiven und induktiven Beweisen, die er als Enthymem (ἐνθύμημα), was man mit Wahrscheinlichkeitsschluss wiedergeben kann, respektive als παράδειγμα (Beispiel) bezeichnet, und es sieht so aus, als gehörten sie noch dem Logos an. In der Rezeption hat das zu zwei konträren Auffassungen geführt. Einige Philologen verstehen λόγος hier als den Redegegenstand, der mit der tatsächlichen Beweisführung und Argumentation nicht zu verwechseln sei. Sie gehen stattdessen davon aus, dass Ethos, Pathos und Logos (als Redegegenstand verstanden, den Aristoteles auch durch Pragma ersetzt) die Argumentati-
|| 22 Ebd. 23 Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 1990, S. 668. 24 Aristoteles, Rhetorik, übers. v. Gernot Krapinger, S. 12f.
264 | Alexander Nebrig on modellieren.25 Überhaupt sehen diese das Wesen der Rhetorik mehr in ihrer affektiven Dimension als in der rationalen Argumentation. Andere Philologen wiederum meinen, dass die Argumentation mit dem Logos identisch sei. Diese Schwierigkeit der richtigen Auslegung liegt im Text selbst begründet, und mit ihr haben auch die Übersetzer zu kämpfen. In der Reclam-Übersetzung (von Gernot Krapinger) heißt es zu der dritten Überzeugungsform, sie liege im Logos selbst, d. h. in der Rede, „indem man etwas nachweist oder zumindest den Anschein erweckt, etwas nachzuweisen.“26 Krapinger übersetzt die Erklärung dazu so: „Durch die Rede endlich überzeugt man, wenn man Wahres oder Wahrscheinliches aus jeweils glaubwürdigen Argumenten darstellt.“27 Christof Rapp übersetzt mit einer semantischen Eindeutigkeit: die dritte Form von Überzeugungsmitteln, die durch den Logos zustande gebracht wird, liege „in dem Argument selbst [Rapp vermeidet den Ausdruck Rede, A.N.], durch das Beweisen oder das scheinbare Beweisen.“ Weil er gleich Argument für Logos setzt, kann er die Erklärung so übersetzen: „Durch die Argumente ist man überzeugt, wenn wir das Wahre oder scheinbar (Wahre) aus dem an jedem betreffenden Fall Überzeugenden beweisen“28. Die Übersetzung macht hier etwas eindeutig, was meines Erachtens bei Aristoteles unklar bleibt. Denn sie interpretiert Logos als Argument und damit als den Bereich von Deduktion und Induktion, von ἐνθύμημα und παράδειγμα. Manche Interpreten sehen im Logos das Kernstück der Rhetorik unter Vernachlässigung von Ethos und Pathos, andere wiederum setzen wie Klaus Dockhorn Ethos und Pathos dominant, weil die argumentative Ebene schon immer ethisch und affektiv überblendet ist.29 In der rhetorischen, aber auch in der poetischen Praxis gehen die drei Überzeugungsmittel meist eine Synthese ein, und sie lassen sich nur zu heuristischen Zwecken derart säuberlich trennen, wie es Aristoteles getan hat. Wissenschaftliches Argumentieren hingegen wertet Ethos und Pathos epistemologisch ab und versucht, sie aus der Fachprosa fernzuhalten. In der wissenschaftskriti-
|| 25 Besonders in den Arbeiten von William M. A. Grimaldi (vgl. Ekkehard Eggs, Die Rhetorik des Aristoteles. Ein Beitrag zur Theorie der Alltagsargumentation und zur Syntax von komplexen Sätzen [im Französischen], Frankfurt a.M. 1984, S. 216f.). 26 Aristoteles, Rhetorik, übers. v. Gernot Krapinger, S. 12. 27 Ebd., S. 13. 28 Ders., Rhetorik, übers. v. Christof Rapp, Darmstadt 2002 (Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 4/1), S. 23. 29 Rapp lehnt entschieden die Vermengung des Enthymems mit den nicht-logischen Überzeugungsmitteln Ethos und Pathos ab, vgl. ebd., im Kommentar, S. 332f. – Vgl. Klaus Dockhorn, Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne, Bad Homburg v.d.H. u.a. 1968 (Respublica literaria 2).
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schen Epoche von Expressionismus und Geistesgeschichte erlebten sie eine bemerkenswerte Konjunktur, wobei sich parallel dazu eine szientistische, rein sachliche Methode etablierte, Texte zu analysieren, die im Strukturalismus gipfelte. Spitzers rhetorischer Textumgang wird besonders deutlich, wenn man ihn mit demjenigen seines ebenfalls mit sprachwissenschaftlicher Hilfe interpretierenden Generationsgenossen Roman Jakobson kontrastiert.30 Jakobson war allein um die Sache bemüht, für die er das Konstrukt der sprachlichen Faktur entwarf. Sie aufzudecken mittels einer „unvoreingenommene[n], aufmerksame[n], detaillierte[n] und ganzheitliche[n] Beschreibung“31, sollte genügen, um die literarische Größe des ‚Werkes‘ und seine Einzigartigkeit zu demonstrieren. Wenn Jakobson gelegentlich dennoch die Beschreibung in eine bestimmte Richtung lenkt, dann erfolgt dies lapidar und scheinbar unbeabsichtigt. Zum Beispiel in der Analyse von Christo Botevs Обесването на Васил Левски (Obesvaneto na Vasil Levski [Die Erhängung Vasil Levskis]) bleibt der wichtigste Satz unkommentiert: „Überhaupt ist die Entwicklung des lyrischen Themas im Gedicht der Weg einer allmählichen Objektivierung, die ihren Ausdruck in den morphologischen und syntaktischen Wechselbeziehungen innerhalb der fünf Strophen findet.“32 Objektivierung aber ist Jakobsons eigene Methode, die er kaum merklich im Gedicht selbst zu erkennen meint. Spitzer hingegen setzt auf Subjektivierung der Methode, was einer Rhetorisierung gleichkommt. Er will seinen Leser affizieren; dazu muss er zuvor zeigen, wie er selbst affiziert worden ist.33
|| 30 Zu Jakobson und Spitzer s. Thomas R. Hart, [Leo Spitzer and Roman Jakobson], in: Comparative Literature 41/2 (1989), S. 170–176; ders., Literature as Language: Auerbach, Spitzer, Jakobson, in: Seth Lerer (Hrsg.), Literary History and the Challenge of Philology. The Legacy of Erich Auerbach, Stanford, CA 1996, S. 227–239. 31 Roman Osipovič Jakobson, Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie, in: ders., Sämtliche Gedichtanalysen, Bd. 1: Poetologische Schriften und Analysen zur Lyrik vom Mittelalter bis zur Aufklärung, gemeinsam mit Sebastian Donat hrsg. v. Hendrik Birus, Berlin, New York 2007, S. 257–302, hier S. 273. 32 Ders., Zur Struktur von Botevs letztem Gedicht, in: ders., Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie. Sämtliche Gedichtanalysen, Bd. 2: Analysen zur Lyrik von der Romantik bis zur Moderne, gemeinsam mit Hendrik Birus hrsg. v. Sebastian Donat, Berlin, New York 2007, S. 393–422, hier S. 405. 33 Zu diesem Topos s. Jürgen Stenzel, „Si vis me flere …“ – „Musa iocosa mea“. Zwei poetologische Argumente in der deutschen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 48 (1974), S. 650–671.
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3. Leo Spitzer überträgt die aristotelische Trias der Mittel, eine Sache glaubhaft zu machen, auf die philologische Textsorte der Interpretation, indem er sich gerade nicht nur auf das sachliche Problem des zu interpretierenden Textes konzentriert, sondern dessen affektive Dimension herausarbeitet oder gar erst erzeugt, um den Leser zu bannen, und zugleich die eigene Bedeutung als Interpret hervorhebt. Spitzer modelliert sein wissenschaftliches Ethos als Mystagoge, der in die Geheimnisse des Textes einzuführen vorgibt. Zusätzlich suggeriert er, die außergewöhnliche Fähigkeit zu besitzen, die alten Texte zu neuem Leben zu erwecken. Der mystagogische und vitalistisch-expressionistische Aspekt dieser wissenschaftlichen Autorschaft stieß aus zwei Gründen auf Resonanz. Zum einen erfüllte Spitzer Bedürfnisse eines Wissenschaftspublikums, das sich nach der Einheit von Wissenschaft und Kunst sehnte und das zugleich von der vitalistischen Grundierung des dichterischen Wortes überzeugt war. Darüber hinaus verstand es Spitzer, seiner Leserschaft mit dem Versprechen zu schmeicheln, dass auch sie zu solchen Leistungen wie der seinigen fähig sei, indem er jeden methodologischen Anspruch nivellierte und auf eine Art allgemeinmenschliche Urteilsfähigkeit setzte. Was er verschwieg, ist seine sprachgeschichtliche Kompetenz, von der er kontinuierlich, bisweilen sachlich abseitig, Proben gab. Diese rhetorische Kommunikationssituation kommt besonders deutlich im programmatischen Aufsatz Zur sprachlichen Interpretation von Wortkunstwerken zum Ausdruck, der zuerst 1930 in den Neuen Jahrbüchern für Wissenschaft und Jugendbildung erschien und in die Romanischen Stil- und Literaturstudien aufgenommen wurde.34 Dass Spitzer an diesem Programm, auch gegen Anfeindungen durch die nationalsozialistische Romanistik, die sich hinter einer historischen Philologie versteckte, festhielt, beweist die spätere Publikation der französischen Fassung Étude a-historique d’un texte.35 || 34 Leo Spitzer, Zur sprachlichen Interpretation von Wortkunstwerken, in: ders., Romanische Stil- und Literaturstudien, Bd. 1, Marburg a.d. Lahn 1931 (Kölner Romanistische Arbeiten 1), S. 4–54, hier S. 4. 35 Gerhard Moldenhauer, Stand und Aufgaben der Villon-Philologie, in: GermanischRomanische Monatsschrift 22 (1934), S. 115–139, griff als polemischer Fürsprecher einer ‚historischen Philologie‘ in die deutsche Villon-Debatte ein. Darin attackierte er den von ihm persönlich als Juden verachteten, zu diesem Zeitpunkt aus Köln vertriebenen und in Istanbul lebenden Spitzer sowie seine Schüler Paul Hodann und Rosemarie Burkart, die sich ebenfalls zu Villon geäußerten hatten. Spitzers Methode hingegen, so Moldenhauer, habe nichts mehr mit Philologie gemein, denn „Spitzer will und kann nicht historisch denken, die historisch-
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Spitzers Ethos lässt sich deshalb so gut analysieren, weil sich der Romanist als Wissenschaftler permanent selbst positioniert. Eine am Abschluss der Romanischen Stil- und Literaturstudien gedruckte Sammlung von SchlußAphorismen kommt der hier vertretenen These, Spitzer übertrage das rhetorische Kommunikationsmodell auf die Wissenschaftsprosa, am nächsten. Für das wissenschaftliche Schreiben seien „fünf verschiedene Plane“36 zu beachten. Die ersten beiden Plane betreffen Gegenstand und Methode – in diesem Kontext nichts Außergewöhnliches; auch der letzte Aspekt fällt nicht unmäßig aus dem Rahmen, zumindest wenn man ihn in seiner apologetischen Funktion versteht: Wissenschaft wird verstanden als existentiale Erfahrung: „ja vielleicht geschrieben um dem Nichts zu entfliehen.“37 Spitzers Interpretationspraxis berührt diesen Plan vor allem dort, wo der Autor auf die letzten Dinge zu sprechen kommt. Entscheidend für den hier eröffneten Rahmen sind dagegen Nr. 3 und 4; sie entsprechen den rhetorischen Kategorien Ethos und Pathos, wenngleich sie Spitzer als philosophisch und gerade nicht als rhetorisch ansieht. Es geht um die Person des Wissenschaftlers: „seine Arbeit muß über die Gegenstandsbezogenheit hinaus einem seelischen Bedürfnis des inneren Menschen lyrischmetaphysische Befreiung geben, die Befreiung, die dem Künstler das Kunstwerk ist.“38 Der vierte Aspekt meint den Publikumsbezug als den „menschlichgeselligen Plan“39. Wie diese beiden Plane für die Interpretation von Gedichten verschränkt werden, zeigt sich am Umgang lose aneinander gereihter Texte so verschiedener Autoren wie François Villon, Stéphane Mallarmé und Jean Racine. Spitzer will an diesen „praktischen Beispielen“40 seine Methode vorstellen, die, worauf bereits Gumbrecht hingewiesen hat, genau genommen keine wissenschaftliche Methode ist. Spitzer selbst sagt, sie bestehe darin, „einfach drauflos zu lesen“. 41 Vielmehr bleibt sie gebunden an die Evidenz der Beispiele. Evidenzfiguren sind denn auch wesentlich für Spitzers Rhetorik. Er nennt Gedichte, die zu den schönsten zählen, wie er betont, und suggeriert, im Anschluss zu erklären, || genetische Methode liegt ihm nicht“ (ebd., S. 128.) – Vgl. Leo Spitzer, Etude ahistorique d’un texte: „Ballade des dames du temps jadis“, in: Modern Language Quarterly 1 (1940), S. 7–22. 36 Leo Spitzer, Schluß-Aphorismen, in: ders., Romanische Stil- und Literaturstudien, Bd. 2, Marburg 1931, S. 284f., hier S. 284. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Ders., Zur sprachlichen Interpretation von Wortkunstwerken, S. 4. 41 Ebd., S. 16.
268 | Alexander Nebrig warum uns die Zeilen faszinieren: Die Struktur seiner Interpretation ist auf Kredit ausgelegt, der nicht notwendig eingelöst wird; denn das Ereignis einer von Spitzer behandelten Dichtung ist unauflösbar an Spitzers Text gebunden. Wenn es eine Theorie hinter Spitzers Praxis gibt, dann die expressive, auf Benedetto Croce zurückgehende und von Karl Vossler in Deutschland eingeführte. Sie besagt, dass „einer seelischen Erregung, die vom normalen Habitus unseres Seelenlebens abweicht, auch eine sprachliche Abweichung vom normalen Sprachgebrauch als Äußerung zugeordnet ist, daß also umgekehrt aus einer sprachlichen Abweichung vom Normalen auf ein seelisches Affektzentrum geschlossen werden darf“42. Diese „kurze theoretische Erwägung“43 schickt Spitzer seinem Text voraus, und sie bildet die maßgebliche Quelle für die Kraft des Pathos innerhalb der textuellen Überzeugungsstrategie. Sie besagt ja nicht einfach nur, dass Dichtung Abweichung und damit, vom wissenschaftshistorischen Standpunkt aus betrachtet, eine expressionistische Variante der aristotelischen Devianztheorie sei. Spitzer insistiert auf dem Affektpotential der Poesie. Indem er vermeintliche Affekte auch dort aufdeckt, wo man sie nicht erwartet, bei Villon oder hinter der formelhaften Sprache Racines, reizt er selbst die Affekte seiner Leser: „Die Sprache eines Dichters erscheint jedem naiven Sprecher oder Hörer als ein Gebilde, das auch auf das Gefühl wirkt – daher hat die Wissenschaft die Aufgabe, dies Gebilde als ein gefühlserregendes zu studieren, und zwar mit dem adäquaten Werkzeug in uns, das für das Studium der Gefühle zuständig ist: eben dem eigenen Gefühl.“44 Die Beschreibung des Zusammenhangs von Affekt und Poesie erfolgt in organologischer Metaphorik romantischer Provenienz. Der Auffassung seines Kollegen Max Kuttner widersprechend, die Sprache sei aus Holzbalken gebaut,45 also aus bereits künstlich bearbeiteten Versatzstücken des natürlichen Baummaterials, beharrt Spitzer auf der Lebendigkeit des Wortes. Folglich habe man es nicht mit Balken, sondern mit Bäumen zu tun: „Unsere Affekte treiben das Sprachliche zum Knospen und Ausschlagen wie der gärende Saft die Frühlingsbäume. Um zu diesem treibenden und gärenden Safte des Seelischen vorzudringen, muß man die sprachlichen Auswüchse und Knospen beobachten.“46 Die affektive Aufladung des dichterischen Wortes ist Voraussetzung seiner Interpretation, wobei die Interpretation meist auf einzelne Wörter und Wendungen zurückkommt, die dann besonders stark affektiv aufgeladen seien. Die || 42 Ebd., S. 4. 43 Ebd. 44 Ebd., S. 31. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 5.
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Unterstellung, dass man es bei Dichtung immer mit dem lebendigen Gefühl zu tun habe, führt auf der Ebene des wissenschaftlichen Textes unwillkürlich zu einer affektrhetorischen Aufladung. Erklärt sich das Pathos aus dem Dichtungsbegriff, so das wissenschaftliche Ethos Spitzers aus dem Gegenstand der romanischen Literatur. Es gebe eine „spezifisch romanische Tendenz zur kostbaren, preziösen Form“47. Diese treibe „einen Raimbaut de Vaqueiras, seinen Descort in fünf romanischen Sprachen zu dichten, treibt Arnaut Daniel zum trobar clus, treibt Góngora zu seinen Verschnörkelungen, treibt Mallarmé und die poésie pure zu ihrem Versteckspiel, das heute so weit gehen darf, daß mehrere philologische Kommentare zum selben Text vom Dichter Valéry gutgeheißen werden.“48 Romanische Poesie schaffe rational das Geheimnis, nicht wie die deutsche Poesie, wo schon der Dichtvorgang an sich geheimnisvoll sei. Spitzer bezeichnet die romanische Poesie gar als Philologenpoesie, die mehr das Mystagogische als das Orphische wolle: Daraus folgt, dass auch ihr Interpret mystagogische Fähigkeiten haben muss. Spitzer spricht es zwar nicht direkt aus, aber implizit gemeint ist doch wohl, dass sein Ethos als Betrachter der deutschen Dichtung, deren Entstehung bereits geheimnisvoll sei, eher orphisch-seherisch gewesen wäre. In Zur sprachlichen Interpretation von Wortkunstwerken widmet sich ein eigener Abschnitt den spezifisch rationalen Formen der romanischen Poesie.49 Im Zentrum von Spitzers Analysen stehen jedoch die Ausführungen zu einem Gedicht Villons. Es verdient, wie Racines Phèdre in der abschließenden Analyse des Aufsatzes, deshalb seine ganze Aufmerksamkeit, weil es trotz seiner romanischen Herkunft keine Philologenpoesie sei, sondern „Dichtung voll klaren Geheimnisses“50. Solche Paradoxien sind Teil von Spitzers Aufmerksamkeitsstrategie. Er beansprucht einem Mystagogen gleich die Fähigkeit, hinter die Sprache zu gehen und die Leserschaft in ihre enigmatische Struktur einzuweihen. Spitzers Absicht ist es, das „Ungesagte hinter dem Gesagten erscheinen“51 zu lassen. Die von Spitzer ob ihrer Suggestivkraft geschätzte Ballade des dames du temps jadis ist, liest man in einem Kommentar von 1903, „eine der schönsten, welche die französische Poesie aufzuweisen hat, und noch heute in Frankreich sehr populär. Das Thema […] ist ein in der Dichtung aller Zeiten häufig wiederkehrendes (vgl. das berühmte Studentenlied ‚Ubi sunt qui ante nos In mundo || 47 Ebd., S. 24. 48 Ebd., S. 24f. 49 Ebd., S. 17–25. 50 Ebd., S. 25. 51 Ebd.
270 | Alexander Nebrig fuere?‘). Der Refrain (les neiges d’antan, der Schnee vom vorigen Jahre; antan = ante annum) ist sprichwörtlich geworden, um etwas längst vergangenes zu bezeichnen.“52
BALLADE DES DAMES DV TEMPS IADIS Dictes moy où, n’en quel pays, Est Flora, la belle Romaine; Archipiada, ne Thaïs, Qui fut sa cousine germaine; Echo, parlant quant bruyt on maine Dessus riuiere ou sus estan, Qui beaulté ot trop plus qu’humaine? Mais où sont les neiges d’antan? Où est la tres sage Helloïs, Pour qui fut chastré et puis moyne Pierre Esbaillart à Saint-Denis? Pour son amour ot cest essoyne. Semblablement, où est la royne Qui commanda que Buridan Fut gecté en vng sac en Saine? Mais où sont les neiges d’antan? La royne Blanche comme lis Qui chantoit à voix de seraine; Berte au grant pié, Bietris, Allis; Haremburgis qui tint le Maine, Et Iehanne, la bonne Lorraine, Qu’Englois brulerent à Rouan; Où sont ilz, où, Vierge souueraine? […] Mais où sont les neiges d’antan? ENVOI Prince, n’enquerrez de sepmaine Où elles sont, ne de cest an, Que ce reffrain ne vous remaine: Mais où sont les neiges d’antan?53
|| 52 François Villon, Die Werke Maistre François Villons. Mit Einleitung und Anmerkungen, hrsg. v. Dr. Wolfgang von Wurzbach, Erlangen 1903, S. 70. 53 Ebd., S. 70–72.
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Gerade weil die Ballade nüchtern verschiedene Frauen der Vergangenheit aufzählt, ist ihr Pathos-Level eher niedrig. Villon beginnt mit einem Dites-moi, das gefolgt wird von einem Fragenkatalog, in dem, in Form der Aufzählung, nach den Frauen der Vergangenheit gefragt wird. Die drei Balladenstrophen, die von dem weiblichen Reimwort -aine allesamt durchzogen sind, so dass alle zwei Verse das Leitwort Reine (Königin) nachhallt, und in denen nur die männlichen Ausgänge wechseln, werden gefüllt durch die zahlreichen Appositionen, die attributiv die Frauen vorstellen. Ihre Namen sind: ‚Flora‘, ‚Archipiada‘, ‚Thaïs‘, ‚Echo‘ in der ersten Strophe, ‚Hélloïs‘ und die namentlich nicht genannte Königin Marguerite von Bourgogne in der zweiten, schließlich ‚la royne Blanche‘, ‚Berte‘, ‚Bietris‘ und ‚Allis‘, ‚Haremburgis‘ und ‚Iehanne‘ [i. e. Jeanne d’Arc] in der dritten Strophe. Villon beschließt jede der drei mittels Aufzählungen und Appositionen konkretisierten Fragen mit der allgemeinen Frage: „Mais où sont les neiges d’antan?“ – ‚Aber wo ist der Schnee von einst?‘ Am Ende folgt der Envoi an den Fürsten, eine Aufforderung, nicht nach diesen Frauen zu fragen, weil sie nur wieder die Frage „Mais où sont les neiges d’antan“ hervorrufe. Für Spitzer ist die monoton klingende, keinen Spielraum für affektive Aussagen gebende Addition der abgelebten Damen emotional hoch aufgeladen. Gerade weil die äußere Form nicht darauf hindeutet, kann sich hinter ihr besonders viel Gefühl verstecken. Es wird sich zeigen, dass die beiden Überzeugungsmittel Ethos und Pathos in Spitzers Analyse überlagert werden. Das Pathos erhält eine ethische Grundierung; auch weil das, was Spitzer aufdeckt und womit er seine Leserschaft affizieren will, traditionell nicht zu den Leiden, sondern zu den Stimmungen gezählt wird. Die Ballade steht im Testament hinter der Strophe XLI,54 die ein Bild des Todes zeichnet und in der Villon die „Zerstörung des weiblichen Körpers“55 beklage. Spitzers Deutung gewinnt ihre Schlagkraft sowohl aus dem Bezug zur vorausgehenden Ballade als auch aus der Einbeziehung seiner Leserschaft. Um sie daran zu erinnern, dass Villons Problem auch das ihrige ist, wird Villon vergegenwärtigt.56 In der ersten Ballade habe uns Villon „seine eigene Todesfurcht || 54 Vgl. Le Testament XLI (ebd., S. 70): „La mort le fait fremir, pallir, | Le nez courber, les vaines tendre, | Le col enfler, la chair mollir, | Ioinctes et nerfs croitres et estendre. | Corps femenin, qui tant est tendre, | Poly, souef, si precieux, | Te fauldra il ces maulx attendre ? | Qy, ou tout vif aller es cieulx.“. 55 Spitzer, Zur sprachlichen Interpretation von Wortkunstwerken, S. 11. 56 Vgl. ebd., S. 16: „Wie von selbst stellte sich eine Dialektik ein, eine Auseinandersetzung zwischen Mittelalter und unserer Zeit, nicht bloß von uns modernen Lesern an die alten Gedichte künstlich-bildungsmäßig herangetragen, sondern darin begründet, daß wir als
272 | Alexander Nebrig ins Gebein gejagt, den Verwesungsgestank in unsere Nasen“57. Die folgende Ballade über die dames du temps jadis sei „eine ungeheure Abdämpfung und Sänftigung nach den makabren Düsternissen“58; es ertöne die „ruhig gestaltete, abgeklärte, musikalisch serene Ballade, die uns nicht mehr an das eklige Sterben, sondern höchstens an die Poesie des Friedhofs denken läßt, an das Vorbei des Lebens, an das sanfte Entschwundensein, demgegenüber es keine Auflehnung nur zarte Erinnerung gibt.“59 Gumbrechts Vermutung, dass Spitzer „ständig seine Gefühle durch [sprachliche, A.N.] Formen bewegen ließ“60, bestätigt sich zumindest für die VillonInterpretation: Nicht Villon schreckt der Tod; sondern Spitzer. In der ausschmückenden Paraphrase von Villons vorausgehendem Leichengedicht aktiviert Spitzer die Todesangst seiner Leser, um ihnen darauf Trost spenden zu können. Ethos ist der milde Affekt des Trosts und der tröstende Charakter Spitzers zugleich. Villons „kosmische Beruhigung und Tröstung“61 habe nichts mehr mit dem Mittelalter gemein, sondern diese Besänftigung der Todesangst künde von einem neuen Glauben. Der unmerkliche Übergang vom Pathos zum Ethos innerhalb der rhetorischen Strategie erfolgt im Zeichen des Trosts. Spitzers mystagogisches Ethos ist zugleich ein konsolatorisches: „mitten aus der Herbst-des-MittelaltersStimmung, aus Verwesungsgestank und hippokratischen Fratzenvisionen taucht eine mit Menschenlos, Naturgewalten, Körperlichkeit, Tod ausgesöhnte Weltbetrachtung. Diese merkwürdige Korrespondenz zwischen Natur und Mensch […] ist das Ungesagte, das dem berühmten Vers seinen unsterblichen Klang gibt.“62 Spitzers Interpretation kulminiert in der ethischen Auslegung des formelhaften Refrains, dessen konsolatorische Wirkung er beschwört: „Mais où sont les neiges d’antan ?“ Dass er als wissenschaftlicher Autor selbst elektrisiert ist || moderne Menschen eben die Kulturentwicklung seit […] Villon in uns haben, und indem wir lesen und verstehen wollen, das XV. Jahrh. vor uns sich mit dem XX. Jahrh. in uns auseinandersetzen muß.“ – Der Gegenwartsbezug motiviert gleichfalls die bei ihm entstandene Dissertation von Paul Hodann, François Villon. Kind seiner Zeit und sein Verhältnis zur Religion. Eine psychologisch historische Studie, Marburg 1927 [Diss. Marburg bei Leo Spitzer], S. 1. – Obzwar Spitzers Villon-Aufsatz noch nicht erschienen war, konnte sich Hodann auf dessen Villon-Vorlesungen vom Sommer 1922 berufen, vgl. das Literaturverzeichnis der Arbeit. 57 Spitzer, Zur sprachlichen Interpretation von Wortkunstwerken, S. 11. 58 Ebd. 59 Ebd. 60 Gumbrecht, „Methode ist Erlebnis“, S. 149. 61 Spitzer, Zur sprachlichen Interpretation von Wortkunstwerken, S. 15. 62 Ebd.
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von seiner Auslegung, wird an dem effektvollen Schluss deutlich. So heißt es lapidar, aber emphatisch aufgeladen: „Villon hat gedichtet.“63 Damit endet, deutlich abgesetzt vom weiteren Verlauf des Aufsatzes, der Villon-Teil der Analyse. Bedenkt man, dass nicht nur in der Schule Spitzers Ethos und Pathos einbeziehende Art zu interpretieren Eingang gefunden hat,64 sondern das Moment, Poesie danach zu beurteilen, was sie im Interpreten auslöst und im Publikum auslösen soll, auch von Wissenschaftlern immer wieder aufgegriffen wird, nicht zuletzt durch den Spitzer-Kenner Gumbrecht,65 sollte man sie nicht vorschnell mit dem Etikett ‚unwissenschaftlich‘ ad acta legen. Mag das, was Spitzer tut, die disziplinäre, d.h. letztlich sachlich orientierte Kommunikation unmöglich machen, weil man schlichtweg nicht mit den Mitteln des wissenschaftlichen Argumentierens gegen seine Thesen vorgehen kann, so besitzt seine Methode des ‚Draufloslesens mit unserem persönlichen Empfinden‘ doch außerhalb des wissenschaftlichen Diskursraumes kultursemiotische Relevanz. Spitzers Methode erzeugt ethische und affektive Verbindlichkeiten über dichterische Texte in einer Sprache, die sich nicht scheut, die rhetorischen Mittel des poetischen Ausdrucks zu nutzen. Er geht wie die meisten philologisch interessierten Zeitgenossen davon aus, dass die Poesie als kultureller Raum Gemeinsamkeiten zwischen Individuen stiftet. Das Befremdliche, von heute aus gesehen, ist vielleicht, dass die rhetorische Stiftung solcher Räume im Bereich der Wissenschaften stattfindet. Andererseits lassen sich Spitzers „Aufsätze als eine Alternative zu der endlosen Fortsetzung von Interpretationen“ 66 lesen. Für Spitzer selbst bedeutete der angedeutete Konflikt mit der Wissenschaft nicht etwa das Verlassen des wissenschaftlichen Diskursraumes und die Wahl neuer Genres der Kommunikation. Vielmehr musste sich in seinen Augen die Wissenschaft von der Literatur selbst verändern. Am Ende des Aufsatzes kommt er auf die Stilistik zu sprechen.67 Sie bildet das Gebiet, auf dem er sich seit den 1910er Jahren hervorgetan hatte. Er nennt andere Bemühungen von deutscher Seite, die in eine ähnliche Richtung eingeschlagen haben. In allen jedoch meint || 63 Ebd. 64 Erinnert sei an dieser Stelle, dass Spitzers Aufsatz zuerst in einer pädagogischen Zeitschrift (Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung) erschien. 65 Hans Ulrich Gumbrecht, Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur, München 2011. – Zu Spitzers etymologischer Stimmung-Untersuchung ders., „Methode ist Erlebnis“, S. 121f. 66 Ebd., S. 144. 67 Spitzer, Zur sprachlichen Interpretation von Wortkunstwerken, S. 29f.
274 | Alexander Nebrig er eine wissenschaftstypische Differenzierungsbewegung zu erkennen, die er überwinden will.68 Spitzers Literaturwissenschaft, in der die Stilistik aufgehoben ist, erweist sich als rhetorische Wissenschaft, insofern er eine affektive Gesinnungsgemeinschaft mit seiner Leserschaft über das Medium der Poesie erzeugt.
|| 68 Ebd.
Cornelis Menke
A Note on Science and Democracy? Robert K. Mertons Ethos of Science
1. Robert K. Mertons berühmte Beschreibung der Normen oder Werte, die das wissenschaftliche Ethos ausmachten, findet sich in einer kurzen Schrift, die 1942 unter dem Titel A Note on Science and Democracy im ersten Heft des Journal of Legal and Political Sociology erschienen ist. Im Inhaltverzeichnis der Zeitschrift findet sich freilich ein abgewandelter Titel: A Note on Science and Technology in a Democratic Order; in zeitgenössischen Anzeigen für die neue Zeitschrift wiederum findet man eine Kurzform: Science and Technology in a Democratic Order. Der Aufsatz – laut Norman Storer, dem Herausgeber von Mertons Schriften zur Wissenschaftssoziologie, „one of the most significant in the history of the sociology of science“1 – wurde in den folgenden Jahren vielfach, mit nur geringen inhaltlichen Änderungen, wiederabgedruckt, aber kaum zweimal unter demselben Titel: In Social Theory and Social Structure (1949), einer Sammlung von Schriften Mertons, trägt er den Titel Science and Democratic Social Structure2; in The Sociology of Science (1973), der Ausgabe der wissenschaftssoziologischen Arbeiten Mertons, ist er als The Normative Structure of Science wiederabgedruckt.3 In der von Barry Barnes herausgegebenen Anthologie Sociology of Science (1972) wiederum findet er sich unter dem Titel The Institutional Imperatives of Science.4 Im Text des Aufsatzes hingegen hat Merton in den Nachdrucken gegenüber der Fassung von 1942 nur wenige Änderungen vorgenommen. Vor allem hat er mehrere Fußnoten ergänzt und bestehende erweitert, meist, um auf neuere, zumal politische, Ereignisse Bezug zu nehmen und auf neuere Literatur zu || 1 Norman W. Storer, Prefatory Note, in: Robert K. Merton, The Sociology of Science: Theoretical and Empirical Investigations, Chicago und London 1973, S. 223–227, hier S. 226. 2 Robert K. Merton, A Note on Science and Democracy, in: Journal of Legal and Political Sociology 1 (1942), S. 115–126. Zitiert nach: ders., Social Theory and Social Structure, New York 1968, S. 604–615, hier S. 604. 3 Ders., The Sociology of Science: Theoretical and Empirical Investigations, Chicago und London 1973, S. 267; im Nachweis am Fuß der Seite ist als Originaltitel der aus den Anzeigen für das Journal of Legal and Political Sociology angegeben. 4 Barry Barnes (Hrsg.), Sociology of Science: Selected Readings, Harmondsworth 1972, S. 65.
276 | Cornelis Menke verweisen.5 An Stelle der einfachen Nummerierung, die in der Ursprungsversion von 1942 den Aufsatz in einen kurzen ersten und einen längeren zweiten Teil gliedert, finden sich in den Nachdrucken Zwischenüberschriften („Science and society“ und „The ethos of science“). Schließlich fehlen in den Nachdrucken zwei Verweise auf Mertons vier Jahre zuvor veröffentlichte Abhandlung Science and the Social Order.6 Im ersten, später „Science and society“ überschriebenen Teil bestimmt Merton das wissenschaftliche Ethos als „a set of cultural values and mores governing the activities termed scientific“7 – im Gegensatz sowohl zu den Methoden, durch die Erkenntnisse gesichert würden, als auch den Forschungsergebnissen, die so gewonnen würden, also Hypothesen, Regelmäßigkeiten und Gesetzen: The ethos of science is that affectively toned complex of values and norms which is held binding on the man of science. The norms are expressed in the form of prescriptions, proscriptions, preferences and permissions. They are legitimized in terms of institutional values. These imperatives, transmitted by precept and example and reinforced by sanctions are in varying degrees internalized by the scientist, thus fashioning his scientific conscience or, if one prefers the latter-day phrase, his superego.8
Die Werte (institutionelle Imperative, mores) der Wissenschaft, auf denen die wissenschaftlichen Normen beruhten, seien zwar nicht kodifiziert, ließen sich aber aus der moralischen Übereinstimmung der Wissenschaftler in ihrem Verhalten, in Schriften zur wissenschaftlichen Haltung und in der Verurteilung von Verstößen gegen das Ethos erschließen. Die Untersuchung des wissenschaftlichen Ethos sei nur ein erster Schritt zum vergleichenden Studium der institutionellen Struktur der Wissenschaft, und obwohl dieses Studium noch nicht weit fortgeschritten sei, könne man die vorläufige Feststellung („provisional assumption“) treffen: „science is afforded opportunity for development in a democratic order which is integrated with the ethos of science“.9 Damit sei nicht gemeint, dass allein eine demokratische
|| 5 Ergänzt bzw. erweitert sind in den Nachdrucken seit 1949 die Anm. 1, 4, 4a, 10a, 19 und 19a. 6 Vgl. Anm. 1a (ursprünglich Anm. 1) sowie die fehlende Anm. 20. 7 Merton, A Note on Science and Democracy, S. 605. 8 Ebd., S. 605; vgl. die frühere Formulierung in ders., Science and the Social Order, in: Philosophy of Science 5 (1938), S. 321–337, hier S. 326, Anm. 16: „[E]thos refers to an emotionally toned complex of rules, prescriptions, mores, values and presuppositions which are held to be binding upon the scientist.“. 9 Ders., A Note on Science and Democracy, S. 606.
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Verfassung die Entfaltung der Wissenschaft ermögliche; doch seien Wissenschaft und soziale Ordnung auch nicht unabhängig voneinander. Im längeren zweiten Teil von A Note on Science and Democracy, der in späteren Abdrucken die Überschrift „The ethos of science“ trägt, finden sich die berühmten vier Gruppen von Werten, die nach Merton das wissenschaftliche Ethos ausmachen: Universalismus (universalism), Kommunismus (communism), Uneigennützigkeit (disinterestedness) und organisierter Skeptizismus (organized scepticism).10 Diese Werte folgten, so Merton, indirekt aus dem institutionellen Ziel der Wissenschaft: der Ausweitung geprüften Wissens („the extension of certified knowledge“). Neben den moralischen Normen gebe es auch technische Normen, welche die Methoden zur Erreichung dieses Ziels bestimmten; aus beiden, Ziel und Methoden, ergäben sich die institutionellen Imperative. Diese hätten also auch eine methodologische Begründung, seien aber bindend nicht allein, insofern sie der Erreichung des Ziels der Wissenschaft dienten, sondern auch, insofern sie für richtig und gut erachtet würden. Der Universalismus der Wissenschaft drücke sich in der Forderung aus, dass Wahrheitsansprüche an etablierten unpersönlichen Kriterien gemessen werden sollen, nicht aber an den persönlichen oder sozialen Eigenschaften derjenigen, die sie vorbringen – deren Rasse, Nationalität, Religion, Klasse und Person seien ohne Bedeutung. „The chauvinist may expunge the names of alien scientists from historical textbooks but their formulations remain indispensable to science and technology.“11 Auch die Forderung, dass die wissenschaftliche Laufbahn allen, die Talent haben, offenstehen solle, sei Ausdruck des Universalismus; der Grund liege in dem institutionellen Ziel der Beförderung des Wissens. Mit Kommunismus bezeichnet Merton den Umstand, dass Forscher keine Ansprüche auf geistiges Eigentum hätten, die über die Anerkennung der Urheberschaft hinausgingen: „The substantive findings of science are a product of social collaboration and are assigned to the community. They constitute a common heritage in which the equity of the individual producer is severely limited.“12 Der Wert des gemeinschaftlichen Charakters der Wissenschaft lasse sich aber auch an der Forderung erkennen, dass die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen der Gemeinschaft kommuniziert werden sollten, ebenso wie an der Anerkennung, die den Vorarbeiten anderer zuteil werde.
|| 10 Ebd., S. 606f. 11 Ebd., S. 607. 12 Ebd., S. 610.
278 | Cornelis Menke Uneigennützigkeit als Wert teile die Wissenschaft mit allen Professionen; nach Merton ist sie „a rather distinctive pattern of institutional control of a wide range of motives which characterizes the behavior of scientists.“13 Uneigennützigkeit werde von der Institution gefordert, eigennütziges Verhalten sanktioniert – sie mit Altruismus gleichzusetzen, bedeute, diese institutionelle Kontrolle mit den Motiven des Handelns von Wissenschaftlern zu vermengen. Doch spreche etwa die Abwesenheit von Betrug in der Wissenschaft nicht für besondere charakterliche Qualitäten von Wissenschaftlern, sondern beruhe auf der Öffentlichkeit und Nachprüfbarkeit wissenschaftlichen Handelns, die Betrug wenig aussichtsreich erscheinen lasse. Organisierter Skeptizismus – „[t]he suspension of judgment until ‚the facts are at hand‘ and the detached scrutiny of beliefs in terms of empirical and logical criteria“14 – sei sowohl ein methodologischer wie auch ein institutioneller Auftrag. Die Wissenschaft behandle jeden Aspekt der Natur und Gesellschaft in dieser Weise und gerate so oft in Konflikt mit anderen Institutionen.
2. Mertons Charakterisierung des Ethos der Wissenschaft ist vielfach rezipiert, diskutiert und kritisiert worden. Ein – notwendig kursorischer – Überblick führt dabei vor Augen, dass die Uneinigkeit hinsichtlich der Frage, ob Mertons Ausführungen treffend oder richtig sind, nicht zuletzt auch daher rührt, dass keine Einigkeit darüber besteht, was Merton mit seiner Rekonstruktion des wissenschaftlichen Ethos eigentlich habe zeigen wollen – in dieser Hinsicht sind die Kritiken an Mertons Charakterisierung des wissenschaftlichen Ethos naturgemäß oft spezifischer als die zustimmenden Äußerungen. Eine grundsätzliche Kritik stammt von Barry Barnes und R. G. A. Dolby, die in Mertons vier Werten den Versuch sehen, ein bestimmtes Bild der sozialen Mechanismen der Wissenschaft zu kodifizieren. Diesem Bild zufolge ist die Wissenschaft eine autonome Aktivität, die ihr Ziel – die effiziente Produktion von „indisputable knowledge shared by the whole scientific community“15 – dadurch erreiche, dass die Wissenschaftler über geteilte Beurteilungsmaßstäbe verfügten.
|| 13 Ebd., S. 613. 14 Ebd., S. 614. 15 Barry Barnes und R. G. A. Dolby, The Scientific Ethos: A Deviant Viewpoint, in: Archives Européennes de Sociologie / European Journal of Sociology 11 (1970), S. 3–25, hier S. 5.
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Gegen dieses Bild wenden Barnes und Dolby ein, dass es nicht einmal die ‚reine‘ Wissenschaft zutreffend beschreibe (von der Industrieforschung ganz abgesehen): „Merton has failed to identify a constant, specific, overriding normative structure“16 wissenschaftlicher Forschung. Wenn man zwischen angeblichen (bekundeten) Normen einerseits und den tatsächlich beobachtbaren („statistischen“) Normen andererseits unterscheide, zeige sich, dass die Mertonʼschen Normen, verstanden als tatsächliche Normen, nicht immer befolgt würden und auch nicht spezifisch für die Wissenschaft seien; jede Gesellschaft verfüge beispielsweise über unpersönliche Wahrheitskriterien.17 Hinzu komme, dass die Normen zu allgemein und vage seien, um überhaupt die Wahl bestimmter Handlungen erklären zu können.18 Schließlich seien die Normen auch historischem Wandel unterworfen; die Amateurwissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts etwa kenne die Norm des Kommunismus jedenfalls nicht als internalisierte Norm – solange sich die Priorität einer Entdeckung habe sichern lassen, habe man sich zur Veröffentlichung nicht gedrungen gesehen.19 Inwieweit die Kritik von Barnes und Dolby zutreffend ist, soll hier nicht weiter untersucht werden.20 Vielmehr soll betrachtet werden, ob das angenommene Argumentationsziel Merton plausibler Weise überhaupt zugeschrieben werden kann. Wenn Barnes und Dolby bemerken, die Norm des Universalismus sei nicht spezifisch für die Wissenschaft, finde sich also auch in nichtwissenschaftlichen Kontexten, so ließe sich dem die Norm der Uneigennützigkeit zur Seite stellen, von der Merton selbst sagt, die Wissenschaft teile sie mit allen Professionen – eine Aussage, die seltsam wäre, hätte Merton angenommen, die Normen seien jeweils charakteristisch für die Wissenschaft. Ebenso steht von den angenommenen Normen abweichendes Handeln nicht als solches im Widerspruch zu Mertons Ansatz, solange ein solches Verhalten sanktioniert wird – dient doch gerade sanktioniertes Verhalten dazu, die Norm zu erschließen. Dass schließlich die Mertonʼschen Normen allgemein sind und Handlungen nicht bestimmen, teilen sie mit allen Normsystemen. Eine spezifische Beschreibung des Handelns von Wissenschaftlern kann Mertons Ziel ebenfalls nicht gewesen sein. Ein anderes Verständnis des Ethos of Science findet sich bei Theo Kuipers, der Mertons Normen als Ausgangspunkt einer wissenschaftsethischen Betrach|| 16 Ebd., S. 7. 17 Ebd., S. 8–11. 18 Ebd., S. 9, 11, 13. 19 Ebd., S. 15. 20 Vgl. hierzu Peter Weingart, Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist 2001, bes. S. 71–73.
280 | Cornelis Menke tung nimmt: „Robert K. Merton (1942) formulated four norms which scientists, ideally speaking, should live up to [...]. [A]lthough Merton was of the opinion that the norms were in the interest of science, he was also well aware that they did not have rigorous descriptive validity.“21 Kuipers deutet Mertons Ethos der Wissenschaft also nicht als den Versuch einer Beschreibung der Normen, nach denen Wissenschaftler sich tatsächlich richten, sondern von Normen, nach denen sie sich richten sollten. Dagegen argumentiert er, dass die Normen auch präskriptiv keine strenge Gültigkeit beanspruchen könnten – denn zum einen ließen die Normen einen Graubereich offen, in dem jeder Forscher eine eigene Entscheidung treffen müsse, zum anderen gebe es wohlbegründete Abweichungen von diesen Normen: So bestünden etwa (gegen die Norm des Kommunismus) gute Gründe, die Veröffentlichung von Ergebnissen hinauszuschieben oder sogar – etwa im Fall von militärischer Forschung – ganz von einer Veröffentlichung abzusehen; anders, als es die Norm des Universalismus fordere, spielten Autoritätsargumente und mithin partikularistische Kriterien in der Forschung eine wichtige und oft unentbehrliche Rolle. Es sei daher sinnvoll, die Normen nur als Präsumptionsregeln zu begreifen, nicht aber als Normen, die allgemeine Geltung beanspruchen dürften. Doch der Soziologe Merton hat von den von ihm beschriebenen Normen nicht behauptet, sie dürften mit Recht allgemeine Geltung beanspruchen und ließen Ausnahmen nicht zu. Vertreten hat Merton nur die schwächere Behauptung, die Normen forderten in der Wissenschaft Geltung und würden von Wissenschaftlern verinnerlicht, wie sich indirekt aus dem Verhalten, den Selbstbeschreibungen und aus der Sanktionierung von Verstößen erschließen lasse. Dass Merton sich bewusst war, dass die Geltung der Normen oft auf die Wissenschaft begrenzt ist (und sie also, wie im Fall militärischer Forschung, mit außerwissenschaftlichen Normen und Zielen im Widerspruch stehen können), zeigt schon sein Interesse an Konflikten zwischen dem wissenschaftlichen Ethos und den Werten anderer Teile der Gesellschaft, die er ausführlich diskutiert. Eine wieder andere Deutung des Argumentationsziels Mertons findet sich bei Steven Shapin: „The general form of the Mertonian enterprise can be concisely summarized. Order and consensus within the scientific community are guaranteed by the articulation of a special set of moral ‚normsʻ and by practic-
|| 21 Theo Kuipers, Structures in Scientific Cognition, in: Roberto Festa u.a. (Hrsg.), Cognitive Structures in Scientific Inquiry, Amsterdam, New York 2005, S. 23–92, hier S. 80; Hervorhebung im Original. Vgl. die ausführlichere Behandlung in ders., Structures in Science: Heuristic Patterns Based on Cognitive Structures, Dordrecht u.a. 2001, S. 343–356.
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ing scientists’ ‚internalizationʻ of these norms. The norms have the form of general moral injunctions – be disinterested, be skeptical, share knowledge, evaluate claims without respect to the social identity of those who make them – and their effective regulation of scientists’ actions is the condition for science fulfilling its ‚institutional goalʻ of producing and extending objective knowledge.“22 Shapin deutet die vier institutionellen Werte als notwendige Bedingungen dafür, dass die Wissenschaft ihr Ziel erreichen könne. Dafür, dass diese Auffassung Mertons eigener Sicht nahekommt, spricht dessen Bemerkung, die Normen leiteten sich aus dem Ziel und den methodologischen Normen der Wissenschaft ab. Doch Shapin geht in zwei Hinsichten über das von Merton Gesagte hinaus: Erstens bestimmt er das Ziel der Wissenschaft als die Ausweitung objektiven Wissens (Merton spricht zurückhaltender von „certified knowledge“, also geprüftem oder auch nur beglaubigtem Wissen); zweitens meint Shapin, dass die Werte den Konsens unter den Wissenschaftlern sichern könnten. Wie immer Merton die funktionale Beziehung der Werte zum angenommenen Ziel der Wissenschaft genau gedacht haben mag, so sind doch Shapins Präzisierungen ersichtlich stärker begründungsbedürftig als die Annahmen Mertons: Weder, dass die Werte Konsens unter Wissenschaftlern zu sichern vermögen, noch ihre Unabdinglichkeit für die Produktion objektiven bzw. beglaubigten Wissens liegt auf der Hand. Auch wenn eine funktionale Auffassung der Normen Mertons Sicht am ehesten entsprechen könnte, so ist doch auffällig, dass Merton nicht wirklich zugunsten dieser Auffassung argumentiert. Wie genau sich die Normen zu dem Ziel der Wissenschaft und den nur sehr allgemein charakterisierten methodologischen Normen verhalten, führt Merton nicht aus; dass er selbst die Normen für erstrebenswert hält, lässt sich ebenfalls nur indirekt erschließen.23
3. Ein zweiter Strang der Rezeption setzt beim ersten Teil (und dem ursprünglichen Titel) von Mertons Note on Science and Democracy an und sieht das Ziel Mertons darin, die zwischen der Wissenschaft und der Demokratie bestehende Verbindung näher zu bestimmen. Gerade wenn man den Kontext, in dem Mer|| 22 Stephen Shapin, Mertonian Concessions, in: Science 259 (1993), S. 839–841, hier S. 839. 23 Merton gibt den Beobachterstandpunkt, den er in A Note on Science and Democracy einnimmt, selten auf; sein Standpunkt lässt sich nur aus wenigen Wertungen erschließen, etwa der Bemerkung: „Local contagions of anti-intellectualism threaten to become endemic.“ (Merton, A Note on Science and Democracy, S. 604; meine Hervorhebung.)
282 | Cornelis Menke tons Note on Science and Democracy geschrieben wurde, sowie Mertons zahlreiche Bezüge auf die totalitären Regime seiner Zeit berücksichtigt, liegt es nahe zu fragen, in welche Richtung der angenommene Zusammenhang von Wissenschaft und Demokratie seine Wirkung entfaltet. Mit dieser Frage verbunden, wenngleich nicht identisch, ist die danach, welches Ziel Merton damit verfolgt haben sollte, diesen Zusammenhang zu betonen. In The Defense of Democracy and Robert K. Merton’s Formulation of the Ethos of Science (1983) hat David A. Hollinger die Diskussion um das Verhältnis von Demokratie und Wissenschaft detailliert nachgezeichnet: „The faith that science and democracy are indissolubly bound up in a single cultural mode had enjoyed a long history before it was passionately reaffirmed in the late 1930s and early 1940s by enemies of the Third Reich. Hitler’s repudiation of democracy and his effort to endow German science with a distinctly Nazi orientation seemed to confirm once again the naturalness of the connection between democracy and science, and to demand a defense of both.“24 Mertons Note füge sich zwanglos in die antifaschistischen Diskussionen der Zeit. Hollinger unterscheidet zwei lose verbundene Traditionen von Diskussionen über die Wissenschaft, die in den späten 30er Jahren und frühen 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von anglophonen antifaschistischen Intellektuellen zusammengeführt worden seien: zum einen eine, die explizit die Beziehung der Wissenschaft zur Demokratie hervorhebe, zum anderen eine, die den wissenschaftlichen „Geist“ oder die wissenschaftliche „Haltung“ zu charakterisieren versuche.25 Auf der „Conference on the Scientific Spirit and Democratic Faith“, die 1943 an der Columbia University stattfand, habe Mark A. May – um eines der Beispiele Hollingers herauszugreifen – in einem Beitrag mit den Titel „The Moral Code of Scientists“ sechs Forderungen unterschieden, die den „Code“ der Wissenschaft kennzeichneten und die sich mit den vier Werten Mertons ersichtlich überschneiden: Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst und anderen, die Akzeptanz von Tatsachen unabhängig von damit verbundenen persönlichen Konsequenzen, der gemeinsame Besitz von Forschungsergebnissen, die Anerkennung der Entdeckungsleistungen, der Ausschluss von Adhominem-Argumenten sowie schließlich die Forschungsfreiheit, die zumal in Diktaturen oft beschränkt werde.26 || 24 David A. Hollinger, The Defense of Democracy and Robert K. Merton’s Formulation of the Ethos of Science, in: Knowledge and Society: Studies in the Sociology of Culture Past and Present 4 (1983), S. 1–15, hier S. 1. 25 Ebd., S. 8f. 26 Ebd., S. 6f.; die Konferenz fand ein Jahr nach Veröffentlichung von Mertons Note on Science and Democracy statt.
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Vor diesem Hintergrund werde deutlich, wie gering die Neuerungen Mertons gewesen seien; Hollinger nennt drei für Merton charakteristische Gesichtspunkte: Erstens habe Merton das Ethos der Wissenschaft eben nicht im eigenen Namen vertreten, sondern es nur, mit Verweis auf ein Literaturkorpus, dem es sich entnehmen lasse, beschrieben. Zweitens habe er sich nicht gescheut, eine einprägsame Liste grundlegender Ideale anzubieten, die sich leicht zur Untersuchung bestimmter Fälle habe verwenden lassen. Drittens habe er aus der Existenz dieser Ideale in der Literatur gefolgert, dass diese tatsächlich als Normen der wissenschaftlichen Gemeinschaft fungierten und das Verhalten von Wissenschaftlern charakterisierten. In diesen drei Aspekten – nicht aber den Werten selbst oder in der behaupteten Verbindung von Wissenschaft und Demokratie – liege die Innovation Mertons.27 Nicht immer sei in dem Diskussionskontext, in dem Mertons Arbeit stehe, die Verbindung von Demokratie und Wissenschaft in geteilten Werten gesehen worden; der langjährige Herausgeber der Zeitschrift Science J. McKeen Cattell etwa habe betont, die Demokratie sei von der Wissenschaft insofern abhängig, als dass diese den Wohlstand garantieren könne, der eine Voraussetzung demokratischer Gesellschaftsordnungen sei. Die wesentliche Funktion der Betonung des Ethos der Wissenschaft bei Merton liege hingegen darin, das gesellschaftliche Vertrauen in die Wissenschaft zu fördern: „As the autonomy of science from e[x]ternal influences and demands was increasingly urged and defended in the nineteenth and twentieth centuries, it became all the more important that the moral qualities for which science was ostensibly a vehicle be seen as intrinsic to science: if certain approved imperatives were understood to be endemic to the very enterprise of science, society could rest more comfortably with the expansion of science. Even if the diverse individuals and groups caught up in this dynamic did not always attribute the same values to science, their various accounts of the imperatives of science manifest the same large trust that science possessed both a morality and the effective means to maintain it.“28 Dieses Vertrauen habe Mertons Formulierung des Ethos erneuern sollen. Dies würde voraussetzen, dass die Werte der Wissenschaft denen der Gesellschaft gleich oder zumindest ähnlich sind, dass sie, mit anderen Worten, nicht allein (aus Sicht der Wissenschaft) funktional, sondern auch (aus Sicht der Gesellschaft) die ‚richtigen‘ Werte sind – was es erlauben würde, von „moral qualities“ bzw. von „morality“ zu sprechen. Doch die Übereinstimmung zwi-
|| 27 Ebd., S. 10f. 28 Ebd., S. 12.
284 | Cornelis Menke schen den wissenschaftlichen Werten und denen der Demokratie betont Merton allein im Fall des Universalismus. Peter Weingart hat bemerkt: Mertons „These, derzufolge die Demokratie diejenige Staatsform ist, in der die moderne Wissenschaft ihr Potential am besten entwickeln könne, bleibt unbestimmt und vage, weil sie eine funktionale Beziehung zwischen dem Ethos der Wissenschaft und demokratischer Herrschaftsform unterstellt.“29 Zwar gebe es einen Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Demokratie, doch keinen einer strikten Kausalität: Der Beitrag der „sozialen Innovationen, die für die Entstehung der modernen Wissensordnung verantwortlich sind, für die Durchsetzung demokratischer Herrschaftsformen“ liege in der „legitimatorischen Rolle der sozialen Formen der Wissensproduktion“.30 Merton hätte demnach recht, einen Zusammenhang zu vermuten – doch wäre es weniger die Demokratie, die die Wissenschaft befördert, als vielmehr die Wissenschaft (genauer: deren soziale Innovationen), die umgekehrt demokratischen Herrschaftsformen zur Durchsetzung verhilft. Dass Merton seine „provisional assumption“, dass nämlich die Demokratie die Entwicklung der Wissenschaft befördere („‚science is afforded opportunity for development in a democratic order which is integrated with the ethos of science‘“31), nicht wirklich zu untermauern vermag, hat auch Michael Hagner angemerkt. Merton sei an dem Nachweis, dass die Imperative in einer Demokratie die gleiche Gültigkeit beanspruchten wie in der Wissenschaft, aber auch gar nicht gelegen gewesen – postuliert habe er dies allein für den Universalismus. Sein eigentliches Ziel sei gewesen, „Bedingungen zu identifizieren und normativ aufzuladen, die der Wissenschaft die Freiheit geben, Forschung allein um der Erkenntnis willen und nicht zu ökonomischen, politischen oder religiösen Zwecken durchzuführen. Die genannten Imperative machen das möglich. Damit freie und kreative Forschung gedeihen kann, benötigt sie nur noch eine demokratische Staatsform, die darauf verzichtet, Wissenschaft zentral zu regulieren.“32 Das Ethos der Wissenschaft habe eine funktionale Rolle vor allem für die Grundlagenforschung; der wesentliche Beitrag, den die Gesellschaft für die Förderung der Wissenschaft erbringen kann, beschränkte sich darauf, deren Autonomie zu respektieren und auf Einmischungen zu verzichten. Diese Deutung betont eine Vorstellung der Verbindung von Wissenschaft und Gesellschaft, die vornehmlich negativ charakterisiert ist. Für einen solchen || 29 Weingart, Die Stunde der Wahrheit, S. 67; Hervorhebung im Original. 30 Ebd.; Hervorhebung im Original. 31 Merton, A Note on Science and Democracy, S. 606. 32 Michael Hagner, Wissenschaft und Demokratie oder: Wie demokratisch soll die Wissenschaft sein?, in: ders. (Hrsg.), Wissenschaft und Demokratie, Berlin 2012, S. 9–50, hier S. 27.
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Deutungsansatz spricht, dass Merton eben nur im Fall des Universalismus die Übereinstimmung der Werte in Wissenschaft und Demokratie betont, umgekehrt aber bei allen vier Werten auf mögliche Wertkonflikte verweist: Der Universalismus stehe mit ethnozentrischem Partikularismus im Konflikt, der Kommunismus vertrage sich nicht mit der Eigentumsvorstellung kapitalistischer Ökonomien, totalitäre Gesellschaften beschränkten die möglichen Gegenstände der Wissenschaft und verletzten damit den organisierten Skeptizismus. Dennoch bleibt die Erklärung der Bedeutung der Gesellschaftsordnung für den Fortschritt der Wissenschaft eigentümlich unspezifisch. Wenn es allein die Achtung der Autonomie der Wissenschaft durch die Gesellschaft ist, die diese Bedeutung ausmacht, bleibt zum einen offen, warum gerade Demokratien sich hierzu verpflichtet sehen sollen, zum anderen, was die Kenntnis des genauen Wertsystems der Wissenschaft zum Verständnis beiträgt; es ließe sich bestenfalls annehmen, das Ethos der Wissenschaft erkläre, welche Aspekte der Wissenschaft für gesellschaftliche Einflussnahmen tabu sein sollten. Schließlich bleibt offen, welche Bedeutung das genaue Wertesystem der Gesellschaft für die Entwicklung der Wissenschaft hat (abgesehen von dem Fall übereinstimmender Werte, der erklären würde, warum eine mögliche Einflussnahme nicht schädlich wäre).
4. Die angeführten Ansätze führen auf ein interpretatorisches Problem: dass nämlich Merton für das jeweils angenommene Beweisziel nicht zu argumentieren scheint. Am ehesten noch zeigt er, woran sich die vier Normen in der Wissenschaft erkennen und ablesen lassen; dass die Normen wünschenswert oder inwiefern sie forschungsdienlich seien, führt er nicht aus. Ebenso beschränkt er seine Ausführungen über das Verhältnis von Wissenschaft und Demokratie auf die allgemeine Behauptung, beide seien eng verbunden, sowie die Aussage, Demokratie und Wissenschaft seien beide dem Universalismus verpflichtet. Explanandum und Explanans in Mertons Note on Science and Democracy lassen sich besser verstehen, wenn der Aufsatz vor dem Hintergrund zweier früherer Texte betrachtet wird, die das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft zum Gegenstand haben: nämlich Mertons Dissertation (die u.a. das Verhältnis von Wissenschaft und Puritanismus im England des 17. Jahrhunderts untersucht, aber auch Mertons Auffassung von der Aufgabe und Reichweite wissenschaftssoziologischer Erklärungen expliziert) sowie der Aufsatz Science and the Social Order.
286 | Cornelis Menke Im letzten Kapitel seiner 1938 veröffentlichten Dissertation Science, Technology & Society in Seventeenth-Century England behandelt Merton „Some Social and Cultural Factors in Scientific Advance“. Im Anschluss an Alfred Weber unterscheidet er dabei drei „Ordnungen“ soziologischer Phänomene, die für die Erklärung des Fortschritts (oder zurückhaltender: des Voranschreitens) der Wissenschaft von Bedeutung seien: Gesellschaft (Interaktionsmuster zwischen Personen), Zivilisation (im Fall der Wissenschaft: das wissenschaftliche Wissen und die technischen Mittel) und schließlich Kultur (das Wertungen zugrundeliegende Schema von Werten, normativen Prinzipien und Idealen).33 Zu den gesellschaftlichen Faktoren, die die Wissenschaft befördern, zählt Merton die Bevölkerungsdichte und besonders die absolute Zahl von Forschern, dann aber auch die Art und den Umfang sozialer Interaktion – „perhaps the most important social element in the rate of invention.“34 Direkter Austausch zwischen Wissenschaftlern sei wichtig, insofern diejenigen, die Beobachtungen machten, diese nicht notwendig auch erklären könnten; ebenso wichtig sei, dass ein Beweis nach den Maßstäben der Gruppe der Forscher und nicht denen eines Einzelnen zu erbringen sei, was stringentere Argumentationen und gründlichere Forschungen befördere.35 Doch Verallgemeinerungen der Beziehungen von Art und Ausmaß sozialer Interaktion und der Entwicklung von Wissenschaft und Technologie seien nur für bestimmte kulturelle Kontexte gültig. In einem grundlegenden Sinn sei die Wissenschaft von der Gesellschaft darin abhängig, dass diese die Wissenschaft unterstützen müsse, damit sie sich entwickeln könne: „[T]he very existence of science and scientists presupposes that they occupy some positive level in the social scale of values which is the final arbiter of the prestige attached to various pursuits. The persistent development of physical science occurs only in societies of a definite order [...].“36 Die Wissenschaft scheine Zeitgenossen ein nicht weiter erklärungsbedürftiges Phänomen zu sein, sei dies aber nicht immer gewesen. Sie hänge ab von einem kontinuierlichen Zustrom von interessierten und fähigen Leuten, und dieser lasse sich nicht allein durch zufällige individuelle Neigungen sichern. „It is, then, a question of no small moment to ascertain the nature and functioning of those controls which brings into play motivations for scientific careers, which select and bring into sharp focus certain disciplines || 33 Robert K. Merton, Science, Technology & Society in Seventeenth-Century England. With a new Introduction by the Author, New York 2 1970, S. 309 (zuerst erschienen in: Osiris 4 (1 1938), S. 360–632). 34 Ebd., S. 216; Hervorhebung im Original. 35 Ebd., S. 216–224, bes. S. 219. 36 Ebd., S. 225; meine Hervorhebung.
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and reject or blur others, which throw bold emphasis upon certain problems to the virtual neglect of others.“37 Merton schließt seine Untersuchung mit der Bemerkung: „[I]t may not be too much to conclude that the cultural soil of seventeenth century England was peculiarly fertile for the growth and spread of science.“38 Die hier angenommene Verbindung zwischen der Blüte der Wissenschaft einerseits und der Kultur im England des 17. Jahrhunderts andererseits hat zwei Glieder: Gesellschaftlich setzt die Wissenschaft eine möglichst große Zahl an Wissenschaftlern und vielfachen Austausch zwischen ihnen voraus; dies wiederum erfordert eine kulturelle Affinität zu wissenschaftlichen Tätigkeiten in der Gesellschaft, die insbesondere die Wahl der Wissenschaft als Beruf befördert. Dieses zweite Glied der Verbindung beruht wiederum vor allem darauf, dass die Wissenschaft und die wissenschaftliche Tätigkeit als wertvoll betrachtet werden und die wissenschaftliche Laufbahn Prestige hat. Wo aber die Wissenschaft (anders als im 20. Jahrhundert) nicht institutionalisiert und ihr Wert strittig ist, jedenfalls aber nicht als selbstverständlich genommen wird, ist es Merton zufolge wichtig, dass die Wissenschaft mit den Werten und den „sentiments“39 der Gesellschaft im Einklang ist. Dieser Zusammenhang liegt auch der sogenannten Merton Thesis zugrunde: der These, das puritanische Ethos habe die Entwicklung der Wissenschaft im England des 17. Jahrhunderts begünstigt. Diese These findet sich in den mittleren drei Kapiteln von Science, Technology & Society und bildet einen der Schwerpunkte von Mertons Untersuchung. Ausgangspunkt Mertons ist die Feststellung, dass – wenn es richtig sei, dass die Zahl derer, die den Beruf des Wissenschaftlers ergreifen, anhängig von der gesellschaftlichen Zustimmung zur Wissenschaft ist – der bemerkenswerte Anstieg der Zahl der Wissenschaftler im England des 17. Jahrhunderts ein Zeichen einer kulturellen Änderung sein müsse.40 Ein Ausdruck kultureller Werte sei dabei das puritanische Ethos und mithin die Religion. Es sei aber nicht Aufgabe des Soziologen zu bestimmen, ob Religion und Wissenschaft zusammenpassten– „When he [sc. the sociologist] uncovered the sentiments crystallized in religious values and the cultural orientation which governs their expression, when he has determined the extent to which this led men toward or away from scientific pursuits or perhaps influ|| 37 Ebd., S. 225f. 38 Ebd., S. 238. 39 Zur argumentativen Bedeutung und der gedanklichen Herkunft der „sentiments“ vgl. Steven Shapin, Understanding the Merton Thesis, in: Isis 79 (1988), S. 594–605, bes. S. 598– 600. 40 Merton, Science, Technology & Society, S. 55.
288 | Cornelis Menke enced them not at all, then his task is, in its initial outlines, complete.“41 Als Aufgabe der Soziologie bestimmt Merton also besonders die Untersuchung der kulturellen Bedingungen für die gesellschaftliche Blüte der Wissenschaft. Im selben Jahr wie Science, Technology & Society publizierte Merton auch den Aufsatz Science and the Social Order. Die Argumentationsziele in beiden Arbeiten sind komplementär: Behandelt Mertons Dissertation die wissenschaftsförderlichen Bedingungen im England des 17. Jahrhunderts, so ist das Ziel des Aufsatzes, die latente oder offene Wissenschaftsfeindschaft („hostility toward science“42) zu erklären, die Anfang des 20. Jahrhunderts in vielen Gesellschaften bestehe. Die sich darin ausdrückende „current re-evaluation of the social rôle of science“ bildet den Gegenstand der Untersuchung.43 Anders als im 17. Jahrhundert verfüge die Wissenschaft freilich über ein in drei Jahrhunderten erworbenes Prestige, das so groß sei, dass auch Versuche, die Wissenschaft einzuschränken, sich mit einem verbalen Bekenntnis zur Wissenschaft verbänden. Die Argumentation zeigt große Gemeinsamkeiten mit derjenigen in Science, Technology & Society: Ausgangspunkt von Mertons Argumentation ist wiederum die Feststellung, dass die Überzeugung, dass die Wissenschaft wertvoll sei, nicht selbstverständlich ist, sondern ein Produkt bestimmter Kulturen und damit erklärungsbedürftig; wiederum stellt er fest, dass „[t]he persistent development of science occurs only in societies of a certain order“44, und führt mit ausdrücklichem Verweis auf Science, Technology & Society aus: „The continuity of science requires the active participation of interested and capable persons in scientific pursuits. This support of science is assured only by appropriate cultural conditions. It is, then, important to examine those controls which motivate scientific careers, which select and give prestige to certain scientific disciplines and reject or blur others.“45 Die Argumentation setzt also wiederum bei den kulturellen Voraussetzungen der gesellschaftlichen Unterstützung der Wissenschaft bzw. einzelner Forschungsgebiete an. Feindschaft gegenüber der Wissenschaft entstehe unter zwei Arten von Bedingungen: zum einen der logischen (wenngleich nicht notwendig zutreffenden) Folgerung, die Ergebnisse oder Methoden der Wissenschaft stünden der Erfüllung bestimmter Werte entgegen; zum anderen dem – nicht-logischen – Gefühl, die im wissenschaftlichen Ethos verkörperten „sentiments“ seien mit || 41 Ebd., S. 55f. 42 Ders., Science and the Social Order, S. 321. 43 Ebd., S. 322; vgl. S. 336. 44 Ebd., S. 321. 45 Ebd.; vgl. bes. Anm. 3.
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denen anderer Institutionen unverträglich. In den Auflehnungen gegen die Wissenschaft in den 1930er Jahren überlagerten sich beide Bedingungen. Das Ergebnis dieser beiden Kräfte sei dabei nicht immer notwendig Wissenschaftsfeindschaft – sie könnten ebenso gut zur gesellschaftlichen Akzeptanz der Wissenschaft beitragen, wenn die Ergebnisse und Methoden der Wissenschaft der Erfüllung anerkannter Werte dienlich zu sein schienen bzw. die kulturellen Werte der Wissenschaft und anderer Institutionen sich gefühlsmäßig vertrügen.46 Wie logische und nicht-logische Prozesse gemeinsam zu einer Einschränkung wissenschaftlicher Tätigkeiten führten, zeige die Situation in Deutschland seit 1933. Teilweise sei diese Einschränkung eine unbeabsichtigte Nebenwirkung des weitgehenden Ausschlusses vieler Forscher aus Universitäten und Forschungsinstitutionen. Hier hätten „sentiments of national and racial purity“47 über die utilitaristische Rationalität gesiegt. Auch sei zu erwarten, dass die anti-intellektuelle Stimmung, wenn sie sich verfestigen sollte, langfristig dazu führen werde, dass gerade die größten Talente zumindest bestimmte Disziplinen mieden. Der von der Wissenschaft erwartete Nutzen erfordere zwar weiterhin ein gewisses Interesse an der Wissenschaft, führe aber zugleich zu einer Einschränkung der Grundlagenforschung.48 Darüber hinaus bestehe aber auch ein Konflikt zwischen dem Ethos der Wissenschaft und den der Wissenschaft vom Staat aufoktroyierten institutionellen Normen, die andere Kriterien für die wissenschaftliche Gültigkeit und den wissenschaftlichen Wert von Forschungen setzten. Neben die notwendige Forderung, Theorien sollten hinsichtlich ihrer logischen Widerspruchsfreiheit und ihrer Übereinstimmung mit den Tatsachen beurteilt werden, träten als weitere Gesichtspunkte die Rasse und das politische Bekenntnis der Forschers – mithin personenabhängige Kriterien.49 Der Konflikt zwischen wissenschaftlichen und von außen aufgezwungenen Wertmaßstäben beschränke sich aber nicht auf einen Loyalitätskonflikt50; zugleich ist er ein Konflikt um die Autonomie und die „sentiments“ der Wissenschaft: „Science, which [...] has evolved an institutional complex which engages the allegiance of scientists, now has both its traditional autonomy and its rules of the game – its ethos, in short – challenged by an external authority. The || 46 Ebd., S. 322; der zweite Fall entspricht gerade der Argumentation Mertons in Science, Technology & Society. 47 Ebd., S. 323. 48 Ebd., S. 322–325. 49 Ebd., S. 325–327. 50 Ebd., S. 325.
290 | Cornelis Menke sentiments embodied in the ethos of science – characterized by such terms as intellectual honesty, organized scepticism, disinterestedness, impersonality – are outraged by the set of new sentiments that the State would impose in the sphere of scientific research.“51 Wissenschaftler fühlten sich an die institutionellen Normen der Wissenschaft emotional gebunden, und die soziale Stabilität der Wissenschaft erfordere, dass Versuche, diese Normen einzuschränken, abgewehrt würden.52 Welche „sentiments“ sich im wissenschaftlichen Ethos ausdrückten und in welcher Form sie zu Konflikten mit der Gesellschaft führen könnten, führt Merton an drei Beispielen aus: dem Ideal der „purity of science“, dem „cult of unintelligibility“ und der Haltung des „organized scepticism“. Die Betonung der reinen Wissenschaft habe gerade den Zweck, die Autonomie der Wissenschaft zu sichern und zu verhindern, dass mögliche Forschungsrichtungen durch Nützlichkeitserwägungen eingeschränkt würden.53 Anwendungen beförderten zwar einerseits das gesellschaftliche Ansehen der Wissenschaft (und bezeugten für den Laien deren Glaubhaftigkeit); doch könnten sie ebenso das Ansehen der Wissenschaft untergraben, wenn sie aus Sicht der Gesellschaft unerwünschte Wirkungen hätten, für die die Wissenschaft verantwortlich gemacht werde. 54 Weiterhin habe die Unverständlichkeit der Wissenschaft, die sich aus der Komplexität der Forschung notwendig ergebe, die Kluft zwischen Wissenschaftlern und Laien verbreitert.55 Schließlich führe die Wissenschaftlern eigene Haltung des organisierten Skeptizismus zu Konflikten, wenn Gegenstände zu Forschungsgegenständen gemacht würden, die Glauben oder Verehrung beanspruchten; dies betreffe nicht allein religiöse, sondern auch ökonomische und politische Institutionen. Auch hier sei der Konflikt kein logischer, sondern ein emotionaler: das Gefühl der Gefährdung des Bestehenden durch die Forschung.56 Science and the Social Order nimmt gerade die Fragestellungen auf, die Merton im letzten Kapitel seiner Dissertation angedeutet hatte.57 Obwohl das Erklärungsziel ein komplementäres ist – erklärt werden sollen Konflikte zwischen Wissenschaft und Gesellschaft – ist der Mechanismus wenigstens teilweise || 51 Ebd., S. 327; meine Hervorhebung. 52 Ebd., S. 327f. 53 Ebd., S. 328f.; vgl. ders., Science, Technology & Society, S. 228–232. 54 Ders., Science and the Social Order, S. 328–333. 55 Ebd., S. 333. 56 Ebd., S. 334f. 57 Vgl. die Behandlung der Bedeutung der reinen Wissenschaft in ders., Science, Technology & Society, S. 231f., und bes. S. 231, Anm. 66.
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derselbe, nämlich ein Konflikt zwischen dem Ethos der Wissenschaft und dem anderer gesellschaftlicher Institutionen. Aus ihm folge, dass „contemporary revolts against science are formally similar to previous revolts, although the concrete sources are different.“58 Das Ergebnis der Untersuchung ist ein Katalog von fünf typischen Konfliktursachen. Diese setzten teilweise – und hier geht die Untersuchung über die Argumentation in Science, Technology and Society hinaus – eine genauere Bestimmung des Ethos der Wissenschaft voraus.
5. Norman Storers Bemerkung, A Note on Science and Democracy sei durch einen „rather misleading title“ belastet gewesen, hat David Hollinger die Behauptung entgegengesetzt, der Titel sei „entirely appropriate“.59 Beide Bemerkungen werden der Argumentation Mertons nicht ganz gerecht, für den sich die Frage des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaftsordnung von der der Wertsysteme der Wissenschaft und der Gesellschaft nicht trennen lässt. Die Unterstützung, die die Wissenschaft braucht, erhält sie zu einem Teil aufgrund ihrer Nützlichkeit, doch ist sie zumal im Fall der Grundlagenforschung darauf angewiesen, dass die Wissenschaft und besonders die wissenschaftliche Tätigkeit als wertvoll angesehen wird – und dies ist, nach Merton, dann der Fall, wenn das Ethos der Wissenschaft mit dem der Gesellschaft integriert ist. Umgekehrt gehen die Konflikte zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu einem großen Teil auf Unterschiede zwischen dem Ethos der Wissenschaft und den gesellschaftlichen Werten zurück. Das Ethos der Wissenschaft ist für Merton (jedenfalls für den frühen Merton) also vor allem insofern interessant, als es für das Verständnis des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft wesentlich ist. Diese Fragestellung erklärt, warum Merton das Problem der Forschungsdienlichkeit des wissenschaftlichen Ethos nicht diskutiert. Ist das Ziel von Mertons Dissertation zu erklären, wieso es im England des 17. Jahrhunderts zu einer Blüte der Wissenschaft kam (und lag der Schwerpunkt daher naturgemäß auf dem Wertesystem der Gesellschaft), nahmen die beiden kürzeren Arbeiten ihren Ausgang bei der Frage, wie die Wissenschaftsfeindschaft Anfang des 20. Jahrhunderts zu erklären sei; hier liegt die Last der Erklärung auch auf der Seite des Wertesystems der Wissenschaft, das Merton in A Note on Science and Democracy in systematischer Weise beschreibt. Die beson|| 58 Ders., Science and the Social Order, S. 336; Hervorhebungen im Original. 59 Storer, Prefatory Note, S. 226; Hollinger, Defense of Democracy, S. 3.
292 | Cornelis Menke dere Forschungsdienlichkeit einer demokratischen Gesellschaftsordnung kann vor dem Hintergrund von Mertons Modell des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft auf zwei Arten begründet sein: einerseits durch übereinstimmende Werte wie im Fall des Universalismus, die gewährleisten, dass die Wissenschaft nicht allein aufgrund ihres Nutzens für wertvoll und die wissenschaftliche Laufbahn für erstrebenswert gehalten wird; andererseits dadurch, dass die Werte der Wissenschaft wenigstens nicht zu Konflikten führen. So dass Mertons „provisional assumption“, dass eine demokratische Ordnung der Wissenschaft besonders zuträglich ist, in einem gewissen Sinne damit verträglich ist, dass die Demokratie in A Note on Science and Democracy kaum weitergehend behandelt wird.
| Teil II: Systematische Reflexionen
Jörg Schönert
Zu Nutz und Frommen kooperativer Praxis in der Literaturwissenschaft Mit meinem Beitrag will ich Bezüge herstellen zu Funktionen von Ethos und Pathos in der jüngeren Entwicklung der Neuphilologien.1 Ich gehe dabei von der Annahme aus, dass Prinzipien kooperativer Forschungspraxis in der deutschsprachigen ‚academia‘ um 1900 zunächst in den Lebens-, Natur- und Technikwissenschaften ausgearbeitet wurden;2 mit beträchtlichem Pathos wurden sie seit den 1960er Jahren in der Wissenschaftsförderung durch Drittmittelgeber (insbesondere die Deutsche Forschungsgemeinschaft3) vorgetragen und unterstützt. Demnach wäre zunächst zu unterscheiden zwischen Vorgaben, die wissenschaftsintern entwickelt werden, und Vorgaben externer Partner der Wissenschaft, um so auch unterschiedliche Konstellationen des Zusammenwirkens von internen und externen Impulsen (im Spektrum von wechselseitiger Bestätigung bis hin zu Konfliktsituationen) beschreiben und erklären zu können. Auf aktuelle Konstellationen kann mit einem Zitat verwiesen werden: Kooperatives Vorgehen, das in den Natur- und Ingenieurwissenschaften zum akademischen Alltag gehört, gilt in den Geistes- und Kulturwissenschaften weithin noch als ‚terra incognita‘. Doch wird es heute allgemein in der Wissenschaft erwartet. Kooperation und Synergie, Interdisziplinarität und Internationalität sind die Forderungen, die an ‚moderne Wissenschaft‘ gerichtet werden. Damit ergeben sich neue Perspektiven für die kommunikativen [wissenschaftsinternen] Prozesse, die in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen Erkenntnis ermöglichen und vermitteln – bis hin zu den Lehr- und Lernsituationen.4
Kooperativ betriebene Forschung zugunsten gemeinsam verfolgter Ziele wird in der Regel projektförmig geplant und angelegt. Sie ist gekennzeichnet durch || 1 Zu beachten ist dabei die Korrelation mit dem Problembereich von ‚Werten und Normen in der Wissenschaft‘ – vgl. dazu den Beitrag von Cornelis Menke (zu Robert K. Merton) in diesem Band und für Konstellationen in der Literaturwissenschaft das diesbezügliche Themenheft des Journal of Literary Theory 5 (2011), H. 2. 2 Als prototypisch gelten die Institute der Kaiser-Wilhelm- bzw. Max-Planck-Gesellschaft. 3 Künftig abgekürzt als DFG. 4 Tanja Lange, Vernetzte Wissenschaft? Zu Perspektiven computerunterstützter Kollaboration für Forschung und Lehre in den Geisteswissenschaften, in: Harro Segeberg u. Simone Winko (Hrsg.), Digitalität und Literalität. Zur Zukunft der Literatur, München 2005, S. 271–294, hier S. 271. – Auf Kooperativität in Lehr- und Lernsituationen (mit Konstellationen des ‚team teaching‘) gehe ich hier nicht ein.
296 | Jörg Schönert arbeitsteilig-koordiniertes Vorgehen und kann darüber hinausgehend für Problemlösungen auch individuelle Kreativität entwickeln. Sie begünstigt interdisziplinäre Orientierung und ermöglicht überlokale sowie überregionale Organisationsformen. Gemäß normativen Erwartungen, wie sie vor allem in der Drittmittelförderung erhoben werden, ergeben sich zumeist zeitlich begrenzte Forschungsverbünde mit flachen Hierarchien (im Unterschied zu institutionalisierter Forschung) und mit ausgeprägten Abstufungen der Zuständigkeiten. Projektförmige Forschung gleicht sich weithin den Arbeitsprinzipien der modernen Gesellschaft an – beispielsweise in der Arbeitsteiligkeit und in der Verpflichtung auf kurz- und mittelfristige Ergebnisse, die bewertet werden und positive oder negative Sanktionen für den Fortgang der Arbeiten nach sich ziehen. Das sind Aspekte, die im Widerspruch zur traditionellen Forschungspraxis in den Geisteswissenschaften stehen. Um meine Überlegungen zu solchen Ansprüchen – wie derzeit nicht unüblich – mit überraschungsreichen theoretisierenden Vorgaben zu beginnen, könnte ich mehr oder weniger rezenten ‚turns‘ in Neu-Orientierungen der Geisteswissenschaften folgen und Evolutionsbiologie sowie Evolutionspsychologie bemühen – etwa mit Michael Tomasello, dem Co-Direktor des Max-PlanckInstituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Warum wir kooperieren – so lautet der Titel des 2011 bei Suhrkamp veröffentlichten Bändchens: Wissen zu teilen sei „eine Art des Altruismus“; den „menschlichen Kulturen“ lägen „nicht nur egoistische, sondern auch fundamental kooperative Prozesse zugrunde.“ 5 Und: „kooperatives Problemlösen [findet sich bereits] bei Kindern und Schimpansen.“6 Wenn Menschen in ihrem Sozialverhalten in zahlreichen Situationen „Kooperationsnormen“ folgen,7 dann sollte diese Grundeinstellung auch für das Wissenschaftshandeln gelten. Erweiternd wäre die Spieltheorie zu bemühen – etwa mit Robert Axelrods Publikation The Evolution of Cooperation (New York 1984, dt. 1987), in der er beschreibt, wie Kooperation als eine Systembildungsleistung ohne Absprache und ohne von außen gesetzte Erwartungen und Zwänge selbst zwischen egoistischen Akteuren (wie Spielern) quasi ‚natürlich‘ entsteht. Nicht zuletzt wäre Richard Sennetts jüngstes Buch Together. The Rituals, Pleasures and Politics of Cooperation (New Haven und London 2011, dt. 2012) zur Geschichte der kooperativen Aktivität des Menschen zu konsultieren. Für meinen Beitrag verbietet sich ein solcher langer Anlauf bis in den zentralen Bereich der Wissenschaftsforschung, der für das Problem „Wie kommt || 5 Michael Tomasello, Warum wir kooperieren, Frankfurt a.M. 2011, S. 12f. 6 Ebd., S. 15. 7 Ebd., S. 74.
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Wissenschaft zu Wissen?“8 zu umreißen wäre. In der Perspektive meines Themas hieße dies: Welche Rolle erhalten in zurückliegenden und insbesondere in aktuellen Diskussionen projektförmige und koordinierte Forschungen (die sog. Kollegialforschung) in Forschungsverbünden (die in einem XXL-Zuschnitt neudeutsch als ‚Cluster‘ firmieren)? Im weitesten Sinne wäre dabei zu fragen nach Denk-, Lebens-, Organisations- und Arbeitsformen wissenschaftlicher Kooperativität. Darüber hinaus bliebe zu klären: Gilt Kooperationskompetenz, vulgo ‚Teamfähigkeit‘, heutzutage auch in den Geisteswissenschaften als eine reputationsfördernde, ja unabdingbare persönliche Qualität, für die mit dem Pathos der Modernität von Wissenschaft geworben wird? Wird Forschungskooperation in den Geisteswissenschaften zu einem wissenschaftsethischen Imperativ? Für Antworten auf diese Fragen beschränke ich mich hier darauf, das Spektrum normativer Erwartungen zu erkunden. Unterschiedliche Konstellationen der wissenschaftlichen Praxis von Kooperativität wären empirisch zu erschließen. In der Wissenschaftsforschung wurden Programmatik und Realität von Kollegialforschung bislang vor allem für die Natur-, Lebens- und Ingenieurwissenschaften thematisiert – so etwa für Arbeitsformen der Labore und Werkstätten. Für die Geisteswissenschaften zeigten sich zumeist nur Annäherungsversuche zu diesem Problembereich.9 Eine kurze Bilanz zu „Einzelforschung vs. Verbund-
|| 8 So der Gesamttitel der vierbändigen Publikation, die Theo Hug 2001 herausgegeben hat. 9 So wurde beispielsweise die Förderinitiative „Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften“ der VolkswagenStiftung mit einer Inaugurationstagung des Zentrums für Literaturforschung vom 24. bis 25. 10. 2003 in Berlin in Gang gesetzt. Die Sektion II „Die Praxis der geisteswissenschaftlichen Forschung“ eröffnete ein Vortrag der Romanistin und Kulturwissenschaftlerin Friederike Hassauer: „Traumtänzer oder Dream Team? Zwischen Solitär und Joint Venture: Chancen und Grenzen von Teamarbeit in den Geisteswissenschaften“ (der Vortrag wurde vermutlich nicht publiziert, der Titel findet sich nicht im Verzeichnis von Hassauers Veröffentlichungen auf ihrer Homepage der Universität Wien; meine Nachfrage per E-Mail blieb unbeantwortet). Dann jedoch schwenkte diese Sektion wieder ein auf die sog. spannenden Themen und Probleme wie „Freundschaft und Verwandtschaft“ oder „Mystik und Moderne“. Zumeist aus diesen Bereichen wurden Forschungsprojekte für die Förderung durch die VolkswagenStiftung entwickelt – auszunehmen ist ein Vorhaben zu netzgestützter ‚interaktiver Forschung‘, auf das ich am Schluss dieses Beitrags noch eingehe. – Prinzipiell gesehen machen auch die Geisteswissenschaften von mannigfachen Möglichkeiten zur Förderung von Verbundforschung durch Drittmittelgeber guten Gebrauch, insbesondere beim Einbinden von Nachwuchswissenschaftler/inne/n in Forschungsverbünde – allerdings vor allem in den Graduiertenkollegs (mit ihrer geringen Forschungsreputation), weniger in den Sonderforschungsbereichen der DFG (mit ihrer hohen Forschungsreputation – vgl. dazu Carlos Spoerhase, Big humanities: ‚Größe‘ und ‚Großforschung‘ als Kategorien geisteswissenschaftli-
298 | Jörg Schönert forschung?“ erstellte Erika Fischer-Lichte 2009 in ihrem Vortrag „Auf welcher Bühne wird gespielt? Geisteswissenschaften, Öffentlichkeit und Politik“.10 Zu erwarten ist, dass zumindest für die Literaturwissenschaft das Projekt einer „Praxeologie“, das Steffen Martus und Carlos Spoerhase für die Forschungsgruppe um Lutz Danneberg 2009 vorstellten,11 lange Versäumtes nachzuholen vermag. Für eine erste Ausarbeitung der dazu notwendigen historischen Dimension hat Spoerhase gesorgt – ich beziehe mich auf seinen Beitrag zu „Big humanities: ‚Größe‘ und ‚Großforschung‘ als Kategorien geisteswissenschaftlicher Selbstbeobachtung“ aus dem Jahr 2010.12 Als eine der Voraussetzungen für die sog. Großforschung gelten „die Größe,13 die Langfristigkeit und die kooperative Arbeitsform der projektförmig organisierten Arbeit“;14 sie wird am Ursprungsort der Wissenschaftlichen Akademien des 19. Jahrhunderts als Verbundforschung (als sog. Akademieprojekte) in der Altertumswissenschaft begründet.15 Als Parallelaktion – vorzugsweise außerhalb der Geisteswissenschaften – wird im Zeitraum nach 1900 das sog. Harnack-Prinzip16 in den Instituten der Kaiser-Wilhelm- und (seit 1948) der Max-Planck-Gesellschaft produktiv.17 Diese
|| cher Selbstbeobachtung, in: Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 37/38 (2010), S. 9–27, hier S. 22). 10 Erika Fischer-Lichte, Auf welcher Bühne wird gespielt? Geisteswissenschaften, Öffentlichkeit und Politik, in: Jörg Dierken u. Andreas Stuhlmann (Hrsg.), Geisteswissenschaften in der Offensive. Hamburger Standortbestimmungen, Hamburg 2009, S. 375–388, hier S. 384f. 11 Steffen Martus u. Carlos Spoerhase, Praxeologie der Literaturwissenschaft, in: Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 35/36 (2009), S. 89–96. 12 Spoerhase, Big humanities (Hervorhebung im Titel i.O.). 13 Für „big humanities“ (als Großforschung) sind in der Regel hohe Investitionskosten (z.B. für teure Geräte) kein Indikator, siehe auch ders., Noch fünf, sechs Millionen Euro, und wir sagen euch, was ein Roman ist, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. Dezember 2012. 14 Ders., Big humanities, S. 10 (Hervorhebungen i.O.); solche Forschungsprojekte können bis in die Dimension „international wie interdisziplinär vernetzter Verbundforschung“ reichen (ebd., S. 14). 15 Ebd., S. 15. 16 Adolf von Harnack leitete bis 1930 die 1911 gegründete Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft; ihm folgte (bis 1937) Max Planck. 17 Vgl Bernhard Vom Brocke u. Hubert Laitko (Hrsg.), Die Kaiser-Wilhelm-/Max-PlanckGesellschaft und ihre Institute. Studien zu ihrer Geschichte, 2. Teil: Das Harnack-Prinzip – Realität, Desiderat oder Fiktion? Persönlichkeit und Institution, Berlin u. New York 1996 – siehe dort insbesondere die Beiträge von Rudolf Vierhaus, „Bemerkungen zum sogenannten Harnack-Prinzip. Mythos und Realität“ (S. 129–138) und Hubert Laitko, „Persönlichkeitszentrierte Forschungsorganisation als Leitgedanke der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft: Reichweite und Grenzen, Ideal und Wirklichkeit“ (S. 583–632).
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Formel verweist in problematisch-verkürzender Weise (hinsichtlich der eigentlich notwendigen empirischen Kontrolle) auf Kooperativität, die sich an einer Führungspersönlichkeit,18 dem Direktor des Instituts, ausrichtet.19 Der Theologe Adolf von Harnack entwirft den „Großbetrieb der Wissenschaft“ analog zur Großindustrie.20 Heute ist allerdings an den Max-Planck-Instituten die starke Hierarchisierung zugunsten einer Führungsperson im Sinne von kollegialer Führung reduziert. Zu dem Begriffsrepertoire, mit dem man sich seinerzeit in der Berliner Akademie den Problemen der Organisation kooperativer Forschung als „kooperativer Erkenntnisarbeit“21 näherte, gehörte dagegen wesentlich das Bild vom Genie und vom Kärrner.22 Nach dem Harnack-Prinzip hatte die persönlichkeitszentrierte Forschungsorganisation Vorrang gegenüber der „sachzentrierten“;23 heute gilt dagegen die Tendenz zur Sachorientierung. Dieser kurze Rückblick auf Wissenschaftsentwicklungen um 1900, die wenig Bedeutung für seinerzeitige Konstellationen in den Neuphilologien hatten,24 wirft die Frage auf, ob seither ‚Kooperationsintensität‘ als Signum für eine leistungsfähige Praxis auch in den Geisteswissenschaften angesehen wird. Eine Antwort kann ich an dieser Stelle nur im Zuge eines persönlichen Erfahrungsberichts geben, um damit die eigentlich notwendigen mentalitätsgeschichtlichen und wissenschaftssoziologischen Untersuchungen zu ersetzen. Ich gestehe vorab: Ein ‚Einzelforscher‘ wollte ich nicht werden. Das mag an einer starken Mannschaftssport-Sozialisation in meinen juvenilen Jahren in || 18 Vgl. Laitko, Persönlichkeitszentrierte Forschungsorganisation, S. 586: Das sog. HarnackPrinzip ist als ein „institutionelles Ideal“ anzusehen, es ist unter günstigen Bedingungen umzusetzen; es gilt nicht prinzipiell, sondern für einen bestimmten Typus der Forschungsorganisation (vgl. ebd., S. 589). 19 Vgl. Vierhaus, Bemerkungen zum sogenannten Harnack-Prinzip, S. 129. 20 Ebd., S. 130; Harnack gilt als Organisator und Repräsentant der Wissenschaftskultur seiner Zeit. 21 Laitko, Persönlichkeitszentrierte Forschungsorganisation, S. 594. 22 Vgl. ebd., S. 597; Wissenschaftsinnovationen werden kreativen Persönlichkeiten zugerechnet. 23 Ebd. 24 Für die germanistische Literaturwissenschaft ist dieser Zeitraum als zweite Gründungsphase anzusehen – mit Entwicklungen, die zum einen stabilisierende Wirkungen haben (wie im Zuweisen von weitreichenden Ausbildungsleistungen für die Höheren Schulen sowie im Erarbeiten von fachspezifischen Normen und Standards zugunsten der Verpflichtung auf ein Berufsethos), zum anderen expandierende Tendenzen zeigen (wie im Erweitern des disziplinären Gegenstandsbereichs, der interdisziplinären Relationen und des Methodenspektrums) – vgl. dazu als exemplarische Erschließungen die fachgeschichtlichen Projekte der Arbeitsgruppe um Hans-Harald Müller zu Wilhelm Scherer sowie Müllers Beitrag zu diesem Band.
300 | Jörg Schönert München liegen; daran habe ich dann im akademischen ‚team-playing‘ anknüpfen können: als Mitglied der Münchner Forschergruppe zur Sozialgeschichte der Literatur von 1979 bis 1984 sowie der in den 1980er Jahren aktiven Hamburger DFG-Gruppe zur Sozialgeschichte der Arbeit und dort zuletzt (20012007) in der Forschergruppe Narratologie. Zugleich war ich seit den 1990er Jahren acht Jahre hindurch ‚Beobachter‘ von Kooperativität als gewählter Fachgutachter bei der DFG und danach für weitere sechs Jahre Mitglied des DFGGremiums für die Sonderforschungsbereiche. Aus meinen ersten Erfahrungen aus der Gutachtertätigkeit bei der DFG ist 1993 ein Beitrag zu „Konstellationen und Perspektiven kooperativer Forschung“ entstanden.25
1. Prinzipielle Erfahrungen zur gegenwärtigen Praxis der Kollegialforschung Bereits in den 1980er Jahren zeichnete sich in der Förderungspolitik der DFG und anderer Drittmittelgeber die Tendenz ab, nicht nur in den ‚sciences‘, sondern auch in den ‚humanities‘ neben der herkömmlichen Individualforschung die Kollegialforschung als zeitgemäße Praxisform zu verstärken. Diese Orientierung wurde bekräftigt in der viel beachteten Denkschrift Geisteswissenschaften heute von 1991, die im Auftrag des Bundesministeriums für Forschung und Technologie von einer Autorengruppe verfasst wurde, zu der auch der Germanist und spätere DFG-Präsident Wolfgang Frühwald gehörte. Im Zuge einer ‚Modernisierung der Geisteswissenschaften‘ wurden strukturelle und organisatorische Veränderungen in der Forschungspraxis der Geisteswissenschaften empfohlen: hauptsächlich zum Ausbau der Kollegialforschung und der interdisziplinären Kooperation in ‚Forschungsnetzwerken‘, wobei die disziplinspezifische Individualforschung durchaus erhalten werden sollte. Die angestrebte Modernisierung sollte von der Drittmittelförderung unterstützt werden und zu einem Wandel akademischer Mentalität führen.26 In dem von der DFG besorgten Rückblick auf die Geschichte ihrer Sonderforschungsbereiche (SFB) heißt es 1992: Kooperation sei „heute auch allgemein als Form der Arbeitsteilung in der Forschung und als Ausdruck von Offenheit und Aufnahmebereitschaft gegen-
|| 25 In: Peter Brenner (Hrsg.), Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1993, S. 384–408. 26 Vgl. Wolfgang Frühwald u.a.: Geisteswissenschaften heute, Frankfurt a.M. 1991, S. 207– 253, insbesondere S. 229ff. und 238ff.
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über fremden Ideen und zwischen konkurrierenden Gruppen selbstverständlich.“27 In der Förderungspolitik der DFG wurde bereits seit Mitte der 1960er Jahre der Ausbau der Kollegialforschung durch die Konzeption neuer Forschungspraktiken verstärkt betrieben und in den 1980er Jahren weithin abgeschlossen.28 1962 war das Konzept ‚Forschergruppe‘ vorgelegt worden, 1968 das Programm der Sonderforschungsbereiche (im Jahr darauf wurden die ersten SFBs eingerichtet); in den sog. Schwerpunktprogrammen konnte bereits seit 1953 themenzentriert, mittelfristig und lokal übergreifend kooperiert werden.29 Es wird kein Zufall sein, dass die meisten dieser Forschungsverbünde mit flachen Hierarchien Gestalt in den Jahren erhielten, als entsprechende Reformen auch an den Hochschulen gefordert und umgesetzt wurden; selbst an den Instituten der Max-Planck-Gesellschaft wurde satzungsgemäß die Ausrichtung an einer starken Führungspersönlichkeit durch kollegiale Führung modifiziert. In einem letzten Schritt war dann die Ausbildung des akademischen Nachwuchses im Zeichen von Forschungskooperation zu organisieren: 1990 wurden die ersten Graduiertenkollegs eingerichtet, um die Zusammenarbeit von Promovierenden und ihren Betreuer/inne/n zu fördern, und das Emmy-Noether-Stipendium (seit 1997) für besonders befähigte Postgraduierte konnte mit dem Aufbau einer sog. Nachwuchsgruppe verbunden werden. Zur Errichtung von „Wissenschaftlichen Netzwerken“ für Nachwuchswissenschaftler/innen wurden in einem weiteren Schritt Finanzierungen für „Arbeitstreffen“ (workshops) bereitgestellt. Das Einüben in Kollegialforschung gehört heute gleichsam zum Ausbildungsprogramm der akademischen Elite. Die sog. Exzellenz-Initiative integriert mit angelsächsischer Nomenklatur viele dieser Förderungsinstrumente, um – zumindest für einen mittelfristigen Zeitraum – die institutionellen Differenzen zwischen außer- und inneruniversitärer Forschung zu vermindern und die kooperative Praxis in den Hochschulen zu verstärken. Wie stark sich die normativen Erwartungen zur Kollegialforschung (in den sog. Koordinierten Programmen) in den zurückliegenden 20 Jahren ausgeprägt haben, zeigt beispielsweise die von der DFG im Jahr 2003 erstellte Studie „För|| 27 Axel Streiter (Hrsg.), 20 Jahre Sonderforschungsbereiche, 2. veränd. Aufl. Weinheim 1992, S. 20; vgl. auch allgemein zu den Förderungsmöglichkeiten für Kollegialforschung Schönert, Konstellationen und Perspektiven kooperativer Forschung, S. 390–392. 28 Vgl. Karl Stackmann u. Axel Streiter, Sonderforschungsbereiche 1969–1984. Bericht über ein Förderprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Weinheim 1985. 29 Bei diesen Jahreszahlen finden sich in den Publikationen der DFG leichte Schwankungen – je nachdem, ob das Auflegen des Programms oder erste Umsetzungen als Zeitpunkt genannt werden.
302 | Jörg Schönert der-Ranking 2003. Institutionen – Regionen – Netzwerke“:30 Kooperative Forschung und moderne Wissenschaft werden gleichgesetzt: „‚Kooperation in Netzwerken‘ gilt als eine zentrale Metapher moderner Wissenschaft“; „nicht der isoliert agierende Einzelwissenschaftler bestimmt weithin das Idealbild, sondern das in vielfältige nationale und internationale, disziplinäre und interdisziplinäre Bezüge eingebundene Forschungsteam.“31 Das spiegelt sich auch in der Mittelvergabe der DFG-Förderung wider. 1990 standen koordinierte Programme und Normalverfahren im Mittelvolumen etwa gleich,32 heute beträgt die Relation zwei Drittel zu einem Drittel. Beachtenswert ist, dass die DFG oder andere Drittmittelgeber nach meinem Wissen bislang keinen Katalog von Merkmalen förderungswürdiger Kooperativität erstellt haben; die Gutachter bewerten intuitiv nach ihren Vorstellungen und Erfahrungen. Empirisch lässt sich dagegen der Umfang der Förderungsmaßnahmen erfassen.33 Für aufschlussreiche Ergebnisse zur ‚projektförmigen Forschung‘ in den kooperationsarmen oder kooperationsintensiven Fächerkulturen eignen sich die Statistiken, die von der DFG jährlich oder für größere Zeiträume zu ihrer Förderungspraxis erstellt werden.34 Als Stichprobe für die Reichweite koordinierter Programme der DFG sei die Statistik zum Jahr 2002 angeführt,35 die nur unwesentliche Varianten zu den Bilanzen vorausgegangener und folgender Jahre zeigt. Ausgewiesen wird, dass in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften die ‚projektförmige Forschung‘ – gemessen an der Erfolgsquote der Förderung – eine erheblich geringere Bedeutung hat als in den anderen Fächerkulturen.36 Das Förderungsprogramm ‚Graduiertenkolleg‘, das von den Geistes-
|| 30 Erfasst werden „DFG-Bewilligungen und weitere Basisdaten öffentlich geförderter Forschung“; Datenbasis sind die Jahre 1999–2001; vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft, FörderRanking 2003. Institutionen – Regionen – Netzwerke, Bonn 2003. 31 Ebd., S. 55. – In der „Förderstudie“ ist der „vernetzten Forschung in koordinierten Programmen der DFG“ ein eigenes Kapitel gewidmet (S. 55–72), für die koordinierten Programme werden die besonderen Leistungen der DFG bezeichnet: 54% aller bewilligten Mittel kommen diesen Förderprogrammen zugute (vgl. S. 57). 32 Vgl. Schönert, Konstellationen und Perspektiven kooperativer Forschung, S. 395. 33 Ich folge hier Lange, Vernetzte Wissenschaft, S. 276f. 34 Die Studie Förder-Ranking 2003 legt dar (S. 35–39), dass – in der Zusammenschau der eingesetzten unterschiedlichen Indikatoren – das ‚DFG-Verhalten‘ der disziplinären Gruppierungen und Institutionen weithin den prinzipiellen Forschungsprofilen und Forschungsleistungen entspricht. 35 Deutsche Forschungsgemeinschaft: Jahresbericht 2002, Aufgaben und Ergebnis, Bonn 2003, bes. Kap. 3: „Koordinierte Programme“, S. 112–126. 36 Vgl. auch zu Kooperationsformen in den unterschiedlichen disziplinären Strukturen Paul Thagard, Collaborative Knowledge, in: Nous 31 (1997), H. 2, S. 242–261.
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und Gesellschaftswissenschaften intensiv beansprucht wird, ist nur mit Einschränkungen dem Arbeitsfeld ‚projektförmige Forschung‘ zuzurechnen. Finanzielle Anteile am Gesamtvolumen der eingesetzten Förderungsmittel Fächergruppen
Geistes-und Gesellschaftswissenschaften
Biowissenschaften
Naturwissenschaften
Ingenieurwissenschaften
2002 Sonderforschungsbereiche(SFB):13% Graduiertenkollegs (GK): 27% Schwerpunktprogramme (SPP): 10% Forschergruppen (FG): 17%
SFB: 42% GK: 29% SPP: 27% FG: 35% SFB: 22% GK: 31% SPP: 29% FG: 26% SFB: 23% GK: 13% SPP: 33% FG: 23%
Nur bei den Graduiertenkollegs erreichen die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften in etwa Gleichstand mit den Bio- und Naturwissenschaften, in den anderen Programmen rangieren sie im Durchschnitt 10 oder 20 Prozentpunkte hinter den Prozentanteilen der konkurrierenden disziplinären Gruppen.
2. Kollegialforschung in der (germanistischen) Literaturwissenschaft Ich konzentriere ich mich nun auf Konstellationen und Entwicklungen in der Forschungspraxis der Literaturwissenschaft, insbesondere auf meine Erfahrungen mit der Germanistik. Literaturwissenschaft gilt mir als ein philologischer Fünfkampf mit den Einzelübungen von Edition und Kommentar, Textanalyse und Interpretation, Literaturgeschichtsschreibung, Gegenstandstheorie und Methodologie sowie der Fachgeschichte. Dazu tritt die Trainingslehre der auf diese Disziplinen bezogenen Kodifizierungsleistungen der Handbücher, Lexika,
304 | Jörg Schönert der sog. Modellanalysen und Musterinterpretationen sowie der literaturgeschichtlichen Darstellungen und Editionen von Begleittexten. Die kooperative Praxis setzte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts vor allem für Sammlungs- und Archivierungsleistungen und die daraus erwachsenden Wörterbücher, Lexika und kritischen Text-Editionen durch. Die Unternehmungen der Brüder Grimm, die Lessing-Edition von Lachmann-Muncker sowie die Denkmäler deutscher poesie und prosa aus dem VIII.–XII. jahrhundert (1873) von Karl Müllenhoff und Wilhelm Scherer könnten für solche Verbundprojekte, die von wenigen Personen getragen wurden, als prototypisch gelten. Dennoch hat Kooperativität beispielsweise im fachgeschichtlichen Standardwerk Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 1991 herausgegeben von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp, nur eine marginale Stellung. Allein im Beitrag von Jan-Dirk Müller zu „Moriz Haupt und die Anfänge der ‚Zeitschrift für deutsches Altertum‘“ (S. 141–164) erfahren wir, dass Haupt und seine Bundesgenossen Vorstellungen von der Großgruppe einer anonymen, aber einander zuarbeitenden ‚Forschergemeinschaft‘ hegten oder auf kooperative Produktivität aus noch zu formierenden ‚Gesellschaften‘ von Wissenschaftlern und Wissenschaftsfreunden setzten. Holger Dainat hat unlängst darauf verwiesen, dass sich seit dem frühen 19. Jahrhundert an der Preußischen Akademie der Wissenschaften mit den thematisch orientierten Kommissionen „eine neue Form wissenschaftlicher Gemeinschaftsarbeit für Forschungsvorhaben entwickelt“,37 wobei sich die Neuphilologien vor allem an den Unternehmungen der Klassischen Philologen orientieren. Die Altertumswissenschaften und das weiter gefächerte Forschungsfeld der Geschichtswissenschaft, aber kaum die Neuphilologien partizipieren dann um 1900 an der Konzeption von Großforschungsprojekten.38 In der Germanistik war Gustav Roethe der erste Fachvertreter, der die „Rolle eines Organisators des wissenschaftlichen Großbetriebs“ übernahm.39 Dennoch ist das „HarnackPrinzip“ in den Arbeitsfeldern der Literaturwissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Sinne einer prägenden Vorgabe für Kooperationsleistungen || 37 Holger Dainat, Klassische, Germanische, Orientalische Philologie, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010, Bd. 4: Genese der Disziplinen. Die Konstitution der Universität, Berlin 2010, S. 319–338, hier S. 329. 38 Vgl. dazu Spoerhase, Big humanities, S. 15, und Holger Dainat, Klassische und Germanische Philologien, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010, Bd. 5: Transformation der Wissensordnung, Berlin 2010, S. 461–494, hier S. 463: In den Altertumswissenschaften vollzieht sich unter der Führung von Theodor Mommsen die „Umstellung auf eine großbetriebliche Forschung“. 39 Dainat, Klassische und Germanische Philologien, S. 477.
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nicht eigentlich angekommen. Größere Arbeitsgruppen – zumeist ohne eine herausragende Führungsperson – konzentrierten sich auf den traditionellen Bereich der Wörterbücher, Lexika und Editionen. Neue Konstellationen zeichneten sich erst im Verlauf der 1960er Jahre ab. Die Lehrstuhlinhabern zugeordneten Oberseminare konnten themenzentriert zu ‚Werkstätten der Forschung‘ entwickelt werden;40 in ihren Formationen sind sie der Bildung von ‚Schulen‘ um 1900 vergleichbar. In dieser Hinsicht leistete beispielsweise Friedrich Sengle beeindruckende Forschungsorganisation mit der Zuarbeit von Examenskandidaten und Wissenschaftlichen Mitarbeitern für das literaturgeschichtliche Projekt seiner Biedermeierzeit (3 Bde., 1971–1979); die große Gruppe der Beteiligten wird in der dreibändigen Publikation namentlich erwähnt. Im Gegensatz zu der Lehrer-Schüler-Struktur war die Zusammenarbeit der Gruppe Poetik und Hermeneutik im Hinblick auf gleichberechtigte Partizipation und Impulsgebung durch Leitfiguren organisiert; zum ersten Treffen kam es 1963, das letzte fand 1994 statt.41 Die Publikation der „Vorlagen und Verhandlungen [Diskussionsverläufe]“ der ersten Zusammenkunft erschien unter dem Titel Nachahmung und Illusion, herausgegeben von Hans Robert Jauß (München 1964). Dass neben den vorab eingereichten Referaten auch Zusammenfassungen der Diskussionen dokumentiert wurden, war als ein Novum anzusehen.42 Die Gruppe verstand sich als ein offener Verbund mit einem konstanten Kern und wechselnden weiteren Teilnehmern. Ein völlig anderes Kooperationsprojekt für Veröffentlichungen resultierte um 1970 aus der Praxis der Vorbereitung und Durchführung von Seminaren im Grundstudium in der Zusammenarbeit von Lehrenden und Studierenden. Hierfür als exemplarisch anzusetzen ist das von Gert Mattenklott und Klaus R. Scherpe initiierte Westberliner Projekt: Grundkurs 18. Jahrhundert (2 Bde., Kronberg i.Ts. 1974). Die Einzelleistungen wurden anonymisiert zugunsten eines (für das Ganze verantwortlichen) ‚Kollektivs‘.43 Allein die Kooperation von Lehrenden für die Gestaltung eines literaturwissenschaftlichen Grundkurses und die
|| 40 Vgl. Schönert, Konstellationen und Perspektiven kooperativer Forschung, S. 388. 41 Vgl. die Beiträge zum Schwerpunkt-Thema Poetik und Hermeneutik in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 35 (2010), H. 1, S. 46–142. 42 Diesem Verfahren folgten dann auch die Berichtbände zu den Germanistischen Symposien der DFG, die Albrecht Schöne 1974 begründet hatte. 43 Erhalten wurde dagegen der Status individueller Verfasserschaft beispielsweise in Jörg Schönert (Hrsg.), Carl Sternheims Dramen. Zur Textanalyse, Ideologiekritik und Rezeptionsgeschichte, Heidelberg 1975; der Band geht zurück auf ein Proseminar an der Universität München. Die studentischen Beiträger und der Herausgeber diskutierten und bearbeiteten in einer Folge von internen ‚workshops‘ die Einzelkapitel.
306 | Jörg Schönert daraus resultierenden Erfahrungen bestimmten das Ullstein TB 2941 mit dem Titel Literaturwissenschaft. Eine Einführung für Germanisten; es wurde 1972 von einer Aachener Autorengruppe um Dieter Breuer veröffentlicht. In der nachfolgenden langen Reihe solcher „Einführungen“ wurde des Öfteren, aber nicht regelhaft an diesen Typus gemeinschaftlicher Lehrwerke angeschlossen. In den 1970er Jahren konnte man den Eindruck gewinnen, dass mit der Hinwendung zur ‚Sozialgeschichte der Literatur‘ an germanistischen Instituten der bundesdeutschen Universitäten Kooperativität im philologischen Arbeitsfeld der Literaturgeschichtsschreibung Einzug gehalten hätte.44 Die bis dahin bestimmende monographische Verfahrensweise einer alleinigen Verfasserschaft oder des Zusammenführens von umfangreichen Beiträgen aus einer Kleingruppe sollte abgelöst werden durch entschiedene Teamarbeit. Inwieweit sich die zeitaufwändigen und kostenintensiven Verfahrensweisen der planenden Exposés, der koordinierenden Workshops und der intensiven Redaktionsarbeiten in den Kostenkalkulationen der Verlage und im akademischen Alltag der Autoren durchsetzen konnten, lässt sich an der langjährigen Entwicklungsgeschichte der Hanser’schen Sozialgeschichte der Literatur verfolgen. Der 1980 ersterschienene Band 3 zur Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, herausgegeben von Rolf Grimminger, war aus eingehender (und vom Verlag gut finanzierter) Zusammenarbeit der 15 beteiligten Autoren entstanden. Acht Jahre später signalisierte der Alleingang von Gert Ueding mit Band 4 zu „Klassik und Romantik“ bereits eine mögliche Rückkehr zum traditionellen Verfahren, und in der Folgezeit näherten sich die von einer Autorengruppe bestrittenen Bände immer mehr dem Prinzip eines (kaum koordinierten) Sammelbandes an. 45 Im Extremfall – so beim 2009 letzterschienenen Band 9 (herausgegeben von Wilhelm Haefs) – wird sogar das Nebeneinander unterschiedlicher methodologischer Konzepte bestimmend. Und bei David Wellberys als ‚innovativ‘ konzipierter Literaturgeschichte, 2004 erschienen,46 haben wir es auf rund 1200 Seiten || 44 Vgl. dazu u.a. ders., Vom gegenwärtigen Elend einer Sozialgeschichte der Literatur, in: ders. (Hrsg.), Perspektiven zur Sozialgeschichte der Literatur, Tübingen 2007, S. 5–41, ders., Sozialgeschichte als ‚umbrella term‘? Zur konzeptionellen Ausrichtung der Bände 1–12 von „Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur“ http://fheh.org/images/fheh/material/schoenertsozgesch.pdf,2009 [letzter Zugriff am 16. Januar 2015] und Gerhard Sauder, Sozialgeschichte der Literatur: ein gescheitertes Experiment?, in: KulturPoetik 10 (2010), H. 2, S. 250–263. 45 Dieses Verfahren prägte zunehmend auch die Folgebände zu den zwischen 1980 und 1983 ersterschienenen Bänden 4-9 in Horst A. Glasers sozialgeschichtlichem Konkurrenzprojekt des Rowohlt-Verlags. 46 David Wellbery u.a. (Hrsg.), Eine Neue Geschichte der deutschen Literatur, Berlin 2007 [Orig. 2004].
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mit einem bunten Strauß aus mehr als 200 literaturgeschichtlichen Feuilletons zu tun. So verwundert es nicht, dass derzeit als Musterfall überzeugender literaturgeschichtlicher Praxis wieder ein monographisches Werk gilt: Peter Sprengels zweibändige Darstellung zur Geschichte deutschsprachiger Literatur zwischen 1870 und 1918, 1998 und 2004 im Beck-Verlag München veröffentlicht. Im literaturwissenschaftlichen Arbeitsfeld von Literaturtheorie und Methodologie wurden seit den 1970er Jahren von kleineren Autorengruppen oder Einzelautoren verantwortete kommentierte Quellenpublikationen, die sog. Reader, bestimmend,47 die von auswertenden methodengeschichtlichen Darstellungen ergänzt werden konnten. Ein rühmenswertes Exempel zu Neuere Literaturtheorie haben Tilmann Köppe und Simone Winko jüngst als „Eine Einführung“ veröffentlicht (Stuttgart 2007). Dass ein neues methodisches Konzept im Team ausgearbeitet wurde, hatte selbst in den kooperationsfrohen 1970er und 1980er Jahren Seltenheitswert. Produktiv war die Siegener NIKOL-Gruppe zur Empirischen Literaturwissenschaft um Siegfried J. Schmidt.48 Im Rahmen der Münchner Forschergruppe zur Sozialgeschichte der Literatur49 hatte ich in der sog. Theoriegruppe mitgearbeitet; Renate von Heydebrand, Dieter Pfau, ClausMichael Ort, Friederike Meyer und Bernhard Jendricke waren die Co-Autoren von Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der Literatur (Tübingen 1988), die aus mehrjähriger Teamarbeit im Austausch intensiv kommentierter Typoskripte hervorgegangen ist. Wenige Spuren hat Kooperativität im zentralen Arbeitsgebiet der Literaturwissenschaft hinterlassen: in Textanalyse und Interpretation. Ebenfalls in der Praxis einer DFG-Forschergruppe, nämlich der Hamburger Unternehmung zur Narratologie, sind zwei Buchprojekte mit transgenerisch-narratologischen Lyrik-Interpretationen zur englischen und deutschsprachigen Literatur entstanden und publiziert worden: 2005 von Peter Hühn und Jens Kiefer zur englischen Literatur, 2007 von Peter Hühn, Malte Stein und mir zur deutschsprachigen Literatur.50 Letztlich wurden die einzelnen Textanalysen, die in den Details
|| 47 Beispielsweise Jürgen Hauff u.a. (Hrsg.), Methodendiskussion. Arbeitsbuch zur Literaturwissenschaft, Bd. 1 u. 2, Frankfurt a.M. 1971. 48 Vgl. die „Festsite“ zum 60. Geburtstag von S. J. Schmidt im WWW (2000). http://www.sjschmidt.net/index2.htm [letzter Zugriff am 16. Januar 2015]. 49 Vgl. Jörg Schönert, Sozialgeschichte der Literatur – ein vorübergehendes Meteor? Ein Rückblick auf die DFG-Forschergruppe „Sozialgeschichte der Literatur“ (1979–1986) an der Universität München [Vortrag 2008], 2010, http://fheh.org/images/fheh/material/ schoenertmuenchensoz.pdf [letzter Zugriff am 16. Januar 2015]. 50 Peter Hühn u. Jens Kiefer, The Narratological Analysis of Lyric Poetry. Studies in English Poetry from the 16th to the 20th Century, Berlin u. New York 2005; Jörg Schönert u.a., Lyrik und
308 | Jörg Schönert ihrer Verfahrensweisen unterschiedlich gewichtet sind, von einem Autor namentlich verantwortet. Doch wurden alle Beiträge gemeinsam in einer dreijährigen Folge von Arbeitssitzungen und späteren Kommentierungen der digitalisierten Fassungen erörtert. Eine solche Arbeitsweise bestimmte auch die Redaktion der eingeworbenen Beiträge für das in Hamburg konzipierte Handbook of Narratology (herausgegeben von Peter Hühn u.a., Berlin u. New York 2009), es folgt dem rühmenswerten Vorbild des neuen Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft aus den Jahren 1997–2003. Allerdings wurden von den vier Herausgebern des narratologischen Handbuchs die Artikel nicht mehr mit Farbstiften im Papierausdruck bearbeitet, sondern im digitalisierten Status mit der Korrektur- und Kommentarfunktion. Als „Living Handbook“ soll die Parallel-Publikation im WWW (seit 2010) darüber hinaus nach dem Wiki-Prinzip – zunächst allerdings nur von registrierten Nutzern – durch korrigierende und ergänzende Kommentare sowie zusätzliche Beiträge erweitert werden.51 Auf diese aktuellen Möglichkeiten netzgestützter Zusammenarbeit in der Literaturwissenschaft will ich abschließend kurz eingehen. Zuvor greife ich nach dem Mustern von unterschiedlichen Praxisformen kooperativer Literaturwissenschaft noch ein terminologisches Problem auf: Inwieweit lassen sich solche Erfahrungen mit den Nomenklaturen von akademischer ‚Schule‘ und wissenschaftlich produktivem ‚Kollektiv‘ in Beziehung bringen?52 Dabei folge ich dankbar Hinweisen von Ralf Klausnitzer und seinen Ausarbeitungen zum Aspekt von ‚Schule‘.53
|| Narratologie. Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Berlin u. New York 2007. 51 Siehe lhn:http://www.lhn.uni-hamburg.de [letzter Zugriff am 16. Januar 2015]. 52 Ein markantes Signal für die Wissenschaftsforschung zu diesem Problemkreis setzte Ludwik Fleck bereits 1935 mit seiner Studie Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv (Frankfurt a.M. 1980). 53 Ich beziehe mich auf Ralf Klausnitzer, „Denkkollektiv“ oder „Klüngelsystem“? Schulen und Schulenbildung in den textinterpretierenden Disziplinen und die Entstehung, Durchsetzung, Verhinderung von Innovationen, in: Hartmut Kugler (Hrsg.), http://www.germanistik2001.de./ Vorträge des Erlanger Germanistentags 2001, Bd. 2, Bielefeld 2002, S. 991–1015 und ders., Wissenschaftliche Schule. Systematische Überlegungen und historische Recherchen zu einem nicht unproblematischen Begriff, in: Lutz Danneberg u.a. (Hrsg.), Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion (I), Frankfurt a.M. u.a. 2005, S. 31–64.
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3. Denkkollektive, wissenschaftliche Schulen und Kollegialforschung Wissenschaftliche Schulen54 sind als eine besondere Organisationsform von kommunikationsintensiver Zusammenarbeit zu verstehen;55 sie zeichnen sich gegenüber anderen Formen kooperativer Praxis durch erhebliche Kohärenz, eine prägende Lehrer-Schüler-Struktur und ihre Zielvorstellung aus: Sie kämpfen um die Geltung ihrer Wissensansprüche,56 die aus einem Forschungsprogramm mit einem markanten methodologischen Konzept resultieren. Klausnitzer wies 2002 darauf hin, dass seit den 1970er Jahren in den sozialistischen Ländern, insbesondere in der UdSSR und DDR, das Interesse der Wissenschaftsforschung an der spezifischen Kollektivität wissenschaftlicher Schulen verstärkt wurde.57 Sozialistische Kollektivforschung wird dann gegenüber bürgerlicher Kollegialforschung profiliert – nicht zuletzt mit Hilfe von Zitaten aus Marxens Kapital.58 Helmut Steiner kennzeichnete Schulen in einem || 54 Vgl. ders., ‚Denkkollektiv‘, S. 992: „Wissenschaftliche Schule“ meint den Bezug auf „kohärente Gruppen und kollektive Strukturen bei der Produktion, Distribution und Kanonisierung von Wissensansprüchen.“ 55 Vgl. ders., Wissenschaftliche Schule, S. 39: Schule wird primär als „generationenübergreifende Kommunikationsgemeinschaft mit besonderer kognitiver und sozialer Kohärenz“ gesehen; eine Schule hat ein bestimmtes Forschungsprogramm mit einem methodologisch orientierenden Konzept (vgl. ebd., S. 56). 56 Klausnitzer verweist dazu auf Ludwik Flecks ‚Denkkollektive‘, die um Geltung von Wissensansprüchen kämpfen; insofern sieht Klausnitzer in Schulen besondere Organisationsformen kooperativer Praxis, bestimmt durch „kollektive Akzeptanz von Geltungsansprüchen“ (ders., Denkkollektiv, S. 1004 – Hervorhebung i.O.). – In dieser Hinsicht ist kooperative Wissenschaftspraxis als ein vorgängig-neutraler Begriff zu verstehen, der nicht mit der Durchsetzungsabsicht bestimmter Wissensansprüche verbunden ist. 57 Vgl. ebd., S. 997. Exemplarisch dafür ist die Publikation „Wissenschaftliche Schulen. Bd. 1“ mit einer paritätisch besetzten Herausgebergruppe (Semen R. Mikulinskij, Michail G. Jaroševskij, Günter Kröber und Helmut Steiner), erschienen in Berlin 1977 als Bd. 11.1 der Reihe „Wissenschaft und Gesellschaft“. Hrsg. vom „Institut für Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaft“ der Akademie der Wissenschaften der DDR durch Günter Kröber. Der Band ist ein Gemeinschaftsprojekt vom „Institut für Geschichte der Naturwissenschaft und Technik“ der Akademie der Wissenschaften der UdSSR mit dem „Institut für Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaft“ der Akademie der Wissenschaften der DDR. 58 Vgl. etwa Aleksandr Pavlovič Ogurcov, Die wissenschaftliche Schule als Form der Kooperation der Wissenschaftler, in: Semen R. Mikulinskij u.a. (Hrsg.), Wissenschaftliche Schulen, Bd. 1, Berlin 1977, S. 322–336, hier S. 324: „Die Kooperation wird von Marx als die unmittelbare Wechselwirkung mehrerer Arbeiter betrachtet, die ein und dasselbe Ergebnis anstreben. Im Kapital definiert er die Kooperation wie folgt: ‚Die Form der Arbeit vieler, die in demselben Produktionsprozeß oder in verschiedenen, aber zusammenhängenden Produktionsprozessen
310 | Jörg Schönert Beitrag aus dem Jahr 197759 durch „zielstrebige sowie streng kontrollierte Planung und Leitung schöpferischer Tätigkeit“60 in der „Kollektivität des gesamten Forschungsprozesses“; für diesen Prozess ergibt sich eine „dialektische Einheit von individuellem und kollektivem wissenschaftlichen Schöpfertum“.61 Ungeklärt bleibt jedoch, wie sich diese Dialektik entfalten soll – etwa durch intensive Kommunikation, Planung oder Kontrolle? Das Forschungsprogramm von Kooperativität bzw. Kollektivität wird in diesem Zeitraum insbesondere an den Akademien der Wissenschaften umzusetzen versucht. In der DDR wurden im Zuge der Akademie-Reform, die in den späten 1960er Jahren einsetzte, die sog. Zentralinstitute gegründet – so für die Literaturwissenschaft der Neuphilologien das „Zentralinstitut für Literaturgeschichte (ZIL)“, dem mit dieser Denomination eine möglichst theoriearme Praxisbestimmung zugewiesen war. Petra Boden und Dorothea Böck haben in sieben ausführlichen Interviews mit wichtigen Mitgliedern dieses Instituts seinen Status, seine Entwicklungsphasen, seine Leistungen und seine Personengeschichte erkundet.62 Merkwürdigerweise nehmen die Gespräche – von einer Ausnahme abgesehen63 – auf die Praxisformen von Kooperativität und Kollektivität keinen Bezug. Auch in der kollektiven Vorzeigepublikation Gesellschaft – Literatur – Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht (Berlin und Weimar 1973) ist in der „Einleitung“ (S. 5–13) davon keine Rede, obwohl die Einzelkapitel den im || planmäßig neben- und miteinander arbeiten.‘“ Die wissenschaftliche Schule gilt Orgurcov als ein Realisierungstyp für Kooperation von Wissenschaftlern (vgl. ebd., S. 326, auf den Folgeseiten 327–330 werden sinnvolle Kriterien zur Kennzeichnung von Wissenschaftlichen Schulen benannt). 59 Vgl. Helmut Steiner, Soziale und kognitive Bedingungen wissenschaftlicher Schulen in Geschichte und Gegenwart, in: Semen R. Mikulinskij u.a. (Hrsg.), Wissenschaftliche Schulen, Bd. 1, Berlin 1977, S. 82–156, hier S. 136: Eine wissenschaftliche Schule sei die „soziale Organisationsform kollektiver schöpferischer Tätigkeit, deren elementare Struktur im Lehrer-SchülerVerhältnis besteht.“ 60 Ebd., S. 83. – Weniger dogmatisch als Steiner zeigt sich Hubert Laitko, Der Begriff der wissenschaftlichen Schule – theoretische und praktische Konsequenzen seiner Bestimmung, in: Semen R. Mikulinskij u.a. (Hrsg.), Wissenschaftliche Schulen, Bd. 1, Berlin 1977, S. 257–290. 61 Steiner, Soziale und kognitive Bedingungen, S. 149f. 62 Vgl. Petra Boden u. Dorothea Böck (Hrsg.), Modernisierung ohne Moderne. Das Zentralinstitut für Literaturgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR (1969–1991). Literaturforschung im Experiment, Heidelberg 2004; die Interviews wurden geführt mit Werner Mittenzwei, Manfred Naumann, Robert Weimann, Hans Kaufmann, Silvia und Dieter Schlenstedt, Fritz Mierau und Klaus Städtke; dazu stehen ein Prolog zur Vor- und Gründungsgeschichte des Instituts sowie ein Epilog „Was folgt“ und eine Sammlung von Dokumenten aus dem Darstellungszeitraum (u.a. zur „Forschungsplanung“). 63 Im Interview mit Werner Mittenzwei (ebd., S. 70f.).
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Titel genannten Mitgliedern des Autorenkollektivs nicht persönlich zugeordnet werden.64 Das am Zentralinstitut wenig geliebte Auftragsprojekt einer zwölfbändigen nationalen Literaturgeschichte im Volk und Wissen-Verlag, die Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, wartet in der Titelei der einzelnen Bände mit einer eindrucksvollen Inszenierung von Kollektivleistungen auf. Ich nehme Band 11 als Beispiel: die Geschichte der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik, 1976 erschienen. Mehrere Kollektive sind bezeichnet: zunächst die Herausgebergruppe für die Bände der Neueren deutschen Literatur (Hans-Günther Thalheim als Vorsitzender, dazu Günter Albrecht, Kurt Böttcher, Hans Jürgen Geerdts, Horst Haase, Hans Kaufmann, Paul Günter Kron, Dieter Schiller; als Sekretär: Georg Wenzel), dann das Autorenkollektiv für Band 11 unter der Leitung von Horst Haase und Hans Jürgen Geerdts mit Richard Kühne und Walter Pallus – diese Vierergruppe besteht aus den Hauptautoren mit ihnen zugeordneten Großkapiteln, dazu kommen weitere 23 Autoren von integrierten Beiträgen, eine Redaktionsgruppe sowie zwei Hauptgutachter für den Gesamtband (Dieter Schiller und Alexander Dymschitz) und drei Teilgutachter (Gottfried Fischborn, Walfried Hartinger, Anneliese Löffler); die unterstützenden Institute von DDR-Universitäten und der Moskauer Akademie der Wissenschaften werden mit Danksagungen bedacht. Zu fragen bleibt: Ist solche ‚Kollektivität‘ die Pathos-Formel für konsequent demokratische Wissenschaft oder die wohlgefällige Attrappe für Auftragsarbeit, strikte Planung und Kontrolle sowie Orientierung an der Leistungsfähigkeit der Durchschnittlichen? Womöglich sind deshalb nach 1990 Impulse aus der ehemaligen DDR für verstärkte kooperative Praxis zur Wissenschaftsentwicklung in der neuen Bundesrepublik nicht erfolgt.65 Die Soziologin Grit Laudel hat in ihrer Bielefelder Dissertation von 1998, veröffentlicht 1999 als Interdisziplinäre Forschungskooperation. Erfolgsbedin|| 64 Die Autoren sind Manfred Naumann (Leitung und Gesamtredaktion), Dieter Schlenstedt, Karlheinz Barck, Dieter Kliche und Rosemarie Lenzer; die Publikation ist dem Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR zugeordnet. – Vgl. zur Praxis des Autorenkollektivs auch: Autorenkollektiv (unter Leitung von Wilfried Schröder), Französische Aufklärung. Bürgerliche Emanzipation, Literatur und Bewußtseinsbildung, Leipzig 1974. 65 Vgl. dazu Schönert, Konstellationen und Perspektiven kooperativer Forschung, S. 386; siehe zur DDR-Germanistik insbesondere die Publikationen von Rainer Rosenberg und Petra Boden – zudem Jens Saadhoff, Germanistik in der DDR. Literaturwissenschaft zwischen „gesellschaftlichem Auftrag“ und disziplinärer Eigenlogik, Heidelberg 2007, sowie Jan Cölln u. Franz-Josef Holznagel (Hrsg.), Positionen der Germanistik in der DDR. Personen – Forschungsfelder – Organisationsformen, Berlin u. Boston 2013.
312 | Jörg Schönert gungen der Institution „Sonderforschungsbereich“ (Berlin 1999),66 eine detaillierte Typologie zur Kennzeichnung von Praxisformen der Kooperativität und deren empirischer Kontrolle ausgearbeitet.67 Ihre „Arbeitsdefinition“ für Forschungskooperation zur „Wissenserzeugung“68 lautet: „Kooperation ist ein Zusammenhang von Handlungen mehrerer Akteure, die in funktioneller Hinsicht auf die Erreichung eines Arbeitsziels hin koordiniert werden, das den Zielen oder Interessen der Akteure entspricht.“69 Als spezifische Interaktionsform wird Kooperation zumeist ‚prozessförmig‘ gestaltet;70 dabei sind auch unterschiedliche Formen „koordinierenden Handelns“ einzuschließen, das nicht unmittelbar auf das Erreichen der Forschungsziele ausgerichtet ist, aber entsprechende Aktionen ermöglicht oder unterstützt.71 Für kooperative Forschungsprozesse unterscheidet Laudel arbeitsteiliges Vorgehen von Kombinationen primär zielbezogener Aktionen mit diesen unterstützenden Handlungsweisen.72 Zu beachten sind also sowohl die unterschiedlichen Aktionsformen als auch die Art und Weise ihrer Korrelation. Hilfreich für die kennzeichnende Beschreibung von Forschungskooperativität sind auch die von Laudel rubrizierten „Indikatoren zur Bestimmung von Kooperation“ (sie reichen von Ko-Autorenschaft zur Publikation der Forschungsergebnisse bis hin zu diesbezüglichen Danksagungen)73 sowie die Hinweise zu „Einflußfaktoren auf Kooperation“ (funktionelle, ökonomische und soziale Faktoren sowie kulturell-ethische Aspekte).74 Unter Einbezug der Untersuchungsergebnisse von Laudel versuche ich eine Bilanz zu Beschreibungsmöglichkeiten für wissenschaftliche Kooperativität zu ziehen. Unter der Voraussetzung der ‚modernen‘ flachen Hierarchien in akademischer Praxis erfordert eine solche Zusammenarbeit intensive Kommunikation zugunsten von gemeinsam geteiltem Wissen, wohlbedachte Koordination zugunsten eines zielgerichteten gemeinsamen Vorgehens sowie arbeitsteilige Kooperation im Aneignen und Hervorbringen von Wissensansprüchen. Das || 66 Siehe auch den Verweis bei Spoerhase, Big humanities, S. 21, Anm. 66. 67 Laudel, Interdisziplinäre Forschungskooperation, S. 29–49. Empirischer Bezugsbereich für Laudels Untersuchungen sind Kooperationen in den Naturwissenschaften. 68 Ebd., S. 32f. 69 Ebd., S. 32. 70 Vgl. ebd., S. 31. 71 Ebd., S. 34f. – Zu denken ist an Service-Leistungen unterschiedlicher Art, an das Bereitstellen von Geräten oder die Weitergabe von ‚know-how‘ (siehe auch ebd., S. 162–166). 72 Vgl. ebd., S. 40: Tab. 2-1 zur „Typisierung von Forschungskooperation“. 73 Ebd., S. 42: Tab. 2-2. 74 Ebd., S. 42–49, siehe auch S. 228–236; dort werden zudem „institutionelle Faktoren“ einbezogen (wie beispielsweise die Organisation von kooperativen Forschungsprozessen in den Sonderforschungsbereichen der DFG).
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prozessual arbeitsteilige, in Teilbereichen aufeinander bezogene und auf schließliche Integration abgestellte Vorgehen kann dazu führen, die lokalen und regionalen Begrenzungen von Forschungsaktivitäten in disziplinärer, interdisziplinärer und internationaler Gemeinschaft aufzuheben. Idealiter soll hierarchisch-institutionell organisierte Zuarbeit in selbstbestimmte Zusammenarbeit zwischen mehr oder weniger gleichgestellten Forschungspersonen überführt werden. Kooperativität ist graduierbar; sie reicht von der erhaltenen Sichtbarkeit der Einzelpersonen bis hin zu deren Zurücknahme in Kollektiven. Ohne erhebliche Probleme lässt sich in den Geisteswissenschaften zumeist die Zusammenarbeit von zwei Partnern für Projekte und Publikationen organisieren; bei Dreier- oder Vierergruppen ist die Koordination schon erheblich erschwert. In der literaturwissenschaftlichen Praxis wird sich Kooperativität nur dann im stärkeren Maße durchsetzen können, wenn die dabei erbrachten Leistungen für die einzelnen Beteiligten als Gewinne in der akademischen Reputation für Qualifizierungen – nicht zuletzt in Berufungsverfahren – ausgewiesen werden können. Die damit verbundenen Probleme der Zurechenbarkeit von individuellen Leistungen sind seit den Diskussionen der 1970er Jahre zur Bewertungen von Gruppenarbeit der Studierenden bekannt. Derzeit behilft man sich bei Publikationen mit abgestuften Auszeichnungen der Autorschaft wie ‚Ko-Autorschaft von X und Y‘, ‚X in Zusammenarbeit mit Y‘ (Y ist etwas nachgeordnet) oder ‚X unter Mitarbeit von Y‘ (Y leistete deutlich nachgeordnete Zuarbeit).
4. Netzgestützte Wissenschaftskooperation Dieses Markierungsproblem verschärft sich, wenn nicht nur Veröffentlichungen betroffen sind, sondern auch die Dokumentationen von kooperativen Prozessen, wie sie heute in netzgestützten Kommunikations- und Kooperationsforen ermöglicht werden. Mehrjährige Erfahrungen dazu haben wir in der Hamburger Forschergruppe Narratologie gewonnen; Tanja Lange hat den damit verbundenen Problemkomplex der technischen Voraussetzungen, der Nutzungspraxis und ihrer Akzeptanz in ihrer 2009 eingereichten Dissertation dargestellt: Ein Modell für netzbasierte Kommunikation und Kooperation in den Geisteswissenschaften: der Systemkomplex e-Port/NarrPort.75 Die Leitfrage lautet: Wie sind die || 75 Seit 2011 verfügbar unter http://ediss.sub.uni-hamburg.de/frontdoor.php?source_opus=5544 [letzter Zugriff am 16. Januar 2015]; ich folge in meinem Text in auswählender Weise Vorgaben und Formulierungen der Autorin aus Lange, Vernetzte Wissenschaft und dies., Ein Modell für netzbasierte Kommunikation, Kapitel 1 und 2.
314 | Jörg Schönert normativen Erwartungen an ‚moderne Wissenschaft‘ als ‚Kooperation in Netzwerken‘ mit den aktuellen Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnik für die Forschungspraxis in den Geisteswissenschaften zu verbinden? Solchen Erwartungen könne nachgekommen werden, wenn die Möglichkeiten der prozessorientierten Informations- und Kommunikationstechnik [...] sowohl für den Informationsaustausch in einem definierten [und zugangsbeschränkten] Verbund [der Kooperationspartner] als auch für das Erörtern und Vermitteln von Forschungsergebnissen [mit ‚open access‘] im World Wide Web (WWW) genutzt werden. Sich auf die neuen Kommunikationstechnologien einzulassen, heißt zunächst, Wissenschaftskommunikation im Sinne bereits erprobter Kooperation zu unterstützen und zu erleichtern. Zudem sind neue Wege der Zusammenarbeit zu eröffnen, um zu verstärkter gemeinschaftlicher Arbeit aufzufordern, so dass neben dem ereignishaften Geschehen in der Wissenschaft – wie Konferenzen und Publikationen – auch die Arbeitsprozesse, die dahin führen und daran angeschlossen werden, kooperativ [zu gestalten und darzustellen] wären.76
Digitale Infrastrukturen unterstützen und fördern den kooperativen Austausch von personen- und institutionenbezogenen Wissensbeständen. Tanja Lange verfolgt die seinerzeitigen Diskussionen im Bezug auf drei Thesen: (1.) Die aktuelle netzbasierte Informations- und Kommunikationstechnik (IuK) verändert Kommunikation und Kooperation in den Wissenschaften; in diese Veränderungen sind die Geisteswissenschaften einbezogen. (2.) In Wissenschaftspolitik und Wissenschaftsförderung werden derzeit normative Erwartungen zugunsten von ‚Forschungsnetzwerken‘ sowie kooperativen Lehr- und Lernumgebungen formuliert; darauf lassen sich die Theorie- und Praxisfelder von ‚Computer Supported Cooperative Work (CSCW)‘ und ‚Computer Supported Cooperative Learning (CSCL)‘ beziehen. (3.) Netzgestützte Wissenschaft erprobt neue Vorgehensweisen – zurückhaltend in der Forschung und experimentierfreudiger in der Lehre. [Dabei gilt:] Die netzbasierte Kommunikations- und Informationstechnik [...] verändert Kommunikation und Kooperation auch in den (Geistes-) Wissenschaften.77
Im Jahr 2000 legte der Wissenschaftsrat der Bundesrepublik Deutschland 10 Thesen zur Wissenschaftsentwicklung vor. Die These 4 gilt der „Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien“: „Die neuen Möglichkeiten zur Arbeitsteilung und Kooperation in der Forschung, die sich durch den vermehrten Einsatz elektronischer Kommunikationsmittel ergeben, bedürfen der nachhaltigen Förderung.“78 Die damit angesprochenen innovativen Prozesse
|| 76 Dies., Vernetzte Wissenschaft, S. 271. 77 Ebd., S. 271f. 78 Wissenschaftsrat, Thesen zur künftigen Entwicklung des Wissenschaftssystems in Deutschland, Köln 2000, S. 28–33, hier S. 31.
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lassen sich unter drei wichtigen Perspektiven betrachten: (1.) Mit Blick auf die Anwendungen netzbasierter und multimedialer Software-Unterstützung für Kommunikation und Kooperation in den Wissenschaften: Im WWW werden nicht nur im großen Umfang Informationen vermittelt, sondern web-basierte Anwendungen und Werkzeuge (im Sinne von Arbeitsmitteln) ermöglichen im wachsenden Maße auch Kooperationen; die Integration von Kommunikationsund Kooperationsleistungen geschieht mit Hilfe der ‚collaborative technologies‘. (2.) Mit Blick auf Entwicklungen exemplarischer Modelle zur IuKUnterstützung der wissenschaftlichen Arbeit, aus der grundlegende Veränderungen in Wissenserwerb und Wissensaustausch sowie in den Vorgehensweisen von Lehre und Forschung folgen können. (3.) Mit Blick auf die Relevanz für prinzipielle Probleme der Erforschung wissenschaftlicher Praxis und für spezielle Interessen zu Entwicklungsmöglichkeiten der Geisteswissenschaften.79 So wäre zu fragen: Wie können oder wie sollen sich die Arbeitsformen in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen durch IuK-basierte Arbeitsmittel und web-geprägten Wissenserwerb sowie Wissensaustausch zugunsten von mehr Kooperativität verändern?80 Es ist hier nicht der Ort, das aktuelle Leistungsspektrum der ‚interactive science‘ zu mustern – etwa am Beispiel des überregionalen Drittmittelprojekts zu „Interne Wissenschaftskommunikation über digitale Medien“, das im Förderungsprogramm „Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften“ derzeit von der VolkswagenStiftung unterstützt wird und – wie es heißt – das ‚kollaborative Paradigma‘ im Forschungsverbund „Interactive Science“ entwickeln soll.81 Mit || 79 Vgl. dazu beispielsweise die Beiträge in der Sektion 5 („Virtualisierung II“) des Erlanger Germanistentags; sie galten dem „Computereinsatz in Forschung, Lehre und Unterricht“, insbesondere für die Bereiche von Edition und Publikation, Fachkommunikation und Deutschunterricht. Hartmut Kugler (Hrsg.), www.germanistik2001.de. Vorträge des Erlanger Germanistentages, Bd. 2, Bielefeld 2002, S. 695–816. 80 Vgl. Thomas Gloning, Interne Wissenschaftskommunikation im Zeichen der Digitalisierung. Formate, Nutzungsweisen, Dynamik, in: ders. u. Gerd Fritz (Hrsg.), Digitale Wissenschaftskommunikation – Formate und ihre Nutzung, Giessener Elektronische Bibliothek 2011, S. 3–33, http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2011/8227/ [letzter Zugriff am 16. Januar 2015], S. 29f.: er verweist auf die zögerliche kollaborative Nutzung interaktiver WWW-Formate in den Geisteswissenschaften; siehe auch Lange, Ein Modell für netzbasierte Kommunikation, Kap. 8. Zu prinzipiellen Konstellationen für die wissenschaftliche Praxis vgl. Michael Nentwich, Das Web 2.0 in der wissenschaftlichen Praxis, in: Gloning u. Fritz (Hrsg.), Digitale Wissenschaftskommunikation, S. 35–53. 81 Vgl. Gloning u. Fritz, Digitale Wissenschaftskommunikation – es werden folgende Teilprojekte bearbeitet: TP 1: Wissensmanagement und Demokratisierung, TP 2: Wissenschaftliche Präsentationen, TP 3: Der wissenschaftliche Vortrag und seine digitale Dokumentation, TP 4: Wissenschaftliche Information, Kritik und Kontroverse in digitalen Medien. Erforscht werden
316 | Jörg Schönert solchen Projekten zum ‚kollaborativen Erzeugen unterschiedlicher textlicher Formate‘ wird die bislang erfolgreiche Praxis netzgestützter Kooperation im Erstellen von umfangreichen und differenziert nutzbaren Datenbanken zur Archivierung von Sachinformationen82 oder das kooperative Ausarbeiten komplexer Texteditionen für die Praxis des akademischen Alltags deutlich erweitert. Ein mögliches Szenario will ich doch zum Abschluss meines Streifzugs durch Geschichte und Gegenwart der Wissenschaftskooperation am Beispiel der in diesem Band dokumentieren Tagung kurz ansprechen und damit zugleich für einen neuen Publikationstyp zur Dokumentation von wissenschaftlichen Tagungen werben – für die ‚koordinierte Publikation‘ als Ergebnis ‚koordinierter Forschung‘, dem bevorzugten Förderungsbereich der Drittmittelgeber. Damit könnte auch der gängigen Kritik an den sog. Sammelbänden begegnet werden,83 wie sie unlängst wieder von Gerd Schwerhoff in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vorgetragen wurde.84 An Schwerhoffs Erwartungen zu einer primären netzgestützten Dokumentation von Tagungsergebnissen (mit ‚open access‘) knüpfe ich an und beziehe mich für die technische Gestaltung des Kommunikations- und Publikationsvorgangs auf detaillierte Ausführungen eines Exkurses in Kapitel 2.5 der Dissertation von Tanja Lange. Für mein Möglichkeitsszenario gehe ich vom Beispiel der in diesem Band dokumentierten Konferenz aus. Das Tagungsprogramm war auch auf dem || u.a. Potentiale und Probleme im Nutzen von digitalen Medien im Sinne von ‚cyberscience‘ – beispielsweise für die kollaborative und performative Dimension wissenschaftlicher Binnenkommunikation (gestützt auf ‚social software‘) und damit verbundene wissensdemokratische Ansprüche. Vgl. zudem Interaktiva. Schriftenreihe des Zentrums für Medien und Interaktivität, Gießen im Campus-Verlag Frankfurt a.M., dort u.a.: Michael Nentwich u. René König, Cyberscience 2.0. Research in the Age of Digital Social Networks, Frankfurt a.M. 2012 (Interaktiva 11). 82 Als literaturwissenschaftliches Fernziel wäre vorzuschlagen, zugeordnet zu den großen Spezialsammelgebieten der deutschen Bibliotheken mit kooperativem Vorgehen umfangreiche bibliographische, biographische und sachinformative Datenbanken aufzubauen (z.B. zu Weimarer Klassik und Romantik), die zeit- und ortsunabhängig, international und interdisziplinär zur Kommentierung von Texteditionen zur deutschsprachigen Literatur genutzt werden können. 83 Vgl. zur Karriere des Sammelbandes Schönert, Konstellationen und Perspektiven kooperativer Forschung, S. 405; die aufbereitete Dokumentation einer Fachkonferenz wäre neben den Festschriften ein wichtiger Typus der Sammelbände. 84 Vgl. Gerd Schwerhoff, Entschleunigung der Forschung – aber wie? Es wird mehr geschrieben als gelesen, und die Sammelbände sind ein Ärgernis. Für eine neue Publikationskultur in den Geisteswissenschaften, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.08.2011; der Verfasser plädiert dafür, disziplinäres Wissen nicht in zurückhaltend redigierten Sammelbänden zu zerstreuen, sondern editorisch besser zu konzentrieren und zu bündeln, damit solches Wissen intensiv wahrgenommen, erörtert und bewertet werden kann.
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FHEH-Portal veröffentlicht worden;85 dort könnten – so imaginiere ich – auch Ergebnisse der Tagung eingestellt und öffentlich wahrgenommen werden. Wenn dem Portal ein zugangspflichtiges internes Kommunikations- und Kooperationsforum mit aktueller ‚social software‘ zugeordnet wäre, ließen sich wichtige Prozesse der Konferenzvorbereitung – wie das orientierende Exposé, ausführliche bibliographische Informationen, Links zu relevanten Portalen, einzuholende und zu kommentierende ‚abstracts‘ sowie darauf bezogene erste Diskussionen – bereits im Vorlauf zur Tagung mit Zugriff für die Beteiligten darstellen, und ebenso könnte nach ihrem Abschluss das Tagungsgeschehen kooperativ ausgewertet werden (beispielsweise durch wissenschaftsbezogene Mailing Lists, Wiki-Blogs oder andere Web 2.0-Anwendungen). Der Verlauf der Tagung ließe sich mit relevantem Material der Vorgeschichte, dem Text der Vorträge und Zusammenfassungen der Diskussionen innerhalb einer kurzen Bearbeitungszeit als Dokumentation im ‚open access‘ veröffentlichen.86 Für eine Print-Publikation, die von der vollständigen Repräsentation des Tagungsgeschehens zu entlasten ist, wären in einem solchen Szenario für die zu überarbeitenden Referate und die redaktionell auszuwertenden Diskussionen deutliche normative Vorgaben im Hinblick auf Qualität und Kohärenz der Einzelbeiträge vorzusehen (mit Mut zum Verzicht auf solche Texte, die sich nicht in eine strenge thematische Konsistenz der Beiträge fügen) – mit dem Anspruch, nur forschungsförderndes Wissen vermitteln zu wollen und einem (noch auszuarbeitenden) ‚Ethos der Kooperativität‘ verpflichtet zu sein. Ein solches Ethos kann durch eine ‚koordinierte Publikation‘ dieses Zuschnitts Reputationsgewinne sowohl für die Herausgeber als auch für die Beiträger begründen. Um nicht missverstanden zu werden: Für Fortschritt in den Geisteswissenschaften halte ich Kooperativität durchaus nicht für den Königsweg,87 dazu ist
|| 85 www.fheh.org [letzter Zugriff am 16. Januar 2015], das Portal der Forschungsstelle für Historische Epistemologie und Hermeneutik am Institut für deutsche Literatur der HumboldtUniversität zu Berlin. 86 Dazu müsste man sich beispielsweise für die Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaften u.a. auf editorische Minima einigen, die rechtliche Fragen der Zurechnung an Urheber und der Weiterverwertung regeln und die Pflege der digitalen Dokumentationen auf zuverlässig administrierten Plattformen sicherstellen. 87 Vgl. zur Kritik von Modernisierungsforderungen an die Geisteswissenschaften bereits Peter Brenner, Das Verschwinden des Eigensinns. Der Strukturwandel der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft, in: ders. (Hrsg.), Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1993, S. 21–65, hier S. 42–45 (zu „Entindividualisierung und Kollektivierung der Forschung“). – Die pauschal-kritische Kenn-
318 | Jörg Schönert bislang die Relation zwischen den zu erzielenden Leistungen und dem erheblichen Aufwand von Zeit und Arbeitskraft zu wenig geprüft worden. 88 Bewertende Aspekte habe ich hier zugunsten eines zunächst beschreibenden und bilanzierenden Vorgehens ausgeblendet und für meinen Beitrag den ursprünglichen Vortragstitel „Zu Fron und Frommen kooperativer Praxis in der Literaturwissenschaft“89 wieder verworfen. Individualforschung gehört auch heute und in Zukunft unabdingbar zum Leistungsprofil der Geisteswissenschaften. Doch ist es an der Zeit, die neuen Möglichkeiten netzgestützter Kommunikation und Kooperation nicht nur mit Pathos zu verkünden, sondern intensiv und detailliert zu gestalten sowie zugleich die pauschalen normativen Erwartungen der Drittmittelförderung zu bedenken.90 Dass die sog. projektförmige Forschung auch einer besonderen Wissenschaftsethik bedarf, habe ich bereits in meinem Beitrag aus dem Jahr 1993 angesprochen;91 aus den inzwischen gewonnenen Erfahrungen ließe sich noch einiges hinzusetzen. Vor allem aber sollte ‚Kooperativität‘ in ihren unterschiedlichen Praxisformen (bis hin zur Großforschung) in der Wissenschaftsforschung als markanter Gegenstandsbereich etabliert werden. Damit folge ich dem Plädoyer von Hans-Harald Müller in der Dokumentation der fachgeschichtlichen Marbacher Tagung vom Dezember 2009.92 Doch vielleicht beginnen wir || zeichnung projektförmiger Forschung als „Kollektivierung“ wird heute ersetzt durch genauere Erkundung unterschiedlicher Verfahrensweisen zum kooperativen Forschungshandeln. 88 Vgl. zu den Mühen und Problemen der Kollegialforschung in Drittmittelförderung (mit den Routinen der Anträge, Teambesprechungen, Mittelverwaltungen und Rechenschaftslegungen) etwa Schönert, Konstellationen und Perspektiven kooperativer Forschung, S. 399–403. 89 Vgl. in diesem Sinne (für den Erfahrungsbereich der Philosophie) auch Don Fallis, The Epistemic Costs and Benefits of Collaboration. In: Southern Journal of Philosophy 44 (2006), S. 197–208. 90 Vgl. Spoerhase, Big humanities, S. 26: Im Hinblick auf ihre Förderungswürdigkeit durch Drittmittel stellen heute die Geisteswissenschaften zunehmend auf Kooperativität in Verbundforschung um und richten ihre Drittmittelanträge entsprechend aus. Allerdings bleibe zu erkunden, inwieweit sich im Umsetzen solcher Anträge die Forschungspraxis derart verändert, dass dadurch zu einem disziplinären „Umbau“ beigetragen werde. – Problematisch erscheint mir, dass die Entscheidung zugunsten von kooperativem Forschungshandeln primär aus dem Wettstreit um Drittmittel resultiert. 91 Vgl. Schönert, Konstellationen und Perspektiven kooperativer Forschung, S. 401f. 92 Vgl. Hans-Harald Müller, Keine Forschung zur geisteswissenschaftlichen Großforschung? Anmerkungen zu einem Beitrag von Carlos Spoerhase, in: Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 37/38 (2010), S. 27–31. Zu thematisieren und auszuarbeiten bliebe etwa die Besonderheit von ‚Kooperationskultur‘ in der aktuellen geisteswissenschaftlichen Verbundforschung. Ich danke Hans-Harald Müller für hilfreiche Hinweise hinsichtlich der Forschungsdiskussionen zu meinem Thema.
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erst einmal mit einem bescheidenen, aber – es versteht sich – interdisziplinär ‚vernetzten‘, ‚effizienten‘ und ‚nachhaltigen‘ Projekt, das ‚zielführend‘ die ‚hochspannende‘ Suche nach den Pathosformeln der Kooperativität in Drittmittelanträgen und Arbeitsberichten betreibt.
Ruth Amossy
Das Ethos des Wissenschaftlers im Spannungsfeld von Neutralität und Engagement Einleitung Bevor ich mich der Thematik des wissenschaftlichen Ethos zuwende, würde ich gern kurz den Begriff ‚Ethos‘ erläutern, wie er in der gegenwärtigen Rhetorik und in der französischen Diskursanalyse verstanden wird. Ursprünglich ist das Ethos – als das ‚Selbstbild‘, das der Sprecher in seiner Rede erkennen lässt – einer der drei Pfeiler der Kunst der Überzeugung: Für Aristoteles ist es Teil der Trias Logos – Ethos – Pathos, in der sich das Ethos auf die Person des Sprechers bezieht, der Logos auf die Rede selbst und das Pathos auf die Adressaten. Anders gesagt haben die Eigenschaften des Redners einen entscheidenden Einfluss auf seine Zuhörer, und dieser Einfluss wird von Aristoteles als eines der wirkungsvollsten Instrumente definiert, einer bestimmten These Überzeugungskraft zu verleihen. Allerdings vertritt Aristoteles eine rein diskursive Konzeption von rhetorischem Ethos: Er bezieht sich auf das Selbstbild, das der Sprecher in seiner Rede konstruiert, nicht auf das Bild, das man sich von vornherein von seiner Person macht – d. h. nicht auf seinen Ruf, seinen sozialen Status, seine institutionelle Autorität etc. Diese diskursive Definition des Ethos wurde von der französischen Diskursanalyse übernommen und von einem ihrer führenden Theoretiker, Dominique Maingueneau, weiterentwickelt.1 Maingueneau übernimmt zwar diesen Begriff aus der Rhetorik, er befreit ihn jedoch von dem gesamten Apparat, der ihn seinem Wesen nach mit der Kunst der gezielten Überzeugung verknüpft. Für Diskursanalytiker, deren Ziel es ist, das Funktionieren des Diskurses an der Schnittstelle von sprachlichen und soziokulturellen Bedingungen zu erklären, ist Ethos das Selbstbild des Sprechers, das ein Diskurs projiziert; dabei spielt es keine Rolle, ob dieser Diskurs in schriftlicher oder mündlicher Form geführt wird, ob er darauf zielt, die Zuhörer von etwas zu überzeugen oder nicht, oder ob er kalkuliert oder spontan ist. Anders gesagt ist das Ethos integraler Bestandteil des Sprachgebrauchs eines sprechenden Subjekts und als solcher nicht notwendigerweise oder nur zum || 1 Vgl. Dominique Maingueneau, Ethos, scénographie, incorporation, in: Ruth Amossy (Hrsg.), Images de soi dans le discours. La construction de l’ethos, Lausanne 1999, S. 75–101.
322 | Ruth Amossy Teil das Ergebnis der bewussten Anstrengungen des Redners, sich in einem besonderen Licht darzustellen. Meine eigene Forschung in dem Bereich, den ich ‚Argumentation im Diskurs‘ (argumentation in discourse) genannt habe,2 stützt sich sowohl auf die rhetorische Argumentationstheorie als auch auf die französische Diskursanalyse. Sie beruft sich auch auf die Arbeit Erving Goffmans, dessen „presentation of self“ beschreibt, auf welche Weise jeder Teilnehmer an einer sozialen Interaktion notwendigerweise durch sein Verhalten, seine Intonation etc., ebenso wie durch das gesprochene Wort ein Bild seiner selbst projiziert. Er hebt dabei die Rolle hervor, die der zumeist unbewusst bleibenden Selbstdarstellung innerhalb der gegebenen Handlungsrahmen zukommt. Wie ich in meinem Buch La présentation de soi (in Anknüpfung an Images de soi dans le discours3) gezeigt habe, ist das Ethos das Selbstbild, das ein Sprecher in seinem Diskurs mithilfe seiner sprachlichen Mittel auf der Grundlage seines ‚vorgegebenen Ethos‘ (‚prior ethos‘; dem Bild seiner Person, das bereits in Umlauf ist) konstruiert, indem er dieses bereits existierende Bild ständig überarbeitet, um es neuen Gegebenheiten anzupassen. Diese Selbstdarstellung ist ein bestimmender Faktor des Diskurses und begleitet somit, ob gewollt oder nicht, jede Äußerung. Sie wird in einem dialogischen Rahmen realisiert – das heißt, in einer bestimmten Interaktion, in der das vermittelte Selbstbild per definitionem für einen Anderen bestimmt ist – und von einem bestimmten sozialen und institutionellen Rahmen sowie einer gesellschaftlichen Erwartungshaltung (dem Fundus an Stereotypen, über den eine bestimmte Kultur zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügt) geformt. Somit ist das Ethos eine feste Größe, zugleich aber dynamisch, insofern es stets in neuen Interaktionen, nicht nur bedingt durch die Regeln des jeweiligen Diskurstyps, sondern auch durch die sich ändernden Umstände, umgeformt werden kann und muss. Als Analyseansatz für verbale Kommunikation bietet die ‚Argumentation im Diskurs‘ eine Methode, um zu untersuchen, inwiefern das Ethos im Diskurs sprachlich und sozial konstruiert wird. Obwohl ich keine Expertin in Sachen Wissenschaftsdiskurs bin, habe ich bereits in La présentation de soi versucht, einige Fälle der Selbstdarstellung zu erläutern, bei denen das Bemühen, alle verbalen Spuren des Sprechers zu beseitigen, eine Garantie für Glaubwürdigkeit und Autorität bieten soll. Von diesen Diskursen, in denen häufig die Erwähnung eines ‚Ich‘ fehlt und durch die Verwendung der dritten Person verwischt wird, auf wen die Äußerung zurückgeht, habe ich exemplarische Fälle von journalistischen Nachrichtentex|| 2 Vgl. Ruth Amossy, La présentation de soi. Ethos et identité verbale, Paris 2010. 3 Dies. (Hrsg.), Images de soi dans le discours. La construction de l’ethos, Lausanne 1999.
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ten, philosophischen Texten und wissenschaftlichen Diskursen untersucht. In letzterem Fall wird der Logos vom Ethos verdeckt; das heißt, dass die Person des Sprechers hinter einer rationalen Darstellung verschwinden muss, die sich soweit wie möglich jeder subjektiven Verankerung entledigt hat. Mein Ziel war es in erster Linie, die sprachliche Konstruktion des ‚neutralen Ethos‘ zu erläutern, das auf einer diskursiven Aktivität der Spurenbeseitigung beruht. In dem vorliegenden Aufsatz verfolge ich jedoch ein anderes Ziel. Indem ich das wissenschaftliche Ethos in den Geistes- und Sozialwissenschaften, genauer gesagt in Analysen politischer Diskurse, untersuche, befasse ich mich nicht nur mit der sprachlichen Konstruktion von Neutralität. Ich möchte vielmehr darlegen, dass diese allgemein akzeptierte Dimension der Neutralität für eine präzise Definition und ein eingehendes Verständnis des wissenschaftlichen Ethos nicht ausreicht. Meine These ist, dass das Ethos in den Sozialwissenschaften auf einer konstitutiven Spannung beruht, mit der im Diskurs umgegangen werden muss, und dass der Umgang mit dieser Spannung auf verschiedene Arten geschehen kann, wobei er nicht nur von individuellen Strategien abhängt, sondern auch von den sich verändernden oder strittigen Vorstellungen vom Auftrag des Sozialwissenschaftlers. Ich meine hier die Spannung zwischen einem Bild, das von einem Ideal der Neutralität ausgeht, und den verschiedenen Bildern, die mit dem Status einer Einzelperson verknüpft werden, die am politischen Leben bzw. emotional oder praktisch an der politisch-gesellschaftlichen Realität, der ihre Forschung gewidmet ist, teilhat. Diese Selbstbilder reichen vom Sozialkritiker bis zum empörten Ankläger, vom in seiner Pflicht stehenden Intellektuellen bis zum engagierten Bürger oder gar zum Aktivisten. Meine These ist, in anderen Worten, (1.) dass das Bild, das der wissenschaftliche Diskurs in den Sozialwissenschaften (und hier in Analysen des politischen Diskurses) konstruiert, per definitionem die Anwesenheit eines aktiven Gesprächsteilnehmers, eines engagierten, von Werten, Überzeugungen und Gefühlen bewegten Subjekts, einschließt, und (2.) dass, wenn man ein annehmbares wissenschaftliches Ethos projizieren will, die Spannung zwischen den verschiedenen, bisweilen antithetischen Bildern zu einer Lösung gebracht werden muss. Das führt zu einem problematischen Punkt, zu der Frage, was in der Analyse des politischen Diskurses als wissenschaftliches Ethos anerkannt werden kann und in welchem Maße die Anerkennung des Bildes vom aktiv beteiligten Subjekt die Normen und konventionellen Grenzen des wissenschaftlichen Ethos verändert. Diese Frage wurde bereits von Sozialwissenschaftlern und Diskursanalytikern diskutiert, und kontroverse Debatten führten hier zu verschiedenen Vorstellungen über die Person des Forschers, die wir berücksichtigen müssen, wenn wir das wissenschaftliche Ethos untersuchen.
324 | Ruth Amossy Ich werde zuerst den Stand der Forschung zum wissenschaftlichen Ethos kurz zusammenfassen und anschließend untersuchen, inwiefern die Diskussion über die Parteilichkeit des Forschers den zentralen Status und die Relevanz der wissenschaftlichen Neutralität in Frage stellt. Ich werde so zu meiner Hauptthese kommen, dass das wissenschaftliche Ethos Bilder einschließt, die vom Ideal der Neutralität abweichen: Es erweist sich als nötig, verschiedene Strategien zu entwickeln, um einander widersprechende Bilder in Einklang zu bringen und sie in ein konsensfähiges Gesamtbild des Forschers zu integrieren. Ich werde schließlich versuchen, anhand konkreter Beispiele aus der political discourse analysis, die auf verschiedenen Auffassungen über den Auftrag des Sozialwissenschaftlers beruhen, zu zeigen, wie solche Selbstbilder verbal und rhetorisch konstruiert werden. An dieser Stelle möchte ich mein Ziel angeben. Ich will weder in die aktuelle Diskussion über die wissenschaftliche Neutralität eingreifen noch die Frage beantworten, ob der Sozialwissenschaftler sich in der einen oder anderen Form politisch engagieren sollte. Stattdessen möchte ich einen analytischdeskriptiven Ansatz dafür erarbeiten, dass die political discourse analysis eine Vielzahl von Ethoskonstruktionen zulässt, wobei sie eine konstitutive Spannung zwischen sich widersprechenden Tendenzen erkennen lässt. Ein solcher deskriptiver Ansatz sollte zu einem besseren Verständnis von wissenschaftlicher Praxis führen (zumindest, soweit es um Politik geht), indem er die mit ihr verbundenen Probleme, Dilemmata und möglichen Aporien aufzeigt. Wie man sieht, bin ich, wenn ich einen ‚analytisch-deskriptiven Ansatz‘ wähle und behaupte, nicht in die Kontroverse einzugreifen, bereits mitten in der Thematik, die ja erst noch zu klären ist. Das kann kaum überraschen. Als Diskursanalytikerin und Rhetorikerin vermag ich der Ethos-Konstruktion, die ich untersuche, selbst nicht zu entgehen… Ich hoffe dennoch, dass der vorliegende Aufsatz dabei helfen wird, mein eigenes Ethos als Diskursanalytikerin zu analysieren.
1. Ethos im wissenschaftlichen Diskurs: zum Stand der Forschung Die zentrale Rolle des Ethos im wissenschaftlichen Diskurs steht heute im Mittelpunkt zahlreicher Studien in der Linguistik und der Rhetorik. Die folgende Darstellung stützt sich auf wichtige Vorarbeiten, die, auch wenn sie unterschiedlichen Disziplinen entstammen und sich methodisch unterscheiden, über ihre Unterschiede hinaus einige Gemeinsamkeiten aufweisen. Die wichtigste sie verbindende Grundlage ist ein entschieden diskursiver und rhetorischer Ansatz
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zur Analyse der Wissenschaft, genauer gesagt zur Analyse der Art und Weise, in der Wissen im Diskurs konstruiert, legitimiert und verbreitet wird. Somit wird wissenschaftlicher Diskurs nicht länger als unmittelbare und transparente Reflexion von Wahrheit, als die objektive Darstellung einer bestehenden Realität definiert. Er wird als situationsbezogene Aktivität betrachtet, bei dem eine bestimmten Regeln unterworfene Interaktion zwischen dem Autor und seinen Partnern in der wissenschaftlichen Debatte das Hervorbringen neuen Wissens und dessen Integration in einen Fundus des allgemein anerkannten Wissens ermöglicht. Aus einer stärker soziologisch geprägten Perspektive betrachtet, ermöglicht diese Interaktion auch die Integration des Wissenschaftlers in den Forschungsbereich, innerhalb dessen er von seinen Kollegen anerkannt werden muss und sich Position und Ansehen zu sichern sucht (Bourdieu). Aus dieser Gesamtperspektive scheint es offensichtlich zu sein, dass wissenschaftlicher Diskurs nicht nur in Relation zu dem gesellschaftlichen Phänomen, das Gegenstand seiner Untersuchung ist, sondern auch im Zusammenspiel mit wissenschaftlicher Kommunikation und der scientific community verstanden werden muss. Der Forscher muss ein Fachpublikum von der Relevanz und Richtigkeit seiner Erkenntnisse überzeugen, und er tut das, indem er die rhetorischen Mittel einsetzt, die im Rahmen eines Gebiets, das seinen eigenen Normen und Regeln folgt, als die wirksamsten gelten. Obwohl dieser Ansatz weithin bekannt ist, werde ich der Klarheit halber versuchen, kurz zusammenzufassen, was die Analyse der Ethos-Konstruktion ihm verdankt.4 In einer Sonderausgabe der Zeitschrift Configurations mit dem Titel „Scientific Ethos: Authority, Authorship, and Trust in the Sciences“ verbinden Segal und Richardson das Ethos der Wissenschaft, wie es von Merton definiert wurde, mit dem aristotelischen Verständnis des rhetorischen Ethos.5 Wie Merton in seiner Arbeit von 1942 ausführt, besteht das wissenschaftliche Ethos aus einem Normensystem, das die Wissenschaftler in ihrer Praxis leitet. Diese umfassen den Universalismus (ob eine Proposition als wahr anerkannt wird, muss unabhängig von der Person sein, die sie formuliert hat), den ‚Kommunismus‘ (die freie Zirkulation von Wissen), die Uneigennützigkeit und den organisierten Skeptizismus. Segal und Richardson betonen jedoch, dass die Institution Wissenschaft nicht für sich selbst sprechen oder in eigenem Interes-
|| 4 Eine gute Übersicht findet sich in Fanny Rinck, L’analyse linguistique des enjeux de connaissances dans le discours scientifique, in: Revue d’anthropologie des connaissances 4 (2010), H. 3, S. 427–450. 5 Judy Segal und Alan W. Richardson, Scientific Ethos: Authority, Authorship, and Trust in the Sciences, in: Configurations 11 (2003), H. 2, S. 137–144.
326 | Ruth Amossy se handeln könne:6 sie spreche durch die Wissenschaftler;7 des Weiteren werde die Glaubwürdigkeit jedes Wissenschaftlers und jeder Wissenschaftlerin durch den ihnen verliehenen Status verstärkt, also durch die Befähigung, als von der Institution Wissenschaft Anerkannte(r) zu sprechen.8 Somit gilt, dass the conventions of scientific writing are not only a means for authors to demonstrate their conformity with norms of scientific practice, they are also for them a means to assert, by their very use of deference to these conventions of scientific authorship, their membership in the community for which they write; that assertion is, at the same time, an assertion of an entitlement to speak.9
Das wirft die Frage nach der Autorschaft auf, die in der Analyse des wissenschaftlichen Diskurses häufig untersucht wird,10 sowie Fragen, die die sprachlichen Mechanismen der Legitimierung und der positiven Selbstdarstellung betreffen. Auf der Ebene der Diskursanalyse setzt dies detaillierte Untersuchungen zu der Frage voraus, wie der Wissenschaftler in seinem Diskurs ein Selbstbild konstruiert. Er tut das, indem er sich, absichtlich oder als Ergebnis eines beruflichen Habitus, an die Normen wissenschaftlichen Schreibens im Allgemeinen und an die seiner Disziplin im Besonderen anpasst. Dieser Versuch, bestehende Normen zu übernehmen, kommt auf verschiedenen Ebenen des Texts zum Ausdruck, zum Beispiel in seiner Struktur, der Phraseologie oder in dem im jeweiligen Fachgebiet gebräuchlichen Vokabular, sowie in der Praxis des Zitierens und der Quellenverweise – hier weisen die Namen von Autoren sowohl auf die Quelle des Wissens als auch auf die Position des Wissenschaftlers innerhalb der Disziplin hin.11 Dieser Zugang verlangt nach einer Analyse wissenschaftlicher Formulierungen sowie der Art und Weise, die es dem Sprecher erlaubt, dem Diskurs seine Subjektivität aufzuprägen,12 aber auch, deren || 6 Vgl. ebd., S. 139: „Science, as an institution, cannot speak for itself or act on its own behalf“. 7 Ebd., S. 138: „[I]t speaks through scientists“. 8 Ebd., S. 140: „And second, the credibility of an individual scientist is enhanced by his or her status as a scientist – that is, by his or her ability to speak with the institutional sanction of science“. 9 Ebd. 10 So z.B. David Pontille, Signature et travail d’attribution. Les ressorts de l’auteur scientifique, in: Réseaux 5 (2004), S. 127–128, 254f.; Francis Grossman, L’auteur scientifique. Des rhétoriques aux épistémologies, in: Revue d’anthropologie des connaissances 4 (2010), H. 3, S. 410–426. 11 Ebd., S. 419. 12 Vgl. Catherine Kerbrat-Orecchioni, L’énonciation de la subjectivité dans le discours, Paris 2002.
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Spuren zu beseitigen – ein wichtiges Phänomen, das in der französischen Linguistique de l’Enonciation mit dem Terminus „effacement énonciatif“ bezeichnet wird, womit die Beseitigung subjektiver Merkmale, der Versuch, den Sprecher unsichtbar zu machen, gemeint ist.13 Der Schwerpunkt liegt dabei auf Personalpronomen – ‚ich‘, ‚wir‘ –, auf Indefinitpronomen, auf dem Gebrauch der dritten Person,14 auf Passivkonstruktionen und auf der Hierarchie der inszenierten Stimmen, durch die eine Autorenfigur, die diese beherrscht und ordnet, trotz aller Versuche, die Sprecher-Instanz unsichtbar zu machen, zum Vorschein kommt (man spricht von ‚sur-énonciation‘). Hinzufügen sollten wir die Praxis der Eigenzitate und die polyphone Struktur des Textes, die Phänomene wie indirekte Rede und Negationen oder Adversative – ‚aber‘ usw. – einschließt.15 Die Ergebnisse deuten klar auf einen gemeinsamen Kanon von Darstellungsformen hin, zugleich aber auf Unterschiede in der Identität der Sprecher, die von der jeweiligen Forschungsdisziplin sowie von ihrem sprachlichen und kulturellen Hintergrund bestimmt sind. Sie legen den Prozess der EthosKonstruktion offen und weisen auf die Parallelbewegung hin, durch die der Sprecher versucht, sich als Autor unsichtbar zu machen, eben dadurch aber seine Anwesenheit verrät. In der Regel scheint jedoch das Ideal der EthosKonstruktion mit einem Bild des Wissenschaftlers verknüpft zu sein, das mit der vorherrschenden akademischen Norm der Neutralität übereinstimmt. Das Sichunsichtbar-Machen oder der Aufwand, der betrieben wird, um die subjektive und persönliche Quelle des Texts zu verschleiern, werden in diesen Untersuchungen nicht in Frage gestellt. Das zeigt nur das Ausmaß, in dem die Normen und Grenzen dieser Verschleierung je nach dem spezifischen Rahmen variieren. Außerdem wird damit betont, dass der Wissenschaftler selbst nicht abwesend ist: Der Sprecher im Text ist per definitionem eine sprachliches und rhetorisches Konstrukt.
|| 13 Vgl. Robert Vion, ‚Effacement énonciatif‘ et stratégies discursives, in: Monique De Mattia und Joly André (Hrsg.), De la syntaxe à la narratologie énonciative, Gap und Paris 2001, S. 331– 354; Gilles Philippe, L’appareil formel de l’effacement énonciatif et la pragmatique des textes sans locuteur, in: Ruth Amossy (Hrsg.), Pragmatique et analyse des textes, Tel-Aviv 2002, S. 17–34. 14 Ken Hyland, Authority and invisibility. Authorial identity in academic writing, in: Journal of Pragmatics 34 (2002), S. 1091–1112; Nigel Harwood, (In)appropriate Personal Pronoun Use in Political Science: A Qualitative Study and a Proposed Heuristic for Future Research, in: Written Communication 23 (2006), S. 424–450. 15 Vgl. Kjersti Flottum, Dhal Tryne und Kinn Torrod, Academic Voices. Across Languages and Disciplines, Amsterdam, Philadelphia 2006, S. 4.
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2. Die widersprüchlichen Ethè des Wissenschaftlers. Die Kontroverse um den Status des Forschers Wenn wir jedoch unser Augenmerk auf das Spezifische der jeweiligen Forschungsdisziplin richten, erkennen wir, dass in den Sozialwissenschaften das neutrale Ethos, das Wissenschaftlichkeit garantiert, höchst problematisch ist. Betrachten wir etwa den Analytiker des politischen Diskurses. Er sieht sich offensichtlich ernsten Problemen gegenüber, wenn er sich der Untersuchung einer bestimmten Rede, einer Wahlkampagne, einer öffentlichen Debatte über ein Thema von allgemeinem Interesse oder dem Diskurs sei es einer politischen Partei, sei es einer öffentlichen Person widmet. Sein Bemühen um Neutralität wird vom Charakter der Sprache durchkreuzt sowie von einem mehr oder weniger bewussten Impuls, in die politisch-gesellschaftliche Realität, an der er als Bürger teilhat, einzugreifen. Er ist nicht nur in den Gegenstand der Diskussion einbezogen, über den er möglicherweise eine eigene Meinung hat, sondern sein Analysewerkzeug unterscheidet sich auch nicht grundlegend vom analysierten Material. Aus linguistischer Perspektive erinnert uns Roselyne Koren daran, dass der Sprache stets die Werte der Sprachgemeinschaft anhaften und dass die Äußerung jeweils von der historisch-gesellschaftlichen Situation bestimmt wird.16 Anders gesagt ist die Sprache, die ich in der political discourse analysis verwende, auf der semantischen Ebene selbst schon politisch (die Wortwahl impliziert bereits eine Interpretation), genau wie auf der interdiskursiven Ebene (mein Diskurs ist Teil eines Geflechts aller zur gleichen Zeit zirkulierenden Diskurse und bestärkt diese oder bezieht gegen sie Stellung) und auf der argumentativen Ebene (mein Argument beruft sich auf gemeinsame Prämissen und eine allgemeingültige Doxa). Wie kann ich also den wissenschaftlichen Diskurs völlig vom politischen Diskurs trennen, wie den Forscher vom Forschungsgegenstand, wie die analytische Argumentation von common sense-Ansichten? Neutralität erscheint hier als schwer zu fassendes Ziel. Das gilt noch mehr, wenn der gewählte Forschungsgegenstand ‚heikel‘ ist, d. h. wenn das Thema ideologisch, ethisch, politisch oder emotional aufgeladen ist, sodass es für die Forscherin und ihre Adressaten schwierig ist, Distanz zu wahren.17 Der Möglich|| 16 Vgl. Roselyne Koren, L’engagement de l’un dans le regard. Point de vue d’une linguistique, in: Questions de communication 4 (2003), S. 271–278, hier S. 273. 17 Vgl. Marianne Doury, La position du chercheur en argumentation, in: Semen 17 (2004), Argumentation et prise de position: Pratiques discursives, hrsg. v. Ruth Amossy und Roselyne Koren, S. 149–163, hier S. 150f.
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keit, ein distanziertes Ethos im Diskurs zu konstruieren, wirken die faktischen Rahmenbedingungen der Forschung entgegen. Implizierte oder gar bewusst konstruierte Selbstbilder entstehen immer in einem mehr oder weniger offensichtlichen Gegensatz zum ‚neutralen Ethos‘ und sorgen somit für eine Spannung, für die eine kohärente Lösung gefunden werden muss. Allerdings ist die Thematik des wissenschaftlichen Ethos nicht auf diese Überlegungen zu reduzieren, wie jedem klar sein dürfte, der sich mit der laufenden Debatte um das Engagement des Wissenschaftlers in den Sozialwissenschaften befasst. Diese Frage wurde in einigen Artikeln diskutiert, die über mehrere Ausgaben der französischen Zeitschrift Questions de communication hinweg veröffentlicht wurden. Der zentrale Aufsatz, der von der bekannten Soziologin Nathalie Heinich verfasst wurde, trat für eine Haltung der „engagierten Neutralität“ (neutralité engagée) ein und rief damit viele Reaktionen und eine leidenschaftlich geführte Debatte hervor. Heinich unterscheidet drei „Rollen“: Die Forscherin, deren Ziel es ist, die Gesellschaft mithilfe bestimmter Methoden zu verstehen und zu erklären; die Expertin, die ihr Wissen in einem bestimmten Gebiet zum Einsatz bringt, wenn man sie zum Lösen praktischer Probleme hinzuzieht; und die „Denkerin“ (oder Intellektuelle), die versucht, eine Situation im Rahmen gewisser Werte zu rechtfertigen oder zu kritisieren, genau wie das auch jeder andere engagierte Bürger tun kann, aber unterstützt durch ihre fachlichen Fähigkeiten und ihr Ansehen. Ohne mich den Einzelheiten dieses komplexen Aufsatzes zu widmen, möchte ich betonen, dass Heinich hier soziale Rollen meint, die durch ein angemessenes sprachliches Verhalten aufrechterhalten werden müssen. In jedem Fall richtet sich der Sprecher an unterschiedliche Adressaten – Forscherkollegen, Entscheidungsträger, die öffentliche Meinung –, und zwar mit unterschiedlichen Absichten – Wissen, Handeln, Diskutieren –, mit unterschiedlichen rhetorischen Mitteln – Darlegung, Rat, Überzeugung18 – und mittels unterschiedlicher Register oder, mit Heinichs Worten, auf unterschiedlichen Ebenen der Artikulation: analytischdeskriptiv (Beschreibung eines Gegenstands – dieser Tisch ist rechteckig), evaluativ (Werturteil über einen Gegenstand – dieser Tisch ist hässlich), präskriptiv (Vorgabe, was mit dem Gegenstand angefangen werden sollte – stellen wir ihn in den Keller). Für Heinich kommt nur der analytisch-deskriptive Ansatz für den Wissenschaftler in Frage; die anderen beiden seien normativ und fielen somit aus dem Rahmen, in dem er sich professionell als Forscher bewegt – obwohl er sie auf|| 18 Vgl. Nathalie Heinich, Pour une neutralité engagée, in: Questions de communication 2 (2002), S. 117–127, hier S. 118f.
330 | Ruth Amossy nehmen kann, wenn er explizit eine Funktion als Experte übernimmt oder wenn er sich dazu entscheidet, als Individuum im eigenen Namen zu sprechen. Dieser Ansatz impliziert, dass nicht das Neutralsein (Neutralität ist in der Realität bislang unerreicht), sondern das Anstreben von Neutralität als Wert und Imperativ19 Handlungsziel des Forschers sein sollte. Eine derartige „Wertfreiheit“ (der Begriff wurde von Max Weber geprägt, auf den sich Heinich beruft) bedeutet, dass man eine methodische Distanz gegenüber den Werten der Handelnden einnimmt; sie kann nur erreicht werden, wenn der Sozialwissenschaftler die Bedingungen und Mechanismen, die die Haltungen oder die kritischen Äußerungen der Handelnden bestimmen, erklärt, statt sie lediglich zu reproduzieren.20 Das heißt nicht, dass der Sozialwissenschaftler sich gänzlich des Engagements enthält; aber für Heinich besteht dieses Engagement in der Fähigkeit, die oft widersprüchliche Logik der Handelnden aufzudecken und zum gegenseitigen Verständnis beizutragen, indem man Verbindungen und bestehende logische Zusammenhänge aufzeigt. Sie bezeichnet das als „engagierte Neutralität“, im Gegensatz zum Modell einer Sozialwissenschaft, die die Kritikfähigkeit der Handelnden stärkt, indem sie Dominanz und Unterdrückung verurteilt.21 Ich bin etwas ausführlicher auf Heinichs Aufsatz eingegangen, weil er die drei Rollen skizziert, die jedem Sprecher zur Verfügung stehen, wenn er sich sozialen Problemen oder dem politischen Diskurs widmet: Forscher, Experte, Intellektueller. Wir werden noch einmal auf deren problematische Beziehung zurückkommen müssen. Aber vorher möchte ich noch hervorheben, dass Heinichs Analyse auch die Komplexität der wissenschaftlichen Neutralität verdeutlicht, die im Versuch, die Sprecher-Instanz unsichtbar zu machen, zum Ausdruck kommt. Ihre Kommentare implizieren, dass wissenschaftliches Ethos nicht per definitionem einen unpersönlichen Diskurs verlangt, in dem die Sprecher-Instanz hinter einer ‚objektiven‘ Argumentation verschwindet. Der Sozialwissenschaftler darf deren Anwesenheit im Diskurs zulassen, er darf sogar seinen Ausgangspunkt kenntlich machen, solange er dabei keine Werturteile über das untersuchte Phänomen abgibt. Heinich zufolge verliert wissenschaftliches Ethos seine Neutralität, wenn der Diskurs wertende oder affektive Elemente enthält oder wenn in ihm eine Position bezeichnet und die distanzierte Haltung des Analytikers zum (politisch) Handelnden dadurch (zumindest teilweise) aufgegeben wird. Es gibt jedoch die Möglichkeit, dass der Autor sichtbar wird – eine These, die sich mit den Ergebnissen der oben genannten Untersuchungen || 19 Vgl. ebd., S. 121. 20 Vgl. ebd., S. 122. 21 Vgl. ebd., S. 126.
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zum wissenschaftlichen Diskurs stützen lässt: sie analysieren die verschiedenen Verwendungen der ersten Person, die Konstruktion auktorialer Autorität durch „surénonciation“ – das heißt das Beherrschen der Stimmen der Anderen22 –, Eigenzitate23, ja sogar einen eigenen ‚Stil‘, der das Erkennungszeichen einer wissenschaftlichen Persönlichkeit oder einer Gruppe (man denke an den Stil Bourdieus und seiner Anhänger) sein kann – dieser letzte Aspekt wird allerdings noch immer vernachlässigt.24 Nun wurde diese Weigerung, den „Experten“ und den „Denker“ in das wissenschaftliche Ethos einzubeziehen, von vielen Sozialwissenschaftlern aus verschiedenen Forschungsgebieten scharf kritisiert. Die Kontroverse betrifft in erster Linie die Spannung zwischen Neutralität und Engagement, oder genauer die Notwendigkeit für den Analytiker, die Distanz zu den sozial Handelnden zu wahren, und sein Recht (wenn nicht seine Pflicht), Sozialkritik zu üben oder sogar eine Anklage zu formulieren. Andere Ansätze zu diesem Thema tendieren dazu, dem wissenschaftlichen Ethos eine andere Form zu geben. Sehen wir uns einmal den letzten Punkt genauer an, der die Vorstellung betrifft, die Sozialwissenschaftler von ihrer eigenen Aufgabe haben. Worauf zielt Forschung in den Sozialwissenschaften ab? Heinich nimmt die Position der Polemikerin ein, wenn sie die Soziologie, die in der letzten Generation dominant geworden ist, kritisiert25 – eine Soziologie der Enthüllung und der Anklage, die sozial Handelnden, die für eine Sache kämpfen, die nötigen Mittel zur Verfügung stellt. Dieser Ansatz, der auf verschiedene Konzeptionen der Textanalyse ausgedehnt werden kann, wie zum Beispiel auf die ideologiekritische Analyse der Siebziger- und Achtzigerjahre, die Kritische Diskursanalyse englischer Prägung, die Kulturwissenschaft etc., wird als Ansatz dargestellt, der eine Unterscheidung zwischen dem Analytiker und dem Handelnden nicht mehr eindeutig zulässt; er macht das Ethos des Forschers zu dem eines „Denkers“ – der Wissenschaftler wird zum meinungsbildenden Intellektuellen. Obwohl
|| 22 Vgl. Francis Grossman und Fanny Rinck, La surénonciation comme norme du genre: l’exemple de recherche et du dictionnaire, in: Langages 156 (2004), H. 4, S. 34–50. 23 Vgl. Florimond Rakotonoelina, Le signalement de l’autocitation dans les discours scientifiques: le cas des sciences de l’information et de la communication, in: Travaux de linguistique 52 (2006), S. 101–113. 24 Zu erwähnen ist hier Dirk Werle, Stil, Denkstil, Wissenschaftsstil. Vorschläge zur Bestimmung und Verwendung eines Begriffs in der Wissenschaftsgeschichte der Geistes- und Kulturwissenschaften, in: Lutz Danneberg u.a. (Hrsg.), Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion (I), Frankfurt a.M. u.a. 2005 (Berliner Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 8), S. 3–30. 25 Heinich, Pour une neutralité engagée, S. 126.
332 | Ruth Amossy diese beiden Rollen von ein und demselben Individuum angenommen werden können, müssen sie Heinichs Ansicht nach klar voneinander getrennte Praktiken in klar voneinander getrennten Bereichen (dem beruflichen und dem öffentlichen) bleiben und sollten sich nicht überschneiden. Genau dieser Ansicht widersprechen viele Sozialwissenschaftler. So protestiert Erik Neveu, ein anerkannter Politikwissenschaftler, gegen den strikten Ausschluss einer anklagenden Haltung, die von Heinich als archaisch bezeichnet wird. „Es gibt Fälle“, schreibt er, „in denen das Veröffentlichen unangenehmer oder skandalöser Wahrheiten auf konfliktträchtige Art und Weise einen gesellschaftlichen Einfluss der Wissenschaft bedingt“. Diese Aussage impliziert, dass die Sozialwissenschaft gesellschaftliche Einflussnahme beabsichtigen und dass der Forscher es sich zum Ziel machen sollte, Einfluss zu nehmen. Anders gesagt: Neveu ist aufgrund des besonderen Forschungsgegenstandes der Meinung, dass die wissenschaftliche Untersuchung nicht nach reinem Wissen, entkoppelt von jeglicher sozialen Wirkung und Handlung, streben kann. Aus seiner Perspektive soll der Aufwand, der dem Verstehen und Beschreiben des gesellschaftlichen Lebens gilt, einem sozialen und politischen Zweck dienen. Warum sollte man sich mit dem Beschreiben eines Zustandes befassen, wenn nicht, um aufgrund einer Bewertung desselben praktische Schlüsse zu ziehen? Neveu stellt klar, dass er nicht an eine unmittelbare Wirkung wissenschaftlicher Untersuchungen glaubt, weil diese in Machtgefüge verstrickt sind; es sei naiv zu denken, dass ihre bloße Verbreitung die Welt verändern könne. Er vertritt jedoch die Ansicht, dass die Sozialwissenschaften dazu beitragen können, in der Öffentlichkeit Debatten anzuregen, und dass eine Inkompatibilität von Anklagehaltung und Hilfe beim Verständnis eine Fehlannahme sei.26 Anders gesagt: Für Neveu und Gleichgesinnte kann und sollte der Wissenschaftler sogar in seinem Diskurs ein Ethos des Sozialkritikers und Anklägers erkennen lassen; Engagement sei Teil seiner Verantwortung nicht nur als Bürger, sondern auch als Wissenschaftler. Nehmen wir die Ansätze von Heinich und Neveu als prototypische Positionen, die auf eine Polarisierung in der Wahrnehmung des wissenschaftlichen Ethos hindeuten. Am einen Pol finden wir ein Bemühen um engagierte Neutralität, bei dem das wissenschaftliche Ethos aus einem ständigen Bestreben resultiert, Distanz zu den Handelnden zu wahren, Werturteile zu unterdrücken und persönliche Meinungen und Emotionen außer Acht zu lassen. Aus dieser Perspektive ist die Konstruktion eines ‚neutralen Ethos‘, das auf der Beseitigung jeglicher Subjektivität beruht und doch Anzeichen der Anwesenheit und der || 26 Vgl. Erik Neveu, Recherche et engagement. Actualité d’une discussion, in: Questions de communication 3 (2003), S. 109–120.
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Autorität des Autors erlaubt, von zentraler Bedeutung. Wir haben jedoch gesehen, dass dieses Ethos in der political discourse analysis, ebenso wie in den Sozialwissenschaften im Allgemeinen, die unterschiedlichen Selbstbilder, die im Widerspruch zum Ideal der Neutralität stehen, nicht vollständig tilgen kann. Somit wird ein Spannungsfeld geschaffen, mit dem sich der wissenschaftliche Diskurs auseinandersetzen muss. Am anderen Pol entscheidet sich der Sozialwissenschaftler, dem zufolge wissenschaftliche Konzepte und Werkzeuge für die Sozialkritik zur Verfügung zu stellen sind, bewusst für das Leitbild des engagierten Wissenschaftlers. Die Weigerung, die Rolle des Forschers von der des Intellektuellen und des engagierten Bürgers zu trennen, setzt allerdings sein Ethos als Wissenschaftler einem Risiko aus: durch ein offenkundiges Engagement könnte er jede Glaubwürdigkeit verlieren. Kann man ein Engagement wagen, das ein persönliches Werturteil und manchmal auch Emotionen (Empörung, Ärger, Mitleid usw.) einschließt, ohne als militanter und demzufolge voreingenommener Sprecher zu erscheinen? Wie kann man den wissenschaftlichen Charakter beibehalten, der die Richtigkeit der analytisch-deskriptiven Vorgehensweise garantiert, nämlich Distanz zu den Handelnden zu wahren und sich jeglicher Werturteile zu enthalten, wenn man mit den Verfechtern eines Anliegens übereinstimmt? In diesem Fall muss das Ethos des Anklägers und engagierten Bürgers mit einem Bild des Forschers in Einklang gebracht werden, das die Glaubwürdigkeit und wissenschaftliche Autorität des Diskurses sicherstellt. Wir sehen, dass die Ethos-Konstruktion in jedem Fall die Idee des Verantwortungsbewusstseins einschließen muss: das Bild der verantwortungsbewussten Person vom Fach einerseits und das des verantwortungsbewussten Bürgers andererseits. Allerdings ist Verantwortungsbewusstsein mit verschiedenen Bedeutungen besetzt. Es gibt ein Bild des verantwortungsbewussten Sozialwissenschaftlers, der zur Erweiterung des Wissens beiträgt und es aufgrund seiner Integrität ablehnt, seine Kompetenz und Autorität außerhalb seiner beruflichen Aufgabe zu nutzen. Und es gibt das Bild des Sozialwissenschaftlers, der der Ansicht ist, dass gerade das Wesen der von ihm untersuchten Phänomene es erfordert, dass er in der Öffentlichkeit auftritt, so dass seine Kritik und sein Engagement als Verantwortlichkeit des Forschers interpretiert werden, der sein eigenes gesellschaftlich-politisches Umfeld untersucht.
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3. Analyse des wissenschaftlichen Ethos in der political discourse analysis. Drei Fallstudien Ich möchte nun einige Fallstudien vorlegen, um die verschiedenen Formen zu analysieren, in denen das Selbstbild projiziert wird und die die Grundlage des wissenschaftlichen Ethos bilden. Zunächst möchte ich eine Analyse der französischen Präsidentschaftswahlen 2007 von Patrick Charaudeau, einem der führenden Vertreter der zeitgenössischen französischen Diskursanalyse, betrachten. Danach werde ich einen Artikel von Michael Leff, einem bekannten amerikanischen Rhetoriker, untersuchen, der eine Debatte zwischen Bush und Kerry im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2004 analysiert. Schließlich will ich mich der Kritischen Diskursanalyse widmen, wie sie von Norman Fairclough, einem ihrer Begründer in Großbritannien, betrieben wird, und zwar aufgrund seiner Untersuchung des politischen Diskurses von Tony Blair. Jeder dieser Wissenschaftler analysiert die politischen Diskurse seines eigenen Landes, untersucht eine politische Figur, die Teil seines persönlichen Interessengebiets ist, und reflektiert sein Vorgehen (d. h. jeder gibt Aufschluss über sein Verständnis der Wissenschaftspraxis).
3.1. Präsentation des Forscherethos in der französischen Diskursanalyse: Sarkozy im französischen Präsidentschaftswahlkampf 2007
Die heutige französische Diskursanalyse unterscheidet sich von der Kritischen Diskursanalyse ebenso wie von der ersten Schule der französischen Diskursanalyse, die von Michel Pêcheux ins Leben gerufen wurde, durch ihre Weigerung, ein ideologisches oder politisches Programm zu vertreten. Ihr Hauptziel ist es, die Art und Weise zu beschreiben, in der der Diskurs in seinem institutionellen und gesellschaftlichen Kontext funktioniert, und diese diskursive Funktion durch eine eingehende Analyse ihrer linguistischen, genrespezifischen, argumentativen, intertextuellen und interaktiven Merkmale aufzuzeigen. Dadurch trägt sie zu einem besseren Verständnis des kontextuell eingebetteten Sprachgebrauchs bei und deckt sowohl dessen soziale Verankerung auf (also die Art und Weise, in der dieser von der Gesellschaft bestimmt wird), als auch seine gesellschaftliche Funktion (die Art und Weise, in der er in der jeweiligen Gesellschaft wirkt). Patrick Charaudeau ist mit Dominique Maingueneau Herausgeber
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des bedeutenden Dictionnaire d’analyse du discours27 und einer der wichtigsten Theoretiker und Verfechter der französischen Diskursanalyse. Nach mehreren Arbeiten zum Thema Medien veröffentlichte er 2005 Le discours politique. Les masques du pouvoir28 und im Juli 2008 Entre populisme et peopolisme. Comment Sarkozy a gagné!29 Obwohl dieser ein wenig verkaufsfördernd formulierte Titel dem Autor das Image eines Experten verleiht (er gibt das Geheimnis preis, wie man einen Wahlkampf gewinnen kann), entwirft die Einleitung das Ethos eines Wissenschaftlers, der sich auf die Beschreibung und Analyse des Präsidentschaftswahlkampfs 2007 konzentriert: Die Analyse werde sich auf die diskursiven Strategien und Erklärungen der beiden wichtigsten Kandidaten, Nicolas Sarkozy (von der konservativen UMP) und Ségolène Royal (von den Sozialisten), beziehen; diese Ergebnisse würden dann in Bezug auf den politischen und gesellschaftlichen Kontext des Wahlkampfs interpretiert (neutral und ohne persönliche Voreingenommenheit). Die Autorität des Autors wird sowohl durch sein prior ethos (das Ansehen, das er in seinem Forschungsbereich genießt) als auch durch häufige Selbstzitate sichergestellt – er bezeichnet das Buch als die Fortführung vorheriger Veröffentlichungen und nennt in einer Fußnote den Titel seines zuvor veröffentlichten Bandes, Le discours politique, einer allgemeinen Studie zum politischen Diskurs, auf die sich seine Analyse der Wahlen von 2007 stützt. Die Autorität des Forschers wird durch eine selbstsichere Ausdrucksweise und den Gebrauch von Verallgemeinerungen untermauert. So liefert der Text allgemeine Kategorisierungen, die auf Vorwissen bezogen sind – durchgeführt werde die Analyse anhand der vier Eckpfeiler, die den Diskurs in jedem Wahlkampf charakterisierten: Einnehmen einer Werthaltung, Konstruktion eines Selbstbilds, Diskreditierung des Gegners und Formen, in welchen die Wähler angesprochen werden.30 Diese weitgefassten und synthetischen Kategorisierungen verstärken die Glaubwürdigkeit des Sprechers, indem sie ihn als jemanden darstellen, der ein politisches Phänomen durchdringen kann: Die undurchsichtige Realität verwandelt sich in ein analytisch konstruiertes Objekt, während eine schematisierte Darstellungsweise Parameter für weitere Untersuchungen liefert. Der wissenschaftliche Charakter des Diskurses wird auch durch einen Metadiskurs sichergestellt, der sorgfältig zwischen den Kommentaren zur Wahlkampfführung und der wissenschaftlichen Analyse unterscheidet. Die ersteren, so Charaudeau, versuchen unmittelbar den Diskurs und das Verhalten || 27 Patrick Charaudeau und Dominique Maingueneau (Hrsg.), Dictionnaire dʼanalyse du discours, Paris 2002. 28 Patrick Charaudeau, Le discours politique. Les masques du pouvoir, Paris 2005. 29 Ders., Entre populisme et peopolisme. Comment Sarkozy a gagné!, Paris 2008. 30 Vgl. ebd., S. 9.
336 | Ruth Amossy der politisch Handelnden zu entschlüsseln – was von den Medien auf spektakuläre Art und Weise betrieben wird. Letztere verlangt nach Distanz – ein umfangreiches Korpus muss zusammengestellt, aufbereitet, unter Einbeziehung des Kontexts betrachtet und mittels ausgewählter Analysewerkzeuge untersucht werden – um dann schlussendlich Interpretationen vorzuschlagen, die erklärenden Charakter haben.31 Kurz gesagt, genau wie bei Heinichs Ansatz soll sich der politische Analytiker vom politisch Handelnden unterscheiden, und er soll zu diesem Distanz wahren, wenn er sich, wie im Falle Charaudeaus, mit den Werten, die im Wahlkampf thematisiert werden, oder mit dem diskursiven Ethos der Kandidaten befasst. Die Einleitung zeigt allerdings eine Spannung im Ethos des Sprechers, die bereits aus dem Titel der Publikation ersichtlich wird. Der Analytiker macht es sich zum Ziel zu zeigen, wie Sarkozy die Wahl gewinnen konnte, indem er den Schlüssel zu dessen Erfolg evaluiert und seiner Leserschaft offenbart: Das werde es uns ermöglichen, so schreibt er, zu verstehen, wie Nicolas Sarkozy gewonnen hat.32 Er konstruiert ein Selbstbild des Lehrers, der sein Publikum anspricht – auch wenn er es mithilfe eines höflichen „uns“ tut, das die Distanz zwischen Lehrer und Schülern verringert. Er tritt auch als potentieller Experte auf, der um seine Ansichten zum Wahlsieg gebeten wurde, auch wenn er nicht die praktische Funktion eines politischen Beraters anstrebt. Gleichzeitig lässt die Einleitung auch die Rolle eines Intellektuellen erkennen, der ethische Fragen zur gegenwärtigen politischen Szene aufwirft: Der Forscher beabsichtigt, das Problem von Populismus und ‚Peopolismus‘ (ausgehend von engl. ‚people‘ gebildet)33 zu erforschen, und stellt sich die Frage, ob es in einer Wahlkampagne, die als gnadenloser Kampf verstanden wird, Platz für eine politische Ethik gibt.34 Die Analyse von Charaudeaus wissenschaftlichem Diskurs bestätigt die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener Ethè, zwischen denen der Autor zwar keinen Widerspruch wahrnimmt, mit denen er aber in seinem Text umgehen und die er gegeneinander ausbalancieren muss. Es ist jedoch interessant zu sehen, dass der wissenschaftliche Diskurs manchmal eine andere Facette des Ethos des Forschers zum Vorschein bringt, nämlich die des Sozialkritikers und Anklägers. An der Stelle beispielsweise, an der er die Begriffe kommentiert, die Sarkozy als Innenminister für die Jugendlichen verwendete, die an den Krawal|| 31 Vgl. ebd., S. 8. 32 Vgl. ebd., S. 9. 33 Im Französischen ist der Begriff ein lexikalisierter Blend von populisme und les peoples, die Promis. 34 Vgl. Charaudeau, Entre populisme et peopolisme, S. 9.
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len in den Pariser Vororten beteiligt waren – „voyous“, Schurken, und „racaille“, Pack, Abschaum –, betont Charaudeau, dass diese Bezeichnungen die Jugendlichen als ganz gewöhnliche Straftäter einstufen und dass schließlich den Krawallen in den Vororten jegliche politische Bedeutung abgesprochen wird. Sarkozy, so schlussfolgert Charaudeau, gewinne daher auf zwei Ebenen: Er unterstelle, dass die Randalierer eine exemplarische Strafe erhalten müssten, genau wie jeder andere Kriminelle, der die öffentliche Sicherheit gefährde, und dass die Opfer nicht aufgrund eines politischen Versagens zu Opfern würden, sondern aufgrund einer allgemeinen Unsicherheit, die nach individuellen Sanktionen und nicht nach gesellschaftlichen Lösungen verlange. Anders gesagt definieren die Kategorisierungen, die mit dem gewählten Vokabular einhergehen, die Situation nicht als gesellschaftliches Problem, sondern als Problem der Kriminalität. Charaudeau folgert, dass Sarkozy zwei Welten einander gegenüberstelle, die der Straftäter und die der Opfer, und dass dabei, vermittelt durch den Staat, ein Gefühl der Furcht und ein Geist der Rache noch befeuert anstatt abgeschwächt würden – was die Wähler auf hinterlistige Art und Weise dazu bringe, nach einer ‚Partei der Ordnung‘ (parti de l’ordre) zu verlangen. Indem er die Wirksamkeit dieses rhetorischen Schachzugs im Wahlkampf beurteilt, erhält der Sprecher das Ethos eines ‚Gutachters‘. Aber Charaudeaus Diskurs prangert die von ihm analysierte und in ihrem Kontext interpretierte Wortwahl auch ausdrücklich an, politisch wie ethisch. Was die Ethik angeht, wirft er Sarkozy Manipulation vor: Man müsse hier die machiavellische Intelligenz hervorheben, mit der er die Randalierer stigmatisiere.35 Auf politischer Ebene interpretiert der Analytiker die Ansichten, die in Sarkozys Wortwahl impliziert sind, indem er sie einer anderen Sicht der Krawalle in den Vororten gegenüberstellt: Diese können auch als Ereignis gesehen werden, das mit politischer Bedeutung aufgeladen ist, als ein gesellschaftliches Problem und als Ergebnis politischen Versagens (das Versagen, die Jugendlichen aus den Vorstädten, die größtenteils aus Einwandererfamilien kommen, besser zu integrieren – das ist in der Anspielung auf einen Interdiskurs enthalten, der allen Franzosen bestens bekannt ist). Die Darstellung des Analytikers klingt wie eine Anklage gegen einen Diskurs, der die politischen Dimensionen eines gesellschaftlichen Ereignisses verschleiert, und wie eine Stellungnahme zugunsten des gegenteiligen Diskurses, nämlich der Interpretation der Linken, deren Standpunkt (dass es sich um ein gesellschaftliches, nicht um ein Problem der Kriminalität handelt) diese Aussage stillschweigend übernimmt. || 35 Ebd., S. 67:„Il faut ici souligner l’habileté machiavélique de Nicolas Sarkozy dans sa façon de stigmatiser l’agresseur“.
338 | Ruth Amossy Wir sehen also, wie eine linguistische Analyse, die mithilfe der anerkannten Verfahrensweisen dieser Disziplin (der Analyse von Wortwahl und Argumentationsstruktur) durchgeführt wird, Interpretationen zulässt, die zeigen, was die rein empirische Beobachtung uns nicht erfassen lässt.36 Gleichzeitig wird offensichtlich, dass das wissenschaftliche Ethos des Analytikers politischer Diskurse aus dem Aushalten der Balance mehrerer Ethè resultiert: dem neutralen Ethos des Wissenschaftlers, dem des Experten, der praktische Ergebnisse bewertet, dem des ethisch motivierten Zensors und dem des Sozialkritikers und Anklägers. Sie bestehen nebeneinander in einem integrierten Ganzen, in dem aus der Person des Wissenschaftlers ein Ankläger spricht. In der letztgenannten Figur ist der Spezialist zu erkennen, der den Regeln und Methoden seines wissenschaftlichen Unterfangens Respekt entgegenbringt: Er analysiert lexikalische Begriffe, indem er offenlegt, was in ihnen vorausgesetzt ist und welche Bedeutung sie in einem bestimmten diskursiven Kontext annehmen, aber auch welcher Art ihre argumentativen Implikate sind und wie die Situation, in der sie geäußert werden, diese Implikate bestimmt. Wenn er diese linguistische Analyse durchführt, mobilisiert der Autor sämtliche Ressourcen der Beseitigung der subjektiven Merkmale, um seine Neutralität unter Beweis zu stellen: keine Verwendung von ‚ich‘, der Gebrauch unpersönlicher Ausdrücke zusammen mit Verben, die Verbindlichkeit und Notwendigkeit ausdrücken – „Il faut“, „on n’a pas suffisament insisté…“ – und die logische Rekonstruktion der Argumente des Anderen (die Darstellung der Randalierer als Kriminelle, wodurch deren Bestrafung gerechtfertigt wird; das Schüren von Ängsten, wodurch die Wahl einer starken Partei, die sich auf Ordnung beruft, empfohlen wird, etc.). Auf eben dieser Grundlage konstruiert der Diskurs andere Selbstbilder. Die Verwendung wertender Begriffe („machiavellische Intelligenz“, Sarkozy bringt die Wähler „auf hinterlistige Art und Weise“ dazu, etwas zu tun) und expliziter Werturteile (es werde „ein Gefühl der Furcht und ein Geist der Rache noch befeuert anstatt abgeschwächt“) konstruiert die Figur eines ethisch motivierten Zensors; die systematische Gegenüberstellung mit Ansichten der Linken („die Opfer sind nicht länger Opfer eines politischen Versagens“), die stillschweigend als akkurater dargestellt werden, deutet auf die Figur eines politisch engagierten Bürgers hin. Nun gibt es aber einen anderen Text, in dem Charaudeau das Bild des Wissenschaftlers mit dem des Anklägers konzeptuell in Einklang bringt: Er schreibt, dass, soweit Forschung in den Sozial- und Geisteswissenschaften betroffen sei, die Untersuchungen „selbst bereits eine Kritik (und in manchen || 36 Vgl. ebd., S. 79.
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Fällen sogar eine Anklage) der Gesellschaft darstellen“, weil sie Dinge enthüllten, die ohne sie überhaupt nicht wahrgenommen werden könnten.37 Wir haben jedoch gesehen, dass in dieser Auffassung von Diskursanalyse das Ethos des Anklägers oder des engagierten Bürgers nicht vollständig anerkannt und legitimiert ist, und dass diese Ethè infolgedessen nur implizit in der Formulierung enthalten sind (nicht in dem, was der Sprecher über sich selbst aussagt, sondern in dem Selbstbild, das durch seinen Sprachgebrauch konstruiert wird). Des Weiteren sind diese Ethè größtenteils die Folge von unausgesprochenen Prämissen und implizit bleibenden Elementen, die der Leser rekonstruieren muss. Die Spannung, die dem wissenschaftlichen Ethos innewohnt, wird hier in ein Gleichgewicht gebracht, bei dem die Neutralität die führende Rolle spielt. Ich kann meine Analyse hier nicht weiter vertiefen. Ich hoffe jedoch, dass sie die Vielzahl der Bilder, die am Ethos des Analytikers politischer Diskurse im Besonderen und des Sozialwissenschaftlers im Allgemeinen teilhaben, zu illustrieren vermag und dass sie zeigt, wie der Sprecher gegensätzliche und manchmal scheinbar widersprüchliche Bilder zusammenbringt, um ein Gleichgewicht zu schaffen, das im Einklang mit seiner Auffassung vom Wissenschaftler steht.
3.2. Ethosmanagement in der rhetorischen Diskursanalyse. Bush und Kerry im U.S.Präsidentschaftswahlkampf 2004
Der Fall von Michael Leff und seiner Analyse der Debatte zwischen Bush und Kerry bei den Präsidentschaftswahlen in den USA 200438 ist für uns hier interessant, weil Leff ein Rhetoriker ist, der sich als solcher selbst nicht als scientist bezeichnet. In seinem Lehrbuch mit dem Titel Reading rhetorical texts. An introduction to criticism39 (1998) bezeichnet er den Rhetoriker stattdessen als „critic“.40 Über die Kontroverse innerhalb der Disziplin der nordamerikanischen || 37 Ebd. 38 Michael Leff, Ad hominem Argument in the Bush/Kerry Presidential Debates, in: Frans E. van Eemeren u.a. (Hrsg.), Proceedings of the Sixth Conference of the International Society for the Study of Argumentation, Amsterdam 2007, S. 859–866. 39 James Robertson Andrews, Michael C. Leff und Robert Terrill, Reading Rhetoric Texts. An Introduction to Criticism, Boston 1998. 40 Im englischen Sprachraum steht scientist für empirisch arbeitende Natur- und Sozialwissenschaftler, während critic für Wissenschaftler verwendet wird, deren Disziplinen interpretatorische Offenheit erlauben, also beispielsweise Literaturwissenschaftler (d. Übers.).
340 | Ruth Amossy Rhetorik hinsichtlich ihres Betätigungsfelds und Leffs Verteidigung der rhetorischen Diskursanalyse (rhetorical criticism) hinaus ist ausgehend von unserer Fragestellung der wichtigste Punkt der, dass seine Definition des rhetorischen Diskursanalytikers dem Verständnis des Analytikers in den Sprach- und Kommunikationswissenschaften sehr nahe kommt. Leffs Ansicht nach richtet der rhetorische Diskursanalytiker seine Aufmerksamkeit in erster Linie auf Bemühungen von Menschen, die Gedanken und Handlungen ihrer Mitmenschen zu beeinflussen,41 nämlich auf Diskurse und, genauer, auf den auf Überzeugung abzielenden öffentlichen Diskurs. Ein rhetorischer Diskursanalytiker unterscheidet sich insofern vom beiläufigen Zuhörer oder Leser einer politischen Rede, als er versucht, die „rhetorical dynamic involved in it“42 zu verstehen und zu erklären. Er tut dies, indem er von der Praxis zur Theorie wechselt, vom Einzelfall zur allgemeinen Regel, und umgekehrt. Die Analyse einer bestimmten Rede wird von der ihr zugrunde gelegten rhetorischen Theorie geprägt, die Kategorien und Werkzeuge bereitstellt; dabei konzentriert sich die Analyse auf einen bestimmten Text und auf dessen Art und Weise, unter gegebenen Umständen Zustimmung zu erreichen, und erhellt so dessen Funktionsweise, während sie zugleich zur Theoriebildung aufgrund von Ergebnissen aus praktischen Analysen beiträgt. Dazu muss der rhetorische Diskursanalytiker die Art von Fragen verstehen, die zu einem rhetorischen Stilmittel gestellt werden können, sich also bei seiner Arbeit innerhalb der von seiner Disziplin definierten Erkenntnisinteressen bewegen; und er muss eine Verfahrensweise entwickeln, die es erlaubt, diese Fragen zu beantworten,43 muss Methoden und Werkzeuge seiner Disziplin beherrschen. Ohne weiter ins Detail zu gehen, können wir sehen, dass der rhetorische Diskursanalytiker einer Reihe von Prinzipien folgt, die eine gründliche und systematische Untersuchung des gewählten Gegenstands (persuasive öffentliche Kommunikation) erlauben: Es handelt sich hierbei um eine conditio sine qua non, um in der Disziplin als jemand anerkannt zu werden, der einen bereits bestehenden Wissensfundus bereichern kann. Darüber hinaus beschäftigt sich Leff mit der Frage, inwieweit der rhetorische Diskursanalytiker selbst in die politischen und sozialen Angelegenheiten einbezogen ist, die er in seinen Textanalysen erforscht. Er sieht die wertende Stellungnahme als Teil seiner Arbeit an. Seiner Meinung nach ist sie jedoch auf die Bewertung rhetorischer Entscheidungen begrenzt, auf die Art und Weise || 41 Andrews, Leff und Terrill, Reading Rhetoric Texts, S. 6: The rhetorical critic focuses his attention „on human efforts to influence human thought and actions“. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 11: The critic has to understand „the kinds of questions that can be raised about a rhetorical message“ and to „develop a methodical way of answering these questions“.
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sowie das Ausmaß, in denen eine Formulierung persuasiv wirken konnte.44 Der kritische Rhetoriker soll keine Urteile darüber fällen, ob die Ziele, von denen der Hörer überzeugt werden soll, gut oder schlecht für unsere Gesellschaft sind, oder darüber, ob die Politik, die vertreten wird, praktische und nützliche Lösungen bereitstellt; falls er dies doch tut, so nach der Art eines intelligenten, gebildeten Beobachters, und nicht in seiner Funktion als rhetorischer Diskursanalytiker.45 Das impliziert, dass er sich in eine öffentliche Kontroverse begibt und dadurch zum ‚Teilnehmer‘ am rhetorischen Prozess wird, also nicht länger der Analytiker dieses Prozesses ist.46 Während er zugibt, dass dieses heikle Thema im Mittelpunkt einer polemisch geführten Debatte steht, bezieht Leff klar Stellung, indem er versichert, dass Wissenschaft nicht mit Aktivismus verwechselt werden sollte und der Wissenschaftler (critic) zudem versucht zu vermeiden, ein Urteil über die rhetorische Stichhaltigkeit aufgrund seiner eigenen politischen Überzeugungen zu fällen.47 Gestützt auf diese Prinzipien möchte ich die Ansicht vertreten, dass die Praxis des rhetorischen Diskursanalytikers (Leff) neben der der Soziologin (Heinich) und des Diskursanalytikers (Charaudeau) als ‚wissenschaftlicher Diskurs‘ eingestuft werden kann. Der Unterschied zeigt sich hauptsächlich in dem jeweiligen Verständnis von Evaluation, die Leff als wesentlichen Bestandteil der Aufgabe des Rhetorikers ansieht. Wie also konstruiert er in seiner Studie zur Debatte zwischen Bush und Kerry während des Präsidentschaftswahlkampfs das Ethos des kritischen Diskursanalytikers als wissenschaftlich? Leff untersucht den Begriff argumentum ad hominem, dessen sich die Argumentationstheorie bedient – ein Argument, das nur scheinbar stichhaltig ist (fallacy) – und stellt dann einen Zusammenhang zwischen dieser Argumentationsweise und rhetorischen Überlegungen her, wobei er das argumentum ad hominem als Analysewerkzeug verwendet. Er zeigt, dass er den aktuellen Forschungsstand in zwei verschiedenen Disziplinen kennt, der Argumentationstheorie und der Rhetorik. Und er beweist, wie innovativ sein Ansatz ist: Leff betrachtet diese Disziplinen unter Bezugnahme auf || 44 Ebd., S. 17: Evaluation is limited to „evaluation of rhetorical choices“: „the ways in which, and the extent to which, a message was persuasive“. 45 Ebd., S. 44: The rhetorical critic is not supposed „to make judgments on whether the aims of persuasion are good or bad for our society“, or „whether the policies advocated are practical and useful solutions“; if he does so, he does it „as an intelligent, educated observer might do, not as a rhetorical critic“. 46 Vgl. ebd., S. 18. 47 Vgl. ebd., S. 19: „[W]hat the critic seeks to avoid is making a judgment of rhetorical soundness on the basis of political conviction“.
342 | Ruth Amossy einen oft vernachlässigten Aufsatz von Alan Brinton.48 Brinton hat eine Verbindung zwischen der als unzulässig angesehenen ad hominem-Argumentation (als der Widerlegung eines Arguments durch die Infragestellung der Glaubwürdigkeit des Sprechers) in der Argumentationstheorie und dem rhetorischen Konzept des Ethos hergestellt, das in der aristotelischen Rhetorik die Bedeutung der Glaubwürdigkeit des Redners als Beweis für dessen Überzeugungskraft betont; dieser Zusammenhang rechtfertige es bis zu einem gewissen Grad, Angriffe auf die Person des Sprechers zu verwenden. Der Autor tritt als kenntnisreicher Gelehrter auf, als Theoretiker und eigenständiger Denker, der in der Lage ist, neue Fragen zu stellen, die über die Grenzen zweier Disziplinen hinausreichen, deren Trennung voneinander als künstlich entlarvt werden soll – was ihm gleichzeitig die Position eines Vermittlers innerhalb seines eigenen Forschungsbereichs (der Rhetorik) zuweist. Im übrigen Teil des Aufsatzes befasst sich der kritische Diskursanalytiker mit einer detaillierten Untersuchung von zwei Debatten, in denen sich die Kandidaten gegenüberstehen; er zeigt dabei, wie jeder den Gegner persönlich angreift, und macht deutlich, dass Bush die ad hominem-Argumentation besser beherrscht als Kerry. Beim Betrachten ausgewählter Passagen aus Bushs Diskurs zeigt Leff, wie der Präsident seine gelegentlichen ad hominem-Attacken (er zielt darauf, dass Kerry sich bei bestimmten Gelegenheiten selbst widersprochen hat) wirkungsvoll mit dessen bestehendem Image als wankelmütiger Mensch verknüpft, der unfähig sei, klar Stellung zu beziehen, und daher für diese Führungsposition ungeeignet sei. Leff versichert, dass Bush dadurch ein positives Selbstbild von offener Direktheit und argloser Aufrichtigkeit 49 konstruiert habe, das mit seinem prior ethos (d. h. mit seinem Ansehen) übereinstimme. Das hindert ihn nicht daran, den teilweise fehlerhaften Charakter der Argumentation Bushs zu demonstrieren, wobei er sich die Freiheit nimmt, in Anlehnung an die Informelle Logik (eine einflussreiche Disziplin innerhalb der Argumentationstheorie) eine normative Argumentationsanalyse durchzuführen. Er zeigt jedoch, dass die Stichhaltigkeit der Argumente keine entscheidende Rolle für die Gesamtwirkung der politischen Debatte spielt: Die das Ethos betreffende Argumentation (die ‚Demontage‘ der Glaubwürdigkeit des Gegners) ist zielgerichtet und verleiht den Argumenten den Anschein von Kohärenz. Im Gegensatz dazu schafft Kerry es nicht, aus seiner Defensivhaltung herauszugehen. Kerry
|| 48 Alan Brinton, A rhetorical view of the ad hominem, in: Australasian Review of Philosophy 63 (1985), S. 50–63. 49 Bush constructed a positive self-image of „straightforward openness and guileless consistency“.
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scheitert aber auch damit, seine gelegentlichen ad hominem-Attacken mit direkten Angriffen auf den Charakter seines Kontrahenten („direct character attacks“) zu verknüpfen und kann keine argumentative Grundstruktur entwickeln, mit deren Hilfe er seinen Anschuldigungen einen Rahmen verleihen und diese in den Mittelpunkt rücken könnte.50 Aus alledem folgert Leff, dass Kerry nicht in der Lage gewesen sei, ein positives Selbstbild zu konstruieren oder dem anderen Kandidaten eine nachhaltige, kohärente Erwiderung entgegenzusetzen, die es ihm erlaubt hätte, sich Bushs ad hominem-Attacken gegen seine Standhaftigkeit und sein Urteilsvermögen zu entziehen.51 In dieser detaillierten Darstellung der Debatte präsentiert der Analytiker seine Belege und zeigt die innere Logik und die Dynamik der Debatte auf. Zugleich geht er auf theoretische Prinzipien ein – etwa die Art und Weise, in der in einer Debatte das argumentum ad hominem mit der Ethoskonstruktion zusammenhängt, oder auf die Verbindung zwischen gelegentlichen ad hominem- und direkten persönlichen Angriffen. Er konstruiert so das kohärente Selbstbild eines akribischen Wissenschaftlers, der von der Theorie zur Praxis wechseln kann und umgekehrt. Zu keinem Zeitpunkt erlaubt er es sich, Werturteile über die Kandidaten hinsichtlich ihrer Positionen oder ihrer Persönlichkeit zu fällen. Über seine eigene Haltung als Bürger schweigt er sich aus. Gleichzeitig tritt der Autor aber evaluierend und somit als eine Art Experte auf. Bewertung ist ein zentraler Bestandteil seines Projekts und muss aus seiner Sicht nicht verschleiert werden: Die Aufgabe des rhetorischen Diskurskritikers schließt Normativität nicht aus. Er muss wirksame Strategien von fehlerhaftem Verfahren unterscheiden. Was die Rolle des Experten angeht, so wird sie nicht im üblichen Wortsinne übernommen, d. h. Leff geriert sich nicht als Kommunikationsberater und leitet aus seiner Studie keine praktischen Ratschläge ab (auch wenn man es so interpretieren könnte). Die Betonung der Wirksamkeit wirft einige Fragen nach der Rolle des kritischen Diskursanalytikers auf. Bevorzugt er etwa die so oft verurteilte Rolle des unmoralischen Rhetorikers, der sich ausschließlich auf seinen Erfolg in der Praxis konzentriert, ohne dabei ethische Erwägungen einzubeziehen? Fassen wir unsere Analyse der verschiedenen Bilder zusammen, die der Diskurs in das Ethos des Wissenschaftlers zu integrieren versucht. Hier wird das Bild des unparteiischen und akribischen Analytikers, der sich auf sein bereits || 50 He did not develop a „basic argumentative structure capable of framing and centering his specific allegations“ (Leff, Ad hominem Argument, S. 865). 51 „[H]e was unable to construct a positive image or mount a sustained, coherent riposte that would have allowed him to get out from under Bush’s ad hominem attacks on his consistency and judgment“ (ebd., S. 866).
344 | Ruth Amossy erworbenes Wissen in dem Bereich stützt, vorhandene Belege nutzt und die Werkzeuge seiner Disziplin beherrscht, eng mit dem Bild eines evaluierenden rhetorischen Diskursanalytikers verknüpft, der auf Wirksamkeit als Norm zurückgreift und mit gutem Recht Werturteile in seinem Kompetenzbereich äußert. Solch ein Ethos grenzt an die Rolle des Experten, während es das des engagierten Bürgers und ethisch motivierten Denkers tilgt.52
3.3. Ethosmanagement in der Kritischen Diskursanalyse. Blair und der „New Labour“-Diskurs in Großbritannien
Betrachten wir nun einen letzten Fall, der dem Bereich der Kritischen Diskursanalyse entstammt, in welcher das Bild des engagierten Wissenschaftlers dominiert und von Beginn an deutlich erkennbar ist. Mein Fallbeispiel ist die Auseinandersetzung Norman Faircloughs mit Tony Blair und der New LabourPolitik, die er 2000 unter dem Titel New Labour, New Language?53 veröffentlichte. Bei der Vorstellung seines analytischen Verfahrens erklärt der Autor, er beschreibe die Sprache von New Labour und kritisiere sie zugleich, um zu sehen, welche Rolle Sprache in der ‚gefährlichen‘ Politik von New Labour spiele.54 Die Annahme, die der Untersuchung zugrunde liegt, ist, dass Sprache ein immer wichtiger werdendes Element der politischen Praxis ist, so dass sie gründlich untersucht werden muss, um diese Praxis vollständig beschreiben zu können. Die Kritische Diskursanalyse setzt sich folglich zum Ziel, Antworten auf Fragen rund um den politischen Diskurs zu liefern, wie zum Beispiel: Wie gestaltet sich Blairs Rhetorik – er entwickelt einen erfolgreichen rhetorischen Stil, doch hat das Ganze auch Substanz? Aber sie möchte auch aufdecken, was genau der von New Labour propagierte sogenannte „Third Way“ bedeutet – ist er mehr als nur eine verschleierte Form des Thatcherismus?55 Indem er auf solche Fragen antworten möchte, nimmt der Analytiker direkt an der öffentlichen Kontroverse Teil: Er behauptet, sein Ziel sei es, durch linguistische Analy|| 52 Wir sehen, dass dieser Exkurs in das Gebiet der Rhetorik eine Reihe von wichtigen Fragen aufwirft. Ist es möglich, eine rhetorische Analyse ohne normative Ziele durchzuführen? Bis zu welchem Grad ist die eine Bewertung einschließende analytische Praxis ein ‚wissenschaftliches‘ Verfahren? Ist Rhetorik eine Wissenschaft – zumindest soweit sich die rhetorische Diskursanalyse auf die Sprachwissenschaften erstreckt? Ich kann hier nicht näher auf diese Fragen eingehen. 53 Norman Fairclough, New Labour, New Language?, London 2000. 54 Vgl. ebd., S. 8:„I both describe the language of the New Labour and criticize it […] to see how language figures in the dangerous politics of the New Labour“. 55 Vgl. ebd., S. 5f.
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sen zu einer Debatte um umstrittene Themen beizutragen. Offensichtlich tut er das als ein Akteur, der das Recht hat, eine eigene Position einzunehmen. Dieser Ansatz steht im krassen Gegensatz zu dem von Heinich, aber auch zu den Ansätzen von Charaudeau und Leff. Doch nach Ansicht des Kritischen Diskursanalytikers leitet sich seine Teilnahme an öffentlichen Kontroversen weder aus einer Fehlinterpretation der Aufgabe des Sozialwissenschaftlers ab, noch stellt sie einen Machtmissbrauch dar: Sie ist seine Pflicht und das primäre Ziel seiner wissenschaftlichen Arbeit, die sich als Gesellschaftskritik definiert. Somit tritt der Kritische Diskursanalytiker als engagierter Bürger auf, der absichtlich Werturteile abgibt und gesellschaftliche Werte verteidigt. Und in der Tat vertritt der Text eine klare Position: Von Anfang an wird die Politik von New Labour als „gefährlich“ („dangerous“) gebrandmarkt, und ihr Versuch, Neoliberalismus und soziale Gerechtigkeit zu vereinen, wird als Quadratur des Kreises, die in der Wirklichkeit unmöglich sei, bezeichnet56, da der Staat den einzig wirklichen Schutz gegen die Barbarei der Märkte biete.57 Mithin präsentiert der Analytiker sein eigenes politisches Programm aufs Deutlichste. Es geht ihm darum zu zeigen, dass die Politiker an der Spitze von New Labour auf rhetorischem Wege das zu erreichen suchen, was sie (dank ihren neoliberalen Ansichten) in der Realität nicht erreichen können – neoliberales ‚Unternehmertum‘ mit ‚sozialer Gerechtigkeit‘ in Einklang zu bringen. Sprache sei in diesem Zusammenhang für New Labour entscheidend,58 und genau das zu zeigen ist das Ziel des Diskursanalytikers, der sich damit zugleich als linguistischer Experte und als Ankläger von Blair und dessen Regierung darstellt. Wir sehen, wie der wissenschaftliche Text bereits in seiner Einleitung das Ethos eines engagierten Wissenschaftlers und Anklägers konstruiert. Diese Bilder werden als legitime Bestandteile des wissenschaftlichen Projekts präsentiert, da der Wissenschaftler als eine Person beschrieben wird, die kontroverse Fragen beantwortet, die die öffentliche Meinung spalten. Das bedeutet, dass er dazu in der Lage sein muss, aber auch dass es ihm gestattet ist, an politischen Kontroversen teilzunehmen, ja dass er dies sogar tun muss. Schließlich erscheint der Sozialwissenschaftler als ein Sprecher, der sich gegen den Standpunkt seines Gegners erbittert zur Wehr setzt, indem er ihn zurückweist und diskreditiert – also genauer gesagt als Polemiker. Das Einnehmen dieser Haltung wird durch eine Neudefinition des wissenschaftlichen Diskurses gerecht|| 56 Vgl. ebd., S. 16: It is described as „a circle that cannot be squared in reality“. 57 Vgl. ebd.: „[T]he State is the only real defense against the barbarism of the market“. 58 Vgl. ebd.: The leaders of the New Labour „seek to achieve rhetorically what they cannot achieve (given their neo-liberal commitments) in reality – a reconciliation of neo-liberal ‚enterprise‘ with ‚social justice‘. Language on this account is crucial in New Labour“.
346 | Ruth Amossy fertigt. Dieser wird nicht als „bloßes Sprachspiel unter anderen“ verstanden, auch wenn die Wissenschaft behauptet, keine Besonderheit zu beanspruchen (Chouliaraki und Fairclough, die sich auf Lyotard59 berufen) – sondern als notwendiger Teil jeder kritischen Gesellschaftsanalyse.60 Und Kritik, Sprachkritik eingeschlossen – Fairclough erinnert uns daran –, ist nicht rein akademischer Natur, sondern Teil des gesellschaftlichen Lebens und Teil gesellschaftlicher Konflikte, und diese Kritik kann auf sie einwirken, vorausgesetzt, dass es tatsächlich einen Dialog zwischen verschiedenen öffentlichen Bereichen gibt.61 Mit anderen Worten ist der Wissenschaftler ein Sprecher, der sich sowohl an die scientific community wendet, die ihn anerkennen und seine Erkenntnisse in den bestehenden Wissensschatz aufnehmen soll, als auch an die breite Masse; er bewegt sich sowohl auf wissenschaftlichem Terrain als auch in der Öffentlichkeit. Doch trotz dieses neuen Verständnisses ist der Diskurs auch hier einer Spannung zwischen entgegengesetzten Polen, die in Einklang gebracht werden müssen, ausgesetzt: Wie konstruiert und verbindet er das Bild des Gesellschaftskritikers als Forscher, der die gesellschaftliche Realität akribisch und systematisch beschreibt, und das Bild des Kritikers als engagierter Bürger oder gar als Aktivist, der für eine Sache kämpft? Diese Frage stellt der Kritische Diskursanalytiker in seinen reflektierenden Kommentaren selbst. Darin stellt er die Wissenschaftlichkeit eines Diskurses in Frage, der von Analytikern geführt wird, die keinen Abstand zu den in der Gesellschaft Handelnden wahren. Mit welcher Begründung, so fragt Fairclough andernorts62, können wir behaupten, dass dieser kritische Diskurs dem Diskurs überlegen ist, den er mithilfe seiner Kritik teilweise selbst kritisiert?63 Anders gesagt, was verleiht dem Analytiker politischer Diskurse seine Glaubwürdigkeit und wissenschaftliche Autorität? Bei seiner Antwort verweist Fairclough auf die Beweiskraft von Erklärungen: Sie || 59 Lily Chouliaraki und Norman Fairclough, Discourse in Late Modernity. Rethinking Critical Discourse Analysis, Edinburgh 2004 [1999], S. 8: It is „just one language game amongst others, even if it attempts to rhetorically disclaim its particularity“. 60 „[A] necessary part of any critical social analysis“. 61 Vgl. ebd., S. 9: „[C]ritique (including critique of language) is not just academic but a part of social life and social struggles […], and […] it can in turn contribute to them providing there is a real dialogue across public spheres“. 62 Norman Fairclough, The nature of analysis in CDA, and the case for incorporating analysis and evaluation of argumentation; erstmals vorgetragen auf der Tel-Aviv Conference Analyzing Discourse and Argumentation Today. Contemporary European Trends, im Juni 2011 (auf Französisch erschienen in: Argumentation et analyse du discours 9 [2011]). 63 Vgl. ebd.: „On what grounds „can we say that this critical discourse is superior to the discourse which its critique is partly a critique of?“
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seien dann besser als andere, wenn sie größere Übereinstimmung mit allen vorliegenden Belegen aufwiesen und wenn sie begründete Erklärungen von so vielen Aspekten und Eigenschaften64 des untersuchten gesellschaftlichen Phänomens wie möglich lieferten: Erklärungen müssen dergestalt sein, dass wir sie verteidigen und rechtfertigen können, wenn sie angefochten werden.65 Er fügt hinzu, dass die relative Beweiskraft der verschiedenen Erklärungen, Diskurse und Theorien durchgehend ein strittiges Thema sei.66 Betrachten wir nun die Verfahrensweise des Kritischen Diskursanalytikers, um zu sehen, wie dieser von Grund auf ein Ethos von Glaubwürdigkeit und Autorität konstruiert und wie er dieses mit dem Bild des sozialen Anklägers und engagierten Bürgers vereinbart. Tatsächlich lässt er das Ethos eines wissenschaftlichen Analytikers erkennen, indem er dem Leser eine detaillierte Analyse anhand von aus der Linguistik entlehnten Kategorien vermittelt und auf verschiedene Wesenszüge des Diskurses von New Labour hinweist. Die Anwesenheit des Analytikers im Diskurs wird getilgt, gerade das soll aber den demonstrativen Wert des Texts unter Beweis stellen. Fairclough gibt Beispiele, längere Zitate, die es den Lesern gestatten, sich von der Richtigkeit seiner Erkenntnisse zu überzeugen, und zeigt damit, dass seine Erklärung auf verfügbaren Belegen beruht. Diese qualitative Analyse ausgewählter Zitate wird von einer quantitativen Analyse immer wiederkehrender Begriffe gestützt. Des Weiteren werden die linguistischen Mittel, die zum Herausarbeiten der zu analysierenden Phänomene verwendet werden, vorgestellt und definiert. So zeigt Fairclough, wie Blair, wenn er über die Weltwirtschaft spricht, den Prozess als ein abstraktes, unpersönliches Agens darstellt: den Wandel, der die Welt in rasender Geschwindigkeit erfasst, die Herausforderung, die die moderne Welt darstellt, etc. Er weist auch auf Nominalisierungen hin – Wandel („change“) wird als Substantiv und nicht in seiner gleichlautenden verbalen Form verwendet und somit konzeptuell vom aktuell ablaufenden Geschehen abgetrennt. Indem sie die Prozesse selbst in den Hintergrund dränge, verdränge Nominalisierung auch Fragen nach dem Agens und der Kausalität oder auch danach, wer oder was den Wan-
|| 64 Vgl. ebd.: „Explanations are better than others if they are more consistent with whatever evidence exists“, and if they „provide justified explanations of as many features and aspects“ as possible of the investigated social phenomenon. 65 Vgl. ebd.: „[E]xplanations must be such that we can defend them and justify them if challenged“. 66 Vgl. ebd.: „The relative explanatory power of different explanations, discourses and theories is of course an issue which is constantly in contention“.
348 | Ruth Amossy del bewirkt.67 Der angeführte Satz (siehe Fußnote) zeigt, dass sich die Terminologie an ein Fachpublikum richtet und gleichzeitig eine breitere Öffentlichkeit anspricht, für die die Paraphrase („wer oder was den Wandel bewirke“) bestimmt ist. Fairclough zeigt also, dass der Agent, der für den Wandel verantwortlich ist, in Blairs Formulierung beseitigt wurde (obgleich wir wissen, dass der Wandel teilweise von der Wirtschaft und der Regierung in Gang gesetzt wurde); seines Agens beraubt erscheint der Wandel somit unausweichlich. Ebenso akribisch analysiert der Autor die unausgesprochenen Prämissen, die den Äußerungen zugrunde liegen, und andere rhetorische Mittel, wie beispielsweise Formen der Aufzählung. Seiner Ansicht nach beschreiben unzusammenhängende Auflistungen verschiedene Formen des Wandels als gleichartig, ohne jeden Versuch, tiefergehende Beziehungen zwischen diesen anzugeben oder eine strukturierte Erklärung zu liefern. Das hat zur Folge, dass die einzige Funktion dieser Auflistung ist, einen kumulativen Effekt zu erzielen und dadurch den Leser von dem zu überzeugen, was der Diskurs propagiert: dass der Wandel Realität sei, was für Blair bedeutet, dass auch wir uns verändern müssen. Das wird durch eine Konstruktion verstärkt, die „change“ und „us“ als zwei voneinander getrennte Konzepte darbietet – entweder der Wandel überwältigt uns, oder wir widersetzen uns ihm, oder wir überleben und kommen dank ihm voran: ‚Wir‘ seien ohne eigenes Zutun Betroffene des Wandels und könnten nicht als Teilnehmer am Wandel dessen Richtung aktiv beeinflussen.68 Daran können wir sehen, dass die Bedeutung der Weltanschauung, die der Diskurs erkennen lässt, durch die Konfrontation mit anderen Möglichkeiten offensichtlich gemacht wird, die der Analytiker benennt und als überlegen darstellt. Demzufolge ist es das Ziel des Analytikers, die innere versteckte Logik eines politischen Diskurses aufzudecken und zu entkräften. Er erreicht das durch eine eingehende Beschreibung sprachlicher Eigenschaften des Diskurses, die die Grundlage für eine Erklärung bilden, die zu einer Anklage dessen wird, was er als manipulativen Diskurs versteht. Er demonstriert beispielsweise, dass der New Labour-Diskurs den Wandel als autonomes und unvermeidliches Konzept darstellt: Die Adressaten müssen damit zurechtkommen und sich anpassen. Ebenso zeigt er, wie dieser Diskurs Themen vereint, die zuvor als unvereinbar
|| 67 Ders., New Labour, New Language, S. 26: „In backgrounding the processes themselves, nominalization also backgrounds questions of agency and causality, or who or what causes the change“. 68 Vgl. ebd., S. 27: „We are confronted with change as effects without agency, rather than being participants in change able to affect its direction“.
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galten,69 indem er Begriffe verwendet, die anderen politischen Diskursen (der Linken wie der Rechten) entstammen, und diese mit Konnektoren wie „not only but also“, „yet also“, „as well as“ verbindet. Der New Labour-Diskurs mache damit auf die vermuteten Unvereinbarkeiten aufmerksam, widersetze sich diesen jedoch gleichzeitig auf eine Art und Weise, die den Erwartungen zuwiderlaufe und für Überraschung sorge.70 Hier mache wiederum die Verwendung von Aufzählungen von Dingen, die als unvereinbar gälten, aber vereint würden,71 wichtige Unterschiede unkenntlich (beispielsweise den Gegensatz zwischen Recht und Verantwortlichkeit einerseits und einem wirtschaftsfreundlichen Kurs und der Bekämpfung der Armut andererseits) und lenke die Aufmerksamkeit davon ab, wie diese Gegensätze in Einklang gebracht werden sollen. All diese detaillierten Analysen zeugen von der Ernsthaftigkeit des Analytikers als Linguist und werden mittels des geläufigen Verfahrens durchgeführt, das das ‚Ich‘ tilgt, was ja das wissenschaftliche Ethos begründen soll. Wir erkennen hier, dass in der Kritischen Diskursanalyse das wissenschaftliche Ethos erneut im Spannungsfeld verschiedener Selbstbilder steht. Die Neudefinition des Sozialwissenschaftlers als eines engagierten Bürgers, der aufgrund seiner beruflichen Betätigung in der Öffentlichkeit auftreten muss, führt jetzt zu einer anderen Art der Balance von Neutralität und Engagement. Der Autor übernimmt die Rolle des Wissenschaftlers, der im Austausch mit seinen Fachkollegen steht, sowie die des Pädagogen, der seine Mitbürger leitet, aber auch die Rolle des Sozialkritikers und Anklägers – in der französischen Tradition ist es die des Intellektuellen, des Denkers, der als engagierter Bürger auftritt. Fairclough sieht keinen Widerspruch zwischen diesen verschiedenen Identitäten, obgleich er sich bemüht zu verhindern, dass das Bild des engagierten Intellektuellen dem des glaubwürdigen Analytikers schadet, und er mithilfe der in seiner Disziplin anerkannten Verfahren sorgfältig das wissenschaftliche Ethos konstruiert. Man muss wohl nicht erwähnen, dass diese kurze Darstellung nicht die gesamte akademische Arbeit Faircloughs beschreiben kann: Stattdessen geht sie von einem seiner Texte aus und zeigt, dass diese Auffassung vom Sozialwissenschaftler und seiner Aufgabe eine besondere Ethoskonstruktion voraussetzt. Allerdings liegt der Unterschied zwischen den drei hier vorgestellten Fallstudien hauptsächlich in dem Stellenwert, der den verschiedenen Bildern des Forschers zukommt, und in der Art der Balance, die zwischen verschiedenen, || 69 Vgl. ebd., S. 44. 70 Vgl. ebd., S. 45. 71 Vgl. ebd.: „[L]ists of assumed irreconcilables reconciled“.
350 | Ruth Amossy wenn nicht gar gegensätzlichen Bildern hergestellt wird – nicht in der Funktionsweise, die die Konstruktion des Ethos als solche kennzeichnet.
Schluss Ich hoffe, meine Studie hat gezeigt, dass das Ethos des Geistes- und Sozialwissenschaftlers, und insbesondere des Wissenschaftlers, der sich mit politischen Diskursen befasst, nicht auf ein neutrales Selbstbild reduziert werden kann. Es integriert verschiedene Bilder, einschließlich das des Evaluierenden, des Anklägers, des Experten, des engagierten Bürgers usw. Diese Bilder, ob sie nun bewusst und überlegt oder spontan und unabsichtlich zustande gekommen sind, lassen sich im Diskurs im Einzelnen nachweisen. Das wissenschaftliche Ethos, zumindest in den Sozial- und Geisteswissenschaften, ist durch eine konstitutive Spannung gekennzeichnet. Die genannten Bilder müssen so miteinander vermittelt werden, dass sich eine Balance einstellt und dass ein stimmiges Ethos des Wissenschaftlers entsteht, Bedingung der Glaubwürdigkeit des Diskurses. Die Rahmenbedingungen für die Konstruktion dieses Ethos hängen größtenteils von dem Bild ab, das der Sprecher sich explizit oder implizit vom Wissenschaftler macht. Allerdings erklären der Metadiskurs und offene Kontroversen die Sorgfalt, mit der das Ethos in den Texten konstruiert wird, nicht vollständig. Sie dienen nur als Vergleichsgrundlage, anhand derer individuelle Strategien unterschieden werden können. Oft entzieht sich die Konstruktion des wissenschaftlichen Ethos der Kontrolle durch theoretische Erwägungen; dies deutet auf Probleme hin, die dem Bild des Wissenschaftlers und der Art der wissenschaftlichen Tätigkeit eigen sind. Wir haben es mit einer komplexen und wandelbaren Funktionsweise zu tun, die weiter erforscht werden muss. Der vorliegende Aufsatz versucht das Forschungsgebiet zu erweitern, indem er über das sogenannte neutrale Selbstbild des Wissenschaftlers hinaus einen weiteren zentralen Aspekt der diskursiven und rhetorischen Konstruktion des wissenschaftlichen Ethos darlegt. (Deutsche Übersetzung: Stefan Mordstein und Martin Riedelsheimer)
Wolfgang Detel
Pathos und Wahrheit Die Trias Logos – Ethos – Pathos geht bekanntlich auf die aristotelische Lehre von den drei rhetorischen Überzeugungsmitteln (Logos, Ethos, Pathos) zurück, die Aristoteles zu Beginn seiner Rhetorik unvermittelt einführt und nicht weiter begründet.1 Über das Verhältnis dieser Überzeugungsmittel zueinander gibt es in der neueren Forschung eine intensive Debatte.2 Wenn man die wichtigsten Bemerkungen zu diesem Thema bei Aristoteles selbst zusammennimmt, dann wird deutlich, dass Aristoteles (a) davon ausgeht, dass die drei Überzeugungsmittel unabhängig voneinander eingesetzt werden können, (b) das beweisende Überzeugungsmittel (den Logos als verkürzten Syllogismus, also das Enthymema) als das wichtigste Überzeugungsmittel betrachtet, und (c) annimmt, dass der Einsatz von Ethos und Pathos nicht im Widerspruch zur beweisenden Überzeugung stehen muss, sondern konsistent mit dem Logos verbunden werden kann. Aufgrund von (a) hält Aristoteles eine intime Verschränkung zwischen dem Logos einerseits sowie dem Ethos und Pathos andererseits nicht für möglich, und aufgrund von (b) betrachtet er die drei Überzeugungsmittel nicht als gleichrangig. Insbesondere kritisiert er die exklusive Fokussierung der traditionellen Rhetorik auf das Pathos, also auf die gezielte Manipulation der Emotionen des Auditoriums. Dieser Fokus beruht auf den beiden Annahmen, dass
|| 1 Vgl. Aristoteles, Rhetorik, übersetzt und kommentiert von Christof Rapp, Halbbd. 2, Berlin 2002, 1356a2–20. 2 Vgl. z.B. Myles Burnyeat, Enthymeme. The Logic of Persuasion, in: David J. Furley und Alexander Nehamas (Hrsg.), Aristotleʼs Rhetoric, Princeton 1994, S. 3–55; Christopher Carey, Rhetorical means of persuasion, in: Ian Worthington (Hrsg.), Persuasion. Greek rhetoric in action, New York 1994, S. 26–45; Christof Rapp, Aristoteles, Rhetorik, Halbbd.1, S. 354–362, Christof Rapp, Aristotle’s Rhetoric, in: Edward N. Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, (Spring 2010 Edition), Abschnitt 5; http://plato.stanford.edu/archives/spr2010/entries/aristotle-rhetoric/ [letzter Zugriff am 16. Januar 2015].
352 | Wolfgang Detel (d) die Wahrheit relativ ist und ein guter Rhetor eine Annahme und ihr Gegenteil gleich gut begründen kann, so dass der Logos, die Beweislage, stets uneindeutig ist, und (e) daher die wichtigste Aufgabe des Rhetors darin besteht, die Emotionen seiner Zuhörer so zu steuern, dass sie der Beweislage weniger Beachtung schenken und die Ausführungen des Rhetors emotional unterstützen. Für Aristoteles stehen (b) und (c) im Widerspruch zu (d) und (e). Darin sieht er die wesentliche Differenz zwischen seiner rhetorischen Lehre und den Rhetoriken vor ihm. Seiner Auffassung nach ist der Wahrheitsrelativismus falsch. Und die meisten Leute finden eine gut begründete Argumentation auch überzeugend. Daher muss sich der Rhetor grundsätzlich stets an einer sachgerechten, beweisenden Argumentation orientieren. Das Pathos, also die Steuerung der Emotionen, kann aber die Urteilsbildung des Auditoriums gezielt unterstützen. Zum Beispiel kann diese emotionale Steuerung irrationale festgesetzte Überzeugungen ausschalten, die der Überzeugungskraft der beweisenden Argumentation entgegenstehen. Auf diese Weise soll das Pathos dem Logos dienen, nicht den Logos vernebeln. Diese Strategie wird auf theoretischer Ebene dadurch unterstützt, dass Aristoteles eine kognitive Emotionentheorie vertritt, der zufolge die Emotionen ohnehin stets mit Urteilen verbunden sind. Vor diesem Hintergrund können Emotionen direkt an verbale, beweisende Argumentationen angeschlossen werden.3 Ein modernes Beispiel für dieses Verhältnis von Pathos und wissenschaftlicher Argumentation ist das Moratorium zur Forschung über gezielte Manipulationen von DNA-Strukturen, das im Cambridge Experimentation Review Board (CERB) in den Jahren 1976 und 1977 diskutiert wurde (gemeint ist Cambridge, Massachusetts). Diese Diskussion wurde von Craig Waddell unter dem Aspekt der Verschränkung von strikt naturwissenschaftlicher Argumentation und dem Einsatz von Pathos untersucht.4 In dieser Diskussion präsentierte zum Beispiel auf den ersten Blick George Wald, Professor für Biologie in Harvard, eine strikt objektivistische Argumentation, während David Nathan, Chefarzt für Hämatologie und Onkologie am Kinderkrankenhaus in Boston, ein emotionales Bild der Leiden vieler Kinder in seinem Krankenhaus und einer möglichen Linderung durch manipulative DNA-Forschung zeichnete. Genau besehen griff jedoch auch Wald auf das Pathos zurück, zum Beispiel wenn er die Konsequenzen || 3 Vgl. dazu zur Übersicht Christof Rapp, Aristoteles, Rhetorik, Halbbd. 1, S. 355–366. 4 Vgl. Craig Waddell, The role of pathos in the decision-making process, in: Quarterly Journal of Speech 76 (1990), S. 381–400.
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fehlerhafter, gewagter und gefährlicher (hazardous) Genmanipulationen schilderte. Obwohl, wie Waddell bemerkt, das CERB sich sehr darum bemühte, primär der wissenschaftlichen Argumentationslinie zu folgen, dokumentieren die Sitzungsprotokolle eindeutig, wie sehr die emotionalen Appelle und das mitgeführte Pathos die Entscheidungen des CERB beherrschten und beeinflussten. Diese Konzeptualisierung des prekären Verhältnisses von wissenschaftlichem Pathos zum Wahrheitsanspruch der Wissenschaften zielt allerdings eher auf eine äußerliche Verkoppelung von Pathos und Logos. Eine intimere Verschränkung würde sich ergeben, wenn das Pathos eine direkte Funktion für wissenschaftliche Wahrheitsansprüche erhielte und direkter mit der wissenschaftlichen Argumentation verbunden wäre. Man könnte in diesem Fall von einem Pathos der Wahrheit sprechen – wenn dieser Titel nicht durch Nietzsche verbrannt wäre: O der verhängnisvollen Neubegier des Philosophen, der durch eine Spalte einmal aus dem Bewußtheits-Zimmer hinaus- und hinabzusehen verlangt: vielleicht ahnt er dann, wie auf dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Ekelhaften, dem Erbarmungslosen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtswissens und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend. „Laßt ihn hängen“, ruft die Kunst. „Weckt ihn auf“, ruft der Philosoph im Pathos der Wahrheit. Doch er selbst versinkt, während er den Schlafenden zu rütteln glaubt, in einen noch tieferen magischen Schlummer – vielleicht träumt er dann von den „Ideen“ oder von der Unsterblichkeit. Die Kunst ist mächtiger als die Erkenntnis, denn sie will das Leben, und jene erreicht als letztes Ziel nur – die Vernichtung.5
Im Folgenden versuche ich, zwei Strategien einzukreisen und anhand einzelner Beispiele zu erläutern, in denen das Pathos eine Form anzunehmen scheint, in der es intimer in wissenschaftliche Diskussionen eingreift. Ich möchte diese Formen das rhetorische Pathos und das überzogene Pathos nennen. Meine leitende Frage ist also: Wie verhalten sich das rhetorische und das überzogene Pathos zum Wahrheitsanspruch der Wissenschaften?
|| 5 Friedrich Nietzsche, Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern. 1. Über das Pathos der Wahrheit, in: ders., Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. 3, München 1954, S. 271.
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1. Das rhetorische Pathos Das rhetorische Pathos besteht im Kern in der Verwendung rhetorischer Stilfiguren, d.h. der figurativen Rede. Diese Strategie verfolgt nach herkömmlicher Auffassung eine Reihe von Zielen, zum Beispiel -
Lücken in der rationalen Begründung zu überspielen, problematische Konstruktionsleistungen unsichtbar zu machen, die Relevanz von Problemstellungen zu steigern, oder bestimmte Wissenschaftsverständnisse zu propagieren.
Diese Ziele sollen nach verbreiteter Meinung dadurch erreicht werden, dass der Fokus vom Inhalt der Aussage auf ihre Form gelenkt wird. Die figurative Rede soll darin bestehen, dem Gehalt eines Gedankens eine ästhetische Form und Fassung zu geben, die der Überzeugungskraft des Gedankens mit außerwissenschaftlichen Mitteln einen zusätzlichen Schub vermittelt. Kurz, das rhetorische Pathos wird gewöhnlich in Begriffen des Form-Inhalt-Dualismus beschrieben, der seinerseits auf eine lange Tradition zurückgeht. Diese Beschreibung legt den Schluss nahe, dass das rhetorische Pathos mit den Prinzipien rational verfahrender Wissenschaften und ihrem Wahrheitsanspruch kollidiert. Meine These ist, dass der Form-Inhalt-Dualismus die falsche Denkfigur zur Kennzeichnung des rhetorischen Pathos ist. Wenn wir uns vom eingespielten Form-Inhalt-Dualismus befreien, wird eine ganz andere Funktion des rhetorischen Pathos sichtbar, die das Verhältnis von rhetorischem Pathos zu Wahrheitsansprüchen auf neue Weise beleuchten kann. Ich möchte diese These durch eine kurze Betrachtung einiger Stilfiguren und durch die Diskussion einer bestimmten wissenschaftlichen Metapher zu begründen versuchen. Klangfiguren und Positionsfiguren scheinen sich am deutlichsten dem Form-Inhalt-Dualismus zu fügen, denn sie arbeiten mit Lautmaterial bzw. mit Wort- oder Satzstrukturen. Doch diese Einschätzung ist einseitig. Wir könnten zum Beispiel mit einigem Recht behaupten, dass es in den Staaten politisch nicht eben vernünftig zugeht. Stattdessen könnten wir aber auch mit Seneca formulieren: Si percensere singulas voluero, nullam inveniam quae sapientem aut quam sapiens pati possit [wenn ich die einzelnen Staaten mustern will, werde ich keinen finden, der die Weisen oder den der Weise ertragen könnte (De otio 8,3)].
Dieses Polyptoton (eine Klangfigur) bringt durch die Wortwiederholung von sapiens die dramatische Unvereinbarkeit von Vernunft und herkömmlichem
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politischem Handeln zum Ausdruck. Das Polyptoton unterstützt den ursprünglichen Gedanken nicht nur, es pointiert und radikalisiert ihn, indem es die grundsätzliche Inkonsistenz von herkömmlicher Politik und Vernunft betont. Kurz, dieses Polyptoton hat auch eine semantische Dimension. Die Rhetorica ad Herennium (IV, 19) zitiert als Beispiel für eine Epipher (eine Positionsfigur) den Satz Poenos populus Romanus iustitia vicit, armis vicit, liberalitate vicit [Die Punier hat das römische Volk durch Gerechtigkeit besiegt, durch Waffengewalt besiegt, durch edle Gesinnung besiegt].
Diese Epipher drückt den schlichten Gedanken, dass die Römer die Punier vollständig besiegt haben, differenzierter und genereller aus, indem die drei zentralen Ebenen (Moral, Militär, Ethos) unterstrichen werden, auf denen sich die Überlegenheit der Römer manifestiert hat. Auch hier kann man m.E. geltend machen, dass diese Positionsfigur semantisch relevant ist. Sinnfiguren arbeiten mit semantischer Verfremdung, zum Beispiel das Hysteron proteron Ihr Mann ist tot und lässt Sie grüßen in Goethes Faust oder das Paradoxon in einer berühmten Zeile von Horaz: magnas inter opes inops (inmitten von Reichtum arm). Semantische Verfremdung ist keine bloße Form mehr, sondern fokussiert unsere Aufmerksamkeit stark auf den semantischen Gehalt einer Aussage, etwa auf die harte, traurige und krasse Situation, dass ein Ehemann seine Frau noch kurz vor seinem Tod hat grüßen lassen oder dass Superreiche kreuzunglücklich und handlungsunfähig sein können. Diese Diagnose gilt in noch höherem Maße für die Tropen, die nach gängiger Auffassung ausschließlich in einer übertragenen Bedeutung gebraucht werden, insbesondere für die Sprungtropen, z.B. die Königin aller Stilmittel, die Metapher. Metaphern sind meist falsche Sätze. Wie könnte ein falscher Satz auf Wahrheit bezogen sein? Eine Antwort auf diese Frage zeichnet sich ab, wenn man eine kognitivistische Metapherntheorie vertritt. Eine plausible Form dieser Theorie lässt sich folgendermaßen skizzieren:
356 | Wolfgang Detel M Die grundlegende Form einer Metapher ist ein falscher Satz der Form A ist B derart, dass gilt: M 1 Es gibt Eigenschaften von B-Dingen, derart dass für einige dieser Eigenschaften – nennen wir sie Ci – die Behauptung, A sei Ci, wahrheitswertdefinit ist.6 M 2 Für einige der Ci, für die die Sätze „A ist Ci“ wahrheitswertdefinit sind, gilt, dass sie wahr sind, und für einige dieser wahren Sätze gilt, dass sie bisher noch nicht bekannt waren. M 3 Unternehme den Versuch, die wahren Sätze, deren Existenz in M 2 behauptet wird, mit Hilfe Deines Wissens über Bʼs (und somit mit Hilfe des falschen Satzes in M aufzufinden und auf Wahrheit und Innovativität zu prüfen, und Du wirst solche wahren Sätze finden! Angenommen, Schopenhauer hätte nicht geometrische Beweise mit Mausefallen verglichen, sondern einfach gesagt, dass geometrische Beweise Mausefallen sind, dann wäre dieser Satz eine Metapher gewesen. Sie hätte dann die sprachliche Form: „Geometrische Beweise sind Mausefallen.“ Natürlich sind geometrische Beweise alles andere als Mausefallen. Aber Schopenhauer hätte unterstellen wollen, dass Mausefallen Eigenschaften haben, die auch auf geometrische Beweise zutreffen und ein interessantes Licht auf geometrische Beweise werfen können. Mit der Formulierung der Metapher werden uns diese Eigenschaften nicht genannt, aber es wird uns verheißen, dass es sie gibt, und wir werden mit der Metapher aufgefordert, sie zu suchen und zu finden. Vielleicht sind wir ähnlich wie Schopenhauer der Meinung, dass Mausefallen ihre Opfer mit der trügerischen Hoffnung auf Belohnung anlocken, sie Schritt für Schritt in ihren Bann ziehen und zum Schluss unbarmherzig fangen – und dass dies alles auch für geometrische Beweise gilt. Vielleicht sehen wir in Mausefallen aber auch kalte Mechanismen, die zu einer Erstarrung führen, in der man sich nicht mehr rühren kann – und halten diese Aspekte auch im Falle von geometrischen Beweisen für zutreffend. Und vielleicht kommen andere Interpreten noch auf ganz andere Ideen – wer weiß. Der Existenzsatz M 1 verweist auf die kognitive Offenheit der Metapher (die Eigenschaften Ci müssen noch gefunden werden, und dieser Prozess ist zuweilen unabschließbar). Die Bedingungen M 2 und M 3 können als Verheißungen der Metapher betrachtet werden. M 2 beschreibt den möglichen zusätzlichen kognitiven Gehalt der Metapher, und M 3 ist als Sprechakt ein Appell zum || 6 Ein Satz heißt wahrheitswertdefinit, wenn er einen Wahrheitswert hat, also wahr oder falsch sein kann. Fragen sind zum Beispiel nicht wahrheitswertdefinit.
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interpretativen Umgang mit der Metapher. Nach M ist eine Metapher umso besser und erfolgreicher, je mehr wahre Einsichten über A-Dinge sich mit ihrer Hilfe finden lassen, d.h. je größer ihr zusätzlicher kognitiver Gehalt ist. Die Form, in der eine erfolgreiche Metapher zur Auffindung ihres zusätzlichen kognitiven Gehalts führt, ist ein logisch gültiger Schluss der Gestalt „A ist ein B (oder: alle A-Dinge sind B); alle B-Dinge sind Ci; folglich ist A (oder: sind alle ADinge) Ci.“ Die in M skizzierte Metapherntheorie zeigt also, inwiefern eine rhetorische Stilfigur, die aus einem falschen Satz besteht, dennoch zur Entdeckung von Wahrheiten führen kann.7 Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Wissenschaften voller Metaphern stecken. Ich möchte diese Diagnose anhand einer der berühmtesten Wissenschaftsmetaphern des 20. Jahrhunderts genauer belegen, der Metapher nämlich, dass der menschliche Geist ein Computer ist, oder genauer dass der menschliche Geist die Software (d.h. das Programm) des menschlichen Gehirns ist. Natürlich ist es falsch, dass der menschliche Geist ein Computer oder eine Software ist, denn Computer und Software werden von Menschen gebaut, der menschliche Geist dagegen (bisher) nicht. Wissenschaftshistorisch interessanter ist es, jene Metapher zu studieren, mit der die sogenannte Computer-Theorie des Geistes ursprünglich eingeführt wurde – in jenem legendären Artikel des Philosophen Hilary Putnam, der unter dem unscheinbaren Titel Psychological Predicates im Jahre 1967 veröffentlicht wurde und der die damalige Szene in der Theorie des Geistes auf einen Schlag nachhaltig veränderte.8 Bis zu diesem Zeitpunkt dominierte nämlich die beha|| 7 Zur Explikation und Verteidigung dieser Metapherntheorie vgl. ausführlicher Wolfgang Detel, Geist und Verstehen. Historische Grundlagen einer modernen Hermeneutik, Frankfurt a.M. 2011, Abschnitt 9.5. 8 Vgl. Hilary Putnam, Psychological Predicates, in: William H. Capitan und Daniel. D. Merrill (Hrsg.), Art, Mind, and Religion, Pittsburgh 1967, S. 37–48 (später publiziert unter dem Titel „The Nature of Mental States“ in: ders., Mind, Language, and Reality, Cambridge 1975). Noch heute gilt die Computer-Theorie des Geistes in der Philosophie des Geistes („Computationalism“) und in manchen anderen Kontexten als Leitbild. So schreibt etwa Gualtiero Piccini, Computationalism in the Philosophy of Mind, in: Philosophy Compass 4 (2009), S. 1–18, hier S. 1: „Computationalism has been the mainstream view of cognition for decades. There are periodic reports of its demise, but they are greatly exaggerated.“ Ein prominenter philosophischer Vertreter des Computationalismus ist Jerry Fodor, The Language of Thought, New York 1975. Im NLP (neuro-linguistisches Programmieren) wird diese Position fest vorausgesetzt: „Die Computer-Theorie des Geistes ist das gegenwärtig bestimmende Paradigma in der kognitionswissenschaftlichen Forschung. Sie beschreibt den menschlichen Geist in Analogie zum Computer als ein Programm, das auf einer Hardware, dem Gehirn, implementiert ist [...]. Der
358 | Wolfgang Detel vioristische Auffassung des Geistes, deren zentrale These war, dass psychische Phänomene nichts anderes als bestimmte Verhaltensdispositionen sind und der Geist nicht ein Gespenst im Gefäß des Körpers ist. Putnam schlug dagegen eine funktionale Theorie des Geistes vor, der zufolge der Geist eine Menge von Funktionen oder funktionalen Mechanismen ist. Ein psychologischer Zustand wie beispielsweise Angst hat die Funktion, aufgrund einer Wahrnehmung von etwas Gefährlichem eine überlebensdienliche Reaktion auszulösen. Allgemein ist der funktionale Mechanismus eines Systems die Art und Weise, in der jede Systemkonfiguration durch Inputs und frühere Konfigurationen kausal bestimmt ist. Zur Erläuterung dieses Gedankens zog Putnam die gedankliche Konstruktion einer Turing-Maschine heran. Diese Maschine besteht aus einem unendlichen Band mit Abschnitten, die die Symbole 0 und 1 enthalten können. Ferner gehört zur Turing-Maschine ein Erkennungs- und Schreibmechanismus, der die Symbole registriert und in freie Felder 0 oder 1 einträgt. Und schließlich gehören zu dieser Maschine auch Anweisungen (ein ‚Programm‘ in Gestalt mathematischer Funktionen), das die Maschine dazu bringt, zu jeder gegebenen Kombination aus 0 und 1 (inputs) links vom Schreibmechanismus im nächsten freien Feld ein Symbol (0 oder 1: output) einzutragen. Diese Anweisungen nannte Putnam die Maschinenbeschreibung, die den funktionalen Mechanismus darstellt. Ein funktionaler Mechanismus (ein ‚Programm‘) lässt sich in einem physikalischen System verankern oder ‚realisieren‘ (in der hardware sozusagen). Auf dieser Grundlage führte Putnam dann den neuen funktionalen Begriff des Geistes ein: Ein Organismus hat einen Geist, wenn der Organismus ein Gehirn hat, das eine TuringMaschine (also einen funktionalen Mechanismus) realisiert und damit eine Maschinenbeschreibung erfüllt.
|| Grundgedanke besteht darin, semantische Eigenschaften auf physikalische zurückzuführen. Kognitive Prozesse gelten demnach als elementare Rechenprozeduren, die in einer im Gehirn fest installierten logischen Sprache ausgeführt werden.“ (Gerhard Strube, Wörterbuch der Kognitionswissenschaft, Stuttgart 1996, S. 91). Die Computertheorie des Geistes ist für NLP bedeutsam. Robert Dilts und Todd Epstein, Overview of Basic NLP Skills and Tools, Ben Lomond/CA 1992, S. 20 bezeichnen sie als die „Basisprämisse“ des NLP. Sie findet sich in vielen Texten und steht auch im Zusammenhang mit der Wortgebung von NLP als „Programmieren“ (Jan Ardui und Peter Wrycza, NLF – Presuppositions Revisited, in: NLF World 1 (1994), S. 8–15, hier S. 11).
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Diese Definition war insofern noch zu idealisiert, als Gehirne nicht über unendlich viele Zustände laufen können und oft eher durch Übergangswahrscheinlichkeiten bei Zustandsänderungen gekennzeichnet sind. Putnam nannte eine Turing-Maschine, die mit sinnlichen Inputs, endlichen Zuständen und Übergangswahrscheinlichkeiten arbeitet, einen probabilistischen Automaten. Die verbesserte Geist-Definition lautete dann: Ein Organismus hat einen Geist, wenn der Organismus ein Gehirn hat, das einen probabilistischen Automaten realisiert.
Diese Geist-Theorie benutzt also die Metapher, dass der menschliche Geist die Funktionsweise einer bestimmten Maschine bzw. eines bestimmten Automaten ist. Diese Metapher ist offensichtlich, buchstäblich verstanden, falsch, denn Maschinen und Automaten werden von Ingenieuren hergestellt, Gehirne mit geistigen Zuständen dagegen (bisher) nicht. Doch fordern uns diese Metaphern auf, nach Eigenschaften einer Turing-Maschine oder eines probabilistischen Automaten zu suchen, die auch auf den Geist zutreffen und informativ sind, d.h. die in Hinsicht auf den Geist wahr sind. Die weitere Diskussion hat schnell gezeigt, dass unter anderem Folgendes für Turing-Maschinen gilt: (a) Sie stellen einen Berechnungsmechanismus (computation) dar, der meist algorithmische Formen annimmt. (b) Sie sind multipel physikalisch realisierbar. (c) Sie operieren unter anderem über dem Gehirn von Organismen, also im Innenraum von Organismen. (d) Sie stellen für sich genommen eine abstrakte (d.h. nicht-materielle) Struktur dar. Diese vier Eigenschaften gelten, wie sich herausgestellt hat, auch für den menschlichen Geist. Die Computermetapher des Geistes ist also eine psychologische Aussage über die Ausübung bestimmter kognitiver Fähigkeiten, nicht eine neurophysiologische Aussage über das Gehirn.9 Doch zugleich sind die Eigenschaften (a)–(d) mit dem materialistischen Ansatz der behavioristischen Geist-Theorie unvereinbar. Putnams geist-theoretische Metapher erwies sich als wahrheitsfähig und als so informativ, dass sie eine etablierte wissenschaftliche Theorie stürzen konnte. Es handelte sich um eine sehr erfolgreiche Metapher. || 9 Vgl. dazu Andreas Kemmerling, Die (seiʼs auch metaphorische) These vom Geist als Computer, in: Wolfgang Lenzen (Hrsg.), Das weite Spektrum der analytischen Philosophie. Festschrift für Franz von Kutschera, Berlin und New York 1997, S. 112–134.
360 | Wolfgang Detel Am späteren Schicksal der funktionalen Geist-Theorie lässt sich noch eine andere Tugend guter Metaphern ablesen. Putnams Metaphern waren genau und pointiert formuliert. In dieser Genauigkeit lag auch eine Provokation. Die Falschheit der Metapher kontrastierte scharf mit ihrer Wahrheit. In solchen Situationen liegt es nahe, die Frage zu stellten, ob die Reichweite der Metapher nicht abgeschwächt werden sollte. In unserem Beispiel hieß das: Ist der Geist wirklich lediglich eine realisierte Turing-Maschine? Hat er tatsächlich nur Eigenschaften der Art (a)–(d), die auch für Turing-Maschinen erfüllt sind? Diese Frage wurde im Laufe der nächsten beiden Jahrzehnte negativ beantwortet: Der Geist hat neben den Eigenschaften (a)–(d) (die weiterhin anerkannt blieben), zumindest zwei weitere Eigenschaften, die den Turing-Maschinen nicht zukommen: Repräsentationalität und Bewusstsein. Putnams Metaphern waren so pointiert formuliert, dass sie einen bedeutenden wissenschaftlichen Fortschritt hervorriefen, der über ihren eigenen Geltungsbereich hinausführen sollte. Wenn wir also rhetorische Stilfiguren und insbesondere Metaphern auf semantische Weise beschreiben und nicht auf den Form-Inhalt-Dualismus zurückgreifen, wird ein Spielraum eröffnet, innerhalb dessen das rhetorische Pathos in einigen Fällen wissenschaftliche Wahrheitsansprüche sachlich untermauern konnte.
2. Das überzogene Pathos In einigen wissenschaftlichen Untersuchungen tritt ein Pathos auf, das mit großem Gestus auf das Grundlegende, Aufregende und radikal Neue bestimmter Thesen aufmerksam macht. Häufig wird auch eine radikale Opposition gegenüber eingespielten traditionellen Positionen deutlich gemacht. Bei genauerem Zusehen erweisen sich diese Thesen aber zuweilen als unbegründet. Dann handelt es sich um ein überzogenes Pathos. Ein Beispiel dafür ist das Werk des Mathematik-Historikers Reviel Netz, eines shooting stars der postmodernen Wissenschaftshistoriographie. Netz begründete seinen Ruhm mit einem Buch über die Geometrie der klassischen Antike, in dem es unter anderem um die Rolle gezeichneter Diagramme in geometrischen Beweisen geht.10 Netz kommt zu sensationellen Resultaten: Many assertions derive from the combination of text and diagram […]. There are assertions which are directly deduced from the diagram.11
|| 10 Reviel Netz, The shaping of deduction in Greek mathematics, Cambridge 1999.
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Ganz allgemein: The diagrams are the metonyms of propositions. […] The Greeks speak as if the object of the proposition is the diagram. […] We may now say that the mathematical apodeixis is, partly, a development of the rhetorical epideixis.12
Kurz, Netz zufolge spielen Diagramme, also visuelle, nur empirisch erfassbare Gebilde, eine deduktive Rolle in Beweisen der griechischen Geometrie und sind austauschbar (metonymisch) mit Sätzen. Mehr noch: Nicht Diagramme als Repräsentationen abstrakter geometrischer Entitäten, sondern die materiell gezeichneten empirischen Diagramme spielen diese Rolle. Und deshalb sind die Beweise deduktive Argumentationen, die sich in derselben Weise auf empirische Beispiele berufen wie die Argumentationen der klassischen Rhetorik. Diese Thesen würden, wenn sie korrekt wären, das bisherige Verständnis von Logik und Mathematik grundlegend erschüttern. Dem herkömmlichen Verständnis zufolge gibt es deduktive Beziehungen nur zwischen sprachlichen Gebilden. Empirie, Wahrnehmung und Deixis spielen allenfalls eine heuristische, nicht aber eine deduktive Rolle. Es gibt da nur ein kleines Problem. Die Textbelege, die Netz für seine großartigen Thesen anführt, sind unzureichend. Zu Beginn des Buches untersucht Netz die Funktion der Diagramme für die Beweise in der griechischen Geometrie und liefert jene Analysen, für die er berühmt geworden ist. Die These ist, dass verbaler Text und Diagramme in den Beweisen voneinander abhängig sind. Welche Gründe führt Netz dafür an? Zunächst fixieren die Diagramme häufig die Referenz der im Beweis verwendeten Buchstaben („Sei AB der Durchmesser eines gegebenen Kreises mit dem Mittelpunkt K“). „Fixieren von Referenz“ ist ein technischer Ausdruck der modernen Kripke-Semantik für die semantische Taufe, d.h. für das deiktische Zusprechen eines Eigennamens, der dadurch keine Bedeutung, sondern nur eine Referenz erhält. Tatsächlich behauptet Netz, dass die Buchstaben in den Diagrammen der griechischen Geometrie lediglich eine referierende Funktion haben und daher Indizes im Peirce’schen Sinne sind (gleichsam Etiketten für mathematische Objekte). Und daraus folgt für Netz, dass sich die Beweise und Behauptungen der griechischen Geometrie jeweils auf einzelne, konkrete Diagramme richten.13
|| 11 Ebd., S. 19 und 27. 12 Ebd., S. 40, 54 und 293. 13 Ebd., S. 51.
362 | Wolfgang Detel Das ist zweifellos nicht nur eine extravagante und überraschende, sondern prima facie auch extrem problematische These. Will Netz tatsächlich behaupten, dass die griechischen Mathematiker glaubten, dass ihre Beweise nur für das eine spezielle Diagramm mit den individuellen Maßen gelten, das sie sich zeichneten? Schon die Diskrepanz zwischen den Diagrammen, die sie sich bei Konstruktion des Beweises in den Sand oder sonst wohin zeichneten, und den Diagrammen, die dann in den zirkulierenden Papyri auftauchten (nicht zu reden von all den leicht verschiedenen Diagrammen, die man vermutlich im Unterricht verwendete) – eine Diskrepanz, die den griechischen Mathematikern natürlich klar sein musste – macht diese These fragwürdig. Mehr noch, dass die verwendeten Buchstaben lediglich wie Eigennamen auf Einzelnes referieren, also keinerlei Bedeutung haben, scheint schlicht falsch zu sein. Dann müsste etwa „A“ soviel heißen wie „das da“ (und wir zeigen auf einen Teil eines Diagramms). Mit rein referierenden Ausdrücken kann trivialerweise kein Beweis formuliert werden. Vielmehr werden Buchstaben ja stets verbal durch semantische Hinweise eingeführt („Sei ABC ein rechtwinkliges Dreieck…“), haben also im Beweis eine genau bestimmte Bedeutung, die für den Beweis unverzichtbar ist. Und die im verbalen Beweis verwendeten Buchstaben sind doch wohl identisch mit den im Diagramm verwendeten Buchstaben, also haben natürlich auch die in den Diagrammen verwendeten Buchstaben, wie es scheint, nicht lediglich eine referierende Funktion (sind nicht nur „sign-posts“, wie Netz im Anschluss an Wittgenstein sagt), sondern haben auch eine Bedeutung, also einen semantischen Gehalt. Was ist also die Textevidenz für die extravagante These von Netz? In der entscheidenden Passage14 gibt es nur zwei Argumente. Erstens, die übliche Klausel „Sei AB ein X“, oder genauer, „sei das AB ein X“ verweist auf eine konkrete Handlung, nämlich das Für-Gegeben-Halten eines Objektes, und bezieht sich nun einmal auf das konkrete Diagramm und die Buchstaben im konkreten Diagramm. Und zweitens, in selteneren Klauseln der Form „Sei ein X gegeben dort, wo AB ist“ wird auf eine räumliche Relation angespielt, die sich nur auf die Fläche beziehen kann, in der das konkrete Diagramm gezeichnet ist. Diese Evidenz ist völlig unzureichend. Erstens, die normalen Klauseln verweisen nicht auf eine konkrete Handlung, sondern auf eine bestimmte Annahme, die ihrerseits nicht notwendig auf Einzeldinge bezogen sein muss. Zweitens, der Bezug der Beweise auf Buchstaben im Diagramm ist selbstverständlich damit vereinbar, dass die griechischen Mathematiker das Diagramm selbst nicht als konkret, sondern als Repräsentanten (im logischen Sinne) eines beliebigen Diagramms, || 14 Ebd., S. 43–51.
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das die Beweisbedingungen erfüllt, angesehen haben – die Einführungsklauseln selbst entscheiden über diese Frage nicht. Und drittens, die Anspielung auf räumliche Relationen in den Diagrammen ist damit vereinbar, dass die griechischen Mathematiker den abstrakten geometrischen Raum und nicht lediglich den konkreten Raum, in dem das Diagramm gezeichnet ist, im Sinn hatten. Dafür spricht natürlich auch jeder Beweis über dreidimensionale geometrische Objekte, denn in diesem Fall ist der Raum, über den gesprochen wird, definitiv verschieden von der zweidimensionalen Fläche der Diagramme, in die die Beweisaussagen projiziert werden müssen. Dieser Fall falsifiziert die Diagnose von Netz sogar. Netz kann Pappos nicht gelesen haben. Und ganz gewiss räumen die Texthinweise von Netz das oben skizzierte Problem nicht aus, dass die Buchstaben ja stets semantisch eingeführt werden. Zugegeben, es ist keine einfache Frage, welchen Status die Buchstaben in geometrischen Beweisen haben. Sie sind keine Eigennamen (wie Netz annimmt), aber wohl auch nicht Variablen im modernen Sinn. Aber wenn wir uns an Euklids Postulate erinnern, so sagt zum Beispiel Post. 3, dass es Kreise gibt (d.h. dass Kreise konstruiert werden können) mit beliebigen Mittelpunkten und Durchmessern. Dann können wir auch annehmen, dass es einen bestimmten Kreis mit einem bestimmten Mittelpunkt gibt; sei K dieser Mittelpunkt und AB dieser Durchmesser. Und dies gilt für jedes konstruierbare (also gegebene) Diagramm. Kurz, die konkreten Diagramme sind logische Repräsentanten für beliebige gleichartige Diagramme. Netz hat mit seiner These vom Bezug der Beweise auf konkrete Diagramme natürlich ein massives Problem, das er auch selbst sieht – dass nämlich aus dieser These zu folgen scheint, dass die Beweise der griechischen Mathematik nicht allgemein sind. Diese Folgerung ist so abwegig, dass sie die Referenzthese zu falsifizieren droht. Netz widmet diesem Problem ein volles Kapitel (Kap. 6); dieses Kapitel ist jedoch überflüssig, weil die Referenzthese, wie gezeigt, nicht hinreichend belegt werden kann. Die aufregendste These in den ersten beiden Kapiteln ist jedoch, dass viele Beweisbehauptungen aus Text und Diagrammen deduziert werden und dass die Diagramme für die Ableitungen unverzichtbar sind, ja dass es Fälle gibt, in denen Behauptungen direkt aus den Diagrammen deduziert werden.15 Auf kognitiver Ebene heißt das, dass die Einsicht in die Gültigkeit der Beweise sowohl vom Verständnis des Textes als auch von der Wahrnehmung (der „visuellen Imagination“16) der Diagramme abhängig ist, und dass dabei die Wahr-
|| 15 Ebd., S. 19. 16 Ebd., S. 56.
364 | Wolfgang Detel nehmung der Diagramme unverzichtbar ist.17 Führt Netz für diese These ausreichende Textevidenz an? Ein typischer von Netz angeführter Fall ist, dass die Diagramme einige verbale Behauptungen im Beweis erst so spezifizieren, wie es für die korrekte Deduktion der Konklusion erforderlich ist (zum Beispiel wird in Prop. 1.1 bei Euklid nicht gesagt, dass die beiden Kreise, von denen die Rede ist, sich schneiden – das müssen wir dem Diagramm entnehmen, und ohne diese Spezifikation geht der Beweis nicht durch). Zweifellos ist es interessant, originell und aufschlussreich, dass Netz diese und ähnliche Fälle nachweist und anhand des Textes klassifiziert. Aber wenn es darum geht zu prüfen, welche These damit gestützt wird, ist mehr Sorgfalt und Genauigkeit gefordert, als sich bei Netz finden lässt. Denn seine These kann in einer starken und einer schwachen Variante gelesen werden. Die starke Variante besagt, dass die Diagramme (a) als reine Bilder in die Deduktion eingehen und (b) insofern unersetzlich für die Beweise sind, als sie auch nicht prinzipiell durch verbale Darstellungen ersetzt werden könnten. Die schwache Variante besagt, dass die Diagramme (a)* in Gestalt sprachlich gedeuteter Wahrnehmungen in die Deduktion eingehen und (b)* zwar prinzipiell durch verbale Darstellungen ersetzt werden können, faktisch in der griechischen Mathematik aber aus Gründen der Veranschaulichung und Vereinfachung an Stelle rein verbaler Darstellungen in den Beweisen verwendet werden. Auf kognitiver Ebene entsprechen diesen beiden Varianten die Thesen (c), dass reine, nicht-propositionale Wahrnehmung unverzichtbar in das Verstehen des Beweises eingeht (starke Variante), oder (c)*, dass dies nur für propositionale Wahrnehmung (also Wahrnehmung mit propositionalem Gehalt) gilt. Aufregend wäre die starke Variante, zum Beispiel weil Bilder als solche nicht die Arten von Dingen zu sein scheinen, die als Prämissen von Deduktionen herhalten können; und es ist tatsächlich diese Variante, von denen enthusiastische Rezensenten elektrisiert waren. Aber es ist ganz klar, dass die Textevidenz nur die schwache Variante eindeutig stützt. Die schwache Variante ist recht interessant, aber doch deutlich weniger aufregend. Es ist ein definitives Problem, dass Netz zwischen diesen Varianten nicht sorgfältig unterscheidet und so den Eindruck erzeugt, dass er Nachweise für die starke Variante geliefert hat. Ein dritter wichtiger Punkt ist nach Netz, dass Diagramme bei den Griechen ‚Metonyme der Mathematik‘ sind: Diagramme werden oft als Kern von Propositionen aufgefasst, d.h. der Ausdruck ‚Diagramm‘ wird metonym nicht für ein visuelles Bild, sondern für eine Proposition verwendet. Dafür liefert Netz solide Textevidenz. Aber es ist merkwürdig, dass er diesen Nachweis nicht mit seinen || 17 Vgl. z.B. ebd., S. 12, 26f.
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Thesen über den Gebrauch der Diagramme in Beweisen zusammenbringt. Denn der metonyme Gebrauch des Terminus ‚Diagramm‘ stützt ja offensichtlich die eben skizzierte schwache Variante und falsifiziert die starke Variante. Die Diagramme werden propositional gedeutet (so dass auch hier die sprachliche Beschreibung leitend ist) und gehen in dieser propositionalen Deutung in die verbalen Beweise ein. In seinem späteren Buch Ludic Proof möchte Netz zeigen, dass ästhetische und stilistische Kennzeichen der alexandrinischen Literatur in die griechische Mathematik dieser Zeit eingehen.18 In der Einleitung diskutiert Netz ein Beispiel, das er selbst als exemplarisch für sein Vorgehen bezeichnet. Netz behauptet, dass Archimedes in seinem Traktat über „Spirale Linien“ unsystematisch und wenig transparent vorgeht. Er beginne mit einer ganzen Reihe von Theoremen, von denen der Leser anfangs überhaupt nicht sehen könne, wozu sie dienen, und an keiner Stelle lasse sich Archimedes dazu herab auch nur anzudeuten, welche Funktion die Beweise dieser Theoreme im Ganzen des Traktates haben. Netz hat den Eindruck, dass Archimedes hier bewusst nicht axiomatisch vorgeht, weil in seiner Darstellung nicht jedes Theorem in schöner Reihenfolge aus dem vorhergehenden Theorem folgt. Vielmehr wähle Archimedes bewusst eine mystifizierende, opake Darstellung, die voller Überraschungen, Rätsel und Vorhalte stecke, die erst am Ende aufgelöst würden. Genau dies sei nun aber ein zentrales stilistisches und ästhetisches Merkmal der alexandrinischen Poesie und Literatur. Für Netz treibt in diesem Text das stilistische Moment der Überraschung die mathematische Untersuchung an. Die ästhetische Dimension betreffe den mathematischen Inhalt, und Archimedes wende sich an eine Leserschaft, die mit dieser Dimension aus der Literatur bestens vertraut war. Das wäre eine unerwartete und spektakuläre Verbindung von Mathematik und Literatur. Auch diese Thesen von Netz sind haltlos. Denn opak ist Archimedesʼ Darstellung nur für mathematische Laien wie Netz, nicht aber für die mathematischen Profis, für die Archimedes schrieb. Archimedes beweist am Anfang schlicht und einfach nacheinander all die Theoreme, die er zum Schluss benötigt, ohne freilich zu sagen, dass er sie später benötigt. Es war aber Teil der mathematischen Kultur der Antike, dass in einem mathematischen Traktat nichts getan wird, das tatsächlich völlig überflüssig für das entscheidende Beweisziel ist. Und so ist es noch heute in der Mathematik. Netz sitzt insbesondere einem logischen Anfängerfehler auf. Denn der axiomatische Aufbau einer Theorie erfordert keineswegs die lineare Deduktion aller bewiesenen Theoreme, sondern nur den Beweis aller Theoreme aus Axiomen oder schon bewiesenen || 18 Ders., Ludic Proof. Greek Mathematics and the Alexandrian Aesthetics, Cambridge 2009.
366 | Wolfgang Detel Theoremen. Das wussten schon die griechischen Mathematiker, und so denkt man noch heute über Axiomatik. In seinem Werk Der Kodex des Archimedes diskutiert Netz, um ein letztes Beispiel anzuführen, den genialen Beweis, mit dem Archimedes den Flächeninhalt eines Parabelsegments geometrisch bestimmt (eine Argumentation, die sachlich gesehen das Integrieren erfordert).19 Netz zufolge verwendet Archimedes in diesem Beweis das physikalische Hebelgesetz. Physik entdeckt Mathematik – das ist für Netz eine Materie-über-Geist-Magie. Diese Formulierung repräsentiert eine explizite Metapher, also rhetorisches Pathos. Aber auch diese These ist falsch. Denn es ist nicht richtig, dass das physikalische Hebelgesetz in das deduktive Argument des Beweises eingeht. Vielmehr gibt es eine geometrische Teilkonstruktion im Diagramm, die insofern auf einen Hebel abgebildet werden könnte, als die physikalischen Gewichte durch senkrechte Linien a und b am Ende einer Linie mit den Teilen c und d geometrisch dargestellt werden. Und dabei verhalten sich a:b wie d:c, wie es dem physikalischen Hebelgesetz entsprechen würde, wenn a und b physikalische Gewichte wären.
Abb. 1: Es gilt F1 : F2 = x2 : x1 (setze F1 = a, F2 = b, x1 = c, x2 = d)
Aber weder sind a und b physikalische Gewichte (sondern lediglich Linien), noch wird – und das ist das Wichtige – die genannte Proportion der Linien im Beweis aus dem physikalischen Hebelgesetz abgeleitet, sondern sie wird aus rein geometrischen Prämissen deduziert. Es kann keine Rede davon sein, dass hier die Physik eine mathematische Tatsache entdeckt. In allen drei Werken stellen die grundlegenden und aufregenden Thesen lediglich überzogenes Pathos dar. Die Rezeption der Arbeiten von Netz in der Community der postmodernen Wissenschaftshistoriographie hat sich von diesen Defiziten in keiner Weise beeindrucken lassen. Man kann sogar den Eindruck gewinnen, dass es dieser Community herzlich gleichgültig war, wie es mit den von Netz angeführten Belegen steht. Ein schockierendes Beispiel dafür ist die enthusiastische Rezension des ersten Buches von Netz durch einen der || 19 Reviel Netz und William Noel, Der Kodex des Archimedes, München 2007.
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Paten des postmodernen Denkens, Bruno Latour.20 Diese Rezension prüft an keiner Stelle die Behauptungen von Netz anhand ihrer Belege und Gründe, sondern liefert eine radikalisierende Reskription dieser Behauptungen. Unter anderem bemerkt Latour: This is the most important book of science studies to appear since Shapin and Scheffer’s Leviathan and the Air-Pump.
Wie dieses Buch aufgeräumt habe mit the very distinction between [natural] science and politics [and] the autonomy of scientific reasoning,
so könne man über Netz sagen: This is exactly what we can witness in Netzʼ book, only this time with a much older, tougher discipline: the very heart of what it is to deduce rigorously.
Und Latour legt mit noch steileren Thesen nach: After being freed from the best seller of the Scientific Revolution, we might now be freed from the best seller of the Greek Miracle [d.h. das Wunder der Entstehung der rein deduktiven Mathematik bei den Griechen, W.D.]. […] Here goes another radical division, the one between experimentation and deduction, the empirical world of physics and the purely logical world of mathematics. […] Mathematics is empirical through and through.
Die metaphorischen und überzogenen Bilder von wissenschaftshistorischen Bestsellern, vom Einsturz der verschiedenen Welten von Physik und Mathematik sowie von Empirie und Logik kulminieren schließlich in einer überzogen pathetischen Metapher zum Kern des Buches von Netz: „We could say that the ideal has finally landed safely!“ Die Welt des idealen Reiches von Logik und Mathematik entpuppt sich als illusorischer Schein. Doch diese Metapher ist selbst nur illusorischer Schein. Nicht alle postmodernen Autoren neigen zu überzogenem Pathos, doch ist eine Tendenz des postmodernen Denkens zu diesem Pathos unverkennbar.21 || 20 Vgl. Bruno Latour, The Netz-Works of Greek Deductions. A review of Reviel Netz (2003) The Shaping of Deduction in Greek Mathematics: A Study in Cognitive History, http://www.brunolatour.fr/sites/default/files/104-NETZ-SSofS-GB.pdf [letzter Zugriff am 16. Januar 2015]. 21 Einige Autoren sprechen von einem overdramatizing. So bemerken etwa Robert Jackson und Georg Soerensen, Introduction to International Relations: Theories and Approaches, Oxford 2006 über Latour: „Like some other more recent French thinkers, he seems to have a tendency to overdramatize his own line of thought. […] A certain coquettishness with oneʼs
368 | Wolfgang Detel Betrachten wir zum Beispiel kurz einen grundlegenden Aspekt des Dekonstruktivismus, der zum ersten Mal von Derrida in seiner Grammatologie skizziert wird (hier wird auch zum ersten Mal der Ausdruck „Dekonstruktion“ verwendet): Die „Rationalität“ – aber vielleicht müsste auf dieses Wort aus dem Grunde, der am Ende dieses Satzes sichtbar wird, verzichtet werden –, die eine derart erweiterte und radikalisierte Schrift beherrscht, stammt nicht mehr aus einem Logos. Vielmehr beginnt sie mit einer Destruierung und, wenn nicht Zerschlagung, so doch der De-Sedimentierung, der Dekonstruktion aller Bedeutungen, deren Ursprung in der Bedeutung des Logos liegt.22
Die Dekonstruktivisten gehen von einem – in der modernen Semantik längst anerkannten – Faktum aus: Die semantischen Netzwerke hinter Texten und Sprachen bleiben nicht starr und unveränderlich, sondern wandeln sich. Denn diese Netzwerke sind Ausdruck anerkannter empirischer Klassifikationen, die sich ihrerseits unter dem Eindruck empirischer Erkenntnisse verändern können. Man könnte hier von einem Bedeutungsgeschehen sprechen. Doch zugleich ist klar (und ebenfalls in der modernen Semantik längst anerkannt), dass das Bedeutungsgeschehen stets nur partiell ist und niemals umfangreiche Teile von Texten und Sprachen erfassen kann. Denn andernfalls wäre es überhaupt nicht möglich, das Bedeutungsgeschehen zu registrieren und zu beschreiben.23 Die Dekonstruktivisten – allen voran Derrida – behaupten jedoch, dass a.) die Bedeutung in einem Zeichen nicht direkt präsent ist, sondern abhängig ist davon, was das Zeichen selbst nicht ist, d.h. vom Verhältnis (der „Differenz“) des Zeichens zu einer offenen, unabgeschlossenen Menge anderer Zeichen, b.) die Bedeutung eines Zeichens sich im zeitlichen Prozess von Kommunikation und Interpretation ständig verändert, c.) natürliche Sprachen und einzelne Texte ohne jede linguistisch erfassbare Struktur und ohne bestimmte Semantik sind, sondern auf grenzenlosen Netzen von flexiblen, sich ständig verändernden Strukturen und Bedeutungen beruhen. Aus dieser überzogenen, radikalisierten und haltlosen Reformulierung des Bedeutungsgeschehens, die von einer bemerkenswerten Ignoranz moderner Semantiken zeugt und auf veraltete semiotische Gedanken zurückgreift, werden
|| own position, a kind of hide-and-seek towards the reader, is another part of the style“ (ebd., S. 33). 22 Jaques Derrida, Grammatologie, Frankfurt a.M. 1983 [Orig. 1968], S. 23. 23 Vgl. dazu etwa Donald Davidson, Inquiries into Truth and Interpretation, Oxford 1984 (dt.: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt a.M. 1990).
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große Proklamationen und spektakuläre Thesen gefolgert: Die Unterstellung der Hermeneutik, es gäbe natürliche Sprachen mit festen linguistischen Strukturen und Semantiken, ist eine metaphysische Fiktion. Die traditionelle Voraussetzung, es gäbe Texte, von denen man annehmen könnte, sie seien von Autoren produziert worden mit der Absicht, bestimmte Botschaften oder Inhalte zu übermitteln (zum Teil mit Hilfe von poetischen Formen), ist ebenfalls eine metaphysische Fiktion. Die Interpretierbarkeit und Verstehbarkeit von Texten ist radikal in Frage zu stellen. Daher sind grundsätzliche Zweifel an bisher leitenden Kategorien der Hermeneutik – Sinn, Bedeutung, Subjekt, Autor und Geschichtlichkeit – geboten. Der „Tod des Subjekts und Autors“ wird verkündet. Die Unterstellung der Hermeneutik, Texte hätten Sinn und Struktur, die sich prinzipiell entschlüsseln lassen, ist ein ideologisches Vorurteil. Daher ist eine wissenschaftliche Behandlung von Texten unmöglich: Literaturwissenschaft, Literaturtheorie und Hermeneutik sind aussichtslose Projekte. Der Dekonstruktivismus ist seinem Selbstverständnis nach die Negation aller Textwissenschaft und Literaturtheorie, der Totengräber der Hermeneutik. Diese mit großem Gestus vorgetragene Position ist zwar unvereinbar mit neueren Theorien des Geistes, der Sprachen und der semantischen Netzwerke samt ihrer syntaktischen Struktur, hat aber viele Vertreter der Geisteswissenschaften aufgrund ihres überzogenen Pathos so sehr beeindruckt, dass der Dekonstruktivismus bis heute zum Teil noch als Hintergrundtheorie der verstehenden Wissenschaften betrachtet wird.24 Das überzogene Pathos, das in diesen Beispielen auftritt, hat eine ganz andere Funktion als das rhetorische Pathos. Das überzogene Pathos dient dem Zweck, Thesen von erheblichem Gewicht und großer Allgemeinheit als derart aufregend, neuartig und radikal darzustellen, dass sie massive Aufmerksamkeit auf sich ziehen und unhinterfragte Akzeptanz gewinnen. Das überzogene Pathos soll die unzureichende Begründung der dargestellten Thesen überspielen, die Frage der Wahrheit marginalisieren und die überzogenen pathetischen Thesen verbreiten, ohne sie einer gründlichen Prüfung auszusetzen. Es ist diese Form des Pathos, die Aristoteles so heftig kritisiert, wenn sie rhetorisch eingesetzt wird. Latour und Derrida reaktivieren aus dieser Perspektive eine schlechte Praktik der voraristotelischen Rhetorik: Bruno Latour vereint in seiner Rhetorik die Theoretiker der Science Studies zu einem großen und heldenhaften Freundeskreis, der […] mit dem Rücken zur Wand kämpft und bis heute unverstanden bleibt […]. Latours Rhetorik des Kampfes und Derridas Gestus des || 24 Zu einer ausführlicheren Darstellung und Bewertung des Dekonstruktivismus vgl. Detel, Geist und Verstehen, Abschnitte 5.3 und 5.4.
370 | Wolfgang Detel Heraustretens scheinen die klassischen Rhetoriken fortzusetzen. […] Mit einem unglaublichen Pathos wird die klassische Rhetorik perpetuiert.25
Mit Hilfe dieses rhetorischen Pathos hat Bruno Latour auch Reviel Netz in den heldenhaften Freundeskreis der konstruktivistischen Science Studies aufgenommen. Natürlich kommt überzogenes Pathos nicht nur in postmodernen Texten vor. Wir haben gesehen, dass die Metapher vom Geist als Computer eine positive Rolle in der Theorie des Geistes gespielt hat und als Beispiel eines rhetorischen Pathos gelten kann. Aber zum Teil wurde diese Metapher verschärft zur These, dass das menschliche Gehirn im buchstäblichen Sinne ein Computer ist. So heißt es zum Beispiel in einem prominenten Text: Over the past thirty years, it is been common to hear the mind likened to a digital compute. This essay is concerned with a particular philosophical view that holds that the mind literally is a digital computer (in a specific sense of „computer“ to be developed), and that thought literally is a kind of computation. This view will be called the „Computational Theory of Mind.“26
Diese These ist natürlich falsch, unter anderem weil das menschliche Gehirn nicht, wie ein Computer, ein Artefakt ist und weil Gedanken nicht lediglich eine Art von computation sind.27 Auch hier handelt es sich daher um eine spektakuläre These mit großem Gestus, die aber offensichtlich haltlos, also ein Fall von überzogenem Pathos ist.
|| 25 Jutta Weber, Umkämpfte Bedeutungen. Naturkonzepte im Zeitalter der Technoscience, Frankfurt a.M. 2003, S. 108. 26 Steve Horst zu Beginn seines entry The Computational Theory of Mind in der Stanford Encyclopedia of Philosophy, http://plato.stanford.edu/entries/computational-mind/ [letzter Zugriff am 16. Januar 2015]. 27 Vgl. z.B. Kemmerling, Die These vom Geist als Computer, und John Searle, Is the brain a digital computer?, in: Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association 64 (1990), S. 21–37.
Autorenverzeichnis Andrea Albrecht Studium der Mathematik, Germanistik und Philosophie in Bremen, Hamburg und Göttingen. Promotion 2003 (Kosmopolitismus. Weltbürgerdiskurse in Literatur, Philosophie und Publizistik um 1800, Berlin 2005). Visiting scholar an der University of California, Berkeley. Ab Herbst 2007 bis 2011 Nachwuchsgruppenleiterin (Emmy Noether-Programm der DFG) am Deutschen Seminar II der Universität Freiburg und der School for Language and Literature des FRIAS (Freiburg Institute for Advanced Studies). 2011 Habilitation im Fach Neuere deutsche Literatur. Seit 2012 Leitung der Abteilung Neuere deutsche Literatur II der Universität Stuttgart. Ruth Amossy ist emeritierte Professorin am Department of French Studies der Universität Tel Aviv. Sie ist Direktorin der Forschungsgruppe Analyse du discours, Argumentation et Rhetorique (ADARR) und war als Gastprofessorin an Universitäten in Paris, Caen, Montpellier, Montreal, Quebec und Belo Horizonte sowie an der Columbia University und in Brüssel tätig. Ruth Amossy ist Herausgeberin der Zeitschrift Argumentation et Analyse du discours. Zahlreiche Publikationen in den Bereichen Argumentationsanalyse, Rhetorik und auf dem Gebiet der Analyse von Klischees und Stereotypen sowie zur Literatur und Kunst des französischen Surrealismus, zu Balzac, zum französischen Drama, zur Theater- und zur Fiktionstheorie. Ausgewählte Publikationen: Les idées recues. Sémiologie du stereotype (1991), Images des soi dans le discours. La construction de l’ethos (Hrsg., 1999), L'Argumentation dans le discours. Discours politique, literature d’idées, fiction (2. Aufl. 2006), La presentation de soi. Ethos et identité verbale (2010). Toni Bernhart Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und Geographie an der Universität Wien, Promotion im Fach Neue Deutsche Literatur an der HumboldtUniversität zu Berlin, 2006-2012 Koordinator der Graduiertenschule für die Künste und die Wissenschaften an der Universität der Künste Berlin, seit 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter in dem vom European Research Council (ERC) geförderten Forschungsprojekt „DramaNet – Early Modern European Drama and the Cultural Net“ an der Freien Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Volksschauspiel, Auditivität und Literatur, Quantitative Literaturwissenschaft.
372 | Autorenverzeichnis Zuletzt erschienen: (Hg.) Franz Tumler: Hier in Berlin, wo ich wohne. Innsbruck 2014; Hörspiele, in: Christoph Jürgensen u.a. (Hg.): Schnitzler-Handbuch. Stuttgart 2014, S. 387–390. Simone De Angelis Universitätsprofessor am überfakultären Zentrum für Wissenschaftsgeschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft sowie der Wissenschaftsgeschichte an der Universität Bern. Forschungsaufenthalte in Padua, London, Köln, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Geschichte des wissenschaftlichen Wissens seit der Renaissance und Frühen Neuzeit, Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Renaissancestudien, Aufklärungsforschung, Historische Epistemologie, Methodologie(n) der Wissenschaftsgeschichte sowie Integrated History and Philosophy of Science. Er ist Autor von Anthropologien. Genese und Konfiguration einer ‚Wissenschaft vom Menschen‘ in der Frühen Neuzeit, Berlin, New York: Walter de Gruyter, 2010; Von Newton zu Haller. Studien zum Naturbegriff zwischen Empirismus und deduktiver Methode in der Schweizer Frühaufklärung, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 2003; er ist Mitherausgeber von Scholarly Knowledge. Textbooks in early modern Europe, Genève: Droz, 2008; ‚Natur‘, Naturrecht und Geschichte. Aspekte eines fundamentalen Begründungsdiskurses der Neuzeit (1600–1900), Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2010. Wolfgang Detel Studium der Klassischen Philologie, Mathematik, Philosophie; Promotion über Platon, Habilitation über Gassendi; Assistent 1973–1978 in Mannheim, 1980 Professur in Hamburg, 1991 Lehrstuhl in Frankfurt/M., zahlreiche Gastprofessuren in den USA. Neuere Bücher: Aristoteles, Leipzig 2005, Foucault and Classical Antiquity, Cambridge 2005, Grundkurs Philosophie, 5 Bd., Stuttgart 2007, Aristoteles Metaphysik VII–VIII. Griechisch-Deutsch (Einl., Übers., Komm.), Frankfurt/M. 2009, Aristoteles, Analytica Posteriora. Griechisch-Deutsch (Einl., Übers., Anmerk.), Reinbek bei Hamburg 2011, Geist und Verstehen. Historische Grundlagen einer modernen Hermeneutik, Frankfurt a.M. 2011, Kognition, Parsen, Interpretation. Elemente einer allgemeinen Hermeneutik, Frankfurt a.M. 2014. Christopher D. Johnson ist Research Associate im Forschungsprojekt Bilderfahrzeuge: Aby Warburg and the Future of Iconology am Warburg Institute in London. Vorher war er Visiting
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Associate Professor für Romanistik an der UCLA, Associate Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Harvard University und Assistant Professor für Anglistik an der Northwestern University. Er ist Autor von Hyperboles: The Rhetoric of Excess in Baroque Literature and Thought, Cambridge, MA 2010 und Memory, Metaphor, and Aby Warburg’s Atlas of Images, Ithaca 2012. Er ist auch Übersetzer und Herausgeber von Selected Poetry of Francisco de Quevedo: A Bilingual Edition, Chicago 2009. Derzeit arbeitet er an einem Buch über die verschiedenartigen Gattungen des frühneuzeitlichen Enzyklopädismus. Ralf Klausnitzer Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft in Rostow/ Don und Berlin; 1999 Promotion mit einer Arbeit über die Rezeption der deutschen Romantik 1933-45; 2007 Habilitation mit einer Schrift über Verschwörungstheorien in Literatur, Publizistik, Wissenschaft 1750-1850. Hochschullehrer am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der Beobachtung (in und von Kulturen); Gattungswissen; literarische Epistemologie. Olav Krämer geb. 1977; akademischer Rat auf Zeit am Deutschen Seminar der AlbertLudwigs-Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. und des frühen 20. Jahrhunderts; Literatur- und Wissensgeschichte; komparatistische Fragestellungen. Veröffentlichungen (Auswahl): Figurenwissen. Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurendarstellung. Berlin/Boston 2012 (als Hrsg. mit Lilith Jappe und Fabian Lampart); „Intention, Korrelation, Zirkulation. Zu verschiedenen Konzeptionen der Beziehung zwischen Literatur, Wissenschaft und Wissen“, in: Tilmann Köppe (Hrsg.), Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge, Berlin 2011, S. 77–115; Denken erzählen. Repräsentationen des Intellekts bei Robert Musil und Paul Valéry, Berlin/New York 2009. Steffen Martus nach Studium der Deutschen Philologie, Sozialkunde, Philosophie und Soziologie in Regensburg Promotion 1998 an der Humboldt-Universität zu Berlin und Postdoc-Tätigkeit am DFG-Graduiertenkolleg „Codierung von Gewalt im medialen Wandel" erster Juniorprofessor am Institut für deutsche Literatur der HU; nach Professuren in Erlangen-Nürnberg und Kiel seit 2010 wieder als Professor am Institut für deutsche Literatur der HU. Publikationen (Auswahl): Friedrich von Hagedorn. Konstellationen der Aufklärung, Berlin, New York 1999; Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20.
374 | Autorenverzeichnis Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin, New York 2007; Die Brüder Grimm. Eine Biographie, Berlin 2009. Cornelis Menke studierte Philosophie und Gräzistik sowie Physik an der Humboldt-Universität zu Berlin; er wurde 2007 an der Abteilung Philosophie der Universität Bielefeld mit der Arbeit Zum methodologischen Wert der Vorhersage neuartiger Phänomene promoviert. Von 2008–2012 war er Nachwuchsgruppenleiter am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF). Seit 2009 ist er Dilthey-Fellow der VolkswagenStiftung am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung (IWT), seit 2012 an der Abteilung Philosophie der Universität Bielefeld. Er ist seit 2010 Mitglied der Jungen Akademie an der BBAW und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina; 2012–2013 war er Sprecher der Jungen Akademie. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte. Hans-Harald Müller geb. 1943, Professor (pensioniert) für Neuere deutsche Literatur an der Universität Hamburg. Gastprofessuren in St. Louis, Johannesburg, Cambridge (St. John’s College) und Rostock; Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der Literaturwissenschaft, Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Letztes Buch: Hans-Harald Müller, Myriam Isabell Richter: Praktizierte Germanistik. Die Berichte des Seminars für deutsche Philologie der Universität Graz 1873-1918. Stuttgart 2013 (Beiträge zur Geschichte der Germanistik 5). Alexander Nebrig Derzeit Privatdozent für Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Magisterstudium der Neueren deutschen Literatur, Romanischen und Slavischen Philologie in Freiburg, Bordeaux und an der FU Berlin (M.A.); Promotion 2006 mit einer Arbeit zur Übersetzungsgeschichte der Tragödien Racines; Habilitation 2012 über das Verhältnis von Poesie und Philologie in der Moderne (Disziplinäre Dichtung. Philologische Bildung und deutsche Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Berlin, Boston 2013). Weitere Forschungsschwerpunkte: Literarische Mehrsprachigkeit, Literatur und Ethik. Jörg Schönert geb. 1941; ab 1961 Studium der Germanistik und Anglistik in München, Zürich und Reading (GB), 1968 Promotion und 1977 Habilitation in München. Lehrtätigkeit für ‚Neuere deutsche Literatur’ von 1968 bis 1983 an den Universitäten
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München und Heidelberg sowie an der RWTH Aachen, von 1983 bis 2007 an der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Wissensgeschichte der Literatur vom 18. bis 20. Jahrhundert, Narratologie, Literaturtheorie und Methodologie, Fachgeschichte der Germanistik. Carlos Spoerhase Promotionsstudium mit einem Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Johns Hopkins University, Baltimore. Promotion im Fach Neuere deutsche Literatur an der HumboldtUniversität zu Berlin. Derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Literaturtheorie und Methodologie der Literaturwissenschaft, Mediensozialgeschichte der Literatur und materiale Textkultur, Literarische Formen und Verfahren in der Wissensgeschichte sowie Wissenschaftsgeschichte der historischen Textwissenschaften. Horst Thomé
geb. 1947, gest. 2012;
Promotion 1974 in München;
Habilitation 1987 in Kiel; 1993 bis 2012 Ordentlicher Professor und Leiter der Abteilung Neuere deutsche Literatur II an der Universität Stuttgart. Gastprofessuren in Wien, Shanghai und Beijing. Forschungsschwerpunkte: Literatur- und Wissensgeschichte; Gattungstheorie; Sozialgeschichte der Literatur; Interkulturelle Germanistik. Wichtigste Publikationen: Roman und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Vorgeschichte der deutschen Klassik (1978); Natur und Geschichte im Frühwerk Arno Schmidts (1981); Autonomes Ich und „Inneres Ausland“. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten, 1848-1914 (1993). Denis Thouard Studium der Philosophie in Paris und West-Berlin, Wissenschaftler am „Centre de recherche philologique“ in Lille, später an der Unité Mixte de Recherche „Savoirs et textes“. Von 2001–2002 Alexander-von-Humboldt-Stipendiat in Heidelberg. 2005–2007 Forschung in München im Rahmen des Projekts „Hermeneutik und Methode“ am SFB 573 ‚Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit’. 2007–2008 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Seit 2008 am Centre Marc Bloch. Promotion über Kant und Schleiermacher (Paris X Nanterre, 1997); Habilitation zu Kritik und Hermeneutik (Paris IV Sorbonne, 2004). Weitere Publikationen zu Kant (2001), Schleiermacher (2007) und der ‚Form der Philosophie’ (2007) publiziert. Weitere Forschungsschwerpunkte: aktuelle
376 | Autorenverzeichnis Hermeneutik und kritische Lektüre der soziologischen und philosophischen Schriften Georg Simmels. Dirk Werle PD am Institut für Germanistik der Universität Leipzig. 2014/15 Vertretung der Professur für Neuere deutsche Literatur/Geschichte der Germanistik am Institut für deutsche Literatur der HU Berlin. Studium der Neueren deutschen Literatur, Latinistik und Philosophie in Freiburg i.Br., Pisa und Berlin. Promotion 2005 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Habilitation 2012 in Leipzig. Wichtigste Publikationen: Copia librorum. Problemgeschichte imaginierter Bibliotheken 1580-1630, Tübingen 2007 (Frühe Neuzeit 119); Ruhm und Moderne. Eine Ideengeschichte (1750-1930), Frankfurt a.M. 2014 (Das Abendland – Neue Folge 38). Arbeitsschwerpunkte: Europäische Literaturgeschichte im Kontext der intellectual history seit dem 16. Jahrhundert; Literaturtheorie; Wissenschaftsgeschichte der Geistes- und Kulturwissenschaften.
Personenverzeichnis Personenverzeichnis Abbé Freppel 142 Abbé Neignan 141 Abbé Freppel 142 Abbé Raynal 57 Abbé Neignan 141 Albrecht, Günter 311 Abbé Raynal 57 Andreae, Johann Valentin 15 Albrecht, Günter 311 Archimedes 50, 367 Andreae, Johann Valentin 15 Aristoteles 14, 17, 21, 22, 23, 161, 218, Archimedes 50, 367 227, 261, 262, 263, 264, 321, 353, Aristoteles 14, 17, 21, 22, 23, 161, 218, 354, 371 227, 261, 262, 263, 264, 321, 353, Auerbach, Berthold 81 354, 371 Bacon, Francis 240 Auerbach, Berthold 81 Barner, Wilfried 28 Bacon, Francis 240 Barnes, Barry 275, 278, 279 Barner, Wilfried 28 Beattie, James 219 Barnes, Barry 275, 278, 279 Benecke, Georg Friedrich 29 Beattie, James 219 Bergson, Henri 192, 196, 197, 198, 201, Benecke, Georg Friedrich 29 203, 221, 236 Bergson, Henri 192, 196, 197, 198, 201, Bernoulli, Daniel 42 203, 221, 236 Bertillon, Alphonse 147, 157, 158 Bernoulli, Daniel 42 Bertram, Ernst 260 Bertillon, Alphonse 147, 157, 158 Bing, Gertrud 247, 250, 251 Bertram, Ernst 260 Blair, Tony 334, 344, 345, 347, 348 Bing, Gertrud 247, 250, 251 Blenck, Emil 172 Blair, Tony 334, 344, 345, 347, 348 Boisserée, Sulpiz 35 Blenck, Emil 172 Boll, Franz 247 Boisserée, Sulpiz 35 Bolzano, Bernhard 204, 205 Boll, Franz 247 Bondi, Georg 258 Bolzano, Bernhard 204, 205 Bordeu, Théophile de 51, 52, 53, 54, 55, Bondi, Georg 258 56, 57 Bordeu, Théophile de 51, 52, 53, 54, 55, Botev, Christo 265 56, 57 Böttcher, Kurt 311 Botev, Christo 265 Botticelli, Sandro 247 Böttcher, Kurt 311 Bourdieu, Pierre 325, 331 Botticelli, Sandro 247 Boyle, Robert 46 Bourdieu, Pierre 325, 331 Brahe, Tycho 224 Boyle, Robert 46 Brahms, Johannes 81 Brahe, Tycho 224 Breuer, Dieter 306 Brahms, Johannes 81 Bruno, Giordano 239, 240, 241, 242, 243, Breuer, Dieter 306 244, 247, 248, 250, 251, 252, 253, Bruno, Giordano 239, 240, 241, 242, 243, 254, 255 244, 247, 248, 250, 251, 252, 253, Bush, George W. 334, 339, 341, 342, 343 254, 255 Calas, Jean 138 Bush, George W. 334, 339, 341, 342, 343 Campanella, Tommaso 243 Calas, Jean 138 Canetti, Elias 38 Campanella, Tommaso 243 Canetti, Elias 38
Cardano, Gerolamo 242 Cassirer, Ernst 191, 202204, 209, Cardano, Gerolamo 242 216, Ernst 218221, 230, 236, Cassirer, 191,226, 202204, 209, 237, 239, 240, 241245, 249, 251255 216, 218221, 226, 230, 236, 237, 239, 240, 241245, 249, 251255 Cattell, James McKeen 283 Charaudeau, Patrick 33338, 341, 345 Cattell, James McKeen 283 Cicero 22, 36, 133, 161 Charaudeau, Patrick 33338, 341, 345 Clairaut, Alexis-Claude 42 Cicero 22, 36, 133, 161 Cohen, Hermann 204, 211, 217, 218, 221, Clairaut, Alexis-Claude 42 237 Cohen, Hermann 204, 211, 217, 218, 221, Comte, Auguste 139 237 Crépieux-Jamin, Jules 147 Comte, Auguste 139 Croce, Benedetto 268 Crépieux-Jamin, Jules 147 Cusanus, Nicolaus 241 Croce, Benedetto 268 Cysarz, Herbert 260 Cusanus, Nicolaus 241 Cysarz, Herbert 260 d’Alembert, Jean-Baptiste Le Rond 4 45, 47, 48, 5257, 59, 60 d’Alembert, Jean-Baptiste Le Rond 4 45, da Vinci, Leonardo 243 47, 48, 5257, 59, 60 Dante Alighieri 187 da Vinci, Leonardo 243 Darwin, Charles 100 Dante Alighieri 187 Demokrit 45 Darwin, Charles 100 Derrida, Jacques 369 371 Demokrit 45 Descartes, René 219 Derrida, Jacques 369 371 Deussen, Paul 225 Descartes, René 219 Diderot, Denis 41 Deussen, Paul 225 Diderot, Denis 41 Diederichs, Eugen 258 Dolby. R. G. A. 278, 279 Diederichs, Eugen 258 Dreinhöfer, Adolf 168 Dolby. R. G. A. 278, 279 Dreyfus, Alfred 143, 145 148, Dreinhöfer, Adolf 168 152156 Dreyfus, Alfred 143, 145 148, Dreyfus, Mathieu 146, 147, 152 152156 Du Bois-Reymond, Emil 96 Dreyfus, Mathieu 146, 147, 152 du Paty du Clam, Armand 146 Du Bois-Reymond, Emil 96 Dürer, Albrecht 239, 245 du Paty du Clam, Armand 146 Dymschitz, Alexander 311 Dürer, Albrecht 239, 245 Dymschitz, Alexander 311 Elsenhans, Theodor 205 Epikur 45 Elsenhans, Theodor 205 Epikur 45
378 | Personenverzeichnis Esterhazy, Ferdinand Walsin- 144146, 155, 156 Euler, Leonhard 42 Fairclough, Norman 334, 344, 346350 Fichte, Johann Gottlieb 24, 36 Ficino, Marsilio 242 Fischborn, Gottfried 311 Fischer, Kuno 210 Flaubert, Gustave 140, 141 Foucault, Michel 52 Fouquet, Henri 49 53, 58 Freud, Sigmund 94, 98 101, 241 Friedrich II. 42 Fries, Jacob Friedrich 191, 202, 203 215, 216, 219, 223, 224, 226228, 232, 235, 237 Gabelsberger, Franz Xaver 168 Galilei, Galileo 198, 240, 243 Gamble, William 166, 186, 188 Gauss, Carl Friedrich 224 Geerdts, Hans Jürgen 311 Gentile, Giovanni 243, 250 Ghirlandaio, Domenico 247 Giry, Arthur 148 Glucksmann, André 138 Goethe, Johann Wolfgang von 187, 222, 357 Goffman, Erving 322 Griboedov, Alexander Sergejewitsch 186 Grimaux, Édouard 153 Grimm, Herman 79, 84, 87, 92 Grimm, Jacob 29, 37, 6365, 69, 75, 82, 88 Grimm, Wilhelm 29 Grimminger, Rolf 306 Gundolf, Friedrich 258 260 Haase, Horst 311 Habermas, Jürgen 244 Haeckel, Ernst 96, 97 Hafenreffer. Matthias 15 Harnack, Adolf von 298, 299, 304 Hartinger, Walfried 311 Hatvani, Paul 259 Haupt, Moriz 37, 64, 82, 89 Havet, Ernest 143, 148, 149
Havet, Louis 148 161 Haym, Rudolf 70 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 210 Heinich, Nathalie 329 332, 336, 341, 345 Hellingrath, Norbert von 258 Henry, Joseph Hubert 145 Herbart, Johann Friedrich 210 Herder, Johann Gottfried von 70 Hessenberg, Gerhard 236 Hilbert, David 217, 236, 238 Hippokrates 49 Hobbes, Thomas 219 Hollinger, David A. 282, 283, 291 Horaz 35, 357 Humboldt, Wilhelm von 24 Hume, David 219 Husserl, Edmund 201 Huxley, Thomas Henry 104 Hyginus 250 Jacobsthal, Gustav 80 Jacbsthal, Marie 80 Jakobson, Roman 265 Jauß, Hans Robert 305 Jean Paul 246 Jones, Ernest 101 Kaeding, Friedrich Wilhelm 165175, 179, 184186, 188, 189 Kant, Immanuel 95, 210, 212, 218, 219, 227, 230, 237, 238 Kaufmann, Hans 311 Kehlmann, Daniel 38 Keller, Gottfried 259 Kepler, Johannes 198, 224, 242, 243, 247, 248 Kerry, John 334, 339, 341343 Klein, Felix 217, 238 Kopernikus, Nikolaus 100, 240, 241 Kron, Paul Günter 311 Kühne, Richard 311 Kuipers, Theo 279, 280 Kunickij, Viktor Nikolajewitsch 186, 187 Kuttner, Max 268 Lachmann, Karl 29, 64, 65, 70 Latour, Bruno 368, 369, 371, 372
Personenverzeichnis | 379 Lazare, Bernard 146, 152 Leblois, Louis 146 Leff, Michael 334, 339, 341345 /eibniz, Gottfried Wilhelm 219 Lemaître, Jules 147 Lichtenberger, Johannis 245 Littré, Émile 148, 154 Löffler, Anneliese 311 Lukrez 45, 49, 241, 244 Luther, Martin 245, 246 Mach, Ernst 10112, 117122, 128 130 Magirus, David 15 Maingueneau, Dominique 321, 334 Mallarmé, Stéphane 267 Malraux, André 138 Mannheim, Karl 24 Mantegna, Andrea 239 Marx, Karl 309 Mattenklott, Gert 305 Maupertuis, Pierre-Louis Moreau de 42 May, Mark A. 282 Meillet, Antoine 149, 151 Melanchthon, Philipp 245 Merton, Robert K. 24, 275 325 Meyer, Paul 147, 148, 154 Meyer, Richard Moritz 70 Minor, Jakob 83 Molinier, Auguste 148 Molinier, Émile 148 Mommsen, Theodor 82 Monod, Gabriel 152 Montaigne, Michel de 49 Morgan, Bayard Quincy 184 Moriaux, Paul 148 Müllenhoff, Karl 82, 87, 89, 91, 304 Musil, Robert 13, 106, 118, 121126, 128, 130, 131, 19 194, 196199, 201, 237 Nahlowsky, Joseph Wilhelm 200 Nathan, David 354 Nelson, Leonard 191, 193 206, 211
Netz, Reviel 362369, 372 Neurath, Otto 79 Neveu, Erik 332 Newton, Isaac 198 Nietzsche, Friedrich 38, 9497, 99, 100, 101, 225, 355 Novalis 187 Ortmann, Wolf Dieter 185 Pallus, Walter 311 Paris, Gaston 149, 157, 160 Pearson, Karl 104 Pêcheux, Michel 334 Péguy, Charles 138, 146, 160, 162 Perutz, Leo 13, 14, 38 Pfeiffer, Franz 82 Pico, Giovanni P. della Mirandola 242 Picquart, Georges 145, 146, 151, 152 Platon 23, 32, 94, 95, 261 Plinius der Ältere 94 Poincaré, Henri 104, 147, 157, 199 Polanyi, Michael 29 Pollaiuolo, Antonio 239 Pomponazzi, Pietro 242 Pongs, Hermann 260 Popper, Karl 206 Pressensé, Edmond de 143 Pressensé, Francis de 143, 149 Psichari, Jean 149 Putnam, Hilary 359, 360362 Quintilian 22 Racine, Jean 267, 268, 269 Radinus, Thomas 250 Reichenbach, Hans 202 Reid, Thomas 219 Renan, Ernest 139143, 148, 149, 154, 160, 161 Richter, Elise 258 Rickert, Heinrich 210, 221 Ritschl, Friedrich 83, 85 Roethe, Gustav 304 Rosengren, Inger 185 Royal, Ségolène 335 Ryle, Gilbert 68, 77
380 | Personenverzeichnis Saran, Franz 257, 258 Sarkozy, Nicolas 335338 Sauer, August 83 Saxl, Fritz 247 Scheffer, Ary 149 Schelling, Friedrich Wilhelm Jospeh 24 Scherer, Wilhelm 35, 37, 64, 65, 69, 70, 75, 792, 304 Scherpe, Klaus R. 305 Scheurer-Kestner, Auguste 146, 152 Schiller, Dieter 311 Schiller, Friedrich 35 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 24 Schlick, Moritz 203 Schmidt, Erich 64, 83, 84 Schmidt, Siegried J. 307 Schnitzler, Arthur 13 Schönbach, Anton Emanuel 83 Schopenhauer, Arthur 358 Schrey, Ferdinand 168 Schröder, Edward 83 6FKZDUW]NRSSHQ0D[LPLOLDQYRQ Schweitzer, Albert 142 Seneca 356 Sengle, Friedrich 305 Sennett, Richard 296 Seuffert, Bernhard 83 Shakespeare, William 187, 252 Shapin, Steven 26, 103, 104, 128, 280, 281 Speidel, Ludwig 91 Spengler, Oswald 192196, 198, 201, 202, 236 Spinoza, Baruch de 46, 97 Spitzer, Leo 258261, 265269, 271274 Steiner, Helmut 309 Stolze, Heinrich August Wilhelm 168, 171 Storer, Norman 275, 291 Strato 46 Strauß, David Friedrich 94
Tansillo, Luigi 254 Thalheim, Hans-Günther 311 Tomasello, Michael 77 Trarieux, Ludovic 151 Ueding, Gert 306 Unger, Rudolf 258 Vahlen, Johannes 82 Vernes, Maurice 149 Vernière, Paul 47 Villon, François 267269, 271273 Volland, Sophie 55 Voltaire 41 44, 54, 138 Vossler, Karl 268 Wach, Joachim 229, 230, 236 Waddell, Craig 354, 355 Wald, George 354 Warburg, Aby 239242, 2255 Weber, Alfred 286 Weber, Max 24, 26, 33, 35, 97, 99, 104, 106, 112 121, 124, 126, 128 130, 162, 330 Weimar, Hermann 66 Wenzel, Georg 311 Werner, Richard Maria 83 Windelband, Wilhelm 210 Witkop, Philipp 259 Wittgenstein, Ludwig 364 Zacher, Julius 70, 76, 77 Zarncke, Friedrich 85 Zilsel, Edgar 16, 17, 38 Zipf, George K. 167 Zola, Émile 136, 146, 147, 152154, 158, 159